Plenarprotokoll 19/204

Deutscher

Stenografischer Bericht

204. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . . 25623 D neten Sabine Zimmermann (Zwickau), Johannes Vogel (Olpe) (FDP) ...... 25625 A , , Erwin Rüddel, , , Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 25625 D , und Dr. Bruno Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 25626 C Hollnagel ...... 25619 A (SPD) ...... 25627 B Wahl der Abgeordneten als (CDU/CSU) ...... 25628 A stellvertretendes Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses gemäß Artikel 53a des Grund- René Springer (AfD) ...... 25628 C gesetzes ...... 25619 B Wahl der Abgeordneten zur Tagesordnungspunkt 10: Schriftführerin ...... 25619 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Zur Geschäftsordnung: schusses für Inneres und Heimat zu dem An- Dr. (AfD) ...... 25619 D trag der Abgeordneten , Dr. Bernd Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) ...... 25620 C Baumann, Dr. , weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der AfD: Rechts- grundlagen für einen Präventivgewahrsam auf Bundesebene für Gefährder zeitnah Tagesordnungspunkt 9: schaffen a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Drucksachen 19/23951, 19/25833 ...... 25629 D Bericht der Bundesregierung über die (CDU/CSU) ...... 25629 D gesetzliche Rentenversicherung, insbe- sondere über die Entwicklung der Martin Hess (AfD) ...... 25630 D Einnahmen und Ausgaben, der Nach- Uli Grötsch (SPD) ...... 25632 A haltigkeitsrücklage sowie des jeweils (FDP) ...... 25633 A erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren (Renten- (DIE LINKE) ...... 25633 D versicherungsbericht 2020) und Gutach- Dr. (BÜNDNIS 90/ ten des Sozialbeirats DIE GRÜNEN) ...... 25634 C Drucksache 19/24925 ...... 25621 D (CDU/CSU) ...... 25635 B b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 25636 A Ergänzender Bericht der Bundesregie- rung zum Rentenversicherungsbericht 2020 (Alterssicherungsbericht 2020) Tagesordnungspunkt 11: und Gutachten des Sozialbeirats Drucksache 19/24926 ...... 25621 D a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- , Bundesminister BMAS ...... 25622 A wurfs eines Gesetzes zur Änderung Ulrike Schielke-Ziesing (AfD) ...... 25623 A des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe- II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

schränkungen für ein fokussiertes, Tagesordnungspunkt 12: proaktives und digitales Wettbe- Antrag der Abgeordneten , werbsrecht 4.0 und anderer wettbe- , , weiterer werbsrechtlicher Bestimmungen Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (GWB-Digitalisierungsgesetz) Transatlantischer Wirtschaftsraum als Drucksachen 19/23492, 19/24439, europäische Antwort auf das Regional 19/24795 Nr. 1.1, 19/25868 ...... 25636 D Comprehensive Economic Partnership- – Bericht des Haushaltsausschusses Freihandelsabkommen gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 19/25732 ...... 25644 B Drucksache 19/25869 ...... 25636 D Sandra Weeser (FDP) ...... 25644 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 25645 C Ausschusses für Wirtschaft und Energie – zu dem Antrag der Abgeordneten Gerald Hansjörg Müller (AfD) ...... 25646 C Ullrich, Michael Theurer, Reinhard Markus Töns (SPD) ...... 25647 B Houben, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für ein selbst- (DIE LINKE) ...... 25648 C bewusstes und wachstumsorientier- (AfD) ...... 25649 D tes Wettbewerbsrecht auf digitalen Märkten Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 25650 A Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ – zu dem Antrag der Abgeordneten Pascal DIE GRÜNEN) ...... 25650 C Meiser, , , weiterer Abgeordneter und (CDU/CSU) ...... 25651 B der Fraktion DIE LINKE: Wettbe- werbsrecht 4.0 – Digitales Monopoly beenden Tagesordnungspunkt 13: – zu dem Antrag der Abgeordneten a) Beschlussempfehlung und Bericht des Katharina Dröge, Dr. Konstantin von Ausschusses für Ernährung und Land- Notz, , weiterer Abgeord- wirtschaft zu der Unterrichtung durch die neter und der Fraktion BÜND- Bundesregierung: Bericht der Bundesre- NIS 90/DIE GRÜNEN: Internetgigan- gierung zur Ernährungspolitik, Lebens- ten zähmen – Fairen Wettbewerb für mittel- und Produktsicherheit – Gesun- digitale Plattformen herstellen de Ernährung, sichere Produkte – – zu dem Antrag der Abgeordneten (Ernährungspolitischer Bericht 2020) Katharina Dröge, Tabea Rößner, Anja Drucksachen 19/19430, 19/20213 Nr. 1.5, Hajduk, weiterer Abgeordneter und der 19/25817 ...... 25652 B Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Verbraucherschutz und fairen Wett- Ausschusses für Ernährung und Landwirt- bewerb stärken schaft zu dem Antrag der Abgeordneten Drucksachen 19/23688, 19/23698 (neu), Dr. , Amira Mohamed 19/23701, 19/23705, 19/25868 ...... 25637 A Ali, -Förster, weiterer Ab- c) Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Maier, Stephan Brandner, , wei- Regionale Ernährungssysteme stärken terer Abgeordneter und der Fraktion der Drucksachen 19/15568, 19/22681 ...... 25652 C AfD: Co-Regulierung als ergänzendes c) Antrag der Abgeordneten Amira Instrument des Wettbewerbsrechts und Mohamed Ali, Dr. Gesine Lötzsch, Doris des Verbraucherschutzes Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 19/25808 ...... 25637 B Fraktion DIE LINKE: Gutes Essen für Dr. (CDU/CSU) ...... 25637 B alle in Kita und Schulen Drucksache 19/25786 ...... 25652 C Dr. (AfD) ...... 25638 B (SPD) ...... 25639 A in Verbindung mit Michael Theurer (FDP) ...... 25640 B (DIE LINKE) ...... 25641 A Zusatzpunkt 5: Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN) ...... 25641 D schusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Hansjörg Durz (CDU/CSU) ...... 25642 D Bauer, , Dr. , Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 III weiterer Abgeordneter und der Fraktion der weiterer Abgeordneter und der Fraktion FDP: Künstliche Intelligenz vermeidet der FDP: Nationale Bioökonomiestrate- Lebensmittelverschwendung gie der Bundesregierung SMART gesta- Drucksachen 19/18953, 19/25870 ...... 25652 C lten Drucksache 19/14742 ...... 25669 A in Verbindung mit , Bundesministerin BMBF . . . . 25669 A Norbert Kleinwächter (AfD) ...... 25670 B Zusatzpunkt 6: René Röspel (SPD) ...... 25671 B Antrag der Abgeordneten Renate Künast, , , weiterer Abge- (Südpfalz) (FDP) ...... 25672 C ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Dr. (DIE LINKE) ...... 25673 B GRÜNEN: Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher stärken – Transparenz Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 25674 A bei der Lebensmittelkontrolle ermöglichen (CDU/CSU) ...... 25674 D Drucksache 19/25544 ...... 25652 D Julia Klöckner, Bundesministerin BMEL . . . . . 25652 D Tagesordnungspunkt 16: (AfD) ...... 25653 D Antrag der Abgeordneten Sven Lehmann, (SPD) ...... 25654 C Anja Hajduk, Dr. Wolfgang Strengmann- (FDP) ...... 25656 A Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (DIE LINKE) ...... 25656 D BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Garantie- sicherung statt Hartz IV – Mehr soziale Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Sicherheit während und nach der Corona- DIE GRÜNEN) ...... 25657 C Krise (CDU/CSU) ...... 25658 B Drucksache 19/25706 ...... 25675 D (CDU/CSU) ...... 25659 A Sven Lehmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 25676 A Zusatzpunkt 7: (CDU/CSU) ...... 25677 A Antrag der Abgeordneten Dr. , Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ , , weiterer Abgeord- DIE GRÜNEN) ...... 25677 C neter und der Fraktion DIE LINKE: Patente Jörg Schneider (AfD) ...... 25678 D für Impfstoffe freigeben – Weder wirt- (Wetzlar) (SPD) ...... 25679 D schaftliche noch nationale Interessen dür- fen die Bekämpfung der Pandemie beein- (FDP) ...... 25680 C trächtigen (DIE LINKE) ...... 25681 B Drucksache 19/25787 ...... 25659 D (CDU/CSU) ...... 25681 D Dr. Achim Kessler (DIE LINKE) ...... 25660 A Dr. (SPD) ...... 25682 D Dr. (CDU/CSU) ...... 25661 A Paul Viktor Podolay (AfD) ...... 25661 D Martina Stamm-Fibich (SPD) ...... 25662 C Tagesordnungspunkt 25: Pascal Meiser (DIE LINKE) ...... 25663 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- Dr. (FDP) ...... 25664 C ten Gesetzes zur Änderung des Lebens- Amira Mohamed Ali (DIE LINKE) ...... 25665 B mittel- und Futtermittelgesetzbuches Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ sowie anderer Vorschriften DIE GRÜNEN) ...... 25666 A Drucksache 19/25319 ...... 25683 C (CDU/CSU) ...... 25667 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Sieb- (CDU/CSU) ...... 25668 A ten Gesetzes zur Änderung von Ver- brauchsteuergesetzen Drucksache 19/25697 ...... 25683 D Tagesordnungspunkt 15: c) Erste Beratung des von den Abgeordneten a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Stephan Brandner, Mariana Iris Harder- Nationale Bioökonomiestrategie Kühnel, , weiteren Abgeord- Drucksache 19/16722 ...... 25668 D neten und der Fraktion der AfD einge- b) Antrag der Abgeordneten Mario brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Brandenburg (Südpfalz), , Änderung des Handelsgesetzbuchs (Ge- Dr. (Rhein-Neckar), setz zur Verringerung verjährungsbe- IV Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

dingter Einnahmeausfälle bei Forderun- über die Bekämpfung widerrechtlicher gen aus Ordnungsgeldverfahren gemäß Handlungen mit Bezug auf die interna- § 335 des Handelsgesetzbuches) tionale Zivilluftfahrt und zu dem Zu- Drucksache 19/25809 ...... 25683 D satzprotokoll vom 10. September 2010 e) Antrag der Abgeordneten , René zum Übereinkommen vom 16. Dezember Springer, Jürgen Pohl, weiterer Abgeord- 1970 zur Bekämpfung der widerrechtli- neter und der Fraktion der AfD: Aufhe- chen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen bung der Verdienstgrenze für geringfü- Drucksachen 19/24223, 19/25863 ...... 25684 C gig Beschäftigte durch eine dynamische b) Beschlussempfehlung und Bericht des Kopplung an die Inflation Ausschusses für Recht und Verbraucher- Drucksache 19/25807 ...... 25683 D schutz zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 9/20 in Verbindung mit Drucksache 19/25828 ...... 25684 D

Tagesordnungspunkt 24: in Verbindung mit a) Antrag der Abgeordneten , , , Zusatzpunkt 9: weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Eskalation a) Beschlussempfehlung und Bericht des in der Westsahara vermeiden – UN-Ver- Ausschusses für Arbeit und Soziales zu mittlung möglich machen dem Antrag der Abgeordneten Norbert Drucksache 19/25797 ...... 25684 A Kleinwächter, René Springer, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD zu dem Vorschlag für in Verbindung mit eine Richtlinie des Europäischen Parla- ments und des Rates über angemessene Tagesordnungspunkt 24: Mindestlöhne in der Europäischen Union KOM(2020) 682 endg.; Ratsdok.-Nr. c) Antrag der Abgeordneten Sevim 12477/20 – hier: Begründete Stellung- Dağdelen, Heike Hänsel, Dr. Alexander nahme gemäß Artikel 6 des Protokolls S. Neu, weiterer Abgeordneter und der Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon (Grund- Fraktion DIE LINKE: Völkerrecht in sätze der Subsidiarität und der Ver- der von Marokko besetzten Westsahara hältnismäßigkeit) – Unvereinbarkeit durchsetzen des Richtlinienentwurfs des Europä- Drucksache 19/25784 ...... 25684 A ischen Parlaments und des Rates über angemessene Mindestlöhne in der Euro- in Verbindung mit päischen Union mit dem Subsidiaritäts- prinzip Zusatzpunkt 8: Drucksachen 19/25307, 19/25864 ...... 25685 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des a) Antrag der Abgeordneten Dr. Wieland Ausschusses für Recht und Verbraucher- Schinnenburg, Christine Aschenberg- schutz zu den Streitverfahren vor dem Dugnus, Michael Theurer, weiterer Abge- Bundesverfassungsgericht ordneter und der Fraktion der FDP: 2 BvR 2216/20 und 2 BvR 2217/20 Patientensicherheit bei Aligner-Behand- Drucksache 19/25829 ...... 25685 A lungen durchsetzen Drucksache 19/25668 ...... 25684 B b) Antrag der Abgeordneten Carl-Julius Cronenberg, Michael Theurer, Johannes Zusatzpunkt 10: Vogel (Olpe), weiterer Abgeordneter und Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- der Fraktion der FDP: Unabhängigkeit nen der CDU/CSU und SPD: Nach dem der Mindestlohnkommission garantie- Sturm auf das US-Kapitol – Strategien zur ren, Subsidiarität achten Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat- Drucksache 19/25793 ...... 25684 B lichkeit in Deutschland und der Welt , Bundesminister AA ...... 25685 B Tagesordnungspunkt 26: Dr. Gottfried Curio (AfD) ...... 25686 C a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Dr. Johann David Wadephul (CDU/CSU) . . . . 25687 D des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Über- Alexander Graf Lambsdorff (FDP) ...... 25688 D einkommen vom 10. September 2010 (DIE LINKE) ...... 25690 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 V

Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ Zusatzpunkt 16: DIE GRÜNEN) ...... 25691 A Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Dr. (SPD) ...... 25692 B SPD: Feststellung gemäß § 52 Absatz 4 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes (AfD) ...... 25693 B Drucksache 19/25816 ...... 25714 D Jürgen Hardt (CDU/CSU) ...... 25694 C (CDU/CSU) ...... 25714 D (SPD) ...... 25695 C (AfD) ...... 25715 D (CDU/CSU) ...... 25696 C Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) ...... 25717 A Dr. (SPD) ...... 25697 D (FDP) ...... 25718 C (CDU/CSU) ...... 25698 D (DIE LINKE) ...... 25719 C Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 19: DIE GRÜNEN) ...... 25720 A Erste Beratung des von den Fraktionen der (fraktionslos) ...... 25721 A CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs (CDU/CSU) ...... 25721 C eines Gesetzes zur Änderung des Ein- führungsgesetzes zur Abgabenordnung – Namentliche Abstimmung ...... 25722 C Verlängerung der Steuererklärungsfrist in beratenen Fällen und der zinsfreien Ergebnis ...... 25731 C Karenzzeit für den Veranlagungszeitraum 2019 Tagesordnungspunkt 20: Drucksache 19/25795 ...... 25699 D Beratung der Antwort der Bundesregierung (SPD) ...... 25699 D auf die Große Anfrage der Abgeordneten (AfD) ...... 25700 C , Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Frak- (CDU/CSU) ...... 25701 B tion DIE LINKE: Antimuslimischer Rassis- (FDP) ...... 25702 B mus und Diskriminierung von Muslimen in (DIE LINKE) ...... 25703 A Deutschland Drucksachen 19/11240, 19/17069 ...... 25722 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . 25703 B Christine Buchholz (DIE LINKE) ...... 25722 D (CDU/CSU) ...... 25704 A (CDU/CSU) ...... 25723 C (Heidelberg) (SPD) ...... 25704 C Dr. Bernd Baumann (AfD) ...... 25725 A Fritz Güntzler (CDU/CSU) ...... 25705 C (SPD) ...... 25726 A Benjamin Strasser (FDP) ...... 25727 A Tagesordnungspunkt 18: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 25727 C Antrag der Abgeordneten Dr. Bruno Dr. (SPD) ...... 25728 D Hollnagel, Albrecht Glaser, , weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der AfD: Steuergelder der deutschen Tagesordnungspunkt 21: Bürger vor nicht zielgerichtetem Einsatz a) Antrag der Abgeordneten Dr. Götz im EU-Budget schützen und ihre Haftun- Frömming, Stephan Brandner, Marcus gen begrenzen Bühl, weiterer Abgeordneter und der Frak- Drucksache 19/25806 ...... 25706 B tion der AfD: 2021 zum Jahr der deut- Dr. (AfD) ...... 25706 C schen Sprache erklären Dr. André Berghegger (CDU/CSU) ...... 25707 B Drucksache 19/25801 ...... 25729 B b) Antrag der Abgeordneten Martin Erwin (FDP) ...... 25708 C Renner, , , (SPD) ...... 25709 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion Albrecht Glaser (AfD) ...... 25710 D der AfD: Deutsch als Arbeitssprache in der Gemeinsamen Außen- und Sicher- Metin Hakverdi (SPD) ...... 25711 B heitspolitik der Europäischen Union Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 25711 D Drucksache 19/25802 ...... 25729 C Dr. (BÜNDNIS 90/ Dr. Götz Frömming (AfD) ...... 25729 C DIE GRÜNEN) ...... 25712 C (CDU/CSU) ...... 25730 D (CDU/CSU) ...... 25713 C (FDP) ...... 25734 A VI Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Martin Rabanus (SPD) ...... 25735 A (SPD) ...... 25749 D (DIE LINKE) ...... 25735 D Stefan Liebich (DIE LINKE) ...... 25750 B (BÜNDNIS 90/ Stefan Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 25736 C DIE GRÜNEN) ...... 25751 A Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU) ...... 25737 D Sebastian Brehm (CDU/CSU) ...... 25751 D Helge Lindh (SPD) ...... 25738 C (SPD) ...... 25753 A

Zusatzpunkt 11: Zusatzpunkt 15: Antrag der Abgeordneten Dr. h. c. , Katja Suding, Dr. Jens Antrag der Abgeordneten Katrin Göring- Brandenburg (Rhein-Neckar), weiterer Abge- Eckardt, Beate Müller-Gemmeke, ordneter und der Fraktion der FDP: Lock- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Ab- down nutzen – Schuljahr retten geordneter und der Fraktion BÜND- Drucksache 19/25791 ...... 25739 A NIS 90/DIE GRÜNEN: Homeoffice-Gebot und Arbeitsschutz in der Pandemie konse- in Verbindung mit quent durchsetzen Drucksache 19/25798 ...... 25754 A Zusatzpunkt 12: Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 25754 A Antrag der Abgeordneten Dr. Birke Bull- Bischoff, Dr. Petra Sitte, Anke Domscheit- (CDU/CSU) ...... 25754 D Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE LINKE: Schulen und Kitas in der Pan- DIE GRÜNEN) ...... 25755 C demie – Planungssicherheit schaffen Drucksache 19/25799 ...... 25739 B Jürgen Pohl (AfD) ...... 25756 D Dr. h. c. Thomas Sattelberger (FDP) ...... 25739 B (SPD) ...... 25757 D Dr. (CDU/CSU) ...... 25740 A Johannes Vogel (Olpe) (FDP) ...... 25758 C Dr. Götz Frömming (AfD) ...... 25741 A (DIE LINKE) ...... 25759 B (SPD) ...... 25742 A (CDU/CSU) ...... 25760 A Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE) ...... 25743 B (SPD) ...... 25761 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 25744 A Nächste Sitzung ...... 25762 C (CDU/CSU) ...... 25744 D Anlage 1 Zusatzpunkt 13: Entschuldigte Abgeordnete ...... 25763 A Antrag der Abgeordneten Christian Dürr, Dr. , Katja Hessel, weiterer Ab- Anlage 2 geordneter und der Fraktion der FDP: Mehr Vermögen aufbauen statt Leistung bestra- Erklärungen nach § 31 GO zu der namentli- fen chen Abstimmung über den Antrag der Frak- Drucksache 19/25792 ...... 25746 A tionen der CDU/CSU und SPD: Feststellung gemäß § 52 Absatz 4 Satz 1 des Bundeswahl- in Verbindung mit gesetzes (Zusatzpunkt 16) ...... 25764 A Zusatzpunkt 14: (AfD) ...... 25764 A Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Kleinwächter (AfD) ...... 25764 B , Christian Dürr, Dr. Florian Toncar, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Anlage 3 Gesetzes zur Änderung des Vermögens- Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten teuergesetzes (VStG) Hans-Jürgen Irmer (CDU/CSU) zu der na- Drucksache 19/25789 ...... 25746 B mentlichen Abstimmung über den Antrag der Christian Dürr (FDP) ...... 25746 B Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feststel- lung gemäß § 52 Absatz 4 Satz 1 des Bundes- Sepp Müller (CDU/CSU) ...... 25747 B wahlgesetzes Albrecht Glaser (AfD) ...... 25748 C (Zusatzpunkt 16) ...... 25764 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 VII

Anlage 4 (Tagesordnungspunkt 20) ...... 25764 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Hans-Jürgen Irmer (CDU/CSU) ...... 25764 D Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Christine Buchholz, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Antimuslimischer Rassismus und Diskriminierung von Muslimen in Deutsch- Anlage 5 land Amtliche Mitteilungen ...... 25765 D

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(A) (C)

204. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte einen Geschäftsordnungsantrag behandeln. Die Frak- nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. tion der AfD hat beantragt, den Zusatzpunkt 16 von der heutigen Tagesordnung abzusetzen. Vor Eintritt in die Tagesordnung haben wir die Freude, einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen zu besonde- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE ren Geburtstagen seit der letzten Sitzung zu gratulieren. GRÜNEN]: Und täglich grüßt das Murmel- Zum 60. Geburtstag gratuliere ich nachträglich den Kol- tier!) leginnen Sabine Zimmermann, Sylvia Pantel und Sybille Benning. Das betrifft den Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Feststellung gemäß § 52 Absatz 4 Satz 1 des Bun- (Beifall) deswahlgesetzes“. (B) Zum 65. Geburtstag gratuliere ich nachträglich den Kol- Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege (D) legen Erwin Rüddel und Johannes Selle Baumann, AfD. (Beifall) (Beifall bei der AfD – Katrin Göring-Eckardt – wenn Sie wollen, machen wir Einzelapplaus; das dauert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat wieder aber länger –, den Kolleginnen Bettina Hagedorn und nicht aufgepasst, oder?) Jutta Krellmann sowie der Kollegin Ulla Ihnen, die gerade neben mir als Schriftführerin sitzt. Dr. Bernd Baumann (AfD): (Beifall) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen Dem Kollegen Dr. Bruno Hollnagel gratuliere ich nach- am Beginn eines Superwahljahres: sechs Landtagswah- träglich zum 73. Geburtstag. Allen wünsche ich alles len, eine Bundestagswahl. Ohne Ankündigung haben die Gute im Namen des ganzen Hauses für das neue Lebens- Regierungsfraktionen gestern einen Antrag für die heuti- jahr. ge Debatte aufgesetzt. Er ermächtigt die Regierung umfassend: Mit einer Art Notverordnung kann sie in (Beifall) sämtliche Wahlverfahren eingreifen, in denen die Par- Jetzt müssen wir zwei Wahlen durchführen. Auf teien ihre Kandidaten für den Bundestag aufstellen. Vorschlag der Fraktion der SPD soll die Kollegin Wahlen sind die Herzkammern der Demokratie. Dieses Josephine Ortleb als Nachfolgerin für die Kollegin Vorgehen heute ist eine Operation am offenen Herzen. als stellvertretendes Mitglied des Ge- Darüber müssen wir aber ausreichend reden, bevor wir meinsamen Ausschusses gemäß Artikel 53a des im Bundestag einen solchen Demokratienotfall erklären. Grundgesetzes gewählt werden. Stimmen Sie dem Wir müssen das in Ausschüssen debattieren. Nehmen Sie zu? – Das ist offensichtlich der Fall. Also ist die Kollegin diesen übereilten Antrag wieder von der Tagesordnung Ortleb zum stellvertretenden Mitglied des Gemeinsamen runter, meine Damen und Herren! Ausschusses gewählt. (Beifall bei der AfD) Auch auf Vorschlag der Fraktion der SPD soll die Kollegin Dorothee Martin als Nachfolgerin für die Kol- Mit dem heute vorliegenden Antrag rücken so Dinge legin Josephine Ortleb zur Schriftführerin gewählt wer- wie Briefwahl und digitale Abstimmung plötzlich in den den. Stimmen Sie dem auch zu? – Das ist ebenfalls der Vordergrund. Sie sind, wie wir wissen, manipulierbar: Fall. Dann ist die Kollegin Martin zur Schriftführerin Niemand kann kontrollieren, wer von zu Hause aus Brie- gewählt. Herzlichen Glückwunsch! Auf gute Zusammen- fe abschickt oder am Computer abstimmt; auf Parteitagen arbeit! kann man das mit Personalausweisen. 25620 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dr. Bernd Baumann (A) Selbst der Bundeswahlleiter sieht die Ausweitung von Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) Briefwahlen prinzipiell kritisch. Jetzt erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung dem (Zuruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- Kollegen Michael Grosse-Brömer, CDU/CSU. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU) Wörtlich: Briefwahl, da bleibt immer „ein Restrisiko“. „Eine Wahl“, sagt er wörtlich, kann „auch unter Pande- Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): miebedingungen problemlos und unter Einhaltung aller Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hygienevorschriften abgehalten werden“. Dann muss das Einer der Wünsche, die ich fürs neue Jahr hatte, war, auch für Aufstellungsversammlungen gelten. dass unsere Redezeit nicht durch unsinnige Geschäfts- (Beifall bei der AfD – Katrin Göring-Eckardt ordnungsanträge der AfD permanent reduziert wird. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Thema? – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ ( [AfD]: Das entscheiden Sie, DIE GRÜNEN]: Das ist ja gar nicht das The- oder was? – Weitere Zurufe von der AfD) ma!) Leider ist dieser Wunsch, wie wir heute sehen, schon in Da können Sie doch nicht über Nacht der Regierung so der ersten Sitzungswoche nicht in Erfüllung gegangen. weitreichende Befugnisse geben und das Ganze durchs Das ist schade, aber wir müssen damit umgehen. Parlament jagen – ohne Vorankündigung, ohne Vorbe- Die Argumentation mit der Briefwahl erinnerte mich sprechung, ohne Beratung. so ein bisschen an Herrn Trump; aber das ist jetzt eine (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- andere Geschichte. NEN]: Haben Sie den Antrag mal gelesen? – (Zuruf von der AfD: Das wird immer schlim- Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE mer!) GRÜNEN]: Darum geht es nicht!) Leider wissen Sie ja wie immer, wenn Sie hier stehen, Das kann nicht sein, meine Damen und Herren. nicht, wovon Sie reden. Ich weiß gar nicht, ob Sie gestern (Beifall bei der AfD) mitbekommen haben, dass der Bundestagspräsident den Dazu ist auch gar keine Not. Die Pandemielage hat sich ja Punkt, den Sie heute kritisieren, hier vorgelesen hat, dass in den letzten Stunden überhaupt nicht geändert. wir darüber abgestimmt haben und der Punkt deshalb Teil der Tagesordnung wurde. (Zuruf der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (B) Die AfD hat in Nordrhein-Westfalen bereits über und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (D) bei Abgeordneten der LINKEN) 30 Wahlaufstellungsversammlungen gemacht: unter Hygienebedingungen, ohne Probleme – das geht. Dass Sie hier parlamentarische Abläufe nicht verstehen, Als Abgeordnete versammeln wir uns ja auch hier im daran habe ich mich ein Stück weit gewöhnt. Plenum physisch vor Ort, ebenso in allen Ausschüssen (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie hätten ihn des Parlamentes. Das soll bei Parteiaufstellungsver- Dienstag ankündigen können! Das haben Sie sammlungen nicht möglich sein? Es gibt keinen Grund, nicht gemacht!) Ihr Vorhaben so überfallartig durchs Parlament zu peit- schen. Das darf nicht sein, meine Damen und Herren. Aber dass Sie jetzt noch nicht mal dem Bundestagspräsi- denten zuhören, wenn er zu Beginn der Sitzung Tages- (Beifall bei der AfD) ordnungspunkte vorliest und wir die aufsetzen, Vor allem: Die Bundestagsfraktionen haben sich Re- geln gegeben, wie eine Tagesordnung zustande kommt. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Er kann nichts Die Regierungsfraktionen kündigten ihren heute vorlie- dafür! Sie können was dafür!) genden Antrag – wichtig und zentral politisch – aber nicht das ist wieder eine neue Qualität. Da müssen Sie mal an im Ältestenrat an. Nichts davon! Warum nicht? Sie haben sich selbst arbeiten; das ist kaum noch zu toppen. nicht mal in der Runde der Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer die Sache angekündigt. Vorgestern, am (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Dienstag: Kein Sterbenswort! Warum nicht? Das ist es, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- was wir monieren. Das ist das Problem hier, meine ordneten der FDP und der LINKEN) Damen und Herren. Der zweite Punkt bei dieser Geschichte – nur mal um (Beifall bei der AfD) zu sagen, worum es geht –: Es geht darum, heute festzu- stellen, dass eine wichtige Voraussetzung für die Bundes- Woher kommt dieser Druck? Kommt er aus dem Kanz- tagswahl und für die Handlungsfähigkeit dieses Parla- leramt? Was ist das Kalkül dahinter? Über all das müssen mentes, für die wir fraktionsübergreifend dauerhaft wir reden, bevor wir die Regierung zu durchgreifenden sorgen, wenn man mal von Ihrer Fraktion absieht, die Rechtsverordnungen ermächtigen. Nehmen Sie den An- permanent nur Ärger macht – aber das ist jetzt auch trag von der Tagesordnung! egal, weil es funktioniert, vielleicht gerade deshalb, (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer weil die anderen Fraktionen sich permanent Gedanken [CDU/CSU]: Mann, Mann, Mann! – Josephine machen, wie es gut funktionieren kann –, auch die Auf- Ortleb [SPD]: Was ist mit der Maske?) stellung von Kandidaten ist. Vielleicht fragen Sie mal die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25621

Michael Grosse-Brömer (A) Kollegen, die schwer erkrankt sind – das habe ich in der Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) Zeitung gelesen –, ob diese es wirklich so toll finden, Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsord- wenn Sie sagen: Das ist alles nicht so gefährlich; nung? (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das habe ich nicht (Zurufe von der AfD – Gegenruf des Abg. gesagt!) Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wie bit- te? Ich verstehe Sie nicht!) da können sich tausend Leute für eine Aufstellungsver- sammlung treffen; das interessiert mich gar nicht. – Herr Kollege Grosse-Brömer, Sie haben Ihre Rede beendet. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das hat keiner (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja!) gesagt!) Das ist auch deswegen wichtig, weil man zur Geschäfts- Wir haben dazu eine andere Auffassung. Wir wollen ordnung nicht länger als fünf Minuten reden darf. Voraussetzungen dafür schaffen, dass es auch digitale Aufstellungsversammlungen geben kann, demokrati- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da schen Regeln entsprechend, was eben als Grundlage für schreit mich jemand an, und ich kann ihn nicht die Handlungsfähigkeit unseres Staates notwendig ist. hören!) Darum geht es. Wir können in der Zeit das Pult richten. (Zuruf des Abg. Peter Boehringer [AfD]) Ich frage jetzt mal, ob es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung gibt. – Das ist offensichtlich nicht der Was wir diese Woche machen, ist nichts anderes als die Fall. Feststellung, dass es die Notwendigkeit gibt, darüber nachzudenken. Es ist noch gar kein Beschluss. Dann kommen wir zur Abstimmung über den Abset- zungsantrag der AfD. Wer stimmt für den Absetzungsan- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das ist noch nicht trag der AfD? – Das ist die AfD. Wer stimmt dagegen? – mal richtig eingetütet!) Das ist der Rest des Hauses. Wer enthält sich? – Nie- mand. Dann ist der Geschäftsordnungsantrag abgelehnt. Deswegen wundere ich mich und frage mich, ob Sie diese Anträge vielleicht nicht lesen. Es geht nur darum, dass Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b das die Voraussetzung für eine Verordnung ist, die dann auf: im Bundesinnenministerium erlassen wird. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Genau!) desregierung (B) Bericht der Bundesregierung über die (D) Die – diese Kleinigkeit haben Sie vielleicht vergessen zu gesetzliche Rentenversicherung, insbeson- erwähnen – kommt dann zurück in dieses Parlament. dere über die Entwicklung der Einnah- Dann wird darüber debattiert und wird beschlossen. men und Ausgaben, der Nachhaltigkeits- (Zuruf des Abg. Dr. Bernd Baumann [AfD]) rücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalen- Also, wo ist der Skandal, Herr Baumann? Das ist so derjahren lächerlich, was Sie hier abziehen. Es ist permanente Unfähigkeit oder möglicherweise auch Chuzpe. (Rentenversicherungsbericht 2020) und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Gutachten des Sozialbeirats bei Abgeordneten der LINKEN) Drucksache 19/24925

Es bleibt dabei: Sie kaschieren Ihre eigene Unfähigkeit Überweisungsvorschlag: durch ungeeignete und, wie ich finde, mittlerweile auch Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend lächerliche Geschäftsordnungsanträge. Haushaltsausschuss (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Überheblich!) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung Hören Sie dem Bundestagspräsidenten zu! Ergänzender Bericht der Bundesregie- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie müssen Ihre rung zum Rentenversicherungsbericht Arbeit machen!) 2020 Dann können Sie sich solche Anträge sparen. (Alterssicherungsbericht 2020) Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. und Gutachten des Sozialbeirats (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der AfD: Vergessen Sie die Maske nicht! – Drucksache 19/24926 Dr. Bernd Baumann [AfD]: Scheinheilig sind Überweisungsvorschlag: Sie! Das ist Ihre Art! – Gegenruf des Abg. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wie bit- Ausschuss für Kultur und Medien te? Ich habe Sie nicht verstanden!) Haushaltsausschuss 25622 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) beschlossen. der CDU/CSU) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Wir haben damit auch einen wesentlichen Beitrag zur Bundesminister Hubertus Heil. Entlastung von Wirtschaft und Beschäftigten geleistet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Und wir haben im Herbst dieses Jahres in diesem Deut- der CDU/CSU) schen Bundestag dafür gesorgt, dass Rentnerinnen und Rentner, dass vor allen Dingen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die digitale Renteninformation wis- Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- sen können, mit welchen Ansprüchen sie in der gesetz- les: lichen Rente und in anderen Säulen der Alterssicherung Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- rechnen können. ren! Wir legen heute dem Deutschen Bundestag den Alterssicherungsbericht und den Rentenversicherungsbe- Vor allen Dingen aber hat dieser Deutsche Bundestag richt vor. Damit verbunden sind zwei wichtige Nachrich- die Grundrente beschlossen, die jetzt zum 1. Januar in ten: Erstens. Die älteren Menschen in Deutschland leben Kraft getreten ist. Das, meine Damen und Herren, ist ganz überwiegend in gesicherten finanziellen Verhältnis- ein wesentlicher sozialpolitischer Meilenstein, weil es sen. Zweitens. Die Rentenversicherung folgt dem Prinzip das Vertrauen von Menschen in die Rentenversicherung der Lebensleistung. Es geht also um soziale Sicherheit, es stärkt, weil klar ist, dass diejenigen, die ihr Lebtag gear- geht auch um soziale Gerechtigkeit und Stabilität, und beitet haben, die Kinder erzogen haben, die Angehörige darum kümmern wir uns in dieser Koalition. gepflegt haben, mehr verdient haben als das, was sie bisher bekommen haben. Es kann nicht sein, dass vor Ganz konkret bedeutet das, dass die Haushaltseinkom- allen Dingen Frauen aufgrund von viel, viel zu niedrigen men der Menschen ab 65 Jahren in den Jahren 2015 bis Löhnen trotz ihrer Lebensleistung im Alter schlechterge- 2019 im Schnitt um 14 Prozent gestiegen sind; im Ver- stellt sind. Deshalb ist dieser Fortschritt der Grundrente gleich dazu stiegen die Lebenshaltungskosten übrigens ein Herzensanliegen – für mich jedenfalls –, und ich bin um 5,3 Prozent. Damit sichern wir ein Grundversprechen froh, dass es in dieser Koalition gelungen ist. des Generationenvertrages ab, nämlich dass Rentner- innen und Rentner Anteil am steigenden Wohlstand auf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten grund der in Deutschland erwirtschafteten Wirtschafts- der CDU/CSU) leistung haben, und zwar im gleichen Maß wie die Die Debatte ist heute aufgrund der Pandemie kurz. Menschen, die in Arbeit sind. Deshalb möchte ich in den letzten 30 Sekunden, die ich habe, auf Folgendes hinweisen – (B) Wichtig ist auch, dass die Rentenversicherung stabil (D) ist. Die Sicherungsreserve ist gut gefüllt, und die Renten sind gestiegen, jedenfalls bis zum letzten Jahr, bis vor der Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Coronakrise. Das liegt nicht nur an der guten wirtschaft- 16 Sekunden. lichen Entwicklung der Jahre vor der Coronakrise und der steigenden Zahl von Beschäftigten; es liegt auch an Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozia- rentenpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre und les: auch dieser Legislaturperiode. – „16 Sekunden“, hat mir der Präsident gerade gesagt; Ich will erwähnen den Rentenpakt, den wir auf den jetzt sind es noch 10 –: Weg gebracht haben, mit dem wir das Rentenniveau gesi- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) chert haben. Ich will erwähnen die Verbesserungen beim Thema der Mütterrente. Ich will erwähnen, dass wir Wir haben noch eine ganze Menge vor der Brust, um zumindest für zukünftige Fälle bei der Erwerbsminde- Weichen zu stellen, zum Beispiel die Absicherung von rung Verbesserungen eingeführt haben. Ich will erwäh- Selbstständigen im System der Alterssicherung. Das ist nen, dass wir die Beiträge gesenkt haben für 3 Millionen notwendig, gerade in diesen Pandemiezeiten, weil auch Beitragszahlerinnen und Beitragszahler mit geringem für Selbstständige gilt, dass sie nach einem Leben harter Einkommen, also bis 1 300 Euro, ohne dass sie bei ihren Arbeit eine anständige Absicherung im Alter brauchen. Alterssicherungsansprüchen schlechtergestellt werden. Das wird uns in den nächsten Wochen noch zu beschäf- tigen haben. Gleichzeitig konnten wir den Beitragssatz 2018 auf 18,6 Prozent absenken und stabil halten. Meine Damen Insgesamt können wir aber feststellen, dass die Alters- und Herren, damit da keine Mythen entstehen: Ich kann sicherung in Deutschland trotz mancher Diskussionen mich noch erinnern, dass vor 1998, also vor über 22 Jah- und auch mancher Diffamierung mit der tragenden Säule ren, der Rentenversicherungsbeitrag in Deutschland der gesetzlichen Rentenversicherung gut aufgestellt ist. schon mal über 20 Prozent war. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) richtig!) Insofern ist es eine wichtige Nachricht, dass wir die Bei- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: träge in der gesetzlichen Rentenversicherung stabil Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Schielke- gehalten haben. Ziesing, AfD. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25623

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) (C) Bei mir im Wahlkreis, Mecklenburgische Seenplatte, Ulrike Schielke-Ziesing (AfD): betrifft das zum Beispiel die Menschen in der Gastrono- Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr mie und im Tourismus. Bei den Selbstständigen sieht es Präsident! Verehrte Bürger! Aktuell sind die Zahlen der noch schlimmer aus. Schon heute sind viele ehemals Deutschen Rentenversicherung recht gut. Wir sollten uns Selbstständige im Alter auf Grundsicherung angewiesen, also daran erfreuen, solange dieser Zustand anhält; denn und es werden immer mehr. das Ende ist leider absehbar und wird aufgrund der wirt- Diese Entwicklung sehen wir seit Jahren, ohne dass die schaftlichen Folgen des Lockdown noch eher kommen. Bundesregierung irgendetwas dagegen getan hätte. Wir Wenn also im Bericht für das Jahr 2023 ein steigendes warten immer noch auf die Einbeziehung der Selbststän- Rentenniveau vorausgesagt wird, dann liegt das nicht digen in die Rentenversicherung. Wir warten immer noch etwa an den dann steigenden Renten und daran, dass darauf, dass die Doppelverbeitragung für Betriebsrentner, der Arbeitsminister so toll gearbeitet hat, sondern an deren Verträge vor 2004 abgeschlossen wurden, endlich den durch die Wirtschaftskrise bis dahin sinkenden Ein- beseitigt wird. Und wir warten immer noch auf die Um- kommen. Denn das Rentenniveau ist nichts anderes als setzung der angekündigten Hilfen für zahlreiche DDR- das Verhältnis vom durchschnittlichen Arbeitseinkom- Rentner, denen im Zuge der Rentenüberleitung ihre men zur Standardrente. Zusatzversorgung genommen wurde. Und vor allem war- Zur Wahrheit gehört auch: Die OECD hat unser Ren- ten wir immer noch auf eine vorausschauende Wirt- tensystem jüngst zum schlechtesten aller Industriestaaten schaftspolitik, weil letztendlich nur eine florierende Wirt- gekürt. schaft dafür sorgen kann, dass die Menschen zu guten (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Löhnen arbeiten können und dann entsprechend in die doch ein Witz! Marktradikale Irre!) Rentenkasse einzahlen. Altersarmut, die aktuelle wie die zukünftige, ist letztendlich das Ergebnis dieser Halb- Nirgendwo sonst in den Industriestaaten sind die Sozial- herzigkeit. beiträge so hoch wie bei uns und das Rentenniveau so niedrig. Nirgendwo dürfen die Menschen dafür auch Ich komme zum Ende mit einem Zitat aus dem Gut- noch so lange arbeiten. Dazu findet sich aber nichts im achten des Sozialbeirats: Rentenbericht und auch nichts im aktuellen Alterssiche- Damit für möglichst viele eine lebensstandardsi- rungsbericht; dabei wäre das durchaus angebracht. Viele chernde Gesamtversorgung gewährleistet wird, Menschen fragen sich zu Recht, wie es sein kann, dass muss die Politik den bisherigen Pfad der Alterssi- Deutschland Milliardenbeträge in einen europäischen cherung … überdenken. (B) Aufbaufonds verschiebt bzw. dafür bürgt, aus dem dann (D) Das, meine Damen und Herren, ist ein Armutszeugnis für Länder wie Italien und Spanien ihre üppigen Renten- die Bilanz zahlungen finanzieren. des Arbeitsministers und dieser Koalition. Denn leider: Ganz so rosig, wie Sie es darstellen, sieht die Altersversorgung in Deutschland eben nicht aus. Ja, Vielen Dank. es gibt gutgestellte Rentner. Vor allem aber haben wir (Beifall bei der AfD) einen dramatisch ansteigenden Teil von Rentnern, deren Rente nicht mehr zum Leben reicht. In meinem Bundes- land, in Mecklenburg-Vorpommern, gibt es für 40 Bei- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: tragsjahre gerade einmal 1 000 Euro Bruttorente im Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Weiß, Durchschnitt, und davon werden noch die Beiträge zur CDU/CSU. Kranken- und Pflegeversicherung abgezogen. Das kann (Beifall bei der CDU/CSU) nicht reichen, und das wissen Sie. (Beifall bei der AfD) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Vor diesem Hintergrund klingt es wie Hohn, dass Sie Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! zwar im Bericht feststellen, dass das Betriebsrentenstär- Gerade in einer Zeit vielfältiger Verunsicherung, wie kungsgesetz bislang weitgehend wirkungslos war und wir sie derzeit erleben, tut es gut, dass ein nicht auf Ver- auch dass die nachgelagerte Besteuerung der Renten mutungen, sondern auf präzis erhobenen Zahlen be- das Versorgungsniveau senken wird, aber dann darauf ruhender Bericht zeigt: Unsere gesetzliche Rente, das verweisen, dass die Bürger ja privat vorsorgen könnten. Hauptstandbein der Altersversorgung der Menschen in Ja, wovon denn? Die vielgepriesene Riester-Rente – auch unserem Land, ist stabil, ist gerade in dieser Krise stabil; das wissen wir heute – war ein Schuss in den Ofen. Nach und sie hat vor allen Dingen eine ausreichende Rücklage der anfänglichen Euphorie sank die Zahl der Verträge von über 36 Milliarden Euro zum Jahresbeginn 2021, die kontinuierlich. uns hilft, auch bei wirtschaftlichen Schwankungen und Veränderungen zu sagen: Ja, die Rente ist sicher in unse- Wollen die Menschen nicht mehr privat vorsorgen? rem Land. – Das ist eine tolle Nachricht. Die Antwort ist: Sie können nicht. Von allen Beschäftig- ten, die weniger als 1 500 Euro brutto im Monat verdie- (Beifall bei der CDU/CSU) nen, hat noch nicht einmal die Hälfte eine zusätzliche Klar, die Pandemie wird auch ihre Auswirkungen Altersversorgung, und damit ist die Altersarmut vorpro- haben. Die wahrscheinlich nicht gerade tolle Lohnent- grammiert. wicklung des Jahres 2020 wird ihre Auswirkung darin 25624 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Peter Weiß (Emmendingen) (A) haben, dass eben 2021 die Renten nicht steigen können. eine verpflichtende Altersvorsorge für Selbstständige (C) Trotzdem ist schon sicher, dass für die Rentnerinnen und ebenfalls ein Vorhaben, das aus diesem Alterssicherungs- Rentner im Osten es noch mal eine Steigerung geben bericht zwingend als Notwendigkeit zu erkennen ist. wird. Auch das ist eine gute Botschaft: Der Osten holt auf. Wir schaffen schnell und zügig die Rentenanglei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. chung Ost-West. Kerstin Tack [SPD]) Wir haben ja im Parlament immer wieder Debatten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) über niedrige Renten. Die gibt es, ja, aber vor allem – Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist vom das zeigt der Bericht als Erstes – bei denjenigen, die nicht Herrn Bundesminister daran erinnert worden: Wir haben einmal 30 Jahre im Arbeitsleben waren. Da ist es auch ja zurzeit einen, wenn man die letzten Jahrzehnte über- eine logische Konsequenz; dann kann man ja keine Ent- blickt, historisch niedrigen Rentenbeitrag von 18,6 Pro- geltpunkte angesammelt haben. Der Bericht zeigt uns zent. Wenn man das würdigen will, dann muss man die auch als Zweites: Meistens, sehr oft fällt niedrige Rente alten Rentenversicherungsberichte von früheren Jahren mit einem sehr hohen Einkommen zusammen. Das wird lesen. Wenn man den alten Berichten von vor zehn Jahren meistens in Debatten verschwiegen, weil es sich nämlich folgen würde, dann müssten wir heute bei 19,9 Prozent um Personen, um Mitbürgerinnen und Mitbürger handelt, Rentenversicherungsbeitrag liegen die in anderer Art und Weise fürs Alter vorgesorgt haben, ein gutes Alterseinkommen haben. Mit einer gemäß der (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Dann Statistik niedrigen Rentenzahlung ist noch nichts über hätten wir aber auch höhere Renten! Das wäre Altersarmut ausgesagt. Man muss immer gucken: Was mir viel lieber!) ist das Gesamteinkommen? Dazu sieht man eben in die- und müssten mit einer Minirücklage in der Rentenversi- sem Bericht sehr deutlich herausgearbeitet: Oft steht cherung rechnen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das niedrige Rente im Zusammenhang mit hohem Altersein- zeigt den Erfolg der letzten Jahrzehnte, in denen wir das kommen, das aus anderen Quellen stammt. – Auch das Rentensystem stabil gemacht haben, Leistungsverbesse- sollte man endlich aus Fairness mal zur Kenntnis neh- rungen eingeführt haben und trotzdem den historisch men. niedrigsten Beitragssatz haben. Das muss man erst mal (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. hinbekommen. Wir haben es hinbekommen. Birkwald [DIE LINKE]: Wie hoch ist denn (Beifall bei der CDU/CSU) die Armutsquote bei den Rentnerinnen und Rentnern?) Der Alterssicherungsbericht, der nur alle vier Jahre (B) vorzulegen ist und der auf der mit über 40 000 Befragun- Dann haben wir – das ist schon interessant – auch (D) gen größten Repräsentativerhebung zur Altersvorsorge in öffentliche Debatten erlebt über das Thema „Menschen, Deutschland fußt – nirgendwo gibt es solidere und besser die im Rentenalter sind und doch noch arbeiten gehen“. erhobene Zahlen als in diesem Bericht –, zeigt uns: Es Dazu, finde ich, ist diese Untersuchung hochinteressant. gibt viel Licht, es gibt auch Schatten. Zum Licht gehört, Ja, 24 Prozent der Befragten sagen, sie machen das, weil dass in der Tat die Alterseinkommen der Deutschen in sie dadurch ihre finanzielle Situation verbessern wollen. den letzten zehn Jahren gestiegen sind. Zum Licht gehört Aber noch mal mehr, 27 Prozent, sagen, sie machen das, auch, dass die Verbreitung der privaten und betrieblichen weil sie Spaß an der Arbeit haben. Und 22 Prozent sagen: Altersvorsorge angestiegen ist. Allerdings ist sie in den weil sie weiterhin eine Aufgabe haben wollen. Das zeigt letzten Jahren dem hohen Beschäftigungsaufwuchs nicht doch sehr deutlich: Das Bild ist viel bunter. Es ist doch nachgekommen. Das zeigt: Das ist einer der Punkte, an schön, dass viele Menschen im Rentenalter sagen: Ich denen wir nachsteuern müssen, um die zusätzliche habe Spaß und Freude an Arbeit, und deswegen mache Altersvorsorge zu stärken. ich das. – Das sollten wir ihnen nicht vermiesen und auch nicht schlechtreden. Da spielt natürlich die Frage, wie gerade Geringver- diener zu einer zusätzlichen Rente kommen sollen, eine (Beifall bei der CDU/CSU) entscheidende Rolle. Wir haben ja deswegen die Gering- Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesen verdienerförderung eingeführt. Der Alterssicherungsbe- wenigen Hinweisen will ich einfach nur sagen: Dieser richt sagt uns: Ja, das fängt schon an zu wirken. – Ich Alterssicherungsbericht, für den ich mich ausdrücklich bin der Auffassung, wir sollten diese Geringverdiener- bedanke, weil er so hervorragende Untersuchungen auf förderung, die eine rein arbeitgeberfinanzierte betriebli- breiter Basis enthält, zeigt: Wir haben mehr Licht als che Altersvorsorge aufbaut, noch mal zusätzlich stärken Schatten in der deutschen Altersversorgung. Wir sind und vielleicht auch verpflichtend machen. aber aufgerufen, auch die Schattenstellen gründlich zu Das Zweite ist das Thema der Selbstständigen. Der bearbeiten. Das wollen wir machen. Bericht zeigt: Wir haben eine große Zahl von Selbststän- Vielen Dank. digen, die ein gutes Einkommen haben, gut fürs Alter vorgesorgt haben – kein Problem. Aber wir haben eben (Beifall bei der CDU/CSU) auch eine Gruppe von Selbstständigen, die wenig oder gar nicht fürs Alter vorgesorgt hat, was zu dem Effekt Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: führt, dass der Anteil ehemals Selbstständiger in der Jetzt erhält das Wort der Kollege Johannes Vogel, FDP. Grundsicherung im Alter deutlich höher ist als der frühe- rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deswegen ist (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25625

(A) Johannes Vogel (Olpe) (FDP): Wir haben Sie in diesem Plenum schon mehrfach (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In gefragt, und Sie beantworten diese Frage bis heute nicht: der Tat, dieser Bericht zeigt Licht, er zeigt Schatten, Wie wollen Sie das künftig finanzieren, liebe Kollegin- und er wirft Fragen auf. nen und Kollegen? Licht, in der Tat. Gott sei Dank ist die finanzielle Situa- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Matthias tion der meisten Menschen im Alter in unserem Land gut. W. Birkwald [DIE LINKE]: Mit Geld!) Gute wirtschaftliche Entwicklung kommt auch bei den Soll der Beitragssatz für die Jüngeren explodieren? Set- Menschen an. Die meisten, die im Alter noch arbeiten, zen Sie auf wundersame Brotvermehrung im Steuertopf? tun das, weil sie es gerne wollen. Liebe Kolleginnen und Wollen Sie, dass die Hälfte des Bundeshaushaltes künftig Kollegen, der politische Schluss daraus muss doch sein: für den Rentenzuschuss draufgeht? Wir sind jetzt schon erstens ein flexibles Rentensystem, wie Schweden uns auf dem Weg zu einem Drittel. Oder wollen Sie die das vormacht, wo man selber entscheiden kann, wie lange Steuern erhöhen? Um das mal zu quantifizieren: 80 Mil- man arbeiten will, liarden Euro zusätzliche Kosten jährlich, das wären zum Beispiel 6 Prozent Mehrwertsteuererhöhung. Oder sollen (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kann alle Bürgerinnen und Bürger zwangsweise bis 70 arbei- man auch heute schon!) ten? und zweitens zielgenaues Vorgehen gegen Altersarmut. Diese Fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unsere Kernkritik an Ihrer Grundrente ist, dass die genau Großen Koalition, müssen Sie beantworten; Sie tun es bis das nicht leistet, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das heute nicht. Deshalb muss man leider sagen: Für die ist falsch. jüngere Generation – denn die müssen das bezahlen – ist das eine katastrophale Bilanz in der Rentenpolitik. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Matthias W. Birkwald Schatten, in der Tat. Der Bericht zeigt auch, dass Män- [DIE LINKE]: Die kriegen noch schlechtere ner im Alter immer noch erheblich besser abgesichert Renten!) sind als Frauen. Das zeigt, wie wichtig Gleichstellung Dieser Bericht zeigt leider auch: Wir müssen bei der auf dem Arbeitsmarkt ist und ein Rentensystem, das zu Rente endlich anfangen, wieder in Jahrzehnten zu den- modernen Lebensläufen passt. Schatten: Der Bericht ken – und nicht nur bis zum Ende der Legislaturperiode. zeigt, dass – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Ihre Rentenpolitik macht leider das Gegenteil, und wir Union, Peter Weiß hat es eben beklagt – genau seitdem sollten in diesem Wahljahr darüber reden, wie wir das Sie, namentlich Horst Seehofer mit seiner Aussage „Ries- in Deutschland wieder ändern können, liebe Kolleginnen (B) (D) ter ist gescheitert“ – er ist ja hier –, angefangen haben, die und Kollegen. kapitalgedeckte Altersvorsorge schlechtzureden, die Ver- breitung in Deutschland zurückgeht. Das zeigt doch: Wir (Beifall bei der FDP) sollen sie nicht schlechtreden, sondern endlich besser machen; denn wir brauchen die kapitalgedeckte Alters- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: vorsorge. , Die Linke, hat als Nächster das Wort. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Deshalb muss sie endlich einfacher, verbraucherfreundli- LINKEN: Das wird eine gute Rede!) cher und aktienorientierter werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrter Herr Minister! Und: Fragen, die wirft dieser Bericht insbesondere Meine Damen und Herren! Ein Vergleich mit Frankreich auch auf. Das ist ja der letzte Rentenversicherungsbe- und Italien aus der „Welt am Sonntag“ in puncto Rente richt, den wir hier in dieser Legislaturperiode diskutieren, zeigt: Es ist höchste Zeit für einen Neustart in der Ren- das heißt auch ein Stück weit die Gesamtbilanz dieser tenpolitik. Koalition in der Rentenpolitik. Daher, lieber Hubertus Heil, sehr geehrter Herr Arbeitsminister, will ich mal Warum? Die Menschen in Frankreich und Italien ein paar Fragen formulieren, die bis heute unbeantwortet geben für ihre Seniorinnen und Senioren deutlich mehr sind. Geld aus als wir. Darum erhalten Durchschnittsver- dienende hierzulande auch nur die Hälfte ihres Nettoein- Ihr Rentenpaket, liebe Kolleginnen und Kollegen von kommens als Rente. In Frankreich sind es mehr als zwei der Großen Koalition, sorgt dafür, dass wir bis 2030 Drittel und in Italien sogar fast 80 Prozent. Darum dürfen 68 Milliarden Euro zusätzliche Kosten haben, sagt die die Menschen in diesen beiden Ländern eher in Rente Deutsche Rentenversicherung. Bis 2035 haben wir schon gehen; denn in Deutschland liegt das tatsächliche 80 Milliarden Euro zusätzliche Kosten, Renteneintrittsalter durchschnittlich bei knapp 62 Jahren, in Italien bei fast 61 Jahren und in Frankreich nur bei gut (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viel 59 Jahren. Geld geben wir derzeit für die Rente aus?) Frankreich und Italien liegen auf den Plätzen zwei und sagt ein Mitglied Ihrer Rentenkommission – übrigens drei bei der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft in nicht in Summe, sondern Jahr für Jahr. der Europäischen Union. Sie sind gut mit Deutschland 25626 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Matthias W. Birkwald (A) vergleichbar. Mehr Rente vom Netto, früher in Rente und Zweitens. Streichen Sie die willkürliche 12,5-Prozent- (C) höhere Ausgaben für Rentnerinnen und Rentner, das Kürzung aus der sogenannten Grundrente! zeigt: In Frankreich und in Italien sind die Älteren und Drittens und letztens. Arbeiten Sie mit uns nach die Alten der Gesellschaft deutlich mehr wert als in österreichischem Vorbild an einer einkommens- und Deutschland, und das ist gut so. vermögensgeprüften Solidarischen Mindestrente von (Beifall bei der LINKEN) 1 200 Euro plus Wohngeld in Städten mit sehr hohen Darum brauchen wir endlich Reformen mit Herz, Mut Mieten! und Verstand. Herr Präsident, mein letzter Satz. – Meine Damen und (Beifall bei der LINKEN) Herren, machen Sie endlich Politik für die Menschen statt für Profite! Stärken Sie die gesetzliche Rente, damit Die Linke sagt: Die Rentnerinnen und Rentner von Rentnerinnen und Rentner nicht nur in Frankreich und heute, morgen und übermorgen brauchen sichere Renten, Italien, sondern auch in Deutschland gut leben können! die verlässlich vor Altersarmut schützen und den Lebens- standard sichern, und das ohne Maloche bis zum Tode. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. [CDU/CSU]: Das waren aber viele Der aktuelle Rentenversicherungsbericht und der jüngste Punkte!) Alterssicherungsbericht zeigen deutlich, wie weit der Weg dahin ist: Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Erstens. Die Renten in Deutschland sind viel zu nied- rig. Die durchschnittlich ausgezahlte Rente aller gut Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Markus Kurth, 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner beträgt aktuell Bündnis 90/Die Grünen. nur 1 048 Euro, und da sind die Witwenrenten schon mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) drin. Aber 80 Prozent der Rentnerinnen und Rentner erhalten nur eine einzige Rente, und die liegt im Schnitt Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nur bei 949 Euro. Damit haben zwar nur wenige Men- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schen Anspruch auf Grundsicherung oder Wohngeld; leben mit den geburtenstarken Jahrgängen im Er- aber ein würdevolles Leben im Alter ist damit nicht mög- werbsleben seit Jahren in einer demografischen Schön- lich. Steigende Mieten und Mehrausgaben während der wetterphase. Wir haben – bis zur Coronapandemie – eine Pandemie drängen diese Menschen an den Rand, und der zehnjährige Phase der Hochkonjunktur mit guter Sozialstaat lässt sie nach einem harten Arbeitsleben oft Beschäftigungsentwicklung und guter Lohnentwicklung (B) im Stich. (D) hinter uns. Da müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn Zweitens. Die Altersarmut nimmt von Jahr zu Jahr zu, die Rentenfinanzen nicht relativ in Ordnung wären, was und das ist ein Skandal. sie sind. Was Sie, Herr Heil, aber verschwiegen haben – (Beifall bei der LINKEN) Sie schwelgen ja in der Vergangenheit und in der Erinne- rung –, ist, dass Sie diese wirklich guten Jahre komplett Nach Daten des Statistischen Bundesamtes liegt jeder verschenkt haben, um die Rentenversicherung auf die fünfte Rentnerhaushalt unterhalb der Armutsschwelle, Zukunft vorzubereiten. Herr Weiß, und die liegt nach dessen Konzept bei Allein- lebenden bei 1 074 Euro netto und für einen Zweiperso- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nenhaushalt bei 1 611 Euro. sowie des Abg. Pascal Kober [FDP]) Meine Damen und Herren, 20 Prozent Arme sind viel Ganz im Gegenteil haben Sie mit Mütterrente I und II, zu viel, und daran muss sich jetzt dringend etwas ändern. Rente mit 63 neue Ausgabenblöcke geschaffen, die aus Steuermitteln hätten finanziert werden müssen und nicht (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. aus Beitragseinnahmen. Das belastet die gesetzliche Ren- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- tenversicherung mit insgesamt 13 Milliarden Euro pro NIS 90/DIE GRÜNEN]) Jahr. Das ist die Bilanz von sieben Jahren Großer Koali- Statt einer Nullrunde im Juli fordern wir Linken, das tion. Rentenniveau stufenweise wieder auf lebensstandardsi- chernde 53 Prozent anzuheben – wie im Jahr 2000. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Und dann sprechen Sie, Herr Weiß, von präzisen Zah- Dann läge die Durchschnittsrente nämlich nicht mehr bei len. 1 048 Euro, sondern mit knapp 1 155 Euro immerhin auch über der Armutsgrenze. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!) Liebe Bundesregierung, liebe Koalition, ich fordere Tatsache ist, dass dieser Rentenversicherungsbericht die Sie auf: Wirklichkeit verschleiert. Sie sprechen von einem Ge- samtversorgungsniveau von 53 bis 55 Prozent und neh- Erstens. Bekämpfen Sie die Ursachen zukünftiger men dabei an, dass die Leute vom ersten Tag an in die Altersarmut mit einem gesetzlichen Mindestlohn zwi- Riester-Rente einzahlen, dass 4 Prozent Rendite dabei schen 12 und 13 Euro! herausspringen und dass nicht mehr als 10 Prozent Ver- (Beifall bei der LINKEN) waltungskosten fällig werden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25627

Markus Kurth (A) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Irre! das zeigen beide Berichte. Da hat es auf Druck und Ini- (C) Wirklich irre!) tiative der SPD seit 2014 erhebliche Verbesserungen gegeben: mit der sogenannten Rente mit 63, mit Verbes- Die Wirklichkeit ist, dass gerade mal 11 Millionen serungen bei Erwerbsminderungsrenten, mit den Halte- Personen von 35 Millionen Berechtigten überhaupt die linien für Niveau und Beitrag bis 2025 und nicht zuletzt Riester-Zulagen kriegen, die meisten davon noch nicht mit der Grundrente. Und wir wollen die gesetzliche Rente mal vollständig. 4 Prozent Rendite kriegt man bei einer weiter stärken. sicheren Anlage niemals, und die durchschnittlichen Ver- waltungskosten betragen 25 Prozent, so nach Untersu- Was ihre Zukunft angeht, wird ja in diesen Tagen wie- chung des Vereins Finanzwende. Das ist die Wirklichkeit. der schlicht die Forderung „Wir müssen länger arbeiten, Das habe ich auch Ihr Ministerium gefragt, und das weil wir länger leben“ angeführt; anders sei das auf Dauer Ministerium, Herr Heil, hat gesagt, das seien alles nicht zu finanzieren. Um es klar zu sagen: Mit der SPD ist Modellannahmen, die Praxis – so nahezu wörtlich – sei eine pauschale Erhöhung der Altersgrenze nicht zu irrelevant. Also, wenn die Praxis für Sie irrelevant ist, machen. wenn es um so etwas Entscheidendes geht wie das (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald Gesamtversorgungsniveau, dann kann man bei diesem [DIE LINKE]: Mit der Linken auch nicht!) Rentenversicherungsbericht überhaupt nicht von präzisen Zahlen und von der Wirklichkeit sprechen. Denn eine erneute Heraufsetzung der Altersgrenze bedeutet für Hunderttausende eine Kürzung ihrer Renten- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ansprüche, für diejenigen nämlich, die es schon heute Ich sage jetzt ganz klar: Für Bündnis 90/Die Grünen – nicht schaffen, bis 65 plus zu arbeiten. Und mit weiter das haben wir in unserem Grundsatzprogramm erst jüngst steigendem Renteneintrittsalter würde dieser Anteil umso beschlossen – hat ein stabiles Rentenniveau oberste Prio- größer. rität; denn wir wollen eine verlässliche Einkommensab- Es ist auch eine Verteilungsfrage; denn Lebenserwar- sicherung für alle. Und wenn wir andere Gruppen in die tung und damit die Frage, wie lange überhaupt Rente Rentenversicherung einbeziehen wollen, zum Beispiel bezogen wird, hängt stark vom sozialen Status und vom die Selbstständigen, dann geht dies nur, wenn diese Lebensstandard ab. Konkret: Schlecht verdienende mehr erwarten können als eine etwas bessere Armutsab- Beschäftigte bekommen nicht nur geringere Renten, sie sicherung. haben oft auch weniger davon, weil sie nicht so lange (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) leben. Gute Arbeit ist auch hier der entscheidende Hebel für eine ordentliche Rente. (B) Das geht aber nur, wenn es eine stabile Einkommensab- (D) sicherung gibt. Wenn man schon die Forderung nach längerem Arbei- ten gebetsmühlenartig wiederholt, dann erwarte ich auch Das sage ich den Leuten, die vielleicht Angst haben konkrete Vorschläge, wie Arbeitsbedingungen und Ar- vor der Bürgerversicherung: Mit Bündnis 90/Die Grünen beitszeit so gestaltet werden können, dass deutlich mehr kann man sich darauf verlassen, dass das System der Beschäftigte die Rente gesund erreichen. gesetzlichen Versicherung intakt und solidarisch bleibt. (Beifall bei der SPD) Danke. Dann erwarte ich auch Lösungen für diejenigen, die es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wegen einer starken körperlichen Belastung einfach nicht schaffen und mit lebenslangen Abschlägen leben müssen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Dazu hört man aber nix. Ralf Kapschack, SPD, ist der nächste Redner. Was wir brauchen, sind mehr flexible und sozial abge- (Beifall bei der SPD) sicherte Optionen für den Übergang in den Ruhestand. Das Flexirentengesetz kann da eine gute Grundlage für Ralf Kapschack (SPD): entsprechende Vereinbarungen der Tarifpartner bieten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Da ist noch jede Menge Luft nach oben. finde es sehr gut, dass wir gerade jetzt über die gesetz- (Beifall bei der SPD) liche Rente und über die Altersversorgung insgesamt reden; denn viele Menschen – wir haben es schon gehört – Die Forderung nach längerer Lebensarbeitszeit wird ja haben nicht nur wegen der aktuellen Krise erhebliche mit den finanziellen Herausforderungen der Rentenversi- Bedenken, wie es denn mit der Rente weitergeht. Das cherung in den nächsten Jahren begründet. Wir haben da ist gefährlich für das Vertrauen in den Sozialstaat, und andere Vorschläge: Gute Arbeit mit ordentlichen Löhnen das ist auch gefährlich für das Vertrauen in die Demokra- und eine fantasievolle Wirtschafts- und Arbeitsmarktpo- tie. litik sind die entscheidenden Stellschrauben für eine gute Rente. Große Teile der Rentnerinnen und Rentner sind auf die gesetzliche Rente als einzige – zumindest als wichtigste – Die Beiträge sind bis 2025 gedeckelt, aber – das sage Einkommensquelle angewiesen; ich auch ganz offen – sie sind nicht in Stein gemeißelt. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 80 Pro- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr zent!) richtig!) 25628 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Ralf Kapschack (A) Daneben braucht es sicher auch in Zukunft erhebliche Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) Steuermittel. Und: Wir schlagen eine Erwerbstätigenver- Herr Kollege Straubinger, der Kollege Springer, AfD, sicherung vor, in die alle einzahlen, auch Selbstständige, würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Beamte und Abgeordnete. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Max Straubinger (CDU/CSU): Ja, bitte. Das hat auch etwas mit dem Zusammenhalt in der Gesell- (Zurufe von der LINKEN: Oh! – Scheiße!) schaft zu tun und mit Vertrauen in Staat und Demokratie. Herzlichen Dank. René Springer (AfD): Sehr geehrter Kollege Straubinger, vielen Dank, dass (Beifall bei der SPD) Sie die Frage zulassen. – Sie erwähnten gerade Ihren Fraktionskollegen Peter Weiß, der vorhin einen Redebei- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: trag gehalten hat. Ich würde noch mal auf diesen Rede- Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der beitrag zu sprechen kommen und Ihnen dazu eine Frage Kollege Max Straubinger, CDU/CSU. stellen. Ich möchte vorher kurz einleiten, worum es vor- hin in dem Redebeitrag von Peter Weiß ging. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben im letzten Jahr 1,29 Millionen Rentner gehabt, die neben ihrer Rente einer Erwerbstätigkeit Max Straubinger (CDU/CSU): nachgegangen sind. Ihr Fraktionskollege sagte, dass es Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir ideelle Gründe dafür gebe, zum Beispiel „Spaß an der sind am Schluss dieser Debatte zum Rentenversiche- Arbeit“ oder einfach „nützlich sein wollen“. In der Tat rungsbericht bzw. zum Alterssicherungsbericht. Ich glau- sagen Studien, dass das so ist. Andere Studien – das sind be, das sind eindrucksvolle Zahlen, die der Bundesminis- die Studien, die Ihnen sehr wohl bekannt sind, nämlich ter vorgestellt hat, die auch die Kollegen Weiß und die des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – Kapschack hier verdeutlicht haben. sagen nach statistischen Erhebungen hingegen, dass 70 Prozent der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit wäh- Dieser Rentenversicherungsbericht zeigt aber auch rend der Rente nachgehen, dies tun, weil das Geld nicht auf, dass die Rentnerinnen und Rentner vielfältige Mög- reicht; bei den Männern sind es 53 Prozent. lichkeiten haben. Es gibt ja nicht nur die gesetzliche Meine Fragen an Sie wären: Wie bewerten Sie es, dass Rentenversicherung, sondern auch die Beamtenversor- Ihr Kollege Peter Weiß die Öffentlichkeit so über die (B) (D) gung, die Versorgung in den berufsständischen Versor- Fakten hinwegtäuscht, die er als Sozialpolitiker selber gungswerken, in der landwirtschaftlichen Alterskasse kennen sollte? Und was sagen diese Zahlen eigentlich und in der Knappschaftsversicherung. Das zeigt: Die aus über Ihre vergangenen Leistungen hinsichtlich der Rentensituation für die Bürgerinnen und Bürger ist sehr Rentenpolitik im Land, über die Leistungen der Bundes- vielfältig, das hat sich auch aus der Historie heraus so regierung bei der Ausgestaltung der Rente, die offenbar ergeben. nicht mehr reicht, um ohne Arbeit im Lebensalter würde- Das Großartige dabei ist, dass die wenigsten Menschen voll leben zu können? auf Grundsicherung angewiesen sind: 2,5 Prozent bei den Vielen Dank. Altersrenten; bei der Erwerbsminderungsrente sind es etwas mehr. Selbst bei den Selbstständigen, bei denen (Beifall bei der AfD) wir darüber nachdenken, sie in eine Versicherungspflicht aufzunehmen, zeigt der Alterssicherungsbericht, dass nur Max Straubinger (CDU/CSU): 4,2 Prozent der Selbstständigen auf Grundsicherung Herr Kollege, die Darstellung des Kollegen Weiß kann angewiesen sind. ich nur bestätigen und untermauern. Allein wenn ich in Ihre Reihen schaue, muss ich feststellen, dass sehr viele Hier ist zu hinterfragen, aus welchen Gründen dies dabei sind, die im Alter noch arbeiten wollen, beim Frak- entstanden ist. Manche können auch kurz vorm Eintritt tionsvorsitzenden beginnend. in die Altersrente unter Umständen mit der Firma Pech haben, wenn sie abhängig sind von einem Lieferanten (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD, der bzw. wenn von einem, dem sie sehr vieles geliefert haben, LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das nicht bezahlt wird. Das gibt es natürlich auch, diese NEN) Wechselfälle des Lebens. Das zeigt aber auch sehr deut- Es ist offensichtlich durchaus möglich, dass man viel lich, dass wir mit dem Instrument der Grundsicherung, Freude hat, sodass man auch im gesetzteren Alter noch das in der Debatte in der Regel vielfach nicht großartig arbeiten will. Von daher ist das, was der Kollege Weiß geschätzt wird, sondern negativ bewertet wird, dargestellt hat, durchaus sehr nachvollziehbar und wird auch im Alterssicherungsbericht manifestiert. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie hoch ist denn die durchschnittliche Leistung Ich verstehe gar nicht, dass Sie das anzweifeln – vor in der Grundsicherung?) allen Dingen, da Sie bisher für die Rentenversicherung überhaupt kein Konzept haben. Ihre Fraktion weiß ja ein großartiges soziales Sicherungssystem für die Wech- immer noch nicht – nach fast vier Jahren Zugehörigkeit selfälle des Lebens haben. im Deutschen Bundestag, aber auch angesichts eines Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25629

Max Straubinger (A) doch schon etwas längeren Bestehens der Partei –, wie sie Deshalb ist es entscheidend, darauf zu achten, eine (C) sich zwischen der Abschaffung der Rentenversicherung vernünftige wirtschaftliche Grundlage in unserem Land und der kapitalgedeckten Altersvorsorge entscheiden zu erhalten. Und das ist, verehrte Kolleginnen und Kol- soll. Denn das, was Sie verabschiedet haben, war ein legen, nur zu erreichen, wenn wir weiterhin Zugang zu rentenpolitisches Wischiwaschi; anders kann man es den Weltmärkten haben. Ich danke der Bundeskanzlerin nicht nennen. insbesondere für ihr Eintreten für ein Investitionsabkom- men mit , (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Kana- da! CETA!) In keinster Weise haben Sie etwas dafür getan, dass sich die Menschen in der Zukunft danach sehnen und sagen: für das Abkommen mit Kanada, für das Mercosur-Ab- Die Alterssicherung, die uns die AfD auftischt, wäre kommen und dergleichen mehr. All das, was verschie- wirklich eine tolle Nummer. dentlich kritisch diskutiert wird, gerade von der linken Seite und von der rechten Seite, ist die Grundlage für (Norbert Kleinwächter [AfD]: Das wäre sie! – unseren wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand. Weitere Zurufe von der AfD) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist Das muss man doch wirklich sehen. Da ist es tatsächlich es!) so, dass man so lange in seinem Leben arbeiten muss wie Es wird in der Zukunft darum gehen, hier die richtigen Ihr Fraktionsvorsitzender. Weichenstellungen zu tätigen. Die Union wird das auf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und alle Fälle gewährleisten. der SPD) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Das ist letztendlich die Konsequenz daraus. Von daher: (Beifall bei der CDU/CSU) Sie brauchen uns hier keine Belehrungen mit auf den Weg geben. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Darüber, sich im Alter zu betätigen, werden wir Damit schließe ich die Aussprache. zukünftig sicherlich noch reden müssen; denn wir haben Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf etwa folgende Situation: 80 Jahre erreichen die den Drucksachen 19/24925 und 19/24926 an die in der Menschen in unserem Land. Dann reden wir von bis zu Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. 20 Jahren Schulausbildung und Ähnlichem, bis man ins Gibt es weitere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. (B) Berufsleben kommt. Wir haben mittlerweile eine durch- Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. (D) schnittliche Rentenbezugszeit von knapp 20 Jahren. Das bedeutet: 20 Jahre auf der einen Seite vorm Berufsleben, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: 20 Jahre auf der anderen Seite. Also, das heißt nicht Beratung der Beschlussempfehlung und des Malochen bis zum Umfallen, lieber Herr Birkwald, wie Berichts des Ausschusses für Inneres und Heimat Sie es ausgedrückt haben, sondern fast 20 Jahre Renten- (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten bezugszeit; das ist eine ganz andere Geschichte. Wenn Martin Hess, Dr. Bernd Baumann, Dr. Gottfried wir also 40 Jahre arbeiten und die Lebenserwartung wei- Curio, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ter steigt, dann müssen wir darüber nachdenken, wie wir der AfD diese Anforderungen auf die Gesellschaft verteilen. Die- se Fragen hat der Kollege Vogel aufgeworfen, aber leider Rechtsgrundlagen für einen Präventivgewahr- nicht beantwortet. Er hat gesagt: Das ist eine Herausfor- sam auf Bundesebene für Gefährder zeitnah derung für uns alle. schaffen Drucksachen 19/23951, 19/25833 (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Ihr regiert ja auch!) Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten beschlossen. Ich glaube, das Wichtigste dabei ist, Herr Kollege Vogel, dass wir eine starke Wirtschaft haben Die Aussprache kann ich eröffnen, wenn Sie alle wie- der Platz genommen haben. – Die Aussprache ist noch (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Ja!) nicht eröffnet. Nehmen Sie erst Platz, Herr Frei. Sie sol- len ja auch ein bisschen Aufmerksamkeit haben. – Bitte und dass wir eine hohe Erwerbstätigenquote haben. Die nehmen Sie Platz. – Ich glaube, jetzt können wir mit der haben wir in den vergangenen Jahren kontinuierlich Debatte beginnen. gesteigert. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Ich sage ganz offen: Ich bin etwas zurückhaltend, wenn Kollegen Thorsten Frei, CDU/CSU. ich sehe, dass im letzten Jahr die Zahl der erwerbstätigen Menschen um 500 000 gefallen ist. Das bereitet mit Blick (Beifall bei der CDU/CSU) auf die soziale Sicherung der Menschen insgesamt Sor- gen. Dabei geht es nicht nur um die Rente, sondern das Thorsten Frei (CDU/CSU): wird irgendwann sicherlich auch Auswirkungen auf die Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Krankenversicherung, auf die Arbeitslosenversicherung, Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier im Haus in auf die Pflegeversicherung haben. den vergangenen Monaten immer wieder darüber disku- 25630 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Thorsten Frei (A) tiert, was der richtige Umgang mit Gefährdern ist. Vor Situationen wie in Dresden –, ob wir bei der strafrecht- (C) allen Dingen sind wir uns im Klaren darüber, dass wir lichen Sicherungsverwahrung nicht viel zu hohe Hürden mit einer in der Geschichte unseres Staates wahrschein- haben, wenn solche Personen nicht in Sicherungsgewahr- lich einmaligen Gleichzeitigkeit von extremistischen sam genommen werden können. Bedrohungen aus unterschiedlichen Richtungen konfron- tiert sind. Deshalb ist klar, dass wir mit einer großen Zahl (Beifall des Abg. Dr. von Gefährdern zu kämpfen haben. [CDU/CSU]) Unsere Sicherheitsbehörden sagen, dass wir allein aus Deshalb müssen wir an dieser Stelle nacharbeiten. Ich dem islamistischen Spektrum 670 Gefährder und relevan- habe von der Bundesjustizministerin bisher noch nichts te Personen in Deutschland auf freiem Fuß haben. Dazu dazu gehört; aber ich rate dringend dazu, dass wir uns mit kommen 80 Gefährder aus dem rechtsextremistischen dieser Frage beschäftigen und schauen, ob wir diese Hür- Bereich – Tendenz stark steigend – und 5 Gefährder aus den absenken müssen, um sachgerechte Lösungen ent- dem linksextremistischen Bereich. Allein diese große wickeln zu können. Zahl macht deutlich, dass man mit isolierten Maßnahmen (Beifall bei der CDU/CSU) nicht weiterkommt, sondern man ein Gesamtkonzept braucht, wie man mit Gefährdern in unserem Land um- Der dritte Punkt. Im 21. Jahrhundert muss der Kampf geht. gegen Gefährder vor allen Dingen auch digital geführt Ich würde sagen, man kann in drei Spiegelstrichen werden. Wir müssen jederzeit wissen – auf Schritt und deutlich machen, was notwendig wäre: Tritt –, wo diese Personen sich aufhalten und was sie tun. Darum geht es bei Gefährdern. Das ist entscheidend, Erstens. Wir brauchen eine konsequente Abschiebung wenn es um den Schutz der Bevölkerung geht. Deswegen von ausländischen Gefährdern. brauchen wir beispielsweise die unverschlüsselte Auslei- (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Dr. Rainer tung von Daten durch die Telekommunikationsunter- Kraft [AfD]: Na, dann fangt mal an! – nehmen. Deswegen brauchen wir die Kompetenz für die Franziska Gminder [AfD]: Na, dann macht es Onlinedurchsuchung beim Bundesamt für Verfassungs- doch mal!) schutz. Deshalb muss klar sein, dass Telekommunika- tionsunternehmen erst nach glasklarer Identifikation den Das klappt beispielsweise bei Straftätern aus dem Irak Zugang zu ihren Diensten ermöglichen dürfen. Und des- immer besser. Die Innenministerkonferenz hat im Hin- halb brauchen wir die Unterstützung der Telekommuni- blick auf Syrien nun den ersten Schritt getan. Das war kationsunternehmen bei der Quellen-Telekommunika- richtig und gut, und das unterstützen wir auch. tionsüberwachung. Das alles ist notwendig, wenn der (B) (Beifall bei der CDU/CSU) Staat auch im 21. Jahrhundert sein Sicherheitsverspre- (D) Gleichzeitig ist es natürlich so, dass die Abschiebung chen einhalten möchte. von Gefährdern alleine nicht ausreicht, Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Zuruf der Abg. [AfD]) (Beifall bei der CDU/CSU) allein schon deshalb, weil wir 400 islamistische Gefähr- der in Deutschland haben, die die deutsche Staatsange- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: hörigkeit haben und deshalb eben gar nicht abgeschoben Martin Hess, AfD, ist der nächste Redner. werden können. Deshalb muss man sich – das ist der zweite Punkt – durchaus darüber Gedanken machen, (Beifall bei der AfD) inwieweit in bestimmten Fällen der temporäre Freiheits- entzug notwendig ist, um drohende Gefahren abzuweh- ren. Da gibt es im Übrigen Beispiele: In Bayern gibt es Martin Hess (AfD): die Präventivhaft für drei Monate, die um drei Monate Kollege Frei, gestatten Sie mir eine Vorbemerkung: verlängert werden kann. Ich rate dringend dazu, dass Abschiebungen bringen nichts, solange unsere Grenzen andere Länder sich ein Vorbild an diesem Beispiel aus nicht effektiv geschützt werden. Bayern nehmen. (Beifall bei der AfD) (Benjamin Strasser [FDP]: Unendlichkeits- haft!) Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Vor zehn Wochen rollte eine islamistische Terrorwelle durch Aber das ist ein Vorbild für die Länder. Der Bund hat, Deutschland und Europa und forderte zahlreiche Todes- anders als uns die AfD mit ihrem Antrag glauben machen opfer. Damals schlug unsere Fraktion mit diesem Antrag mag, eben gerade keine Kompetenz im Bereich der vor, alle islamistischen Gefährder, die nicht abgeschoben Gefahrenabwehr. Diese Kompetenz liegt aus guten oder nicht in Abschiebehaft genommen werden können, Gründen bei den Ländern, und da soll sie auch bleiben. präventiv in Gewahrsam zu nehmen. Sie hingegen legten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ihre übliche Betroffenheitsrhetorik an den Tag, aber gehandelt haben Sie nicht. Genau das akzeptieren aber Ich will ein Weiteres zum Thema Freiheitsentzug die Bürger dieses Landes nicht länger. Sie wollen eine sagen. Wenn man sich beispielsweise vor Augen führt, Regierung, die endlich handelt, statt nur zu reden. Genau dass die Attentäter in Dresden oder auch in Wien ein- das fordern wir mit unserem Antrag. schlägig, stark und mehrfach straffällig geworden sind, dann stellt sich natürlich schon die Frage – gerade nach (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25631

Martin Hess (A) Immerhin haben wir mit unserem Antrag erreicht, dass bis zur Straftat wartet, der lässt genau diejenigen Gefähr- (C) der Innenminister den Freiheitsentzug für Gefährder eine der außer Acht, die bislang nicht strafrechtlich in Erschei- Woche später in der Videokonferenz mit den anderen nung getreten sind. Wir müssen handeln, bevor es zur EU-Innenministern angesprochen hat. Dank des Engage- Begehung von Straftaten kommt, liebe Kollegen. ments des Bundeskriminalamtes soll es bald eine europa- weit einheitliche Gefährderdefinition geben und sollen (Beifall bei der AfD) diese Gefährder dann auch im Schengener Informations- system erfasst werden. Genau das ist lange überfällig, Deshalb reicht auch dieser Vorschlag bei Weitem nicht und genau das habe ich in diesem Hause bereits am aus. Also hören Sie auf, den Bürgern ständig Sand in die 17. Mai 2019 gefordert. Es ist schön zu sehen, dass die Augen zu streuen. AfD wirkt. Wir alle wissen spätestens seit dem 11. September (Beifall bei der AfD) 2001, vor welche Herausforderungen uns der islamisti- sche Terrorismus stellt. Und trotzdem haben Sie, hat Ihre Aber leider können wir aus der Opposition heraus nicht Partei, hat diese Regierung nichts Wirksames dagegen stark genug wirken, um den Krieg gegen den islamisti- unternommen. Im Gegenteil: Sie haben Ihre Politik der schen Terrorismus endlich zu gewinnen. Herr Minister – offenen Grenzen – da sind wir wieder beim Thema, Herr das muss ich klar sagen –, Sie schaffen das nicht oder Frei – weitergeführt und islamistische Terroristen und wollen das nicht; das haben uns die Erfahrungen der Gefährder in großer Zahl in unser Land gelassen. Einer letzten Monate gezeigt. Sie haben zwar unsere zentrale von ihnen, Anis Amri, hat 2016 den Terroranschlag auf Forderung, den bundesweiten Präventivgewahrsam, in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz begangen und die Innenministerkonferenz eingebracht, aber Sie haben elf Menschen ermordet. Ein weiterer Gefährder hat erst dort keine konkreten Lösungen erzielt. Das zeigen die letzten Oktober bei einem Messeranschlag in Dresden Beschlüsse der Konferenz eindeutig. Zwar erteilen Sie einen Mann ermordet. Diese Anschläge hätten verhindert und Ihre Länderkollegen dem AK II, also dem Arbeits- werden können, wenn diese Regierung rechtzeitig wirk- kreis II, den Auftrag, den von uns geforderten Präventiv- same Maßnahmen zur Terrorbekämpfung ergriffen hätte. gewahrsam zu prüfen. Der Protokollnotiz ist aber zu ent- Über die derzeitige islamistische Gefahrenlage kann es nehmen, dass Sie und einige Länderkollegen diese keine zwei Meinungen geben. Wir haben derzeit in Verantwortlichkeit wieder in die Länder zurückverlagern Deutschland über 28 000 Islamisten, 12 500 Salafisten – wollen. Herr Frei, wir wissen doch: Das funktioniert das ist ein Anstieg von 87 Prozent seit 2014 – und 619 nicht. Sie wissen genau, dass der Gewahrsam so nie zur islamistische Gefährder. Ich muss Sie korrigieren, Herr (B) Umsetzung kommen kann. Die Zersplitterung des Poli- Frei: Nur 242 – eine immer noch viel zu hohe Zahl – (D) zeirechts würde weiter zunehmen. Links-grün-rote dieser Gefährder sind auf freiem Fuß. Wir hatten laut Innenminister würden die Umsetzung des Gewahrsams Europol in Europa zwischen 2007 und 2014 16 Terroran- verhindern, und die Gefährder würden auf freiem Fuß griffe mit acht Toten, also ein Terrortoter pro Jahr. Das hat bleiben und könnten weiterhin ungehindert ihre sich gravierend verändert: Zwischen 2015 und 2019 Anschlagspläne verfolgen. Das, Herr Minister, ist nicht waren es 94 Terrorangriffe mit 374 Toten. Das sind mehr nur unverständlich, das ist unverzeihlich und inak- 74 Terrortote pro Jahr. Und der Rizinanschlag von Köln zeptabel. hätte bis zu 13 500 Todesopfer gefordert und noch einmal so viele Verletzte, wenn unsere Sicherheitsbehörden die- (Beifall bei der AfD) sen Anschlag nicht rechtzeitig verhindert hätten. Deshalb appelliere ich an Sie mit allem Nachdruck: Setzen Sie Die CSU fordert jetzt allen Ernstes den Einsatz der endlich diesen bundeseinheitlichen Gefährdergewahrsam Fußfessel, um Anschläge zu verhindern. Die Fußfessel, um, bevor es wieder zu einem tödlichen Terroranschlag in die übrigens schon seit Jahren nicht zur Anwendung Deutschland kommt. kommt, soll also die Lösung sein. Aber wir alle wissen doch: Sie verbessert maximal die Aufklärungsergebnisse (Beifall bei der AfD -Thorsten Frei [CDU/ in Bezug auf das Bewegungsbild oder die Kontaktperso- CSU]: Ja, aber das geht doch gar nicht!) nen, aber nie und nimmer verhindert die Fußfessel auch nur einen Anschlag, weil sich der Gefährder weiterhin ungehindert bewegen kann. Also hören Sie auf, ständig Der BKA-Präsident hat 2015 klar gesagt, dass es un- die Fußfessel als Lösung zu verkaufen. Sie ist keine möglich ist, alle islamistischen Gefährder lückenlos zu Lösung, und sie wird nie eine Lösung sein. überwachen, und damals war die Zahl nur halb so hoch. Der Präsident des sächsischen Verfassungsschutzes hat nach dem Anschlag in Dresden klar und deutlich darge- (Beifall bei der AfD) stellt, dass sogar eine lückenlose Überwachung einen Anschlag nicht verhindert. Trotzdem stecken Sie den Dann fordern Sie von der CSU noch die Sicherungs- Kopf in den Sand. verwahrung. Liebe Kollegen von der CSU, der Begriff „Gefährder“ kommt von Gefahr. Eine drohende Gefahr Schluss mit dieser Vogel-Strauß-Politik! Wir alle in bekämpft man nicht dadurch, dass man wartet, bis diesem Hohen Haus sind zum bestmöglichen Schutz jemand eine Straftat begeht, mit der er seine Gefährlich- unserer Bürger verpflichtet. Kommen Sie dieser Pflicht keit unter Beweis stellt, um ihn dann in Sicherungsver- endlich nach! Was wir jetzt brauchen, sind konkrete Maß- wahrung zu nehmen. Wer bei der Gefährderbekämpfung nahmen statt endloser Diskussionen und Prüfaufträge. 25632 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Martin Hess (A) Genau dazu dient unser Antrag. Lassen Sie Ihren Worten rende Frage: Warum glauben Sie, dass die Bundesebene (C) endlich Taten folgen. Verweigern Sie unserer Bevölke- das besser regeln kann als die eigentlich zuständigen rung nicht länger diese längst überfällige Schutzmaßnah- Bundesländer? Auch das lassen Sie in Ihrem Antrag me, und stimmen Sie diesem Antrag zu. unbeantwortet. Vielen Dank. Ich erinnere mich noch daran, welche Bedeutung wir (Beifall bei der AfD) hier der Einführung der elektronischen Fußfessel für Gefährder auf Bundesebene beigemessen hatten und wie die Reaktionen darauf waren. Dann müssten die Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Beamten nicht mit hohem Personaleinsatz Observationen Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch, SPD- durchführen, auch das war ein Argument für die Einfüh- Fraktion. rung der Fußfessel. Das ist eine Befugnis des Bundeskri- (Beifall bei der SPD) minalamtes, die trotzdem noch kein einziges Mal zum Einsatz kam, liebe Kolleginnen und Kollegen. Uli Grötsch (SPD): Ich glaube, dass wir in Zukunft unsere Schwerpunkte Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und in der Terrorismusbekämpfung ein Stück weiter fassen Kollegen! Gefährder sind tickende Zeitbomben. Wir nen- müssen. Ich denke, dass wir auch einen Schwerpunkt nen sie Gefährder, weil von ihnen jederzeit die Gefahr auf diejenigen Islamisten legen müssen, die in absehbarer eines Terroranschlages ausgeht. Diese Islamisten und Zeit aus der Haft entlassen werden. Wir müssen schauen, Rechtsextremisten sind eine Gefahr für unsere Sicherheit wo die Deradikalisierung erfolgreich war und wo nicht. und die Sicherheit unseres Landes. Und natürlich sind wir Wir müssen schauen, was in den Haftanstalten passiert, froh um jeden der circa 70, die wir in den letzten beiden wo wir vielleicht unsere Programme ausbauen oder Jahren in ihre Herkunftsländer abschieben konnten. Tat- womöglich auch umbauen müssen, wenn sie nicht wir- sache ist aber, dass das nicht immer geht, zum Beispiel, ken; denn Prävention, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es sich um deutsche Gefährder handelt. Wohin – verhindert immer mehr Schaden, als Repression jemals das schreiben Sie in Ihrem Antrag nicht – möchten Sie reparieren kann. Islamisten oder Neonazis mit deutscher Staatsangehörig- keit abschieben? (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD) Das gilt genauso auch für Rechtsextremisten. Ich denke, Und eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch den die Demokraten in diesem Haus sind sich einig, dass wir Verfassungsschutz, Meldeauflagen, Kontaktverbote, De- (B) alle Register gegen radikalisierte Personen ziehen müs- (D) radikalisierungsprogramme, das alles und viel, viel mehr sen. Wir stecken mehr Geld in Präventions- und Bil- gibt es dank dieser Koalition bereits seit vielen Jahren. dungsprojekte als je zuvor, und das ist ganz gewiss der (Martin Hess [AfD]: Bringt doch nichts!) richtige Weg. Regelungen zum präventiven Gewahrsam von Gefähr- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dern, also dass man Menschen zur Gefahrenabwehr für CDU/CSU) eine kurze Dauer vorbeugend wegsperrt, gibt es schon in den Polizeigesetzen der Bundesländer. Dennoch zeigt uns Hier geht es Ihnen, Ihnen hier rechts außen, gerade um der Messerangriff von Dresden am 4. Oktober, dass es Islamisten. Im Innenausschuss gestern ging es bei den leider nicht möglich ist, jeden Terroranschlag zu verhin- von Ihnen angemeldeten Themen vor allem um Links- dern. Auch das gehört zur Wahrheit. Deshalb ist es rich- extremisten. Nur zu den Vorgängen in den USA beim tig, dass wir im Bund und in den Bundesländern prüfen, Sturm auf das Kapitol sind Sie ganz, ganz leise. Dabei was rechtlich noch möglich ist in Bezug auf Sicherungs- war die AfD keinesfalls untätig. Sie lässt sich digital über verwahrung im Anschluss an die Haft, in Bezug auf vor- Jan Böhmermann aus, beugenden Gewahrsam auf Bundesebene usw. usf. (Beatrix von Storch [AfD]: Das ist totaler Vieles machen wir bereits, und zwar unabhängig von Stuss!) Ihrem Antrag; dafür brauchen wir Sie ganz bestimmt nicht. Wo es Schutzlücken bei Gefährdern gibt, die wir das Gendern im Duden oder über die Bundeszentrale für rechtlich schließen können, schließen wir sie. Aber auch politische Bildung. Zur historischen Katastrophe im US- wenn wir eine Art vorbeugende Haft für Gefährder auf Kapitol in Washington gibt es im Gegensatz dazu nur eine Bundesebene einführten – Sie schreiben, für drei Mona- kleine, kleine Pressemeldung. Wo bleibt denn die Empö- te –, könnten Sie immer noch nicht ausschließen, dass rung der AfD? Schließlich sind zwei Polizisten gestor- dieser Gefährder nach drei Monaten einen Anschlag ver- ben. Das sollte Sie doch auf die Barrikaden bringen und übt. Niemand kann in die Köpfe dieser Personen schauen. nicht das, was Sie nach außen darstellen. Der Attentäter von Wien etwa hat noch bis wenige Tage (Martin Hess [AfD]: Herr Grötsch, bleiben Sie vor dem Terroranschlag an einem Deradikalisierungspro- doch bitte bei der Wahrheit!) gramm teilgenommen. Das ist einer der Punkte, über die wir reden müssen. Neben der Frage, ob die Bundesebene Ihr Parteichef Meuthen meint, der Sturm aufs Kapitol überhaupt zuständig ist – Gefährder fallen im Rahmen sei nicht zu vergleichen mit der versuchten Erstürmung der Gefahrenabwehr, wie wir schon gehört haben, in die des Bundestages in Berlin im August und im November, Zuständigkeit der Länder –, gibt es eine weitere zu klä- das seien ganz andere Dimensionen. In Wahrheit ist es Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25633

Uli Grötsch (A) aber so, dass der braune Mob im Kapitol Ihre Gesin- klar sein, dass ein solches Instrument überhaupt nur für (C) nungsgenossen sind. Es sind Rassisten, Reichsbürger, einen Bruchteil der 600 Gefährder im islamistischen Be- Coronaleugner und Verschwörungsanhänger. reich anwendbar sein dürfte und auch nur für einen sehr ( [Erfurt] [SPD]: Faschis- kurzen Zeitraum. ten! – Martin Hess [AfD]: Eine Unverschämt- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) heit!) Das hat seinen guten Grund: Man kann in einem Rechts- Das ist die gleiche braune Soße, mit der Sie sich hier vor staat Menschen, die keine Straftat begangen haben und dem Reichstag und bei Anticoronademonstrationen soli- denen man auch keine konkreten Anschlagsplanungen darisieren. Deshalb sind Sie so leise. nachweisen kann, nicht einfach so wegsperren. Das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mag im Mittelalter gegolten haben. Das gilt aber nicht DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der in einem freiheitlichen Rechtsstaat, liebe Kolleginnen CDU/CSU) und Kollegen. Ich will nicht zu weit vom Thema abdriften und kom- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten me deshalb zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kolle- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen, Sie sind als Antragsteller Teil der menschenverach- tenden Ideologie, die Sie in Ihrem Antrag anprangern. Im Testlabor Bayern, Herr Frei, sehen wir doch die Aus diesem und den eben dargestellten Gründen lehnen Auswirkungen der Unendlichkeitshaft. Es ist immer die wir Ihren Antrag ab. gleiche Masche: Die CSU im Landtag schwört bei der Vielen Dank. Einführung Stein und Bein, dass es nur für Terroristen und nur in absoluten Ausnahmefällen angewandt wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Im Abschlussbericht der Prüfkommission zum bayeri- der CDU/CSU) schen Polizeiaufgabengesetz Ihrer Landesregierung wird ganz offen dargelegt, dass selbst bei geringfügigen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Verstößen wie – Zitat – „Trunksucht“ oder „Zechbetrü- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Benjamin gereien“ Personen bis zu zwei Wochen oder länger in Strasser, FDP. Präventivhaft genommen worden sind. Das zeigt das immense Missbrauchspotenzial dieses Vorschlags. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Benjamin Strasser (FDP): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Er ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Deswegen (D) Kollegen! Vor einem Jahr haben wir als FDP-Fraktion in klagen wir Freie Demokraten auch vor dem Verfassungs- diesem Parlament einen Antrag zur Einsetzung einer gericht. Föderalismuskommission III zur Abstimmung gestellt. Ziel war und ist es, dass Bund und Länder sich an einen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer islamistischen Tisch setzen und über eine zeitgemäße Neuverteilung der Terrorismus wirklich bekämpfen will, der muss an meh- Kompetenzen in der Terrorismusbekämpfung sprechen reren Stellen ansetzen: bei sinnvollen Zuständigkei- und vor allem entscheiden. ten, bei mehr Abschiebehaftplätzen und bei einer besse- ren Analysefähigkeit von Sicherheitsbehörden. Diese und (Beifall bei der FDP) andere kluge Vorschläge haben wir in einem Antrag Herr Hess von der AfD hat heute seine altbekannte zusammengefasst, der bald im Ausschuss beraten wird. Schallplatte abgespielt. Was er aber vergessen hat, ist, Verfassungswidrige Vorschläge von AfD und CSU finden dass er vor einem Jahr zu unserem Antrag etwas Bemer- sich darin allerdings nicht. kenswertes gesagt hat. Die AfD hat unseren Antrag näm- lich mit der Begründung abgelehnt – Zitat –: „Wenn ich Vielen herzlichen Dank. nicht mehr weiterweiß, dann bilde ich einen Arbeits- (Beifall bei der FDP) kreis.“ Heute findet sich unsere Forderung im Antrag der AfD. Herr Hess, weiß die AfD jetzt einfach nicht mehr weiter, oder haben Sie endlich verstanden, dass Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ohne Neuordnung der Zuständigkeiten keine effektive Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Ulla Jelpke, Die Terrorismusbekämpfung möglich ist? Die Einsicht wäre Linke. Ihnen zu wünschen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Der Kernpunkt Ihres Antrags ist aber ein ganz anderer, Ulla Jelpke (DIE LINKE): nämlich die Einführung der sogenannten Präventivhaft Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD für Gefährder, in Bayern auch Unendlichkeitshaft ge- möchte Menschen, die sich keiner Straftat schuldig nannt und als solche angewendet. Sie preisen die Unend- gemacht haben, auf bloßen Verdacht hin hinter Gitter lichkeitshaft als das Lösungsinstrument im Kampf gegen bringen. Das geht aus unserer Sicht schon aus rechtsstaat- islamistischen Terrorismus. Wenn man aber mit den lichen Gründen gar nicht. Menschen in den Sicherheitsbehörden spricht, die tagtäg- lich mit diesem Thema zu tun haben, dann muss einem (Beifall bei der LINKEN) 25634 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Ulla Jelpke (A) Laut dem Antrag sollen Personen nicht deshalb inhaftiert Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) werden, weil sie eine schwere Straftat begangen oder Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Irene vorbereitet haben. Nein, die AfD will Menschen bereits Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen. inhaftieren lassen, wenn diese vom BKA irgendwie als gefährlich eingestuft werden. Dieses Ansinnen ist nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nur rechtswidrig, es ist auch inhaltlich überhaupt nicht begründet; Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- (Beifall bei der LINKEN) be Kollegen! Der Antrag der AfD ist eine neue Stufe denn wer Terroranschläge plant und vorbereitet, kann Ihres Plans, den Rechtsstaat abwickeln zu wollen. schon auf Grundlage geltender Gesetze inhaftiert werden. Das ist in den letzten Jahren bei einer Reihe von Nazi- (Lachen bei der AfD – Martin Hess [AfD]: Wir terroristen geschehen, zum Beispiel, wenn sie Waffen wollen ihn erhalten, Frau Mihalic! Wir wollen gehortet oder Anschläge auf Moscheen oder Flüchtlings- unsere Bürger schützen, während Sie tatenlos heime geplant haben. Auch einen Anis Amri hätte man Terroranschläge zulassen zum Beispiel!) lange vor seinem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Der einzige Wert Ihrer Anträge besteht darin, dass wir Breitscheidplatz dingfest machen können. darin immer schwarz auf weiß und haarklein nachlesen können, was wir auf gar keinen Fall wollen, nämlich (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE Rechtsgrundlagen für das Unrecht zu schaffen, meine GRÜNEN]: So ist es!) Damen und Herren. Das geschah vor allen Dingen deshalb nicht, weil die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sicherheitsbehörden Fehler gemacht haben, und nicht sowie bei Abgeordneten der FDP und des wegen fehlender Gesetze. Abg. Dr. André Hahn [DIE LINKE]) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Es gibt ohne Zweifel Handlungsbedarf beim Thema GRÜNEN]: So ist es! – Britta Haßelmann Gefährder. Meine Fraktion hat erst kürzlich einen sehr [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz genau!) ausführlichen Antrag zu genau diesem Thema vorgelegt. Was die AfD nun einführen will, ist die Möglichkeit, Wer sich, anders als die AfD, mal ernsthaft im Unter- den Freiheitsentzug schon auf bloßen Verdacht hin anzu- suchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheid- ordnen, und zwar auf unbestimmte Zeit; denn als soge- platz mit der Aufarbeitung befasst, der erkennt viele nannte Gefährder gelten Personen, denen die Polizei eine Punkte, an denen man ansetzen muss, zum Beispiel bei (B) schwere Straftat lediglich zutraut, und zwar aufgrund einer besseren Beobachtung von Gefährdern in Bund und (D) unklarer, weder gesetzlich noch gerichtlich festgelegter Ländern, bei der Ausschöpfung der bestehenden straf- Kriterien. Die Gefahr, die von diesen Personen ausgeht, rechtlichen Möglichkeiten, bei einer besseren Abstim- soll nach Ansicht der AfD nicht einmal konkret oder mung zwischen Polizei und Verfassungsschutz und, dringend sein, sie soll nur irgendwie für die Allgemein- und, und. heit bestehen. Mit dieser Begründung könnte man auch Aber wenn es um Arbeit und Details geht, ist Ihr Puls Ihren ehemaligen Parteikameraden Kalbitz in Gewahr- ja eher niedrig; das haben wir alle schon mitbekommen. sam stecken; der ist ja sogar eine Gefahr für Ihre Freunde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sie scheinen in jedem Fall vermeiden zu wollen, dass die Allerdings muss man sagen, dass die Idee eines Prä- Wirklichkeit Ihrer verfassungsfeindlichen Politik irgend- ventivgewahrsams für Gefährder gar nicht auf dem Mist wie in die Quere kommt. der AfD gewachsen ist. Schon 2017 hat die CSU eine solche Gefährderhaft im bayerischen Polizeiaufgabenge- (Uwe Witt [AfD]: Verfassungsfeindlich? Das setz verankert. Dagegen ist noch eine Klage vor dem möchte ich überhört haben!) Bayerischen Verfassungsgericht anhängig. Man wird Aber die Wirklichkeit kann ich Ihnen leider nicht erspa- sehen, was dabei herauskommt. Es gibt aber auch schon ren. Es ist nun einmal so: Der Begriff „Gefährder“ ist ein einen neuen Polizeigesetzentwurf von der CSU; das polizeilicher Arbeitsbegriff. Wir reden dabei über Perso- heißt, sie rudert offenbar zurück. Damals schimpfte die nen, die potenziell gefährlich sind, bei denen aber noch bayerische AfD, das Gesetz sei – ich zitiere –: „unver- nichts Konkretes vorliegt. hältnismäßig, demokratiefeindlich und nach Experten- meinung auch verfassungswidrig“. (Beatrix von Storch [AfD]: Muss erst ein Anschlag kommen?) (Zuruf des Abg. Martin Hess [AfD] – Gegenruf des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜND- Ich habe noch eine weitere Wirklichkeit für Sie, nämlich NIS 90/DIE GRÜNEN]: Heute so, morgen so!) die Verfassungswirklichkeit. Lesen Sie einmal den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. April Ich meine, besser haben das Ihre eigenen Kollegen im 2016. Da heißt es ganz klar, dass eine Freiheitsent- Bayerischen Landtag nicht charakterisiert. ziehung, ein Präventivgewahrsam zur Verhinderung einer Auch wir lehnen Ihren Antrag ab. Straftat nur erfolgen kann, wenn – ich zitiere – „Ort und Zeit der bevorstehenden Tatbegehung sowie das potenzi- (Beifall bei der LINKEN) elle Opfer hinreichend konkretisiert sind“. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25635

Dr. Irene Mihalic (A) (Uwe Witt [AfD]: Genau das soll ja geändert lichen Maßnahmen greifen können. Besondere Heraus- (C) werden!) forderungen erfordern auch eine besondere Herangehens- Wenn es jetzt vielleicht ein bisschen viel Realität auf weise bei der Sicherungsverwahrung, im Bereich der einmal für Sie war, dann frage ich Sie: Was genau haben Abschiebung, der Abschiebehaft und auch der Überwa- Sie daran eigentlich nicht verstanden? chung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die AfD schlägt uns heute quasi eine Generallösung sowie bei Abgeordneten der FDP) vor: Wir nehmen alle Gefährder einfach mal eine gewisse Noch mal: Sie können niemanden präventiv einsperren Zeit in Haft, und dann wird alles gut. Es ist typische und schon gar nicht unendlich, wenn nichts Konkretes Vorgehensweise der AfD, für komplexe, schwierige gegen diese Person vorliegt. Deswegen musste ja in Sachverhalte einfache Lösungen zu präsentieren, die Bayern nach dem Prüfbericht das Polizeiaufgabengesetz aus verschiedenen Gründen, verfassungsrechtlichen, nachgebessert werden. Das gilt für Islamisten genauso aber auch praktischen, nicht greifen können. Kollege wie für Gefährder aus Ihrem rechtsextremen Umfeld. Frei hat es schon gesagt: Wir haben in den Ländern – diese sind für die Gefahrenabwehr zuständig – bereits (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – entsprechende Regelungen. Es wäre sicherlich wün- Zuruf des Abg. Martin Hess [AfD]) schenswert, wenn man diese, etwa im Rahmen eines ge- Solche Vorschläge, wie Sie sie hier machen, sind meinsamen Musterpolizeigesetzes, aneinander anpassen rechtsstaatsfeindlich und sorgen auch nicht für mehr könnte. Sicherheit. Wenn wir etwas für die Sicherheit in unserem Land tun wollen – das geht natürlich uns alle an –, dann (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. müssen wir die Vollstreckungsdefizite beheben. Es laufen Martin Hess [AfD]) immer noch viel zu viele Gefährder mit offenem Haft- befehl frei herum. Da muss dringend gehandelt und prio- Ich möchte das Augenmerk, Herr Kollege Hess, auf risiert werden, gerade in dieser Zeit. einen anderen Punkt legen, auf das Thema Sicherungs- verwahrung. Bereits 2017 haben wir die Staatsschutzde- Da sehe ich es wie der Terrorismusforscher Peter likte in den Tatbestandskatalog aufgenommen. Hier Neumann, der diese Woche im „Spiegel“ erklärt hat, müsste vielleicht noch ein bisschen nachgeschärft wer- dass von dem Angriff auf das US-Kapitol eine erhebliche den, etwa hinsichtlich des Werbens und Rekrutierens terroristische Bedrohung ausgeht; denn so etwas dient von Mitgliedern terroristischer Vereinigungen. Da brau- Rechtsextremen weltweit als Blaupause für ihre umstürz- chen wir ein höheres Strafmaß, damit dies auch zum lerischen Pläne. Hier braucht es nicht nur eine starke Katalog gehört und eine Sicherungsverwahrung angeord- (B) Zivilgesellschaft, sondern auch Reformen in der Behör- net werden kann. (D) denzusammenarbeit. Aber diese Reformen müssen auf den Prämissen des Rechtsstaats gründen. Ansonsten kön- Wir müssen auch darüber nachdenken, ob wir bei ter- nen wir dieser Bedrohung nicht glaubwürdig entgegen- roristischen Tätern – sie waren oder sind ja schon in treten. Haft –, die zukünftig noch als Gefährder eingestuft wer- Vielen Dank. den, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsver- wahrung ermöglichen wollen. Ich weiß, dies ist rechts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – staatlich schwierig. Aber wir müssen dies prüfen; denn Zuruf des Abg. Uwe Witt [AfD]) besondere Gruppen der Kriminalität, der Gefährdung erfordern auch besondere Maßnahmen. Wir haben bis- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: her nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Alexander gerichtes zur nachträglichen Anordnung der Sicherungs- Throm, CDU/CSU. verwahrung ausschließlich die Gruppe der Sexualstraf- täter als Beurteilungsmaßstab, nicht die der Gefährder. (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen sollten wir als Parlament, als Gesetzgeber hier rangehen. Das hätte auch den Vorteil, dass wir Alexander Throm (CDU/CSU): Gefährder mit deutschem Pass oder Ausländer, die wir, Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und aus welchen Gründen auch immer, nicht abschieben kön- Kollegen! Der Schutz unserer Bevölkerung vor terroristi- nen, mit dieser Maßnahme zumindest in Teilen greifen schen Anschlägen ist sicherlich eine der wichtigsten Auf- können. Es gibt ein trauriges Beispiel, wo dies gewirkt gaben von Politik und Sicherheitsbehörden, aber auch hätte, nämlich beim Dresdner Attentäter. Dieser hat sich eine der herausforderndsten und schwierigsten. Der in der Haft weiter radikalisiert. Da hätte es, wenn wir so Schutz vor zukünftigen Taten ist schwierig, es ist schwer weit gehen, die Möglichkeit gegeben, ihn weiter in Haft greifbar. Bei Gefährdern handelt es sich nicht um ge- zu lassen. wöhnliche Kriminelle, sondern um ideologisch verblen- dete Fanatiker, die nahezu unberechenbar sind, und Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich Gefährder erklären sich selbst zu Feinden unserer Gesell- finde, wir müssen auch beim Thema Abschiebung deut- schaft und unserer freiheitlichen Art, wie wir leben, und lich besser werden. Wer selbst erklärt, Feind dieser nutzen dazu gerade unsere grundgesetzlich garantierten Gesellschaft zu sein, hat keinen Schutz verdient, auch Freiheiten gegen uns aus. Insofern – das will ich damit nicht den Schutz vor Abschiebung. Deswegen war es deutlich machen – sind Gefährder eine ganz besondere richtig, dass bei den Syrern der generelle Abschiebestopp Gruppe in der Kriminalität, die wir nicht mit den gewöhn- aufgehoben wurde. Gerade bei der Gruppe der Gefähr- 25636 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Alexander Throm (A) der – ich persönlich gehe gar nicht mal so weit, zu sagen: Im Bereich des Strafrechts erscheint mir auch die Wie- (C) bei der Gruppe der Straftäter – muss es uns gelingen, dereinführung der Sympathiewerbung für Terrorismus diese tatsächlich zurückzuführen. ein entscheidender Schritt. Damit kommen wir dann Herzlichen Dank. auch zu einem Instrument, dessen stärkere Nutzung not- wendig ist, nämlich den strafrechtlichen Sammelverfah- (Beifall bei der CDU/CSU) ren; denn wenn ich jemanden nicht wegen einer terroristi- schen Straftat dranbekommen kann, kann es zumindest Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: andere Straftaten geben – das hat auch der Fall Anis Amri Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der gezeigt –, mit denen ich jemanden dingfest machen kann. Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. Insgesamt haben wir also wesentlich klügere und ver- (Beifall bei der CDU/CSU) fassungsrechtlich geeignetere Maßnahmen. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Herzlichen Dank. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- (Beifall bei der CDU/CSU) ren! Die AfD hat einen Antrag zur Einführung eines soge- nannten Präventivgewahrsams vorgelegt. Sie bezieht sich in ihrem Antrag ausschließlich auf die islamistische Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Gefährdungslage. Ja, der Islamismus stellt eine erhebli- Damit schließe ich die Aussprache. che Bedrohung für unsere innere Sicherheit dar. Aber was Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- Sie in Ihrem Antrag schlichtweg vergessen haben, ist – fehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem ich sage es Ihnen – der Begriff „Rechtsextremismus“, der Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Rechtsgrund- Begriff „Rechtsterrorismus“. Auch das ist eine wesentli- lagen für einen Präventivgewahrsam auf Bundesebene che Bedrohungslage für unser Land. für Gefährder zeitnah schaffen“. Der Ausschuss emp- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- 19/25833, den Antrag der Fraktion der AfD auf Druck- ten der FDP) sache 19/23951 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Entscheidend ist, dass wir jeden Extremismus in diesem schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Land adressieren und bekämpfen. gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen des übrigen Hauses angenom- Wenn es um die Einführung von neuen Maßnahmen men. (B) geht, muss eines deutlich sein: Nicht alles, was irgendwie (D) zweckdienlich erscheint, kann im grund- Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c rechtsgebundenen Verfassungsstaat möglich werden. auf: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und a) – Zweite und dritte Beratung des von der der FDP) Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset- Gerade bei der Frage der Präventivhaft ist entscheidend, zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für für ein fokussiertes, proaktives und Menschenrechte zu beachten. Dies setzt uns klare Gren- digitales Wettbewerbsrecht 4.0 und zen. Im Rahmen dieser Rechtsprechung werden wir unse- anderer wettbewerbsrechtlicher re politischen Maßnahmen vorschlagen. Das bedeutet, Bestimmungen dass nicht jeder Gefährder verhaftet werden kann, son- (GWB-Digitalisierungsgesetz) dern dass sich eine Gefahr zumindest irgendwie konkreti- siert haben muss. Wir werden im Rahmen dieser verfas- Drucksachen 19/23492, 19/24439, sungsrechtlichen Vorgaben bleiben. Denn für uns ist 19/24795 Nr. 1.1 deutlich geworden – das hat auch der Untersuchungsaus- Beschlussempfehlung und Bericht des schuss zum Breitscheidplatz gezeigt –: Entscheidend ist, Ausschusses für Wirtschaft und Energie dass das rechtliche Instrumentarium ausgefüllt wird, dass (9. Ausschuss) die Länder ihrer Aufgabe nachkommen, dass der Daten- austausch zwischen Bund und den Ländern und zwischen Drucksache 19/25868 den Ländern untereinander funktioniert und dass wir zu – Bericht des Haushaltsausschusses einheitlichen Regelungen kommen. Deswegen treten wir (8. Ausschuss) gemäß § 96 der auch für ein Musterpolizeigesetz ein. Wir wollen auf Geschäftsordnung Ebene der Länder die gleichen rechtlichen Voraussetzun- Drucksache 19/25869 gen haben. Darüber hinaus setzen wir uns für einen europaweit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des einheitlichen Gefährderbegriff und für einen Datenaus- Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und tausch zwischen den europäischen Mitgliedstaaten ein. Energie (9. Ausschuss) Wir wollen die Quellen-TKÜ haben. Wir wollen auch – zu dem Antrag der Abgeordneten Gerald im Bereich der digitalen Gefährderüberwachung noch Ullrich, Michael Theurer, Reinhard stärker werden, weil deutlich wird, dass sich Gefährder Houben, weiterer Abgeordneter und der im Internet radikalisieren. Fraktion der FDP Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25637

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Für ein selbstbewusstes und wachs- Sturm- und Drangzeit herausgewachsen sind, dass sie (C) tumsorientiertes Wettbewerbsrecht auf sich durch ihren wachsenden Einfluss für Wirtschaft, digitalen Märkten Gesellschaft, Staat, Kultur unentbehrlich gemacht haben, – zu dem Antrag der Abgeordneten Pascal dass sie ihr Wachstum nicht mehr nur auf Innovation Meiser, Fabio De Masi, Doris Achelwilm, beruhen lassen, sondern auf zum Teil erheblicher Be- weiterer Abgeordneter und der Fraktion einträchtigung des Wettbewerbs, dass sie ihrer Verant- DIE LINKE wortung für einen fairen und umsichtigen Umgang mit Kunden, mit Unternehmen, mit Wettbewerbern, mit Ver- Wettbewerbsrecht 4.0 – Digitales Mono- brauchern nicht gerecht werden, und schließlich, dass die poly beenden bisherigen Instrumente unseres Wettbewerbsrechts nicht – zu dem Antrag der Abgeordneten ausreichen, um sie wirksam in Verantwortung zu neh- Katharina Dröge, Dr. Konstantin von men. Notz, Anja Hajduk, weiterer Abgeordne- Mit unserem Vorstoß – das ist weltweit übrigens der ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE erste – wollen wir weder die Zerschlagung noch die Ver- GRÜNEN bannung der Technologiekonzerne vorantreiben, sondern Internetgiganten zähmen – Fairen einen moderaten, aber effektiven Regulierungsansatz Wettbewerb für digitale Plattformen über das Kartellrecht wählen. Wir legen hier heute in herstellen zweiter und dritter Lesung eine sorgfältig vorbereitete Lösung vor: das GWB-Digitalisierungsgesetz. Damit – zu dem Antrag der Abgeordneten wollen wir die Digitalwirtschaft nicht ausbremsen, etwa Katharina Dröge, Tabea Rößner, Anja indem wir Unternehmen nur wegen ihrer bloßen Größe Hajduk, weiterer Abgeordneter und der und wegen ihres Erfolges angehen, sondern wollen sie Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lediglich dort in ihre Verantwortung nehmen, wo Unter- Verbraucherschutz und fairen Wettbe- nehmen ihre Marktposition zum Nachteil der Wettbewer- werb stärken ber, der Verbraucher, der Unternehmen missbräuchlich ausnutzen. Drucksachen 19/23688, 19/23698 (neu), 19/23701, 19/23705, 19/25868 Das Gesetz verspricht also ein modernes, schnelles und c) Beratung des Antrags der Abgeordneten effektiveres Kartellrecht, um die schiefen Wettbewerbs- Dr. Lothar Maier, Stephan Brandner, Jens verhältnisse in der Digitalwirtschaft wieder ins Lot zu Maier, weiterer Abgeordneter und der Frak- bringen: Wir verschärfen die Aufsicht des Bundeskartel- (B) tion der AfD lamtes über digitale Plattformen, die besonders großen (D) Einfluss auf den Wettbewerb haben. Wir beschleunigen Co-Regulierung als ergänzendes Instru- die Verfahren gegen Wettbewerbsverstöße in der Digital- ment des Wettbewerbsrechts und des Ver- wirtschaft. Wir erleichtern den Zugang zu vor- und nach- braucherschutzes gelagerten Märkten. Wir stärken den Mittelstand durch Drucksache 19/25808 Erleichterung von Kooperationen und Fusionen in Deutschland. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Den vom Wirtschaftsministerium vorgelegten schon sehr guten Gesetzentwurf haben wir nach der Anhörung Auch für diese Aussprache ist eine Dauer von 30 Minu- im Ausschuss noch in einigen wesentlichen Punkten ver- ten beschlossen. Aber auch diese Aussprache kann ich bessert. erst eröffnen, wenn Sie die Plätze eingenommen haben. Die Kernvorschrift der Novelle, den neuen § 19a Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem GWB – wir sprechen auch von den 19a-Sachen –, der Kollegen Dr. Matthias Heider, CDU/CSU. dem Bundeskartellamt eine stärkere Kontrollmöglichkeit (Beifall bei der CDU/CSU) über besonders marktmächtige Digitalplattformen ein- räumt, haben wir durch Regelbeispiele greifbarer und Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): rechtssicherer gemacht. Wer als Plattformbetreiber mit Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und überragender marktübergreifender Bedeutung für den Kollegen! Meine Damen und Herren! Plattformen, Such- Wettbewerb ohne sachlich gerechtfertigten Grund etwa maschinen, Onlineshops, Nachrichtenservice, Produk- Softwareanwendungen nur auf einer bestimmten Hard- thersteller, Cloud- und Streamingdienstleister, Daten- ware ohne Alternative zulässt, wer die Nutzung seines sammler, Werbemedium – die modernen digitalen Angebotes von der Nutzung weiterer Angebote abhängig Gatekeeper, sie können alles. Sie sind marktübergreifend macht, wer sich Konditionen einräumen lässt, die völlig tätig, sie beherrschen den Algorithmus, sie sind kapital- außer Verhältnis zur angebotenen und erbrachten Leis- stark. Schon 2019 waren die größten drei von ihnen mehr tung stehen, wer als Marktplatz eigene Produkte bevor- wert als sämtliche 763 börsennotierten Unternehmen in zugt und andere diskriminiert, der muss künftig mit der Deutschland. Es sind digitale Ökosysteme. Untersagung seines wettbewerbsschädlichen Verhaltens rechnen. Der dringende Handlungsbedarf ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Pioniere der Plattformen – Google, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Apple, Facebook und Amazon – aus ihrer innovativen ordneten der SPD) 25638 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dr. Matthias Heider (A) Um der neuen Kernvorschrift mehr Wirkung zu ver- Das ist die Co-Regulierung. Sie beschäftigt sich nicht so (C) leihen, muss sie zügig und rechtssicher durchsetzbar sein. sehr mit eklatanten Verstößen gegen geltendes Recht, Für die voraussichtlich wenigen Fälle soll deshalb aus- sondern sie beschäftigt sich in erster Linie mit rechtlichen nahmsweise unmittelbar ein oberstes Bundesgericht, Grauzonen, mit Fragen etwa der Deontologie, die in nämlich der Bundesgerichtshof, in erster und letzter gesetzlichen Regelungen ohnehin nur schwer, wenn über- Instanz entscheiden. Denn die Vergangenheit hat gezeigt, haupt zu erfassen sind. Es ist ein Verfahren, dass sich dass sich durch mehrere Instanzen durchgefochtene Ver- insbesondere in Großbritannien seit etlichen Jahren fahren über Jahre hinziehen und sich die Märkte bereits bewährt hat, aber auch in anderen Case-Law-Ländern weitergedreht haben, wenn die Entscheidung dann end- wie in Australien, meines Wissens auch in Kanada. lich in Rechtskraft erstarkt. Bei uns ist es so, dass sich die Kontrolle der Einhaltung Wir sorgen schließlich im Bereich der Fusionskontrol- geltenden Verbraucherrechts nicht auf eine Behörde le dafür, dass sich das Bundeskartellamt nicht mehr mit stützt, die das überwacht, sondern darauf, dass sich Ver- einer Flut unproblematischer Fälle befassen muss – das braucherverbände oder auch einzelne Personen bei sol- betrifft gerade den mittelständischen Bereich –, sondern chen Verstößen gerichtliche Unterstützung verschaffen. dass es seine knappen Ressourcen für die wirklich wich- Die Handelsverbände – Wirtschaftsverbände allge- tigen Fälle einsetzen kann, insbesondere für die im Markt mein, Handelskammern, auch Handwerkskammern – der digitalen Wirtschaft. haben in der Vergangenheit durchaus auf diese Problema- Meine Damen und Herren, wir statten das Bundeskar- tik reagiert, indem sie sogenannte Wohlverhaltenskodi- tellamt nach der Ausschussanhörung mit mehr Durchset- zes, Codes of Conduct, entwickelt haben, oft in allerbes- zungskraft und Schwung aus. Es ist ein scharfes Schwert. ter und auch ehrlicher Absicht. Aber man muss auch Wir treten heute Wildwestmethoden im Bereich der Digi- feststellen: Diese Codes of Conduct sind in den allermeis- talwirtschaft entgegen. Wir wollen die Märkte im digi- ten Fällen wirkungslos geblieben, und zwar aus zwei talen Bereich offenhalten. Dass Deutschland dabei auf Gründen: Zum einen haben diejenigen, die sie beschlos- nationaler Ebene voranschreitet, ist kein Nachteil in sen haben, nicht die Möglichkeit, die Einhaltung dieser Europa. Im Gegenteil: Wir würden uns freuen, wenn die- Codes systematisch zu überwachen, und zum anderen ses Beispiel in die europäische Gesetzgebung Eingang haben sie keine Sanktionsmöglichkeiten. Dem versucht finden würde. die Co-Regulierung zu begegnen. Meine Damen und Herren, diese Novelle ist eine Was ist das nun? Die Sache ist ganz einfach. Sie beruht Richtschnur für eine ungewisse Dauer. Wir wissen nicht, ihrerseits auf Codes of Conduct, aber nicht auf solchen, wie lange diese Zustände anhalten. Aber wir glauben, die die Wirtschaftsverbände allein und nach ihren Interes- (B) dass sie ein Vorbild ist, das durchaus ein Profil für die sen gestalten, sondern auf Codes of Conduct, die die (D) digitale Wirtschaft bilden kann. Wirtschaftsverbände zusammen mit anerkannten Ver- braucherverbänden, wie sie zum Beispiel im KapMuG Für die gute Zusammenarbeit bei der Abfassung des definiert sind, und den dafür jeweils zuständigen staat- Gesetzentwurfes möchte ich mich herzlich bedanken bei lichen Behörden definieren. Entscheidend ist, dass sich Falko Mohrs von der SPD, bei Hansjörg Durz von der diese Codes of Conduct, wie sie in Großbritannien, Aust- CSU und insbesondere bei den Mitarbeiterinnen und Mit- ralien gelten, auf Sanktionen stützen. Diese Sanktionen arbeitern des Wirtschaftsministeriums, die sich an diesem werden nicht von denjenigen, die die Codes beschlossen wirklich schwierigen Gesetzgebungsverfahren über viele haben, sondern von zuständigen Behörden verhängt. Das Jahre abgearbeitet haben. Ich glaube, dass wir hiermit wäre zum Beispiel im Bereich der Telekommunikations- einen guten Erfolg erzielen, um der Durchsetzung des branche bei uns die Netzagentur, im Bereich der Finanz- Kartellrechts Geltung zu verschaffen. dienstleistungen die BaFin usw. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sich zum wiederholten Male für die Einführung der Co- ordneten der SPD) Regulierung in der EU eingesetzt. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: NEN]: Wann sprechen Sie eigentlich mal zum Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lothar Maier, Wettbewerbsrecht?) AfD. Das ist durchaus unumstritten; aber die Europäische (Beifall bei der AfD) Kommission ist dem nicht gefolgt mit der Begründung, die europäischen Verträge lieferten keine ausreichende Rechtsgrundlage dafür. Deshalb sollten wir auch nicht Dr. Lothar Maier (AfD): darauf warten, dass die Europäische Union damit irgend- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- wann einmal herüberkommt; vielmehr sollten wir einen ren! Den Verbraucherschutz – um den soll es hier gehen – Vorstoß machen und auf der nationalen Ebene das regu- kann man nicht nur dadurch entwickeln und fördern, dass lieren, was die Co-Regulierung in den Ländern, in denen man das Wettbewerbsrecht immer weiter ausdifferen- sie bereits eingeführt ist, so erfolgreich gemacht hat. ziert. Man kann das auch auf eine andere Weise tun, die Dafür werbe ich, und deshalb bitte ich Sie, unserem Vor- sich in stärkerem Maß auf Freiwilligkeit, auf persönliche schlag zuzustimmen. und kollektive Verantwortung stützt und die sich in eini- gen anderen Ländern in der Welt glänzend bewährt hat. Ich danke Ihnen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25639

Dr. Lothar Maier (A) (Beifall bei der AfD – Katharina Dröge machen es fit für die digitalen Märkte. Das ist der richtige (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War bemer- Weg. Wir dürfen nicht alles dem Markt überlassen, wie es kenswert, kein Satz zum GWB!) hier eben vorgeschlagen wurde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: der CDU/CSU) Nächster Redner ist der Kollege Falko Mohrs, SPD. Mit der Novelle des Wettbewerbsrechts übernimmt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschland weltweit eine Vorreiterrolle; denn mit dem der CDU/CSU) Herzstück dieser Wettbewerbsrechtsnovelle, dem neuen § 19a GWB, werden wir proaktiv. Wir sorgen dafür, dass das Bundeskartellamt bei den Unternehmen, wo wir Falko Mohrs (SPD): sagen: „Da gibt es eine überragende, eine marktübergrei- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- fende Macht und Dominanz“, vor die Lage kommt und ren! Wettbewerb hat eine entscheidende Rolle in unserer proaktiv, präventiv Verhaltensregeln aussprechen kann, sozialen Marktwirtschaft. Im besten Fall sorgt Wettbe- an die sich diese Unternehmen halten müssen. Der Kolle- werb dafür, dass Produkte innovativer und besser wer- ge Heider hat es gesagt: Wir verbieten damit Unterneh- den; Wettbewerb sorgt dafür, dass Produkte zu attraktiven men, sich selber zu bevorzugen. Preisen angeboten werden; Wettbewerb ist damit ein wirklich wesentlicher und wichtiger Teil unserer sozialen Wir erleben auf digitalen Märkten oder Plattformen Marktwirtschaft. Deswegen muss Wettbewerb auch ge- immer wieder, dass der eigentliche Anbieter dieses schützt werden. Marktplatzes eigene Produkte, mit denen er selber Geld verdient, besser rankt, besser darstellt als die von Wett- Wenn man dieser Logik folgt, dann ist das Gesetz bewerbern, ohne dass es dafür irgendeinen Grund gibt. gegen Wettbewerbsbeschränkung, das GWB, dessen Wir erleben auch, dass Unternehmen Konditionenmiss- Novelle wir heute beschließen, so etwas wie das Grund- brauch betreiben, also für diejenigen, die bei ihnen eine gesetz, die Grundlage unserer sozialen Marktwirtschaft Dienstleistung oder ein Produkt anbieten wollen, zusätz- in Deutschland; davon sind wir fest überzeugt. Wir sehen liche Bedingungen schaffen, die nicht notwendig wären; aber – deswegen ist es wichtig, mit dem GWB entspre- sie erzwingen beispielsweise den zusätzlichen Zugang zu chend zu reagieren –, dass insbesondere auf digitalen Daten, nur damit sie diese attraktiv anbieten können. Das, Märkten Wettbewerb nach anderen Regeln ab- und ver- meine Damen und Herren, können wir uns nicht bieten läuft. Wir erleben, dass es auf digitalen Märkten eine viel lassen, und deswegen bieten wir dem Marktgebaren die- stärkere Tendenz zu Monopolen gibt, Netzwerkeffekte ser digitalen Großunternehmen die Stirn. (B) sehr viel stärker eintreten, also die Unternehmen, die (D) schon groß und stark sind, die Zugang zu wettbewerbsre- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten levanten Daten haben, immer mehr Marktmacht auf sich der CDU/CSU) konzentrieren und damit immer weniger Raum für kleine Es gibt weitere Dinge, die wir im Hinblick auf digitale und mittelständische Wettbewerber lassen. Das, meine Märkte mit dem Wettbewerbsrecht anpacken. Wir wer- Damen und Herren, ist eine Entwicklung, die insbeson- den in zwei Paragrafen regeln, dass dort, wo Daten so dere auf digitalen Märkten sehr viel schneller und drasti- etwas wie eine Infrastruktur für Wettbewerb sind – wir scher verläuft. kennen das von der Bahn bei dem Thema Gleise –, ein Digitale Märkte haben eine Tendenz zum, wie wir es Datenzugangsanspruch verankert wird, dass dort, wo es nennen, „The winner takes it all“, also am Ende gibt es für den Wettbewerb eine klare Begründung gibt, auch der einen einzigen Wettbewerber, der so dominant wird, dass Zugang zu Daten geregelt und angewiesen werden kann. Wettbewerb auf diesen Märkten de facto nicht mehr statt- Wir haben auch an anderen Stellen reagiert. Wir sehen findet. Das ist eindeutig und, ich glaube, völlig unbe- zum Beispiel, dass es Unternehmen gibt, die im ersten streitbar ein Problem, dem wir uns annehmen müssen. Schritt eine Übernahme eines Klein- oder Mittelständlers Das tun wir mit diesem Gesetz. planen; diese Übernahme ist vielleicht noch gar nicht Herr Dr. Maier, ich habe Sie bisher in der Debatte des problematisch für den Wettbewerb. Dann gehen sie aber Wettbewerbsrechts im Wirtschaftsausschuss noch nicht den nächsten, den übernächsten Schritt und nehmen klei- erlebt; ich weiß auch gar nicht, worüber Sie gesprochen ne Unternehmen, die vielleicht knapp unter den Aufgreif- haben. Aber eine Aussage habe ich herausgehört: Eigent- schwellen, den Umsatzschwellen liegen, nach und nach lich wollen Sie am Ende alles irgendwelchen Verpflich- auf. Mit dem neuen § 39a GWB haben wir dafür gesorgt, tungen der Unternehmen überlassen; „Code of Conduct“ dass genau diese Übernahmen, die Schritt für Schritt ist ja – ich weiß gar nicht – 35-mal gefallen, mehr habe erfolgen, in Zukunft vorher beim Bundeskartellamt ange- meldet werden müssen, wenn vom Bundeskartellamt ich nicht verstanden. Ich glaube aber, dass das, was ich gerade im Wettbewerbsrecht beschrieben habe, doch und festgestellt wurde, dass auf diesen Märkten eine proble- insbesondere auf den digitalen Märkten der Beweis dafür matische Tendenz für den Wettbewerb besteht. Das ist ist, dass es eben nicht funktioniert, wenn wir den großen ebenfalls eine wichtige Neuerung, die insbesondere den digitalen Plattformen wie Google, Facebook, Amazon, Wettbewerb im Mittelstand garantiert und schützt, meine Apple die Regeln für den Markt allein überlassen. Nein, Damen und Herren. es bedarf klarer Richtlinien und eines scharfen, starken Wir haben das Bundeskartellamt entlastet, indem wir Schwertes in Form eines Gesetzes der Bundesrepublik Umsatzschwellen anheben; auch das ist eine Entlastung Deutschland. Deswegen packen wir das GWB an. Wir für den Mittelstand. Wir haben – auch das ist angespro- 25640 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Falko Mohrs (A) chen worden – dafür gesorgt, dass es gerade bei den Sehr verehrter Herr Minister Altmaier, gemeinsam mit (C) großen, den komplizierten Fälle gegen die Giganten der Herrn Finanzminister Scholz, hat man den Eindruck, Tech-Industrie schneller zu einem abschließenden Urteil geben Sie das Bild eines Duo infernale ab. Sie sind, und damit zu Rechtssicherheit für alle Beteiligten kommt. was die Auszahlung der Hilfen angeht, kläglich geschei- Auch das, meine Damen und Herren, sorgt dafür, dass ein tert. Sie hatten Schnelligkeit, Einfachheit, Großzügigkeit Urteil nicht erst dann ergeht, wenn die Konkurrenten angekündigt – stattdessen haben Sie Vorschriftenwirr- längst verschwunden sind, verdrängt wurden, der Markt warr und Antragschaos geliefert. Wir fordern Sie auf: sich weiter gedreht hat, sondern dass hier schnell Klarheit Sorgen Sie dafür, dass die Hilfen auch bei der Wirtschaft, und damit auch Sicherheit für den Wettbewerb besteht. bei den Betroffenen ankommen, meine Damen und Her- ren! Deswegen bin ich wirklich fest davon überzeugt, dass das, was wir hier – weltweit als erstes Land – mit dieser (Beifall bei der FDP) GWB-Novelle vorlegen, wirklich Inspiration für die Dis- kussion auf europäischer Ebene sein wird, Inspiration Zu dem Gesetzentwurf, der hier vorliegt und den wir auch für das Wettbewerbsrecht in anderen Ländern als Freie Demokraten aktiv und mit Änderungsanträgen wird. Wir sind damit Vorreiter; darauf können wir stolz unseres Berichterstatters begleitet haben: sein. Ich werbe dafür, dass wir heute hier eine breite Es sind viele Fortschritte, eine Stärkung der Wettbe- Zustimmung zu diesem guten Gesetz bekommen, meine werbsbehörden des Bundeskartellamts enthalten, die wir Damen und Herren. mittragen. Stichwort ist die Intermediationsmacht. Stich- wort ist die Sanktion gegen die Verweigerung zum Zu- Lassen Sie mich die letzten, kurzen Sekunden zumin- gang wettbewerbsrelevanter Daten. Stichworte sind auch dest noch einmal darauf verweisen, dass dieses Gesetz das Selbstbevorzugungsverbot und das Verbot von Tip- auch als ein Trägergesetz dafür gilt, dass wir die Zahl ping, also der Beeinflussung von Nutzern. Meine Damen der Tage, für die Anspruch auf Kinderkrankengeld und Herren, das tragen wir mit. Allerdings glauben wir, besteht, in dieser außergewöhnlichen Lage von Corona dass der Gesetzentwurf nicht präzise genug ist, etwa im erhöhen, das heißt, Alleinerziehende oder auch andere Hinblick auf § 19 GWB. Wir haben dazu Änderungsan- Eltern, viele Millionen diesem Land, bekommen eine träge gestellt. Bemerkungswert ist, dass die regierungs- Verdopplung der Kinderkrankengeldtage für dieses Jahr. tragenden Fraktionen jetzt eine Entschließung vorlegen, Das ist wichtig zur Abfederung der Lasten in dieser in der sie selber Verbesserungen an dem jetzt zu beschlie- schweren Zeit, meine Damen und Herren. ßenden Gesetz fordern. Hätten Sie auf unsere Änderungs- anträge gehört und ihnen zugestimmt, dann wäre diese Insofern ist das Gesetz ein gutes Wettbewerbsgesetz, Entschließung überflüssig gewesen, meine Damen und ein gutes Trägergesetz für eine wichtige Regelung in der Herren. (B) Coronazeit. Ich bitte um Ihre Zustimmung. (D) (Beifall bei der FDP) Herzlichen Dank. Wir jedenfalls können dem Gesetz trotz Verbesserun- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gen nicht zustimmen; wir werden uns enthalten. Denn eines ist klar: Wir brauchen eine europäische Regelung – Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: auf die setzen wir. Die liberale Kommissarin Margrethe Nächster Redner ist der Kollege Michael Theurer, Vestager und Thierry Breton haben hier mit dem Digital FDP. Services Act und dem Digital Markets Act gute Vor- schläge auf den Tisch des Hauses gelegt. Wir sind ein (Beifall bei der FDP) Binnenmarkt; da muss der Ordnungsrahmen auch für die Digitalökonomie selbstverständlich europäisch gere- gelt werden. Michael Theurer (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Aber eines ist auch klar: Das Wettbewerbsrecht alleine Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die sichert nicht die Wettbewerbsfähigkeit der Europäer und Freien Demokraten tragen die Vorschläge zum Kinder- der deutschen Wirtschaft im Digitalmarkt. Wir brauchen krankengeld selbstverständlich mit; die Hilfe muss bei dafür bessere Rahmenbedingungen in der Digitalwirt- den Schwächsten in der Gesellschaft ankommen. schaft, zum Beispiel für Start-ups, damit die auch wach- sen können, in die globalen Märkte hinein. Wir fordern (Beifall bei Abgeordneten der FDP) seit Langem ein Venture-Capital-Gesetz. Wir brauchen Verbesserungen auch im Bereich der Arbeitskräfte. Es Aber wenn wir heute hier schwerpunktmäßig über das ist ein Skandal, dass Freelancer abwandern, dass IT- Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen sprechen, Experten abwandern, zum Beispiel, weil die Besteuerung dann muss man vorneweg einmal sagen: Die ganze Dis- in Deutschland – Stichwort „Solidaritätszuschlag“ – kussion um die Wettbewerbsgleichheit, um den fairen immer noch abschreckend ist. Wir fordern Sie auf: Bes- Wettbewerb zwischen analoger und digitaler Wirtschaft, sere Rahmenbedingungen für die IT-Wirtschaft, für die hat überhaupt keinen Sinn, wenn bei der analogen Wirt- Digitalwirtschaft sind der beste Weg, um unsere Wett- schaft, die jetzt gerade durch den Lockdown massiv bewerbsfähigkeit sicherzustellen. betroffen ist, die Hilfszahlungen überhaupt nicht ankom- men. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25641

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (C) Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Pascal Meiser, Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Linke. NEN]) (Beifall bei der LINKEN) In den USA ist das schon seit gut hundert Jahren möglich, und die US-amerikanische Aufsichtsbehörde hat auf die- ser Grundlage kurz vor Weihnachten jetzt ein Verfahren Pascal Meiser (DIE LINKE): eingeleitet, mit dem Facebook gezwungen werden soll, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die zuvor erworbenen Unternehmen WhatsApp und allein ein Konzern wie Amazon darüber entscheidet, ob Instagram wieder zu veräußern. und zu welchen Konditionen andere Einzelhändler Zu- gang zur Welt des Onlinehandels haben, dann ist das Die Debatte zeigt aber auch, dass es zu kurz gesprun- nicht erst seit der Coronakrise ein tiefgreifendes Problem. gen ist, wenn man glaubt, die Macht digitaler Monopole Und wenn ein Konzern wie Google bestimmt, welche allein mit dem Instrument des Kartellrechts lösen zu kön- Produkte und welche politischen Informationen in der nen. Es geht um mehr als um die Aufhebung von Wettbe- Unendlichkeit des Internets erfolgreich gesucht und werbsbeschränkungen, es geht um klare Regeln für die gefunden werden, oder wenn ein Konzern wie Facebook digitale Zukunft. Gerade die digitalen Plattformen sind immer mehr entscheidet, wie unser soziales Leben aus- inzwischen zentrale Bestandteile der gesellschaftlichen sieht, und in seinen Geschäftsbedingungen regelt, was Infrastruktur und bedürfen deshalb wie die Energienetze, anstößige und was zulässige Meinungsäußerungen sind, die Verkehrswege und auch das klassische Postwesen und wenn sie alle zusammen riesige Geschäfte mit unser einer besonderen Regulierung und demokratischer Steue- aller privaten Daten machen und so mächtig sind, dass sie rung. Dafür braucht es ein Plattformstrukturgesetz, in sich erfolgreich um das Zahlen von Steuern drücken kön- dem für die verschiedenen digitalen Plattformen der nen, dann sind das keine Lappalien, über die man achsel- gesetzliche Rahmen gesetzt wird, und eine eigene Regu- zuckend hinwegsehen kann, dann haben wir ein eklatan- lierungsbehörde, die die Durchsetzung dieser Regeln von tes politisches Problem, und dann muss hier endlich Amts wegen überwacht. konsequent gehandelt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Klar ist – ich komme zum Schluss –: Diese Heraus- NEN]) forderungen können nur im engen Zusammenspiel zwi- schen der nationalen und der europäischen Ebene gelöst Ja, es ist gut, dass die Bundesregierung zumindest im werden. Aber wer wie die Bundesregierung bei all diesen (B) Kartellrecht endlich erste zaghafte Schritte in die richtige Problemen mit dem Finger nach Brüssel zeigt, der kommt (D) Richtung geht. Doch leider machen Sie an vielen Stellen seiner eigenen Verantwortung im Kampf gegen die noch halbe Sachen. Ich befürchte, die Vorstandschefs von Macht der Digitalkonzerne nicht nach. Amazon, Google, Facebook und Co. dürfte dies nicht um den Schlaf bringen. So sieht das Herzstück Ihres Gesetz- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. entwurfs für den neuen § 19a GWB lediglich vor, dass (Beifall bei der LINKEN) das Kartellamt künftig bestimmte Geschäftspraktiken marktübergreifend bedeutsamer Plattformen verbieten kann. Warum es aber langwieriger Untersuchungen be- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: darf, um Amazon und Co. im Einzelfall zu untersagen, Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katharina andere Einzelhändler zu benachteiligen oder ihnen inak- Dröge, Bündnis 90/Die Grünen. zeptable Vertragsbedingungen zu diktieren, hat die Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) desregierung bis heute nicht schlüssig darstellen können. Wir als Linke fordern hier weiterhin ein klares und ein- deutiges Verbot missbräuchlicher Praktiken per Gesetz. Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN) Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Altmaier, Sie Auch das Problem der sogenannten Killerakquisition, haben sich sehr viel Zeit gelassen, um diese Reform des also dass die genannten Digitalkonzerne gezielt Start-ups Wettbewerbsrechts in den Bundestag einzubringen: aufkaufen, bevor sie ernstzunehmende Konkurrenten Anderthalb Jahre nachdem wir den Referentenentwurf – werden können, bleibt ungelöst. Unverständlicherweise geleakt zwar, aber in einer eigentlich dem heutigen Ge- haben Sie zudem im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens setz sehr ähnlichen Fassung – zu Gesicht bekommen die Fusionskontrolle generell geschwächt, indem Sie die haben, schaffen Sie es endlich, dieses Gesetz in den Bun- Prüfschwellen für Fusionen weiter nach oben geschraubt destag einzubringen. Diese Langsamkeit ist in dieser Kri- haben. Und leider liefert Ihr Gesetzentwurf auch keine se fatal, Herr Altmaier. Ansätze, um die Macht bestehender Monopole grund- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sätzlich infrage zu stellen. Wir als Linke bleiben dabei: Dort, wo Konzerne mit überragender Bedeutung zu In einer Pandemie, in der auf der einen Seite der lokale mächtig und damit auch nicht mehr anders zu kontrollie- Handel ums Überleben kämpft und auf der anderen Seite ren sind, darf auch in Deutschland und Europa nicht län- Internetgiganten wie Amazon immer mächtiger werden, ger vor der Ultima Ratio einer präventiven Zerschlagung wo immer mehr kleine Händler auf die Angebote der solcher Konzerne zurückgeschreckt werden. digitalen Giganten angewiesen sind, ist ein starkes Wett- 25642 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Katharina Dröge (A) bewerbsrecht für viele Unternehmen überlebenswichtig. Situation der Selbstständigen beispielsweise hätten Sie (C) Deswegen wäre es so dringend notwendig gewesen, dass besser in den Blick nehmen müssen ebenso wie die Frage, Sie schnell gewesen wären mit dieser GWB-Novelle. wie es für die Eltern weitergeht, wenn die Zahl der Kin- derkrankentage aufgebraucht, die Pandemie aber noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht zu Ende ist. Aber diese Trägheit im Regierungshandeln ist ein biss- Zum Schluss richte ich einen eindringlichen Appell chen zum Sinnbild Ihrer gesamten Amtszeit geworden. an alle, die Verantwortung tragen: Nehmen Sie in der Das ist gerade in der Coronakrise ein Problem. Der Kolle- Pandemie die Situation von Kindern besser in den Blick. ge Theurer hat es eben angesprochen: Sie haben ange- Treffen Sie nicht einfach Beschlüsse wie den MPK-Be- sichts des erneuten Shutdowns für relevante Bereiche schluss, mit dem Sie Kontaktbeschränkungen für Haus- der Wirtschaft über schnelle, unbürokratische, einfache halte vorgeben, wodurch das Leben mit Kindern quasi Wirtschaftshilfen gesprochen – und nichts davon ist pas- nicht mehr organisierbar ist. Eltern, die sich wirklich siert. bemühen, sich an alle Regeln zu halten, wissen nicht Ihr Chaos im Duo mit Minister Scholz droht viele mehr, wie sie das Ganze schaffen sollen. Unternehmen in den Ruin zu treiben, weil die Hilfen, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- die zugesagt waren, nicht ausgezahlt werden, weil die SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Software, die man hätte programmieren können, nicht funktioniert hat. Das sind alles Sachen, auf die hätten Sie vorbereitet sein müssen. Die Unternehmen sind gut- Vizepräsident in Petra Pau: willig. Sie wollen uns unterstützen, und sie wollen die Kollegin Dröge. Pandemie bekämpfen; aber dafür brauchen sie auch eine Wirtschaftspolitik, die ihnen das wirtschaftliche Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Überleben sichert. Familien müssen das Leben organisieren können. Poli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tik hat nicht nur die Aufgabe, zu zeigen, was nicht geht, sondern auch, zu zeigen, wie ein verantwortungsvolles Jetzt legen Sie ein hartes Wettbewerbsrecht vor. Ich Leben in der Pandemie aussehen kann. Das zu berück- muss es sagen: Sie gehen mit diesem Gesetz wirklich sichtigen, ist mein dringender Appell an Sie. einen Schritt in die richtige Richtung, auch wenn wir uns Verbesserungen gewünscht hätten. Es ist zum Bei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) spiel nicht einsichtig, warum Sie das Thema Interoperabi- lität, bei dem es um offene Schnittstellen und um eine Vizepräsident in Petra Pau: (B) Förderung von Wettbewerb geht, nur auf die ganz Großen Das Wort hat der Kollege Hansjörg Durz für die CDU/ (D) des Internets beschränken wollen und warum Sie das CSU-Fraktion. nicht grundsätzlich für marktbeherrschende Unterneh- (Beifall bei der CDU/CSU) men regeln, so wie wir es vorgeschlagen hätten. Es ist nicht verständlich, warum Sie den strategischen Ankauf von Start-ups durch die Großen nicht auch besser regu- Hansjörg Durz (CDU/CSU): lieren, so wie wir es von Ihnen gefordert hätten. Das alles Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen wären Verbesserungen, die auch im jetzigen Gesetzent- und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! wurf möglich gewesen wären. Da müssen Sie in Zukunft Die Amerikaner haben die Digitalisierung monetarisiert. nachbessern. Kapitalismus in Reinform hat dazu geführt, dass in vielen Bereichen des Lebens Anbieter digitaler Plattformen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Regeln von Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen. Die Ein weiterer Bereich – das ist auch sehr bezeichnend – Chinesen haben die Macht der Plattformen dem Takt- ist völlig aus Ihrem Fokus geraten, nämlich das Thema stock staatlicher Akteure unterstellt. Der digitale Über- Verbraucherschutz. Das Ministerium hat selber einen wachungsstaat ist übermächtig und ganz offensichtlich Entwurf von einem Wissenschaftler dazu entwickeln las- noch lange nicht am Ende seiner Möglichkeiten. sen, wie der Verbraucherschutz im Wettbewerbsrecht hät- Und Europa? Deutschland? Auch wir schreiben Ge- te gestärkt werden können. Gerade in einer Zeit, in der schichte. In einer Zeit, in der Digitalkonzerne bestimmen, wir alle zunehmend auf digitale Angebote angewiesen wann die Mächtigen der Welt reden dürfen und wann sind, weil man lokal nichts mehr kaufen kann, wäre ihnen das Wort entzogen wird, in einer Zeit, in der der eine Stärkung der Verbraucherrechte im Wettbewerbs- am weitesten verbreitete Messengerdienst des Landes recht dringend notwendig gewesen. Dass das die große seine Nutzer vor die Wahl stellt, ihre Daten mit denen Leerstelle Ihres Gesetzentwurfs ist, ist angesichts der eines Techgiganten endgültig zu vermengen oder den Pandemie ein großes Problem. Dienst nicht weiter zu nutzen, in einer solchen Zeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) braucht es genau ein Gesetz wie dieses. Schließlich haben Sie ein Omnibusgesetz geschaffen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- indem Sie die Ausweitung der Tage beim Kinderkranken- ordneten der SPD) geld für die Eltern mit an den Gesetzentwurf drangehängt Wir feiern heute nicht weniger als die Geburtsstunde haben. Es ist gut und richtig, dass die Große Koalition der sozialen digitalen Marktwirtschaft. Nicht das Wohl dies jetzt regelt – das haben wir von Ihnen gefordert –, von Unternehmen, nicht das Wohl des Staates, sondern auch wenn Sie hier noch Fragezeichen stehen lassen. Die der Mensch wird zur bestimmenden Konstante der digita- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25643

Hansjörg Durz (A) len Wirtschaft. Freier Schöpfergeist, Chancengleichheit, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (C) Wahlfreiheit – es sind diese gemeinsamen europäischen ordneten der SPD) Werte, die wir heute in der Digitalwirtschaft verankern. Die Reform ist ein Vorbild für Europa. Kurz vor Weih- Diese Novelle ist nicht weniger als eine, wenn man so nachten hat die EU-Kommission einen Entwurf zur will, Revolution. Als erstes Parlament der Welt verab- Regulierung von Techgiganten vorgestellt. Die Ziele die- schiedet der Deutsche Bundestag ein Wettbewerbsrecht, ses Gesetzespaketes sind richtig, und es ist gut, dass wir das den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht damit einen Schritt hin zu europäisch einheitlichen wird. Lösungen gehen. Viele europäische Ideen haben wir be- So manche Oppositionspartei tönt derweil, dies sei nur reits aufgenommen. Doch zur Wahrheit gehört auch: Bis ein laues Lüftchen statt echter Gegenwind für die führ- diese europaweiten Regelungen in Kraft treten, werden enden Plattformen dieser Welt. Doch sie springen mit wohl noch Jahre vergehen. ihren Rufen nach einem viel schärferen Vorgehen zu In dieser Zeit wird Deutschland Praxiserfahrungen mit kurz; denn sie verachten die Tatsache, dass unsere Gesell- den neuen Regeln sammeln, und diese Erfahrungen wer- schaft von diesen Unternehmen auch enorm profitiert. den wir in Europa einbringen. Welche Regelung sich Lockdown ohne digitale Plattformen hieße, die Teilnah- auch immer auf europäischer Ebene durchsetzen wird, me am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben sie muss nur eines klar regeln: Über Erfolg oder Miss- endgültig zu verlieren. Den Unternehmen wäre der ein- erfolg im wirtschaftlichen Leben entscheidet künftig zige virenfreie Marktzugang verwehrt. Und wie sähe in nicht mehr die unsichtbare Hand von Amazon und Alpha- dieser schweren Zeit berufliches und gesellschaftliches bet, sondern die unsichtbare Hand von Angebot und Leben ohne digitale Plattformen aus? Nachfrage. Wir haben das Gesetz deshalb so gestaltet, dass Gate- Vielen Dank. keeper auch weiterhin innovativ sein können. Wir wollen systemrelevante digitale Plattformen nicht vernichten; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wir wollen aber, dass sie sich an faire Spielregeln halten. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident in Petra Pau: Und diese Spielregeln haben wir hier klar und deutlich formuliert, zum Beispiel ein Verbot der Selbstbevorzu- Ich schließe die Aussprache. gung. Eigene Produkte dürfen auf Plattformen nicht bes- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- sergestellt werden als die von Wettbewerbern. Auch die desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung ausschließliche Vorinstallation unternehmenseigener des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen für ein (B) Apps und Angebote auf Endgeräten kann künftig unters- fokussiertes, proaktives und digitales Wettbewerbsrecht (D) agt werden. Zudem kann betroffenen Unternehmen ver- 4.0 und anderer wettbewerbsrechtlicher Bestimmungen. boten werden, die Nutzung eines Dienstes von der Nut- Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt zung weiterer Dienste desselben Unternehmens abhängig unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf zu machen. Drucksache 19/25868, den Gesetzentwurf der Bundesre- Bleibt die Frage, wie wir es mit einem Verbot von gierung auf den Drucksachen 19/23492 und 19/24439 in Unternehmensaufkäufen halten. Wir haben Eingriffs- der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, möglichkeiten für das Bundeskartellamt vorgesehen. die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- National verbieten wollen wir solche sogenannten Killer men wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koali- Acquisitions jedoch nicht. Erkannt haben wir das Pro- tionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. blem allerdings sehr wohl; das können Sie in unserem Wer stimmt dagegen? – Keine Fraktion. Wer enthält Entschließungsantrag schwarz auf weiß nachlesen. sich? – Das sind die Fraktionen der AfD, der FDP und Doch fordern wir eine europäische Regelung; denn der die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in Aufkauf durch einen großen Player ist weiterhin eine zweiter Beratung angenommen. beliebte Exit-Strategie für Gründer. Wir als Union wer- Dritte Beratung den das nicht zulassen. Wir werden Gründern in diesem und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Land keinen hausgemachten Wettbewerbsnachteil ans Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Bein binden. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- (Beifall bei der CDU/CSU) entwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen der Frak- tionen der CDU/CSU, der SPD und von Bündnis 90/Die Wir sorgen auch dafür, dass dieses Gesetz nicht bloß Grünen bei Enthaltung der AfD-Fraktion, der FDP-Frak- ein Papiertiger ist. Nein, wir wollen, dass die Reform tion und der Fraktion Die Linke angenommen. nicht bloß auf den Schreibtischen der Rechtsgelehrten, sondern vor allem auf den Endgeräten der Bürger Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf ankommt. Deshalb verkürzen wir den Rechtsweg. Allein Drucksache 19/25868 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- der BGH wird als oberste und einzige Rechtsinstanz über schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- die Streitigkeiten von Unternehmensanwälten und Staats- empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer dienern im Rahmen des § 19a GWB entscheiden. So stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion und die FDP-Frak- schaffen wir Rechtssicherheit statt jahrelanger Verunsi- tion. Wer enthält sich? – Die Fraktionen Die Linke und cherung und werden der Dynamik digitaler Märkte Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist gerecht. angenommen. 25644 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Vizepräsident in Petra Pau (A) Tagesordnungspunkt 11 b. Wir setzen die Abstimmung Überweisungsvorschlag: (C) zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt- Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Auswärtiger Ausschuss schaft und Energie auf Drucksache 19/25868 fort. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ableh- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache beschlossen. – Ich warte einen Moment, bis alle ihren 19/23688 mit dem Titel „Für ein selbstbewusstes und Platz gefunden haben. Ich bitte, das aber zügig zu wachstumsorientiertes Wettbewerbsrecht auf digitalen bewerkstelligen. Märkten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/ Sandra Weeser für die FDP-Fraktion. Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion und die FDP. Wer enthält sich? – Die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der FDP) Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Sandra Weeser (FDP): Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags und Herren! Die unsäglichen Bilder von letzter Woche der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/23698 (neu) mit dem Mob im US-Kongress sind für die meisten von mit dem Titel „Wettbewerbsrecht 4.0 – Digitales Mono- uns wahrscheinlich Schock und Warnung zugleich. poly beenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Selbstgefälligkeit oder gönnerhafte Angebote von Mar- lung? – Die Koalitionsfraktionen, die AfD- und die FDP- shallplänen, die verbieten sich allerdings, meine Damen Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion Die Linke. und Herren, vor allen Dingen, wenn man bedenkt, dass Wer enthält sich? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. letztes Jahr auch bei uns zweimal aufgebrachte Demon- Die Beschlussempfehlung ist angenommen. stranten das Parlament gestürmt haben, einmal sogar nachweislich unterstützt von Parlamentariern aus diesem Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- Hause. be e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- Dieser gewaltsame Angriff gilt allen demokratischen sache 19/23701 mit dem Titel „Internetgiganten zähmen – Gemeinwesen, und unsere Antwort muss heißen: „Jetzt Fairen Wettbewerb für digitale Plattformen herstellen“. erst recht Demokratie, jetzt erst recht Fairness und Res- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koa- pekt, jetzt erst recht ein anständiges parlamentarisches litionsfraktionen, die AfD-Fraktion und die FDP-Frak- Ringen um die besten Ideen zum Wohle der Menschen tion. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktionen Die Linke in unseren Ländern“, (B) und Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Nie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) mand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 11 b. womit wir schon bei der Handelspolitik sind; denn Frei- handel, das ist eine wichtige Säule für internationale Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe f Zusammenarbeit. Freihandel, das sind gute Arbeitsplätze seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags bis in den letzten Landkreis hinein im ländlichen Raum, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache und Freihandel, das ist Aussicht auf Wohlstand und per- 19/23705 mit dem Titel „Verbraucherschutz und fairen sönliche Perspektiven. Wettbewerb stärken“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Die Koalitionsfraktionen, die AfD-Frak- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tion und die FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Die Jedes Freihandelsabkommen, das aktuell in Kraft ist, Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist ange- sei es mit Japan, mit Südkorea, mit Mexiko, wirkt für nommen. Arbeitnehmer und für Unternehmen wie ein kleines Kon- junkturpaket, und das alles ohne Milliardenkosten und Tagesordnungspunkt 11 c. Interfraktionell wird Über- Schwierigkeiten bei der Auszahlung. Aber Freihandel weisung der Vorlage auf Drucksache 19/25808 an die in schafft nicht nur Arbeit, Freihandel ist seit Jahrtausenden der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- die Grundlage dafür, dass sich Völker verständigen und gen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist zusammenarbeiten. Und wo gehandelt wird, da entsteht nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. ein reger Austausch von Ideen, von Technologien, von Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Know-how. Schauen wir zum Beispiel auf die Entstehung der Beratung des Antrags der Abgeordneten Sandra Europäischen Union: Am Anfang stand ein gemeinsamer Weeser, Michael Theurer, Reinhard Houben, wei- Markt für Stahl und Kohle, und dann hat sich daraus terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Schritt für Schritt ein gemeinsamer Binnenmarkt entwi- Transatlantischer Wirtschaftsraum als euro- ckelt, heute mit den höchsten Standards weltweit. Und päische Antwort auf das Regional Compre- wir können unsere Zukunft gemeinsam so viel besser hensive Economic Partnership-Freihandels- gestalten als jedes Land für sich alleine. An dieser Stelle abkommen einen schönen Gruß nach Großbritannien, weil der Brexit ein Lehrstück dafür ist, wohin nationaler Egoismus führt. Drucksache 19/25732 Wir sollten unsere Lehren daraus ziehen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25645

Sandra Weeser (A) (Beifall bei der FDP) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Wir Freien Demokraten werben deshalb heute für ein Herren! Ob es nun ein nachträgliches Weihnachtsge- zeitgemäßes Konzept in der Handelspolitik, und zwar schenk für die Europäer war oder ob es für die Chinesen beruhend auf drei Säulen: ein vorgezogenes Geschenk zum chinesischen Neujahrs- Erstens. Anstatt überfrachteter Mammutabkommen fest war, das kann man nun unterschiedlich bewerten: wollen wir modulare Verträge. Ambitionierte Ziele sind Auf jeden Fall war der Abschluss des Investitionsabkom- richtig, auch wichtig; aber wir erreichen sie halt besser mens zwischen der Europäischen Union und China am Schritt für Schritt durch ein stufenweise umgesetztes 30. Dezember noch mal ein großer Erfolg für Europa und Baukastensystem. für die deutsche Ratspräsidentschaft, meine Damen und Herren. Zweitens. Gute Handelsbeziehungen sind das Funda- ment für Vertrauen und Kooperation, gerade in den Berei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen Klima, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, liebe Grüne. Zur guten Partnerschaft gehören auch Kompro- Wenn man jetzt mal die Situation betrachtet und fragt, misse und Zuverlässigkeit. Über Jahre ausgehandelte warum das so ein großer Erfolg ist, dann muss man fest- Handelsverträge mit Mercosur, mit Kanada nicht zu rati- stellen, dass in China das letzte Jahr „Jahr der Metall- fizieren, macht die EU als Vertragspartner unglaubwür- ratte“ hieß. In diesem „Jahr der Metallratte“ hat China dig, meine Damen und Herren. dieses Investitionsabkommen mit Europa geschlossen. China hat aber auch die Regional Comprehensive Econo- (Beifall bei der FDP) mic Partnership abgeschlossen, also die umfassende Sind wir in der Handelspolitik kein zuverlässiger Partner, Wirtschaftskooperation im asiatischen Raum. Meine werden wir international auch in der Klimapolitik alleine Damen und Herren, ab Februar beginnt in China das dastehen. Jahr des Büffels, sozusagen des Metallbüffels. Da darf man ja, wenn man schon im Jahr der Ratte solche Drittens setzen wir Freien Demokraten auf ein Prinzip: Abkommen schließen kann, jetzt sehr gespannt sein, Der Handel von heute setzt die Standards von morgen. was uns dann im Jahr des Büffels erwartet. China betreibt aggressiv Handelspolitik ohne Rücksicht auf fairen Wettbewerb und Rechtsstaatlichkeit, von Meine Damen und Herren, dieses transpazifische Umwelt- und Sozialstandards mal ganz zu schweigen. Abkommen umfasst 15 Staaten, und in 31 Runden wurde Als Gegengewicht rufen wir Freie Demokraten zu einer dieses Abkommen verhandelt. 2,2 Milliarden Menschen (B) transatlantischen Wirtschaftsgemeinschaft der EU zu- wohnen in diesem Wirtschaftsraum. Dieses Abkommen (D) sammen mit Großbritannien, mit Kanada, mit Mexiko umfasst ungefähr 30 Prozent des Welthandels. Die Euro- und mit den USA auf. Gemeinsam können, nein, gemein- päische Union bringt es auf 33 Prozent des Welthandels. sam wollen wir die Spielregeln des 21. Jahrhunderts nach Dieses asiatisch-transpazifische Abkommen ist über- demokratischen und freiheitlichen Grundsätzen gestal- haupt erst deswegen möglich geworden, weil 2016 die ten. USA unter der Führerschaft ihres Präsidenten Trump das damals bereits ausgehandelte TPP, also die Transpa- (Beifall bei der FDP) zifische Partnerschaft, verlassen haben. Damit haben die Der Kernschmelze von Trumps Präsidentschaft setzen Amerikaner China den Weg geöffnet, dieses große Part- wir eine Zukunftsversion von vertiefter transatlantischer nerschaftsabkommen unter Dach und Fach zu bringen. Freundschaft entgegen. Die Amerikaner haben in der dunkelsten Stunde der deutschen Geschichte zu uns ge- Das zeigt ganz deutlich, meine Damen und Herren, halten und haben uns unterstützt. Nun ist es in dieser dass die Asiaten nicht auf uns warten: Sie warten nicht schwierigen Zeit der US-Demokratie an uns, diese auf die Amerikaner, wie sie sich entscheiden, und sie Freundschaft zu erneuern und warten auch nicht auf Europa, sondern sie nehmen ihre Dinge selbst in die Hand und stellen uns immer wieder (Beifall bei der FDP) vor vollendete Tatsachen. Gerade deswegen ist ebendie- ses Investitionsabkommen vom Dezember letzten Jahres gemeinsam mit Präsident Biden Demokratie, Freiheit und ein Meilenstein auch für die Europäische Union. Rechtsstaatlichkeit wieder ins Zentrum transatlantischer Beziehungen zu stellen. Wenn man sich die Weltkarte mal genauer anschaut, dann kann man ganz klar sehen: Wir als Europa klemmen Handel für Wandel, liebe Kolleginnen und Kollegen: jetzt zwischen zwei großen Wirtschaftsblöcken. Die eine Ich lade Sie ein, sich mit uns Freien Demokraten auf den Seite ist das transpazifische Abkommen, die andere ist Weg in eine mutige Zukunft zu machen. Herzlich will- das Abkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada, kommen! also das frühere NAFTA; jetzt heißt es USMCA. Daran kann man ganz klar sehen: In der Mitte klemmt Europa. (Beifall bei der FDP) Das heißt, die Europäische Union muss handeln, um in der Welt bestehen zu können. Sie handelt ja auch; denn Vizepräsident in Petra Pau: Abkommen mit Japan, Singapur, Vietnam, Mexiko, Mer- Andreas G. Lämmel hat für die CDU/CSU-Fraktion cosur, Chile, Neuseeland, Australien und Kanada wurden das Wort. verhandelt oder sind bereits abgeschlossen worden. 25646 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Andreas G. Lämmel (A) Jetzt kommt aber das große Problem: Es konnten zwar lassen kann, oder sind wir ein Partner, der nach jedem (C) viele Abkommen letztendlich erfolgreich verhandelt wer- abgeschlossenen Verhandlungsstand ständig neue Forde- den, aber die Ratifizierung in Europa geht einfach nicht rungen stellt? voran. CETA, das besondere Abkommen, das wir ja alle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hier im Deutschen Bundestag gefeiert haben, nämlich das Handelsabkommen mit Kanada, Deswegen, meine Damen und Herren: Die Intention Ihres Antrages ist sehr gut. Aber genau wegen diesem Punkt (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- können wir dem einfach nicht folgen. NEN]: Das haben wir nicht alle gefeiert, Herr Lämmel!) Vielen Dank. ist eben bis zum heutigen Tag nur in zwölf Mitgliedstaa- (Beifall bei der CDU/CSU – Katharina Dröge ten der Europäischen Union ratifiziert. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wow!) Wir hatten am Mittwoch eine Ausschussanhörung zum Thema CETA. Es war für mich schon wirklich erschre- Vizepräsident in Petra Pau: ckend, dass vor allem die links-grüne Seite seit 2016 Das Wort hat der Abgeordnete Hansjörg Müller für die nicht den kleinsten Fortschritt im Denken gemacht hat AfD-Fraktion. (Lachen der Abg. [DIE LIN- (Beifall bei der AfD) KE] – Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen warten wir auf einen Hansjörg Müller (AfD): Fortschritt im Denken schon seit Ewigkeiten!) Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! und überhaupt nicht erkannt hat, dass die Welt rings- Die FDP erkennt selbst: Freihandelsabkommen mit Wer- herum sich in einem rasanten Tempo ändert. Sie haben teideologie zu verbrämen, ist ein Problem der EU-Han- immer wieder die gleichen Fragen gestellt und immer delspolitik. – Das steht unten auf Seite 1 Ihres Antrags. wieder die gleichen Befürchtungen angesprochen, die (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie schon vor fünf Jahren geäußert haben, meine Damen NEN]: Das steht da nicht!) und Herren. China dagegen realisiert pragmatisch Handelsvorteile. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Lösung laut FDP sei, einen neuen Anlauf für das Es ist schon das Tragische daran, dass wir bei der Diskus- gescheiterte Transatlantische Handelsabkommen TTIP sion um diese Fragen einfach nicht vorankommen. zu starten, diesmal – ich zitiere – „schrittweise“ und (B) „auf Basis der gemeinsamen Werte“. Dieser Ansatz ist (D) (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- doch auch wieder ideologisch und löst nicht das Problem NEN]: Es hat sich ja auch nicht viel verändert!) des fehlenden Pragmatismus in der EU-Handelspolitik. Ob man bei Ratifizierungsgesetzen immer auf eine (Beifall bei der AfD) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes warten muss, ist bei der Anhörung am letzten Mittwoch auch Die heutigen Ausgangsbedingungen sind schlechter sehr infrage gestellt worden. Wir müssen jetzt in Europa als noch vor zehn Jahren: Handelskriege, Zollschranken, und auch in Deutschland ganz einfach vorankommen. Russland-Sanktionen, WTO-Blockadepolitik. Daran wird auch der hingetrickste Präsident Joe Biden nichts Nun kommt die FDP mit ihrem Antrag. Den habe ich ändern, der sich eher für die globale Finanzindustrie ein- mir angeguckt und habe mir gedacht: Mensch, dieser setzt als für den globalen Handel. Antrag hat ja einen interessanten Titel. Da kann man eigentlich nur zustimmen. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Fake News, Herr Müller! – Manfred (Zuruf von der FDP: Genau!) Grund [CDU/CSU]: Ich dachte, der ist gewählt, Die Grundintention, meine Damen und Herren, ist schon nicht hingetrickst!) gut, natürlich. Transatlantischer Wirtschaftsraum, das ist – Schön, dass Sie wieder mal die Realität nicht hören genau das, was auch wir wollen. Dazu benötigen wir eine wollen. – Es ist abwegig, zu erwarten, dass China tatenlos handlungsfähige US-Administration, die willens ist. Wir zusehen wird, wenn sich die EU über ein TTIP 2.0 den brauchen auch den Willen, das hier in Europa zu verhan- USA erneut unterordnet, um China im Welthandel zu deln. bekämpfen. Hallo, liebe fünf Linksfraktionen hier im Aber dann kommt der Pferdefuß – deswegen können Deutschen Bundestag, kommen Sie mal von Ihrem mili- wir diesem Antrag auch nicht zustimmen; Sie wollen es tärischen Blockdenken runter! Weltweiter Freihandel ist nämlich genauso, wie es die Grünen und Linken immer eine friedliche Veranstaltung. wieder machen –: Es wird ein Abkommen ausverhandelt, (Beifall bei der AfD) und dann werden Nachforderungen gestellt. – So machen Sie das auch im Antrag. Sie erklären: Das Mercosur- Und als Exportnation darf sich Deutschland keinesfalls Abkommen soll schnell ratifiziert werden – Frau Weeser, einseitig nach Westen ausrichten, sondern muss sich alle Sie haben es ja gerade auch noch mal gesagt –, aber wir Optionen offenhalten. Einseitige Handelsallianzen unter- hätten gerne noch ein Zusatzabkommen dazu. – Ja, so minieren den freien Handel Deutschlands in alle Him- kann man doch in der Welt nicht verhandeln. Also, sind melsrichtungen, den wir – auch Sie von den fünf Links- wir nun als Europa ein Partner, auf den man sich ver- fraktionen – so dringend brauchen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25647

Hansjörg Müller (A) (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. unterwegs, unter anderem natürlich wieder bei Herrn (C) [DIE LINKE]) Müller; das kann man gar nicht anders beschreiben. Er Aber vielleicht kommt es sowieso ganz schnell ganz zieht also die Wahl eines amerikanischen Präsidenten in anders, als alle denken: wenn Sie nämlich mit dem Lock- den USA in Zweifel, down-Wahnsinn und der Ruinierung des Euro unserer (Hansjörg Müller [AfD]: Weil es hingetrickst Wirtschaft das Lebenslicht auch schon vorher ausgebla- war! – Gegenruf des Abg. sen haben. [CDU/CSU]: Hingetrickst?) Nein, alter Wein in neuen Schläuchen kann nicht die dann erzählt er hier was von einer russisch-europäischen Lösung sein. Was also dann ist die Lösung? Endlich mehr Koexistenz, bei der wir, wie er glaubt, nur noch deutsche Eigennutz in unserer Handelspolitik verfolgen, statt als Interessen durchsetzen müssten. Ich glaube, das ist schon Missionar Freihandelsverträge mit linksgrünem ideologi- ein bisschen irre, was die ganze Handelspolitik betrifft. schen Blabla zu überfrachten. Ich glaube, Sie haben überhaupt nichts verstanden. (Zuruf der Abg. Katharina Dröge [BÜND- (Zuruf des Abg. Hansjörg Müller [AfD]) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Es ist völlig legitim, wenn Deutschland im Handel zuerst Aber genau das ist Ihr Problem. einmal seine eigenen Interessen und die Interessen der Ich sage Ihnen das, was ich Ihnen schon mal gesagt deutschen Unternehmen vertritt. habe, liebe Kollegen: Es gibt in allen Ländern Hilfete- (Beifall bei der AfD) lefone für Leute wie Sie. Sie müssen nicht in diesem Haufen bleiben. Sie können raus aus dem Rechtsradika- Deutschlands politisch oft nachteilige geografische lismus. Mittellage ist wirtschaftlich unser großer Vorteil. Wir sitzen nicht nur in der Mitte Europas; wir sitzen auch (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) verbindend zwischen dem östlichen, dem westlichen Es gibt da Hilfen. Rufen Sie an! Und wenn Sie nicht und dem asiatischen Wirtschaftsraum. Sich dann einseitig wissen, wie Sie an die Telefonnummern kommen: Wir Richtung Westen anzuketten, ist törichte Selbstbeschrän- helfen Ihnen dabei. – Das ist wirklich hilfreich. kung. Der eurasische Wirtschaftsraum ist der Turbo für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschland und seine Unternehmen im 21. Jahrhundert, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- und zwar analog zur EWG, nicht zur EU. Russische Roh- SES 90/DIE GRÜNEN) stoffe und deutsche Technologie sind eine großartige Aber lassen Sie uns mal zum Antrag kommen; das ist (B) (D) Symbiose. Vor 20 Jahren machte uns ein russischer ja, glaube ich, auch ganz spannend, sich damit zu Staatsmann genau von diesem Rednerpult aus das Ange- beschäftigen. Ja, Frau Weeser, es ist richtig, dass wir bot grenzenlosen Wirtschaftens von Lissabon bis Wladi- ein transatlantisches Handelsbündnis brauchen und dass wostok. Und nicht ohne Grund versucht die NATO seit- wir einen Weg dahin beschreiten müssen; auch das ist dem, genau das zu verhindern. richtig. Aber die Frage ist: Wie sieht dieser Weg aus? (Beifall bei der AfD) Da habe ich bei Ihrem Antrag schon erhebliche Zweifel. Ich will Ihnen diese auch nennen. Es ist eben nicht auf Genau über Eurasien bekommen wir unmittelbaren Zu- China zu schauen und zu sagen: So, das ist der Rule gang zum neuen asiatischen Wirtschaftsraum und dessen Maker, wir müssen uns jetzt an dem orientieren; deshalb Freihandelsabkommen RCEP, genau was Sie von den setzen wir die Standards herunter, und wir halten uns fünf Linksfraktionen ja wollen. Aber das ist ein realisti- nicht mehr an soziale Standards, nicht mehr an Umwelt- scher Ansatz. standards, nicht mehr an Nachhaltigkeitsstandards. – Das Selbstverständlich werden wir die älteren Wirtschafts- kann definitiv nicht der Weg für eine internationale Han- verbindungen mit dem Westen auch weiterhin hegen und delspolitik der Europäischen Union und Deutschlands pflegen. Aber wir werden offen auch auf die östlichen sein. und asiatischen Wirtschaftsverbindungen zugehen. Das (Beifall bei der SPD) heißt: Realpolitik auch in der Wirtschaft. Weil das eben nicht die Antwort auf die Handelsab- Ich bedanke mich. kommen Chinas und den Aufstieg Chinas ist, müssen (Beifall bei der AfD) wir dafür sorgen, dass die Europäische Union eine Werte- union ist; das vergessen Sie in Ihrem Antrag komplett. Vizepräsident in Petra Pau: (Hansjörg Müller [AfD]: Doch! Das steht Für die SPD hat nun Markus Töns das Wort. drin! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die (Beifall bei der SPD) EU vergisst das aber auch oft!) Diese Europäische Union ist eine Werteunion. Genau Markus Töns (SPD): deshalb müssen wir darauf gucken, dass die Europäische Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Union in diesem Verhandlungsschema der Rule Maker ist Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Vorredner und nicht China mit dem Senken und dem Nichteinhalten hört, fällt es einem manchmal schon schwer, eine ver- von Sozialstandards etc., auch von Menschenrechten. Ich nünftige Replik darauf zu geben. Es war ja viel Irres glaube, das ist ganz wichtig. 25648 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Markus Töns (A) (Sandra Weeser [FDP]: Das steht aber im An- betonen: zwischen denen, die Freihandelsabkommen (C) trag!) grundsätzlich ablehnen – das halte ich für vollkommen weltfremd –, Wir haben viel zu bieten innerhalb der Europäischen Union. Wir haben einen attraktiven Markt mit 450 Mil- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Absolut!) lionen Konsumentinnen und Konsumenten. Wir haben und denen, die Freihandel frei von Werten und Standards ein Netz an Handelsabkommen von fast 80 internationa- durchsetzen wollen. Wirtschaft und Freihandel gehen len Abkommen weltweit, auch mit Asien, unter anderem eben nicht vor Sozialstandards, Umweltstandards und Japan, Vietnam und Singapur. Und wir haben das Know- Nachhaltigkeit. how beim Setzen internationaler Standards. Das ist eigentlich der entscheidende Punkt. Das ist unsere Stärke, (Beifall bei der SPD) und die sollten wir auch betonen, weil diese Standards Es geht hierbei um einen gerechten, regelbasierten nämlich vieles verändern können. Deshalb ist das ein Welthandel, und den erreicht man eben nicht durch Dum- attraktives Gegenmodell zu einseitigen Abhängigkeiten, ping. Gerade die EU ist eine Werteunion – ich habe es die zum Teil auch durch China in dieser Welt geschaffen vorhin betont –, und das muss sich in modernen Handels- werden. abkommen auch widerspiegeln. Dafür plädieren wir auch Was ist genau das Gegenmodell? Das ist ein multilate- in der Zukunft. Und deshalb an dieser Stelle: Lassen Sie rales Handelssystem, das wir stärken müssen. Ja, Joe uns darüber weiterhin reden. Aber in der Form, wie Sie es Biden könnte eine Chance sein, um mit der amerikani- eingebracht haben, werden wir dem nicht zustimmen schen Administration wieder in ein vernünftiges Ge- können. spräch zu kommen. Aber zunächst sollten wir nicht Mein herzliches Glück auf! über Handelsabkommen reden, sondern über die Frage der Stärkung der WTO. Die WTO ist ein geschwächter (Beifall bei der SPD) Partner in der Welt, und wir müssen dafür sorgen, dass sich das ändert. Das wird gemeinsam mit den USA, sehr Vizepräsidentin Petra Pau: wahrscheinlich auch mit dieser Administration, möglich Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Klaus sein. Ernst das Wort. Wir brauchen die WTO auch wieder als Ort der Streit- (Beifall bei der LINKEN) schlichtung, zumindest da, wo es uns nicht anders möglich ist. Ich plädiere weiterhin für den multilateralen Handelsgerichtshof, weil ich glaube, dass das die Zu- Klaus Ernst (DIE LINKE): (B) kunftsentwicklung ist, die in CETA verankert ist – im Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (D) Gegensatz zu anderen, die das hier immer wieder kriti- Herren! Ich kann es nicht lassen: Als Erstes muss ich sieren. Das ist zukunftsgerichtet. Das ist der Goldstan- was zu dem Kollegen Lämmel sagen. Herr Kollege dard, und den sollten wir international auch durchsetzen. Lämmel, Sie haben gerade das Investitionsabkommen zwischen China und Europa gelobt. Das wundert mich (Beifall bei der SPD) jetzt insofern, als das ja noch gar nicht vorliegt. Keiner Wir brauchen bei der Doha-Entwicklungsrunde sicher- kennt das. Oder, Herr Altmaier, haben Sie das dem schon lich auch Verhandlungspartner wie die USA, um dort gegeben und uns nicht? – Das geht ja auch nicht. Sie auch etwas zu vollbringen; denn da muss deutlich mehr loben hier also ein Abkommen, Herr Lämmel, das über- passieren. Wir müssen die Nachhaltigkeitsstandards haupt noch nicht bekannt ist, und finden das großartig. international stärken. Nach der Klimakonferenz in Paris (Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ sind wir deutlich weiter gekommen, als das bisher der DIE GRÜNEN]) Fall war. Wir müssen dies zukünftig doch auch in inter- nationalen Handelsverträgen festschreiben. Sich davon Das ist genau das Problem bei dieser Handelspolitik: zu verabschieden oder es erst gar nicht in den Blick zu dass es oft Verträge gab – das haben wir bei CETA nehmen, nach dem Motto „Da bedroht uns jetzt aber ein erlebt –, und keiner hat sie gekannt, dass wir als Abge- großer asiatischer Wirtschaftsraum“: Ich weiß gar nicht, ordnete überhaupt keinen Zugang zu den Vertragstexten wovor Sie Angst haben, Herr Lämmel. Der Vertrag liegt hatten, dass wir dazu beitragen bzw. es hinkriegen muss- ja noch gar nicht in der Übersetzung vor. Wir müssen da, ten, dass wir überhaupt reinsehen durften; dabei hätten glaube ich, mal in Ruhe reingucken. Aber sehr viel Angst wir in die amerikanische Botschaft gehen sollen, um das habe ich vor diesem Vertrag ganz ehrlich gesagt nicht. TTIP-Abkommen einzusehen. Diese Geheimhalterei ist Denn so viel wird da nicht verhandelt worden sein, das ein Grund, warum die Bürger Europas diese Politik nicht uns wirklich bedroht. Aber wir haben die Möglichkeit, es einfach abnicken, und das ist gut so, meine sehr verehrten besser und sogar deutlich besser zu machen. Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ja, wir Sozialdemokraten – das will ich an dieser Stelle neten der AfD – Manfred Grund [CDU/CSU]: betonen – stehen zu Freihandelsabkommen, und zwar zu Wieder einmal links und rechts einig!) Wandel durch Handel, anders als Sie es gesagt haben, Frau Weeser – das kann aber auch ein Versprecher gewe- Zum Zweiten. Ich habe wenig Zeit, aber ich komme sen sein –: nicht Handel zum Wandel, sondern Wandel nicht umhin, das jetzt doch auch noch zu dem Vertreter durch Handel. Wir Sozialdemokraten stehen hier zwi- der AfD zu sagen: Da habe sich der neue Präsident jetzt schen zwei extremen Positionen; das will ich auch mal ins Amt – wie haben Sie das formuliert? - Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25649

Klaus Ernst (A) (Hansjörg Müller [AfD]: Hingetrickst!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Da waren Sie (C) doch dagegen!) hingetrickst. Ja, wie kommen Sie denn dazu? Langsam kriege ich vor Ihnen auch Angst. Wenn Sie ein Wahler- muss offensichtlich nach Ihrer Ansicht dem schnöden gebnis nicht akzeptieren, dann stellen Sie sich künftig deutschen Rechtssystem ausgeliefert sein. auch auf die Stufen hier vor dem Reichstag und randalie- (Markus Töns [SPD]: Überhaupt nichts ver- ren, gehen rein und hauen die Leute nieder? standen!) (Widerspruch des Abg. Hansjörg Müller Es kann nämlich nicht vor ein Schiedsgericht gehen, weil [AfD]) es in Europa oder in Deutschland ansässig ist. Erklären Ist das das, was sie wollen? Sie machen eine Politik, Sie das mal Ihrer Klientel! Warum stellen Sie mit der meine Damen und Herren, die die Demokratie infrage wirklich raschen Ratifizierung deutsche Unternehmen stellt, wenn Sie Wahlergebnisse in der Demokratie infra- schlechter als ausländische Investoren? Das versteht ge stellen. Also hören Sie auf mit diesem Unfug! kein Mensch. Das lehnen wir ab, und deshalb lehnen wir auch das Abkommen in dieser Form ab. (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die letzte Bemerkung. – Ich bin ein wenig schon drü- ber und muss aufhören. Vizepräsident in Petra Pau: Kollege Ernst, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- Vizepräsident in Petra Pau: kung des Abgeordneten Brandner? Herr Kollege Ernst, Sie müssen zum Schluss kommen.

Klaus Ernst (DIE LINKE): Klaus Ernst (DIE LINKE): Er kann gerne danach eine Zwischenbemerkung Ja, ja. – Wenn die Vorredner zum Thema gesprochen machen. Ich habe keine Lust auf diesen Kram. hätten und nicht so einen Quatsch, dann hätte ich mehr zum Antrag sagen können. Vizepräsident in Petra Pau: Herzlichen Dank. Nein, nein. Das Wort zu Kurzinterventionen erteilt (Beifall bei der LINKEN) immer noch die Präsidentin. (B) Vizepräsident in Petra Pau: (D) Klaus Ernst (DIE LINKE): Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordne- So. – Jetzt habe ich noch eineinhalb Minuten, weil Sie ten Brandner das Wort. so einen Quatsch reden, für den FDP-Antrag. Wissen Sie, (Zurufe: Oh nein!) ich habe den Eindruck, dass Sie deshalb bei diesem Abkommen so aufs Tempo drücken, weil Sie offensicht- lich befürchten, dass Sie in der nächsten Legislatur gar Stephan Brandner (AfD): nicht mehr mitreden können, weil Sie nicht mehr im Vielen Dank. – Hören Sie auf, zu stöhnen; Sie wissen Bundestag sind. Da verstehe ich Ihre Eile. Sie ist inhalt- ja noch gar nicht, was ich sagen will. Es wird Sie begeis- lich nicht geboten, und ich sage Ihnen, warum. tern. Die Stiftung Wissenschaft und Politik stellt zu diesen Herr Kollege Ernst, ich gehe auf einen Aspekt Ihrer Abkommen, die gegenwärtig überall geschlossen wer- Rede ein, den Sie am Anfang in den Vordergrund gestellt den, in diesem Fall zu dem Freihandelsabkommen mit hatten, nämlich den, dass die Ergebnisse demokratischer den Chinesen im pazifischen Raum, fest – Zitat –: Dieses Wahlen zu akzeptieren sind. Ich glaube, wir sind uns alle Freihandelsabkommen stellt in diesem Hause einig, dass das genau den Nagel auf den Kopf trifft. Ergebnisse demokratischer Wahlen sind zu keinen großen Durchbruch hin zu einem liberalen akzeptieren. Punkt! Wirtschaftsraum dar. RCEP ist ein relativ schwaches Handelsabkommen. Es hat nicht das Potential, aus (Beifall bei der AfD) dem asiatisch-pazifischen Raum einen monolithi- Meine Frage in diesem Zusammenhang: Sie beschrän- schen Block in der internationalen Handelspolitik ken sich jetzt mit Ihrem möglicherweise etwas begrenz- zu machen. ten Horizont darauf, in diesem Zusammenhang die USA zu erwähnen und den Kollegen Müller. Wie haben Sie es Warum also diese Eile? Sie ist gar nicht notwendig. denn persönlich oder wie hat es Ihre Fraktion oder wie hat Aber ich sage Ihnen, wo ein Problem bei diesem Ab- es Ihre Partei denn vor etwa einem Jahr, Anfang Februar kommen ist – es gibt viele –: Wenn ein kanadisches 2020, gehandhabt, als der FDP-Politiker Kemmerich im Unternehmen in Deutschland investiert, dann kann es, Thüringer Landtag demokratisch zum Ministerpräsiden- wenn es sich durch deutsche Regulierungen schlecht ten gewählt wurde und binnen Minuten der linke Mob auf behandelt fühlt, CETA dazu verwenden, dass es vor ein der Straße war, binnen Minuten Ansagen an AfD-Abge- Schiedsgericht geht – nach wie vor ein eigenes Rechts- ordnete im Thüringer Landtag gemacht wurden: „Geht system! Das deutsche Unternehmen, das genau derselben nicht auf die Straße, draußen erwartet euch Böses von Regulierung unterliegt, den Gegendemonstranten!“? Wie beurteilen Sie, dass die- 25650 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Stephan Brandner (A) ser Ministerpräsident unter Druck gesetzt wurde? Seine Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Familie wurde angespuckt. Frau Merkel hat ihn aus Süd- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und afrika zum Rücktritt aufgefordert. Meinen Sie, dass das Kollegen! Die politischen und auch die wirtschaftlichen keine demokratische Wahl in Thüringen war, oder legen Beziehungen mit den USA unter Präsident Trump waren Sie da andere Maßstäbe an? schwierig. In der Handelspolitik hat Trump eine Politik (Beifall bei der AfD) gemacht, die auf Eskalation gesetzt hat, auf Sanktions- androhungen gesetzt hat, auf Strafzölle gesetzt hat und auf die Blockade von multilateralen Organisationen. Es Vizepräsident in Petra Pau: ist gut, dass das mit dem Wechsel zu Biden und Harris in Sie haben das Wort zur Erwiderung. den USA nun vorbei sein wird. Mit Biden und Harris haben wir die Chance, die Han- Klaus Ernst (DIE LINKE): delspolitik und die handelspolitischen Beziehungen mit Also, allein die Tatsache, dass Sie hier sitzen, zeigt den USA neu zu denken. Deswegen ist es auch richtig, doch dass die FDP sich hier im Bundestag damit beschäftigen (Stephan Brandner [AfD]: Ich stehe!) möchte. Ich finde es auch anerkennenswert, dass die FDP nachgedacht hat und sich von diesem alten Riesenkon- – nicht Sie alleine, aber Ihre Freunde –, zept TTIP ein Stück weit verabschiedet hat. Ich muss (Stephan Brandner [AfD]: Ach so!) ganz ehrlich sagen: Da ist sie sogar weiter als die CDU, dass wir das Ergebnis demokratischer Wahlen akzeptie- als zum Beispiel der CDU-Generalsekretär , ren, übrigens alle. Keine der hier sitzenden Parteien hat der vor Kurzem im „Tagesspiegel“ noch einmal die Neu- versucht, das dadurch zu verhindern, dass wir in diesen auflage dieses alten toten Freihandelsabkommens TTIP Reichstag über die Treppe reingehen, vielleicht mit gefordert hat – jenseits jeder Realität. Knüppeln, und den einen oder anderen von euch uns (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sozusagen greifen. Kein Mensch hat das gemacht. Aber SES 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund das macht die Klientel, die Sie in den USA verteidigen; [CDU/CSU]: Das hat Trump beerdigt! Trump und das ist das Verwerfliche. hat das beerdigt! Da müssen Sie nicht stolz Man kann Wahlergebnisse von Parlamenten nicht drauf sein!) mögen. Man kann übrigens auch – das war der Vorgang – Das hat nicht Trump beerdigt; da kann ich kurz Auf- in Thüringen – sagen: Die Konstellation, die zu einem klärung leisten. TTIP ist schon unter Präsident Obama Ministerpräsidenten führt, wollen wir verhindern. – extrem schwierig gewesen. Aber niemand hat es mit Gewalt versucht, (B) Ein Blick in die Vergangenheit lohnt sich, um auch (D) (Dr. [AfD]: Das ist Unfug, was realistische Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Denn Sie da sagen! auch unter Biden wird es nicht einfach in der Handels- und was Sie hier machen, ist, die Gewalt zu verteidigen, politik. Auch Biden wird auf eine Politik setzen, die sagt: die Leute – das ist der eigentliche Mob – bei den letzten „Buy American“, die auf eine Stärkung des amerikani- Vorgängen in den USA praktiziert haben. schen Wirtschaftsraums abzielt. Das muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man über die Wirtschaftsbezie- (Hansjörg Müller [AfD]: Wie kommen Sie hungen mit den USA redet. denn zu so was?) Das ist ein Unterschied. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe den Eindruck, Sie würden da gerne mitma- Das allerdings nimmt die FDP nur zum Teil zur Kenntnis; chen, Sie wären da gern dabei gewesen. Das ist der Ein- denn Sie schlagen jetzt einen Ansatz vor, der vorsieht: druck, der entsteht, auch durch die einen oder anderen Wir gehen die kleinen Schritte und machen erst mal Wirt- Vorgänge von Ihren Leuten, schaft, und irgendwann machen wir dann Klimaschutz und bearbeiten andere Fragen. – Genau das Gegenteil (Dr. Roland Hartwig [AfD]: Gehen Sie mal macht aber Sinn mit den USA. Denn wenn man sich zum Arzt!) anschaut, wo Joe Biden und Kamala Harris bereit sind, die wir nun wirklich in der Bundesrepublik zur Kenntnis in den internationalen Beziehungen voranzugehen, dann nehmen. Deshalb: Wenn es um die Verteidigung der ist das genau beim Thema Klimaschutz der Fall. Das Demokratie geht, sind Sie der Letzte, der das Recht hat, wäre die große Chance, die wir als Europäische Union dazu was zu sagen. haben, dass wir den USA ein starkes Angebot machen und sagen: Gemeinsam, EU und USA, setzen wir auf (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- das Thema Klimaschutz. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Roland Hartwig [AfD]: Die USA werden dem Pariser Klimaabkommen wieder Unverschämtheit!) beitreten. Die USA denken beispielsweise darüber nach, Klimazölle einzuführen, etwas, das auch die Europäische Kommission im Rahmen Ihres Green Deals voranbringen Vizepräsident in Petra Pau: will. Wie stark wäre es, wenn die USA und die EU das Das Wort hat Katharina Dröge für die Fraktion Bünd- gemeinsam machen würden und damit auch ein Zeichen nis 90/Die Grünen. an die ganze Welt senden würden, dass sich klimaschäd- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) liche Technologien nicht lohnen, dass der Export von Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25651

Katharina Dröge (A) klimaneutraler Technologie die Zukunft ist? Diese Vision (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) fehlt allerdings in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Insbesondere dann nicht, wenn solche Vertragstexte mit demokratisch verfassten Staaten ausgehandelt wurden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und Ich glaube, das müssen wir als Europäische Union deut- sicherlich auch von den Linken, in Ihren Sonntagsreden lich machen. erklären Sie ja immer, die Europäische Union stärken zu Es war hier sehr viel Ängstlichkeit im Raum, sehr viel: wollen. Aber mit Ihrer handelspolitischen Ausrichtung Die anderen wollen all das nicht, was wir wollen. – Das der vergangenen Jahre haben Sie in Wahrheit das Gegen- stimmt einfach nicht! Es sind extrem viele Länder auf der teil gemacht: Sie haben die Europäische Union ge- Welt bereit, mit uns eine progressive Handelspolitik zu schwächt. Sie haben TTIP abgelehnt – von Anfang an. machen. Teilweise sind sie sogar weiter; teilweise schei- Sie haben das Handelsabkommen mit Kanada abgelehnt, tert es am Willen der Europäischen Union, beispielsweise das Abkommen mit Japan, das EU-Singapur-Abkom- beim Handelsabkommen mit Neuseeland, wo Neusee- men; ich könnte die Liste jetzt so fortsetzen. land die guten Vorschläge macht und die Europäische Union das Ganze blockiert. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir haben Vorschläge gemacht, wie es Es gibt Möglichkeiten, Handelspolitik, Menschenrech- besser geht!) te und Klimaschutz progressiv zu verbinden; wir müssen es nur wollen. Das ist der Appell: Starten wir in dieses Mit Ihren regelmäßigen Forderungen nach umfassen- Jahrzehnt mit einem Blick nach vorne, mit einer Handels- den Nachverhandlungen haben Sie nicht nur unter politik, – Beweis gestellt, dass Sie von internationaler Wirtschafts- kooperation, selbst mit gleichgesinnten Staaten, sehr wenig halten. Sie haben auch gezeigt, dass Sie in Kolo- Vizepräsident in Petra Pau: nialherrenmanier den Drittstaaten die Marschrichtung Kollegin Dröge. vorgeben wollen.

Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – die Klimaschutz und Handel verbindet. NEN]: Das ist unverschämt, was Sie da sagen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Und das hat nichts mit verantwortungsvoller Außen- und Handelspolitik zu tun. (B) Vizepräsident in Petra Pau: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D) Das Wort hat der Kollege Stefan Rouenhoff für die CDU/CSU-Fraktion. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäische Handelspolitik befindet sich am Scheideweg. Entweder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) treiben wir den Abschluss von EU-Handels- und -Investi- tionsverträgen mit Nachdruck voran, und zwar auch Stefan Rouenhoff (CDU/CSU): dann, wenn es an der ein oder anderen Stelle Abstriche Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und gibt! Oder Europa wird bei der Gestaltung der interna- Kollegen! Das asiatisch-pazifische Freihandelsabkom- tionalen Wirtschaftspolitik und Standardsetzung erheb- men RCEP ist ein Weckruf – ein Weckruf für das Europä- lich an Einfluss verlieren. Das heißt nicht – das will ich ische Parlament, die nationalen Parlamente in den EU- ausdrücklich sagen –: Handelsabkommen zu jedem Preis. Mitgliedstaaten und damit auch für uns als Deutschen Aber es heißt: Pragmatismus und Realismus müssen wie- Bundestag. der Einzug in die europäische Handelspolitik finden. Und dazu sollten wir alle unseren Beitrag leisten. Nur dann Während bei uns von der Europäischen Kommission bleibt Europa handlungsfähig. ausgehandelte Freihandelsabkommen, in denen selbst hohe Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards verankert (Beifall bei der CDU/CSU) sind, immer wieder zerredet werden, schafft China mit 14 weiteren Staaten neue Fakten und bildet die größte Deutschland trägt hier als größte Volkswirtschaft und Freihandelszone der Welt! Alles ohne Umwelt-, Arbeits- Handelsnation in der Europäischen Union eine besondere und Sozialstandards, aber dafür mit großem Einfluss auf Verantwortung. Wenn wir bei internationalen Wirt- künftige Handelsströme und internationale Standardset- schaftskooperationen auf der Bremse stehen, dann zung. Das können wir nicht wirklich wollen, und da dür- schaden wir vor allem jenen EU-Mitgliedstaaten, die fen wir nicht einfach achselzuckend am Spielfeldrand auf vertiefte Wirtschaftsbeziehungen und neue Absatz- stehen. märkte dringend angewiesen sind, dringender als wir. Das hat nichts mit europäischer Solidarität zu tun, gerade US-Präsident Trump und seine Abkehr von der Trans- in Coronazeiten. pazifischen Partnerschaft, TPP, hat im Asien-Pazifik- Raum ein Vakuum hinterlassen. Und dieses Vakuum hat Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, vor China jetzt mit RCEP gefüllt. Das sollte uns eine Lehre diesem Hintergrund wird es auch höchste Zeit, dass wir sein. Wir sollten nicht über Jahre verhandelte Abkommen endlich CETA ratifizieren. Ihr früherer Minister Sigmar fahrlässig in den Wind schlagen, wenn solide Vertrags- Gabriel hat gestern noch einmal in der öffentlichen Anhö- texte erreicht wurden. rung zu CETA unterstrichen: Kanada ist europäischer als 25652 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Stefan Rouenhoff (A) so manch ein Land in der EU. Liebe Sozialdemokraten, Tackmann, Amira Mohamed Ali, Heidrun (C) geben Sie sich endlich einen Ruck, und lassen Sie uns Bluhm-Förster, weiterer Abgeordneter und CETA noch bis zum Sommer ratifizieren! der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Regionale Ernährungssysteme stärken Zuruf des Abg. Markus Töns [SPD]) Drucksachen 19/15568, 19/22681 Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten haben recht, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass Amira Mohamed Ali, Dr. Gesine Lötzsch, die bestehenden Handelskonflikte mit den USA so Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter schnell wie möglich beigelegt werden sollten. Aber ich und der Fraktion DIE LINKE bin nicht so optimistisch, dass wir hier zu schnellen Erfol- gen kommen werden. Der von US-Präsident Trump ein- Gutes Essen für alle in Kita und Schulen geschlagene Weg lässt sich nicht so einfach zurückdre- Drucksache 19/25786 hen, und die amerikanische Handelspolitik unterliegt Überweisungsvorschlag: heute tatsächlich neuen Realitäten. Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Und auch wenn wir nichts unversucht lassen dürfen: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir sollten nicht zu sehr den Traum von der Wiederbele- Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- bung oder von einem neuen TTIP träumen, auch wenn zung wir alle Anstrengungen dafür unternehmen sollten. Wir Haushaltsausschuss alle wissen, wie unterschiedlich die handelspolitischen ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Vorstellungen zwischen der Europäischen Union und Berichts des Ausschusses für Ernährung und Amerika sind. Lassen Sie uns, liebe Freundinnen und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag Freunde von den Grünen, auf die Bereiche fokussieren, der Abgeordneten Nicole Bauer, Frank Sitta, die in der neuen Biden-Administration wirklich erfolgs- Dr. Gero Clemens Hocker, weiterer Abgeordne- versprechend sind, und – das haben Sie ja gesagt, Frau ter und der Fraktion der FDP Dröge – dazu gehören vor allem Handel und Klima. Hier können wir tatsächlich neue weltweite Standards setzen. Künstliche Intelligenz vermeidet Lebensmit- Hier machen die Grünen vielleicht ausnahmsweise auch telverschwendung mal mit und lehnen nicht immer alles ab. Drucksachen 19/18953, 19/25870 Danke schön. ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Markus Tressel, Harald Ebner, weiterer (B) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (D) Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN NEN]) Rechte der Verbraucherinnen und Verbrau- cher stärken – Transparenz bei der Lebens- Vizepräsident in Petra Pau: mittelkontrolle ermöglichen Ich schließe die Aussprache. Drucksache 19/25544 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/25732 an die in der Tagesordnung aufge- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- weisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ver- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten fahren wir wie vorgeschlagen. beschlossen. – Ich bitte, zügig die Plätze einzunehmen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c sowie Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- die Zusatzpunkte 5 und 6 auf: ministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner. 13 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu der Landwirtschaft: Unterrichtung durch die Bundesregierung Guten Tag, sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Bericht der Bundesregierung zur Ernäh- Damen und Herren Abgeordnete! Ernährung ist ein rungspolitik, Lebensmittel- und Produkt- Lebensthema; das wird uns in der aktuellen Coronasitua- sicherheit – Gesunde Ernährung, sichere tion wieder besonders bewusst. Wichtig ist die Sicherheit, Produkte dass Lebensmittel jederzeit verfügbar sind. Es ist unge- wohnt, wenn wie jetzt Kantinen geschlossen sind oder (Ernährungspolitischer Bericht 2020) das Schulessen ausfällt. Viele beschäftigen sich jetzt Drucksachen 19/19430, 19/20213 Nr. 1.5, mehr als vorher mit der Zubereitung der Mahlzeit zu 19/25817 Hause. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Ganz klar: Auch die Ernährungspolitik ist durch das Berichts des Ausschusses für Ernährung und aktuelle Geschehen gefordert. Wichtig war uns, schnell Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem An- dafür zu sorgen, dass auch in der Krise Lebensmittel gut trag der Abgeordneten Dr. Kirsten verfügbar sind. Dazu hat die Bundesregierung gemein- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25653

Bundesministerin Julia Klöckner (A) sam schnell gehandelt. Wir haben klargestellt, dass die Erkennbarkeit und Orientierung sind in einer Welt, in (C) gesamte Land- und Ernährungswirtschaft als systemrele- der Angebote so vielzählig sind, gerade für Verbraucher vant einzustufen ist. sehr wichtig. Nach einer hierzulande mindestens – wirk- lich: mindestens! – zehn Jahre währenden Auseinander- (Beifall bei der CDU/CSU) setzung habe ich mit einer Verordnung den Weg für den Und wir haben uns gleichzeitig um den Verbraucher- Nutri-Score in Deutschland frei gemacht und bedanke schutz gekümmert, zum Beispiel, indem wir darauf mich bei allen für die Unterstützung und auch für die geachtet haben, dass Verbraucher nicht getäuscht werden, konstruktive Diskussion. etwa durch Werbung mit irreführenden Qualitäts- und Gesundheitsversprechen. So ist das Werben mit einem (Beifall bei der CDU/CSU) speziellen Coronabezug für Nahrungsergänzungsmittel So, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die gesunde unzulässig. Wahl zur einfacheren Wahl. Sie wird nicht alles ersetzen. Sehr geehrte Damen und Herren, die grundsätzlichen Am Ende muss man selber entscheiden; es ist ein gesam- Fragen und Aufgaben der Ernährungspolitik bleiben aber ter Lebensstil. Aber wir wollen dabei behilflich sein. unabhängig von der Krisensituation bestehen. So sind in Wir sind mit Frankreich und Belgien die Vorreiter in Deutschland viele Erwachsene, Kinder und Jugendliche der EU. Gleichzeitig haben wir unsere deutsche EU-Rats- übergewichtig. Die Folgen wirken sich nicht nur direkt präsidentschaft erfolgreich dafür genutzt, die Diskussio- auf die Betroffenen aus, sondern verursachen auch erheb- nen und Entscheidungen über ein EU-einheitliches erwei- liche Kosten in unserem Gesundheitssystem. tertes Nährwertkennzeichnungssystem voranzubringen. Und unsere Gesellschaft ändert sich permanent und Da sind wir sehr weit gekommen. Aber es gibt auch mit ihr natürlich die Ernährungsgewohnheiten. Kinder erhebliche Widerstände; das will ich auch sagen. Es essen beispielsweise mittags immer öfter im Kindergar- gibt Mitgliedstaaten, in denen das Thema Verbraucher- ten oder in der Schule. Der Handel bietet neue Vertriebs- schutz keine so große Rolle spielt. wege über Onlinekanäle an. Die Versorgungsmöglich- Wichtig ist, dass wir die Ernährungskompetenzen in keiten werden vielfältiger. Aufgrund der Altersstruktur allen Lebensphasen fördern: in den 1 000 ersten Tagen – müssen die besonderen Bedürfnisse gerade auch von das ist das eine –, in der Schule, aber auch, wenn es um unseren Seniorinnen und Senioren verstärkt in den Blick unsere älteren Menschen geht. Ich fordere die Länder auf, genommen werden. Deshalb habe ich Vernetzungsstellen die DGE-Qualitätsstandards für Essen in den Kitas und für Seniorenernährung eingerichtet. Schulen zur Verpflichtung zu machen. Mit der Gründung (Beifall bei der CDU/CSU) eines Instituts für Kinderernährung, den vielen Datenba- (B) sen und vor allen Dingen der Evaluation überprüfen wir (D) Umweltschutz, Tierwohl und das Ziel, Lebensmittel- die Wirksamkeit unserer Politik. verschwendung zu vermeiden, sind weitere Aufgaben. Zu deren Lösungen können auch wir als Konsumenten sehr Ernährung geht uns alle an. Sie bestimmt unser Wohl- konsequent beitragen. All das sind neue Anforderungen, befinden, unsere Gesundheit, unsere Lebensqualität. Sie auch für eine aktuelle, moderne Ernährungspolitik. Zwei hat Auswirkungen auf die Umwelt, sie hat Auswirkungen Punkte sind mir dabei besonders wichtig: Erstens: Eine auf unser Klima, auch weltweit. Deshalb sage ich: Es ist gesundheitsförderliche und nachhaltige Ernährung muss kein Sprint, es ist ein Dauerlauf. Aber dieser Ernährungs- überall möglich sein. Zweitens müssen wir dafür sorgen, politische Bericht zeigt, dass wir erfolgreich unterwegs dass sie für unsere Verbraucher im Alltag auch machbar sind. ist. Herzlichen Dank. Deshalb verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz mit dem Ziel, Konsumentinnen und Konsumenten bei ihren (Beifall bei der CDU/CSU) Entscheidungen zu unterstützen, ihre Ernährungskompe- tenz zu stärken und das Angebot an Fertiglebensmitteln Vizepräsident in Petra Pau: zu verbessern. Um dies zu erreichen, stärken wir die Das Wort hat der Abgeordnete Wilhelm von Gottberg Ernährungsbildung, fördern die Forschung, haben ganz für die AfD-Fraktion. konkrete Ziele vereinbart mit der Lebensmittelwirtschaft, mit den Erzeugern. Und dort, wo es nötig ist, passen wir (Beifall bei der AfD) den Rechtsrahmen an. Zum Beispiel habe ich bei Baby- und Kleinkindertees süßende Zutaten verboten. Wilhelm von Gottberg (AfD): Unsere Schwerpunkte der laufenden Legislaturperiode Frau Präsidentin! Frau Ministerin Klöckner! Meine zeigen sehr gut, dass wir auf dem richtigen Weg sind, dass Damen und Herren! Wir erörtern jetzt und hier den im wir ganzheitlich denken, dass wir nicht Stückwerk, son- vergangenen Mai vorgelegten ernährungspolitischen dern wirklich eine Politik aus einem Guss machen. Bericht der Bundesregierung. Zu diesem 62 Seiten umfassenden Bericht wurden vier weitere Anträge der Wir sorgen dafür, dass es beim Kauf von Fertigproduk- Fraktionen gestellt. Dafür bekommt die größte Opposi- ten einfacher wird, die gesunde Wahl zu treffen. Deshalb tionsfraktion gerade einmal vier Minuten Zeit, um ihre werden wir die Zucker-, Fett- und Salzgehalte in Fertig- Bewertung vorzutragen. produkten reduzieren. Dass wir hier auf dem richtigen Weg sind, belegt das wissenschaftliche Monitoring des (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Max-Rubner-Instituts. NEN]: Was sollen wir denn sagen?) 25654 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Wilhelm von Gottberg (A) Meine Damen und Herren, seriös und umfassend ist das die Lebensmittelnotversorgung in Deutschland in Krisen- (C) nicht zu leisten. – Dies vorausgeschickt nun einige zeiten. Diese unverzichtbare Daseinsvorsorge hat man Anmerkungen zum Inhalt des Berichtes. offensichtlich bei der Abfassung des Berichts nicht im Zutreffend wird festgestellt, dass Fehlernährung und Blick gehabt. Bewegungsmangel gesundheitliche Folgen für die Men- (Beifall bei der AfD) schen haben. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Alarmierend Die AfD empfiehlt diesbezüglich, einen kurzen Nachtrag in dem Bericht ist, dass die Übergewichtigkeit der Men- zum ernährungspolitischen Bericht 2020 anzufertigen. schen in Deutschland in den letzten 20 Jahren gravierend Der nächste Bericht erscheint ja erst 2024. zugenommen hat. Das gilt auch – leider – für Kinder. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Richtig ist auch: Derzeit ist in Deutschland eine gesun- de, ausgewogene und nachhaltige Ernährung für alle (Beifall bei der AfD) Menschen gewährleistet. Gleiches gilt für die Futtermit- telsicherheit. Die Tiergesundheit hat einen hohen Stellen- Vizepräsident in Petra Pau: wert; kein oder wenig Einsatz von Antibiotika in der Für die SPD hat nun die Kollegin Ursula Schulte das Tierhaltung. Unbelastetes Trinkwasser in Deutschland Wort. ist die Regel. (Beifall bei der SPD) Auch die Reduzierung der Lebensmittelverschwen- dung wird angesprochen und angestrebt. Der Bericht Ursula Schulte (SPD): nennt zahlreiche Initiativen der Bundesregierung, um Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und das Bewusstsein der Menschen für eine gesundheitsbe- Kollegen! Der uns vorliegende Ernährungspolitische wusste Ernährung zu schärfen. Ein Schwerpunkt hierbei Bericht der Bundesregierung beleuchtet den Zeitraum ist die Ernährungsbildung in den Schulen. von 2016 bis 2020 und zeigt – und darüber freue ich Das Dokument ist aber auch ein Zeugnis für die aus- mich sehr –, wie bedeutend das Thema Ernährung in ufernde Bürokratie in unserem Land. 79 Fußnoten den letzten Jahren geworden ist. Der Bericht führt uns braucht ein 62 Seiten umfassender Bericht nicht zu aber auch vor Augen, dass es im 21. Jahrhundert noch haben. immer nicht gelungen ist, den Hunger zu beseitigen. Inhaltlich gibt es an der Vorlage wenig auszusetzen. Es 820 Millionen Menschen hungern weltweit, und mehr überrascht, was die Bundesregierung an Details in diesen als 2 Milliarden Menschen sind von Mangelernährung Bericht hineinpackt. Es stellt sich schon die Frage, ob das betroffen. Das ist beschämend, auch weil gleichzeitig 1,3 Milliarden Tonnen genießbarer Lebensmittel jedes (B) alles in einen ernährungspolitischen Bericht hineinge- (D) hört. Da es hier aber auch um Produktsicherheit für die Jahr weltweit vernichtet werden, mindestens 12 Millionen Verbraucher geht, kann man die gestellte Frage vielleicht Tonnen allein in Deutschland. Diese Zahlen mahnen uns, mit Ja beantworten. Aber auch eine gegenteilige Auffas- das Menschenrecht auf Nahrung niemals aus den Augen sung ist vertretbar. zu verlieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Da wird die Schadstofffreiheit von Kosmetika gefor- Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dert. Vor schädlichen Chemikalien in den Tätowierungs- mitteln wird gewarnt. Der Konsum von elektronischen NEN]) Zigaretten wird angesprochen. Auch die Reform der Die Coronapandemie hat die Situation gerade in den EU-Spirituosenverordnung darf nicht fehlen – Beispiel: ärmsten Ländern noch einmal verschlimmert. Aber auch Eierlikör verfeinert mit Kirschwasser. Meine Damen und in den USA, dem Land der scheinbar unbegrenzten Mög- Herren, gehört das in einen ernährungspolitischen Be- lichkeiten, wissen die Menschen nicht mehr, wie sie ihre richt? Kinder ernähren sollen, sie sind zunehmend auf Lebens- mittelspenden angewiesen. Unser Sozialstaat hat sich in (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Coronakrise, wie ich finde, wieder einmal bewährt NEN]: Eierlikör? Warum nicht? War jetzt ein und in vielen Fällen für schnelle Hilfen gesorgt. Wie oft schlechtes Beispiel!) habe ich im letzten Jahr den Satz gehört: Was für ein Die gleiche Frage ergibt sich auch für die Forderung nach Glück, dass ich während dieser Pandemie in Deutschland Gleichstellung der Geschlechter in den Entwicklungslän- leben darf. – Die Menschen meinen diesen Satz wirklich dern; Seite 60 des Berichts. ernst. Wir können also alle zu Recht stolz auf unseren Auf den letzten Seiten des Berichts werden lobenswer- Sozialstaat sein. te globale Ziele der Bundesregierung hinsichtlich der (Beifall bei der SPD) Ernährungspolitik genannt. Beispiele: Das Menschen- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich gesund recht für angemessene Nahrung weltweit verwirklichen. ernähren will, muss über entsprechende Kompetenzen Die Unterstützung des Welternährungsprogramms fort- verfügen, aber er muss sich auch gesunde Nahrungsmittel setzen. Hunger und Mangelernährung in den Entwick- leisten können. Der Bericht erkennt den Zusammenhang lungsländern beseitigen. Die Tropenwälder als Quelle zwischen Armut und ungesunder Ernährung an. Insbe- der Nahrungsmittel erhalten. sondere Kinder aus benachteiligten Familien ernähren Abschließend. Der Bericht hat ein nicht unerhebliches sich schlechter, sind häufiger krank oder übergewichtig. Defizit: In einem 62 Seiten umfassenden ernährungspo- Die SPD-Fraktion hat zum Thema Ernährungsarmut ein litischen Bericht gehört unverzichtbar eine Aussage über umfangreiches Positionspapier verabschiedet. Viele un- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25655

Ursula Schulte (A) serer Forderungen decken sich mit denen des Wissen- So wie mir geht es vielen Verbraucherinnen und Verbrau- (C) schaftlichen Beirates für Agrarpolitik, Ernährung und chern; denn regionale Produkte werden immer beliebter. gesundheitlichen Verbraucherschutz. Uns eint auch die Der Kennzeichnung „Regionalfenster“ mit seinen über Forderung nach einer kostenlosen Kita- und Schulver- 4 000 Produkten stellen die Verbraucherinnen und Ver- pflegung nach DGE-Standards in ganz Deutschland. Da- braucher ein sehr gutes Zeugnis aus. mit können wir den Ernährungsstatus aller Kinder ver- bessern und gleichzeitig für mehr Chancengleichheit Die Landwirte allerdings fühlen sich nicht wertge- und weniger Diskriminierung sorgen. schätzt. Das liegt unter anderem daran, dass ihre Produkte teilweise verramscht werden. Gerade bei Fleischproduk- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten sind die niedrigen Preise für mich auch eine ethische der LINKEN – Zuruf der Abg. Amira Frage; denn das Kotelett war vorher ein lebendiges Mit- Mohamed Ali [DIE LINKE]) geschöpf. Mich macht es sehr nachdenklich, dass immer Wer Existenzängste hat, liebe Kolleginnen und Kol- mehr Familienbetriebe aufgeben, weil sich ihre Arbeit legen, der hat den Kopf nicht frei, sich auch noch um nicht mehr lohnt und weil sie keine Zukunft mehr für gesunde oder gar nachhaltige Ernährung zu kümmern. sich sehen. Es ist doch an der Zeit, dass wir genau diese Deswegen gehören die Abschaffung prekärer Beschäfti- Betriebe stärker in den Blick nehmen und auch stärker gung und ein Mindestlohn von 12 Euro mit in die Debatte unterstützen. über gesunde Ernährung. Ich denke da an die GAP-Mittel und an die Diskussion (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Amira gestern Abend: Die GAP-Mittel sollen doch unter ande- Mohamed Ali [DIE LINKE]) rem das Einkommen der Landwirte absichern; daher Mir liegt auch das Thema Ernährungsbildung sehr am kann und will ich nicht verstehen, warum wir über die Herzen, und zwar von der Kita an. Die Bundesländer Flächenprämie das Einkommen von Investoren sichern, müssen das endlich in ihren Bildungsplänen berücksich- die mit Landwirtschaft nichts am Hut haben. Das Geld tigen. Ich begrüße sehr das aktuelle Forschungsprojekt gehört in die Hände der aktiven Landwirte, insbesondere der Europa-Universität Flensburg, mit dem nach Mög- in die Hände der Familienbetriebe. lichkeiten für eine gezielte Ernährungsbildung gerade für verletzliche und bildungsferne Bevölkerungsgruppen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesucht wird. Das ist genau der richtige Weg. der CDU/CSU) Im Bereich der Gemeinschaftsverpflegung – Frau Klöckner, Sie haben es auch erwähnt – leisten die Ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns auch (B) netzungsstellen für Schul- und Kitaverpflegung sowie ruhig mal als Koalitionäre auf die Schultern klopfen; (D) Seniorenverpflegung bereits gute Arbeit. Sie sind aber denn wir haben im vergangenen Jahr viel erreicht für immer noch zu wenig bekannt. Es gilt, die kommunalen die gesunde Ernährung und für den gesundheitlichen Ver- Verwaltungen und Räte stärker für das Thema zu gewin- braucherschutz. Meine Zeit läuft mir trotz der 7 Minuten nen. Oft wird ja gedacht, gutes und gesundes Kantinen- Redezeit weg, deswegen erwähne ich nur: Die Einfüh- essen sei um ein Vielfaches teurer; wir wissen aber aus rung des Nutri-Score, die Nationale Strategie zur Redu- Untersuchungen und auch aus Gesprächen etwa mit der zierung der Lebensmittelverschwendung, das Verbot von Berliner Kantine Zukunft, dass das so nicht stimmt. Zucker in Kinder- und Säuglingstees – das alles kann sich wirklich sehen lassen. Natürlich hätten wir als SPD eini- Es sollte auch selbstverständlich sein, dass in allen ges viel lieber verbindlicher gestaltet. So hätten wir wahr- Schulen Wasserspender vorhanden sind; denn das Lieb- scheinlich schon längst das Werbeverbot für ungesunde lingsgetränk der Kinder, gesüßte Limonade, ist nicht Kinderlebensmittel auf den Weg gebracht; aber wir sind gesund und sorgt für Übergewicht, wenn man nicht beharrlich und konnten mit dem Haushalt 2021 noch mal Maß halten kann. Eine Limonadensteuer könnte hilfreich Akzente setzen im Bereich der Ernährungsarmut und sein, ausdrücklich nicht als Einnahmequelle des Staates, Tafeln. sondern in erster Linie als Lenkungssteuer. Wir können uns da ein Vorbild an unserer Steuer auf Alcopops neh- Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mir wirklich men, deren Aufkommen heute nur noch ein Zehntel des- Sorge bereitet, ist das Thema Lebensmittelkontrollen. sen beträgt, was im ersten Jahr eingenommen wurde. Wir Auch wenn hier in erster Linie die Länder zuständig haben durch diese Alcopopsteuer also das Ziel erreicht. sind, dürfen wir die Augen doch nicht davor verschlie- Die mit einer Limonadensteuer gewonnenen finanziellen ßen, dass es einfach zu wenig Kontrolleure gibt. Immer Mittel könnten wir umgehend in Bewegungs- und Sport- wieder wird mir gesagt: Wir können wegen Personalman- programme für Kinder investieren; denn da sind wir uns gels unserer Verpflichtung eigentlich nicht im erforder- doch hoffentlich alle einig: Gesunde Ernährung und lichen Maße nachkommen. – Die gerade geänderte AVV Bewegung gehören unbedingt zusammen. RÜb wird vom Bundesverband der Lebensmittelkontroll- Liebe Kolleginnen und Kollegen, sich gut und gesund eure anders betrachtet als von Ihnen, Frau Ministerin. Sie zu ernähren, setzt Vertrauen in die Produzenten und Her- sehen darin eine Schwächung des gesundheitlichen Ver- steller unserer Lebensmittel voraus. Ich vertraue den braucherschutzes. Dabei gehört genau dieser zu den zent- Landwirten bei mir vor Ort, die sich Tag für Tag bemü- ralen Elementen der staatlichen Fürsorgepflicht. Die hen, gesunde Produkte zu erzeugen. Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass die Lebensmittel sicher sind. Verstöße gegen das Lebens- (Beifall des Abg. [FDP]) mittelrecht sind keine Kavaliersdelikte. 25656 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Ursula Schulte (A) Ich hätte Ihnen gerne noch was über Nahrungsergän- und Handelsnormen zu überprüfen und gegebenenfalls (C) zungsmittel gesagt, komme aber nicht dazu, weil mir die abzuschaffen, zweitens nachhaltige und intelligente Ver- Redezeit davonläuft. Ich möchte einfach als Fazit der packungen in unseren Alltag zu integrieren und drittens Lektüre des Ernährungspolitischen Berichtes Folgendes ein dynamisches Verderbslimit einzuführen statt eines sagen: Ich finde, wir haben beachtliche Fortschritte auf starren Mindesthaltbarkeitsdatums. dem Weg zu einer gesunden Ernährung und zu mehr Ver- (Beifall bei der FDP) braucherschutz für alle erreicht. Erfolge wollen immer alle gerne für sich reklamieren. Natürlich sage ich auch: Sorgen wir also für mehr Nachhaltigkeit beim Umgang Die SPD war hier oft der Motor; aber im Bereich gesunde mit unseren Lebensmitteln und unseren Ressourcen. Ernährung haben wir trotz sonstiger Querelen in der Koa- (Beifall bei der FDP) lition gut zusammengearbeitet und auch im Ministerium oft ein offenes Ohr gefunden. Darüber freue ich mich. So Sorgen Sie, Frau Ministerin, dafür, dass unsere qualita- sollten wir im Interesse der Menschen weiter miteinander tiv hochwertigsten Lebensmittel endlich das kosten, was arbeiten. sie tatsächlich wert sind, nämlich mehr. Die Bäuerinnen und Bauern verdienen unseren Respekt und unsere Aner- Herzlichen Dank. kennung. Viele von ihnen haben aber das Gefühl, von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ihrer Politik verschaukelt zu werden. Und ganz ehrlich: der CDU/CSU) Ich kann es verstehen. (Beifall bei der FDP) Vizepräsident in Petra Pau: Aktuelles Beispiel: die Bauernmilliarde. Erst zwingen Für die FDP-Fraktion hat nun die Abgeordnete Nicole Sie die Landwirte zu Investitionen in neue Gerätschaften Bauer das Wort. durch Regelungen wie die Düngemittelverordnung, und (Beifall bei der FDP) dann versagt bei der Vergabe der Fördermittel das Sys- tem. Das ist doch peinlich. Nicole Bauer (FDP): (Beifall bei der FDP) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Ja, wo gehobelt wird, da fallen Späne. Aber sind Sie Kollegen! Werte Frau Ministerin, wenn Sie schon von doch dann bitte so ehrlich und geben zu, dass der Start uns abschreiben, dann bitte konsequent und vollständig. dieser Förderplattform nicht der große Erfolg war. Sogar Kopieren Sie nicht nur die Forderung eines EU-weiten aus Ihren eigenen Reihen ist zu hören, dass es ein „politi- Tierwohllabels oder der Herkunftskennzeichnung, son- scher Totalschaden“ ist. Frau Ministerin, Kompetenz, dern übernehmen Sie doch dann bitte auch unsere Forde- (B) Wertschätzung, Verlässlichkeit und Planungssicherheit (D) rungen zu den Themen Digitalisierung und künstliche schauen anders aus. Intelligenz; (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) denn dann hätten wir eine zukunftsfähige und wettbe- Vizepräsident in Petra Pau: werbsfähige Ernährungspolitik. Das Wort hat die Kollegin Amira Mohamed Ali für die Mich wundert es auch nicht, dass Sie auf unsere Vor- Fraktion Die Linke. schläge zurückkommen. Es ist doch noch gar nicht so lange her, als der Wissenschaftliche Beirat des BMEL (Beifall bei der LINKEN) Ihnen, Frau Ministerin, ein sehr schlechtes Zeugnis für Ihre Ernährungspolitik ausgestellt hat. Mir scheint, Sie Amira Mohamed Ali (DIE LINKE): könnten da ein bisschen Nachhilfe brauchen. Weil wir Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- uns ja als Serviceopposition verstehen, habe ich Ihnen legen! Frau Ministerin Klöckner, Ihr Bericht, um den es auch tatsächlich drei Ideen mitgebracht: Sorgen wir mit heute geht, zeigt das, was Sie in den letzten Jahren Bildung und Verbraucherkunde für einen selbstbestimm- gemacht haben, oder besser: all das, was Sie nicht ten Lifestyle eines jeden und einer jeden Einzelnen, gemacht haben; denn Sie gehen die ernsthaften Probleme, bauen wir bürokratische EU-Vorschriften zugunsten einer die es in der Ernährungspolitik gibt, nicht entschlossen nachhaltigen Landwirtschaft ab, und vermeiden wir Le- an. Teilweise wird es statt besser sogar schlechter. Zum bensmittelverschwendung durch künstliche Intelligenz. – Beispiel gibt es nach wie vor viel zu wenige Lebensmit- Das ist mehr als nur eine App. telkontrollen. Und Sie, Frau Klöckner, haben die Pflicht- zahl sogar noch reduziert. Das ist unverantwortlich. Sie haben beim Max-Rubner-Institut eine weitere Lebensmittelkennzeichnung in Auftrag gegeben. Diese (Beifall bei der LINKEN) ist völlig überflüssig. Diese Forschungsgelder hätten Der Stillstand beim Tierwohl ist wirklich ein Skandal. wir besser in den Anwendungsbereich der Blockchain Nach wie vor werden die meisten Tiere in viel zu engen und der künstlichen Intelligenz gesteckt, meine Damen Ställen gehalten, über Hunderte, Tausende Kilometer und Herren. transportiert. Von dem Grauen in vielen Schlachthöfen (Beifall bei der FDP) will ich gar nicht reden. Ihr Tierwohllabel ist und bleibt Wir Freie Demokraten setzen auf Fortschritt und Digi- eine Alibiveranstaltung. Es täuscht Verbesserungen vor, talisierung und haben hier drei wesentliche Forderungen die es kaum gibt. Das geht so nicht. in unserem Antrag: erstens hinderliche Vermarktungs- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25657

Amira Mohamed Ali (A) Nächster Punkt: ernährungsbedingte Krankheiten – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) nach wie vor ein wachsendes Problem. Ungesunde Fer- tigprodukte mit viel Zucker, Salz und Fett leisten dazu Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einen wesentlichen Beitrag. Aber statt die Lebensmittel- Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen industrie zu verpflichten, ihre Rezepturen zu verändern, und Kollegen! Wir haben es mit einem massiven Problem setzen Sie weiterhin auf freiwillige Selbstverpflichtung. von Fehlernährung zu tun: hier in Europa und weltweit. Das ist wirklich ein Witz. Sie feiern zum Beispiel die Im Ergebnis gibt es zwei Gruppen. Die eine Gruppe hat angeblich große Zuckerreduktion von 7,5 Prozent in Kin- schlicht und einfach zu wenig zu essen, die andere isst zu derjoghurts. Dabei heißt das konkret, dass statt der viel zu viel vom Falschen: Softdrinks, hochverarbeitete Lebens- großen Menge von 15 Gramm Zucker pro 100 Gramm mittel, sogenannte Frühstückscerealien. Das ist unser jetzt 14 Gramm Zucker drin sind; also wirklich lächer- Problem. lich. Dass es ein Problem ist – mit allen Folgeerkrankun- ( [AfD]: Das stimmt!) gen –, haben wir niemals deutlicher gesehen als jetzt in Es hat einen Grund, warum besonders in Fertigproduk- Zeiten von Corona, wo Menschen mit Diabetes, Men- ten so viel Zucker, Salz und Fett drin sind; denn das sind schen mit einem massiven Übergewicht, Menschen mit billige Geschmacksträger. Sie zu reduzieren, reduziert die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Menschen mit Problemen Gewinnmargen der Lebensmittelkonzerne. Das wollen im Bewegungsapparat in die Gruppe der Risikopatienten diese Konzerne nicht. Dieser Wunsch der Lebensmittel- gehören, und zwar egal wie alt sie sind. Deshalb muss konzerne ist Ihnen doch Befehl, Frau Klöckner. Aber das man sagen: Unser Ernährungssystem ist gescheitert. geht so nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- und bei der LINKEN) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist keine gesunde Ernährungsumgebung, die wir Ernährungsbedingte Krankheiten betreffen Menschen haben. Das finden nicht nur wir Grüne so, sondern es hat, aus allen Einkommensschichten, überproportional betref- wenn ich es einmal adressieren darf, im Jahr 2018 ein fen sie aber Menschen mit niedrigem Einkommen. Das Bündnis aus 15 Ärzteverbänden, Fachorganisationen, ist Fakt. Die Bundesregierung behauptet, das läge nicht Krankenkassen plus Ärztinnen und Ärzte gegeben, das am niedrigen Einkommen, jeder könne sich in Deutsch- gesagt hat: Wir müssen wirksame Maßnahmen gegen land gut ernähren. Dazu möchte ich nur eins sagen: Die Fehlernährung ergreifen. Schlangen vor den Tafeln sprechen da eine andere Spra- che. Der Wissenschaftliche Beirat des Ministeriums hat im (B) Sommer 2020 gesagt: Wir brauchen eine umfassende (D) Sehen wir uns die Hartz-IV-Regelsätze an. Für ein Neuausrichtung und Stärkung des Politikfeldes Ernäh- Kind zwischen 6 und 14 Jahren sind nur 4 Euro am Tag rung. Wir brauchen verbindliche Maßnahmen, und wir für Essen und Trinken vorgesehen. Ja, ich kenne Ihre brauchen Steuerungsmaßnahmen. Im Verhältnis zu ande- Rechenmethoden, statt mit realen Preisen für gutes Essen ren Ländern fehlen diese in Deutschland. rechnen Sie mit dem Billigsten vom Billigen. Die Men- schen müssen jeden Cent dreimal umdrehen. Ich finde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das offen gesagt menschenverachtend. Eine wissenschaftliche Kommission, EAT-Lancet – sie (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. hat ja den Planetary Health Diet erfunden –, hat gesagt: [BÜNDNIS 90/DIE Machen wir einmal etwas für individuelle Gesundheit GRÜNEN]) und planetare Gesundheit, die auch auf uns alle und auf die Bedingungen der Bauern wieder zurückfällt. – Sie hat Gerade für Kinder ist Mangelernährung ein sehr großes einen entsprechenden Speiseplan für gesunde und nach- Problem; denn dadurch werden die Weichen für die haltige Ernährung gefordert. Und was bieten Sie als Bun- Gesundheit von Anfang an falsch gestellt. desregierung? Freiwilligkeit. Ich sage Ihnen aber: Die Wir beantragen daher heute erneut eine Maßnahme, die Zeit der Freiwilligkeit ist vorbei, weil sie nie gewirkt hat. dazu führen würde, dass es Mangelernährung bei Kindern in unserem Land nicht mehr gibt. Das sagen auch die (Zurufe von der FDP) Experten aus Ihrem Ministerium, Frau Klöckner. Wir – Ja, ich sehe besonders viel Unruhe bei der FDP, weil Sie brauchen gesundes Essen in Kitas und Schulen für alle wieder an Shareholder-Value denken. Wir reden hier aber Kinder. Damit es eben wirklich für alle Kinder da ist, über Ernährung und Gesundheit, meine Damen und Her- muss es beitragsfrei sein. ren. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Darum: Nehmen Sie unseren Antrag an. Gerade bei hochverarbeiteten Lebensmitteln geht es Vielen Dank. den Unternehmen doch darum, möglichst viele – meine Vorrednerin hat es gesagt – billige Rohstoffe zu bekom- (Beifall bei der LINKEN) men, niedrige Personalkosten zu haben und Gewinne an ihre Aktieninhaber auszahlen zu können. Aber das ist Vizepräsident in Petra Pau: doch nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, wirk- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun lich für ein gesundes Ernährungsumfeld zu sorgen, meine Renate Künast das Wort. Damen und Herren. 25658 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Renate Künast (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deshalb sind die vielen Programme des BMEL wie die (C) und bei der LINKEN) Reduktionsstrategie für Zucker, Fette und Salz sowie das Verbot von gesüßten Kinder- und Säuglingstees und die Hier muss ich sagen: Die vielen freiwilligen Maßnah- Förderung von IN FORM usw. immens wichtig und müs- men reichen mir nicht aus. Reduktionsziele, Ampelkenn- sen weitergeführt werden. zeichnung, Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwen- dung – alles ist freiwillig. Ich sage Ihnen eines an der Ernährung gehört nun einmal zu den ureigenen Berei- Stelle: Was wir brauchen, ist, dass wir jetzt zumindest chen unseres Lebens. Deshalb sollte jeder und jede befä- die Kinder in den Mittelpunkt unserer Betrachtung stel- higt werden und auch die Möglichkeit haben, sich gesund len. Da geht es nicht darum, dass die Kinder mehr Wahl- und abwechslungsreich zu ernähren. Dafür setzen wir mit möglichkeiten haben, Frau Ministerin, sondern, dass wir unserer Politik den richtigen Rahmen. Egal ob zu Hause, tatsächlich ein Ernährungssystem aufbauen, das angefan- bei der Arbeit, unterwegs, in der Kita, in der Schule oder gen bei der Transparenz des Angebots bis hin zu einer auch im Seniorenheim: Gemeinschaftsverpflegung nach Limonaden- oder Zuckersteuer und zur Einschränkung DGE-Standards muss der Maßstab sein. Dafür kämpfen von Werbung für Süßigkeiten die Dinge mit Blick auf wir. Dafür treten wir mit unserer Ernährungspolitik ein. die Kinder wirklich verändert. Wir wünschen uns hier allerdings stärkere Unterstützung von den Kulturministerien der Länder; denn je früher (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) man Ernährungswissen erlangt und das Handling erlernt, umso leichter fällt es auch, gesund und fit durchs Leben Vizepräsident in Petra Pau: zu kommen. Kollegin Künast. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Ursula Schulte [SPD]) Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn nun die Forderung nach einem Rechtsanspruch Wir brauchen eine andere Ernährungsumgebung, weil auf Ganztagsbetreuung im Grundschulbereich im Raum das eine Gesundheits-, eine Umweltfrage, eine soziale steht, dann sollten wir die Chance nutzen, bei der Umset- Frage ist, meine Damen und Herren. Da hilft Freiwillig- zung Ernährungsbildung in Theorie und Praxis mitzuden- keit gar nicht, und Schneckenrennen hilft auch nicht. ken und nicht isoliert zu betrachten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Rahmenbedingungen für qualitativ hochwertige sowie bei Abgeordneten der LINKEN) gesunde und sichere Lebensmittel stehen uns in unserem Land zur Verfügung. So gehören unser Dank, unsere Anerkennung, aber auch unsere Rückendeckung dem (B) Vizepräsident in Petra Pau: landwirtschaftlichen Berufsstand, der für seine Leistun- (D) Das Wort hat die Kollegin Ingrid Pahlmann für die gen wirtschaftliche Preise erhalten muss. Die Protestak- CDU/CSU-Fraktion. tionen vor den Toren des Lebensmitteleinzelhandels haben allerdings nur zu blumigen Bekenntnissen der Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Handelsriesen geführt und zu Zusagen, die zum Teil lei- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe der nicht lange gehalten haben. Dieses Verhalten ist uneh- Kolleginnen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorab renhaft, unanständig und auch weit entfernt von Verhand- möchte ich, wie die Fraktionen vor mir, der Bundesland- lungen auf Augenhöhe. wirtschaftsministerin und ihrem ganzen Haus für die (Beifall bei der CDU/CSU) erfolgreiche Ernährungspolitik in den letzten vier Jahren ganz herzlich danken. Ich denke, wir haben gemeinsam Gute, nachhaltige Produktion hat ihren Preis. Da bedarf viel erreicht. es eines Umdenkens aller Beteiligten: über Handelsket- ten, Genossenschaften und verarbeitende Industrie hin- (Beifall bei der CDU/CSU) weg. Deshalb werden wir beim Verbot der unlauteren Handelspraktiken ganz genau hinschauen und gegebe- Wenn wir uns jetzt allerdings die Statistiken angucken, nenfalls auch deutlich nachschärfen. wird auch deutlich, dass wir wirklich noch viel zu tun haben – ist ja völlig unbestritten –; denn zwei Drittel Ich muss aber sagen: Auch wir Verbraucher sind der Männer und die Hälfte der Frauen in unserem Land gefragt. Lockangebote des Lebensmitteleinzelhandels sind übergewichtig oder adipös. Das betrifft leider auch stehen in der Regel nicht für faire, gerechte Preise. Wir Kinder und Jugendliche. Diese Fehlentwicklung – fal- alle haben die Macht, wirtschaftliche und sozial nachhal- sche Ernährung zusammen mit zu wenig Bewegung – tige Lebensmittelproduktion in unserem Land zu unter- belastet unser Gesundheitssystem in Milliardenhöhe. stützen. Nutzen wir diese Macht! Schauen wir ganz genau Eigentlich wissen wir alle, was wir falsch machen, trotz- hin! Kaufen wir regional und stärken so mit unserem dem hapert es ganz oft an der Umsetzung der guten Vor- Kaufverhalten die Bemühungen der Landwirtschaft. sätze. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Wir als Union wollen nicht bevormunden, sondern die (Beifall bei der CDU/CSU) gesunde Wahl zu einer leichten Wahl machen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident in Petra Pau: NEN]: Nein, ihr wollt bevorzugen! Sie bevor- Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Artur zugen!) Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25659

Vizepräsident in Petra Pau (A) (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) (C)

Artur Auernhammer (CDU/CSU): Vizepräsident in Petra Pau: Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- Ich schließe die Aussprache. legen! Werte Frau Bundesministerin! Eigentlich würden wir heute Abend alle unseren Zweitwohnsitz auf das Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- Messegelände in Berlin verlegen, weil Internationale fehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirt- Grüne Woche ist. Das ist die Messe überhaupt, auf der schaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung mit internationalen Gästen, die aus allen Ländern der über ihren Ernährungspolitischen Bericht 2020. Der Aus- Welt zu uns kommen, über Ernährung diskutiert wird. schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Leider findet diese aus den bekannten Gründen nicht Drucksache 19/25817, in Kenntnis der Unterrichtung statt. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir heute über auf Drucksache 19/19430 eine Entschließung anzuneh- den Ernährungspolitischen Bericht 2020 im Deutschen men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Bundestag diskutieren. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage- gen? – Die Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Die (Beifall bei der CDU/CSU) AfD-Fraktion, die FDP-Fraktion und die Fraktion Bünd- Der vorliegende Ernährungspolitische Bericht bezieht nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange- sich auf den Zeitraum Juni 2016 bis März 2020. Ich bin nommen. gespannt, wie der Bericht über den Zeitraum der Corona- pandemie aussehen wird; denn die Coronapandemie hat Tagesordnungspunkt 13 b. Abstimmung über die Be- auch etwas im Ernährungsverhalten unserer Bevölkerung schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und verändert. Das sollte uns zu denken geben. Landwirtschaft zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Regionale Ernährungssysteme stärken“. Wir haben – das ist meine größte Sorge – viel zu wenig Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung Bewegung und viel zu wenig sportliche Aktivität. Des- auf Drucksache 19/22681, den Antrag der Fraktion Die halb ist es aus meiner Sicht für die Gesundheit unserer Linke auf Drucksache 19/15568 abzulehnen. Wer stimmt Bevölkerung existenziell, dass unsere Sportvereine, für diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktio- unsere Schwimmhallen und unsere Wintersportvereine nen und die FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die nach dieser Pandemie schnell wieder in die Gänge kom- Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Die AfD-Frak- men, sodass wir uns wieder sportlich betätigen können. tion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schlussempfehlung ist angenommen. (B) Bewegung ist ein wichtiger Ausgleich und Baustein für Tagesordnungspunkt 13 c und Zusatzpunkt 6. Inter- (D) ein gesundes Leben zusammen mit der richtigen Ernäh- fraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den rung. Drucksachen 19/25786 und 19/25544 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Ernährungskompetenz war noch nie so gefragt wie in weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht der der Coronazeit. Wir wissen, dass zehnjährige Kinder in Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. der Lage sind, ein iPhone zu bedienen; ob sie Eier kochen können, weiß ich aber nicht. Wir wissen, dass in manchen Zusatzpunkt 5. Beschlussempfehlung des Ausschusses Haushalten nicht die Kompetenz vorhanden ist, aus für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der einem Sack Kartoffeln einen schönen Kartoffelsalat her- Fraktion der FDP mit dem Titel „Künstliche Intelligenz zustellen. vermeidet Lebensmittelverschwendung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache (Zuruf der Abg. [BÜNDNIS 90/ 19/25870, den Antrag der Fraktion der FDP auf Druck- DIE GRÜNEN]) sache 19/18953 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Ernährungsbildung und Ernährungsaufklärung sind die schlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen und die Gebote der Stunde, gerade in der Coronazeit. Das bedeu- Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die FDP- tet Information sowie die Aufklärung und Schulung unse- Fraktion und die AfD-Fraktion. Wer enthält sich? – Die rer Verbraucherinnen und Verbraucher. Hier sind auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfeh- Länder gefordert, in den schulischen Einrichtungen tätig lung ist angenommen. zu werden. Wir müssen hier stärker zusammenarbeiten und mehr Maßnahmen nach vorne bringen. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Eines noch: Wenn man über Ernährung redet, muss Beratung des Antrags der Abgeordneten man auch über die Produktion von Nahrungsmitteln Dr. Achim Kessler, Jan Korte, Susanne Ferschl, reden. Wir sind in Deutschland in der Lage, die weltweit weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE gesündesten Lebensmittel zu produzieren. Deshalb muss LINKE man in einer Ernährungsdebatte auch unseren Bäuerinnen und Bauern für ihre tägliche Arbeit, dafür, dass sie uns – Patente für Impfstoffe freigeben – Weder wirt- gerade auch in Coronazeiten – mit Nahrungsmitteln ver- schaftliche noch nationale Interessen dürfen sorgen, danken. Das ist die wichtigste Aufgabe unserer die Bekämpfung der Pandemie beeinträchti- Bäuerinnen und Bauern. gen Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Drucksache 19/25787 25660 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Vizepräsident in Petra Pau (A) Überweisungsvorschlag: Meine Damen und Herren, angesichts der gesundheit- (C) Ausschuss für Gesundheit (f) lichen, der sozialen und der wirtschaftlichen Katastrophe, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie die das Coronavirus ausgelöst hat, ist das nicht länger hinnehmbar. Die Lizenzen müssen jetzt freigegeben wer- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten den. beschlossen. (Beifall bei der LINKEN) Ich warte noch, bis die nötigen Platzwechsel vorge- nommen wurden. – Ich bitte jetzt, zügig Platz zu nehmen Für die Forschung und Entwicklung der Impfstoffe und und die dringend notwendigen Gespräche bitte an den für den Ausbau der Produktionskapazitäten wurden enor- Rand des Plenums zu verlagern. me Steuermittel aufgewendet. Doch anstatt als Gegen- leistung für öffentliche Fördergelder und Abnahmezusa- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege gen einen schnellen und massenhaften Zugang für alle Dr. Achim Kessler für die Fraktion Die Linke. kostengünstig zu sichern, knickt die Bundesregierung (Beifall bei der LINKEN) vor den Profitinteressen der Pharmalobby ein. (Zuruf von der CDU/CSU: Ah! Da war es wie- Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): der! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! der FDP]) Wirkungsvolle und sichere Impfstoffe sind entscheidend, Die Bundeskanzlerin hat noch im letzten Frühjahr um die Pandemie dauerhaft zu bezwingen, und dabei ist davon gesprochen – hören Sie zu; Sie werden es nicht Eile geboten; denn durch seine Mutationen verbreitet sich oft erleben, dass ich die Kanzlerin zitiere –, dass ein das Virus vermutlich schneller und leichter. Deshalb for- wirkungsvoller und sicherer Impfstoff als „globales dere ich die Bundesregierung auf, jetzt alle Möglichkei- öffentliches Gut“ zur Verfügung stehen sollte. Ich finde, ten zu ergreifen, um die Produktionskapazitäten für Impf- recht hat sie. stoffe schnellstmöglich zu erhöhen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven- (Beifall bei der LINKEN) Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich teile die Kritik am Missmanagement der Bundes- NEN]) regierung bei der Bestellung und Verteilung der Impf- Doch dagegen lief der Verband Forschender Arzneimit- stoffe zum Teil. Aber das ist gar nicht die entscheidende telhersteller sofort Sturm – erfolgreich, wie sich nun Frage. Denn entscheidend sind weniger der Zeitpunkt zeigt. Meine Damen und Herren von der SPD und von (B) und der Umfang einer Bestellung. Entscheidend ist der der CDU/CSU, das ist der Preis, den man zahlt, wenn (D) Zeitpunkt der tatsächlichen Lieferung. man einen Pharmalobbyisten zum Gesundheitsminister macht. Wenn die EU oder Deutschland nun 300 Millionen Dosen eines Impfstoffes mehr bestellt hätten, so bedeutet (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – das doch nur, dass diese Menge in einem anderen Land, Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) vermutlich in einem ärmeren Land, fehlt. Das Nadelöhr, meine Damen und Herren, sind nicht die Bestellungen, Nach den Epidemien SARS und MERS hat der europä- sondern das Nadelöhr sind die Produktionskapazitäten. ische Pharmaindustrieverband den Vorschlag der EU- Kommission abgelehnt, zu den Coronaviren zu forschen. (Beifall bei der LINKEN) Der Pharmaindustrie waren die Gewinnaussichten zu niedrig, das unternehmerische Risiko zu hoch. Mit staat- Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie nicht von selbst lichen Fördergeldern und Abnahmezusagen haben Sie darauf gekommen sind, sodass Sie Die Linke am Anfang genau dieses Risiko in der Pandemie vollständig besei- des Jahres darauf aufmerksam machen musste. Es ist tigt. wirklich ein Skandal, dass Sie noch immer nicht alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um die Produk- Aber wo ist die Gegenleistung der Pharmaindustrie? tionskapazitäten endlich zu erhöhen. Meine Damen und Herren, warum schöpfen Sie die recht- lichen Möglichkeiten nicht aus, die Sie sich selbst mit (Beifall bei der LINKEN – Kordula Schulz- dem ersten Bevölkerungsschutzgesetz gegeben haben? Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Zwingen Sie die Impfstoffhersteller, Lizenzen zu verge- Deutschland oder wo?) ben, damit die Bekämpfung der Pandemie endlich Vor- Angesichts der globalen Vernetzung kann die Pande- rang vor den Profitinteressen der Pharmaindustrie be- mie nicht in einzelnen Ländern oder auf einzelnen Konti- kommt. nenten dauerhaft erfolgreich bekämpft werden. Deshalb (Beifall bei der LINKEN) besteht auch ein gemeinsames globales Interesse, die Produktionskapazitäten in Deutschland, in Europa und Die Pandemie wird entweder weltweit besiegt oder gar weltweit deutlich zu erhöhen. Doch die Ausweitung der nicht. Doch gerade auf globaler Ebene versagt die Bun- Produktionskapazitäten wird aktuell verhindert durch desregierung leider vollständig. Die Regierungen Südaf- Patente, durch Geschäftsgeheimnisse und durch den feh- rikas und Indiens haben bei der Welthandelsorganisation lenden Transfer von Know-how. den Antrag gestellt, den Schutz von Patenten auf Medi- kamente und Impfstoffe zur Bekämpfung der Coronapan- (Zuruf von der FDP: So ein Quatsch!) demie auszusetzen, solange diese andauert. Auf meine Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25661

Dr. Achim Kessler (A) Frage im Unterausschuss Globale Gesundheit hat die (Beifall bei der CDU/CSU) (C) Bundesregierung erklärt, dass sie diese Initiative nicht Der zweite Punkt, der natürlich eine große Rolle spielt, unterstützt. ist die Frage der dauerhaften Überwachung. Pharmako- Meine Damen und Herren, das ist nicht nur unsolida- vigilanz, die Haftungsfrage – all das setzt kontrollierte risch gegenüber den Menschen in den ärmeren Ländern, Prozesse voraus, und auch das kann ich nicht durch sondern das ist auch eine grobe Missachtung unserer eine beliebige Weitergabe der Patente gewährleisten. eigenen Interessen. Denn, wie gesagt, erst wenn ein Tatsächlich ist es so, dass wir alle hier in Deutschland, Großteil der Menschen weltweit vor dem Virus und wei- aber auch weltweit intensiv an einer Ausweitung der Pro- teren Mutationen geschützt ist, ist auch unser eigener duktionskapazitäten arbeiten. Wir alle haben den Stand- Schutz dauerhaft gesichert. Ich bitte Sie deshalb sehr, ort Marburg für BioNTech im Auge, und wir haben seit sehr dringend: Unterstützen Sie unseren Antrag! gestern auch die Nachricht, dass am Standort Halle des (Beifall bei der LINKEN) US-Unternehmens Baxter die Produktionsstränge auf die Herstellung des Impfstoffes gegen Covid-19 umgestellt werden und in absehbarer Zeit auch dort zusätzliche Pro- Vizepräsident in Petra Pau: duktionskapazitäten zur Verfügung stehen. Insgesamt Das Wort hat Dr. Georg Kippels für die CDU/CSU- gibt es in der Zwischenzeit schon 216 Fertigungs- und Fraktion. Produktionsvereinbarungen für den Impfstoff und 44 Fer- (Beifall bei der CDU/CSU) tigungs- und Produktionsvereinbarungen für potenzielle Therapien. Alles das sind Wege in die richtige Richtung. Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Dann geht Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr es ja doch!) Minister! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Zum Schluss will ich an dieser Stelle auch noch be- der Tat, Herr Kessler, zu Beginn kann ich Ihnen in einer merken: Die Bundesregierung setzt sich in vielfältiger kleinen Passage recht geben: Uns eint hier im Hohen Hinsicht dafür ein, dass auch schwächere Länder, Ent- Hause die Absicht, möglichst schnell und umfassend wicklungsländer in die Lage versetzt werden, sich alsbald der Coronapandemie die Stirn zu bieten und durch aus- mit Impfstoff zu versorgen. Auf die logistischen Pro- sichtsreiche Maßnahmen diesen Kampf zu gewinnen. bleme – Lagerung bei minus 70 Grad und Verdünnung Für mich als Gesundheits- und als Entwicklungspoli- vor der Verabreichung – will ich an dieser Stelle gar nicht tiker sehe ich das naturgemäß nicht nur durch die Brille eingehen. Die Bundesrepublik hat die Covax Facility, der deutschen Interessen, sondern insbesondere auch der ACT-A und GAVI mit signifikanten Geldmitteln, einmal (B) weltweiten Interessen, weil es – dies haben Sie richtig 100 Millionen Euro und einmal 600 Millionen Euro, (D) zitiert – allgemeine Meinung ist, dass wir den Kampf aktiv unterstützt. gegen Corona nur weltweit oder gar nicht gewinnen kön- (Beifall bei der CDU/CSU) nen. Alles das sind konkrete Maßnahmen, um die Verfüg- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- barkeit weltweit zu gewährleisten. Das sind eben keine neten der FDP und des Abg. Dr. Achim Kessler ideologischen Maßnahmen, sondern das sind konkrete, [DIE LINKE]) handwerklich sauber gemachte, finanziell abgesicherte Bedauerlicherweise endet aber an dieser Stelle unsere und nachhaltige Maßnahmen im Kampf gegen die Pande- Gemeinsamkeit; dies ist für Sie wahrscheinlich nicht mie. Deshalb halten wir diesen Antrag an dieser Stelle für überraschend. Zu meinem Bedauern holen Sie an dieser vollkommen ungeeignet. Stelle wiederum die gute Keule der Ideologie raus, und Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. stereotyp, fast wie in Form eines Rituals, wird die Indust- (Beifall bei der CDU/CSU) rie als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung beschrieben. Genau das Gegenteil ist natürlich der Fall. Vizepräsident in Petra Pau: Womit haben wir es an dieser Stelle zu tun? Wir haben Für die AfD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Paul es mit einem hochkomplexen neuen Impfstoff zu tun, für Viktor Podolay das Wort. den keineswegs weltweit die Produktions- und Abfüllst- raßen in Warteschleife stehen. Vielmehr müssen wir uns (Beifall bei der AfD) mit einer qualitätssichernden Herstellung auseinanderset- zen, die bis jetzt nur an wenigen Orten dieser Welt mög- Paul Viktor Podolay (AfD): lich ist. Das ist für diese neue Art der Bekämpfung der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Innova- Pandemie ein wichtiges Kriterium, weil wir natürlich tion – ein Begriff, der häufig verwendet wird, ohne seine auch potenzielle Nebenwirkungen, Veränderungen wäh- Bedeutung zu verstehen: von Funktionären, die nie etwas rend des Produktionsprozesses, also Qualitätssicherung, Neues kreieren oder erfinden mussten, von Politikern, die im Interesse des Patienten unbedingt im Auge behalten keine Ahnung davon haben, irgendwelche Lösungen zu müssen. Da macht es überhaupt keinen Sinn, jetzt wie mit finden. Eben diese Unwissenheit und Unerfahrenheit mit einem Füllhorn die Patente jedem Beliebigen in die Hän- Dingen des realen Lebens findet man in diesem Antrag de zu geben; denn in diesem frühen Stadium des Prozes- der Linken, in dem gefordert wird, die Impfstoffpatente ses ist die notwendige Kontrolle nicht gewährleistet, und an jedermann freizugeben; denn mit Enteignungen ken- diese haben wir alle hier zu verantworten. nen Sie sich ja bestens aus. 25662 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Paul Viktor Podolay (A) Was man in diesem Antrag liest, ist haarsträubend und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C) zeugt von großer Unwissenheit. Das Freigeben von Pa- neten der CDU/CSU und der SPD) tenten ist nämlich nicht gleichzusetzen mit der Erhöhung der Produktionskapazitäten; denn Produktionsmöglich- Paul Viktor Podolay (AfD): keiten müssen aufgebaut werden, was wegen der hohen Einen fairen Wettbewerb, erschwingliche Arzneimit- Qualitätsanforderungen an die Herstellung von Impfdo- tel, den Schutz der Innovation und eine ortsgebundene sen bekanntlich auch in Deutschland eine Herausforde- pharmazeutische Industrie, die zur Stabilität unserer rung darstellt. durch Corona angeschlagenen Volkswirtschaft beiträgt. Was Sie verlangen, ist ein weiterer Meilenstein in der Danke. Zerstörung der deutschen Innovationskraft und der inter- nationalen Wettbewerbsfähigkeit. Dies passt zwar zu (Beifall bei der AfD) Ihrer sozialistischen Agenda, trifft den deutschen Bürger jedoch ins Mark! Eigeninitiative, geistiges Eigentum und Vizepräsident in Petra Pau: Wille zur Innovation müssen weiterhin geschützt werden; Das Wort hat die Kollegin Martina Stamm-Fibich für denn Hersteller brauchen Anreize für die Entwicklung die SPD-Fraktion. von Impfstoffen. Was soll ein Unternehmen motivieren, so viel Zeit und Geld zu investieren, um ein Patent zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten finden, das dann gratis an alle verteilt wird? Altruismus? der CDU/CSU) Sind die schon so weit abgedriftet? Das ist Sozialismus pur! Martina Stamm-Fibich (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der AfD – Kordula Schulz-Asche Kollegen! Ich muss ganz ehrlich gestehen, dass mich die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten aktuelle Debatte über die Beschaffung der Coronaimpf- sich vielleicht noch einmal in das Thema ein- stoffe schon sehr stark verwundert. Noch im letzten Früh- arbeiten!) jahr sah es nämlich so aus, als ob wir frühestens in diesem Deutschland kommt seinen internationalen und huma- Frühjahr, also so in zwei Monaten, mit dem flächendeck- nitären Verpflichtungen bereits großzügig nach: Um die enden Verimpfen beginnen könnten. Es ist also ein abso- weltweiten Produktionskapazitäten auszugleichen, unter- luter Glücksfall, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt bereits stützt Deutschland die Covax-Impforganisation, die der zwei zugelassene Impfstoffe haben. Ein weiterer Impf- WHO untersteht, bereits mit mehreren hundert Millionen stoff durchläuft gerade den Zulassungsprozess, und wir werden ihn sehr wahrscheinlich zeitnah zur Verfügung (B) Euro. Die Initiative soll reichen und armen Ländern glei- (D) chermaßen einen fairen Zugang zu wirksamen Impfstof- haben. fen gewährleisten. Es gibt also keinen Anlass für Ihren Die völlig unsachliche Kritik an der Bestellung der Alarmismus! Außer natürlich die bevorstehende Bundes- Impfstoffe durch die EU, die sich übrigens auch in dem tagswahl. Antrag der Linken wiederfindet und die wir gestern dann Um in die Zukunft zu schauen und unser Land wieder noch einmal von der Fraktionsvorsitzenden der Linken zu aus der Misere herauszuführen, ist es an der Zeit, logisch hören bekommen haben, kann ich absolut nicht nachvoll- und rational zu denken. Wir brauchen jetzt mehr denn je ziehen. verlässliche gesundheitspolitische Rahmenbedingungen, (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Da hat Ihr um den Entwicklungs- und Produktionsstandort Deutsch- PGF mir zugestimmt!) land zu stärken. Viele Menschen werden aufgrund des unwissenschaftlichen Handelns der Regierung mit dem Es ist fast schon lachhaft, wenn Die Linke auf einmal die Endlos-Lockdown ihre Arbeitsplätze verlieren. Das ist nationalen Egotrips der USA und Israels zum Vorbild für eine unbequeme Tatsache, die von der Regierung gerne Deutschland erklärt. unter den Teppich gekehrt wird. Fakt ist: Wir wurden von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unseren Bürgern gewählt, und für die Lebensumstände der CDU/CSU – Dr. Achim Kessler [DIE LIN- ebendieser Bürger sind wir verantwortlich! KE]: Sie kritisieren doch die CDU die ganze Zeit! Was ist das jetzt wieder? Man weiß gar (Zuruf der Abg. Martina Stamm-Fibich [SPD]) nicht mehr, was die SPD für eine Meinung hat!) Dass Ihnen die zermürbten Menschen da draußen egal Der Vorwurf, dass sich Deutschland im Verteilungskampf sind, haben Sie schon vielfach bewiesen. Wir müssen zuungunsten unserer Partner mehr Impfstoff hätte sichern jeden Arbeitsplatz und jede Investition schützen; denn sollen, ist unsolidarisch und geht am Kernproblem abso- wer sich selbst nicht hilft, kann auch anderen nicht helfen. lut vorbei. Da Ihnen als Kommunisten grundlegende ökonomi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sche Kenntnisse fehlen, erkläre ich Ihnen nun, was CDU/CSU – Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Deutschland braucht und wofür die AfD steht: – Sie haben mir doch gar nicht richtig zugehört! Ich habe das Gegenteil gesagt!) Vizepräsident in Petra Pau: Wer die Debatte beobachtet hat, muss von der Rhetorik Das schaffen Sie nicht mehr. Sie sind schon über die geschockt sein. Wer die Verteilungskämpfe um Schutz- Redezeit. Sie müssen zum Schluss kommen. ausrüstung zu Beginn der Pandemie verfolgt hat, der Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25663

Martina Stamm-Fibich (A) erlebt jetzt sein Déjà-vu. So zerschmettern wir politisches desregierung als auch die EU Maßnahmen ergreifen, um (C) Porzellan auf dem internationalen Parkett, ohne dass es den globalen Kampf gegen die Pandemie solidarischer zu auch nur das Geringste nützen würde. gestalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Vizepräsident : Aber das ist doch genau das Gegenteil von Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus dem, was ich gesagt habe! Sie haben gar nicht der Fraktion Die Linke? zugehört!) Es grenzt vor diesem Hintergrund fast ans Zynische, Martina Stamm-Fibich (SPD): dass wir heute einen Antrag beraten, dessen Kern die Ja. – Entschuldigen Sie, ich habe den Wechsel des Vor- Solidarität bei der globalen Verteilung der Impfstoffe ist. sitzes nicht mitbekommen. Ich habe mich gefragt: Wel- cher Mann spricht da? (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sie haben mir null zugehört!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wenn die Diskussion über die Beschaffung und Vertei- Ich komme aus Schleswig-Holstein, aus Kiel. Ich woll- lung der Impfstoffe innerhalb Europas bei allen Parteien te nur sagen: Wir haben gestern die Bayern geschlagen. in diesem Hause bereits eine derartige politische Rhetorik Insofern kann mich nicht erschüttern, dass Sie den Wech- schürt, kann es mit der Solidarität außerhalb der europä- sel nicht mitbekommen haben. ischen Grenzen auch nicht weit her sein. (Heiterkeit und Beifall) (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das ist genau das Gegenteil von dem, was ich gesagt Pascal Meiser (DIE LINKE): habe! Was machen Sie hier?) Herzlichen Dank, Herr Präsident, dass Sie mir das Wort erteilt haben, und herzlichen Glückwunsch nach Und tatsächlich, die Regierungen der reichen Länder Schleswig-Holstein. einschließlich Deutschlands, die lediglich 13 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, haben sich bereits mehr (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Dan- als 50 Prozent der Impfdosen gesichert. Gleichzeitig ke!) besteht kein einziger Exklusivvertrag mit einem Entwick- Vielen Dank, liebe Kollegin, dass Sie die Zwischen- lungsland. Wir müssen zum jetzigen Zeitpunkt davon frage zulassen. Wenn ich das richtig sehe, sprechen Sie ausgehen, dass eine Durchimpfung der Weltbevölkerung für die Fraktion der SPD. Ich habe drei Fragen: (B) frühestens bis 2023 erreicht werden kann. Es wird mit (D) verheerenden Folgen für die Bevölkerung in den ärmsten Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass auch der Vizekanzler – Ländern gerechnet. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, meines Wissens Mitglied Ihrer Partei – massive Kritik an ist ein Armutszeugnis für die ganze Welt, aber auch für der Impfstoffstrategie der Bundesregierung geäußert hat? uns. Auch Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer hat in die Kritik eingestimmt. Warum Sie das jetzt so pauschal (Beifall bei der SPD – [DIE zurückweisen, verstehe ich nicht. LINKE]: Das hat Herr Kessler auch gesagt!) Zweitens. Haben Sie der Rede meines Kollegen Achim Wer mich kennt, weiß: Ich bin kein Freund davon, die Kessler ein bisschen gelauscht? Er hat ausdrücklich ge- pharmazeutische Industrie zu verteufeln. Ich weiß: Man- sagt, dass er sich keine andere, egoistische Verteilung des che im Plenum halten Big Pharma für das personifizierte Impfstoffs wünscht; vielmehr hat er gefordert, dass die Böse. Denen kann ich nur entgegnen, dass wir ohne Big Impfstoffkapazitäten ausgeweitet werden. Dazu würde Pharma nicht da wären, wo wir heute stehen. ich gerne etwas von Ihnen hören. Drittens. Wie Sie wissen, haben wir in Berlin eine rot- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rot-grüne Regierungskoalition. Ich sehe darüber hinaus, dass es aufseiten der Industrie (Dr. [FDP]: Schlimm große Bemühungen gibt, die Nachfrage nach dem Impf- genug!) stoff zu decken. Es wird geschätzt, dass alle Unter- nehmen, die dieses Jahr einen Impfstoff auf den Markt Ist Ihnen bekannt, dass in Berlin auf maßgebliches bringen werden, ihre gemeinsamen Kapazitäten auf Betreiben der Linken und der SPD-Fraktion ein gemein- 4,5 Milliarden Impfdosen für das Jahr 2021 ausbauen samer Antrag in das Abgeordnetenhaus eingebracht wur- können. Wir als SPD-Fraktion begrüßen diese Anstren- de, der ausdrücklich fordert, dass von den entsprechen- gungen ausdrücklich. den Regelungen im Infektionsschutzgesetz Gebrauch gemacht wird und die entsprechenden Lizenzen freige- (Beifall bei der SPD – Dr. Achim Kessler [DIE geben werden, um die Impfstoffkapazitäten erweitern zu LINKE]: Mein Gott! Was ist aus der Sozialde- können? Der Regierende Bürgermeister Müller hat hier mokratie geworden? Das ist ein Trauerspiel!) gestern sehr deutliche Kritik an der Regierung in dieser Aber ich sehe natürlich auch, dass das nicht ausrei- Frage geübt. Ich würde Ihnen sehr empfehlen, mit Ihren chend ist. Und ich befürchte auch, dass es am Ende wie- Fraktionskollegen und auch mit Ihren Parteikollegen in der die ärmsten Länder sind, die den größten Schaden Berlin zu sprechen. tragen. Um das zu vermeiden, müssen sowohl die Bun- Vielen Dank. 25664 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Pascal Meiser (A) (Beifall bei der LINKEN) Ich bin davon überzeugt, dass wir dann dieser Pandemie (C) global beikommen können. Martina Stamm-Fibich (SPD): Vielen Dank. Sehr geehrter Kollege, wenn Sie meiner Rede bis zum (Beifall bei der SPD) Ende gefolgt wären, dann wüssten Sie, was ich dazu gesagt hätte, welche Anstrengungen es braucht. Das ist das eine. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Frau Kollegin Stamm-Fibich. – Nächster Zum anderen habe ich nicht auf die Rede von Herr Redner ist der Kollege Professor Andrew Ullmann, FDP- Kessler Bezug genommen, sondern auf das, was wir ges- Fraktion. tern von der Fraktionsvorsitzenden gehört haben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich habe es mir extra noch einmal angehört. Ich sage sehr Dr. Andrew Ullmann (FDP): explizit – ich finde den Hinweis auch richtig –: Das, was Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Sie gestern gesagt haben, hat mich umgetrieben. ren! Liebe Kollegen der Linken, von mir erhalten Sie eine Goldmedaille, und zwar eine Goldmedaille für Innova- (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Es stimmt tionszerstörung. doch einfach!) (Beifall bei der FDP) Der Vergleich mit USA und Israel hat mich ins Mark getroffen. Das haben Sie gestern so gesagt. Sie stellen nämlich den Schutz von geistigem Eigentum durch Aussetzung des Patentschutzes infrage. (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Das ist (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Geistiges doch auch so!) Eigentum, das mit öffentlichen Fördermitteln Ich möchte jetzt gerne weiter ausführen. zustande gekommen ist! – Gegenruf des Abg. [CDU/CSU]: Erzählen Sie doch (Beifall bei der SPD) nicht so einen Blödsinn!) Um zu vermeiden, dass die ärmsten Länder den größ- – Darf ich meine Rede weiter halten, Herr Präsident? ten Schaden tragen – das sagte ich bereits –, und um den globalen Kampf gegen die Pandemie solidarischer zu Was Sie nicht begreifen wollen, ist, dass geistiges gestalten, muss die EU Maßnahmen ergreifen. Dazu Eigentum kein Eigentum zweiter Klasse ist, das einfach (B) gehören die Aufstockungen der Mittel der COVAX-Initi- enteignet werden kann. Ohne Patentschutz fehlt etwas (D) ative der WHO, und dazu gehört auch der konsequente Wichtiges: Anreize, Ideen zu entwickeln, um sie dann Transfer von Technologien und Forschungsdaten in den anschließend zu verwirklichen. von der WHO etablierten Covid-19 Technology Access (Beifall bei der FDP – Dr. Achim Kessler [DIE Pool. Und in letzter Konsequenz gehört auch die Locke- LINKE]: Was ist mit der öffentlichen Förde- rung von Patentrechten für Covidimpfstoffe und -thera- rung? pien dazu, solange die Pandemie andauert. Aktuell pas- Wer heute Patentschutz aussetzt, muss mit den verheer- siert in diesen drei Feldern so gut wie nichts. enden Konsequenzen von morgen leben. Das wäre Ihre Ganz besonders ärgert mich die Blockade der Locke- Hypothek. rung von Patentrechten mit dem Argument, dass dieser (Beifall bei der FDP) Schritt den Wettbewerb in der Impfstoffverteilung be- hindern würde. Das ist schlichtweg falsch, und dafür Ihre Argumentation: „Während einer Pandemie ist gibt es auch Beispiele. Bereits bei der Bekämpfung von alles anders“, zieht nicht. Natürlich bedarf es bei globa- HIV hat sich gezeigt, dass die Aufhebung von Patent- lem Gesundheitsschutz der hohen Kunst der multilatera- monopolen für die Behandlung von ärmsten Teilen der len Zusammenarbeit; aber in Ihrem Antrag wird gar nicht Weltbevölkerung eine Erfolgsgeschichte ist. Es ist klar, darauf eingegangen. Doch Ihre einfache Lösung, Patent- dass die Lockerung von Patentrechten keine Sofortlösung schutz auszusetzen, wird die Wirkung verfehlen und aller Probleme ist. Impfstoffe sind schließlich keine unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten Gummibärchen, und nicht jeder kann sie in der Qualität nachhaltig eliminieren. herstellen, in der sie benötigt werden. (Beifall bei der FDP) Dennoch bin ich der Meinung, dass eine solche Initia- In der Theorie klingt das für Sie vielleicht gut; doch tive, besonders mit Blick auf die Impfstoffe, die jetzt in wer die Praxis kennt, weiß, dass es nicht funktionieren der Pipeline sind, zur Verbesserung der Situation bei- wird. Bei der Bekämpfung der nächsten Pandemie wer- tragen kann. Vor diesem Hintergrund sollte die Bundes- den wir wegen fehlendender Innovationen krachend regierung noch einmal ganz tief in sich gehen und scheitern, und dann wird diese Covid-19-Pandemie wie überlegen, ob außergewöhnliche Krisen nicht doch ein harmloses Vorspiel erscheinen. Sie wollen offensicht- außergewöhnliche Lösungsansätze brauchen. lich als Innovationszerstörer in die Geschichte eingehen. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Dann stim- (Beifall bei der FDP – Dr. Achim Kessler [DIE men Sie doch unserem Antrag zu! Das ist LINKE]: Ihnen sind dafür die Quoten egal! Das genau das, was wir wollen!) ist noch schlimmer!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25665

Dr. Andrew Ullmann (A) – Was für ein Quatsch, Herr Kessler, das wissen Sie ganz Das Zweite ist: Sie haben es hier so dargestellt, als (C) genau. würden wir fordern, das Patentrecht abzuschaffen. Das ist falsch! Wir fordern, die Möglichkeiten, die das Infek- (Zuruf des Abg. Tino Sorge [CDU/CSU]) tionsschutzgesetz ausdrücklich vorsieht, nämlich einen – Ich würde den Kollegen Tino Sorge gerne zitieren; aber Lizenzfreigabe für den konkreten Fall, zu nutzen. Übri- das ist sein Zuruf. Ich glaube, das passt eigentlich ganz gens sieht auch das deutsche Patentrecht in Ausnahme- gut dazu. fällen zum Schutz des Gemeinwohls ausdrücklich diese Möglichkeit vor. Es geht nicht darum, das Patentrecht Aber offensichtlich kennt sich die Fraktion der Linken auszusetzen; bitte nehmen Sie das einmal zur Kenntnis! mit klinischer Forschung nicht aus. Ich empfehle Ihnen ein Praktikum in den Universitäten, Instituten, Start-up- Danke schön. Unternehmen oder in der Pharmaindustrie. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – (Beifall bei der FDP – Dr. Wieland Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Schinnenburg [FDP]: Das ist zu anspruchs- GRÜNEN]: Rein national? – Gegenruf der voll!) Abg. Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Das geht auch auf EU-Ebene!) Der klinische Forscher bedarf eines langen Atems und Motivation. Es geht um Drittmitteleinwerbung, Aus- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: dauer, Widerstandsfähigkeit gegen Frustration. Dabei Vielleicht darf der Kollege Ullmann antworten. entsteht auch Wettbewerb zwischen den Impfstoffen. Ihre planwirtschaftlichen Ideen würden dazu führen, dass vielleicht nur ein Impfstoff – wenn überhaupt! -her- Dr. Andrew Ullmann (FDP): gestellt würde; möglicherweise würde das nicht ausrei- Also, unser Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzen- chend sein. der hat sich nicht für die Aussetzung von Patentrechten ausgesprochen. (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Aber Herr Lindner hat das doch auch gefordert! (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Hat er Was ist mit Ihnen los?) gesagt!) – Einen Moment, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen – Nee, schauen Sie sich das noch mal an! Es ist auch in wollen, stellen Sie eine Zwischenfrage; ich freue mich der Öffentlichkeit entsprechend geschrieben worden. Es drauf. geht hier um die Auslizenzierungen, die möglich gemacht (B) werden sollten, und diese Möglichkeit gibt es heute be- (D) Natürlich braucht es auch Geld: Geld für Personal, für reits: Firmen können heute auslizenzieren, Gerätschaften, für Gebäude. Woher soll das Geld kom- men? Geld wächst nicht auf Bäumen; das Zauberwort (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Genau heißt Gewinne. Für die einen sind Gewinne Sünde, aber das wollen wir!) für die meisten von uns bedeuten Gewinne Investition in die Zukunft; denn ohne Investitionen aus der Privatwirt- es bedarf keiner zusätzlichen, staatlichen Regelung. Für schaft gäbe es heute keine SARS-CoV-2-Impfstoffe. diese Auslizenzierungen sind hohe rechtliche Hürden angesetzt. Und es funktioniert, es läuft auch bereits – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vielleicht haben Sie es nicht mitbekommen –, der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ohne Investitionen aus der Privatwirtschaft gäbe es keine Produktionsstätten für SARS-CoV-2-Impfstoffe. die Zusammenarbeit der Firmen ist heute schon existent. Es gibt Firmen, die die Basistechnologie bereits auslizen- siert haben. Ich erwähne hier nur: Gerade bei den mRNA- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Impfstoffen sind die Transportmöglichkeiten dieses Herr Ullmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage der kleinen Moleküls, in die Zelle hineinzukommen, ausli- Fraktionsvorsitzenden der Linken? zensiert worden, von Moderna beispielsweise. Das sind Aspekte, die Sie hier völlig unberücksichtigt lassen. Es Dr. Andrew Ullmann (FDP): läuft bereits. Und das ist aus der Privatwirtschaft gekom- Ich erlaube eine Zwischenfrage. men und nicht durch irgendwelche planwirtschaftlichen oder Enteignungsmöglichkeiten, die Sie hier vorschla- gen. Amira Mohamed Ali (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfra- (Beifall bei der FDP – Widerspruch der Abg. ge zulassen; Sie haben mich ja förmlich dazu aufgefor- Amira Mohamed Ali [DIE LINKE] – Christine dert, sie zu stellen. Ich wollte Sie fragen, ob Ihnen Aschenberg-Dugnus [FDP]: Die haben keine bekannt ist, dass auch Ihr Fraktionsvorsitzender und Par- Ahnung!) teivorsitzender, Herr Lindner, genau wie wir – also nach- So geht Forschung, und so geht auch Innovation. dem wir es gefordert haben – die Lizenzfreigabe konkret für diese Impfstoffe gefordert hat. Können Sie dazu etwas Ich würde jetzt einfach meine Rede fortsetzen und mit sagen? dem letzten Satz beenden. 25666 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Für eine globale Impfstrategie sind viele Fragen offen (C) Sie haben noch einen Satz dazu. in diesem Antrag. Zum Beispiel, erstens: Wie kommen wir weltweit und bei uns in Europa dazu, die Produk- tionskapazitäten schnell auszubauen? Dr. Andrew Ullmann (FDP): Es ist relativ einfach: Ohne die Privatwirtschaft hätte (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- es die Impfstoffe nicht gegeben, hätte es auch nicht SES 90/DIE GRÜNEN) verschiedene Impfstoffe gegeben, hätte es auch keinen Wir sehen, das ist ja schon bei uns nicht einfach, und zwar Wettbewerb gegeben, der ganz wichtig ist, und ohne In- nicht nur wegen der Lizenzen oder Patente. Es geht ja vestitionen aus der Privatwirtschaft würden die Produk- nicht nur um Fabriken und Maschinen – schon das scheint tionskapazitäten nicht ausgeweitet. Das nennt sich übri- ein Problem zu sein –, es geht um Personal, um qualifi- gens „Kreislauf der Innovation durch Investitionen“. ziertes Personal, es geht um Wissenstransfer, es geht um Qualitätssicherung. Da frage ich Sie: Wie sollen wir denn Herzlichen Dank. im Moment, in einer Situation der Pandemie mit Lock- (Beifall bei der FDP – Michael Theurer [FDP]: downs und Reisebeschränkungen, schon Antworten Mehr davon!) haben, wie man solche Aufgaben löst? Diese Frage ist meiner Meinung nach offen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Die zweite Frage, die offen ist: Welche Impfstoffe Vielen Dank, Herr Kollege Ullmann. – Nächste Red- können wir unter welchen Bedingungen in welchen Län- nerin ist die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Fraktion dern überhaupt produzieren und transportieren? Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine dritte Frage: Wie unterstützen wir denn gerade ärmere Länder dabei, nicht nur Impfstoffe zu beschaffen, Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sondern auch die Infrastruktur aufzubauen, die sie brau- NEN): chen, um ihre Bevölkerung impfen zu können? Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Pan- demie bekämpft man nur global, und die Impfung ist in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN allen Teilen der Welt dabei zentral. In Europa sehen wir sowie der Abg. [CDU/CSU]) dank des Impfbeginns, auch wenn er einige Probleme mit Ich bin mir übrigens sicher, dass wir das alles schaffen sich bringt, endlich Licht am Ende des Tunnels. Aber aus können, dass das möglich ist; denn viele Länder des (B) globaler Sicht fahren wir gerade erst in diesen Tunnel Südens, gerade Länder des Südens, haben viel Erfahrung (D) hinein. mit Infektionskrankheiten und viel Erfahrung mit Imp- fungen. Aids, Ebola, Tuberkulose, Kinderlähmung: Mei- Für mehr Impfstoffe braucht es gemeinsame Anstren- ne Damen und Herren, ich glaube, wir können, was das gungen von Politik, von Wirtschaft und von Zivilgesell- Impfen angeht, viel von diesen Ländern lernen. schaft – auch und gerade für die ärmeren Länder dieser Welt. Der Skandal – ich empfinde das so – ist, dass in den letzten Jahrzehnten diesem Kampf zu wenig Unterstüt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zung gegeben worden ist von den reicheren Ländern der Hier ist es unabdingbar, dass man nicht nationalstaatliche Welt und leider auch von Europa. Lösungen sucht, sondern dass die EU gemeinsam aktiv (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wird, die COVAX-Initiative der WHO unterstützt und Mein Fazit: Der Antrag der Linken reicht nicht aus. sich an der globalen Impfstrategie beteiligt. Eine Pandemie bekämpft man nicht mit einzelnen Maß- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nahmen, sondern nur mit einer Strategie, und man kann SES 90/DIE GRÜNEN) sie nur gemeinsam bekämpfen, in Kooperation mit der Weltgesundheitsorganisation und mit einer starken EU Eine solche Impfstrategie beinhaltet natürlich auch als Vorreiter internationaler Solidarität. Patentfragen, aber weltweit. Dazu gehören natürlich die Fragen von Lizenzvergaben. Auch wir Grünen fordern Danke schön. dies in unserem Grundsatzprogramm. Und natürlich ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es auch gang und gäbe in allen Bereichen der internatio- nalen Zusammenarbeit, solche Fragen zu diskutieren. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Lizenzen sind zentral in dieser Frage. Vielen Dank, Frau Kollegin. Wir reden zweitens über Technologietransfer und über (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE gerechte Preise, wie es Die Linke ja auch in ihrem Antrag GRÜNEN], an die Abg. Kordula Schulz-Asche erwähnt. Aber von einer Impfstrategie, meine lieben [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Mas- Damen und Herren von der Linken, ist Ihr Antrag leider ke! – Dr. Andrew Ullmann [FDP], an die Abg. weit entfernt. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das ist nicht GRÜNEN] gewandt: Abstand!) das Thema!) – Das wird schwierig jetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25667

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE – Ja. Ihre verehrte Frau Fraktionsvorsitzende hat das ges- (C) GRÜNEN]: Man hat halt nur zwei Hände!) tern mit „Ach Gott!“ im Zwischenruf kommentiert. Ich weiß gar nicht, warum sie nicht genügend Selbstbewusst- Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Henke, CDU/ sein hat. Ihr sozialistischer Ansatz müsste doch so sein, CSU-Fraktion. dass das in die Richtung geht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Können Sie mal was zum Antrag sagen?) Rudolf Henke (CDU/CSU): Warum sind Sie denn da nicht selbstbewusst genug? Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Natürlich wollen Sie doch eine Verstaatlichung der Phar- Meine Damen und Herren! Was die Covax-Fazilität maindustrie, natürlich ist doch Ihr Ziel nicht eine privat- angeht, die Covax-Initiative, so ist es ja so, dass die Bun- wirtschaftlich organisierte pharmazeutische Industrie. desregierung die globale Covax-Fazilität für den gleich- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Reden Sie berechtigten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen unter- nicht über Ihre Fantasien! Reden Sie über den stützt. Bilateral unterstützt die Bundesregierung den Antrag!) Covax Advance Market Commitment, AMC, in 2020 mit einem Finanzierungsbeitrag von 100 Millionen Diese Auseinandersetzung führen Sie mit dem Ziel, Euro für Impfstoffe für Länder mit niedrigem und nied- das populärer zu machen. Ich bin all denen dankbar, die rigerem Einkommensniveau. Die Bundesregierung ist in der Diskussion darauf aufmerksam gemacht haben, über den Team-Europe-Ansatz an einem Beitrag der dass wir unter den Bedingungen des Schutzes des geisti- Europäischen Kommission in Höhe von 500 Millionen gen Eigentums die besseren Bedingungen dafür haben, Euro an der Covax-Fazilität beteiligt; das entspricht Innovationen zu erzeugen, Anreize zur Innovation zu Optionen zum Kauf von 88 Millionen Impfstoffdosen – finden und Produktionskooperationen zwischen Unter- das ist ein Anfang, mehr nicht, aber ein Anfang –, die nehmen zu schließen. perspektivisch über den GAVI-Covax-AMC an Länder Georg Kippels hat vorhin in seiner Rede schon auf die mit niedrigem und niedrigerem Einkommensniveau wei- Situation im westfälischen Halle aufmerksam gemacht, tergegeben werden sollen. Insgesamt unterstützt die Bun- wo neben Marburg jetzt auch in Nordrhein-Westfalen desregierung alle vier Säulen des ACT mit rund 600 Mil- ein weiteres Werk bereitsteht, um diese komplexe und lionen Euro. Die globale Koordinationsplattform ist von schwierige Produktion eines Impfstoffes zu übernehmen. der EU, von der Weltgesundheitsorganisation und wich- Das ist natürlich ein konkreter Schritt nach vorne, und der tigen globalen Gesundheitsakteuren mit dem Ziel auf den kommt zustande, ohne dass man deswegen Patente außer (B) Weg gebracht worden, dass medizinische Produkte gegen Kraft setzt, ohne dass man deswegen mit Zwangslizenzen (D) Covid 19 schneller entwickelt werden und alle Länder operiert – weltweit gerechten Zugang dazu bekommen. Auch in den Jahren zuvor haben wir nicht nur geredet, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sondern wir haben gehandelt. Das Bundesministerium für Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat von 2008 bis 2019 ein Projekt zur Beratung von Entwick- Rudolf Henke (CDU/CSU): lungsländern über die Nutzung der TRIPS-Flexibilitäten – und ohne dass man damit die Frage des Eigentums- durch die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel rechts an der Erfindung, an der Innovation unter Zweifel und Entwicklung in einem Umfang von rund 4,7 Millio- stellt. nen Euro finanziert. In den Projekten wurden Fachkräfte, Entscheidungsträger in Entwicklungsländern mit den (Zuruf von der LINKEN: Aber das haben wir bestehenden Ausnahmemöglichkeiten des TRIPS-Ab- doch gar nicht infrage gestellt!) kommens vertraut gemacht und bei der Konkretisierung Und das ist das, was ich Ihnen vorwerfe. geistiger Eigentumsrechte im eigenen Land geschult. Derzeit unterstützt die Bundesregierung über die (Beifall bei der CDU/CSU) UNCTAD ein Vorhaben zur Unterstützung der Afrikani- Die Instrumente im TRIPS-Abkommen, die Instru- schen Freihandelszone, welches unter anderem die Bera- mente, – tung von Entwicklungsländern über die Nutzung der TRIPS-Flexibilitäten in Afrika fortsetzt. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Deswegen glaube ich, dass der Ansatz leider nicht in Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. der Kontinuität dieser Bemühungen steht, sondern ein Stück weit dazu dient, politische Aufregung und politi- Rudolf Henke (CDU/CSU): sche Konfrontation zu erzeugen, weil Sie in der Befas- – die wir auch im Bevölkerungsschutzgesetz beschlos- sung mit der pharmazeutischen Industrie eigentlich der sen haben, haben wir mit Mehrheit beschlossen. Machen Meinung sind – das habe ich gestern schon mal gesagt –, Sie uns deshalb also keine Vorwürfe. Es ist aber nicht so, dass es um mehr Verstaatlichung, weniger Patente, im dass wir Abschied nehmen können vom Eigentumsrecht – Grunde mehr Sozialismus geht. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das ist eine Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Unterstellung! Das wissen Sie!) Herr Kollege, bitte! 25668 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Rudolf Henke (CDU/CSU): Deshalb aber gleich die Aufhebung des Patentschutzes (C) – oder Abschied nehmen wollen vom Recht auf geist- für Impfstoffe und Therapeutika zu fordern, halte ich in iges Eigentum an Innovationen. Wenn Sie das mal in Ihre Anbetracht der geleisteten Forschungsanstrengungen je- Anträge reinschreiben würden, dann wären Sie konstruk- doch für widersinnig und wenig zielführend. tiv. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Auch international setzt sich die Bundesrepublik schon (Beifall bei der CDU/CSU) heute im Rahmen mehrerer Initiativen wie der Impfal- lianz GAVI oder der Impfstoffplattform Covax ausdrück- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: lich dafür ein, dass die Impfstoffe weltweit zugänglich und bezahlbar sind. Auch andere Staaten und zudem die Ich kann das in voller Ruhe und Gelassenheit hinneh- Hersteller haben sich verpflichtet, für einen fairen Zu- men, Herr Kollege. Sie haben bedauerlicherweise aber gang zu den Impfstoffen zu sorgen. gerade dazu beigetragen, dass der Kollege Pilsinger nur noch einen Zweiminutenbeitrag hat. Meine Damen und Herren, dank der Entwicklung sol- cher innovativen Therapien sind wir nun endlich auf (Tino Sorge [CDU/CSU]: Er hat doch so viel zu einem guten Weg, die Pandemie gemeinsam zu besiegen, sagen!) und das sollten wir stets im Blick behalten. Herr Kollege Pilsinger: zwei Minuten mit ein bisschen Vielen Dank. Nachschlag. (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Pilsinger (CDU/CSU): Das ist aber sehr kurzfristig angemeldet. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Kollege Pilsinger. Sie sehen: Weil (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das Sie aus München kommen, war ich sehr nachsichtig heu- liegt an Ihrem Kollegen!) te. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befin- (Heiterkeit) den uns derzeit zweifelsohne in der bislang schlimmsten Pandemie der jüngeren Geschichte. Trotz monatelang andauernder, teils massiver Kontaktbeschränkungen Stephan Pilsinger (CDU/CSU): wütet das Coronavirus auf der ganzen Welt. Schon jetzt Man muss auch mal andere gewinnen lassen. hat die Pandemie knapp 2 Millionen Todesopfer gefor- (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Er kommt aus (B) dert, allein in Deutschland über 42 000 Menschen. München!) (D) Doch nun, im Jahr 2021, ist endlich ein Ausweg aus der Pandemie erkennbar. Innerhalb weniger Monate ist es Vizepräsident Wolfgang Kubicki: der pharmazeutischen Industrie in einem beispiellosen – Ich habe ja gesagt: Weil er aus München kommt, war Entwicklungsmarathon gelungen, mehrere hochwirksa- ich sehr nachsichtig mit der Redezeit heute. me Impfstoffe gegen das Coronavirus zu entwickeln. Das Impfen – davon bin ich überzeugt – ist unser Weg Damit beenden wir die Aussprache. aus dieser Pandemie. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/25787 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall bei der CDU/CSU) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- Schon mit der ersten Phase der Impfungen – auch davon weisungsvorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der Fall. bin ich überzeugt – werden wir einen entscheidenden Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Unterschied in der Bekämpfung der Pandemie machen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: können. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch ein- desregierung mal betonen, dass ich es für absolut richtig halte, dass wir bei der Impfstoffbeschaffung den europäischen Weg Nationale Bioökonomiestrategie gegangen sind. Wer uns jetzt dafür kritisiert, dass wir Drucksache 19/16722 uns bei den Bestellungen mit unseren europäischen Part- nern abgestimmt haben, der stellt sich dem Gedanken der Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Einheit der Europäischen Union fundamental entgegen. zung (f) Die Art und Weise, wie wir jetzt gemeinsam diese schwe- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit re Zeit überstehen, wird die Beziehungen zwischen den Ausschuss Digitale Agenda Staaten der Europäischen Union noch auf Jahrzehnte prä- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten gen. Mario Brandenburg (Südpfalz), Katja Eine Pandemie dieses Ausmaßes lässt sich nicht natio- Suding, Dr. Jens Brandenburg (Rhein- nal im Alleingang bewältigen. Insofern stimme ich der Neckar), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke zu: Nationale Interessen müssen bei Fraktion der FDP der Bekämpfung der Pandemie außen vor bleiben. Nationale Bioökonomiestrategie der Bun- (Beifall des Abg. Pascal Meiser [DIE LINKE]) desregierung SMART gestalten Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25669

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Drucksache 19/14742 Die Nationale Bioökonomiestrategie der Bundesregie- (C) rung setzt auf Technologieoffenheit und auf Innovations- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- freude; denn Bioökonomie, liebe Grüne, heißt eben nicht zung (f) einfach nur „Jute statt Plastik“; wir sprechen hier viel- Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft mehr von Hightech. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall bei der CDU/CSU) Ausschuss Digitale Agenda Bei der Bioökonomie geht es im Kern darum, biologische Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Prinzipien für neue Produkte, neue Produktionswege, beschlossen. – Ich bitte, den Platzwechsel jetzt äußerst neue Dienstleistungen zu nutzen. Mit der Bioökonomie zügig vorzunehmen. kann uns der Aufbau einer modernen, nachhaltigen Kreislaufwirtschaft gelingen – Nachhaltigkeit, die dann Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- der Exportschlager made in der Zukunft ist. nerin der Frau Bundesministerin Anja Karliczek das Wort. Am Anfang steht die Materialinnovation. Aus Mate- rialinnovationen entstehen nachhaltige Produkte und (Beifall bei der CDU/CSU) neue Märkte, und daran müssen wir jetzt arbeiten; denn nur so helfen wir dem Klima und der Umwelt und schaf- fen gleichzeitig hochattraktive Arbeitsplätze in Deutsch- Anja Karliczek, Bundesministerin für Bildung und land. Computerdisplays aus recycelbarem Material, Mik- Forschung: roalgen zum Schutz von Gebäudefassaden, Autoreifen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und auf der Basis von Löwenzahn: All das ist bereits heute Kollegen! Deutschland ist den globalen Nachhaltigkeits- Realität, weil wir diese Entwicklung mit der Forschungs- zielen verpflichtet, und wir sind überzeugt: Gemeinsames förderung zur Bioökonomie vorangetrieben haben. Handeln ist der richtige Weg. Das Ziel ist doch klar: Wir wollen der Wegwerfkultur Beim Klimagipfel in Glasgow oder auch beim Bio- in unserem Land und auf der Welt im 21. Jahrhundert mit diversitätsgipfel in Kunming in China in diesem Jahr aller Entschiedenheit den Stecker ziehen, und dabei sind geht es um elementare Aufgaben der Menschheit. Die Materialinnovationen das eine. Auch die Nutzung und wachsende Weltbevölkerung benötigt immer mehr Nah- Zweitverwertung vermeintlicher Neben- und Abfallpro- rungsmittel und Rohstoffe, und gleichzeitig müssen wir dukte ist ein ganz wichtiges Forschungsfeld. Neben- und Klima, Umwelt und Artenvielfalt schützen. Abfallprodukte sind kein Müll. Es sind Rohstoffe, die man verwerten und nutzen kann und aus meiner Sicht (B) (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) auch muss. (D) Und das geht, wenn wir alle miteinander zukünftig nach- Besser nutzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müs- haltiger leben und wirtschaften. sen wir auch die Potenziale der neuen Züchtungstech- Auf der linken Seite dieses Hohen Hauses dreht sich in niken. Moderne Pflanzenzucht ermöglicht widerstands- Debatten immer alles um die Frage: Wie wollen wir künf- fähigere Kulturpflanzen, weniger Dünger, weniger tig leben? Aber eines beantworten Sie leider nicht, näm- Pflanzenschutzmittel. Aber in Europa sind die Möglich- lich: Wovon wollen wir in Zukunft leben? Auch diese keiten der Genschere momentan so stark beschnitten, Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört im Deut- dass sie Innovationen behindern. Und das geht nicht. schen Bundestag diskutiert. In der Genschere, übrigens gerade mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, stecken Lösungen gegen den Hunger in (Beifall bei der CDU/CSU) der Welt. Wir stehen doch in der Pflicht, mit Forschung Unsere Kinder und Enkelkinder sollen sehen, dass wir und Entwicklung auch unseren internationalen Beitrag Nachhaltigkeit auch in Generationengerechtigkeit den- gegen den Hunger in der Welt zu leisten. Und liebe Grü- ken. Wie und wovon wir künftig leben, sind zwei Seiten ne, hier sind Ihre europäischen Kollegen jetzt am Zug; derselben Medaille; das eine geht nicht ohne das andere. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Deshalb stellen wir jetzt in Deutschland die Weichen zu ordneten der FDP) einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, und das Inno- denn Ernährungssicherheit in Afrika gibt es nur, wenn vationsland Deutschland kann das. Wir haben – das hat wir diese Züchtungstechniken, also Genomeditierung, die Impfstoffforschung mit Bravour gezeigt – die Kraft ganz gezielt und verantwortungsvoll erforschen und für und die Köpfe, um Lösungen für die großen Herausforde- die Nutzpflanzenzüchtung einsetzen. Hören Sie endlich rungen der Menschheit zu finden. auf, Ängste vor der Pflanzenforschung zu verbreiten! In der Bioökonomie steckt großes Innovationspoten- Wer Ja sagt zur medizinischen Biotechnologie, der kann zial für alle Wirtschaftsbereiche. Aber wir werden dieses nicht glaubwürdig Nein sagen zum Einsatz in der Pflan- Potenzial biobasierter Innovationen für Deutschland nur zenforschung. dann zum Fliegen bringen, wenn wir es nicht, wie bei der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Biotechnologie leider so oft geschehen, mit ideologi- Mario Brandenburg [Südpfalz] [FDP]) schen Rucksäcken am Boden halten. Da haben Sie, liebe Grüne, an Ihrer Basis noch viel Über- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zeugungsarbeit zu leisten. Technologieoffenheit statt ordneten der FDP) ideologischer Scheuklappen, das muss jetzt endlich 25670 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Bundesministerin Anja Karliczek (A) auch bei Ihnen ankommen. Damit wird dann die Bio- Denn die Nationale Bioökonomiestrategie der Bundesre- (C) ökonomie zu einem Erfolg in Deutschland werden, und gierung hat auch nicht viel mit Forschung und Wissen- wir als Bundesregierung stellen dafür bis 2024 über 1 Mil- schaft zu tun. liarde Euro für Investitionen bereit. Wir als Professorenpartei AfD Aber wir brauchen eben in unserem Land immer auch (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der die Menschen an unserer Seite. Denn nur wenn wir SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND- Akzeptanz für die großen Chancen der Bioökonomie, NISSES 90/DIE GRÜNEN) der biobasierten Wirtschaft und der Biotechnologien gewinnen, können wir Fortschritt durch Wissenschaft sprechen sehr gerne von Wissenschaft und Forschung, und Forschung möglich machen. und wir fördern auch sehr gerne die Biotechnologie, deren Produkt Ihre Maske ist, Frau Karliczek. Aber Bio- Und deshalb steht das Wissenschaftsjahr 2020/2021 ökonomie ist doch was ganz anderes. Es ist tatsächlich ganz im Zeichen der Bioökonomie. Wir wollen mit den eine Erfindung der Bundesregierung zusammen mit der Menschen, die Fragen zur Bioökonomie haben, ins EU-Kommission, die wissenschaftlich überhaupt nicht Gespräch kommen. Wir wollen informieren und aufklä- anerkannt wird. Es gibt ganze zwei Studiengänge zur ren, mit wissenschaftlichen Argumenten überzeugen. Bioökonomie – der eine ist grundlegend, der andere ist Aber natürlich wollen wir eins ganz besonders: Wir wol- aufbauend – in Deutschland. Die wesentlichen Verleger, len Menschen begeistern. die zu diesem Thema publizieren, sind so herausragende Das hier, meine Damen und Herren, was ich in der Verlage wie die Nature Publishing Group in London oder Hand habe, ist Bioökonomie zum Anfassen. das Stockholm Environment Institute. Darauf bauen wir jetzt also unsere Politik auf. Das finde ich ganz zielfüh- (Die Rednerin hält eine grüne Mund-Nase- rend. Bedeckung mit der Aufschrift „Science mat- ters“ hoch) (Michael Theurer [FDP]: Die Aussprache war immerhin korrekt!) Diese Maske besteht zu 67 Prozent aus Holzfaser, und Bioökonomie bedeutet ja letztendlich, dass sich die dabei ist sie ganz weich und angenehm zu tragen. Bundesregierung vorstellt, Ökologie und Ökonomie mit- Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns mit einander zu verzahnen. Also, die marktwirtschaftlichen den jungen Menschen, für die jungen Menschen eine Per- Prinzipien sollen nicht mehr gelten, sondern ökologische spektive für unsere Zukunft aufzeigen. Ich freue mich auf Prinzipien diese dominieren. – Sie glauben also nicht Ihre Unterstützung. mehr an die Marktwirtschaft. Stattdessen glauben Sie an (B) Sprunginnovationen, die es dann ermöglichen werden, (D) Herzlichen Dank. komplett auf biogenen Rohstoffen aufzubauen und dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sozusagen die Wirtschaft und die Gesellschaft völlig ordneten der SPD) umzugestalten. (Michael Theurer [FDP]: Sprunginnovation Vizepräsident Wolfgang Kubicki: würde Ihnen gut tun, Herr Kleinwächter! – Hei- Vielen Dank, Frau Ministerin Karliczek. – Nächster terkeit der Abg. Dr. Franziska Brantner Redner wird der Kollege Norbert Kleinwächter, AfD- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Fraktion, sein. Verstehen Sie mich nicht falsch! – Übrigens, Sie haben Bioökonomie und Biotechnologie im FDP-Antrag völlig (Beifall bei der AfD) durcheinandergeworfen, Herr Brandenburg. Sie sollten Und die Kollegin Staffler kann sich schon darauf ein- sich vielleicht auch mal überlegen, ob Sie einer Bio- richten, dass ihre Redezeit um eine Minute gekürzt wer- ökonomie, also einem Ökosozialismus, hinterherrennen den muss. oder tatsächlich zur sozialen Marktwirtschaft stehen. Dazu würde ich eine klare Aussage von Ihnen in Ihrem Redebeitrag sehr wünschen, der dann ja sicherlich folgt. Norbert Kleinwächter (AfD): Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Aber ich war dabei stehen geblieben, dass die Bio- Kollegen, insbesondere der CDU! Frau Ministerin ökonomie versucht, volkswirtschaftliche Prinzipien Karliczek hat jetzt gerade eine völlig neue Version des infrage zu stellen, und zwar in der Hoffnung darauf, Grundsatzprogramms der CDU vorgetragen: Sie möchte dass es Sprunginnovationen geben wird, nachdem man jetzt eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft errichten. ein bisschen Forschungsgelder reingesteckt hat, und dass uns das dann ermöglicht, zum Beispiel Bildschirme Ich darf an dieser Stelle noch einmal klarstellen, dass aus Zucker herzustellen, oder vielleicht produzieren auch die AfD eine soziale Marktwirtschaft behalten will. irgendwann mal Bakterien Stahl. Daraus erklären sich vielleicht auch viele Auffassungs- unterschiede. Wenn Sie jedenfalls die soziale Marktwirt- Und so schlimm es ist, wenn Sie so denken, wenn Sie schaft weiter stützen wollen, sollten Sie sich vielleicht in Regierungsverantwortung sind – noch schlimmer ist um eine Bewerbung bei der AfD Gedanken machen, mei- es, dass Sie das mit einer Politik kombinieren, die das ne Damen und Herren. auch noch forciert und sich alleine darauf verlässt. Sie verwetten unser letztes Hemd mit dem EU-Green-Deal. (Beifall bei der AfD) Unter anderem verbieten Sie Technologien, die Deutsch- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25671

Norbert Kleinwächter (A) land stark gemacht haben, die die deutsche Wirtschaft Und aus meiner Sicht ist das tatsächlich eine der ältes- (C) stark gemacht haben, wie zum Beispiel Verbrennungs- ten Ökonomien, die es in der Menschheit gibt. Es ist motoren wie den Diesel. Sie bauen Arbeitsplätze ab. Sie eigentlich überhaupt nichts Neues – dazu braucht es tragen dazu bei, dass der Mittelstand im Prinzip nicht auch keine neuen Studiengänge –; denn die meiste Zeit mehr frei forschen und entwickeln kann. Und genau das in der Geschichte hat der Mensch Bioökonomie dadurch ist eine Gefahr für Deutschland; denn Sie verlassen sich betrieben, dass er mit biogen entstandenen Rohstoffen, tatsächlich auf die Idee, dass eine Sprunginnovation nämlich mit Holz oder Stein oder Ähnlichem, gearbeitet unsere Art des Wirtschaftens und unsere Gesellschaft und gelebt hat und es punktuell so verändert und ver- verändern wird. Und was, wenn sie nicht kommt? Das bessert hat, dass er eine Gesellschaft aufgebaut hat. ist wirklich reichlich naiv. Also, das ist überhaupt nichts Neues, auch keine Erfin- dung; es war schon längst vor der sozialen Marktwirt- (Beifall bei der AfD) schaft existent und auch bewährt. Und es hat sich tatsäch- Wir als AfD stehen für ideologiefreie Forschung und lich dadurch verändert, dass man dann, als neue oder im Entwicklung, und wir sagen ganz klar Ja zur Bio- Wesentlichen neue Technologien kamen – außer der technologie und auch zur Gentechnik und zu ähnlich ver- Erfindung des Feuers oder des Rades oder so was –, wandten Technologiebereichen. irgendwann glaubte, dass Fortschritt nur dadurch entste- he, dass es neue Technologien gibt. (Zuruf des Abg. Harald Ebner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Sich das einmal in Ruhe anzuschauen und zu überle- gen, ob dieser Begriff wirklich richtig ist, ist ja auch ver- Wir müssen dabei aber dazu beitragen, dass die For- nünftig, glaube ich. Und deswegen ist die Bioökonomie schungsgelder ideologiefrei und ohne Scheuklappen nicht nur ein sehr althergebrachter, sondern aus unserer genutzt werden können. Die Forscher wissen doch, Sicht auch ein sehr zukunftsweisender Ansatz, wenn woran sie forschen können und sollten und wo es ziel- nicht sogar der einzige Ansatz, der unsere Existenz hier führende Wege gibt, und daraus entwickeln sich dann die nachhaltig sichern wird, nämlich so zu wirtschaften – und Innovationen. ich lasse den Entropiesatz jetzt mal obendrüber stehen –, Genau das Gleiche gilt für die mittelständischen Unter- dass wir das Gleichgewicht, das es auf dieser Erde gibt, nehmen. Da müssen wir Regularien abbauen, damit sie einigermaßen aufrechterhalten und trotzdem leben kön- eben besser und freier forschen können. Und vor allem nen. brauchen wir auch einen Rahmen, sodass Spitzenforscher (Beifall bei der SPD) gerne in Deutschland bleiben. Wir brauchen eine Abkehr von den prekären Arbeitsbedingungen mit schlechter Obwohl es etwas Selbstverständliches war, war es (B) Bezahlung, die es gerade in der Biologie, Biochemie, auch richtig, dass der Mensch immer eingegriffen hat. (D) Biotechnologie gibt. Wir brauchen hier bessere Bedin- Das ist selbstverständlich. Das war lange Zeit kein Pro- gungen. Dann bleibt übrigens auch das Wagniskapital in blem, weil das nur punktuell erfolgte und die Verände- Deutschland. Und das brauchen wir, damit Anwendun- rungen nicht spürbar waren. Aber tatsächlich ist Bio- gen, die tatsächlich zielführend und zukunftsträchtig ökonomie deswegen so alt und erfolgreich, weil wir in sind, durchfinanziert werden können. – Haben Sie herz- diesen 4 Milliarden Jahren der Existenz dieses Planeten lichen Dank. eine Situation von Balance und Gleichgewicht vorgefun- den haben. Die muss nicht immer gut sein – da gibt es Vernunft statt Ideologie ist das, was wir in der jetzigen zweifelsohne auch Nachteile –, aber sie hat gewährleistet, Zeit brauchen, und die Regierung ist davon leider ganz dass es eine Ausbalancierung unterschiedlicher Metho- weit weg. den gibt; übrigens auch mit dramatischen Sprüngen und (Beifall bei der AfD – Michael Theurer [FDP]: Brüchen in der Geschichte dieses Planeten. Aber immer- Sie auch!) hin funktioniert er jetzt so, wie er ist. Schwierig wird es eben dann, wenn man das Ganze Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nicht nur punktuell aus der Balance bringt, weil man nicht Vielen Dank, Herr Kollege Kleinwächter. – Nächster den Gesamtüberblick über dieses Gleichgewicht hat und Redner ist der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion. eben nicht ganzheitlich agiert. Es ist richtig, dass der Mensch – und das ist auch gut so, weil Natur nicht per (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten se gut oder schlecht ist und aus menschlicher Sicht vieles der CDU/CSU) eher grausam oder unverständlich erscheint – in die Abläufe der Natur immer wieder eingreift. Wir sehen jetzt in der Pandemiezeit, bei Corona, dass es natürlich René Röspel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- richtig ist, ursprüngliche biologische Systeme, nämlich ren! Ich bin schon ein bisschen erstaunt. Ich muss aus- die Entstehung von Immunität, zu nutzen, um die Coro- drücklich sagen, Frau Ministerin: Ich finde, dass sich die napandemie über biotechnologische Verfahren zu Bioökonomiestrategie in den letzten Jahren sehr gut ent- bekämpfen. Das heißt, das ist ein richtiger punktueller wickelt hat. Es ist ein Fortschritt und eine kluge Ge- Eingriff mit neuen Technologien, der die Situation von schichte, die Erschließung und nachhaltige Nutzung von Menschen besser machen sollte. biogenen Ressourcen oder Verfahrensweisen, die um- Der ganzheitliche Blick allerdings könnte auch dazu weltschonend agieren, zu erforschen und weiter auf den führen, dass man die Erkenntnis gewinnt, dass das ganze Weg zu bringen. Problem erst dadurch entstanden ist, dass wir an einigen 25672 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

René Röspel (A) Stellen das Gleichgewicht gestört haben, dass wir Men- kann man mitnehmen. Jeder Autounfall ist eine Erhöhung (C) schen mit Tieren oder Viren oder Ökosystemen in Kon- der Bruttowertschöpfung in Deutschland, sagt aber noch takt gebracht haben, die normalerweise überhaupt nicht nichts über die Erreichbarkeit der Bioökonomieziele aus. im Zusammenhang stehen, weil wir diese Gleichge- Wenn Sie im FDP-Antrag am Ende wieder verkürzen, wichtssituation, den ganzheitlichen Blick verloren haben. nämlich von der Biotechnologie hin zur Gentechnologie: Deswegen ist aus unserer Sicht Bioökonomie nicht Machen Sie doch einfach mal eine Initiative in den Län- etwa nur, wie es in der Strategie steht, das Miteinander dern, in denen Sie mitregieren, um gentechnisch verän- von Ökologie und Ökonomie plus Sozialem, sozusagen derte Pflanzen endlich freizusetzen. Das wäre offener und die Nachhaltigkeitsgrundpfeiler, sondern aus unserer ehrlicher, als immer solche Anträge zu stellen. Deswegen Sicht muss Bioökonomie sich so entwickeln, dass es im werden wir den FDP-Antrag ablehnen, finden aber die Zentrum des Wirtschaftens steht, ergänzt um die soziale Bioökonomiestrategie in die richtige Richtung gehend. Komponente und da, eben wo möglich, auch um die wirt- Vielen Dank. schaftliche Nutzbarkeit. Also, Bioökonomie ist zentral für uns, und das ist sie in unserer Gesellschaft auch wei- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Eberhard terhin. Gienger [CDU/CSU])

Ich bin etwas erstaunt, Frau Ministerin, dass Sie diese Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Ganzheitlichkeit bzw. die Notwendigkeit des ganzheitli- Vielen Dank, Herr Kollege Röspel. – Nächster Redner chen Blickes, was Sie in der Strategie ja auch beschrei- ist der Kollege Mario Brandenburg, FDP-Fraktion. ben, jetzt wieder auf die gentechnische Veränderung von Pflanzen verkürzt haben. Das finde ich dann auch nicht (Beifall bei der FDP) angemessen, weil es tatsächlich vom ganzheitlichen Blick ablenkt. Mario Brandenburg (Südpfalz) (FDP): Vielleicht wäre auch zu fragen: Wenn man nun durch Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr gentechnische Verfahren eine Pflanze entwickelt, die sehr Kleinwächter, jetzt habe ich nur drei Minuten Redezeit gut auf versalzten Böden wächst oder wenig Wasser und muss noch Ihr Wirrwarr aufräumen. Es geht der FDP braucht: Was passiert eigentlich mit den Böden nach nicht darum, irgendwelche marktwirtschaftlichen Prinzi- der ersten Vegetationsperiode, wenn die Pflanze denn pien oder die soziale Marktwirtschaft zu hinterfragen. Es gewachsen ist? Insofern ist diese Technologie nicht allein ist aber nun mal ein Faktum, dass es in der Bioökonomie ein Fortschritt, sondern es ist auch das, was Sie richtiger- darum geht, gesellschaftliche und ökologische Wahrhei- weise in der Strategie beschreiben: dass es auch um ten mit marktwirtschaftlichen Prinzipien zu verbinden. (B) Verteilungsgerechtigkeit geht, dass man den breiteren Die Welt ist nicht so schwarz und weiß, wie Sie sie malen. (D) Blick haben muss, dass es auch um Bürgerrechte, um (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Menschenrechte geht, um ökologische Entwicklung und der CDU/CSU) Armut in der Welt. Es ist, finde ich, eigentlich der erste Aber dass die AfD ein Schwarz-Weiß-Problem hat, ist Schritt, zu fragen: Welche Methoden brauchen wir, wel- nichts Neues. che Maßnahmen und welche Veränderungen? So, denken Sie sich ein tolles Intro! – Das habe ich jetzt (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des leider verschenkt. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Insofern will ich ausdrücklich sagen: Den ganzheitlichen Abgeordneten der CDU/CSU) Blick sehen wir und finden wir richtig. Die Verkürzung Deswegen kommen wir direkt zur Strategie. Wir teilen auf einzelne Technologien muss man eben immer wieder natürlich das Ziel, aber Sie haben da so einen – neu- hinterfragen. deutsch würde man sagen – Signature Move, etwas, das Ausdrücklich gut finden wir in der Strategie, dass Sie sich durchzieht, nämlich keine Messbarkeit und ganz mehr Partizipation der Zivilgesellschaft vorhaben; das schwammige Kriterien. Es kommen dann so Sätze wie: haben wir seit Jahren gefordert. Das ist immer noch nicht Deutschland sollte in der Bioökonomie führend bleiben genug. Wir finden die Anmerkung richtig, dass gewon- und die Jobs der Zukunft liefern. – Niemand hier drin und nene Erkenntnisse aus staatlich geförderter Forschung, niemand da draußen wird dem widersprechen. also mit öffentlichen Mitteln geförderter Forschung, der Nur: Dann muss man eben auch aufschreiben, wie wir Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden sollen. Wir das messen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Geht es finden es eben auch richtig, dass an der Bioökonomie da um Ausgründungen? Geht es um Patente? Oder geht es möglichst viele Menschen beteiligt werden sollen. eigentlich um die Urdefinition der Bioökonomie: clevere Am Ende darf ich auch noch zum FDP-Antrag etwas Kreislaufwirtschaft, Recyclingquoten, Kaskadennut- sagen. Ich habe es als sehr wohltuend empfunden, dass zung? Das alles ist da leider sehr schwammig. Insofern: ziemlich zu Anfang der Strategie die SDGs, die Sustai- Wenn man die Transformation eines Wirtschaftskreis- nable Development Goals, also die Nachhaltigkeitsziele laufs möchte hin zu mehr Ökologie und hin zu mehr der Vereinten Nationen, als vorderstes Ziel der Bio- Nachhaltigkeit, muss man eben auch ganz klar benennen, ökonomiestrategie genannt werden, die die FDP noch an was für Punkten man Erfolg oder Misserfolg misst; um die Bruttowertschöpfung als Indikator ergänzt. Das und das bleiben Sie schuldig. halten wir tatsächlich für nicht wirklich angemessen; das (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25673

Mario Brandenburg (Südpfalz) (A) Um zu sehen, dass so etwas geht, müssen Sie nur auf Unter den 20 Mitgliedern des nunmehr dritten Bio- (C) die EU schauen. Da gibt es das EU Bioeconomy Moni- ökonomierates ist nur ein Vertreter einer NGO. Das ist toring System dashboard. Da können Sie sich Livezahlen insofern erwähnenswert, als die Bundeslandwirtschafts- angucken, alle Statistiken; das ist topmodern. Wenn man ministerin dem Bioökonomierat ein enormes Potenzial in Deutschland den Bioökonomierat googelt, kommt man zuschrieb: Man müsse Grenzen und Zielkonflikte disku- auf eine Webseite, auf der der letzte Beitrag von 2019 ist. tieren; denn die landwirtschaftliche Fläche sei begrenzt – (Zustimmung der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE was ja stimmt –; die Hauptaufgabe der Landwirte bleibe LINKE]) die Erzeugung unserer Nahrungsmittel, und die Debatten müssten unter Einbindung der Gesellschaft geführt wer- Das ist an dieser Stelle keine Wissenschaftskommunika- den. – Hm. tion, Frau Karliczek, obwohl sie ein Ziel ist. Jetzt sehen Sie, wie toll Ziele und Messkriterien sind. Jetzt haben Sie Meine Damen und Herren, unbestritten können natür- was gesehen, jetzt können Sie es ändern – perfekt! Und lich mit Bioökonomie spannende Projekte realisiert wer- genau deswegen braucht es hier Ziele und Messkriterien. den. Damit kann der Verbrauch von fossilen Ressourcen wie Kohle und Erdöl allemal verringert und durch nach- (Beifall bei der FDP) wachsende Rohstoffe ergänzt werden. Unbestritten ist Jeder weiß, dass in Deutschland die Innovation nicht aber eben auch, dass dadurch – ich habe es schon er- an klugen Köpfen und im Übrigen auch nicht an der For- wähnt – Lebensmittelproduktion und bisherige Boden- schungsfinanzierung scheitert. Es scheitert am Transfer. nutzung weiter unter Druck geraten werden. Umso dring- An dieser Stelle ist die Strategie leider etwas schwam- licher wäre eben eine Flankierung durch eine nachhaltige mig. Ein bisschen Lektüre für Herrn Kleinwächter, wenn Reform, beispielsweise durch eine andere europäische der Puls wieder unten ist: Landwirtschaftspolitik, nämlich unter ökologischen (Heiterkeit der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LIN- Gesichtspunkten. KE]) (Beifall bei der LINKEN) Lesen Sie unseren Antrag „Von der Biologie zur Innova- tion – Von der Innovation zum Produkt“. Da geht es eben Nachhaltiges Wirtschaften soll Ressourcenverbrauch um die Ausfinanzierung entlang der Prozesskette, damit und die Verbesserung der Lebensqualität voneinander eben auch marktwirtschaftliche Prinzipien gewahrt blei- entkoppeln. Das ist nötig, und das ist möglich. Wie es ben. konkret gemacht wird – Frau Ministerin, da lassen wir Sie nicht aus der Spur –, interessiert uns sehr wohl, und (Beifall bei der FDP) genau das bleibt nämlich diese Strategie schuldig. (B) Weil es mir meinen Zeitplan leider ziemlich zerhauen Bioökonomie soll eine biobasierte, an natürlichen (D) hat, komme ich nur noch zum letzten Teil. Frau Karliczek Stoffkreisläufen orientierte, neue und nachhaltige Wirt- hat es zum Glück dieses Mal angesprochen: Wenn eins in schaftsform werden. – Aha! Da sagt Die Linke: Was? der Strategie fehlt, dann ist es leider der Mut. – Sie hören Eine neue Wirtschaftsform? nicht auf Ihre eigenen Berater. Dass Sie teilweise acatech und die Leopoldina ignoriert haben, daran kann man sich (Norbert Kleinwächter [AfD]: Das finden Sie vielleicht, auch wenn es wehtut, gewöhnen. Aber Ihr natürlich gut!) eigener Bioökonomierat hat Sie kritisiert. In diese Strate- gie muss ein klares Bekenntnis zur Gentechnik als ein Das interessiert mich aber; das ist total verlockend für potenzieller Lösungsweg für die Probleme der Zukunft. mich. Das sind Sie leider schuldig geblieben. Das spielt den (Heiterkeit der Abg. Norbert Kleinwächter Fortschrittspessimisten wie Herrn Ebner in die Hände, [AfD] und Mario Brandenburg [Südpfalz] auf dessen Rede ich mich natürlich freue. [FDP]) Vielen Dank. Aber natürlich geht es Ihnen gar nicht um eine neue (Beifall bei der FDP) Wirtschaftsform. Vielmehr geht es um die Nutzung bio- basierter Ressourcen mittels technologischer Innovatio- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nen, die in die bisherige Wirtschaftsform eingebettet wer- Vielen Dank, Herr Kollege Brandenburg. – Nächste den. Es geht also um Anpassung oder, um Ihren Worten Rednerin ist die Kollegin Dr. Petra Sitte, Fraktion Die aus der Strategie zu folgen, um Anpassung an den Linke. Markt. – No more! (Beifall bei der LINKEN) Damit aber noch nicht genug. Es wird sogar der Natur- schutzbund wach und sagt in seiner Kritik an dieser Bio- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): ökonomiestrategie, es würde zu sehr auf Biologie gesetzt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Natio- werden. Ich zitiere: nale Bioökonomiestrategie – da kann ich an den Grund- Eine nachhaltige Entwicklung erfordert jedoch kul- ton des Kollegen Brandenburg anknüpfen – wurde vor turelle, ökonomische und institutionelle Änderun- exakt einem Jahr beschlossen, nämlich im Januar vor gen, die nicht ohne Widerstände und Konflikte ver- einem Jahr. Schon im Dezember 2020, also elf Monate laufen werden. später, wurde ein neuer Bioökonomierat gebildet. Eilig hatten Sie es offensichtlich nicht. Absolut richtig. 25674 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dr. Petra Sitte (A) Sie dagegen tun so, als scheitere der Übergang zu passt so gar nicht zu Ihrem eigenen Partizipationsan- (C) nachhaltigem Wirtschaften allein an technischen und spruch, dass Sie an der Stelle den Menschen nicht sagen, betriebswirtschaftlichen Problemen. Nein, genau so ver- was Sie wollen. puffen Chancen aus der Bioökonomie. Ins Zentrum gehö- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren auch hier vor allem gerechte Macht-, Beteiligungs- und Verteilungsverhältnisse. Unter dem wird vor allem Statt von den wirklichen Erfordernissen der Lösung der Klimawandel überhaupt nicht zu machen sein. der Welternährungsfrage, wie von 50 Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit formuliert, zu reden, Danke. blenden Sie, Frau Ministerin, mit Ihrer einseitigen Gen- (Beifall bei der LINKEN) technikfixierung alle diese Erkenntnisse aus, beispiels- weise Lebensmittelverschwendung, Zugang zu Land, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: also die ganzen Themen, die die Organisationen genannt haben. Sie wollen am Ende, wenn sie die Regulierung in Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Sitte. – Nächster Red- Europa beklagen, den Menschen die Wahlfreiheit neh- ner ist der Kollege Harald Ebner, Fraktion Bündnis 90/ men, sich entscheiden zu können. Die Grünen. Mein letzter Satz, Herr Präsident: Es kann bei der Bio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ökonomie nicht länger darum gehen, den Blick bio- logischen Wissens auf die molekulare Ebene zu verengen Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und die Natur dem Menschen anzupassen, sondern wir Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und müssen auf die Ökosysteme schauen. Kollege Röspel hat Kollegen! 19 Millionen Tonnen Verpackungsmüll fallen da ganz recht: Nur so wird aus der Bioökonomie ein allein in Deutschland jährlich an. Dies wächst infolge der großes Ganzes. Coronapandemie sogar noch deutlich weiter an. Eine rei- ne Substitution, Frau Ministerin, nach dem Motto „Jute Danke schön. statt Plastik“ wird das Problem selbstverständlich nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lösen können. Wir müssen den Ressourcenverbrauch ins- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – gesamt deutlich reduzieren, damit Bioökonomie zu mehr Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Nachhaltigkeit beitragen kann. GRÜNEN]: Die Maske, Harald!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Die Nationale Bioökonomiestrategie benennt solche Vielen Dank, Herr Kollege Ebner. – Der letzte Satz (B) Zielkonflikte und betont zu Recht die Bedeutung der (D) planetaren Grenzen. Aber leider bleiben diese Erkennt- hatte ja schon fast klassisches Format. – Letzte Rednerin nisse weitgehend ohne Konsequenzen. Die Vorlage bleibt in dieser Debatte wird sein die Kollegin Katrin Staffler, Stückwerk mit vielen Leerstellen. Das ist keine Strategie, CDU/CSU-Fraktion. sondern ein grün aufgemachtes Floskel-Sammelsurium. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist dreist, wenn Sie in der Strategie beispielsweise eine nachhaltige Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik Katrin Staffler (CDU/CSU): fordern, wo doch Ministerin Klöckner seit Jahren eine Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es echte Reform der GAP blockiert und beim Glyphosataus- ist schon immer wieder was Besonderes, hier an diesem stieg versagt. Scheinheilig ist auch Ihr Eigenlob bei der Rednerpult zu stehen: Lederauflage, hier ein Display, Forschungsförderung im Ökolandbau. Viele Jahre haben lackiert mit dem Bundesadler, ein Kunststoffdisplay, wo Sie genau das im Haushalt durch Nullrunden sträflich der Präsident ein Lichtlein einschaltet, wenn man zu vernachlässigt. lange redet. Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich, ob ich Ich möchte aber auch etwas ausdrücklich loben, näm- das Thema der heutigen Debatte nicht kenne. Doch, das lich Ihre genannten partizipativen Ansätze. Die Umstel- kenne ich sehr wohl. Aber stellen Sie sich mal vor: In lung unseres Wirtschaftens auf echte Nachhaltigkeit be- zehn Jahren stehen wir hier vielleicht schon an einem darf nicht nur parlamentarischer Rückkopplung, sondern Rednerpult, bei dem diese Auflage aus Äpfeln gemacht auch der engen gesellschaftlichen Einbindung. Das muss worden ist. Das Display, wo es die schönen Blinklichter dann aber auch, bitte schön, umgesetzt werden. vom Präsidenten gibt, sieht dann vielleicht noch genauso aus, wie es heute aussieht; aber es ist dann eben aus Da verwundert es umso mehr, dass die Bundesregie- biobasierten und damit nachhaltigen Rohstoffen herge- rung – anders als jetzt in der Rede die Frau Ministerin – stellt. Die vielfältigen Bereiche der Bioökonomie machen ihre Absichten vor der geneigten Leserschaft so sorgsam es möglich. versteckt. Sie sprechen von Technologieoffenheit und von neuartigen Produktionsorganismen; aber Sie vermei- Indem wir fossile Rohstoffe zunehmend durch nach- den dabei das gerade von den Kollegen schon genannte wachsende biobasierte Rohstoffe ersetzen, müssen wir Wort der Gentechnik wie der Teufel das Weihwasser. eben nicht auf so was wie superleichte Laufschuhe bei Warum denn eigentlich? Sie wollen hier ganz offenbar der morgendlichen Laufrunde oder das Waschmittel, das davon ablenken, dass Sie genau die auch in der Landwirt- wesentlich ressourcenschonender auch den hartnäckigs- schaft etablieren wollen, obwohl nicht nur die grüne ten Fleck aus der neuen Bluse bekommt, verzichten. Das Basis, sondern die Mehrheit in der Bevölkerung diese sind alles Produkte, die in ihrer herkömmlichen Form, so auf dem Acker und auf dem Teller deutlich ablehnt. Das wie wir sie heute kennen, durch den Einsatz von Erdöl Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25675

Katrin Staffler (A) hergestellt sind oder einen hohen Anteil an Kunststoff zehn Jahren vielleicht hier am Rednerpult stehe, ein gutes (C) haben und dadurch schädlich für die Umwelt sind. Beispiel ist, dass Bioökonomie eben nicht mehr nur die Aber: Es sind Produkte, die genauso gut aus biobasierten Ausnahme, sondern die neue Normalität ist. Rohstoffen hergestellt werden können. Die Bioökonomie zeigt uns also, dass sich Ökonomie und Ökologie eben Und nun einen letzten Satz zu Herrn Kleinwächter; nicht gegenseitig ausschließen, sondern wir können sie ich kann es mir nicht verkneifen. Sie haben sich in Ihrer auf kluge und innovative Art und Weise miteinander ver- Rede ironisch darüber lustig gemacht, dass Bioökonomie binden und vernetzen und so was gutes Neues erschaffen. nicht relevant genug wäre, um in der weltweiten Wissen- schaftscommunity wahrgenommen zu werden. Ihr Beleg Deutschland hat in der Bioökonomie seit Jahren einen war, dass dieses Thema nur in unwichtigen Medien wie Spitzenplatz. Jetzt haben wir die neue Strategie vorgelegt. denen der Nature Publishing Group erscheinen würde. Mit der Weiterentwicklung der bestehenden Ansätze und Kurze Nachhilfe: „Nature“ und „Science“ sind die welt- Maßnahmen setzen wir jetzt auch bewusst einen Schwer- weit anerkanntesten Wissenschaftsmagazine und wissen- punkt aufs Thema Nachhaltigkeit. Genau das ist die schaftlichen Publikationen, die es überhaupt gibt. Grundlage, mit der wir als Deutschland jetzt den An- spruch haben müssen, dass wir eine Vorreiterrolle ein- (Norbert Kleinwächter [AfD]: Ich habe nicht nehmen. „Vorreiterrolle“ bedeutet für mich: Wir müssen von „Nature“ und „Science“ gesprochen!) die erfolgreichen Forschungs- und Entwicklungsergeb- Das abzutun, als wäre es nur eine Nebensächlichkeit, ist, nisse, die wir haben, zum weltweiten Exportschlager Entschuldigung, selbst für Sie zu peinlich. machen, weil wir damit eben nicht nur hier bei uns, son- dern überall, weltweit einen riesengroßen Beitrag leisten (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der können für die Etablierung von einem nachhaltigen Wirt- FDP) schaftssystem, einen Beitrag für mehr Klimaschutz und für die Ernährungssicherheit. Die Transformation hin zu so einer biobasierten Wirtschaft gelingt uns nur dann, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wenn wir auf dem Weg dahin die Menschen mitnehmen, Vielen Dank, Frau Kollegin Staffler. – Ich bin wirklich weil die Verbraucher mit ihren Konsumentscheidungen beeindruckt, dass Sie festgestellt haben, dass Ihnen ein eben einen wesentlichen Beitrag zum Vorantreiben der kleines Lichtlein blinkt, wenn Sie zum Ende kommen Bioökonomie leisten; und – das wissen wir auch – Erfolg sollen. Es wäre schön, wenn Ihnen auch ein kleines Licht- am Markt können solche Produkte nur dann haben, wenn lein aufgehen würde, damit Sie dieser Bitte Folge leisten. der informierte Verbraucher sie am Ende des Tages auch kauft. (Heiterkeit) (B) Mit Ihren Worten beende ich die Aussprache. (D) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des den Drucksachen 19/16722 und 19/14742 an die in der Kollegen Kleinwächter? Das würde Ihre Redezeit ver- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. längern. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Ich sehe: (Zurufe von der LINKEN und dem BÜND- Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so. NIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sven Katrin Staffler (CDU/CSU): Lehmann, Anja Hajduk, Dr. Wolfgang Der hatte heute, glaube ich, hier genug Redezeit. Aber Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und er darf sich freuen, weil ich ihm am Schluss auch noch der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine kleine Nachhilfestunde geben werde. Garantiesicherung statt Hartz IV – Mehr so- (Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP]) ziale Sicherheit während und nach der Coro- Wir müssen die Bioökonomie also noch sehr viel stär- na-Krise ker als bisher sichtbar machen, zum Beispiel durch das Drucksache 19/25706 Wissenschaftsjahr, das sich dieses Jahr der Bioökonomie widmet. Dabei darf es aber nicht bleiben. Wir haben Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) heute noch viel zu viele Vorbehalte in der Bevölkerung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gegenüber modernen, sicheren, hilfreichen biobasierten Ausschuss Digitale Agenda Technologien. Ich glaube, die Diskussion heute hat es Haushaltsausschuss uns eindrücklich mal wieder gezeigt. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Wir dürfen nicht aufhören, dass wir immer wieder wie- beschlossen. – Ich bitte erneut, den Platzwechsel ange- derholen, was wir gerade bei komplexen Technologien messen zügig vorzunehmen. transparent, anschaulich und für jedermann verständlich Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- und durchaus auch mit einem positiven Blick auf die ner dem Kollegen Sven Lehmann, Fraktion Bündnis 90/ Chancen neuer Technologien kommunizieren und disku- Die Grünen, das Wort. tieren müssen. In diesem Sinne: Ich versuche, mit gutem Vorbild voranzugehen. Ich freue mich darauf, wenn ich in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 25676 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Sven Lehmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit der Garantiesicherung überwinden wir auch die (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bedarfsgemeinschaften. Es ist einfach ungerecht, wenn Zeit von Hartz IV ist vorbei. Denn Hartz IV basiert auf heute etwa die systemrelevante Altenpflegerin mit ihrem der Annahme, Erwerbslosigkeit und Armut seien persön- kleinen Gehalt noch für ihren soloselbstständigen Partner liches Versagen. Das war schon vor der Coronakrise aufkommen muss, der in der Krise nicht arbeiten darf. falsch. Durch die Coronakrise ist für sehr viele Menschen Jeder Mensch muss aus sich heraus einen eigenen An- noch deutlicher geworden, wie wenig das mit der Lebens- spruch auf Sozialleistungen haben, liebe Kolleginnen realität zu tun hat. und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Denn Corona erzeugt Notlagen, in die niemand selbstver- Mit der Garantiesicherung verzichten wir auch auf die schuldet geraten ist. Genau deswegen müssen wir daraus aufwendige Vermögensprüfung. Wir vereinfachen und jetzt die richtigen Lehren ziehen und Hartz IV endlich wir digitalisieren die Antragsverfahren. So bauen wir überwinden, liebe Kolleginnen und Kollegen. auch Bürokratie in den Jobcentern ab. Und: Die Garantie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sicherung ist eingebettet in Maßnahmen zur Stärkung und bei der LINKEN) unterer Einkommen. Wir wollen den Mindestlohn deut- lich anheben, das Tarifsystem stärken und prekäre Tausenden Soloselbstständigen und Kulturschaffenden Beschäftigung eindämmen, damit deutlich mehr Men- etwa ist von heute auf morgen die Existenzgrundlage ent- schen als heute von ihrer eigenen Arbeit leben können. fallen. Statt eines einfachen, unbürokratischen Unterneh- Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, liebe Kolleginnen mer/-innen-Lohns werden sie an die Jobcenter verwiesen. und Kollegen. Doch warum eigentlich hat bis heute nur ein Bruchteil der Soloselbstständigen Hartz IV beantragt? Mich haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zahlreiche Berichte erreicht, die viel darüber sagen, wa- rum Hartz IV viele Menschen so sehr abschreckt. Der Ganz zentral: Mit der Garantisicherung sind Kinder Bericht einer alleinerziehenden Künstlerin hat mich nicht mehr in Hartz IV; denn da gehören sie einfach nicht besonders erschüttert. Sie lebt zusammen mit ihrer Toch- rein. Kinder sind keine kleinen Erwerbslosen; Kinder ter, die studiert und BAföG erhält. Das BAföG der Toch- müssen durch eine Kindergrundsicherung eigenständig ter wurde mit dem Grundsicherungsanspruch der Mutter abgesichert werden. verrechnet, weil sie eine sogenannte Bedarfsgemein- (B) schaft bilden. Auf den Einwand der Mutter, die Tochter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) brauche das Geld aber doch für ihre Ausbildung, wurde ihr erwidert, dass die Tochter in dieser Notlage ja das Kurzum: Die Garantiesicherung schafft soziale Sicher- Studium aufgeben oder unterbrechen könnte. Liebe Kol- heit in unsicheren Zeiten. Sie begegnet Menschen auf leginnen und Kollegen, das ist doch nicht richtig. Das Augenhöhe, mit Vertrauen und vor allem mit Zutrauen. müssen wir doch ändern. Ich freue mich wirklich sehr aufrichtig, dass der Druck aus Opposition, aus Gewerkschaften, aus Sozialverbän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den nun auch dazu geführt hat, dass Minister Heil eine und bei der LINKEN) Reform von Hartz IV angekündigt hat, auch wenn das eher Trippelschritte sind. Aber immerhin gibt es sie. Mit der Garantiesicherung legen wir Grüne heute ein Wenn man sich aber jetzt anschaut, dass Union und ambitioniertes und umfassendes Konzept vor, wie wir FDP vor allem sofort Widerstand angekündigt haben Hartz IV überwinden und die soziale Mindestsicherung und mal wieder in den Medien mit der Keule „Grund- umfassend reformieren können. Die Garantiesicherung einkommen“ hantiert wird, dann zeigt das nur eins: Sie garantiert Teilhabe. Ich finde es nach wie vor völlig haben in dieser Krise keine sachlichen Argumente mehr, unfassbar, dass die Große Koalition bei all den milliar- die für Hartz IV sprechen; Sie haben ideologische denschweren Hilfspaketen keinen einzigen Cent mehr für Schützengräben. Aber aus Schützengräben heraus lässt Erwachsene in der Grundsicherung übrighat. Auch das sich keine gute Politik für die Menschen machen, liebe wollen und müssen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kolleginnen und Kollegen. Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Garantiesicherung ist sanktionsfrei; denn die Wür- Die Menschen erwarten zu Recht, dass gerade jetzt der de des Menschen erlaubt keine Kürzungen unter das Sozialstaat ein sicheres Netz bietet und sie in Krisensi- Existenzminimum. Sanktionsfreiheit bedeutet Rechts- tuationen auffängt und unterstützt und ermutigt. Mit der klarheit, bedeutet mehr Zeit für individuelle Förderung, Garantiesicherung zeigen wir Grüne, wie das gehen kann. bedeutet weniger Klagen vor den Sozialgerichten und bedeutet ein besseres Klima in den Jobcentern, liebe Kol- Ich freue mich auf die Beratungen und danke für Ihre leginnen und Kollegen. Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25677

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Kai Whittaker (CDU/CSU): (C) Vielen Dank, Herr Kollege Lehmann. – Als nächstem Herzlich gerne. Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU) Sehr geehrter Herr Kollege Whittaker, ich möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen wollen, dass wir in dem Antrag „Garantiesicherung“ zu dem Thema Bedarfs- Kai Whittaker (CDU/CSU): gemeinschaften ausformuliert haben, dass wir insbeson- Herr Präsident! Werte Kollegen! Eigentlich wollte ich dere die Bedarfsgemeinschaften bei unverheirateten Paa- mit ein paar positiven Aspekten des Grünenantrags ren als Problem sehen. Sie profitieren nämlich nicht von anfangen; aber nachdem der Kollege Lehmann hier schon steuerlichen Vorteilen, wie zum Beispiel vom Ehegatten- eine solche Wahlkampfrede gehalten hat, muss ich sagen: splitting. Da ist das Beispiel von meinem Kollegen Sven Das ist ein bisschen früh für dieses Jahr, Herr Kollege. Lehmann sehr lebensnah gewesen: eine unverheiratete Das fängt schon damit an, dass Sie hier mit Wahlkampf- Krankenschwester in Partnerschaft mit einem Künstler, sprüchen, mit Wahlkampfbegriffen um sich schmeißen, in der das Gehalt dieser Frau noch mit dem Hartz-IV- zum Beispiel mit dem Wort „Garantiesicherung“. Anspruch des nicht mehr arbeiten dürfenden Künstlers (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verrechnet wird. NEN]: Das gibt es seit Jahren schon!) Wir haben in diesem Antrag bewusst gesagt: Wenn wir Allein damit fängt es schon an. Sie suggerieren damit, die perspektivisch die Individualisierung auch auf Ehen SGB-II-Leistung sei bisher so eine Art Lotterie, die mal beziehen wollen, dann ist das ganz grundsätzlich nur sichert, mal nicht sichert – als ob wir einen unsicheren denkbar mit einer größeren Reform, die dann auch das Sozialstaat in diesem Land hätten! Das weise ich mit aller Ehegattensplitting mit betreffen würde. Dass Sie zum Schärfe zurück. Thema Ehe sich ein bisschen anders positionieren, ist (Beifall bei der CDU/CSU) das eine. Aber ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mit der Garantiesicherung insbesondere bei Das SGB II ist das Netz, das alle Menschen in diesem den wirklich sehr ungerechten Regelungen ansetzen, die Land in der Krise auffängt. unverheiratete Paare betreffen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie bemängeln in Ihrem Antrag – ich finde, zu Un- Sie bereit sind, das zur Kenntnis zu nehmen, und ob Sie recht – auch eine sogenannte Zweiklassensystematik in glauben, dass das einen Unterschied macht. Hartz IV. Die Regelung haben wir aufgrund der Corona- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) krise eingeführt, damit Selbstständige, wenn sie ihr (D) Betriebsvermögen einsetzen, weil sie zurzeit nicht ar- beiten können, den Betrieb nicht verkaufen müssen und Kai Whittaker (CDU/CSU): hinterher auch noch einen Betrieb haben, mit dem sie Frau Kollegin, ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, wirtschaftlich tätig sein können. Jetzt, hinterher, festzu- dass wir offensichtlich zwei völlig unterschiedliche stellen, dass das eine Zweiklassensystematik ist, ist Ansichten dessen haben, was wir als die kleinste Einheit infam, Herr Kollege. in diesem Land verstehen. Sie möchten eine Individuali- sierung bei Leistungen des Sozialstaates; wir glauben an (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Kraft der Verantwortungsgemeinschaft in der Fami- Ich sage auch ganz offen: Ich war erschüttert, als ich in lie, egal ob mit oder ohne Trauschein. Ihrem Antrag gelesen habe, dass Sie sagen: Wenn jetzt (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erst der Partner aufkommen muss, bevor man Hartz IV beziehen kann, dann ist man quasi ein Anhängsel seines Deshalb wollen wir diese Verantwortungsgemeinschaft Ehemanns oder seiner Ehefrau. nicht zerstören – im Gegensatz zu Ihnen, die Sie jede Leistung individualisieren wollen. Wir glauben, dass (Widerspruch des Abg. Sven Lehmann das nicht der richtige Weg ist. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie reden hier immer von gemeinschaftlicher Verantwor- tung und von Solidarität in unserer Gesellschaft, aber mit Außerdem haben Sie in Ihrem Antrag nicht explizit dar- solchen Worten zerstören Sie die wichtigste gesellschaft- gestellt, dass dies für Ehepartner nicht gelten soll; also liche Solidargemeinschaft in unserem Land, nämlich die insofern sind Sie da nicht sauber. Familie. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Sie sind in Ihrem Antrag auch weiterhin nicht sauber, (Beifall bei der CDU/CSU) wenn Sie zum Beispiel – ich finde es etwas seltsam, dass es drinsteht – auf einen zu erhöhenden Mindestlohn ver- Sie reden in Ihrem Antrag von Stigmatisierung über weisen. Sie fordern 12 Euro die Stunde. Das finde ich SGB II, und ich stelle fest: Wir stigmatisieren niemanden, deshalb sehr interessant, weil es Ihre Fraktion war, die, egal ob er Multimillionär oder SGB-II-Empfänger ist. als wir hier über den Mindestlohn gesprochen und dis- Die Einzigen, die das tun, sind Sie. kutiert haben, darauf bestanden hat, dass es eine Kom- mission geben soll, die jenseits der politischen Einfluss- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sphäre, jenseits dieses Parlaments steht und mit den Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Tarifpartnern zusammen entscheidet, wie der Mindest- Kollegin Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen? lohn ausgestaltet werden soll. 25678 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Kai Whittaker (A) Heute machen Sie eine Kehrtwende und verlangen Wissen Sie, ich hätte es ja verstanden, wenn Sie (C) 12 Euro die Stunde, ohne es zu begründen. Ich vermute, wenigstens gesagt hätten: Auf der anderen Seite fordern Sie wollen damit Armut aufgrund von Armutslöhnen wir drakonischere Strafen, wenn man Sozialbetrug bekämpfen. Aber wenn Sie das wirklich wollen, dann macht. müssten Sie eigentlich so konsequent sein wie die Linken und sagen: Dann machen wir es an 60 Prozent des durch- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE schnittlichen Lohnes in Deutschland fest. Nur: Dann GRÜNEN]: Sehr schwach!) bräuchten wir keine Mindestlohnkommission mehr, und Aber selbst das fehlt in Ihrem Antrag, und deshalb kön- genau das lehnen wir als Unionsfraktion ebenfalls ab. nen wir dem so nicht zustimmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zu guter Letzt fordern Sie – altes Lied –, die Sanktio- nen abzuschaffen. Auch das, glaube ich, zerstört die Soli- Zu guter Letzt. Mit Ihrer Politik vergessen Sie schlicht dargemeinschaft. und ergreifend die gesellschaftliche Mitte in diesem Land. Sie schreiben in Ihrem Antrag sehr deutlich, dass (Beifall der Abg. Dr. [CDU/ Sie in Zukunft die SGB-II-Leistungssätze am Konsum- CSU]) verhalten der Mitte der Gesellschaft orientieren wollen. Übrigens ist es fachlich falsch – es ist fachlich falsch –: Das heißt übersetzt nichts anderes, als dass knapp die Der Chef der BA fordert das explizit nicht. Im Gegenteil: Hälfte, nämlich die untere Hälfte, die, die unter dem Er möchte nach wie vor Sanktionen. Durchschnitt liegt, in Zukunft diese SGB-II-Leistungen, Ihre Garantiesicherung, beziehen soll. Wir wollen nicht, Ich glaube, es zerstört die Solidargemeinschaft in die- dass die Hälfte in diesem Sozialstaat Leistungsbezieher sem Land deshalb, weil klar ist: Solidarität ist keine Ein- ist, sondern wir wollen, dass die Menschen in Arbeit sind bahnstraße, sondern sie funktioniert nur im Austausch und ihr eigenes Geld verdienen können. miteinander. Wenn ich als Steuerzahler für einen Sozial- staat einzahle, dann muss ich auch erwarten, dass dieje- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nigen, die in der Sozialhilfe sind, alles dafür tun, so Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Metho- schnell wie möglich wieder aus ihr herauszukommen. disch nacharbeiten!) (Beifall der Abg. Dr. Astrid Mannes [CDU/ Ich war ebenfalls entsetzt, als ich gelesen habe – das CSU] – Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang haben Sie schön mit den Worten verbrämt: wir wollen Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bürokratie abbauen und Vereinfachungen haben –: Na NEN]) ja, in Zukunft soll der Antragsteller einfach angeben, er (B) hat kein Vermögen und er hat dies nicht und er hat das Deshalb kann ich Ihnen nur zurufen: Die einzige (D) nicht, und wir prüfen das nicht weiter. Garantiesicherung, die es in diesem Land gibt, die beste Garantiesicherung, die es in diesem Land gibt, ist Arbeit. Ich meine, so kann man natürlich auch Bürokratie SGB II bzw. Hartz IV ist eine Erfolgsgeschichte. Wir abbauen, indem man einfach zwei Augen zudrückt. haben die Arbeitslosigkeit seit 2005, seit wir die Regie- Aber ich bin mal gespannt, wenn wir das bei den Finanz- rung von Ihnen übernommen haben, halbiert. Wir haben ämtern machen und nicht nachprüfen würden, ob das, die Langzeitarbeitslosigkeit mehr als halbiert. Wir haben was in den Steuererklärungen drinsteht, auch wirklich die geringste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. stimmt: Dann kämen wir nicht mehr sehr weit mit unse- rem Staat. Deshalb müssen wir mehr in dieser Richtung tun: digi- talisieren, vereinfachen. Wir müssen gucken, dass wir die (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hinzuverdienstregeln verbessern. Leistung muss sich NEN) lohnen. Und: Wir brauchen eine bessere Betreuung, da- Ich frage mich ernsthaft, wen Sie da eigentlich schüt- mit wir die Menschen in die Arbeitswelt führen können. zen wollen. Wissen Sie, Sie verschließen ein bisschen die Das ist unsere Aufgabe. Augen vor der Realität. Es gibt Sozialleistungsmiss- Danke schön. brauch. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine ganz schwache Rede! Ganz schwach!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker. – Als nächstem Es gibt kriminelle Banden, die auch SGB-II-Betrug Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Jörg Schneider, machen. Ich finde, mit Ihrem Antrag schützen Sie nie- AfD-Fraktion. manden: weder die Steuerzahler, die arbeiten und einzah- len, noch die Leistungsbezieher, die SGB II brauchen, (Beifall bei der AfD) wenig Geld zur Verfügung haben und dann noch wegen dieser kriminellen Banden schlechtgemacht werden. Jörg Schneider (AfD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE ren! Liebe Zuschauer! Die Coronamaßnahmen haben vie- GRÜNEN]: Sehr schwache Rede! Sehr le Branchen in die Krise gestürzt, und unser Sozialsystem schwach!) hilft dort nicht immer. Der Soloselbstständige hat halt Deshalb können wir diesem Antrag nicht zustimmen. keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, und der Friseur, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25679

Jörg Schneider (A) der Wirt, der jetzt unter einem monatelangen Berufsver- nach Deutschland zu kommen, hier zu bleiben. Und auf (C) bot leidet, wartet ungefähr genauso lange auf die Ent- der anderen Seite schrecken wir gut Ausgebildete und schädigungsleistungen. damit potenziell Besserverdienende ab. Die Zahlen der Auch die Kritik der Grünen am Sozialsystem ist durch- OECD spiegeln das wider: Ungefähr jeder Zweite, der aus gerechtfertigt. Es ist sehr kompliziert; es setzt die aus Deutschland auswandert, hat einen akademischen falschen Anreize. Für den, der Sozialleistungen bezieht, Abschluss; aber nur jeder Vierte, der nach Deutschland lohnt sich Arbeit oft nur in Form von Schwarzarbeit. kommt, hat überhaupt irgendeine Qualifikation. Häufig Aber wie Sie das miteinander verknüpfen, das ist schon ergeben sich die letztgenannten Zahlen nur auf Basis von ein bisschen abenteuerlich. Da haben wir eine Situation, eigenen Erklärungen der Betreffenden. in der eigentlich die Solidarität dieser Gesellschaft gefor- Meine Damen und Herren, wenn man es mal plakativ dert ist, und Sie wollen die Sanktionen für Hartz-IV-Emp- ausdrücken will: Wir vertreiben die Akademiker, und für fänger abschaffen. Das heißt, Sie wollen diejenigen, die jeden Akademiker, der auswandert, holen wir uns einen sich innerhalb unseres Sozialsystems unsolidarisch ver- Analphabeten ins Land. halten, auch noch belohnen. Das versteht doch wirklich kein Mensch mehr, meine Damen und Herren. (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist nicht plakativ, das ist einfach (Beifall bei der AfD) Hetze!) Die Forderung haben wir von Ihnen ja schon in unter- Das ist eine gewaltige Schieflage. Diese Schieflage wer- schiedlicher Weise gehört; nur die Begründung ist dies- den Sie durch Ihren Antrag sogar noch verschärfen. mal eine andere: Es ist jetzt Corona. Ich finde das nicht besonders glaubwürdig. Wenn man immer wieder die (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gleichen Sachen fordert, aber immer wieder eine andere NEN]: Nur Hetze! – Kerstin Kassner [DIE Begründung liefert, dann deutet das doch darauf hin, dass LINKE]: Hetze! Diese Hetzerei!) es eigentlich keine wirklich stichhaltige Begründung gibt, weil es halt einfach beliebig ist. Dem können wir nicht zustimmen. Aber was für mich noch viel entscheidender ist: Die Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen. Grünen sehen sich doch immer als Partei der Nachhaltig- (Beifall bei der AfD) keit. Wir in Deutschland haben weltweit mit das groß- zügigste Sozialsystem, und, verbunden mit offenen Gren- zen und einem lockeren Bleiberecht, ist es natürlich ein Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Magnet, gerade für Menschen, die wenig leistungswillig, Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt, (B) wenig leistungsfähig sind. Die wissen ganz genau: Nie SPD-Fraktion. (D) wird es ihnen irgendwo auf der Welt so gut gehen wie hier in Deutschland. (Beifall bei der SPD) (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und – Da brauchen Sie gar nicht die Augen zu verdrehen, Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Minuten (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE für einen politischen Ritt durch weite und wesentliche GRÜNEN]: Doch!) Teile unseres Sozialstaats – da muss man sich ein wenig konzentrieren. Ich möchte vier Punkte herausgreifen, die nach dem Motto: AfD und Zuwanderer. mir ganz besonders wichtig sind: Nein! Sie haben dem Thema „Zuwanderer und Sozial- Als Allererstes. Die SPD teilt zutiefst die Forderung leistungen“ in Ihrem Antrag einen großen Raum einge- nach einer Kindergrundsicherung. Kinder haben in einem räumt. Sie haben das getan; ich gehe nur darauf ein. Und System für Arbeitslose nichts, aber auch gar nichts ver- diese Anreize wollen Sie jetzt sogar noch erhöhen, meine loren. Damen und Herren. Nur, das Ganze muss auch finanziert werden. Okay, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenn wir jetzt Italien wären, würden wir sagen: Ach, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der das machen wir über den EU-Haushalt; die Deutschen LINKEN) zahlen. – Nur, hier in Deutschland kriegen wir das natür- Aber wer glaubt, Chancengleichheit allein durch eine lich so nicht hin. Da werden es die Steuerzahler sein, die anständige Geldleistung herstellen zu können, wird nicht bezahlen müssen. nur in der Pandemie eines Besseren belehrt. Ohne eine Wir haben in Deutschland schon die höchsten Steuern starke und funktionierende Infrastruktur, die Kinder und und Sozialabgaben. Und hohe Steuern und Sozialabga- Jugendliche und ihre Familien unterstützt, die Nachteile ben haben einen Nachteil: Sie schrecken gut ausgebilde- ausgleicht, ist es nicht zu leisten. Deswegen hat unsere te, potenziell Besserverdienende eher ab. Und da wollen Kindergrundsicherung zwei Säulen: eine anständige und Sie noch ein bisschen was drauflegen. gute finanzielle Leistung und starke Investitionen in In- frastruktur für mehr Teilhabe und echte Bildungsgerech- Das ist die fatale Gemengelage, die wir hier in tigkeit. Deutschland haben. Wir schaffen auf der einen Seite für wenig Leistungswillige, wenig Leistungsbereite Anreize, (Beifall bei der SPD) 25680 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) Zweitens. Wir wollen eine Grundsicherung, die stig- Pascal Kober (FDP): (C) matisierungsfrei allen hilft, die in Not geraten sind und Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und bei denen solidarische Sicherungssysteme nicht oder Kollegen! Eine Bemerkung vorneweg: Lieber Bundesmi- nicht mehr wirken. Wir wollen eine Grundsicherung, nister Hubertus Heil, Sie sind am Wochenende mit einem die allen individuell gerecht wird und nicht für Selbst- eigenen Reformvorschlag für Hartz IV an die Presse ständige ein anderes System aus Steuermitteln schafft gegangen, an die Öffentlichkeit gegangen. Da muss ich mit höheren und anderen Leistungen als für alle anderen. sagen: Reichlich spät. Dafür hätten Sie vier Jahre lang Wir wollen vielmehr eine Grundsicherung, die nach per- Zeit gehabt. Jetzt, am Ende der Legislaturperiode, mit sönlichem Bedarf und Möglichkeiten differenziert und an einem Vorschlag zu kommen, zeigt letzten Endes, dass die verschiedenen Lebenslagen angepasst ist. Eine stig- Sie es wahrscheinlich gar nicht ernst meinen mit einer matisierungsfreie Grundsicherung, die Menschen wieder Reform, und das ist nicht in Ordnung. in gute Arbeit bringt – dazu hat Hubertus Heil dankes- werterweise erste sehr gute Vorschläge gemacht. Mein (Beifall bei der FDP – Kai Whittaker [CDU/ Kollege Martin Rosemann wird dazu noch mehr ausfüh- CSU]: Soll man das Arbeiten einstellen ein ren. Jahr vor der Wahl, oder was?) Aber ich möchte natürlich vor allen Dingen zu dem Da komme ich direkt zum dritten Punkt, nämlich zu Antrag der Grünen sprechen. Er enthält viele einzelne dem Recht auf Arbeit. Die allermeisten Menschen wollen Forderungen, über die man streiten kann. Er enthält durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt sichern. auch einzelne Forderungen, wo wir miteinander am sel- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist ben Strang ziehen. Es ist erfreulich, dass Sie sich da es!) wirklich im Detail Gedanken gemacht haben. Aber Sie wissen natürlich, dass wir an einer Stelle Wer arbeitslos wird, hat das nur selten selbst zu verant- einen fundamentalen Gegensatz austragen müssen, und worten. Wir wollen, dass jeder und jede, der oder die das ist die große Frage, ob wir von den Mitwirkungs- arbeiten will, auch gut arbeiten kann. Das gilt für dieje- pflichten im Hartz-IV-System absehen wollen. Wir sehen nigen, die arbeiten – dass sie in Arbeit bleiben; durch in den Mitwirkungspflichten letztlich den Spiegel eines Qualifizierung und Gesundheitsschutz –; das gilt für die- Gesellschaftsverständnisses, nach dem alle Menschen zu jenigen, die ihre Arbeit verloren haben – durch ein kon- wechselseitiger Solidarität und Verantwortung verpflich- kretes, adäquates Arbeitsangebot oder Qualifizierungsan- tet sind – je nach ihrer individuellen Fähigkeit, je nach gebot –, und das gilt für diejenigen, die lange raus sind, ihrem individuellen Können. wie bereits beschrieben. Wir sehen uns in der Verantwor- (B) tung, für alle, die arbeiten wollen, auch gute Arbeit zu Das bedeutet für die einen in einer Gesellschaft, dass (D) ermöglichen. sie Einkommensteuer bezahlen, dass sie Sozialversiche- rungsbeiträge entrichten auf ihre Arbeit, dass, wenn sie (Beifall bei der SPD) das nicht tun, die Gesellschaft sie zu Recht zur Verant- wortung zieht, sie also sanktioniert. Und das bedeutet auf Beim vierten Punkt geht es darum, das komplizierte der anderen Seite, dass wir von denjenigen, die arbeit- Leben in Deutschland für alle leichter zu machen und suchend sind – das sind ja, das wissen Sie, nicht die Bürgerinnen und Bürger von Bürokratie zu befreien. Schwächsten in unserer Gesellschaft –, also von denjeni- Uns reicht es nicht, wie bei Ihnen, nur Leistungen zum gen, die arbeiten können und wollen, auch eine Verant- Lebensunterhalt aus einer Hand zu gewähren. Unser Bür- wortung, eine Mitwirkung erwarten bei der Verkürzung gerservice soll alle Leistungen des Sozialstaates umfas- der Dauer ihrer Arbeitslosigkeit. sen. Er berät nicht nach Sozialgesetzbüchern, sondern nach Lebenslagen, und er übernimmt als Partner der (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Menschen Verantwortung dafür, an diese Leistungen zu NEN]: Das machen die Leute doch!) kommen und die Anträge zu stellen. Das ist eine fundamentale Frage an unser Gesellschafts- (Beifall bei der SPD) verständnis. Da haben wir eine andere Sicht auf die Din- ge, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen. Er hat viele verschiede Zugänge, damit ihn alle erreichen können und er alle erreicht, die ihn brauchen: reale Türen (Beifall bei der FDP) vor Ort, die gut erreichbar sind, aber auch eine digitale Glücklicherweise muss man ja feststellen, dass nur ein Tür. Er ist aufsuchend, und, vor allem, er ist ambitioniert. ganz kleiner Teil überhaupt sanktioniert wird. Glück auf! (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) (Beifall bei der SPD) Wenn wir diese Sanktionen so groß machen, sie zum Problem machen, dann müssen wir auch sehen, dass das Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gleichbedeutend damit ist, dass wir die Anstrengung der Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Nun lauschen 97 Prozent Leistungsbezieher, die nicht sanktioniert wer- wir den Worten des Kollegen Pascal Kober, FDP-Frak- den, letztlich nicht wertschätzen, sie geringschätzen, und tion. das sollten wir nicht tun. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25681

Pascal Kober (A) Da gibt es viele, die strampeln, die kämpfen, die mitwir- Ja, Hartz IV hinterlässt Spuren, nicht nur auf den (C) ken. Diese Mühe sollten wir wirklich respektieren. Rentenkonten, sondern auch auf den Seelen der Men- schen. Deswegen müssen wir Hartz IV mit seinem Sankt- (Beifall bei der FDP) ionssystem, dem Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft und Was ich gut finde an Ihrem Antrag, ist, dass Sie sich die den kleingerechneten Regelsätzen endlich überwinden. Frage der Zuverdienstgrenze stellen. Was ich gut finde an (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ihrem Antrag, ist, dass Sie darauf hinweisen, dass die neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Betreuungsquote in den Jobcentern verbessert werden Seit Beginn sagen wir als Linke: Hartz IV gehört ersetzt muss. Wir haben da einen guten Vorschlag gemacht. durch gute Arbeit, durch eine bessere Arbeitslosenver- Bei Ihnen fehlt noch ein bisschen die Idee, wie man das sicherung und durch eine sanktionsfreie Mindestsiche- erreichen könnte. rung; denn kein Mensch sollte im Monat unter (Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP]) 1 200 Euro fallen. (Beifall bei der LINKEN) Da haben wir schon etwas präzisere Vorstellungen in der Öffentlichkeit geäußert und in den Bundestag einge- Es ist noch gar nicht so lange her, da war die Linke mit bracht. Klar ist auch, dass wir entbürokratisieren müssen ihrer Kritik an Hartz IV im Bundestag recht alleine. und dass es klug wäre, eine Bagatellgrenze, die Sie bei Inzwischen hat sich rumgesprochen, dass wir dazu Alter- 50 Euro sehen – wir haben mal 25 Euro in den Deutschen nativen brauchen. Darauf können wir als Linke auch ein Bundestag eingebracht –, bisschen stolz sein. Als ich das vorliegende Konzept der Grünen las, habe ich mich ein bisschen an unsere sankt- (Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP] – ionsfreie Mindestsicherung erinnert gefühlt und gedacht: Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mensch, das macht echt Lust auf neue linke Mehrheiten; NEN]: Da haben wir zugestimmt!) denn gemeinsam könnten wir Millionen im Land die Last einzuführen. der Armut und der Sanktionen nehmen. Wenn wir Millio- nengewinne und Millionenerbschaften stärker besteuern, Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf wäre es finanzierbar, alle hierzulande vor Armut zu die Diskussion, auch über fundamentale Wertvorstellun- schützen. gen in unserer Gesellschaft. (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank. Doch solange die Union in der Regierung ist, wird sie genau das blockieren. Insofern sage ich an die Adresse (B) (Beifall bei der FDP) der Grünen: Wenn ihr auf Schwarz-Grün setzt, werdet ihr (D) dieses schöne, dieses gute Konzept der Garantiesiche- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: rung leider in die Tonne treten können. Um Hartz IV zu Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Als nächste Red- überwinden, brauchen wir soziale Mehrheiten links der nerin wird die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Lin- Union. ke, zu uns sprechen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN) neten der SPD) Abschließend ein Satz an die Erwerbsloseninitiativen und sozialen Beratungsstellen im Land: Eurer Beharrlich- Katja Kipping (DIE LINKE): keit ist es zu verdanken, dass nun auch Parteien, die einst Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines soll- Hartz IV einführten, davon abgerückt sind. Ich weiß, eure ten wir hier am Anfang endlich mal festhalten: Hartz IV Arbeit ist gerade verdammt schwer, aber ich rufe euch zu: war eine richtig miese Idee, und das von Anfang an. Lasst nicht locker, macht weiter Druck, bleibt dran; denn (Beifall bei der LINKEN – Kai Whittaker Hartz IV war eine richtig miese Idee. Höchste Zeit, damit [CDU/CSU]: Nein!) Schluss zu machen! Höchste Zeit für eine sanktionsfreie Mindestsicherung! Aus Zeitgründen nur ein Beispiel von vielen für das Vielen Dank. tägliche Verzweifeln daran. Ich zitiere dazu aus dem Brief eines Mannes aus Sachsen, der als Trainer arbeitete (Beifall bei der LINKEN) und unglücklicherweise in Hartz IV rutschte. Er schreibt: Was ich jetzt erlebe, konnte ich mir lange für Deutschland Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nicht vorstellen. Nachdem ich beim Angebot als Etiket- Vielen Dank, Frau Kollegin Kipping. – Vorletzter Red- tenkleber, was für mich der direkte Weg in die Alters- ner in dieser Debatte ist der Kollege Tobias Zech, CDU/ armut gewesen wäre, eine vernünftige Bezahlung gefor- CSU-Fraktion. dert habe, wurde ich von Amts wegen sanktioniert. Dabei hatte ich nur das Durchschnittseinkommen von Sachsen (Beifall bei der CDU/CSU) angenommen. Ich habe mittlerweile zwei Empfänger kennengelernt, die aus Angst schon eine Nacht vorher Tobias Zech (CDU/CSU): nicht schlafen können, wenn sie zum Amt müssen. Zu- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei rück bleibt bei diesen Menschen versteckte Wut. – Zitat Wochen sind alle Regelsätze im Bereich der Grundsiche- Ende. Zurück bleibt Wut. rung gestiegen. 25682 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Tobias Zech (A) (Kersten Steinke [DIE LINKE]: Wahnsinn! – wir Rechenschaft schuldig. Ihr Antrag geht weit an einem (C) Kai Whittaker [CDU/CSU]: So ist es!) Ausgleich, weit an Stabilität vorbei, und deswegen kön- nen wir ihn nur ablehnen. Alle Regelsätze! Vor wenigen Wochen haben wir hier gemeinsam mit breiter Mehrheit beschlossen, 2,6 Milliar- Gleichwohl müssen wir uns im weiteren Verfahren den Euro mehr ins System zu geben für die Menschen, die darüber unterhalten, was wir bei Hartz IV verändern müs- sich im Regelkreis der Grundsicherung befinden. Und in sen. Ich denke, wir müssen uns sehr wohl darüber unter- die Berechnung des Regelbedarfs haben wir – das ist eine halten, wie wir mit Hinzuverdienstgrenzen einen unter- Veränderung – die Kosten für einen Mobilfunkvertrag schwelligen, besseren Zugang zum ersten Arbeitsmarkt aufgenommen, um mehr Beteiligung, um mehr Teilnah- oder überhaupt wieder zurück zum Arbeitsmarkt er- me am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, und das möglichen. Das muss attraktiv sein, aber es darf nicht in einer Zeit, da wir uns in der größten wirtschaftlichen zu Fehlallokationen kommen. Ich glaube, dass wir die Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befinden. Ich sage das Antragsverfahren entbürokratisieren und auch in der nur, um den Stabilitäts- und Ankercharakter unseres Kommunikation mit den Ämtern viel mehr auf Digitali- Sozialsystems zu betonen. Ich will einmal festhalten, sierung setzen müssen und auch das Hartz-IV-Verfahren worüber wir heute sprechen: über das im internationalen viel stärker digitalisieren und anpassen müssen. Und ich Vergleich stärkste und stabilste Sozialsystem. glaube, dass wir uns im Zusammenhang mit Digitalisie- rung und Entbürokratisierung auch über Bagatellgrenzen (Beifall bei der CDU/CSU) unterhalten müssen, nicht, um diejenigen zu privilegie- ren, die sich nicht an Regeln halten, sondern um das Es wäre natürlich zu einfach, zu sagen: Wenn wir jetzt System nicht zu überfrachten. So schaffen wir wieder so gut dastehen, dann darf das System nicht reformiert ein stabileres System – nicht durch eine Revolution, werden. – Aber der jetzige Status ist nicht in Stein gemei- wie Sie es vorhaben, sondern durch eine Evolution –, ßelt. Natürlich muss das System reformiert werden; per- und wir werden permanent daran arbeiten. manent müssen wir daran arbeiten. Wir müssen Systeme Noch mal: Vor 13 Tagen trat die Erhöhung der Regel- anpassen, wir müssen sie vereinfachen, wir müssen sie sätze in Kraft. Mit dieser Erhöhung zum 1. Januar 2021 entbürokratisieren. haben wir als Parlament ein Zeichen gesetzt, wie wichtig uns Stabilität ist, auch eine finanzielle. Das darf nicht Aber wir dürfen eines nicht vergessen – das geht mir bloß eine Phrase bleiben. Unser Ziel muss sein, Stabilität bei Ihrem Antrag ab –, nämlich die Frage des Ausgleichs. und Ausgleich zu schaffen. Dann haben wir auch soziale Wenn wir über Ausgleich sprechen, dann sprechen wir Sicherheit im Land und ein stabiles System. Ihr Antrag darüber, dass wir natürlich denen verpflichtet sind, die wird diesem Ziel leider nicht gerecht. (B) auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind, (D) weil sie unverschuldet arbeitslos geworden sind, weil Danke für die Aufmerksamkeit. sie individuelle Schicksale erlitten haben. Denen gebührt (Beifall bei der CDU/CSU) die Solidarität der Gesellschaft. Diese Gruppe müssen wir fördern. Es ist aber auch Teil der Wahrheit, dass sich nicht alle Menschen in der Grundsicherung an alle Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vorgaben, Regeln und Fristen halten. Das ist der kleinste Vielen Dank, Herr Kollege Zech. – Letzter Redner in Teil; nicht einmal jeder Zehnte ist sanktioniert worden. dieser Debatte ist der Kollege Dr. Martin Rosemann, Ich sage das, weil die Frage, wie wichtig Sanktionen für SPD-Fraktion. Personen im Regelkreis sind, in der Diskussion immer (Beifall bei der SPD) überhöht wird. Also, nur der kleinste Teil der Menschen in Grundsicherung ist sanktioniert worden. Das heißt: Die meisten halten sich an die Regeln; das ist anscheinend Dr. Martin Rosemann (SPD): nicht so schwierig. Aber es gibt einen kleinen Teil, der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- sich halt nicht an die Regeln hält, der Fristen platzen lässt, ne sehr geehrten Damen und Herren! Mit den Grünen ist der nicht jede zumutbare Arbeit annimmt. Auch um diese es wieder mal wie bei Hase und Igel: Der grüne Hase legt Menschen müssen wir uns kümmern. Dafür gibt es Sank- einen Antrag zur Änderung des SGB II vor, und der rote tionen; das ist das Instrument des Forderns. Igel Hubertus hat schon den Gesetzentwurf parat, (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Nur im Ausgleich, nur im Gleichgewicht schaffen wir einen sozialen Frieden in diesem Land. Das war einer der einen Gesetzentwurf, der umfassend Unterstützung Gründe, warum man Hartz IV Anfang der 2000er-Jahre erfährt von Wohlfahrtsverbänden, von Gewerkschaften eingeführt hat: um den sozialen Frieden nachhaltig zu und von namhaften Ökonomen. erhalten. Das geht mir bei Ihrem Antrag ab. Das Wich- (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Na ja!) tigste, wenn wir über ein Existenzminimum sprechen, ist, dass dieses in beiden Ausgleichssphären Akzeptanz Mit den Reformplänen werden die richtigen Lehren aus schafft, auch bei denen, deren Verdienst leicht über dem der Coronakrise gezogen, sagt der DGB-Vorsitzende Existenzminimum liegt, die keine Alimentationszahlun- Reiner Hoffmann. Der Präsident des Deutschen Caritas- gen vom Staat beziehen, die ihre Wohnung selber bezah- verbandes, Peter Neher, sagt – ich zitiere –: len müssen, bei denen es keine Wohnraumuntersuchung Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch das Amt gibt, weil der Markt die Miete bestimmt. dreht an den richtigen Stellschrauben, wenn es Auch um die müssen wir uns kümmern, auch denen sind dem bedingungslosen Grundeinkommen eine Absa- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25683

Dr. Martin Rosemann (A) ge erteilt und stattdessen das SGB II an kritischen Dr. Martin Rosemann (SPD): (C) Punkten wie dem Sanktionsrecht und der Weiterbil- – fördert und unterstützt, kann man auch Mitwirkungs- dung reformiert. pflichten verlangen. Auch dies ist eine Frage der Solida- rität. (Beifall bei der SPD – Zurufe der Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] und Beate Herzlichen Dank. Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) (Beifall bei der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Sozial- staatskonzept der SPD setzt im Wesentlichen auf zwei Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Dinge, auf das Recht auf Arbeit – Dagmar Schmidt hat Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Rosemann. – Damit darüber gesprochen – und auf den Sozialstaat als Partner, schließe ich die Aussprache. der Menschen in konkreten Situationen individuell unter- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf stützt und hilft, der Hilfe zur Selbsthilfe bietet. Das gilt Drucksache 19/25706 an die in der Tagesordnung aufge- natürlich auch für das SGB II und für die Jobcenter. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- Das bedeutet im Wesentlichen vier Dinge: weisungsvorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann verfah- ren wir so. Erstens. Es geht um eine andere Kultur. Dazu gehört, was Andreas Peichl vom ifo-Institut sagt: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c, 25 e, 24 a und 24 c sowie Zusatzpunkte 8 a und 8 b auf: Es ist falsch, gleich zu sagen: Du beantragst Hartz IV, also musst du dir eine neue Wohnung 25 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung suchen. eingebrachten Entwurfs eines Vierten Ge- setzes zur Änderung des Lebensmittel- Dazu gehört aber auch: Keiner, der zum Amt geht, ist und Futtermittelgesetzbuches sowie ande- Bittsteller; es sind Bürgerinnen und Bürger mit eigenen rer Vorschriften Rechten. Ihnen müssen wir Hilfen aus einer Hand geben, anstatt sie von einer Stelle zur anderen Stelle zu schicken. Drucksache 19/25319 Das gilt für das Jobcenter, aber auch darüber hinaus. Des- Überweisungsvorschlag: halb wollen wir Bürgerservicestellen für alle Bürgerinnen Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft und Bürger und für alle Sozialleistungen, wie es Dagmar Schmidt beschrieben hat. b) Erste Beratung des von der Bundesregierung (B) eingebrachten Entwurfs eines Siebten Ge- (D) (Beifall bei der SPD) setzes zur Änderung von Verbrauchsteu- Zweitens. Es geht um ein Bündnis auf Augenhöhe ergesetzen zwischen den Betroffenen und den Jobcentern. Es geht Drucksache 19/25697 um einen respektvollen Umgang, um einen Koopera- Überweisungsvorschlag: tionsplan mit konkreten Verabredungen, mit konkreten Finanzausschuss (f) Schritten, mit einer klaren Verabredung, was der Betrof- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz fene macht und was das Jobcenter macht, und zwar ver- Haushaltsausschuss ständlich und klar formuliert, gemeinsam und auf Augen- c) Erste Beratung des von den Abgeordneten höhe vereinbart. Stephan Brandner, Mariana Iris Harder- Drittens. Es geht um individuelle Unterstützung, um Kühnel, Karsten Hilse, weiteren Abgeordne- umfassende Förderung und Unterstützung. Deshalb ten und der Fraktion der AfD eingebrachten wollen wir aufsuchende Sozialarbeit und individuelles Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Coaching, einen monatlichen Weiterbildungsbonus und des Handelsgesetzbuchs (Gesetz zur Ver- dass auch das dritte Umschulungsjahr im Zweifel finan- ringerung verjährungsbedingter Einnah- ziert wird. Um Andreas Peichl noch einmal zu zitieren: meausfälle bei Forderungen aus Ord- nungsgeldverfahren gemäß § 335 des Es ist ganz zentral, dass man vom ersten Tag an Handelsgesetzbuches) versucht, die Leute zu qualifizieren. Drucksache 19/25809 Viertens. Es geht um Bürokratieabbau für die Betroffe- nen und für die Beschäftigten. Deshalb wollen wir eine Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Bagatellgrenze. Finanzausschuss Meine Damen und Herren, zum Schluss: Ein solcher e) Beratung des Antrags der Abgeordneten umfassender Hilfeansatz kann nur funktionieren, wenn Uwe Witt, René Springer, Jürgen Pohl, wei- Hilfe und Unterstützung immer im Vordergrund stehen terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD und wichtiger sind als Sanktionen. Wenn man aber so individuell – Aufhebung der Verdienstgrenze für ge- ringfügig Beschäftigte durch eine dynami- sche Kopplung an die Inflation Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Kommen Sie bitte zum Schluss. Drucksache 19/25807 25684 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Überweisungsvorschlag: Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 26 a: (C) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Ausschuss für Tourismus von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Haushaltsausschuss wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen 24 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten vom 10. September 2010 über die Bekämpfung Omid Nouripour, Katja Keul, Margarete widerrechtlicher Handlungen mit Bezug Bause, weiterer Abgeordneter und der Frak- auf die internationale Zivilluftfahrt und tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Zusatzprotokoll vom 10. September Eskalation in der Westsahara vermeiden – 2010 zum Übereinkommen vom 16. Dezember UN-Vermittlung möglich machen 1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen Drucksache 19/25797 Drucksache 19/24223 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- 24 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten schuss) Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, Dr. Alexander S. Neu, weiterer Abgeordneter Drucksache 19/25863 und der Fraktion DIE LINKE Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Völkerrecht in der von Marokko besetzten 19/25863, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Westsahara durchsetzen Drucksache 19/24223 anzunehmen. Drucksache 19/25784 Zweite Beratung Überweisungsvorschlag: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – Keine. Damit lung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union stelle ich fest, dass der Gesetzentwurf der Bundesregie- rung einstimmig angenommen wurde. ZP 8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wieland Schinnenburg, Christine Tagesordnungspunkt 26 b: Aschenberg-Dugnus, Michael Theurer, wei- Beratung der Beschlussempfehlung und des (B) terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Berichts des Ausschusses für Recht und Verbrau- (D) Patientensicherheit bei Aligner-Behand- cherschutz (6. Ausschuss) lungen durchsetzen zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- fassungsgericht 2 BvE 9/20 Drucksache 19/25668 Drucksache 19/25828 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Der Ausschuss empfiehlt, in dem Streitverfahren eine Ausschuss für Wirtschaft und Energie Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, b) Beratung des Antrags der Abgeordneten eine Prozessbevollmächtigte oder einen Prozessbevoll- Carl-Julius Cronenberg, Michael Theurer, mächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschluss- Johannes Vogel (Olpe), weiterer Abgeordne- empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – ter und der Fraktion der FDP Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktion der AfD mit den Stimmen der übrigen Fraktio- Unabhängigkeit der Mindestlohnkommis- nen des Hauses angenommen. sion garantieren, Subsidiarität achten Zusatzpunkt 9 a: Drucksache 19/25793 Beratung der Beschlussempfehlung und des Überweisungsvorschlag: Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert Kleinwächter, René Springer, Siegbert Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Droese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Verfahren ohne Debatte. der AfD Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu päischen Parlaments und des Rates über ange- überweisen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – messene Mindestlöhne in der Europäischen Das sehe ich nicht. Dann verfahren wir wie vorgeschla- Union KOM(2020) 682 endg.; Ratsdok.-Nr. gen. 12477/20 Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b sowie hier: Begründete Stellungnahme gemäß Arti- Zusatzpunkte 9 a und 9 b auf. Es handelt sich um die kel 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus- Lissabon (Grundsätze der Subsidiarität und sprache vorgesehen ist. der Verhältnismäßigkeit) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25685

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Unvereinbarkeit des Richtlinienentwurfs des Doch so tief der Schock über die Vorfälle auch sitzt: (C) Europäischen Parlaments und des Rates über Diese Vorfälle kamen nicht überraschend. Donald Trump angemessene Mindestlöhne in der Europä- hat die demokratische Entscheidung der amerikanischen ischen Union mit dem Subsidiaritätsprinzip Wählerinnen und Wähler missachtet, und er hat demo- Drucksachen 19/25307, 19/25864 kratische Spielregeln mit Füßen getreten, gerade in den letzten Wochen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 19/25864, den Antrag der Fraktion Ein großartiges Amerika, das in der Welt respektiert der AfD auf Drucksache 19/25307 abzulehnen. Wer wird, hatte er, als er gewählt wurde, seinen Anhängern stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt versprochen. Die Reaktionen aus Peking und Moskau auf dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Be- die Ausschreitungen in Washington, die Schadenfreude schlussempfehlung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion in Teheran, Caracas oder Pjöngjang sprechen auf mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses schmerzhafte Weise für sich. Sie zeigen, was daraus angenommen. geworden ist. Sie zeigen, welchen Bärendienst Rechts- populisten ihren Ländern erweisen und welche Gefahr Zusatzpunkt 9 b: für die Demokratie von ihnen ausgeht. Beratung der Beschlussempfehlung und des (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Berichts des Ausschusses für Recht und Verbrau- Theurer [FDP]) cherschutz (6. Ausschuss) Es wird der neuen US-Regierung unter Präsident Biden zu den Streitverfahren vor dem Bundesverfas- und Vizepräsidentin Harris viel Kraft abverlangen, das sungsgericht 2 BvR 2216/20 und 2 BvR Vertrauen in die amerikanischen Institutionen wiederher- 2217/20 zustellen. Drucksache 19/25829 Zugleich gilt aber auch: Die amerikanische Demokra- Der Ausschuss empfiehlt, den Streitverfahren beizu- tie und ihre berühmten Checks and Balances haben den treten, in der Hauptsache eine Stellungnahme abzugeben Angriffen standgehalten. Noch in der Nacht nach dem sowie den Präsidenten zu bitten, eine Prozessbevoll- Sturm auf das Kapitol hat der Kongress Joe Biden als mächtigte oder einen Prozessbevollmächtigten zu bestel- legitimen Sieger der Präsidentschaftswahl bestätigt. Des- len. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer halb wäre es völlig falsch, jetzt selbstgerecht über die stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese USA zu urteilen. Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der AfD-Frak- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) tion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses NEN]: Marshallplan!) (D) angenommen. Die gesellschaftliche Spaltung, die es dort gibt, sehen Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 10 auf: wir nicht nur dort, sondern längst auf beiden Seiten des Aktuelle Stunde Atlantiks. Auch wir in Deutschland mussten erleben, wie aus hetzerischen Worten hasserfüllte Taten wurden: in auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und Halle, Kassel, Hanau und vor einigen Wochen hier, auf SPD den Stufen des Reichstages. Nach dem Sturm auf das US-Kapitol – Strate- Meine Damen und Herren, in einer Zeit der Groß- gien zur Stärkung von Demokratie und mächterivalität brauchen Deutschland und Europa eine Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und der starke handlungsfähige und weltzugewandte amerikani- Welt sche Demokratie. Deshalb müssen wir gemeinsam den Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Platz- Schulterschluss aller Demokraten gegen die Feinde der wechsel zügig vorzunehmen. Demokratie suchen, innerhalb unserer eigenen Gesell- schaften, aber auch darüber hinaus, weltweit. Dieser Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Schulterschluss beginnt damit, die Urheber solcher Ent- ner Herrn Bundesminister Heiko Maas für die Bundesre- gleisungen zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu zählen die gierung das Wort. gewalttätigen Randalierer, und dazu zählen auch ihre (Beifall bei der SPD) Anstifter. Wer hetzt, trägt Verantwortung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: der CDU/CSU und der FDP) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Meine Damen und Herren, es steht mir nicht zu, die Angriff auf die Herzkammer der amerikanischen Demo- Einleitung eines zweiten Impeachment-Verfahrens gegen kratie, das Kapitol, hat auch viele von uns ins Herz Präsident Trump zu bewerten. Letztlich ist es aber nichts getroffen. Schließlich verdanken wir Deutschen unsere anderes als der Ausdruck des amerikanischen Bedürfnis- Demokratie nach 1945 auf ganz besondere Weise dem ses, die Beschädigung ihrer demokratischen Institutionen großen Einsatz der USA. Das dürfen und das werden nicht folgenlos zu lassen. Dabei – auch das muss klar wir nicht vergessen. sein – kann die juristische Aufarbeitung natürlich nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein erster Schritt sein für das, worum es in den USA in der CDU/CSU und des Abg. Alexander Graf der nächsten Zeit ganz besonders gehen wird, nämlich die Lambsdorff [FDP]) gesellschaftliche Aussöhnung. 25686 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Bundesminister Heiko Maas (A) Dass Politiker wie Donald Trump und seine Unterstüt- Dr. Gottfried Curio (AfD): (C) zer jahrelang ungebremst manipulieren und hetzen konn- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ten, ist auch das Resultat einer völlig veränderten Kom- ren! Alle Gesetzwidrigkeiten bei den Vorgängen am munikations- und Medienlandschaft. Soziale Netzwerke Kapitol gehören streng bestraft. Die politische Auseinan- tragen heute große Verantwortung für das Funktionieren dersetzung ist ausschließlich mit friedlichen demokrati- unserer Demokratie. Deshalb dürfen wir die Antwort auf schen Mitteln zu führen. Aber was für ein Schauspiel! In die Frage, wie wir Hetze im Netz eindämmen und wo wir den USA eskaliert eine Demonstration, und in Deutsch- die Linie zwischen Meinungsäußerung und Hassrede zie- land beeilt man sich, festzustellen, dass hier ein ähnlicher hen, nicht allein den CEOs im Silicon Valley überlassen. Mob agiert. Gut, dass wir in Deutschland eben keinen vergleichbaren Vorfall, etwa vor dem Reichstag, hatten. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ursula Während im Kapitol ein Haufen stundenlang wütete, ver- Groden-Kranich [CDU/CSU]) lief sich hier die Truppe mit ihren Treppenselfies binnen Dafür braucht es klare rechtsstaatliche Vorgaben. Vor Minuten – kein Eindringen, keine Verletzten, keine Sach- allem ein nicht unerheblicher Teil unseres Landes, auch beschädigung, drei Polizisten genügten. auf der politischen Bühne und in diesem Haus, hat das bis (Zuruf des Abg. [SPD]) heute nicht verstanden. Wohin diese Uneinsichtigkeit führt, zeigt auch der Blick auf die Gewalt in Washington. Aber man zieht einen schamlos falschen Sachvergleich, um mit Schreckensbildern aus den USA die deutsche Deutschlands Regeln für Plattformbetreiber stellen Bevölkerung gegen Kritiker der Regierungspolitik auf- klar: Die Meinungsfreiheit schützt ganz besonders zuwiegeln. Ansichten, die der eigenen entgegentreten und die uns möglicherweise nicht gefallen. Aber sie endet genau (Timon Gremmels [SPD]: Sie sind doch die dort, wo strafbare Bedrohung und Hetze beginnen, auch Aufwiegler!) in den sozialen Netzwerken. Mit dem Digital Services Das ist Hass, das ist Hetze gegen demokratische opposi- Act gehen wir in der EU in den kommenden Monaten tionelle Minderheiten. bei diesem Thema weiter voran. (Beifall bei der AfD) Ich bin zuversichtlich, dass wir künftig in Präsident Biden einen starken transatlantischen Partner haben, Warum werden Regierungskritiker diffamiert? Nun, wenn es um die Verteidigung unserer Demokratien indem man sie quasi außerhalb der Meinungsvielfalt geht, und das nicht nur gegen Hetze und Verschwörungs- stellt, will man sie a priori ausgrenzen und damit anzei- theorien im Internet. Joe Biden denkt über ein interna- gen, dass man sich mit der Kritik, etwa an überzogenen (B) tionales Netzwerk der Demokratien nach. Wir haben in Lockdown-Maßnahmen, (D) den letzten drei Jahren vor allem mit unseren französi- (Timon Gremmels [SPD]: Die AfD als Opfer!) schen Freunden mit der Allianz für den Multilateralismus in eine ganz ähnliche Richtung gearbeitet, und diese gar nicht auseinanderzusetzen brauche, da das sowieso Arbeit wollen wir von Tag eins des Amtsantritts der Gedankenverbrecher sind. Nichts möchte die Regierung neuen US-Regierung an gemeinsam fortsetzen. lieber, als dass sich die Opposition radikalisiert. Wo das ausbleibt, fantasiert man sich das einfach herbei, (Beifall bei der SPD) (Zuruf des Abg. Timon Gremmels [SPD]) Meine Damen und Herren, was uns mit der neuen US- wie der bayerische Verbalrambo mit seiner Corona-RAF; Regierung verbindet, ist die feste Überzeugung, dass die denn dann muss man der Opposition nicht mehr mit der Demokratie auch im 21. Jahrhundert die beste und auch Kraft des besseren Arguments begegnen – wo das Eis die menschlichste Staatsform ist und dass eine freie dünn wäre –, sondern kann sich als Ordnungsmacht Gesellschaft gut beraten ist, auf die Stimmen der Ver- gegen Gesetzesbrecher stilisieren. Wer ist da ein Treiber nunft und gerade in Zeiten wie diesen auch auf die der der gesellschaftlichen Spaltung, wer Provokateur der Wissenschaft zu hören. So haben wir – übrigens über den Hysterisierung? Es ist diese Regierung selbst, die ihre Atlantik hinweg – in Rekordzeit Impfstoffe gegen das Vorgaben stets als alternativlos darstellt und Andersden- Coronavirus entwickelt, und darum geht es in diesen kende ausgrenzt. Tagen ganz besonders. So sollte es uns auch gelingen, unsere Demokratien gegen das Virus gesellschaftlicher (Beifall bei der AfD) Spaltung zu immunisieren, nicht nur bei uns, sondern Sollte Trump ein schlechter Verlierer sein, was wäre weit über die Grenzen Europas hinaus. dann von Deutschland zu halten, wo eine Kanzlerin ein Vielen Dank. Wahlergebnis für unverzeihlich erklärt und verkündet, es gehöre rückgängig gemacht? Wer hat da ein gestörtes (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Verhältnis zur Demokratie, meine Damen und Herren? ( [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Wolfgang Kubicki: GRÜNEN]: Sie!) Herzlichen Dank, Herr Minister Maas. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD-Frak- Und was ist davon zu halten, wenn es beim Verfassungs- tion. schutz, einer der Regierung unterstehenden Behörde, laut deren Ex-Chef politischen Druck gab, eine bestimmte (Beifall bei der AfD) Partei unbedingt zu beobachten, wenn man sogar eine Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25687

Dr. Gottfried Curio (A) Pressekonferenz abhält, die hinterher als gesetzwidrig Meinungsvielfalt ist doch Voraussetzung der Demo- (C) eingestuft wurde? Muss sich der Verfassungsschutz viel- kratie. Aber Politik und Medien werden dem Gebot nicht leicht mal selbst beobachten? gerecht, alle Stimmen der Fachwelt einzuholen, alle Meinungen abzubilden. Stattdessen gibt es einseitige, Ja, die Demokratie in Deutschland ist gefährdet. Meh- einzig gültige Vorgaben – ARD und ZDF als Impfzentren rere Landesverfassungsgerichte mussten nach AfD-Kla- des Wahrheitsministeriums. gen das verfassungswidrige Parité-Gesetz gegen den Wil- len seiner Unterstützer Giffey, Barley, Lambrecht, (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- Widmann-Mauz stoppen. Das Bundesverfassungsgericht ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE erkannte, ganz im AfD-Sinne, dass die illegale Staats- GRÜNEN) finanzierung beim EZB-Anleihenkauf grundgesetzwidrig Wenn jemand in Deutschland die Demokratie gefähr- ist. Die Demokratie, die von Sprechfreiheit lebt, ist auch det, dann ist es eine Regierung, die ihr Handeln als alter- in Gefahr, wenn schon die Verwendung einzelner Wörter nativlos ausgibt, die sich der Debatte entziehen und alle sanktioniert werden soll – Volk, Nation –, und wenn der- Gegenstimmen von vornherein diskreditieren will. Des- jenige, der nicht auf Regierungslinie ist, gleich den halb ist die Alternative für Deutschland geradezu ein Zusammenhalt gefährdet, und das, obwohl Meinungs- Schutz der Demokratie in Deutschland. streit und das Ringen um den Weg doch das Wesen der Demokratie ist. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der AfD) (Zuruf des Abg. Timon Gremmels [SPD]) Zunehmend werden abweichende Meinungen mit Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gesellschaftlicher Ächtung, medialer Diffamierung und Vielen Dank, Herr Kollege Curio. – Liebe Kolleginnen Jobverlust abgestraft. Wer nicht mitspielt bei den Umbau- und Kollegen, ich darf darauf hinweisen, dass Zwischen- plänen der Regierung für dieses Land, wird bekämpft, rufe das parlamentarische Geschäft beleben. Wenn Sie, gesperrt, gelöscht. Auch der vorpolitische Raum wird Herr Kollege Gremmels, allerdings eine relativ dichte auf Linie gebracht, von der Schriftstellerin bis zum Kaba- Maske tragen, dann kommt hier von Ihren Zwischenrufen rettisten. Eine Mehrheit der Deutschen hält sich laut außer einer großen Lautstärke relativ wenig an. Umfrage mit der eigenen Meinung inzwischen lieber zu- (Lachen bei der AfD) rück, anstatt offen zu sagen, was man denkt; denn was stört, wird zur Nichtmeinung erklärt, als Hass deklariert, Nehmen Sie sich ein Beispiel am Kollegen Theurer. Er dem Grundrechtsschutz entzogen. hat beim Zwischenruf die Maske mal kurz abgenommen (B) und sie dann wieder aufgesetzt. So haben wir ihn wenigs- (D) (Timon Gremmels [SPD]: Die AfD stilisiert tens verstanden. sich als Opfer! Mein Gott!) Nächster Redner ist der Kollege Dr. , Man legt eine offizielle Wahrheit fest, nennt Zweifel CDU/CSU-Fraktion. daran Hetze und Verschwörung, will so eben doch Mein- (Beifall bei der CDU/CSU) ungen verbieten. Der eigentliche Angriff auf die Demokratie ist die Dr. Johann David Wadephul (CDU/CSU): Instrumentalisierung der Ausschreitungen im Kapitol, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- um eine flächendeckende Zensur zu etablieren. Die ren! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Löschorgien im Netz trommeln täglich zum Marsch in ungeheuerlichen Ereignisse in Washington auch uns eine den digitalen Totalitarismus. Man will alle Kritiker zum erneute Mahnung sein sollten, dass unsere Demokratie zu Schweigen bringen – eine Bücherverbrennung von gigan- verteidigen ist, dann hat der Kollege Curio genau diesen tischem Ausmaß, meine Damen und Herren. Beweis geliefert. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels [SPD]: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Das ist doch kein historischer Vergleich! ordneten der FDP) Bücherverbrennung? Nehmen Sie das zurück! Unglaublich!) Ich sage Ihnen, Herr Curio: Wir haben aus der Vergan- genheit gelernt. Wehret den Anfängen! Sie drehen die Dabei gefährden diejenigen den Rechtsstaat, die eklatan- Dinge hier um. te Grundrechtsverletzungen ohne wirkliche Abwägung der Angemessenheit anordnen. Diejenigen gefährden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der die Demokratie, die meinen, die Bevölkerung täuschen SPD und der FDP) zu können und ihr bei Gelegenheit einer Gesundheits- Was Herr Gauland angekündigt hat – „wir werden sie krise mal eben eine Haftungs- und Finanzunion unterju- jagen“ –, ist genau das, was Sie machen. Das ist eine beln zu können Diffamierung des demokratischen Rechtsstaates, und das werden wir hier in Deutschland nicht mehr zulassen. ( [SPD]: Der Vergleich mit 1933 ist Darauf können Sie sich verlassen. widerlich!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem oder die Beraubung in dreistelliger Milliardenhöhe durch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- einen vermeintlichen Wiederaufbaufonds. ordneten der FDP und der LINKEN) 25688 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dr. Johann David Wadephul (A) Die Vorgänge in Washington hier verharmlosend dar- Peking und in Moskau auf die Schenkel klopfen und sich (C) zustellen, indem man sagt, da sei eine Demonstration darüber freuen, dass demokratische, freiheitliche Staaten eskaliert – das hätte Präsident Trump nicht besser sagen in Schwierigkeiten sind. Nein, wir müssen uns jetzt unter- können, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. haken und zusammenarbeiten. (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Er selbst – viele in Amerika sehen das mittlerweile als Jürgen Braun [AfD]: Peking freut sich über den Versuch eines Staatsstreichs an – hat sie losgeschickt. Biden! Die jubeln in Peking!) Er selbst hat ihnen den Auftrag gegeben, Richtung Kapi- Dann ist auch im Klimaschutz mehr möglich; das ist tol zu marschieren. Das muss man sich vorstellen: Das wichtig. Biden hat dazu angekündigt, er werde extra Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten von Amerika hat einen Beauftragten ernennen, nämlich John Kerry, den den Mob aufgerufen, die Herzkammer der Demokratie früheren Außenminister. Das ist ein Schwergewicht. anzugreifen. – So war es, und das lassen wir von Ihnen Das heißt, das ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. hier auch nicht anders darstellen. Wir dürfen uns aber die Themen nicht aussuchen und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem nicht nur die nehmen, die wir schön finden. Auch die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- gemeinsame Sicherheitspolitik ist wichtig. Deutschland ordneten der FDP) muss seine Beiträge zur Lastenteilung in der NATO leis- ten. Ich will jetzt nicht wieder mit den 2 Prozent anfan- Das muss uns Anlass sein, hier und auch international gen, aber es gehört dazu, dass wir hier auch in Zeiten der aufmerksam zu sein und die Zusammenarbeit mit den Coronaepidemie unsere Hausaufgaben machen und eine Vereinigten Staaten von Amerika und natürlich auch – aktive Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreiben. das hat Außenminister Maas gerade eben vollkommen Überall dort werden wir gemeinsam gebraucht. Wir müs- richtig gesagt – mit der neuen Biden-Administration zu sen daneben eine gemeinsame China-Politik mit den suchen. USA formulieren, und wir haben die Chance, wieder (Jürgen Braun [AfD]: Auch mit Kamala Har- eine gemeinsame Iran-Politik zu formulieren. ris?) Das sind sehr viele große internationale außenpoliti- – Auch mit Kamala Harris, selbstverständlich. sche Aufgaben. Lassen Sie uns gemeinsam diese Chance (Lachen bei Abgeordneten der AfD) nutzen, mit dieser neuen Administration voranzugehen. – Ich freue mich darüber, dass sie gewählt worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) der CDU/CSU und der SPD) Abschließend: Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten wir uns bitte keinen Antiamerikanismus. Ame- Wenn Sie an dieser Stelle eine abweichende Meinung rika ist ein vielfältiges Land. Es gibt manches, was ich vertreten, ist das auch bezeichnend, und ich warte auf nicht gut finde, aber gerade in diesen Tagen sage ich Ihre Begründung. einmal der linken Seite des Hauses: Joan Baez ist gerade Ich will nur darauf hinweisen: Das soll kein Anlass für 80 Jahre alt geworden. Das ist auch Amerika. uns sein, uns zurückzulehnen und zu meinen, nun läuft Es ist also ein tolles Land, es ist ein vielfältiges Land, alles von alleine; jetzt haben wir eine neue Administra- es steht an unserer Seite, und wir sollten aktiv auf diese tion, und alles wird wieder gut. – Nein, die neue Admi- USA zugehen. nistration – Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris – wird sich sehr auf die Innenpolitik konzentrieren müssen. Herzlichen Dank. Trump hat in Amerika nicht nur sozusagen den demo- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kratischen Rechtsstaat, sondern durch eine Vernachlässi- gung der Coronaepidemie auch das gesamte Staatsgefüge Vizepräsident in : in große Gefahr gebracht. Das heißt, die Vereinigten Staa- ten von Amerika brauchen jetzt Partner. Wir, Europa und Vielen Dank, Dr. Johann Wadephul. – Einen schönen Deutschland in Europa, müssen jetzt Freunde und Partner Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir dieser neuen Administration und dieses Amerikas sein, Ihnen. Für die FDP-Fraktion redet Alexander Graf mit dem wir jahrzehntelang erfolgreich zusammengear- Lambsdorff. beitet haben und dem wir so viel zu verdanken haben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Alexander Graf Lambsdorff (FDP): Deswegen müssen wir aber nicht alles richtig finden, was Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was die amerikanische Sicht der Dinge ist. waren das für schreckliche Bilder! Verschwörungsfana- Heute hat der Außenminister Pompeo als einzige Aus- tiker, Neonazis, Demokratiefeinde, Wissenschaftsleug- sage noch einmal „America First“ gepostet. Wir wissen ner, Rassisten erstürmen das Parlament. Fahnen rechts- aber: Die neue Administration denkt anders. Sie denkt extremer Organisationen waren zu sehen, auch viele transatlantisch; sie ist bereit zur Partnerschaft. Sie hat Abzeichen und Symbole verfassungsfeindlicher Gruppie- natürlich eigene Interessen, aber jetzt müssen Deutsch- rungen. Die Polizei in der Hauptstadt war kaum darauf land und Europa bereit sein, sich unterzuhaken. Es darf vorbereitet und tat ihr Bestes, den Ansturm zurückzu- doch nicht das Ergebnis sein, dass sich die Machthaber in schlagen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25689

Alexander Graf Lambsdorff (A) Und im Parlament? Einige Abgeordnete mischten sich Der Historiker Timothy Snyder hat das letztes Wochen- (C) unter die Gewalttäter, nahmen sogar an der Demonstra- ende in der „New York Times“ nachgezeichnet: Durch tion teil, von der die Gewalt ausging, Gewalt, die darauf jahrelange kleine und größere Lügen hat Donald Trump abzielte, die Freiheit, die Verfassung und die Demokratie es geschafft, dass seine Anhänger ihm auch seine ganz zu untergraben, ja, zu zerstören. Schreckliche Bilder, in großen Lügen abgenommen haben. der Tat! Seine Gegnerin von vor vier Jahren, Hillary Clinton, Meine Damen und Herren, ich rede über den verleumdete er als Rechtsbrecherin. „Lock her up!“ 29. August 2020 hier in Berlin. Ich rede über den – (Beatrix von Storch [AfD]: Ist ja unerhört!) dank unserer Polizei – glücklicherweise gescheiterten Versuch, in den Bundestag einzudringen. „Sperrt sie ein“, war der Slogan auf seinen Wahlkampf- veranstaltungen. (Zurufe von der AfD) (Beatrix von Storch [AfD]: Unerhört! Der muss Ich rede über die Demokratiefeinde in diesem Parlament. gesperrt werden! Das darf er nicht sagen!) Es wäre nämlich ganz falsch, wenn wir uns von den Und es gibt eine direkte Linie von „Lock her up“ zu „Stop Bildern in Washington abwenden und glauben würden, the steal“. sie beträfen uns nicht auch, und zwar ganz direkt. (Beatrix von Storch [AfD]: „Stop the steal“! (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, Um Gottes willen!) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auftritt für Auftritt, Lüge für Lüge, Tweet für Tweet behauptete er, die Präsidentschaftswahl gar nicht verloren Keine Partei ist den QAnon-Lügen, den Hawleys, zu haben, nein, Joe Biden habe die Wahl gestohlen. Gosars und Cruzes näher als die AfD. Paradoxerweise All das war keineswegs spontan. Das war nicht naiv; ist zugleich keine Partei so antiamerikanisch wie unsere das ist kein Zufall. Donald Trump folgte einem Dreh- Rechtsextremen hier und bewundert, wie Donald Trump buch, dem Drehbuch der Autokraten Orban, Kaczynski, auch, nicht etwa naiver-, sondern gefährlicherweise die Putin oder Erdogan. Autokraten der Welt, ganz gleich, ob Sie sie nun in Mos- kau oder Damaskus finden. Vielleicht will Herr Chrupalla (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten demnächst einmal nach Minsk; da kann er noch etwas des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – lernen. Norbert Kleinwächter [AfD]: Ich weiß ja nicht, welche Vorstellungen Sie haben, aber das glau- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten be ich nicht!) (B) der CDU/CSU) (D) Trump erklärte demokratische Wettbewerber zu Fein- Meine Damen und Herren, was am 29. August 2020 den des Volkes, hetzte gegen Minderheiten im eigenen hier geschah, war von der Anlage her das Gleiche wie der Land, Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar. (Beatrix von Storch [AfD]: Autokraten machen (Jürgen Braun [AfD]: Wo leben Sie denn? Ihr andere Leute mundtot! Twitter ist ein Auto- Vater würde sich schämen für Sie!) krat!) Ich weiß, der eine oder andere mag sagen: Solche Ver- fabulierte von einer ständigen Bedrohung aus dem Aus- gleiche sind schwierig. – Ich sage: Ein Vergleich ist keine land, besonders durch Zuwanderer, konstruierte angeb- Gleichsetzung, aber die Parallelen liegen auf der Hand. lich globalistische Eliten und korrupte Medien, die dem Eine große Gruppe von Menschen, die jahrelang von Volk die Wahrheit verschweigen. Dann stilisierten er und Freiheitsfeinden, Antidemokraten und ihren publizisti- seine publizistischen Alliierten bei „Fox News“ sich zu schen Büchsenspannern mit Lügen in die Irre geführt den Einzigen, die noch die Wahrheit sagen und das Volk wurden, schreitet unter Führung zynischer Rädelsführer beschützen könnten. und gewaltbereiter Gruppen zur Tat, zum versuchten und (Norbert Kleinwächter [AfD]: Das ist ja wie teilweise vollendeten Verbrechen gegen Freiheit, Rechts- bei Merkel! Alternativlos!) staat und Demokratie. Das ist zwar alles vollkommen falsch, aber wer sich die (Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP]) Publizistik der Neuen Rechten in Deutschland anschaut, sieht die Parallelen sofort. Die Ereignisse von Berlin wie von Washington waren das Ergebnis eines jahrelangen Angriffs auf die Wahrheit, (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD eines Angriffs auf Fakten und Vernunft, auf Wissenschaft und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Logik. Es ist die Philosophie eines antidemokratischen Rechts- (Beifall bei der FDP) populismus. Es ist die Philosophie des völkischen Auto- ritarismus. Es ist die Wurzel der Diktatur, und wir müssen Schon Hannah Arendt hat das beschrieben: Die Zerstö- diese Wurzel ausreißen, denn sie führt zu Gewalt, Leid rung des Wissens um das, was richtig ist, was Fakten und Tot. sind, schafft die Voraussetzung für totalitäre Regime. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (Jürgen Braun [AfD]: Was wissen Sie schon und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie von Hannah Arendt?) bei Abgeordneten der LINKEN) 25690 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Alexander Graf Lambsdorff (A) Meine Damen und Herren, mein persönlicher Held der Vizepräsident in Claudia Roth: (C) letzten Wochen ist der republikanische Wahlleiter des Vielen Dank, Alexander Graf Lambsdorff. – Nächste Bundesstaates Georgia, Gabriel Sterling, der immer wie- Rednerin: für die Fraktion Die Linke Petra Pau. der darauf hinwies, dass Worte Konsequenzen haben, dass das Verhalten und die Lügen von Trump und seinen (Beifall bei der LINKEN) Anhängern dazu führen, dass geschossen werden wird, dass Menschen sterben werden. Aus Worten werden Petra Pau (DIE LINKE): Taten. – Er sollte recht behalten. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Es waren schlimme Bilder aus den (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der USA, als am 6. Januar dieses Jahres ein wütender Mob SPD) in Washington das Kapitol stürmte – furchtbar, weil es Aber glücklicherweise hatte er auch in einer anderen nicht schlechthin Randale war, sondern eine gewalttätige Hinsicht recht. Die demokratischen Institutionen der Ver- Attacke gegen die parlamentarische Demokratie. Das einigten Staaten von Amerika waren stärker als ihre Fein- lehnen Linke ab, allemal, wenn sie sich wie wir, wie ich de. Gerade in Georgia wurde das klar. Ein Staat mit einem für Bürgerinnenrechte und Demokratie engagieren. republikanischen Gouverneur, einem republikanischen Innenminister, einem republikanischen Wahlleiter führte (Beifall bei der LINKEN) die Wahl seiner beiden Senatoren rechtsstaatlich, demo- Ja, der US-Präsident Trump hatte dazu ein gerüttelt kratisch und korrekt durch. Das Ergebnis kann jeden Maß beigetragen. Deshalb steht er weltweit in der Kritik – Freund und Kenner des amerikanischen Südens nur über- endlich. Aber Trump ist nicht das eigentliche Problem, raschen. Zum ersten Mal wurden ein jüdischer und ein sondern dass zig Millionen US-Bürger seiner abseitigen schwarzer Politiker von den Bürgerinnen und Bürgern Politik folgten und folgen. des Peach State als Senatoren ins Kapitol nach Washing- ton entsandt. (Zuruf von der LINKEN: Richtig! Das ist der Punkt!) (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE Viele der Putschisten ließen schon äußerlich keinen LINKE]) Zweifel aufkommen, dass sie Rassisten, Rechtsextremis- Ich habe lange in den USA gelebt und da studiert und ten, ja Faschisten sind. Daran gemessen war der Polizei- gearbeitet. Damit hätte ich wirklich nicht mehr gerechnet. einsatz gegen sie nahezu entgegenkommend. Das gehört zum Problem, ist aber auch nicht neu. (Beifall bei der FDP) Nun gibt es solche Ausschreitungen nicht nur in den (B) Aber schon vorher, in den Wochen und Monaten davor, USA. Auch anderswo gibt es Ähnliches, auch hier in der (D) haben sich die Wahlbehörden im ganzen Land genau wie Bundesrepublik Deutschland. Deshalb will ich mich jetzt Gerichte den antidemokratischen Umtrieben der Trump- gar nicht länger am Kapitol in Washington festhalten, Anhänger entgegengestellt. Richterinnen und Richter, sondern zu den Fragen dieser Aktuellen Stunde kommen. nicht wenige von Präsident Trump selbst ernannt, haben Was ist zur Stärkung der Demokratie und Rechtsstaatlich- alle Versuche zurückgewiesen, korrekt ermittelte Wahler- keit zu tun? gebnisse gerichtlich wieder zu kassieren. Auch der ame- rikanische Kongress hat nach Unterbrechung durch die Erstens. Man darf diese Entwicklungen nicht kleinre- Aktivisten, durch die Eindringlinge seine Aufgaben ver- den, sondern man muss sie ernsthaft bearbeiten. fassungsgemäß erfüllt und festgestellt: Joe Biden wird (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem der 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident in Claudia Roth: Zur Erinnerung: Vor einigen Monaten hatte Bundesin- nenminister Seehofer eingeräumt, dass der Rechtsextre- Herr Graf Lambsdorff, Sie denken bitte an die Rede- mismus die größte Gefahr für die Demokratie in der zeit. Bundesrepublik Deutschland darstellt. Diese Einsicht kam spät, sie war eine Premiere, aber sie ist zutreffend. Alexander Graf Lambsdorff (FDP): Die Frage ist nur: Was folgt darauf? So gut wie nichts. Es Jawohl. Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und gibt ernsthafte Hinweise, dass es auch in deutschen Herren, nutzen wir die Chance, die die Wahl von Joe Sicherheitsbehörden rechte und rassistische Positionen Biden und Kamala Harris bietet! Setzen wir uns für die gibt, dass diese dort präsent sind. Aber anstatt das ernst- Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft ein! haft aufzuklären und Konsequenzen zu ziehen, wiegelt Kämpfen wir gemeinsam den Kampf gegen die Feinde der Bundesinnenminister weiter ab. Das halte ich für von Frieden, Freiheit und Demokratie! Lassen Sie uns in verantwortungslos. Deutschland, Europa und den USA daran arbeiten, einan- der gute Freunde wo möglich, faire Konkurrenten wo (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- nötig, vor allem aber verlässliche Verbündete für die Frei- NIS 90/DIE GRÜNEN) heit zu sein. Gegen Rechtsextremismus und Rassismus helfen letzt- Herzlichen Dank. lich nur engagierte gesellschaftliche Initiativen vor Ort. Sie brauchen von der Politik hinreichende und dauerhafte (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Unterstützung. Stattdessen werden etliche von ihnen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) infrage gestellt oder selbst als Extremisten verteufelt, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25691

Petra Pau (A) wie zum Beispiel die „Vereinigung der Verfolgten des Aber eine klare Haltung fängt auch an bei den Ver- (C) Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifa- handlungen über den EU-Haushalt. Dass schisten“. Ich halte das für hochgradig kontraproduktiv. gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit so kom- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- promissbereit war, dass seine Partei trotz seiner Angriffe NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- auf diese fundamentalen Prinzipien der Europäischen ten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LIN- Union immer noch Teil der konservativen europäischen KE]: Skandalös ist das!) Parteienfamilie sein darf, ist nicht nur unsäglich, es ist Zweitens weise ich auf tiefer liegende Fehlentwicklun- auch gefährlich. gen hin. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nimmt zu und ebenso die Akzeptanz von Gewalt. Das sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) belegen seit Längerem wissenschaftliche Studien, unter anderem von der Uni Bielefeld, aber nicht nur diese. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Lehre Brandbeschleuniger für diese Entwicklungen, so Profes- der letzten Tage und Jahre ist deshalb auch, dass wir als sor Heitmeyer, ist eine Politik, die neoliberal genannt Demokratinnen und Demokraten eine Verantwortung wird und dominant ist: Das Soziale wird kleingeschrie- haben; denn wir können die Einfallstore für die Faschis- ben und die Demokratie entleert. Darüber müssen wir ten schließen. Unsere Vielfalt und auch die Unterschiede endlich reden. Es muss geredet und gehandelt werden. zwischen den demokratischen Parteien machen uns doch stark: indem wir im fairen Wettbewerb der Argumente die (Beifall bei der LINKEN) besten Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit Das fordere ich, das fordert Die Linke erneut und mit im Sinne des Allgemeinwohls suchen, indem wir trans- Nachdruck. parent arbeiten, auch Fehler zugeben und besser werden, indem wir bei allem leidenschaftlichen Streit anständig (Beifall bei der LINKEN) miteinander umgehen und bei Wahrheit und Fakten blei- ben. Vizepräsident in Claudia Roth: Jetzt schlägt auch die Stunde des Zusammenhaltes und Vielen Dank, Petra Pau. – Nächste Rednerin für die der Zusammenarbeit in einem breiten Bündnis der Demo- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Agnieszka Brugger. kratinnen und Demokraten. Wir müssen sie nutzen, nicht nur über Fraktions-, sondern auch über Ländergrenzen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hinweg! (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidenten! Liebe Kolleginnen und Bei allen Meinungsverschiedenheiten auch mit der neu- Kollegen! Letzte Woche haben faschistische Fanatiker gewählten US-Regierung können wir gemeinsam doch so das Parlament in den USA angegriffen. Sie hatten nicht viel bewegen – mit einem Green New Deal gegen die nur Handschellen, Sprengstoff und Waffen dabei, sie Klimakatastrophe wollten Politikerinnen und Politiker töten und das Ergeb- (Norbert Kleinwächter [AfD]: Ja klar!) nis freier und fairer Wahlen mit Gewalt zerstören. Viel zu spät sind die Sicherheitskräfte eingeschritten. Einzelne und mit globaler Gerechtigkeit beim Krisenmanagement Polizisten haben sogar Selfies mit diesen Verbrechern dieser Pandemie, aber auch bei Rüstungskontrolle, bei gemacht. Fünf Menschen sind tot. Auch wenn sie ihre Digitalisierung und auch im Kampf gegen Rassismus Ziele nicht erreicht haben und die Demokratie sich und bei der internationalen Aufarbeitung von Sklaven- behaupten konnte: Diese Attacke war die Folge einer handel und Kolonialismus. Die Wahl von Joe Biden und langjährigen eiskalten Strategie der Zersetzung und Eska- Kamala Harris bietet enorme Chancen, und die dürfen wir lation, mit der Donald Trump und seine Unterstützer nicht verstreichen lassen. Millionen von Menschen mit Hass, mit übelstem Rassis- mus, mit Lügen und Verschwörungen immer weiter auf- Eine Sache meine ich damit explizit aber nicht. Herr gehetzt haben. Außenminister Maas, ihr Vorschlag von einem „Mar- shallplan für die Demokratie“ in den USA ist geschichts- Und machen wir uns nichts vor: Ähnliche Strategien vergessen und anmaßend, und ich kann einfach nur hof- verfolgt die extreme Rechte auch hier bei uns in Europa. fen, dass das in den USA niemand mitbekommen hat. Die Geschichte hält einen ganz klaren Rat bereit: Mit Faschisten und Rechtsextremisten können wir Demokra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tinnen und Demokraten keine Kompromisse machen, ja, sowie bei Abgeordneten der FDP) wir dürfen es nicht. Gegen die Feinde der Demokratie Liebe Kolleginnen und Kollegen, je düsterer die Bilder muss unsere Haltung glasklar sein, immer und überall! sind, umso heller strahlen die Heldinnen und Helden der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Demokratie: Menschen wie der Polizist Eugene Good- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der man, der ganz alleine zwischen den gewalttätigen Extre- SPD, der FDP und der LINKEN) misten und dem Raum, in dem viele Senatorinnen und Senatoren waren, stand, der sie unter Lebensgefahr mit Wehret den Anfängen! Ja, das gilt auch hier im Bundes- einem gedankenschnellen Täuschungsmanöver von dort tag. weglockte. Er hat im wahrsten Sinne des Wortes die Sätze 25692 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Agnieszka Brugger (A) des Congressman und Bürgerrechtlers John Lewis mit Es ist bestürzend und bezeichnend zugleich, dass Fiona (C) Leben gefüllt – ich zitiere –: „Democracy is not a state. Hill in „Politico“ ganz charakteristische Elemente eines It is an act.“ Putschversuchs analysiert hat, und zwar nicht bezogen auf eine Bananenrepublik in Zentralafrika, sondern auf Diese Sätze sollten uns Verpflichtung sein, Tag für die USA: der Versuch, die Unabhängigkeit der Justiz aus- Tag, im Großen und im Kleinen. Wir müssen unsere zuschalten, der Versuch, Sicherheitskräfte zu instrumen- Demokratie mit maximaler Wachsamkeit und mit der talisieren, der Versuch, Mediendominanz herzustellen, Stärke eines wehrhaften Rechtsstaates verteidigen: der Versuch, traditionelle Institutionen und Parteien bei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seitezuschieben. Aber es bleibt auch festzustellen: Der sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Versuch ist gescheitert. Es ist beim Versuch geblieben, KEN) und die Widerstandsfähigkeit der amerikanischen Demo- kratie hat sich in dieser einmaligen Bewährungsprobe hier bei uns im Bundestag, auf der Straße, aber auch im gezeigt. Alltag, bei den Sicherheitsbehörden, aber auch endlich in den sozialen Netzwerken. Wir dürfen die Regulierung Aber es reicht nicht aus, auf dieses eine Ereignis zu dieser Plattformen nicht dem Gutdünken großer Digital- verweisen; vielmehr müssen wir auch feststellen, dass konzerne überlassen, sondern müssen konsequent und vier Jahre Trump ein einziger Anschlag auf die Demo- hart gegen Hass, Hetze und Verschwörungsideologien kratie in den USA gewesen ist. vorgehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Genauso müssen wir eine vielfältige, eine unabhängige des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und kritische Medienlandschaft stärken. Und lassen Sie Es war der systematische Versuch, Verfassung und Insti- uns nicht vergessen: Für viele Menschen auf der Welt ist tution zu untergraben; gegipfelt hat es dann in der Nicht- Demokratie eine ferne Sehnsucht. Wir schauen mit Be- anerkennung des Wahlergebnisses, von langer Hand vor- wunderung nach Belarus, wo vor allem mutige Frauen für bereitet mit kleinen Lügen, so wie Graf Lambsdorff das Mitbestimmung einstehen. Der Kontrast zu den randa- beschrieben hat. Es ist erschütternd, festzustellen, dass lierenden Faschisten in Washington könnte nicht größer auch in diesem Hause noch im Dezember von Teilen sein. Mutige Zivilgesellschaft wie in Belarus gibt es in der AfD das Wahlergebnis nicht anerkannt worden ist, vielen Staaten der Welt, und wir müssen sie stärker un- terstützen. ( [CDU/CSU]: Ja!) dass Sie hier in diesem Hause die gleiche Rhetorik, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gleiche Lügenrhetorik, die gleiche Lügenpropaganda (B) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- fortsetzen. (D) KEN) (Beatrix von Storch [AfD]: Zweifeln verbo- Für die Demokratie und ihre Werte einzutreten, ist ten!) unsere gemeinsame Verantwortung. Wir müssen dabei nicht immer so krass mutig sein wie Eugene Goodman Das zeigt, wes Geistes Kind Sie sind, und es zeigt, dass oder die Frauen auf den Straßen in Belarus. Aber wir auch wir hier in Deutschland etwas zu verteidigen haben. können uns von ihrem Mut begeistern und inspirieren (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- lassen. Wenn wir zusammenstehen, werden wir immer KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stärker sein als die Feinde der Demokratie. Die Antwort kann deshalb nur sein: Jetzt erst recht und nie wieder. Vier Jahre Trump wären aber nicht möglich gewesen ohne die Helfershelfer in den etablierten Institutionen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN insbesondere in der Republikanischen Partei. David sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Ziblatt und Steven Levitsky haben von der Gatekeeper- KEN und der Abg. Dr. Johann David Wadephul Funktion, der Torwächterfunktion, der Wächterfunktion [CDU/CSU] und Michael Theurer [FDP]) von politischen Parteien gesprochen. 2016 hat die Repub- likanische Partei bei dieser Torwächteraufgabe für die Vizepräsident in Claudia Roth: amerikanische Demokratie versagt, indem sie einen Men- Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Nächster Redner: schen wie Trump zum Kandidaten einer etablierten Partei für die SPD-Fraktion Dr. Nils Schmid. ernannt hat. Die gleiche Republikanische Partei hat im Jahre 1940 – die Lage war für die Amerikaner sicher (Beifall bei der SPD) eine wesentlich schwierigere als im Jahr 2016 – Charles Lindbergh eben nicht zum republikanischen Präsident- schaftskandidaten gemacht, der damals versucht hat, Dr. Nils Schmid (SPD): mit antisemitischen, neonazistischen Parolen anzutreten. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Nein, sie haben sich für einen anderen Vertreter entschie- Herren! Der Sturm einer Meute auf das Kapitol in den, obwohl es in der Partei, wie traditionell üblich, iso- Washington letzte Woche war ein Fanal, ein Fanal, das lationistische Tendenzen gab. uns eindringlich vor Augen führt, wie gefährdet Demo- kratien sind, und zwar nicht nur in Ländern wie der Tür- Dass dies 2016 möglich war und 1940 nicht, zeigt das kei oder Peru, sondern auch in gefestigten Demokratien historische Versagen einer der großen amerikanischen mit langer und stolzer Tradition wie den USA, aber auch Parteien in der jüngeren Geschichte, zeigt, welchen Tief- in Europa. punkt die Republikanische Partei erreicht hat, und es Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25693

Dr. Nils Schmid (A) zeigt auch den Reformbedarf der Republikanischen Par- und unbegründete Löschungen und Shadowbans stattfin- (C) tei und welche Bewährungsprobe das Impeachment-Ver- den, die keiner nachvollziehen kann – natürlich nur bei fahren für die Republikaner im Kongress darstellt. konservativen Accounts – und wo lebenslange Sperrun- gen ausgesprochen werden, wie wir das letzte Woche bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Donald Trump gesehen haben. Deplatforming nennt man CDU/CSU und des Abg. Michael Theurer das offiziell; digitale Zensur nenne ich das. [FDP]) (Beifall bei der AfD) Für uns bedeutet das – ich glaube, das zeichnet die Und viele stehen daneben und applaudieren, wie zum deutsche Demokratie und dieses Parlament aus –, dass Beispiel Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann wir es geschafft haben, die Brandmauer zu den Rechts- von der CDU, die die Sperre Trumps verteidigt hat. Mei- radikalen und Neonazis aufrechtzuerhalten, dass wir es nungsfreiheit, ja, ja, aber die Meinung müsse ja nicht als demokratische Parteien geschafft haben – auch wenn unbedingt veröffentlicht werden. Ähnlich äußerten sich wir in Thüringen ein unerfreuliches Ereignis gesehen Mitarbeiter des ZDF und andere Journalisten – aber gut, haben – in Deutschland die Parole „Nie wieder und kei- bei denen wundert mich wenig. Gerade die Linken, die nen Fußbreit den Neonazis“ aufrechtzuerhalten. Das plötzlich Medienmonopole und private Unternehmen muss in Deutschland, in Europa und selbstverständlich verteidigen, amüsieren mich persönlich besonders: auch in Amerika für die Zukunft gelten. immer so, wie es gerade passt, egal wie absurd es gerade (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des (Beifall bei der AfD) Abg. Michael Theurer [FDP]) Deshalb, liebe Kollegin Brugger, erlauben Sie mir, Schauen wir uns an, was in den USA tatsächlich pas- dass ich Ihre Kritik an der Bezeichnung „Marshallplan siert ist: Die Digitalkonzerne haben bewiesen, dass sie für die Demokratie“ nicht teilen kann; denn es geht ja mächtiger sind als der Präsident der Vereinigten Staaten. nicht darum, dass wir etwa aus Deutschland oder Europa Sie haben nicht nur sein privates Konto gelöscht, sie einen Marshallplan für die Demokratie in den USA vor- haben auch das offizielle Konto des Präsidenten gelöscht. geschlagen hätten, sondern es geht darum, gemeinsam (Ulli Nissen [SPD]: Sehr gut!) mit den Amerikanern Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Welt zu verteidigen, Damit haben die Digitalriesen einen Präzedenzfall geschaffen, für den sich die Unrechtrechtsregime welt- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: weit mit Kusshand bedanken werden; denn scheinbar ist (B) Das war aber nicht das Wesen des Marshall- es jetzt okay, den politischen Gegner stummzuschalten, (D) plans, und das wissen Sie auch!) ihn zum Schweigen zu bringen. so wie es auch Präsident Biden in seinem Wahlprogramm (Beifall bei der AfD) anerkannt hat. Wenn Sie die Agenturmeldung vom letz- ten Wochenende lesen, dann sehen Sie, dass es Heiko Konzerne in den USA machen es vor, und die sogenann- Maas genau darum gegangen ist. Wir wollen gemeinsam ten Demokraten feiern das – es wird sehr schwer, dem- mit unseren europäischen, amerikanischen Freunden und nächst mit dem Finger auf China zu zeigen. Partnern in der ganzen Welt für Demokratie und Men- schenrechte eintreten. Ich glaube, mit Biden haben wir Erstaunlich finde ich die Kritik von Angela Merkel an in der Zukunft einen guten Partner. der Sperre Trumps durch Twitter, die Meinungsfreiheit als Grundrecht von elementarer Bedeutung könne nicht Herzlichen Dank. nach der Maßgabe von Unternehmen eingeschränkt wer- (Beifall bei der SPD) den. Liebe Frau Merkel, haben Sie vergessen, dass es Ihre Regierung war, die das Netzwerkdurchsetzungsgesetz beschlossen hat, Vizepräsident in Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Nils Schmid. – Die nächste Rednerin: (Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Das für die AfD-Fraktion Joana Cotar. haben Sie doch gerade eben selber gefordert!) (Beifall bei der AfD) die damit die Rechtsprechung outgesourct hat und den Plattformen genau die Macht gegeben hat, die Sie jetzt Joana Cotar (AfD): kritisieren? Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Freiheit, Meinungs- (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Dr. Johann freiheit, unser höchstes Gut: auch denen zuzuhören, mit David Wadephul [CDU/CSU]: Merken Sie, denen man nicht übereinstimmt, ihnen die Meinung nicht dass Sie sich gerade selber widersprechen?) zu verbieten, sie nicht zu zensieren, sie nicht unter Druck zu setzen, damit sie schweigen. Das sollte demokrati- Sie haben die sozialen Netzwerke in Deutschland zu scher Konsens aller sein. Anklägern, Richtern und Henkern gemacht. Twitter hat also nur das umgesetzt, was Sie wollten. Und jetzt reden Nur leider ist das nicht so, weder im realen Leben, ausgerechnet Sie von Meinungsfreiheit? Mehr Heuchelei wenn zum Beispiel Wirte bedroht werden, weil sie bereit geht nicht, meine Damen und Herren. sind, ihre Räumlichkeiten an die AfD zu vermieten, noch im Internet, wo Nutzer denunziert werden, willkürliche (Beifall bei der AfD) 25694 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Joana Cotar (A) Aber es wurde ja nicht nur Trump gesperrt. Im Zuge Das, was letzte Woche auf den Internetplattformen pas- (C) dessen startete im Internet eine regelrecht Säuberungs- siert ist, sollte uns alle aufschrecken. Letzte Woche wurde welle: Unzählige Accounts wurden gelöscht. Die Platt- Trump gesperrt. Morgen könnten Sie das sein – oder Sie – form Parler, die in der Apple- und in der Google-Biblio- oder Sie, thek auf Platz eins der Downloadcharts stand, wurde (Timon Gremmels [SPD]: Wir hetzen nicht! – zuerst aus dem App Store entfernt und dann von den Zuruf von der CDU/CSU: Oder Sie!) Amazon-Servern geworfen. Damit hat man Menschen bestraft und in Kollektivhaftung genommen, die mit je nachdem, wie der Wind sich dreht. dem Sturm aufs Kapitol überhaupt nichts zu tun hatten. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Glauben Sie wirklich, eine zerrissene Gesellschaft so zu Es hat einen Grund, warum er gesperrt wurde!) befrieden? Das Gegenteil ist der Fall: Die Menschen sehen sich in ihren Vorwürfen bestätigt, das Misstrauen Lassen Sie uns das verhindern und gemeinsam für die wächst. Demokratie und die Freiheit kämpfen, bevor es zu spät ist, bevor wir keine Stimme mehr haben. (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Wie viel soll man denn noch hetzen dürfen?) Vielen Dank. Und welches Unternehmen, das seine Daten in den (Beifall bei der AfD) Clouds der US-Internetgiganten speichert, kann noch darauf vertrauen, dass sie dort sicher sind, dass sie nicht Vizepräsidentin Claudia Roth: die nächsten sind, die gegen irgendwelche Standards ver- Danke schön, Kollegin Cotar. – Der nächste Redner: stoßen und plötzlich vor dem Nichts stehen? Digitale für die CDU/CSU-Fraktion Jürgen Hardt. Souveränität wäre jetzt prima, aber da hat die Regierung leider Jahrzehnte gepennt. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, es kann und darf nicht die Jürgen Hardt (CDU/CSU): Aufgabe von digitalen Plattformen sein, die Grenzen der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meinungsfreiheit zu definieren, sie dürfen nicht bestim- Ich weise aufs Schärfste zurück, wie hier gerade der Ver- men, wie Diskurse geführt werden. such unternommen wurde, Täter zu Opfer zu stilisieren. (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Aber Sie auch (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem nicht!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Wir können und wir dürfen unsere Demokratie nicht in ordneten der FDP und der LINKEN) (B) die Hände von Techoligarchen legen, die ihre marktbe- Ich komme zu einem Punkt, den ich ergänzend zu dem, (D) herrschende Stellung dann ausnutzen. Auch das muss was viele der Vorredner bereits angesprochen haben, eine Lehre der Ereignisse der letzten Woche sein. ansprechen möchte: Das ist das laufende Impeachment- (Beifall bei der AfD) Verfahren gegen Präsident Trump. Es gibt eine Diskus- sion darüber, ob es klug ist, in der gegenwärtigen Situa- Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Er ist dafür zuständig, tion dieses Impeachment tatsächlich zu starten. Ich sage auf solchen Machtmissbrauch zu reagieren. Die Plattfor- ganz klar: Aus meiner Sicht, aus meiner Kenntnis der men müssen reguliert werden. Wir brauchen mehr Trans- Dinge ist es absolut gerechtfertigt, dass das Abgeordne- parenz, ein Nutzerbeschwerdesystem. Die Meinungs- tenhaus heute diesen Weg eingeschlagen hat. freiheit muss gewahrt werden. Notfalls ermöglicht uns das Kartellrecht wettbewerbsrechtliche Schritte, um die Ich kann mich jetzt nicht erinnern – weder in Bezug auf marktbeherrschende Stellung der Techgiganten zu been- meine Lebenszeit noch auf die der Geschichte der Verei- den. nigten Staaten von Amerika –, dass eine Handlung eines Präsidenten jemals Impeachment-würdiger gewesen (Beifall bei der AfD) wäre als das, was wir erlebt haben. Wir sollten die Netzwerke dringend daran erinnern, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der dass sie keine Medien sind; sie sind Plattformen, die SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE neutral sein müssen. Sie sollen keine Meinung machen; GRÜNEN) sie sind ein Instrument des Meinungsaustausches. Wenn sie Medien sein wollen, wenn sie redigieren und soge- Er hat – bis zum heutigen Tag – ein Wahlergebnis als nannte Faktenchecker kommentieren und Meinung gefälscht bezeichnet, das mit über 60 Gerichtsurteilen machen, dann sollen sie auch wie Medien behandelt wer- als absolut korrekt festgestellt wurde. Er hat versucht, den. Aber dann sind sie auch für das verantwortlich, was seinen Vizepräsidenten – in seiner Rolle als Vorsitzender die User in ihnen schreiben, dann sind sie dafür auch des Senats – zu nötigen, die Verfassung der Vereinigten haftbar, und das wird teuer. Staaten zu verdrehen und die Abstimmung über die Fest- stellung der Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses zu ver- (Beifall bei der AfD) hindern. Er hat damit glücklicherweise keinen Erfolg Meine Damen und Herren, es ist völlig egal, wie man gehabt. Er hat seine Anhänger aufgefordert, zum Kon- zu Donald Trump steht. gress zu marschieren. Ich glaube, das sind Dinge, die in jedem demokratischen rechtsstaatlichen Land dieser Erde (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Nein, ist nicht politisch und rechtlich schwerwiegende Konsequenzen egal! Überhaupt nicht egal!) haben, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25695

Jürgen Hardt (A) (Zuruf von der AfD: Und in Thüringen?) Flut von Falschinformationen oder dieser Populismus (C) und ich bin sehr gespannt darauf, was dem folgt. bei uns in Deutschland greifen kann, dann sollten wir sehr aufpassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deswegen glaube ich auch, dass wir keinen Marshall- der SPD) plan brauchen, um die Demokratie in Amerika zu stärken. Ich fand bei dem Sturm aufs Kapitol das Verhalten der Wir brauchen gemeinsame Anstrengungen, es weltweit Stürmenden auch insofern irritierend, dass sie offensicht- zu tun. Wir als Deutsche sollten im Übrigen unsere Haus- lich gar nicht auf die Idee kamen, dass sie eines Tages aufgaben machen. Wir sollten zu unseren Versprechen jemand für das, was sie da tun, zur Rechenschaft ziehen stehen. Münchner Sicherheitskonferenz: Deutschland ist könnte. Auch das ist – Kollege Schmid hat es angespro- bereit, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen. chen – ein Merkmal von Putschisten: Man hält sein Wales-Gipfel der NATO von 2014: Wir sind bereit, mehr Gesicht in die Kamera, weil man damit rechnet oder für Verteidigung auszugeben. Ich erinnere auch unsere darauf setzt, dass man eines Tages ein Denkmal in seiner Bereitschaft, in der Handelsfrage enger mit Amerika Heimatstadt dafür gebaut bekommt. In Wirklichkeit hat zusammenzuarbeiten. All das sollten wir erfüllen. Dann der Staatsanwalt leichte Hand und kann die Täter dingfest sehe ich einer guten, einer sehr gedeihlichen Zusammen- machen. Das zeigt, welch Grad der Gehirnwäsche in den arbeit zwischen der Europäischen Union und dem Köpfen derer eingesetzt hat, die diesem Aufruf Trumps Weißen Haus und zwischen Deutschland und dem gefolgt sind und das Kapitol besetzt haben. Weißen Haus in vielen Fragen entgegen, und darauf freue Gott sei Dank haben der Sicherheitsdienst, die Polizei ich mich. des Kongresses, und die Polizei des Districts of Columbia In diesem Sinne: Herzlichen Dank. und die herbeigerufene Unterstützung aus Virginia (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- besonnen gehandelt; denn bei denen, die das Kapitol ordneten der SPD) gestürmt hätten, sind wohl viele dabei, die im Zweifel jeden Hühnerdieb, der sich widerrechtlich auf ihrem Grundstück aufhalten würde, mit der Pumpgun über den Vizepräsidentin Claudia Roth: Haufen geschossen hätten. Wenn die Kongresspolizei in Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Der nächste Redner: für dieser Art und Weise, wie man das im Mittleren Westen die SPD-Fraktion Thomas Hitschler. unter Trump-Anhängern im Zweifel gut findet, so gehan- (Beifall bei der SPD) delt hätte, dann wäre es zu einem schwerwiegenden Blut- bad gekommen. Ich bin froh – trotz aller Kritik an dem, was dort auch seitens der Sicherheit passiert ist –, dass Thomas Hitschler (SPD): (B) das nicht passiert ist und dass die Sitzung des Kongresses Hochgeschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen (D) tatsächlich dann mit circa vier Stunden Verspätung ord- und Kollegen! Die Bilder aus den USA in der vergange- nungsgemäß fortgesetzt werden konnte. nen Woche haben die große Mehrheit von uns geschockt. Historisch konnten wir uns immer auf die USA als Hort (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Hüterin der Demokratie verlassen; dieses Verständ- der SPD) nis war einer der Grundpfeiler der Nachkriegsordnung. Die Frage ist, ob uns in Deutschland und Europa so Genau deswegen waren die Bilder vom Capitol Hill so etwas auch passieren kann. Ich warne davor, leichtfertig grauenvoll: weil sie auch unser Selbstverständnis ange- zu behaupten, dass wir davor gefeit seien. Wir haben es griffen haben. Auch unsere liberale Demokratie, die gera- im August hier erlebt. Ich fand es übrigens interessant, de so viel leistet, aber auch so viel aushalten muss bei der wie der Kollege der AfD jetzt diejenigen, die hier ver- Bewältigung der Generationenaufgabe Corona, wird von sucht haben, den Reichstag zu stürmen, vereinnahmt hat den Angreifern infrage gestellt. Wir sind mit dem Gedan- als Anhänger seiner Partei. ken konfrontiert, welche Konsequenzen der Putschver- such von Washington für unsere Demokratie hat, und (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Waren ja mit- ich frage bewusst nicht laut, ob diese Tat hierzulande tendrin!) Nachahmer finden wird. Da gibt es ja noch eine Diskussion drüber: Der ein oder Wir alle haben mitbekommen, wie im August ein Mob andere behauptet ja, das hätte mit der AfD nichts zu tun. versucht hat, das Reichstagsgebäude zu stürmen, oder Aber hier ist das Bekenntnis offensichtlich ganz eindeu- wie im November Störer ins Haus geschleust wurden, tig. die dann versucht haben, Abgeordnete von einer Abstim- Ich glaube, dass wir in Deutschland ein vielleicht mung abzuhalten. Die beiden Gruppen, die hier bei uns geeigneteres Wahlsystem haben, um solche Entwicklun- und in den USA für die Angriffe verantwortlich sind, gen in der Demokratie besser aufzufangen: durch unser verbindet bei allen Unterschieden ein gespaltenes Ver- proportionales System und durch unsere Vielparteiende- hältnis zur Wahrheit. mokratie. Die Gegner der Demokratie werden immer versuchen, Ich glaube aber, dass wir nicht erst in der Coronakrise, Zweifel zu schüren, um die Wahrheit ein klein wenig sondern zum Beispiel bereits in der Debatte um das Han- infrage zu stellen. Der US-amerikanische Historiker delsabkommen TTIP erlebt haben, dass Falschinforma- Timothy Snyder schreibt dazu in seinem Buch „Über tionen, die in sozialen Netzwerken verbreitet wurden, die Tyrannei“, dass, wenn nichts wahr sei, alles Spektakel Diskussion in unzulässiger Weise mit bestimmt haben. werde. Inszenierung trete an die Stelle von Fakten – sei Wenn wir glauben, wir wären gefeit davor, dass diese es ein halbnackter Typ mit Büffelhelm im US-Capitol, sei 25696 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Thomas Hitschler (A) es das Schwenken der Reichskriegsflagge auf den Stufen So stärken wir das Vertrauen der Menschen in die Insti- (C) des Reichstagsgebäudes –; denn wenn nichts mehr wahr tutionen unseres Staates, und so entziehen wir Lügen und ist, kann man den Leuten alles erzählen. Spektakel den Nährboden. Das funktioniert bei vermeintlichem Wahlbetrug eben- Wenn ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin, sehe ich so gut wie bei einer herbeigeträumten Coronadiktatur. täglich das Hambacher Schloss. Das Schloss ist für mich Menschen, die sich selbst als kritische Geister verstehen, ein Ort, der immer auch daran erinnert, dass Demokratie werden gezielt durch rechtsextreme Agitatoren miss- nicht selbstverständlich ist. Sie ist in unserem Land mit braucht. Und ja, es sind Rechtsextreme, die auf diese erkämpft worden. Sie muss gelebt werden, und sie muss Weise versuchen, unsere Demokratie zu destabilisieren. verteidigt werden. Wer davor die Augen verschließt, hat auch die jüngsten, sehr öffentlichen Warnungen des Innenministers nicht Vielen Dank. gehört: Der Rechtsextremismus ist die größte Gefahr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für die Sicherheit in Deutschland. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir daher, auf Vizepräsidentin Claudia Roth: das Zitat von Timothy Snyder eines von einem Fastna- Vielen Dank, Thomas Hitschler. – Der nächste Redner: mensvetter folgen zu lassen, nämlich von Dee Snider, für die CDU/CSU-Fraktion Philipp Amthor. dem Sänger von Twisted Sister: „We’re not gonna take (Beifall bei der CDU/CSU) it anymore“ – wir lassen uns das nicht mehr gefallen. Die Bundesrepublik war immer als wehrhafte Demokratie konzipiert. Wir müssen gewaltsamen Herausforderungen Philipp Amthor (CDU/CSU): auch mit einem starken Staat begegnen: durch starke Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Polizeipräsenz bei Sonderlagen, durch bessere Zusam- Wir haben in der Debatte über die außenpolitischen menarbeit der Sicherheitsorgane, damit Netzwerkbildun- Dimensionen des Sturms auf das Kapitol in Washington gen von Gefährdern frühzeitig erkannt werden, und auch schon gesprochen; deshalb möchte ich den Blick jetzt durch mehr klassische Polizeiarbeit im digitalen Raum. noch ein bisschen auf die Innenpolitik richten; denn wir müssen schon sagen: Der erlebte Druck auf die nationa- Gerade in der jetzigen Krisensituation haben wir gese- len Symbole, der erlebte Druck auf den Sitz eines zent- hen, wie wichtig ein funktionierender Staat auf allen Ebe- ralen Verfassungsorgans in den USA, der findet – das nen ist. Diese Fähigkeiten müssen wir erhalten und aus- fand schon Erwähnung – auch eine Parallele bei uns in bauen. (B) Deutschland. Wie wehrhaft ist unsere Demokratie? Wie (D) (Beifall bei der SPD) wehrhaft sind unsere Institutionen? Ein starker Staat muss immer auch dafür sorgen, dass die Natürlich ist auch hier schon in Erinnerung gerufen Verteidiger des Staates gut aufgestellt sind. worden, wie unwürdig die Bilder der Tumulte vor dem Reichstag waren, der Reichskriegsflaggen auf der Wir werden aber auch gemeinsam die schärfsten Reichstagstreppe und der unwürdigen Vorgänge des Ein- Schwerter der Demokratie nutzen: Bildung und Transpa- schleusens von Störern durch die AfD. renz. Wir müssen politische Bildung auf allen Ebenen ausbauen und stärken, damit alle Bürgerinnen und Bürger Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine ihre Rechte und ihre Mitwirkungsmöglichkeiten kennen. zentrale Debatte, die wir aus Washington mitnehmen Wir müssen die Medienkompetenz stärker in den Lehr- müssen, und eine zentrale Lehre. Für mich ist völlig plänen betonen, damit nicht alles geglaubt wird, was klar: Die größte Gefahr der Integrität von staatlichen irgendwo im Netz steht oder was per Messenger verbrei- Institutionen geht davon aus, dass diese Institutionen tet wird. Wir müssen zivilgesellschaftlichen Initiativen aus sich selbst heraus infrage gestellt werden. Und wir gegen Rechtsextremismus den Rücken stärken, zum Bei- stehen vor dem Problem, dass Donald Trump als Präsi- spiel durch ein Demokratiefördergesetz. dent die Institution des Präsidenten selbst demontiert, delegitimiert hat. Die Parallele ist, dass wir hier im Bun- (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) destag mit der AfD eben eine Fraktion haben, die genau Und: Wir müssen die Arbeit dieses Hauses weiterhin das mit dem Parlament versucht, und dem, liebe Kolle- so offen und auch so transparent wie möglich halten. ginnen und Kollegen, müssen wir entgegentreten! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Stephan Brandner [AfD]) Wir wollen, dass die Menschen nachvollziehen können, worüber wir diskutieren und warum wir Entscheidungen Liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso wie sie es treffen. Wir wollen weiterhin mit Schulklassen und den von Donald Trump gelernt hat, versucht die AfD, mit Bürgerinnen und Bürgern aus unseren Wahlkreisen hier populistischer Tonalität, mit Verrohung von Sprache in Berlin diskutieren können. Das werden uns die Radika- und Umgangsformen und mit dem Inkaufnehmen des len nicht wegnehmen, Kolleginnen und Kollegen. Jonglierens mit der Unwahrheit entgegenzuhalten – gegen Fakten. (Beifall bei der SPD – Beatrix von Storch [AfD]: Sie wollen doch gar nicht diskutieren!) (Lachen bei Abgeordneten der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25697

Philipp Amthor (A) Das führt in der Konsequenz zu den Entgrenzungen, Denjenigen, die sich – wie es einige Abgeordnete getan (C) wie wir sie in Washington erlebt haben. Das führt in der haben – zu den Helfershelfern von innen für diese Pro- Konsequenz zu einer Spaltung der Gesellschaft, teststürme machen, denen müssen wir sagen: Sie müssen auch mit Konsequenzen leben. Deswegen erinnere ich (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) daran, dass etwa der Bonner Verfassungsrechtler Ferdi- und das sieht man auch praktisch in den Debatten. nand Gärditz vorgeschlagen hat, dass gerichtlich verur- „Ermächtigungsgesetze in der Coronadiktatur“; Merkel teilte Volksverhetzer ihre Wählbarkeit verlieren könnten müsse in der Zwangsjacke aus dem Kanzleramt abgeführt oder über das Parlamentsinnenrecht sanktioniert werden. werden. Das sind Ihre Worte. Ich finde, das ist ein kluger Vorschlag. Aber selbst das würde bei Ihnen wohl nicht zur Besserung führen. (Widerspruch bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Curio, Sie haben hier von einer „Corona-RAF“ geredet. Ihre AfD-Kollegen aus Bayern reden davon, Zur Besserung führt das bei Populisten und Vereinfa- die Bundeskanzlerin sei lieber hinter Gittern als in der chern eh nicht, sondern es ist unsere gemeinsame Verant- Quarantäne zu sehen. wortung, die Unterschiede aufzuzeigen. Und ich sage hier: Die Trennlinie verläuft nicht zwischen rechts und (Widerspruch bei der AfD – Zuruf von der links, sondern sie verläuft zwischen Wahrheit und Lügen, AfD: Herr Amthor, bleiben Sie mal bei der und wir entscheiden uns für Wahrheit und Fakten als Wahrheit!) Argumente. Ich sage Ihnen: Sie verbreiten Unwahrheiten. (Lachen bei der AfD) (Dr. [AfD]: Wir wollen Das ist unsere Linie, und das ist auch die zentrale Lehre Ihnen nur bei der Wahrheitsfindung helfen!) aus Washington, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie verklären die Geschichte. Dem halten wir entgegen, (Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Brandner um des Vertrauens in unsere staatlichen Institutionen wil- [AfD]: Besser Populist als korrupt, Herr len. Amthor!) (Zuruf von der AfD: Das ist doch lächerlich!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie widersprechen jetzt natürlich; das ist klar. Das ist ja Vielen Dank, Philipp Amthor. – Nächste Rednerin: ein beliebtes Muster. Sie sagen: Das sind Verschwörungs- Dr. Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion. mystiker, Rechtsextremisten, die nicht zu uns gehören. (Beifall bei der SPD) (B) (Weitere Zurufe von der AfD) (D) Aber dann muss man nur mal genau zuhören. Ihr AfD- Dr. Daniela De Ridder (SPD): Kollege Renner sagt zum Sturm auf das Kapitol – ich Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- zitiere –: nen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! Die Fernsehbil- Trump führt den gleichen politischen Kampf – den der vom Sturm auf das Kapitol haben viele von uns man schon Kulturkampf nennen muss – wie wir als erschreckt. Und einen Moment lang stellte ich mir vor „Alternative für Deutschland“ in der Opposition. dem Fernseher vor, wie es wohl für uns sein würde, wenn uns bewaffnete Sicherheitskräfte mit Pistolen vor Wir müssen in der Debatte heute festhalten: Diese ver- einem wütenden Mob hier in diesem Plenarsaal, hier an irrten Stimmen, die wir hier zitiert haben, das ist nicht nur diesen Türen würden schützen müssen. ein Flügel Ihrer Partei, sondern das ist ein untrennbarer Teil; denn wer Extremisten in den eigenen Reihen duldet, (Beatrix von Storch [AfD]: Ich denke, das ist ist nicht besser als die Extremisten selbst, liebe Kollegin- schon passiert?!) nen und Kollegen. – Ruhe! Jetzt rede ich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ordneten der SPD) der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Jürgen Braun Die Frage ist natürlich: Was lernen wir daraus? Wie [AfD]) gehen wir damit um? Wie müssen wir unseren Parlamen- Wer die Erstürmung des Kapitols, an deren Ende fünf tarismus hier aufstellen? Ich glaube, das Erste ist wichtig: Tote, darunter zwei Polizisten, zu beklagen sind, nur mit Wenn es solche Versuche des Delegitimierens staatlicher der Persönlichkeit Trumps erklären will, übersieht eben Institutionen gibt, egal ob diesseits oder jenseits des leider viel zu viel. Wer also die Irrungen und Wirrungen, Atlantiks, dann müssen wir klar sagen: Wir weichen die in den USA zum Alltag geworden zu sein scheinen, in dem nicht. Wir wollen keine künstliche Distanz zu den ihren bizarren Auswüchsen verstehen will, muss mehr als Bürgern. Wir wollen uns nicht abriegeln. Wir wollen, nur vier Jahre zurückblicken, der muss sich mit dem dass das Parlament ein offener Ort des Diskurses und Waffenbesitz und der Nation Rifle Association befassen das Forum der Nation bleibt. Wir treten denen entgegen, und sich die Kriegstreiberei anschauen, die keineswegs die von außen die Deutungshoheit über den Rechtsstaat erst mit dem Irakkrieg unter Bush senior begann, und beanspruchen wollen: mit der Polizei, mit dem entsprech- muss verstehen, welche Rolle die frommen und homo- enden Rechtsrahmen und eventuell auch mit einer Ver- phoben, gar rassistischen – ja – Republikaner/-innen zu- schärfung des Strafrechts. weilen in diesem Powerplay übernommen haben 25698 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dr. Daniela De Ridder (A) (Stephan Brandner [AfD]: Also, Trump ist Trump war und ist allerdings auch Hoffnungsträger im (C) schlecht! – Weiterer Zuruf des Abg. Jürgen Rust Belt, dort, wo die Deindustrialisierung hohe Braun [AfD]) Arbeitslosigkeit beschert hat, dort, wo sich die Menschen Wir sollten uns daran erinnern, dass Trump an der abgehängt fühlen, wo die Stahlindustrie bereits seit Lan- mexikanischen Grenze Mauern und Internierungslager gem in der strukturellen Krise steckt, und überall dort, wo für geflüchtete Kinder baute. Ja, wir sollten eine bessere, sich Arbeitslosigkeit, Kriminalität und urbaner Verfall eine humanere Migrations- und Flüchtlingspolitik manifestieren, ebenso im frömmelnden Bible Belt. In machen. Aber davon verstehen Sie ja nichts. den ländlichen Regionen des Mittleren Westens scheint Trump die Rolle des Messias zugewachsen zu sein. (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Jürgen Braun [AfD]) „This is not America“, hat Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, ge- sagt. Aber ich fürchte, da hat er sich geirrt; denn auch dies Vizepräsidentin Claudia Roth: ist Amerika. Herr Braun, können Sie einfach mal eine Minute ruhig sein? Das wäre schon eine ziemliche Errungenschaft, Biden und Harris werden ein Gegengift gegen eine weil jetzt eine Rednerin dran ist. Politik der Tea Party entwickeln müssen, die bereits Oba- (Widerspruch des Abg. Jürgen Braun [AfD]) mas Wirtschaftspolitik absurderweise kommunistisch nannte, gegen White Pride und sämtliche grassierende – Ich sage nichts zu Zwischenrufen; aber Sie haben per- Verschwörungstheorien. Sie werden um Glaubwürdigkeit manent, die ganze Debatte über, Zurufe gemacht. Jetzt ist und Integrität ringen müssen, nicht nur in Charlottesville, Frau Daniela De Ridder dran. Ich werde mir auch nachher wo Trump offen Rassisten und Neonazis unterstützt hatte. die emotionalen Zwischenrufe im Protokoll noch mal Sie werden ökonomisch und arbeitsmarktpolitisch Refor- genauer anschauen. men einleiten und damit erfolgreich sein müssen. (Jürgen Braun [AfD]: Das sollten Sie, ja!) Und wir sollten sie darin unterstützen, dass sie nicht – Ja, das werde ich tun. Das werde ich tun, ja. nur die Protestierenden einbinden müssen, sondern auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der diejenigen, die sie gewählt haben. Für all diese, aber auch SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- uns gilt: „This land is your land and this land is my land … NEN) This land was made for you and me“, wie es der Gewerk- schafter Woody Guthrie sang. Auch dies ist uns Auftrag, Frau De Ridder, bitte. Losung und Warnung für die transatlantischen Beziehun- gen und die transatlantischen Freundschaften. (B) (D) Dr. Daniela De Ridder (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Das war notwendig. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Trump mag eine gestörte, eine narzisstische Persönlich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keit sein, ein Egomane, ein Bauernfänger, allerdings des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einer, der sich für zahlreiche Bevölkerungsgruppen wun- derbar als Projektionsfläche anbietet. Und Sie haben gerade bewiesen, dass Bauernfänger auch in diesem Hau- Vizepräsidentin Claudia Roth: se sitzen. Trump ist und bleibt ein Phänomen, weil es ihm Vielen Dank, Dr. Daniela De Ridder. – Der letzte Red- als Repräsentanten des Establishments gelungen ist, die ner in dieser sehr emotionalen Aktuellen Stunde: Thomas Wut auf jenes Establishment zu befördern, und ähnlich Erndl für die CDU/CSU-Fraktion. tun das die Populisten in Europa und leider eben auch hier. (Beifall bei der CDU/CSU) Ja, Trump hat nicht nur die US-amerikanische Demo- kratie lädiert und empfindlich getroffen. Er hat auch Thomas Erndl (CDU/CSU): offenbart, wo ihre Schwächen liegen. Er hat Hass und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hetze, Rassismus und Sexismus bedient und in den Die schockierenden Ereignisse vom vergangenen Mitt- USA leider salonfähig gemacht, einen Politikstil propa- woch waren nicht nur ein Sturm auf das Kapitol, sie gierend, liebe Kolleginnen und Kollegen, den wir hier waren ein Angriff auf die Demokratie, ein Angriff auf nie – nie! – zulassen dürfen. die Werte, die auch wir teilen. Es war ein Angriff, der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von einem Präsidenten der USA angestachelt wurde, der der CDU/CSU) den Wesenskern der Demokratie nicht verstanden hat: faire Wahlen und das Akzeptieren einer Niederlage. Das Trump kann auf die republikanische Parteistruktur Verhalten Trumps ist abscheulich, und es ist vor allem bauen, auf die Vasallentreue eines Vizepräsidenten gefährlich – gefährlich, weil es zeigt, dass nichts in Stein Mike Pence und eines Außenministers Mike Pompeo. gemeißelt ist, auch nicht der demokratische Grund- Auch daraus haben wir viel zu lernen. Wäre ihm nicht konsens und der Respekt vor den demokratischen Insti- die Pandemie dazwischengekommen – da bin ich sicher –, tutionen, nicht in den USA und auch nicht bei uns. sein untaugliches Krisenmanagement und Abertausende Tote und Erkrankte, deren Schicksal ihn wenig berührt zu Die Chaoten vom vergangenen Mittwoch sprachen haben scheint, hätte er vermutlich erneut die Wahl selbst von einer Revolution und einem Umsturz, den sie gewonnen. erreichen wollten. Das führt uns vor Augen: Demokratie Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25699

Thomas Erndl (A) und Rechtsstaatlichkeit sind nicht einfach gegeben. Wir Drittens müssen wir als Demokraten klare Kante (C) müssen sie verteidigen, wir müssen für sie kämpfen. gegenüber den Feinden der Demokratie zeigen: keine Demokratien müssen wehrhaft sein. Annäherung, keine Zusammenarbeit! Denn das bringt Unheil. Der Republikanischen Partei ist genau das mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Tea-Party-Bewegung passiert und nun mit den Ver- Deshalb ist die entscheidende Frage unserer Zeit: Wie schwörungstheoretikern der QAnon-Bewegung. Diesen kann die Demokratie im digitalen Zeitalter bestehen? Fehler werden wir nicht machen. Denn uns muss klar sein: Die größte Herausforderung Meine Damen und Herren, der Westen muss immer für ist die digitale Parallelwelt, sind Informationsblasen, in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einstehen. Das kön- denen Politik diffamiert, Fakten geleugnet und ein Klima nen wir nach außen nur glaubwürdig vertreten, wenn wir der Wut erzeugt werden. Das ist der Nährboden für Ver- diese Werte auch im Inneren leben. Auf jeden Einzelnen schwörungstheoretiker, Querdenker, Reichsbürger und kommt es an, um den Antidemokraten, den Lügnern und Extremisten aller Art. Und, wie wir es oft hören: Das ist den Hetzern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dann alles nicht weit weg. Auch hier auf der rechten Seite wird wird unsere Demokratie immer stärker sein; davon bin ja immer noch geglaubt, dass Trump die Wahl ordnungs- ich überzeugt. gemäß gewonnen hat, meine Damen und Herren. Herzlichen Dank. (Norbert Kleinwächter [AfD]: Woher wollen Sie wissen, was wir glauben?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Für die Zukunft sind drei Punkte ganz entscheidend.

Erstens müssen wir noch konsequenter gegen Hass und Vizepräsidentin Claudia Roth: Hetze im Netz vorgehen. Wir brauchen auch im Internet Vielen Dank, Kollege Thomas Erndl. – Damit ist die feste Regeln, und die müssen demokratisch legitimierte Aktuelle Stunde beendet. Parlamente festlegen. Mit dem Netzwerkdurchsetzungs- gesetz sind wir in Deutschland schon jetzt Vorreiter bei Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: der Entfernung krimineller Inhalte. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ (Lachen der Abg. Joana Cotar [AfD]) CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgeset- Das brauchen wir jetzt in ganz Europa. Und deshalb ist es zes zur Abgabenordnung – Verlängerung der wichtig, dass wir hier den Digital Services Act und den Steuererklärungsfrist in beratenen Fällen und Digital Markets Act voranbringen. Wir müssen hier welt- der zinsfreien Karenzzeit für den Veranla- (B) weit Standards setzen – unsere Standards, meine Damen gungszeitraum 2019 (D) und Herren. Drucksache 19/25795 (Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Kleinwächter [AfD]: Ja, tolle Standards haben Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Sie! – Weiterer Zuruf von der AfD: Meinen Sie Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz damit Markus Söder?) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Wir als CSU fordern darüber hinaus, dass im Verfas- Haushaltsausschuss sungsschutzbericht ein eigenes Kapitel für gezielte Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Falschmeldungen und Verschwörungserzählungen einge- beschlossen. richtet wird. Dann können wir besser gegen die vorgehen, die unter dem Deckmantel ihrer Freiheitsrechte in Wahr- Wenn die Kolleginnen und Kollegen Platz genommen heit unsere Demokratie angreifen wollen. haben und wieder ein bisschen Ruhe eingekehrt ist, dann eröffne ich die Aussprache, vorher aber noch nicht. Zweitens ist es notwendig, dass wir die internationale Dimension von Desinformation stärker im Blick haben. Ich eröffne jetzt die Aussprache, und das Wort hat der Es gibt staatliche Akteure, die gezielt Sand in unser Kollege Michael Schrodi für die SPD-Fraktion. demokratisches Getriebe streuen wollen. Sie versuchen, (Beifall bei der SPD) die Meinungsbildung unserer Öffentlichkeit zu beeinflus- sen. Sie wollen Stimmungen erzeugen und Zweifel an Michael Schrodi (SPD): westlichen Demokratien säen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Wir müssen zum einen die Widerstandsfähigkeit un- Damen und Herren! Ich habe mir zuletzt einmal das Kon- serer Gesellschaft ausbauen und vor allem das Bewuss- volut all der Maßnahmen angeschaut, die wir im letzten tsein für solch gefährliche Einflussnahmen schärfen. Jahr im Zuge der Pandemie ergriffen haben: Über 70 Ein- Zum anderen müssen wir unser Land vor solchen Aktivi- zelmaßnahmen haben wir auf den Weg gebracht, damit täten noch besser schützen, Desinformationskampagnen wir gut durch diese Krise kommen. Dabei ist natürlich schneller entlarven, Maßnahmen gegen deren Verbrei- das Kurzarbeitergeld gewesen, aber zum Beispiel auch tung ergreifen und dann vor allem auch Fake-Accounts die Homeoffice-Pauschale. Ich denke, dass das ein wich- gezielt vom Netz nehmen. Dafür brauchen wir ein noch tiges Signal war. Auch das Recht auf Homeoffice ist besseres Lagebild. Ich bin der Meinung, dass wir die dazu etwas, worüber wir intensiv nachdenken müssen. Wir notwendigen Werkzeuge auf europäischer Ebene gemein- haben auch einen erleichterten Zugang zur Grundsiche- sam weiterentwickeln sollten. rung, der sich jetzt bewährt hat, auf den Weg gebracht. 25700 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Michael Schrodi (A) All das musste ebenso wie auch die zahlreichen Wirt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) schaftshilfen, die sehr schnell angegangen werden muss- der CDU/CSU) ten, genau und natürlich auch EU-rechtskonform sein. All das ist uns immer wieder aufs Neue gelungen. Der Vizepräsidentin Claudia Roth: Dank gilt da natürlich dem Bundesfinanzministerium, Vielen Dank, Michael Schrodi. – Nächster Redner: für dem Finanzminister Olaf Scholz und der ganzen Bundes- die AfD-Fraktion Albrecht Glaser. regierung dafür, dass wir das immer wieder so schnell geschafft haben. (Beifall bei der AfD) Bei aller Kritik – mir wäre es auch lieber gewesen, wenn manche Hilfen schneller und die technischen Pro- Albrecht Glaser (AfD): bleme im Wirtschaftsministerium geringer gewesen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und wären – zeigt dieser Gesetzentwurf, glaube ich, auch, Herren! Die Intention der Gesetzesänderung ist die Ver- dass die Hilfen in Anspruch genommen werden. Denn schiebung der Steuererklärungsfrist für den Veranla- diejenigen, die sie beantragen, die Steuerberaterinnen gungszeitraum 2019 um sechs Monate. Analog dazu und Steuerberater, haben uns gesagt: Wir haben so viel soll der Zinslauf für verspätet gezahlte Steuern des Jahres Arbeit mit der Beantragung von Überbrückungshilfen, 2019 ebenfalls sechs Monate später beginnen. Dies alles von November- und Dezemberhilfen, dass wir für die soll nur für Steuerpflichtige gelten, die von den Steuer- Bearbeitung von Steuererklärungen länger brauchen. beratern ihre Erklärung erstellen lassen. Die Intention Die Steuererklärungsfristen sollten verlängert werden. – insgesamt ist richtig, die Maßnahme ist sachgerecht, die Und das tun wir jetzt, und zwar um sechs Monate, damit Haushaltsbelastung marginal. eben alle die Anträge stellen können, damit der Druck ein Allerdings stellt sich die Frage, warum diese Maß- bisschen aus dem Kessel ist und damit alle ihre Hilfen nahme so spät kommt und nicht etwa aus dem Finanz- bekommen, die sie auch bekommen sollen. Ich glaube, ministerium. Als ob man nicht schon im letzten Jahr, das ist ein gutes Signal dieser Großen Koalition. beispielsweise bei der Verabschiedung des zweiten Coro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nasteuerpaketes, im Juni hätte wissen können, dass die der CDU/CSU) finanziellen Kalamitäten für Unternehmen und die Arbeitsbelastung der Berater sehr groß sein würden! Unser Dank gilt allen, die das möglich machen, insbe- sondere den Angehörigen der steuerberatenden Berufe. Es kommt hinzu, dass die Bundestagsfraktion der AfD An dieser Stelle muss aber auch betont werden, dass die bereits im April letzten Jahres einen Antrag auf der ja dafür nicht alleine zuständig sind. Es gibt auch dieje- Drucksache 19/18727 eingebracht hatte, der eine Reihe wichtiger notwendiger Maßnahmen vorschlug, um die (B) nigen, die diese Anträge bearbeiten und genehmigen. Ich (D) glaube, wir sollten auch daran erinnern, dass die Finanz- finanziellen Folgen der Pandemie mit Mitteln des Steuer- verwaltung derzeit eine unglaublich gute Arbeit macht. rechtes wirksam abzumildern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Finanzverwal- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) tung sind ebenso ausgelastet, haben aber nicht wie Darunter war auch die Verschiebung von Fristen aufge- Steuerberaterinnen und Steuerberater die Möglichkeit, führt. Insofern ist das, was nunmehr auf dem Tisch liegt, neue Mandate abzulehnen. Sie müssen die Fälle inner- meine sehr verehrten Damen und Herren, gesetzgeberi- halb der Fristen abarbeiten. Deshalb der Dank an alle sches Kleingeld. Substanzielle steuerliche Maßnahmen in Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Finanzverwaltun- Zeiten von Corona sehen anders aus. gen; auch das sei an dieser Stelle deutlich gesagt. Wo bleibt der weitgehende Verlustrücktrag für Unter- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nehmen bei der Einkommensteuer, der Körperschaft- des Abg. Pascal Meiser [DIE LINKE]) steuer, der Gewerbeertragsteuer im Sinne von § 10d Ein- Wir verlängern nicht nur die Steuererklärungsfrist, kommensteuergesetz für das Kalamitätsjahr 2020? Dies sondern wir verlängern auch die Karenzzeit für Erstat- wäre wichtiger, zielgenauer und für den Fiskus billiger tungs- und Verzugszinsen. Was heißt das? Wenn der als staatliche Darlehensangebote. Steuerbescheid erst 15 Monate nach Ablauf eines Steuer- (Beifall bei der AfD) jahres erlassen wird und Steuererstattungen anstehen, werden darauf Zinsen fällig. Ebenso gilt das auch für Wo bleibt die Aufhebung der Einschränkung der Ver- Verzugszinsen. Wir verlängern also auch diese zinsfreie lustverrechnung nach § 10d Absatz 2 Einkommensteuer- Zeit im Gleichlauf mit der Verlängerung der Steuererklä- gesetz für die Folgejahre, die sogenannte Mindestbe- rungsfrist. Auch das ist ein ganz normaler Vorgang. Wir steuerung? Auch dies wäre Selbsthilfe der Wirtschaft gleichen es somit an. aus eigener Kraft. Die Steuereinnahmen würden nur zeit- lich verschoben. Ich glaube also, das ist insgesamt etwas, das wieder zeigt, dass wir handlungsfähig sind, dass wir auf die Wo bleibt die Anhebung der Kleinunternehmergrenze immer neuen Herausforderungen eingehen. nach § 19 Umsatzsteuergesetz und die Erhöhung der Grenze für die Istbesteuerung im Umsatzsteuerrecht? (Beifall der Abg. [SPD]) Wo bleibt die Aussetzung oder gar Abschaffung der Ich glaube, so können wir auch weiterhin gut durch diese Zinsschranke nach § 4h Einkommensteuergesetz oder Pandemie kommen. § 8 Absatz 1 Körperschaftsteuergesetz? Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Zuruf des Abg. Fritz Güntzler [CDU/CSU]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25701

Albrecht Glaser (A) Auch das wäre für alle bisher gut funktionierenden Unter- me über den Steuerberater zu beantragen sind, weil wir (C) nehmen wichtiger als Staatshilfe. hoffen, dass damit die Bearbeitung sachgerechter und der (Beifall der Abg. Franziska Gminder [AfD]) Betrug weniger wird. Wieso, meine Damen und Herren, wird bei der all- Steuerberaterinnen und Steuerberater mussten im Sep- gemeinen Nullzinslage nach wie vor am Zinssatz von tember/Oktober entscheiden, ob sie die Steuererklärung 6 Prozent per anno für Steuernachzahlungen festgehal- ihrer Mandanten oder Coronahilfsanträge bearbeiten. ten? Der Bundesfinanzhof hat bereits seine Zweifel zur Diese Situation war sehr schwierig für die Unternehmen, Verfassungsmäßigkeit der 6-Prozent-Zinsen judiziert. zumal auch Verspätungszuschläge und Zwangsgelder Diese Frage liegt dem Bundesverfassungsgericht zur Ent- drohten und die Steuerberater damit in Haftung gehen scheidung vor. Bedauerlicherweise steht der Finanzmi- müssen. Für beide, für Unternehmen und für Steuerbera- nister auf dem Standpunkt, die Bürger müssten sich ihr ter, war das keine zufriedenstellende Situation. Ich gebe Recht einklagen. Diese seit Jahren von der gesamten zu: Da empfand man die angebotene Fristverlängerung Fachwelt fast einhellig beurteilte Frage muss jedoch des Finanzministeriums um einen Monat schon ein biss- vom Einfachgesetzgeber geregelt werden; dazu braucht chen als Hohn. Die Berater waren darüber auch zu Recht es kein Bundesverfassungsgericht. verärgert. (Beifall bei der AfD) Deshalb bin ich froh, lieber Lothar Binding, dass es uns gelungen ist, jetzt eine ordentliche Fristverlängerung von Stattdessen haben sich der Finanzminister und die ihn sechs Monaten auf den Weg zu bringen mit einer Verlän- tragenden Parteien dazu verstiegen, eine kurzzeitige gerung der Karenzzeiten für den Zinslauf, weil damit Mehrwertsteuersenkung, welche dem Fiskus eine Steuer- sowohl die Anträge, von denen wir wollen, dass sie ge- einbuße von 20 Milliarden Euro einbrachte, als Hilfs- stellt werden, für die Unternehmen erarbeitet werden programm für die Wirtschaft zu verkaufen. In Wahrheit können, als auch die Steuererklärungen 2019 dann noch war diese Maßnahme als Stimmungsaufhellung für breite fristgerecht abgegeben werden können. Bevölkerungsschichten konzipiert. Wie wir damals vorausgesagt haben hier an dieser Stelle und inzwischen Das vergangene Jahr war für beide, für Unternehmen wissen – das ifo-Institut hat das nachgerechnet –, war dies und für Steuerberater, ein schwieriges. Die Umsatzsteuer- ein Schlag ins Wasser. Die geringe Nachfrageerhöhung senkung ist gerade schon angesprochen worden. Inner- steht in keinem Verhältnis zu parallel entstandenen halb kürzester Zeit haben wir Unternehmen aufgefordert, Steuerausfällen und damit zur Schuldenerhöhung. die Mehrwertsteuer zu senken und zum 31.12. wieder zu erhöhen. Ich weiß, dass das eine Zumutung war, und ich Den vorliegenden Gesetzentwurf, meine sehr verehr- danke allen, die trotzdem dafür gesorgt haben, dass es (B) ten Damen und Herren, als Miniaturmaßnahme tragen geklappt hat. Aber auch da war natürlich das Beratungs- (D) wir natürlich mit. Mit Reformen, welche dieses Land in potenzial ein erhebliches. reichem Maße auch und gerade im Steuerbereich braucht, hat dies jedoch nichts zu tun. Eine ganze Legislaturperio- Lieber Herr Glaser, man kann hier ständig rumkritteln; de ohne nennenswerte steuerrechtliche Impulse ist die aber diese 20 Milliarden Euro sind bei den Bürgerinnen Bilanz dieser Koalition. und Bürgern angekommen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Albrecht Glaser [AfD]: Nein, (Beifall bei der AfD) sind sie nicht!) Und selbst wenn sie nur beim Lebensmittelkauf ange- Vizepräsidentin Claudia Roth: kommen sind, ist das Geld bei den Bürgerinnen und Bür- Danke schön, Herr Glaser. Würden Sie bitte Ihre Mas- gern angekommen, sonst hätte das im Haushalt keine ke aufsetzen? Danke schön. Auswirkung gehabt. Das ifo-Institut hat die Auswirkun- (Zurufe: Hallo!) gen auf die Wirtschaft geprüft, aber natürlich nicht den Geldbeutel der Hartz-IV-Familie, die selbstverständlich – Ja, er macht es jetzt. 3 Prozent weniger von ihren Bezügen gezahlt hat. Des- Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Antje halb war diese Mehrwertsteuersenkung ein Erfolg. Tillmann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU) ordneten der SPD) Bei den Covidprogrammen – das gebe ich gerne zu – Antje Tillmann (CDU/CSU): knirscht es an der einen oder anderen Stelle. Wir wollen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Hilfen möglichst schnell zur Verfügung stellen mit Während einige Mitarbeiter gezwungenermaßen zu Hau- dem Ergebnis, dass manches auch im Nachhinein noch se bleiben und einige Unternehmen ihre Arbeit einstellen geklärt werden muss. Selbstverständlich hätten wir uns mussten, haben andere so viel zu tun, dass sie gar nicht ein halbes Jahr Zeit nehmen können für alle Hilfen und wissen, welche Aufgabe sie zuerst erfüllen müssen. Die hätten sie sehr gut austarieren können. Aber sie sollten Steuerberaterinnen und Steuerberater und ihre Mitarbei- schnell zur Verfügung gestellt werden. Leider müssen sie ter gehören dazu. Schon in normalen Zeiten helfen sie dann an der einen oder anderen Stelle nachgesteuert wer- Unternehmen bei der Erfüllung ihrer steuerlichen Pflich- den. Das ist ärgerlich; das tut mir auch leid. Dazu kommt, ten. Jetzt kommt die Coronasituation noch dazu. Wir dass manchmal die Technik zusammenbricht oder die haben aus gutem Grund vorgesehen, dass viele Program- Hilfen in Dollar ausgezahlt werden. Das ist kein guter 25702 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Antje Tillmann (A) Zustand. Wir müssen da besser werden. Aber ich glaube, SPD, dass Sie mal gezeigt haben, dass dieses Parlament (C) dieser Zustand wäre noch schwieriger, wenn die Unter- sich auch durchsetzen kann, und dass Sie die Fristverlän- nehmen damit alleine stünden und nicht auf erfahrene gerung für diese sechs Monate eingebracht haben. Steuerberater zurückgreifen könnten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU und der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Deshalb ist auch aus diesem Grund die Fristverlängerung richtig. Wer es so ein bisschen verstanden hat, weiß: Es gab Ich freue mich, dass mit dem heutigen Tag auch die großen Ärger. Wir haben es nicht ins Jahressteuergesetz Fristverlängerung für Antragsteller durch ist. Für die gebracht. Es kam dann – das war auf der Seite des BMF November- und Dezemberhilfen sowie für die Überbrü- schon veröffentlicht – eine Fristverlängerung von einem ckungshilfe II ist die Frist jetzt auf den 31. März dieses Monat; Frau Tillmann hat es gerade angesprochen. Dann Jahres verschoben worden. Auch da gibt es ein bisschen kam die Pressemitteilung: Die Große Koalition hat sich Luft für die Bearbeitung. Auch da bin ich sicher, dass die geeinigt. Es gibt die sechs Monate. – Am nächsten Tag Qualität sowohl der Anträge als auch der Bearbeitung in veröffentlicht das BMF ein Schreiben, in dem steht: Es den nächsten Wochen steigt. gibt eine Fristverlängerung von einem Monat. – Dement- sprechend ein Dankeschön, dass sich das Parlament hier Ich weiß, liebe Länder, liebe Finanzbeamte, dass Sie durchgesetzt hat, dass wir dieses halbe Jahr kriegen. Und dieses Gesetz nur mittragen, weil wir Sie darum gebeten dieses halbe Jahr ist wichtig für den Berufsstand. haben. Die Finanzbeamten haben natürlich Sorge, dass dann im Sommer die Frist für die Steuererklärung 2019 Es ist heute schon angesprochen worden im Zusam- mit den neu abzugebenden Steuererklärungen 2020 menhang mit diesem Gesetzentwurf, dass wir uns alle zusammenfällt und sie dann einen Antragsstau haben. einig darin sind, wie wichtig es ist, dass dieses halbe Seien Sie gewiss, dass wir dann auch Ihnen den Rücken Jahr Fristverlängerung kommt. Die ganzen Überbrü- stärken, wenn es Beschwerden über Bearbeitungszeiten ckungshilfen – Novemberhilfen, Dezemberhilfen, Über- gibt. brückungshilfe II, wie wir sie auch alle nennen – laufen über die Steuerberater. Wir hören auch alle in unseren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wahlkreisen und überall: Sie laufen nicht so, wie sie laufen sollten. Die Überbrückungshilfen werden nicht Diese Zeiten sind schwer genug. Ich glaube, wir über- so abgerufen, wie sie hätten abgerufen werden sollen stehen sie nur – Unternehmen, Politiker, Steuerberater, und wie Gelder dafür zur Verfügung stehen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer –, wenn wir uns (B) wechselseitig mit Geduld und Nachsicht begegnen und Wissen Sie, Kolleginnen und Kollegen, wo der Ärger (D) wenn wir den einen oder anderen Fehler vielleicht auch als Allererstes ankommt? Bei den Steuerberatern, die sie mal geradebiegen oder Verständnis haben, wenn irgend- für ihre Mandanten beantragen. Die wenden sich nicht was nicht so schnell geht, wie wir es uns wünschen. zuerst an Sie; sondern die wenden sich zuerst an den Steuerberater. Deswegen ist es, glaube ich, hier auch Wir als Politik sollten aufhören, uns zu streiten, und wichtig, dass die Steuerberater in dem Punkt den Rücken- Lösungen finden. Das haben wir mit diesem Gesetzent- wind des Parlamentes kriegen für diese Fristverlänge- wurf getan. Liebe Koalitionskollegen, ich hoffe, dass wir rung, die wir brauchen. das weiter machen; denn das nächste Projekt ist die Son- derfristverlängerung bei der Umsatzsteuer für die Dauer- Wie es aber bei jedem guten Gesetz ist: Man kann es frist. Ich hoffe, dass wir das für die Unternehmen ähnlich noch ein Stück weit besser machen. schnell hinkriegen. Da steht am 15. Februar die nächste Zahlung an. Vielleicht schaffen wir es bis dahin, ein Ge- (Beifall bei der FDP) setz zu schaffen, mit dem wir Unternehmerinnen und Wir brauchen auch die Klarheit für das Jahr 2020, weil da Unternehmer um diesen Betrag entlasten. genauso die Frage ansteht, wie es dann kommt. Das heißt, Ich danke Ihnen. es wäre schön, hier auch weiter Klarheit zu kriegen. Wir müssen noch klären, was mit den landwirtschaftlichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Betrieben ist; die sind von dem momentanen Gesetzent- ordneten der SPD) wurf nämlich nicht umfasst. Wir müssen auch noch mal an die Verspätungszuschläge denken. Es gibt noch viel zu Vizepräsidentin Claudia Roth: tun. Vielen Dank, Antje Tillmann. – Nächste Rednerin: für Einen Satz vielleicht schon noch, weil heute viele die FDP-Fraktion Katja Hessel. Redezeit hatten und sich mit vielem beschäftigen konn- (Beifall bei der FDP) ten, was auch nicht gerade den Gesetzentwurf angeht: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bazooka, das Herz- stück des Konjunkturprogramms, war die Umsatzsteuer- Katja Hessel (FDP): senkung für ein halbes Jahr, die nicht nur den Unter- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nehmen und den Steuerberatern viel Arbeit gemacht Kollegen! Ich fange heute mal mit einem Lob an. Das tue hat, sondern auch nicht den Effekt gebracht hat, den sie ich eher selten; aber ich freue mich. Deswegen wirklich hätte bringen sollen als Herzstück Ihres Konjunkturpro- ein großes Dankeschön an die CDU/CSU und an die gramms. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25703

Katja Hessel (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben können; das wurde schon angesprochen. Wir (C) der AfD und der Abg. Lisa Paus [BÜND- haben letztes Jahr das Jahressteuergesetz verabschiedet. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Alle Steuerberaterinnen und Steuerberater haben darauf Da hätten wir bessere Vorschläge gehabt und uns wesent- gewartet. Sie haben den ganzen Prozess über vier lich mehr gewünscht. Für dieses Geld hätte man auch Wochen verlängert. Da hätten wir es wirklich locker rein- mehr erreichen können als vor allem viel Umstellungs- packen können. Und einen Tag nachdem wir hier das kosten und Umstellungsarbeit. Jahressteuergesetz verabschiedet haben, veröffentlichen Sie eine Pressemitteilung, dass die Frist Ende Februar Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. nicht gelten soll und dass es dazu eine Gesetzesinitiative Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. braucht. Das hätten wir alle miteinander wirklich deutlich einfacher haben können. (Beifall bei der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Claudia Roth: sowie bei Abgeordneten der FDP) Vielen Dank, Katja Hessel. – Nächster Redner: für die Deswegen ist es zwar gut, dass das Gesetz jetzt endlich Fraktion Die Linke Stefan Liebich. kommt; aber gleichzeitig ist es eben auch ein typisches (Beifall bei der LINKEN) Beispiel dafür, was Sie hier derzeit für ein Hickhack, für ein Hin und Her, für ein Durcheinander, für ein Nicht- sortiert-Sein in der Koalition im Rahmen der Pandemie Stefan Liebich (DIE LINKE): veranstalten. Etwas, was wir alle miteinander definitiv Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht brauchen, meine Damen und Herren. Sie kennen ja bestimmt den Spruch: Es ist bereits alles gesagt, aber noch nicht von jedem. – Das möchte ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heute mal nicht machen. Also, Frau Tillmann, Herr Schrodi und Frau Hessel haben alles Richtige gesagt. Wir wollen ja da mitmachen, wir wollen da wirklich Es ist ein Problem erzeugt worden, weil Steuerberaterin- mitmachen. Aber es ist leider so, dass damit eben nen und Steuerberater mehr Aufgaben bekommen haben. nicht nur das Vertrauen der Wirtschaft in Ihre Fähigkeit Das Problem ist durch einen guten Gesetzentwurf der schwindet, mit dieser Situation umzugehen, sondern, Koalition gelöst worden, nämlich dadurch, dass sie wenn das mit den Wirtschaftshilfen nicht funktioniert, mehr Zeit bekommen. Diesen Gesetzentwurf unterstüt- dann sind eben auch die Unterstützung und das Vertrauen zen wir. nach dem Motto „Die schaffen das schon mit den Coro- namaßnahmen“ insgesamt schwer erschüttert. Auch des- (B) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. wegen brauchen wir da einen anderen Umgang, und des- (D) (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der wegen müssen wir da etwas ändern, meine Damen und SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des Herren. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Dass jetzt die Plattform für die Coronahilfen immer So macht man sich beliebt, Herr Liebich. noch nicht funktioniert, ist dabei ja inzwischen sogar das kleinere Problem. Wir haben ja gestern im Finanz- (Michael Schrodi [SPD]: Aber jetzt! Die Latte ausschuss intensiv darüber diskutiert, alle miteinander, ist hoch gesetzt hier!) wie verheerend es gewesen ist, dass Altmaier und Scholz Bin mal gespannt, ob die anderen auch den Applaus zusammen diese Pressemitteilung letztes Jahr im Novem- wollen. Schauʼn mer mal. ber herausgegeben haben, gemäß der sich alle darauf ver- lassen haben, es kommen eben diese 75 Prozent vom Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Umsatz. Und erst jetzt, in diesen Tagen, wird im Klein- Grünen Lisa Paus. gedruckten deutlich: Ups, es kommt so gar nicht, sondern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kommt irgendwie ganz anders. 90 Prozent der Anträge müssen noch mal bearbeitet werden. – Das ist natürlich Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): eine krasse Verunsicherung der Leute, die wir alle mit- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr einander nicht brauchen, meine Damen und Herren. Liebich, ich hatte den gleichen Gedanken und hätte es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch fast so gemacht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deswegen müssen die Hilfen jetzt endlich schnell der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LIN- kommen. Die Vielfalt der Hilfen ist mittlerweile so ver- KE]: Mach doch!) wirrend. Es gibt unverständliche Ungleichbehandlung, zum Beispiel bei Mischbetrieben. Es war gestern auch Aber ich habe mich doch noch entschlossen, drei Sätze Thema, warum der Bäcker mit dem Kaffee anders behan- mehr zu sagen. delt wird als die Brauerei mit dem Ausschank. Also: Auch Bündnis 90/Die Grünen unterstützen und (Michael Schrodi [SPD]: Wird er aber gar begrüßen ganz ausdrücklich diese Verlängerung. Aller- nicht!) dings muss ich schon anmerken: Wir hätten es auch ein- facher haben können. Wir hätten es deutlich einfacher Solche Dinge versteht draußen kein Mensch. 25704 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Lisa Paus (A) Die Hilfen sind nach wie vor auch kompliziert. Für tionsparteien und beim Koalitionspartner, dass wir das (C) Soloselbstständige und Kleinstunternehmerinnen und gemeinsam im parlamentarischen Verfahren durchge- Kleinstunternehmer gibt es immer noch keinen Unterneh- führt haben. merlohn. Hier, ganz zentral, wäre ein Gesetzentwurf jetzt Wir werden uns aber auch – das muss man schon hier wirklich sehr dringend. Dazu haben Sie noch die Chance. in dieser Debatte sagen – für die Einreichungsfristen Nutzen Sie sie! 2020 etwas überlegen müssen; die Frau Kollegin Hessel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hat es angesprochen. Man muss ja unmissverständlich sagen: Wenn die Frist zur Abgabe für 2019 jetzt im Vizepräsidentin Claudia Roth: August endet, dann haben die Steuerberaterinnen und Vielen Dank, Lisa Paus. – Nächster Redner: für die Steuerberater sechs Monate Zeit, die Arbeit für ein gan- CDU/CSU-Fraktion Sebastian Brehm. zes Jahres zu erledigen, weil nämlich die Frist zur Abga- be der Steuererklärung 2020 dann wieder im Februar (Beifall bei der CDU/CSU) endet. Insofern bitte ich den Finanzminister hier, in den nächsten Wochen initiativ zu werden und entsprechende Sebastian Brehm (CDU/CSU): Maßnahmen zu ergreifen, damit wir dann auch hier eine Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und geordnete Besteuerung vornehmen können. Kollegen! Zunächst einmal – das sei in einer solchen Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Debatte erlaubt – möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen Steuerberater in Deutschland mit ihren Mitar- (Beifall bei der CDU/CSU) beiterinnen und Mitarbeitern ein herzliches Dankeschön aussprechen. Sie leisten in der Pandemie eine außeror- Vizepräsidentin Claudia Roth: dentliche Arbeit. Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Nächster Redner: für Ohne die Steuerberater wäre eine Abwicklung der die SPD-Fraktion Lothar Binding. zahlreichen von uns beschlossenen Maßnahmen in dieser Weise gar nicht möglich: Abrechnung des Kurzarbeiter- (Beifall bei der SPD) gelds; Stundungsanträge für Sozialversicherungsbeiträ- ge, für Steuerzahlungen, für Steuervorauszahlungen; Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Beantragung der zahlreichen Coronahilfen mit den groß- Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen en Herausforderungen, insbesondere mit den sich doch und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich den- immer wieder ändernden FAQs; Beantragung der KfW- ke, ein Lob verträgt auch Wiederholung. Deshalb möchte (B) Darlehen und die damit verbundene betriebswirtschaft- ich Antje Tillmann danken für die gute Zusammenarbeit, (D) liche Bearbeitung; Berechnung und Beantragung des der AG Finanzen der CDU/CSU, aber auch der Opposi- unterjährigen Verlustrücktrags; die Verarbeitung – Frau tion, die hier gut nennt, was gut ist. Ich meine, das muss Kollegin Tillmann hat es ja auch gesagt – des Wechsels man auch erst mal machen. des Mehrwertsteuersatzes für ein halbes Jahr und vieles, vieles mehr. Dazu gehört übrigens auch, dass die Steuer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten berater immer ein offenes Ohr für die täglichen Sorgen der CDU/CSU und des Abg. Matthias W. und Nöte der Mandanten haben. Gerade in einer solchen Birkwald [DIE LINKE] – Stefan Liebich Zeit wird das besonders in Anspruch genommen. [DIE LINKE]: Ist ja auch selten!) Das führt dazu, dass es unglaublich viele Überstunden Ich will auch den steuerberatenden Berufen danken. bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt, aber es Bei mir ist der große Vorteil: Ich kann denen danken, führt auch zu einer hohen Arbeitsbelastung der Inhaber. ohne mich selbst zu meinen. Das ist bestimmt gut. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir für die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fertigstellung und Einreichung der Steuererklärung 2019 der CDU/CSU) jetzt nicht die normale Abgabefrist, sondern eine verlän- gerte Abgabefrist beschließen. Normal ist ja bei Inan- Und zwar danke ich denen, weil sie einen wichtigen Bei- spruchnahme von steuerberatenden Berufen eine Frist trag zur Bewältigung der Coronakrise leisten und auch bis Ende Februar des übernächsten Jahres; also wäre die sonst natürlich im Hinblick auf unsere Einnahmen; das ist Frist für die Jahressteuererklärung 2019 Ende Februar klar. ausgelaufen. Jetzt wird sie bis August verlängert. Steuerliche Erleichterungen und Überbrückungshilfen Bei den Zinsen ist es genauso: Der Zinslauf beginnt ab haben eine gigantische Anzahl von Vorgängen erzeugt. dem 15. Monat nach dem Veranlagungsjahr. Also würden Michael Schrodi hat es schon gesagt: Es gibt 70 verschie- zum 1. April eben 0,5 Prozent Zinsen pro Monat laufen. dene Maßnahmen, die da verwaltet werden müssen. Ich Jetzt wird das verlängert auf den 1. Oktober. Das heißt, glaube, das zeigt schon, um was es hier geht. alle Steuererklärungen, die bis dahin abgegeben werden, Um ein paar Zahlen zu nennen: Bei der Novemberhilfe werden nicht verzinst. gibt es fast 280 000 Anträge, die vom Volumen her Es ist angesprochen worden: Das ist im parlamentari- 4,5 Milliarden Euro ausmachen; und 1,2 Milliarden schen Verfahren erreicht worden, weil der Finanzminister Euro sind schon ausbezahlt. Nur so viel für die, die sagen: es vorher nicht in unserer Weise, wie wir es im Jahres- Es passiert nichts. – Für die Dezemberhilfe gibt es mehr steuergesetz beantragt haben, hat durchgehen lassen. als 82 000 Anträge mit einem Volumen von mehr als Deswegen bedanke ich mich ausdrücklich bei den Koali- 1 Milliarde Euro und bisherige Auszahlungen in Höhe Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25705

Lothar Binding (Heidelberg) (A) von 400 Millionen Euro. Irgendwo muss das Geld ange- Fritz Güntzler (CDU/CSU): (C) kommen sein, auch wenn noch nicht alle haben, was sie Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- benötigen und brauchen. ren! Wir haben ja nun festgestellt, dass alle Fraktionen der Meinung sind: Das ist ein gutes Gesetz. – Das kommt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hier auch nicht immer vor. der CDU/CSU) Man kann kritisieren, dass wir das nicht schon im Jah- Aber zugleich muss natürlich auch in der Verwaltung ressteuergesetz 2020 gemacht haben. Die Opposition tut viel getan werden. Deshalb will ich mich auch Michael dies, ohne aber zum Jahressteuergesetz 2020 einen An- Schrodis Dank anschließen. Die Finanzverwaltung leidet trag für entsprechende Änderungen gestellt zu haben. Das auch unter diesem Problem. Natürlich haben die jetzt die hätte sich so gehört. Sorge, dass, wenn wir die Fristen verlängern, im ersten Halbjahr wenig kommt und sich dann alles häuft. Das ist Was ich aber gut finde: Als wir hier über das Jahres- logisch, weil natürlich gegen Fristende sehr viel passiert. steuergesetz 2020 debattiert haben, habe ich in meiner Und das ist für die nicht sehr leicht. Die müssen zinslose Rede auf genau diesen Umstand hingewiesen und darauf, Stundungen überlegen, erleichterte Herabsetzung hän- dass die Finanzverwaltung nicht so reagiert hat, wie wir deln, auf Vollstreckungsmaßnahmen verzichten. Das be- das erwartet hatten, nämlich mit der Verlängerung um deutet richtig viel Arbeit. einen Monat. Ich habe das hier einen „Schlag ins Gesicht Das Gerücht, dass dieses Gesetz jetzt nur für die der beratenden Berufe“ genannt. Das führte dazu, dass Steuerberater im Bundestag gemacht wird, ist falsch. mich am nächsten Morgen der Kollege Lothar Binding Das wird ja auch für die wenigen Steuerberater außerhalb angerufen und gesagt hat: Die Argumente haben mich des Bundestages gemacht. Insofern sind ganz viele Leute überzeugt! Lass uns darüber reden! – Wir haben dann davon betroffen. innerhalb kürzester Zeit diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich finde: Das ist gelebte Demokratie; das ist Parlamenta- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der rismus. Darum einen herzlichen Dank auch an Lothar SPD und der CDU/CSU) Binding! – Ein kleiner Witz ist doch mal erlaubt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Diese Frist hat übrigens eine Geschichte. Die Ge- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schichte ist: Früher hatten die Steuerberater nur 9 Monate GRÜNEN) Zeit, nämlich bis zum 30. September. Das ging dann über Es ist jetzt mehrfach ausgeführt worden, warum wir 12, 14, 15 Monate, und jetzt haben die Steuerberater das alles brauchen. Es ist richtig: Die in den steuerbera- 20 Monate Zeit. Da merkt man: Wir strengen uns an, (B) tenden Berufen Tätigen – und nicht nur die Steuerberater (D) das System wirklich gut zu machen. Bei dem, der nicht im Deutschen Bundestag – sind für ihre Mandanten mitt- beraten wird, sind die Fristen kürzer. In der Vergangen- lerweile fast rund um die Uhr da. Wir sind der erste heit war die Frist bis zum 31. Mai; seit 2018 ist sie bis Ansprechpartner. Wir sind sozusagen der Hausarzt der zum 31. Juli. Es sind also immerhin 7 Monate. Man sieht, Unternehmerinnen und Unternehmer und der Unterneh- dass wir uns kümmern, dass da was passiert. mungen. Und die Fristen sind wichtig. Denn wenn man sie nicht Wir sollen immer eine Lösung parat haben. Wir sollen einhält, hat man Folgendes zu befürchten: einen Verspä- unterstützen beim Kurzarbeitergeld, bei den Stundungs- tungszuschlag, ein Zwangsgeld, möglicherweise eine anträgen, den Herabsetzungsanträgen; es ist all das ge- Steuerschätzung, Zwischennachzahlungen oder Zins- nannt worden. Ich will ergänzen: Bei der Beantragung der nachzahlungen; möglicherweise wird auch die Immunität KfW-Darlehen machen wir jede Menge: Sofortkredite, aufgehoben, wenn es einen Abgeordneten betrifft. Also: schnelle Kredite, Unternehmenskredite. Die kann man Man hat tatsächlich Konsequenzen zu befürchten. Des- aber nicht einfach beantragen. Da müssen Planungen vor- halb sind die Fristen wichtig. gelegt werden, und diese Planungen müssen gemacht Sie sind aber auch wichtig für Erstattungen und Nach- werden. zahlungen. Wer eine Erstattung bekommt, der will das Die größte Herausforderung sind derzeit natürlich die Geld natürlich schnell haben. Wer eine Nachzahlung zu Beantragungen der Überbrückungshilfen. Über die Pro- leisten hat, der muss sich überlegen, ob es dafür einen bleme unterhalten wir uns schon die letzten Tage. Die Zinslauf gibt, der fair ist. Und wir haben es gehört: Der muss man auch benennen dürfen. Der Bundestag hat Zinslauf ist fair, und er wird auch verlängert. der Bundesregierung viel Geld zur Verfügung gestellt, Insofern: insgesamt ein gutes Gesetz. und wir haben die Erwartung, dass diese Gelder auch jetzt bei den Unternehmen ankommen. Vielen Dank. Ich akzeptiere, dass es da am Anfang Probleme geben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kann. Milliarden können nicht von heute auf morgen der CDU/CSU) verteilt werden; das muss sorgsam geschehen, damit wir keine Fehlallokationen haben. Aber dennoch müssen wir Vizepräsidentin Claudia Roth: die Erwartungshaltung – die wir selber erzeugt haben –, Vielen Dank, Lothar Binding. – Letzter Redner in die- dass dieses Geld ankommt, auch befriedigen. ser Debatte: Fritz Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU) der FDP) 25706 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Fritz Güntzler (A) Lieber Lothar Binding, mittlerweile sind bei der Dr. Bruno Hollnagel (AfD): (C) Novemberhilfe 4,5 Milliarden Euro beantragt, aber nur Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten 1,3 Milliarden Euro geflossen. Als Praktiker sage ich: Damen und Herren! Das Thema: fehlgeleitete Steuergel- Viele Anträge, die für die November- und Dezemberhilfe der und Haftungsrisiken in der EU. Um Steuergelder gestellt werden müssten, sind derzeit noch nicht gestellt, sinnvoll verwenden zu können, bedarf es zwingend einer weil sie noch gar nicht gestellt werden können. Wir strategischen Konzeption. Diese Konzeption fehlt in der erschweren den steuerberatenden Berufen derzeit die EU. Das belegt das Beispiel „Wiederaufbaufonds“. Arbeit dadurch, dass die Rahmenbedingungen für die (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Beantragungen teilweise völlig unklar sind. Von daher die dringende Aufforderung an die Bundesregierung, Dort wird erst Geld angesammelt, dann wird das Geld an an das Bundesfinanzministerium und das Bundeswirt- Staaten verteilt, und dann wird anschließend überlegt, schaftsministerium, hier endlich Klarheit zu schaffen, wofür das Geld überhaupt ausgegeben werden soll. Die- damit die Gelder beantragt werden können und auch ses verkehrte Vorgehen erzeugt Chaos. Das sehen wir dort ankommen, wo sie ankommen sollen. aktuell an Italien, wo der Streit um die Geldverteilung zur Regierungskrise geführt hat. Die aktuelle EU-Politik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ist nicht in der Lage, Gelder effizient einzusetzen. bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der AfD) Von daher ist das heute ein gutes Gesetz. Das führt mich zum Amtseid. Der verpflichtet dazu, Ich will nur noch eines mit auf den Weg geben: Wir stets zum Wohle des deutschen Volkes zu handeln, seinen sollten in Zukunft über weitere Fristen diskutieren. Es Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. Die geht um Fristen zur Aufstellung von Jahresabschlüssen; Frage ist: Wird diesem Auftrag entsprochen? Antwort: das ist teilweise sanktionsbewehrt. Es geht um Offenle- Nein! Dazu Beispiele: gungsfristen. Also: Wir haben noch einige Fristen, die wir Die Bundesrepublik Deutschland soll ab 2021 jährlich uns auch angucken sollten. Von daher können wir das, 42 Prozent mehr an Brüssel überweisen; aber die Leistun- was wir heute schon gut gemacht haben, noch besser gen von Brüssel an Deutschland steigen nicht. Wir zahlen machen. zwar mehr, bekommen aber nichts dafür. Wir verschen- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ken Geld. Das ist zum Schaden unseres Landes und der Bürger; das widerspricht dem Amtseid. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der AfD – Alexander Ulrich [DIE ordneten der SPD) LINKE]: Keine Ahnung!) (B) Im Rahmen von „Next Generation EU“ wird ein (D) Vizepräsidentin Claudia Roth: 750 Milliarden Euro schwerer Coronaaufbaufonds aufge- Vielen Dank, Fritz Güntzler. – Damit schließe ich die legt. Dieser soll durch Kredite finanziert werden. Für Aussprache. diese Kredite haften alle Mitgliedstaaten gemeinsam. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs Für die Italiener zum Beispiel ist das durchaus ein inte- auf Drucksache 19/25795 an die in der Tagesordnung ressantes Geschäft; denn sie bekommen deutlich mehr, aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Weitere Über- als sie an Tilgung zurückzahlen müssen. Wer zahlt dann weisungsvorschläge liegen uns nicht vor. Dann wird aber die Zeche? Unter anderem die deutschen Steuerzah- genau so verfahren. ler! Wir zahlen durch Tilgung 52 Milliarden Euro mehr, als wir bekommen. Meine Damen und Herren, das Geld Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: könnten wir selbst sehr gut für unsere Lockdown-Geschä- Beratung des Antrags der Abgeordneten digten gebrauchen. Dr. Bruno Hollnagel, Albrecht Glaser, Franziska (Beifall bei der AfD) Gminder, weiterer Abgeordneter und der Frak- Zu dem alten Anleihekaufprogramm der EZB stellt das tion der AfD Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 5. Mai Steuergelder der deutschen Bürger vor nicht 2020 fest, dass durch die Anleihekäufe ein erhöhtes Risi- zielgerichtetem Einsatz im EU-Budget schüt- ko für Immobilien- und Aktienblasen ausgeht, und es zen und ihre Haftungen begrenzen testiert ausdrücklich negative ökonomische und soziale Auswirkungen für nahezu alle Bürger. Ergänzend hat Drucksache 19/25806 das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die EZB Überweisungsvorschlag: gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen als Haushaltsausschuss (f) auch seine Kompetenz überschritten hat. Das gilt nun Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ebenso für das neue Anleihekaufprogramm PEPP, weil es eine Fortsetzung des alten Programms ist, nur unter Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten neuem Namen. Es ist Aufgabe der Regierung, Schaden beschlossen. – Ich bitte, die Plätze einzunehmen und abzuwenden. Handeln Sie entsprechend! die Debatten woanders weiterzuführen. (Beifall bei der AfD) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die AfD- Fraktion Dr. Bruno Hollnagel. Sie, Frau Bundeskanzlerin, postulierten: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Dieses Dogma führte dazu, (Beifall bei der AfD) dass billionenschwere Rettungsprogramme aufgelegt Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25707

Dr. Bruno Hollnagel (A) worden sind, für die auch Deutschland geradesteht. Ich sicherlich nicht. Sie zitieren aus Berichten vom Februar (C) höre Sie schon sagen: Ja, wir sind doch aber die Nutz- 2019 und wissen doch, dass die wesentlichen Vertrags- nießer Europas. – Das ist falsch! verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen erst (Beifall bei der AfD) in 2020 erfolgt sind. Sei es drum. Denn wie titelte „Die Welt“ zutreffend? „Der Euro bremst Zur Sache. Natürlich gibt es ein Konzept für die Auf- sogar Deutschland aus“! gaben der EU. Das Aufstellungsverfahren für den mehr- jährigen Finanzrahmen ist transparent und langfristig In dem Artikel wird eine EZB-Studie besprochen. Sie angelegt. Die ersten Vorschläge hatte noch Kommissar belegt, dass der Euro das Wachstum Deutschlands Oettinger in 2019 vorgestellt. Politische Prioritäten und dämpft. Der Euro ist eben nicht im Interesse Deutsch- Schwerpunkte wurden festgelegt und vorgestellt, unter lands und seiner Bürger; denn er schmälert unseren anderem die Digitalisierung und der Klimaschutz. Das Wohlstand. Verfahren ist natürlich langfristig mit den Mitgliedstaaten (Zuruf von der LINKEN) abgestimmt. Man ringt um Schwerpunkte, man diskutiert Wir fordern klar definierte Zielsetzungen des mittelfris- über Umschichtungen. Das Verfahren ist zäh, aber es tigen Finanzrahmens der EU und einen Mehrwert für funktioniert. Deutschland und seine Bürger. Die politischen Schwerpunkte, die am Ende festgelegt (Beifall bei der AfD) werden, sind die Aufgaben, die durch die EU wahrge- nommen werden sollen. Das ist das Konzept für den Meine Damen und Herren, Vertragsbrüche sind gewiss europäischen Mehrwert bei den Aufgaben in den komm- keine Grundlage, um dem Wohle Deutschlands und sei- enden Jahren. Natürlich hat die Coronapandemie diese ner Bürger zu dienen. Der Artikel 311 AEUV besagt: Überlegungen durchkreuzt. Aber die Reaktion darauf „Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnah- war ja das Aufbauinstrument „Next Generation EU“. men vollständig aus Eigenmitteln finanziert.“ Doch was Das zeigt, dass Europa schnell handlungsfähig ist, wenn passiert? Der Kommission soll das Recht eingeräumt es notwendig ist. werden, Ausgaben aus Krediten zu finanzieren. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Eine Anmerkung an dieser Stelle, Herr Hollnagel. Der GRÜNEN]: Ja, aus Eigenmitteln! – europäische Mehrwert bei einer Aufgabe muss nicht Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE immer monetär sein. Die EU ist kein Unternehmen, das GRÜNEN]: Aus Eigenmitteln!) man ausschließlich nach Kennzahlen führt. Kernelement der EU war, ist und bleibt immer: Sie ist auch eine Werte- Fremdkapital sind aber keine Eigenmittel. Das Vorhaben gemeinschaft, und dazu stehen wir. (B) verstößt gegen EU-Verträge. (D) (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir fordern Vertragstreue. Wir fordern die Wahrung bundesdeutscher Interessen, und wir fordern die Erfül- Als Zweites kritisieren Sie die Hebelung des EU-Bud- lung des Amtseids. gets. Sie beziehen sich dabei auf den Europäischen Fonds Vielen Dank. für Strategische Investitionen, EFSI, den Nachfolger: das Investitionsprogramm InvestEU, das Aufbauinstrument (Beifall bei der AfD) „Next Generation EU“ und beziehen auch gleich den Green Deal mit ein. Der Green Deal – das sei nur eine Vizepräsidentin Claudia Roth: Anmerkung – ist im Vergleich zu den anderen Punkten Danke schön, Dr. Hollnagel. – Nächster Redner: für eine politische Äußerung, ein Programm, aber kein die CDU/CSU-Fraktion Dr. André Berghegger. Finanzierungsinstrument; deswegen muss man da diffe- renzieren. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie kritisieren das Zusammenspiel von eingezahlten Dr. André Berghegger (CDU/CSU): Barmitteln und der Übernahme von Garantien. Das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Zusammenspiel von Barmitteln und Garantien hat sich Kollegen! Meine Damen und Herren! Der hier vorliegen- aber bewährt. Gucken Sie auf die Europäische Investi- de Antrag der AfD-Fraktion bemängelt im Wesentlichen tionsbank. Dort wird dieses System seit etlichen Jahren – ein fehlendes Konzept für den europäischen Mehrwert wenn nicht Jahrzehnten – erfolgreich mit guten Bonitäts- bei den Aufgaben der EU am Beispiel des mehrjährigen werten für alle praktiziert. Deswegen ist das keine Neue- Finanzrahmens, also der Handlungsgrundlage der EU für rung, sondern durchaus praktikabel, auch für die Zukunft. die kommenden Jahre. Es fehle die Strategie, und es fehle Bei der Hebelung an sich – das heißt dem Anreizen der zielgerichtete Mitteleinsatz, so wie es der Kollege auch von privaten Investitionen – müssen wir bedenken, vorhin angesprochen hat. dass das ein effektives, marktwirtschaftliches Instrument Eine Vorbemerkung. Sie zitieren dort häufiger den ist. Was wäre denn die Alternative, wenn man handeln Europäischen Rechnungshof. Ich kann Sie nur bitten, will? Die Alternative wäre – Möglichkeit eins –, mehr diesen Rechnungshof auch vollständig zu zitieren; denn öffentliche Barmittel als Mitgliedstaat einzuzahlen und sonst könnte ein falscher Eindruck von dem entstehen, damit das finanzielle Risiko sofort zu erhöhen; das kön- was der Rechnungshof gesagt hat, und das wollen Sie ja nen Sie doch bestimmt nicht wollen. Die zweite Möglich- 25708 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dr. André Berghegger (A) keit wäre, gar nicht oder im geringeren Maße zu helfen, Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) weniger an die Mitgliedstaaten auszukehren. Wollen Sie Vielen Dank, Dr. Berghegger. das? Da bin ich mir nicht ganz sicher. Ich habe noch einen Nachtrag zu machen. Manche Aber allein aus wirtschaftlichen Erwägungen müssen Kolleginnen und Kollegen waren in der Debatte zum vor- Sie doch verstehen: Rund 60 Prozent des Exportes aus herigen Tagesordnungspunkt mit dem Thema Abgaben- Deutschland gehen in die Mitgliedstaaten der EU. Des- ordnung schon da. Da wurde der Eindruck erweckt, als wegen hat Deutschland als Exportnation ein elementares wären wir eine Vollversammlung von Steuerberatern und Interesse daran, dass die Mitgliedstaaten der Europäi- Steuerberaterinnen. Wir haben uns jetzt statistischen Zah- schen Union wirtschaftlich wieder auf die Füße kommen, len geben lassen, wie viele Steuerberater und Steuerbera- damit sie unsere Waren und Dienstleistungen auch abneh- terinnen – ich weiß gar nicht, ob Frauen dabei sind – hier men können. im Hause sind: Es sind sieben. – Also, noch haben sie nicht die Mehrheit. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Wert der Exporte betrug allein 2019 über 900 Milliar- (Heiterkeit – Marianne Schieder [SPD]: Unterrepräsentiert!) den Euro; das sei an dieser Stelle angemerkt. Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Otto Fricke. Und zu guter Letzt. Die Leitplanken, die uns bei diesen Diskussionen vorgegeben werden, gibt uns, würde ich (Beifall bei der FDP) sagen, das Bundesverfassungsgericht vor, aber auch unsere politische Verantwortung. Die Haftungsfragen Otto Fricke (FDP): sind mit Maß und Mitte zu regeln, und vor allen Dingen Sehr geschätzte Frau Vizepräsidentin! Da bin ich ja sind die Haftungen zu begrenzen. Bei der Konstruktion froh, dass auch Rechtsanwälte steuerrechtlich beraten von „Next Generation EU“ in den letzten Wochen und dürfen. Monaten war es eine zentrale Diskussion, wie wir diese Leitplanken einhalten können. Ich finde, in dieser beson- (Heiterkeit bei der FDP, der CDU/CSU und deren Situation, in dieser schwierigen Phase, ist es eine dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gut vertretbare Lösung, temporär, zeitlich befristet ein solches Instrument aufzusetzen. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Albrecht Glaser [AfD]: Bis 2058! Temporär?) Dann kommen wir schon auf 99 Steuerberaterinnen und Steuerberater; dann erhöht sich die Zahl nämlich. Sie unterstellen des Weiteren, dass sich der Charakter (B) der EU mit dem Rechtsstaatlichkeitsmechanismus von (D) einem freiwilligen Zusammenschluss wegbewegt. Weg Otto Fricke (FDP): von einem freiwilligen Zusammenschluss – mit Verlaub, Frau Präsidentin, ich halte jetzt natürlich fest, dass die das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Wir sehen Zeit nicht angehalten wurde. Aber da sind Sie sicherlich – doch am Brexit, dass die Möglichkeit besteht, aus der wie immer in Ihrer Weisheit – sehr tolerant. Europäischen Union auszutreten. Ob das eine kluge Ent- scheidung ist, wird sich in Zukunft zeigen. Aber wenn Vizepräsidentin Claudia Roth: man Mitgliedstaat der Europäischen Union ist, dann Selbstverständlich; 15 Sekunden. bekennt man sich zu einem Wertekanon. Das macht uns doch stark, und das verleiht der Europäischen Union eine starke Stimme auf dieser Welt. Otto Fricke (FDP): Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit Blick auf Der Mechanismus, den Sie ansprechen, ist ein ganz den Antrag und vor dem Hintergrund, dass der Sinn unse- anderer; der ist technischer Art. Wenn Mittel der Europä- res Parlamentes der Diskurs ist, hätte ich gesagt: „Okay, ischen Union ausgekehrt werden und nicht zweckentspre- jetzt arbeiten wir den Antrag, den die AfD hier gestellt chend verwendet werden, dann muss das doch kontrol- hat, mal durch“; denn das ist Teil von Parlamentarismus. liert und bei einer falschen Verwendung im Zweifel auch Wir müssen dann aber auch sagen, dass er schon veraltet sanktioniert werden. Das schafft Vertrauen und Verläss- ist, weil die Zeit abgelaufen ist und man zu einem späte- lichkeit und unterliegt zudem noch der Einspruchsmög- ren Punkt kommt. Deswegen will ich Sie im Detail nur lichkeit der Mitgliedstaaten. Dieser Mechanismus wurde auf einen Punkt des Antrages hinweisen, an dem man kurz vor Schluss noch hineinverhandelt. Das ist eine ver- erkennen kann, wes Geistes Kind Sie da eigentlich sind. nünftige Regelung, aber auch eine selbstverständliche Denn dass man Europa auch kritisieren können muss, ist Regelung. klar; dass da auch im finanziellen Bereich vieles nicht Sie sehen an diesen drei Beispielen: Mit Ihrem Antrag richtig läuft, ist auch keine Frage. sprechen Sie eine Vielzahl von Themen an. Aber bewusst Lesen Sie sich mal Ihre eigene Überschrift durch: oder unbewusst – ich weiß es nicht – diskutieren Sie sie „Steuergelder der“ – Achtung! – „deutschen Bürger vor nicht vollständig. Das finde ich unseriös, und deswegen nicht zielgerichtetem Einsatz im EU-Budget schützen werden wir den Antrag ablehnen. und ihre Haftungen begrenzen“. Ich stelle Ihnen eine ein- Vielen Dank fürs freundliche Zuhören. fache Frage: Was ist denn mit den nichtdeutschen Bür- gern – in Ihrer Diktion –, die in Deutschland Steuern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zahlen? Die werden in Ihrem Antrag schon nach der ordneten der SPD) Überschrift nicht geschützt. Da merken Sie doch spätes- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25709

Otto Fricke (A) tens, dass Sie nicht nur eine Schutzsicht haben, sondern Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) eine Sicht, die rein nationalistisch ist, noch nicht einmal Vielen Dank, Otto Fricke. – Nächster Redner: für die patriotisch. SPD-Fraktion Metin Hakverdi. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD) Solch eine Überschrift ist für uns Grund genug, Ihren Antrag abzulehnen. Metin Hakverdi (SPD): ( [AfD]: Das ist Haarspalte- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und rei!) Kollegen! Die AfD hat – wieder einmal – einen Antrag – Nein, das ist keine Haarspalterei. Ich danke für das eingebracht, in dem sie sich die Europäische Union vor- Stichwort „Haarspalterei“; ich dachte, es kommt nicht. knöpft. Bereits die Überschrift reicht, um zu wissen, wo Mit genau diesem Text gehen Sie über die sozialen die Reise hingehen soll: „Steuergelder der deutschen Medien in die Öffentlichkeit, und Sie fangen die Wähler, Bürger … im EU-Budget schützen“. die Sie fangen wollen, mit dem Hinweis, dass es nur um Schützen ist etwas Gutes, wenn man es denn ernst deutsche Steuerzahler, nur um deutsche Bürger geht. meinen würde. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, (Martin Hohmann [AfD]: Steuerzahler, die hier der AfD geht es nicht um Schutz, der AfD geht es um steuerpflichtig sind, sind doch gemeint! Das ist Verunsicherung; es geht ihr darum, das Vertrauen der doch ganz klar!) Menschen in die Europäische Union und in die Institutio- nen der Europäischen Union zu schwächen. In diesem Deswegen verwenden Sie solche Begriffe. Das ist keine Antrag geht es nicht um Schutz, es geht um Verunsiche- Haarspalterei, sondern das ist Parlamentarismus. Sie rung. müssen sich mit solchen Worten auseinandersetzen. – Dabei belasse ich es. In dem Antrag fordert die AfD die Vorlage eines ana- Dann kommen wir zu der Frage, was Europa ist. Eine lytisch begründeten Konzepts für einen europäischen rein wirtschaftliche Betrachtung von Europa ist genauso Mehrwert. Eigentlich wird in Abrede gestellt, dass der falsch wie die rein wirtschaftliche Betrachtung unseres vorliegende EU-Haushalt eine analytische Grundlage Lebens. Ja, Wirtschaft ist die Grundlage, aber ein Leben, hätte. Der Mehrwert der Europäischen Union insgesamt das man allein nach wirtschaftlichen Überlegungen führt, wird in Abrede gestellt. Kurz: Die EU sei nicht analy- wäre doch sehr armselig. Sie haben in Ihrer Rede gesagt: tisch, schaffe keinen Mehrwert und ihr fehle die Strate- Es geht um unseren Wohlstand. – Was ist denn unser gie. – Das ist die Botschaft, die vermittelt werden soll, subtil, aber eindeutig, so wie die AfD das immer macht. (B) Wohlstand? Ich will das deutlich sagen: Unser Wohlstand (D) ist mehr als Finanzen, als Milliarden, als Steuern, als Das ist keine eurokritische Haltung. Die AfD war mal Geld. Ich nehme als Beispiel das Erasmus-Programm: eine eurokritische Partei – vielleicht bei ihrer Gründung –, Unser Wohlstand ist auch – das erleben wir jetzt mit das ist schon lange vorbei. Heute ist die AfD eine radikale dem Austritt der Briten –, dass unsere Kinder in einer Partei. Der Angriff auf die europäischen Institutionen ist Weise in Europa lernen, leben und arbeiten können, wie in Wahrheit der Versuch, unsere Demokratie insgesamt das keine Generation vorher konnte; das werden hoffent- zu diskreditieren. lich noch viele Generationen können. Und das geht nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit einem Europa, das funktioniert. der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Ab- der CDU/CSU und der SPD und des Abg. geordneten der AfD) Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Die Höcke-isierung der AfD schreitet voran. Deshalb GRÜNEN]) steht sie als Partei auch im Fokus des Verfassungsschut- Über das Thema Frieden will ich gar nicht erst reden. zes und demnächst – hoffentlich – auch unter Beobach- Nehmen wir aber das Thema Umwelt: Gehört zum Wohl- tung. Natürlich schafft es niemand, die Demokratie mit stand nicht auch, in einer Welt zu leben, zumindest auf einem, erst recht nicht mit diesem Antrag zu diskreditie- einem Kontinent, wo gezeigt wird, dass Ökonomie und ren. Es sind viele Anträge, viele kleine Schritte und Akti- Ökologie miteinander vereinbar sind? Ist das nicht auch vitäten hier und in den sozialen Medien – Schritt für Wohlstand? – Die Fragen, die sich in diesem Zusammen- Schritt. Sie sind emsig. Sie sind fleißig. Sie versuchen, hang stellen, werden oft von Ihnen vergessen. das System von innen heraus zum Einsturz zu bringen, Ich will es ganz klar sagen – auch weil meine Redezeit täglich, mit vielen kleinen Schritten. Dieser Populismus abläuft, Frau Vizepräsidentin –: Wir brauchen ein Euro- setzt auf – wie könnte es anders sein? – Nationalismus pa, das sich nicht allein auf die wirtschaftlichen Dinge und Hetze. Diese Hetze stachelt die Menschen an. Bei fokussiert, das die wirtschaftlichen Dinge zwar niemals einigen haben Sie Erfolg. Einige glauben wirklich, dass aus dem Blick verliert, sich aber klarmacht, dass die es nicht im Interesse Deutschlands läge, Mitglied der europäischen Werte das sind, was uns ausmacht und Europäischen Union zu sein. Einige glauben wirklich, was wir brauchen. – Deswegen ist dieser Antrag falsch. dass wir Nettozahler seien und nichts herausbekämen, obwohl wir die größten Profiteure der EU sind. Herzlichen Dank. Mit dieser Hetze wird Zweifel gesät, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Albrecht Glaser [AfD]: Hetze ist das!) 25710 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Metin Hakverdi (A) Zweifel an den Institutionen der EU und in unserem Und wie ist das wohl für die AfD-Abgeordneten, dass (C) Land – jeden Tag mit kleinen Schritten, Schritt für Donald Trump nicht wiedergewählt wurde, dass sein Schritt. Und die Lügen zeigen Wirkung. Dann gibt es Putschversuch gescheitert ist? Ich habe nicht vergessen, welche, die versuchen, etwas gewaltsam zu ändern, die wie Sie im Europaausschuss Richard Grenell, den ehe- versuchen, den Deutschen Bundestag zu stürmen, oder maligen US-Botschafter, mit einem Applaus empfangen wie in den USA geschehen: Sie stürmen das Kapitol, haben. Werden Sie auch den künftigen US-Botschafter sodass sogar Menschen sterben. mit einem Applaus begrüßen, oder gilt Ihre Solidarität nur Spaltern und Hetzern? (Norbert Kleinwächter [AfD]: Es geht gerade Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Interessen unse- um Geld!) res Landes können nicht von denen durchgesetzt werden, Denn Donald Trump war auch emsig, war auch fleißig, die hetzen und spalten. Schritt für Schritt. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Machen Sie doch selber die ganze Zeit! Merken Sie das nicht? Lassen Sie uns gerne einmal zu Ende denken, was hier Was ist das denn für eine Rede? – Gegenruf im Antrag aufgeschrieben wurde: Nehmen wir an, des Abg. [SPD]: Da sollten Sie Deutschland verabschiedet sich tatsächlich von der euro- mal ruhig sein, Herr Baumann! – Weiterer päischen Solidarität. Und dann? Wächst damit das Gegenruf von der LINKEN: Eine richtige Gewicht Deutschlands in der Welt? Könnten dann die Rede!) Interessen der deutschen Wirtschaft besser verteidigt werden? Könnten die Interessen der deutschen Steuer- Die Interessen unseres Landes können nicht von denen zahler besser verteidigt werden? Natürlich nicht. Jeder verteidigt werden, die das Vertrauen in demokratische weiß, dass die Interessen unseres Landes im globalen Institutionen zu erschüttern versuchen. Nur das Bekennt- Wettbewerb zwischen einem aufstrebenden China und nis zu einer offenen liberalen Gesellschaft, nur das den Vereinigten Staaten natürlich am besten verteidigt Bekenntnis zu starken demokratischen Institutionen in werden können, wenn wir unsere europäischen Partner unserem Land und in der EU und das Bekenntnis zu einer an unserer Seite wissen. belastbaren innereuropäischen Solidarität schaffen den Boden dafür, dass wir unsere Art, zu leben, unseren (Beifall bei der SPD – Albrecht Glaser [AfD]: Wohlstand und unseren Frieden auch in den kommenden Zehn Jahre kein Wirtschaftswachstum!) Jahrzehnten bewahren können. Und es ist die Vorausset- zung dafür, dass wir mit den großen Herausforderungen Europa verschafft – und das ist der wichtige Punkt – der Zukunft, Klimawandel, Migration, globale System- unserem Land mehr Souveränität, nicht weniger. Wir (B) konkurrenz, digitale Souveränität, klarkommen. – Hören (D) haben mehr Souveränität, wenn wir solidarisch mit unse- Sie nicht auf die Spalter, hören Sie auf die Demokraten! ren europäischen Partnern als geeintes Europa China gegenübertreten. Diese Stärke ist das Ergebnis solidari- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ja, da sind Sie der scher europäischer Gesellschaften. Solidarität ist weder Richtige! Das haben Sie heute wieder bewie- eine Einbahnstraße noch ein Nullsummenspiel. Man sen! Hetzrede!) kann nicht immer nur allein profitieren, man muss auch Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. bereit sein, zu geben. Wenn wir Solidarität von unseren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten europäischen Partnern für unsere Belange einfordern, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dann gilt das auch umgekehrt für uns. Das ist Europa,

(Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Metin Hakverdi. – Das Wort zu einer und wir sollten froh sein, dass wir die Europäische Union Kurzintervention hat der Kollege Albrecht Glaser. erschaffen haben. Wir sollten alles tun, damit sie uns erhalten bleibt. Wir sollten in die Vertrauensbildung der Menschen investieren. Damit schützt man die Interessen Albrecht Glaser (AfD): Herzlichen Dank, Frau Vizepräsidentin. – Herr unseres Landes. Und man gefährdet unsere nationalen Hakverdi, ich darf einfach ein paar Fragen stellen; auf Interessen, wenn man stattdessen, wie die AfD, gezielt das, was Sie hier an Hetze abgeliefert haben, will ich versucht, unsere Bürgerinnen und Bürger zu verunsi- nicht eingehen. chern. Die Europäische Union als Erfolgsmodell: Sie wissen, Wie ist das wohl für die Abgeordneten der AfD, wenn wir haben seit zehn Jahren weltweit ein Wirtschafts- man sieht, dass das Vereinigte Königreich aus der Euro- wachstum von über 4 Prozent, wir haben in Europa eines päischen Union und aus dem Binnenmarkt ausscheidet von unter 1 Prozent. und die EU trotzdem vollständig intakt bleibt? Ihre Hoff- nung, dass mit dem Brexit-Votum im Vereinigten König- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Vor- reich das Ende des europäischen Projekts eingeläutet sicht! Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich!) würde, hat sich als nicht wahr herausgestellt. Europa ist Wissen Sie, dass die Mehrzahl der europäischen Länder, stärker zusammengerückt. In der Coronakrise haben wir der EU-Länder, der Euro-Länder in den letzten zehn Jah- eine finanzielle Solidarität erlebt, die weltweit einzigartig ren null gewachsen ist, dass das Wirtschaftswachstum in ist. Der aktuelle EU-Haushalt ist ein eindrucksvolles der Mehrzahl dieser Länder im Verhältnis zum Rest der Zeugnis dieser einzigartigen europäischen Solidarität. Welt geschrumpft ist? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25711

Albrecht Glaser (A) Ist Ihnen bekannt, dass wir vor etwa zehn Jahren eine (Norbert Kleinwächter [AfD]: Das ist eine (C) Geldmenge M1 hatten, die etwa 200 bis 300 Milliarden unwahre Tatsachenbehauptung!) Euro betrug? Heute haben wir eine von über 2 Billionen die Tatsache, dass Sie Menschen hier in unser Haus gelas- Euro. Das ist eine Versechsfachung der Geldmenge, die sen haben, um offensichtlich die innere Ordnung zu mit der Realwirtschaft und deren Entwicklung null zu tun stören, und natürlich auch die Tatsache, dass Sie hoffent- hat. Hier wird eine Bombe geladen, die natürlich irgend- lich bald vom Verfassungsschutz beobachtet werden, wann explodiert. zeigt – – Ich verstehe nicht, was Sie angesichts dessen hier (Zuruf von der AfD: Sie sind ohne Argumente! erzählen und wie Sie dann noch eine Jubelarie auf diese Setzen Sie sich hin!) Form von europäischer Wirtschaft, von europäischem Erfolg, von der europäischen Stellung in der Welt, halten können. Ist Ihnen bekannt, dass der volkswirtschaftliche Vizepräsidentin Claudia Roth: Anteil der Europäischen Union am Weltinlandprodukt Lassen Sie ihn jetzt bitte ausreden. noch vor zehn Jahren bei 25 Prozent lag, jetzt bei 17 Pro- zent? Er marginalisiert sich weiter bis in den einstelligen Metin Hakverdi (SPD): Bereich. Ist Ihnen bekannt, dass die Schulden der EU, die Das ist so üblich in der Nichtdemokratie, niemanden es bisher noch nie gegeben hat, um Ihren eigenen Haus- ausreden zu lassen, nicht wahr? halt zu finanzieren, aufgekauft werden durch die EZB als eigene Institution, weil auf dem Weltmarkt die Auslei- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie antworten ja hungen gar nicht unterzubringen wären? nicht! – Zuruf des Abg. Albrecht Glaser [AfD]) Nachdem Sie das gehört haben, wäre ich Ihnen sehr – Ja, Sie distanzieren sich von Ihrer Fraktion, Herr Glaser, dankbar, wenn Sie erklären würden, wie Sie das mit Ihrer (Albrecht Glaser [AfD]: Ich habe Fragen Jubelarie zur EU und zur Euro-Zone zusammenbringen. gestellt!) (Beifall bei der AfD – Zuruf von der SPD: aus gutem Grund. Das verstehe ich. Absolut dummes Zeug!) ( [AfD]: Das ist doch irre! – Zuruf von der AfD: Was soll das denn?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie sind die Feinde der Demokratie. Ich werde Ihre Frage Herr Hakverdi, Sie haben jetzt die Möglichkeit, zu ant- nicht beantworten. worten. (Zurufe von der AfD) (B) (D) Metin Hakverdi (SPD): Und ich werde auch niemanden aus Ihrer Fraktion zum Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Sturm stellvertretenden Bundestagspräsidenten wählen. auf das deutsche Parlament, den Deutschen Bundestag, (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Wie blasiert ist von Mitgliedern – – das denn?) (Albrecht Glaser [AfD]: Davon war nicht die Ich danke Ihnen. Rede! – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Übelst! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hat keine Ahnung! Von den Fakten keine der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Ahnung!) GRÜNEN – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Super- demokrat! – Thomas Ehrhorn [AfD]: Das ist Vizepräsidentin Claudia Roth: eine Unverschämtheit!) So, jetzt ist Herr Hakverdi dran. ( [SPD], an die AfD gewandt: Vizepräsidentin Claudia Roth: Wir haben Ihrem Stuss ja auch zugehört! – Vielen Dank, Kollege Glaser. Vielen Dank, Kollege Albrecht Glaser [AfD]: Sie sollen meine Frage Hakverdi. – Ich gebe jetzt ab an meinen sehr geschätzten beantworten! – Zuruf des Abg. Dr. Bernd Kollegen Kubicki. Baumann [AfD]) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Metin Hakverdi (SPD): Frau Kollegin Dr. Lötzsch, Sie haben als Nächste das Wollen Sie den Versuch unternehmen, Herr Baumann, Wort. mich niederzubrüllen? Ist das Ihre Art? Erneut? (Beifall bei der LINKEN) (Zurufe von der AfD) – Das war eine rhetorische Frage. Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehr- Der Versuch auch Ihrer Parteimitglieder, ten Damen und Herren! Wir als Linke wollen ein soziales, ein solidarisches und friedliches Europa und eine fried- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Parteimitglieder?) liche Europäische Union. Wir wollen also genau das den Deutschen Bundestag im August letzten Jahres zu Gegenteil von dem, was die AfD will, um das einmal in stürmen, aller Klarheit zu sagen. 25712 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dr. Gesine Lötzsch (A) (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven- (C) Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Weil wir die Europäische Union verbessern wollen, NEN]) üben wir natürlich auch Kritik. Wir sagen ganz klar: Wenn die Europäische Union jetzt 13 Milliarden Euro Ja, es gibt viele Menschen, die die Europäische Union für direkte militärische Aufrüstung ausgeben will, dann kritisch sehen. Wenn die EU als Selbstbedienungsladen ist das falsch. Diese Gelder könnten wir in einer sozialen für Banken und Konzerne erlebt wird, dann zeigt das, Gesundheitspolitik und einer humanen Flüchtlingspolitik dass sie den falschen Weg geht. Wir müssen uns auf viel besser anlegen, meine Damen und Herren. den Weg machen, endlich zu einer solidarischen Union zu kommen. Sie allerdings versuchen mit Ihrem Antrag, (Beifall bei der LINKEN) die Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Das werden wir als Linke nicht mitmachen. Wir lehnen den Antrag Nun versucht die AfD, hier den Eindruck zu erwecken, ab, und wir sagen Ihnen deutlich: Europa hat nur eine die Europäische Union sei für Deutschland ein Verlust- Zukunft, wenn wir in der EU mehr Demokratie, mehr geschäft. Das Gegenteil ist der Fall, in Wahrheit ist es Solidarität und mehr Frieden wagen. Dafür steht Die genau andersrum. Linke, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Für jeden Euro, den Deutschland als Nettozahler in die EU-Kasse einzahlt, fließen rund 10 Euro als Wirtschafts- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: leistung nach Deutschland zurück. Eine solche Traum- Herzlichen Dank, Frau Dr. Lötzsch, Fraktion Die Lin- rendite zahlt Ihnen keine Bank, meine Damen und Her- ke. ren. (Zuruf von der LINKEN: Zugabe!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven- Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Franziska Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Brantner, Bündnis 90/Die Grünen. NEN] – Lachen der Abg. Dr. [AfD] – Zurufe von der AfD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Ja, Sie müssen einfach nachrechnen. Sie müssen sich Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einfach nur einmal mit den Fakten beschäftigen, das wür- NEN): de Ihnen vielleicht helfen, meine Damen und Herren. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach eigener Aussage will die AfD mit ihrem (B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (D) neten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE heutigen Antrag Steuergelder der deutschen Bürger LINKE]: Das hat man bei Herrn Glaser gese- schützen, um sich ein paar Zeilen weiter gegen den euro- hen, dass es mit der Wahrheit nicht so weit her päischen Rechtsstaatsmechanismus auszusprechen. ist! – Zurufe von der AfD) Also: Sie wollen die Möglichkeit der EU, Gelder dann zu kürzen, wenn die Rechtsstaatlichkeit verletzt wird, Auch der von Ihnen vermittelte Eindruck – das steht abschaffen. Also Sie sind dafür, dass deutsche Steuergel- auch in dem Antrag –, die Bundesregierung mache eine der an die korrupten Kumpel von Viktor Orban fließen. völlig selbstlose Europapolitik, ist falsch. Schauen wir Sie sind einverstanden und wollen, dass deutsche Steuer- doch einmal zurück in die Finanzkrise. Damals wurde gelder dazu beitragen, dass in Polen freie Medien weiter von der Bundesregierung gegen Griechenland gehetzt. unter Druck gesetzt werden. Angeblich hätten die Griechen das Geld deutscher Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verschwendet. Das Genauso geht es weiter in Ihrem Antrag: Sie behaup- war natürlich üble Propaganda. Die Wahrheit ist, dass ten, Deutschland hafte für andere Länder – Lüge. die Bundesregierung dafür gesorgt hat, dass deutsche (Albrecht Glaser [AfD]: Wieso ist das Lüge? Banken ihr Geld zurückbekommen haben. Es sind also Natürlich stimmt das!) so massiv die Interessen deutscher Geldhäuser vertreten worden, dass sogar die Spaltung von Europa gedroht hat. Sie behaupten, jedes Mitgliedsland würde für den Wie- So etwas darf sich nie wiederholen, meine Damen und deraufbaufonds haften – Lüge. Der EU-Haushalt haftet. Herren. (Albrecht Glaser [AfD]: Aber, liebe Frau Brantner, nichts ist Lüge!) (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der AfD) Sie behaupten, Gelder aus dem Wiederaufbaufonds wür- den ohne inhaltliche Konzeption an die Mitgliedsländer Wir brauchen in der Europäischen Union und in Euro- gehen, man würde erst die Gelder rausgeben und sich pa weniger Egoismus und mehr Solidarität. Eine der Fol- dann überlegen, wofür – Lüge. Wenn Sie es noch nicht gen der Finanzkrise, eine der Lehren sollte sein, dass mitbekommen haben: 37 Prozent dieser Gelder müssen in endlich eine europäische Finanztransaktionsteuer ein- den Klimaschutz gehen, 20 Prozent in die Digitalisie- geführt wird. Die Bundeskanzlerin und verschiedene rung. Vielleicht ist es Ihnen ja noch nicht aufgefallen. Finanzminister haben das immer wieder angekündigt und versprochen. Das ist jetzt zwölf Jahre her, nichts ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) passiert. Auch hier wollen wir endlich Taten sehen, meine Sie behaupten hier, das Wachstum in der Euro-Zone läge Damen und Herren. bei unter 1 Prozent Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25713

Dr. Franziska Brantner (A) (Albrecht Glaser [AfD]: Ja!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) – Lüge. Es beträgt konstant mehr als 1 Prozent. Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Brantner. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist von der (Albrecht Glaser [AfD]: Nein! Das ist über- CDU/CSU-Fraktion der Kollege Alois Karl aus Bayern. haupt nicht wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU) Und das ist Ihre Masche: eine Lüge nach der anderen. Und diese Masche, eine Lüge nach der anderen, führt am Ende zur Erstürmung des Kapitals. Alois Karl (CDU/CSU): Das Spiel ist noch nicht aus, Herr Präsident. (Albrecht Glaser [AfD]: Aha!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, Und ich kann Ihnen sagen, dass wir das werden zu ver- der AfD und der FDP) hindern wissen. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Zuruf von der AfD: Sie sind ja schon wie die ren! Die augenblickliche Pandemiezeit hat auch etwas Linken! – Weitere Zurufe von der AfD – Positives: Man kann lesen und vorlesen. Meinem Enkel- Gegenruf des Abg. Alois Karl [CDU/CSU]: sohn Christoph habe ich die griechischen Mythologien Sie haben sie durcheinandergebracht!) vorgetragen: Trojanischer Krieg, die Odyssee. In den – Erstürmung des Kapitols. Abenteuern ist auch der Zyklop Polyphemos vorgekom- men. Er hatte mehrere Nachteile, unter anderem den, dass Und, ja, wir schaffen das in Europa gemeinsam. Sie er einäugig war. Wie ich den Antrag der AfD gelesen haben in Ihrem Antrag nach dem Mehrwert Europas für habe, habe ich an Polyphemos gedacht; denn Sie betrach- Deutschland gefragt. Ich kann es Ihnen sagen: Frieden, ten die Dinge sehr eindimensional und insbesondere ohne wirtschaftlicher Wohlstand, Weitsicht. Sie sind in Ihrer Sichtweise doch sehr einge- (Albrecht Glaser [AfD]: Ui!) schränkt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Möglichkeit, (Otto Fricke [FDP]: Immerhin hat er uns den in dieser unübersichtlichen Welt überhaupt noch etwas Hammelsprung gebracht!) Gewicht zu haben, um gemeinsam die großen Heraus- In Ihrem Antrag heißt es, es soll der Mehrwert, den forderungen wie Klimakrise und Digitalisierung angehen Deutschland aus der Mitgliedschaft in der EU zieht, zu können. Das ist der Mehrwert der Europäischen durch die Bundesregierung dargestellt werden. Wie ich Union. das so gelesen habe, da habe ich mir beide Augen gerie- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben und gedacht: Es liegt doch auf der Hand, welchen (D) und der SPD) Mehrwert wir aus der Mitgliedschaft in der EU ziehen. Wenn Sie es in Zahlen haben wollen: Man muss nicht so weit zurückgehen. Seit Konrad Adenauer 1957 mit den anderen Partnerländern die (Stephan Brandner [AfD]: Nein, danke!) Römischen Verträge geschlossen und die deutsche Wirt- – Ja, ich weiß, Fakten interessieren Sie auch einen Mist. schaft in die Europäische Gemeinschaft geführt hat, gibt Es ist gut, dass Sie das selber hier so zugeben. Keine es in der deutschen Wirtschaft – um es einmal zu benen- Zahlen, keine Fakten – das ist eben die Masche der AfD. nen – doch nur eine einzige Richtung, nämlich vorwärts und aufwärts. Noch nie haben wir eine so lange Zeit des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirtschaftlichen Wachstums mit hohen Beschäftigungs- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- raten erlebt KEN) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Aber vielleicht ist ja der Rest des Hauses an Zahlen stimmt jetzt auch nicht so ganz! Ich denke an interessiert. die Finanzkrise!) (Albrecht Glaser [AfD]: Aber die richtigen und auch nicht des freien Austausches zwischen Men- Zahlen!) schen, Meinungen, Informationen und Dienstleistungen. 10 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung beruht auf All das hat zu einer unglaublichen Erfolgsgeschichte in dem europäischen Binnenmarkt. 10 Prozent! Das ist der Deutschland geführt. Ich möchte nicht, dass das hier zehnfache Beitrag Deutschlands an den europäischen irgendeiner kleinredet, auch Sie nicht. Haushalt. Also, wenn Sie sich die Zahlen einmal an- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie schauen würden – ich habe zur Kenntnis genommen, der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜND- dass Sie das nicht wollen –, dann würden Sie sehen, NIS 90/DIE GRÜNEN]) worin auch der wirtschaftliche Mehrwert für Deutschland liegt. Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte wird erweitert um das Friedensprojekt Europa, um eine Wertegemein- Eine starke Europäische Union ist unsere beste schaft. Wenn die Geschichtsschreiber später über die jet- Zukunftsinvestition. Europa ist es wert. zige Zeit schreiben, dann werden sie von einem goldenen Ich danke Ihnen. Zeitalter reden, von einer Zeit, von der viele Generatio- nen vorher geträumt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Metin Hakverdi [SPD]) (Lachen bei Abgeordneten der AfD) 25714 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Alois Karl (A) Meine Damen und Herren von der AfD, das ist der Mehr- Ich würde Sie fast bitten, meine Kollegen von der AfD- (C) wert, den ich für Deutschland in Europa erkenne: dass wir Fraktion: Verlassen Sie den Holzweg Ihrer Demagogie in diesem Zeitalter leben dürfen und dass wir dies alles und der Widersprüchlichkeit, genießen können: Frieden, Freiheit, wirtschaftlichen Wohlstand und eine Wertegemeinschaft. (Zuruf des Abg. Peter Boehringer [AfD]) nicht dass es Ihnen so geht wie seinerzeit dem vorhin (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und angesprochenen Polyphemos, der am Ende erblindet. der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren, um auf die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wirtschaft zurückzukommen: Wir haben diese Gemein- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. schaft von 27 Ländern, zollfrei und grenzfrei. 450 Millio- nen Menschen umfasst sozusagen der europäische Bin- nenmarkt. Deutschland ist ein vertrauenswürdiger Alois Karl (CDU/CSU): Partner in diesem Europa geworden. Das hat uns sehr Aber ich sehe erste Anzeichen, dass Sie auch weiterhin vieles gebracht, unter anderem auch die deutsche Wieder- blind Ihre Politik betreiben. vereinigung. Auch darin sehe ich einen Mehrwert für Ich wünsche Ihnen allen ein gutes neues Jahr und Ihnen Deutschland innerhalb dieser großen europäischen von der AfD insbesondere Weitsicht. Gemeinschaft, der nicht kleingeredet werden darf. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Lachen des Abg. Albrecht neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Glaser [AfD]) GRÜNEN) Die AfD, meine sehr verehrten Damen und Herren, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: spricht davon, dass Deutschland der größte Beitragszah- Vielen Dank, Herr Kollege Karl. Das war jetzt schon ler in der EU ist. – Stimmt. Wir zahlen ungefähr 25,5 Mil- die Verlängerung. – Damit schließe ich die Aussprache. liarden Euro. Wir haben eine Nettolast von 13,4 Milliar- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den Euro, und nach dem Austritt der Briten wird das noch Drucksache 19/25806 an die in der Tagesordnung aufge- mehr werden. Nur darauf zu verweisen, dass Deutschland führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- der größte Einzahler ist, entspricht Ihrer eingeschränkten weisungsvorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann verfah- Sicht; denn Deutschland ist nicht bloß der größte Ein- ren wir so. zahler, sondern auch der größte Gewinner in der EU. (B) Wir haben eine Exportleistung von 777 Milliarden Euro Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 16 auf: (D) in die Mitgliedsländer der EU. Wir sichern damit 6,3 Mil- Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ lionen Arbeitsplätze. Als ob das nichts wäre, meine CSU und SPD Damen und Herren! Feststellung gemäß § 52 Absatz 4 Satz 1 des Dass Sie immer wieder auf die Nettobelastung einge- Bundeswahlgesetzes hen, ergibt doch gar keinen Sinn. Wir haben in Europa gemeinschaftliche Aufgaben zu erfüllen, was die Sicher- Drucksache 19/25816 heitspolitik und was die Verteidigung anbelangt. Wir Hierzu wurde namentliche Abstimmung verlangt. Des haben in Europa gemeinschaftliche Aufgaben zu erfüllen, Weiteren hat der Abgeordnete Mario Mieruch einen was Klimaschutz und Energie, was Forschung und Ent- Änderungsantrag eingebracht, der, wie ich gerade vom wicklung, aber auch die Bekämpfung der grenzüber- Sitzungsdienst höre, bereits elektronisch verteilt ist. Sie schreitenden Kriminalität und vieles andere mehr anbe- haben also im Laufe der Debatte die Chance, ihn zur langt. All dies gehört zu dem Mehrwert, den wir aus Kenntnis zu nehmen. Europa ziehen. Für die Aussprache ist einer Dauer von 30 Minuten (Zuruf des Abg. Dr. [AfD]) beschlossen. – Die Platzwechsel werden jetzt vorgenom- men, wie ich sehe. Sie sprechen auch die Hebelung des EU-Budgets und die Risiken der Haftung an. Das ist natürlich nicht ganz Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- unrichtig, aber Fakt ist: Wir verhalten uns in Deutschland ner dem Kollegen Ansgar Heveling, CDU/CSU-Fraktion, schon seit 70 Jahren entsprechend, seit 1951 zum Bei- das Wort. spiel mit den Hermesbürgschaften. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf des Abg. Dr. Harald Weyel [AfD]) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Wir verbürgten uns im vorletzten Jahr für deutsche Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exporte im Wert von 177 Milliarden Euro und hoffen, dass wir nicht auf den Bürgschaften sitzen bleiben. Wir Es gehört zu den grundlegenden Prinzipien des frei- zahlen trotzdem 1 Milliarde Euro drauf, wir nehmen aber heitlichen demokratischen Rechtsstaates, daß die auch 1,7 Milliarden Euro an Gebühren ein. Obwohl wir Volksvertretungen in regelmäßigen, im voraus das nicht wollen, ziehen wir daraus also einen großen bestimmten Abständen durch Wahlen abgelöst und Nutzen. neu legitimiert werden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25715

Ansgar Heveling (A) So hat es 1964 schon das Bundesverfassungsgericht fest- schaffen, dass von den Vorgaben der Aufstellung in Ver- (C) gestellt. Diese sogenannte Periodizität der Wahl gewähr- sammlungen abgewichen werden kann. Dies setzt ein leistet den für die repräsentative Demokratie konstituti- dreifach gestuftes Verfahren hier im Bundestag voraus. ven Grundsatz der verantworteten Herrschaft auf Zeit. Zunächst muss der Deutsche Bundestag gemäß § 52 Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben ganz Absatz 4 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes feststellen, dass bewusst die Dauer der Wahlperiode in Artikel 39 Absatz 1 die Durchführung solcher Versammlungen ganz oder teil- des Grundgesetzes fest verankert. Die Dauer der Wahl- weise unmöglich ist. Das soll heute beschlossen werden. periode kann daher zu Recht auch aufgrund der Covid- Dann ist das Bundesinnenministerium befugt, die ent- 19-Pandemie nicht nachträglich verlängert werden. Denn sprechenden Regelungen zu erlassen. Im Gesetz haben mit dem durch Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes wir dazu den Rahmen vorgegeben. Dabei geht es etwa geschützten demokratischen Prinzip wäre es unvereinbar, um die Durchführung von Versammlungen im Wege der wenn wir als Mandatsträger unser eigenes Mandat ver- elektronischen Kommunikation, die Durchführung von längern könnten, sei es auf dem Wege des einfachen, sei mehreren dezentralen Versammlungen – auch in Kombi- es auf dem Wege des verfassungsändernden Gesetzes. nation mit elektronischer Kommunikation – oder auch um eine dezentrale Urnenwahl. Eine ausschließlich elek- Das bedeutet also: Die Wahl zum 20. Deutschen Bun- tronische Wahl ist dabei auch nach den Wahlrechtsgrund- destag im September 2021 wird in jedem Fall stattfinden – sätzen ausgeschlossen. sie muss stattfinden. Das wird ganz normal und ord- nungsgemäß klappen wie bei jeder Wahl; da bin ich mir Die Parteien und deren Gliederungen können also ent- sicher. Die Kommunalwahlen im März 2020 in Bayern scheiden, ob sie von den ihnen dadurch eröffneten Mög- und die Kommunalwahlen im September 2020 in Nord- lichkeiten Gebrauch machen. Die Gestaltung des Verfah- rhein-Westfalen haben gezeigt, dass Wahlen auch unter rens bleibt wie bisher – und wie es auch richtig ist – ganz Pandemiebedingungen ordnungsgemäß stattfinden kön- im Verantwortungsbereich der Parteien, und sie haben da nen. einen entsprechenden Gestaltungsspielraum. Das heißt, wir beschließen mit der Verordnung lediglich eine Erwei- (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Aber im März war terung der Möglichkeiten der Parteien im Vorverfahren, doch gar nichts los! Blödsinn! – Gegenruf der um eine ordnungsgemäße Bundestagswahl am Wahlter- Abg. Marianne Schieder [SPD]: Sicher!) min – so wie wir es gewohnt sind – dann auch durch- führen zu können. Das Bundesverfassungsgericht erstreckt denn auch die Geltung der Wahlrechtsgrundsätze auf den gesamten Bevor die Regelungen in Kraft treten können, muss der Wahlvorgang von der Erfassung der Wahlberechtigten Deutsche Bundestag aber noch einmal zustimmen. Auch (B) und der Aufstellung der Bewerber bis hin zur endgültigen die Verordnung wird dem Deutschen Bundestag also (D) Feststellung des Wahlergebnisses. noch einmal vorgelegt, und sie bedarf der Zustimmung des Parlaments. Der Wahlvorgang für die jetzt anstehende Bundestags- wahl beginnt somit lange vor dem 26. September. Nach Wir werden das dann auch sehr genau prüfen und nicht § 19 des Bundeswahlgesetzes sind die Vorschläge der einfach durchwinken. Das ist auch parlamentarische Wahlkreiskandidaten und der Landeslisten bis zum Demokratie. 69. Tag vor der Wahl, also bis zum 19. Juli, einzureichen. Damit die Bundestagswahl 2021 und alle vorbereiten- Hierfür bedarf es vorbereitender Verfahrensschritte, die den Verfahrensschritte auch unter den erschwerten Be- bereits jetzt in Gang gesetzt werden müssen oder schon in dingungen in einem ordnungsgemäßen Wahlverfahren Gang sind. Der wichtigste ist die Aufstellung der Wahl- stattfinden können, bitten wir daher um Zustimmung zu kreisbewerber und der Kandidatinnen und Kandidaten für dem Antrag. die Landeslisten. Die Aufstellung der Landeslisten und Vielen Dank. vielfach auch die Aufstellung der Wahlkreiskandidaten erfolgt dabei oftmals in Vertreterversammlungen. Diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vertreter werden von den Parteien in einem oft durchaus ordneten der SPD) mehrfach gestuften Verfahren gewählt. Aktuell ist aber die Durchführung von Versammlungen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: in Präsenz mit der erforderlichen Teilnehmerzahl jeden- Vielen Dank, Herr Kollege Heveling. – Als nächster falls in einem Bundesland rechtlich überhaupt nicht Redner erhält das Wort der Kollege Jochen Haug, AfD- möglich. In anderen Ländern ist die Durchführung dieser Fraktion. Versammlungen von behördlichen Genehmigungen ab- (Beifall bei der AfD) hängig. Unabhängig davon ist derzeit die Teilnahme an einer Aufstellungsversammlung in Präsenz für Parteimit- glieder und Delegierte nicht durchgängig zumutbar. Eine Jochen Haug (AfD): Prognose, wann die Versammlungen ohne rechtliche und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sollen praktische Hindernisse wieder uneingeschränkt möglich hier heute beschließen, dass die Durchführung von Auf- sein werden, lässt sich heute nicht treffen. stellungsversammlungen für die Bundestagswahl zu- mindest teilweise unmöglich ist. Da frage ich doch direkt Um die Aufstellung der Wahlbewerber dennoch in mal zurück: Warum sollten ich und meine Fraktion eine einem ordnungsgemäßen Verfahren sicherstellen zu kön- unrichtige Feststellung treffen? – Versammlungen sind nen, haben wir im letzten Herbst die Möglichkeit ge- möglich, und zwar ohne Gefahr für Leib und Leben. 25716 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Jochen Haug (A) Das dokumentieren wir doch gerade jetzt und hier. Wir (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Natürlich!) (C) führen hier eine Versammlung durch, um zu beschließen, – Nein, ist sie nicht. dass Versammlungen nicht möglich sind. (Heiterkeit und Beifall bei der AfD) (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Natürlich! Lesen Sie mal § 13!) Offensichtlich fällt Ihnen von der Koalition das Paradoxe Ihres Antrages nicht einmal auf, eines Antrages, den Sie – Wir können nachher über die Norm reden. Sie haben erst gestern quasi überfallartig auf die Tagesordnung ge- eine falsche Nummer zitiert. setzt haben und der, sollte er beschlossen werden, zu (Beifall bei der AfD) einer kompletten Umwälzung des Rechts der Kandidate- naufstellung führen würde. Tatsächlich finden in Nordrhein-Westfalen laufend Aufstellungsversammlungen statt – in Übereinstimmung Warum haben Sie einen derart schwerwiegenden An- mit der dort geltenden Verordnung. Gehen Sie nach trag nicht mit angemessenem Vorlauf eingebracht? Nordrhein-Westfalen! Diese werden ohne Probleme unter (Beifall bei der AfD) Einhaltung der Hygienevorschriften durchgeführt. Das zeigt doch schon Ihr schlechtes Gewissen bei dem, (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Wahrschein- was Sie da versuchen. lich eine alte Coronaverordnung!) Aber nun zum Inhalt Ihres Antrages: Weshalb sollen Da gibt es nun zwei Möglichkeiten: Entweder Sie wis- denn Aufstellungsversammlungen nicht möglich sein? – sen überhaupt nicht, wovon Sie sprechen, Da wird es nun spannend. (Albrecht Glaser [AfD]: Ja, das ist bei Heveling (Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Das immer so!) nennt man Recht und Gesetz! Damit haben oder Sie wollen uns hinters Licht führen. Sie so Ihre Probleme!) – Das höre ich von Ihnen gerne; das ist lustig. – Sie (Beifall bei der AfD) begründen die angebliche Unmöglichkeit vor allem da- Ihre Begründung gibt also keinesfalls eine tragfähige mit, dass in einigen Bundesländern die Coronaver- Grundlage dafür her, die Unmöglichkeit der Durchfüh- ordnungen Aufstellungsversammlungen nicht zuließen. rung von Versammlungen festzustellen. Aha! Erst ordnen Sie einen harten Lockdown an, mit massivsten Einschränkungen für die Bürger – Sie spre- Es ist aber nicht nur so, dass die Unmöglichkeit, die der chen in Ihrem Antrag von einem Beschluss der Bundes- Bundestag hier nach Ihrem Willen feststellen soll, gar nicht vorliegt, Ihrem Anliegen ist auch aus inhaltlichen (B) kanzlerin und der Regierungschefs der Länder und zeigen (D) schon damit, was Ihnen unsere Verfassungsordnung wert Gründen vehement zu widersprechen. Sie wollen hier ist; denn ein solches Gremium gibt es überhaupt gar gerade ohne Not ein wichtiges Prinzip der Demokratie nicht –, preisgeben, das Prinzip der Präsenzversammlung. (Beifall bei der AfD – Ansgar Heveling [CDU/ (Widerspruch bei der CDU/CSU) CSU]: So ein Unfug!) Für die Demokratie ist der Austausch der Argumente und und dann heißt es: Weil wir diesen Lockdown haben, Meinungen unter Anwesenden aber nun mal fundamental können wir uns nicht versammeln, um Kandidaten für wichtig. Es kann und darf hier nicht darum gehen, den die Bundestagswahl zu wählen. – Das ist grotesk. Sie Gesundheitsschutz und die Aufrechterhaltung demokrati- stellen also auf eine angebliche rechtliche Unmöglichkeit scher Verfahren, die sich über Jahrzehnte entwickelt ab, die Sie selbst herbeigeführt haben. haben, gegeneinander auszuspielen. (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. Ansgar (Beifall bei der AfD) Heveling [CDU/CSU]) Es ist auch unter den aktuellen Umständen möglich, Entscheidend ist aber, ob es tatsächlich unmöglich ist, Versammlungen in hergebrachter Weise unter Einhaltung Versammlungen abzuhalten, und das ist – das wissen angemessener Schutzmaßnahmen durchzuführen, und Sie auch; wir beweisen es ja gerade hier – eben nicht das wissen Sie auch. der Fall. Richtig peinlich wird es darüber hinaus, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Richtig pein- lich ist das, was Sie machen!) Jochen Haug (AfD): wenn die angebliche rechtliche Unmöglichkeit überhaupt Wir lehnen Ihren Antrag selbstverständlich ab. nicht vorliegt. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag auf die Lage in Nordrhein-Westfalen und schreiben dazu – ich (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Gott sei zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: „In Nordrhein- Dank! – Dr. [AfD]: Gott sei Westfalen ist die Durchführung von Aufstellungsver- Dank!) sammlungen aktuell faktisch ausgeschlossen“. – Dabei Danke schön. beziehen Sie sich auf eine Vorschrift in der Corona- schutzverordnung NRW, die dafür überhaupt nicht ein- (Beifall bei der AfD – Ansgar Heveling [CDU/ schlägig ist. CSU]: So ein Unsinn!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25717

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Die Zeitnot bei der Aufstellung wird größer, die Unru- (C) Vielen Dank, Herr Kollege Haug. – Als nächster Red- he und auch die Verunsicherung in den Parteien werden ner hat das Wort der Kollege Mahmut Özdemir, und ich größer. Seit März 2020 dürfen Vertreterinnen und Ver- bitte die Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion, die treter gewählt werden, und spätestens seit Juli 2020 – sich nicht an ihren Plätzen befinden, Masken aufzuset- für die geneigten unter uns: da gab es die letzten Wahl- zen. – Das ist jetzt eine Bitte. kreisneuzuschnitte – gibt es auch die Möglichkeit, die Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen. Dies muss (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE auch spätestens 69 Tage vor dem Wahltermin zum Ab- GRÜNEN]: Oder da oben auf der Tribüne ist schluss gebracht werden, und jeder, der einmal an einem ganz viel Platz!) solchen Verfahren beteiligt gewesen ist, weiß, dass man hier auch entsprechende Sicherheitszeitpuffer vorsehen sollte, um eventuelle Fehler, Widersprüche und darauf Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): basierende Wiederholungen einplanen zu können. Sehr geehrter Herr Präsident! Kollege Haug hat gerade sehr viel über Unmöglichkeit geredet und dabei völlig Seit Juni 2020 stellen die Parteien also auf – von kreati- vergessen und nicht bemerkt, dass sein Verhalten und ven Lösungen in Fußballstadien bis hin zu konvention- sein Gebaren hier völlig unmöglich sind und waren. ellen Möglichkeiten weiterhin in geschlossenen Räumen, aber immer mit einem Hygienekonzept, teilweise in Räu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men, die zehnmal so groß sind, wie es normalerweise, der CDU/CSU – Zurufe von der AfD) unter normalen Nicht-Coronabedingungen, notwendig Unsere Demokratie, unser Deutscher Bundestag und gewesen wäre. unsere Länderparlamente trotzen der Pandemie im (Beatrix von Storch [AfD]: Das heißt, so was Land. Wahlen in den Ländern zu Ländervertretungen ist möglich, ja!) und kommunalen Vertretungen werden durch die Parteien Fakt ist: Mit den von den Ministerpräsidentinnen und gut vorbereitet und von den Verwaltungen auch gut vor- Ministerpräsidenten unter dem Dach der Bundeskanzle- bereitet durchgeführt. Dazu tragen nicht zuletzt auch die rin verschärften Beschränkungen haben wir eine teilwei- Wählerinnen und Wähler durch ihr Verantwortungsbe- se Unmöglichkeit; im ganzen Januar und darüber hinaus wusstsein und ihre Disziplin bei, die sich an Hygienevor- können wir den Parteien keine Planungssicherheit geben. schriften, an die AHA-Regel usw. usf. halten und dadurch Eine Länderauskunft, die durch das Bundesministerium sicher ihren Wahlakt vollziehen können, ob sie das jetzt des Innern eingeholt worden ist, zeigt, dass es bis Dezem- körperlich an der Urne oder durch Briefwahl tun. Die ber 2020 in allen Ländern Coronaschutzverordnungen Bundestagswahl am 26. September braucht dringend die- gab – 13 von 16 Bundesländern hatten sehr großzügige (B) se gute Vorbereitung, mit Kandidatinnen und Kandidaten, (D) Regelungen –, die es ermöglichten, solche Kandidaten- die von den Parteien aufgestellt werden. Sie braucht aufstellungen auch in geschlossenen Räumen vorzuneh- Sicherheit, sie braucht Rechtssicherheit in den Parteien, men. Sie wurden – das erkennt man, wenn man sich die aber auch am Wahltag, beim Wahlakt. Coronaschutzverordnungen anguckt – teilweise im glei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen Atemzug, in denselben Regelungen, genannt wie zum Beispiel Blutspendetermine, die auch immer statt- Dieser Antrag heute erweitert Möglichkeiten, im finden müssen. Das heißt, wenn wir diese Veranstaltun- demokratischen Wettbewerb Kandidaten auszusuchen. gen nicht durchführen, haben wir Blutarmut in unserer Zugegeben: Er verändert auch plötzlich, im laufenden Demokratie. Verfahren, einige Geschäftsgrundlagen, indem er zusätz- liche Möglichkeiten eröffnet. Aber zur Geschichte gehört Schrittweise Verschärfungen seit Weihnachten haben auch, dass wir damals vor der Sommerpause – und ich diese Situation erheblich verändert. Bis dahin haben wir erinnere mich noch sehr gut, dass wir mit dem Kollegen im Deutschen Bundestag unter den Berichterstattern mit Heveling und einigen weiteren Kollegen darüber debat- großer Vorsicht gemahnt, dass wir diese Regelung nicht tiert haben, ob wir eine solche Regelung angesichts der leichtfertig nutzen sollten. Fehlende Räume, teilweise ersten Welle und des ersten Lockdowns auch in das Bun- fehlendes Personal und die Sorgen in den Parteien hin- deswahlgesetz zumindest als Möglichkeit reinschreiben, sichtlich der Zeitpläne haben uns dazu gebracht, diese damit wir im Fall der Fälle möglichst schnell und gewis- Regelung mit dem heute vorliegenden Antrag einzufüh- senhaft handeln können – auf erheblichen Widerstand ren. gestoßen sind. Erst angesichts der nahenden zweiten Wel- Ich betone: Nicht das Bundeswahlgesetz oder Ähnli- le im September/Oktober konnten wir diese gesetzliche ches wird außer Kraft gesetzt. Wir werden nicht von Änderung bzw. diese Möglichkeit einer Verordnungser- Wahlgrundsätzen abweichen. Wir werden erst recht nicht mächtigung mit dem Fünfundzwanzigsten Gesetz zur die Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung zum Ein- Änderung des Bundeswahlgesetzes ins Bundeswahlge- satz elektronischer Mittel bei Wahlakten oder zu Wahl- setz einfügen. Das ist eine sehr vorausschauende Regel, grundsätzen mit Füßen treten. Ganz im Gegenteil: Wir wie ich finde, die der vollen Kontrolle des Deutschen werden sie weiterhin sehr gewissenhaft und sehr sorg- Bundestages unterliegt. Und wir haben sie damals immer fältig beachten. Das Bundeswahlgesetz ist damit der unter dem Arbeitstitel „eine Notverordnung“ geführt, Grundsatz; die Aufstellungsversammlung als Vertreter- weil wir ein schnelles, ein wirksames, aber immer unter oder Vollversammlung ist die Regel. Erleichterungen parlamentarischer Hoheit stehendes Verfahren haben sind keine Ausnahmen, von denen man Gebrauch wollten. machen muss. Die Parteien können von diesen Erleichte- 25718 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) rungen gerne Gebrauch machen, gerade angesichts der Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) teilweisen Unmöglichkeit, die in den Ländern, insbeson- Vielen Dank, Herr Kollege Özdemir. – Nun rufe ich dere in Nordrhein-Westfalen, derzeit bis zum 31. Januar den Kollegen Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion, auf. besteht. Ob solche Versammlungen ab dem 1. Februar möglich sein werden, wissen wir nicht. Wichtig ist in (Beifall bei der FDP) diesem Zusammenhang, dass Satzungsregeln, die dem entgegenstehen, dadurch überwunden werden können, Konstantin Kuhle (FDP): insbesondere zur Mindestgröße der Versammlung. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gab ja in den vergangenen Tagen eine ganz bemerkenswerte Dis- Die Möglichkeit der einseitigen bzw. zweiseitigen kussion über die Frage, ob das Thema Corona überhaupt Kommunikation via elektronischer Einsatzmittel und Gegenstand des Bundestagswahlkampfs sein darf. Dazu ein schriftliches Verfahren möchten wir mit dieser Ver- haben wir Freie Demokraten eine ganz klare Haltung: ordnung einführen, aber immer nur bis zu dem Punkt, an Natürlich muss im Wahljahr 2021 über die großen Fragen dem der Sitzungsleiter sagt: „Gibt es weitere Kandidatin- unserer Gesellschaft diskutiert werden. Und dazu gehört nen oder Kandidaten im Saal?“, „Gibt es weitere Bewer- auch diese Pandemie. Wir wollen wissen, was beim Imp- berinnen oder Bewerber?“ und „Ich eröffne den Wahl- fen schiefläuft. Wir wollen darüber diskutieren, warum gang“. Das ist der Punkt, an dem Schluss ist. Dann geht unsere Schulen nicht digitalisiert sind. Und wir wollen es in den Bereich der Briefwahl oder der Urnenwahl, und mit den Wählerinnen und Wählern darüber sprechen, das ist entsprechend wieder das konventionelle Verfah- ren, das nicht angetastet werden darf. Die Schlussabstim- (Zuruf des Abg. Mahmut Özdemir [Duisburg] mungen unterliegen keinem elektronischen Verfahren. [SPD]) Deshalb warne ich immer davor, von der Digitalisierung wie hoch das Maß an Freiheitseinschränkungen zur von Aufstellungsversammlungen zu sprechen. Wir digi- Bekämpfung der Pandemie überhaupt sein darf. Deswe- talisieren diese nicht, sondern führen sie in einem rechts- gen brauchen wir dieses große demokratische Gespräch sicheren, in einem konventionellen, in einem guten und eines Bundestagswahlkampfs, und es muss verteidigt geübten Verfahren fort. werden, auch hier durch den Deutschen Bundestag. Das Programm ist hier ganz klar: Der Antrag ist getra- (Beifall bei der FDP) gen von der Erkenntnis, dass die Bundestagswahlvorbe- Meine Damen und Herren, damit es einen solchen reitung mit Erleichterungen stattfinden muss; denn wenn Wahlkampf geben kann, braucht es aber überhaupt eine diese Erkenntnis nicht zutage träte, dann müssten wir Bundestagswahl. Und damit wir eine Bundestagswahl befürchten, dass die Bundestagswahlvorbereitung und haben, braucht es die Aufstellung von Kandidatinnen (B) die Bundestagswahl selber erheblichen Schaden nehmen und Kandidaten sowie von Vertreterinnen und Vertretern (D) könnten. Das wollen wir nicht, und das bringen wir damit für die Vertreterversammlungen. Das, was heute hier be- zum Ausdruck, dass für uns der 26. September der Wahl- schlossen werden soll, ist nur die Feststellung, dass diese termin ist, an dem unsere – in Anführungsstrichen – Veranstaltungen, bei denen diese Leute gewählt werden „Macht“, die wir aus dem Votum der Wählerinnen und sollen, momentan nicht stattfinden, faktisch nicht statt- Wähler ableiten, erneuert werden muss. Das steht hier in finden. keiner Weise zur Debatte. Deshalb müssen wir die ent- sprechenden Wahlvorbereitungen dringend vornehmen. Dazu will ich Ihnen ein Beispiel geben: Der Abge- ordnete Wolfgang Kubicki wollte sich ursprünglich am In der nächsten Sitzungswoche werden wir dann dem- 19. Dezember zum Spitzenkandidaten der FDP Schles- entsprechend gemeinsam darüber befinden, ob der vom wig-Holstein wählen lassen. Bundesministerium des Innern vorgelegte Verordnungs- entwurf unseren Vorstellungen entspricht. Bis dahin wer- (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU den wir sicherlich Präzisierungen parlamentarischer sowie bei Abgeordneten der SPD) Natur vornehmen. Dann musste die Versammlung wegen der aktuellen Ich bitte Sie, im Dienste der Demokratie und auch im Situation in Schleswig-Holstein verschoben werden, Dienste der Kandidatinnen und Kandidaten, die aufge- also wegen der tatsächlichen Unmöglichkeit, stellt werden wollen und diese Bundestagswahl mit ihren (Dr. [SPD]: Eine kluge Ent- Programmen am 26. September mit uns gemeinsam scheidung!) bestreiten möchten, diesem Antrag zuzustimmen. obwohl rechtlich solche Aufstellungsversammlungen in Schleswig-Holstein erlaubt sind. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Zuruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Das zeigt doch, dass wir diese Feststellung heute tref- Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): fen müssen. Dies löst aus, dass das Bundesinnenministe- Ich freue mich auf die weitere parlamentarische Debat- rium eine Verordnung schreiben kann, te. (Zuruf des Abg. Stephan Brandner [AfD]) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. durch die sich dann unterschiedliche Abweichungsmög- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lichkeiten für die Parteien ergeben können. Und wir der CDU/CSU) machen uns das nicht leicht. Wir hätten es als Freie Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25719

Konstantin Kuhle (A) Demokraten – das will ich hier ganz ausdrücklich sagen – Als nächster Redner hat der Kollege Friedrich (C) besser gefunden, wenn das nicht im Wege einer Verord- Straetmanns, Fraktion Die Linke, das Wort. nung erfolgte, sondern direkt ins Gesetz geschrieben wor- den wäre. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): Bartsch [DIE LINKE]) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Wir haben es gerade den Reden ent- Denn das Wahlrecht ist die Domäne des Parlaments. Und nehmen können: Das, was hier und heute beschlossen wenn wir schon eine doppelte Parlamentsbeteiligung werden soll, ist lediglich die Feststellung, dass die Durch- machen, dann hätten wir auch gleich ein ordentliches führung von Parteiversammlungen zumindest teilweise Gesetzgebungsverfahren machen können. Dann hätte aufgrund der Pandemielage wegen Corona unmöglich man sich auch dieses seltsame Verfahren gespart, und ist. Ich denke, dieser Feststellung kann man sich nicht wir hätten hier den Bundestag darüber abstimmen lassen. verschließen; Die Linke verschließt sich dieser Feststel- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ lung auch nicht. Wer sich ihr hier verschließt, der will DIE GRÜNEN) offensichtlich bewusst Menschenleben gefährden, wie es diese Truppe hier rechts in Kauf nimmt. Sei’s drum: Wir werden uns diese Verordnung genau anschauen, und wir werden ihr am Ende nur zustimmen, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wenn einige Voraussetzungen erfüllt sind: neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jochen Haug [AfD]: Genau dieses Erstens. Es muss ein Primat der Präsenzveranstaltun- Argument ist schäbig! Genau das ist schäbig!) gen geben. Man will sich ein Bild von den Leuten machen, man will denen auch mal eine Frage stellen, Der Beschluss ermöglicht lediglich den Erlass einer man will zwei, drei Leute miteinander vergleichen, und Verordnung, der unseren Parteien ermöglicht, Kandida- deswegen muss die rechtliche Möglichkeit für Präsenz- tinnen und Kandidaten und Vertreterinnen und Vertreter veranstaltungen immer erhalten bleiben. für die Vertreterversammlung zu nominieren. Wir stim- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) men damit über einen reinen Auslösemechanismus ab; das muss einmal so deutlich gesagt werden. Wir stimmen Zweitens. Die Landesverbände der Parteien müssen nicht über die hier bereits andiskutierte konkrete Ausge- selber entscheiden, ob sie diese Ausnahmeregel anwen- staltung des Weges in der Rechtsverordnung ab. Es ist den oder nicht. Denn es gibt Landesverbände, die die wichtig, hier zu differenzieren. Wir haben als Berufspo- (B) meisten Kandidaten und Vertreter schon aufgestellt litikerinnen und Berufspolitiker auch die Verpflichtung, (D) haben; die brauchen das gar nicht. Deswegen darf es auf die zahlreichen ehrenamtlich Tätigen in unseren Par- auch keinen Zwang durch die Hintertür für irgendwelche teien und die Parteimitglieder Rücksicht zu nehmen. Die- digitalen Formate geben. Das Primat muss bei Präsenz- se brauchen Rechtssicherheit, damit sie wissen, wie sie veranstaltungen liegen, und nur dann werden wir dem ihre Kandidatinnen und Kandidaten für Wahllisten und zustimmen. Ämter wählen können, ohne sich unnötigen gesundheit- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lichen Gefahren auszusetzen. Gleichzeitig muss dies der LINKEN) rechtssicher geschehen, damit wir nicht am Ende auch über juristische Auseinandersetzungen debattieren müs- Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir das sen. hier interfraktionell miteinander diskutieren, dass wir diese Regelung auf den Weg bringen. Ich glaube aber (Beifall bei der LINKEN) und halte es für sehr gut möglich und übrigens auch für Es ist aber auch gut, dass nach dem Gesetz das Innen- wünschenswert, dass diese Regelung am Ende gar nicht ministerium diese Verordnung nicht allein erlassen kann, zur Anwendung kommt. Das wäre das Beste, und in sondern dem Parlament vorlegen muss. In diesem sensib- diesem Sinne freuen wir uns auf die Debatte. len Bereich ist für uns als Linke die parlamentarische Vielen Dank. Kontrolle die absolute Nummer eins; denn es ist von großer Wichtigkeit, dass wir als Abgeordnete darauf (Beifall bei der FDP) schauen.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Sie sollten noch Es ist aber grundsätzlich falsch, dass überhaupt eine mal recherchieren, nach welchen Bedingungen ich be- Verordnung erlassen werden kann. Wir hätten uns immer reits gewählt worden bin. schon gewünscht – das hat der Vorredner angesprochen –, (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass das Ganze in Gesetzesform geschieht und eben nicht NEN]: Oje! War das alles korrekt?) in Form einer Rechtsverordnung. – Also, ich kann jetzt aus eigener Erfahrung sagen: Nicht (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- alles, was FDP-Abgeordnete sagen, ist zutreffend. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Darum haben wir damals – dazu stehe ich auch – diese DIE GRÜNEN) Verordnungsermächtigung abgelehnt. 25720 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Friedrich Straetmanns (A) Aber ich will noch einmal zusammenfassen: Wir stim- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) men als Linke nur für den Auslösemechanismus, damit sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und die Basis auch unserer Partei handlungsfähig bleibt, aber der SPD) wir werden die noch vorzulegende Rechtsverordnung Da waren viele Menschen. Jede und jeder von uns hier im sehr kritisch auswerten, und wir wünschen uns natürlich Bundestag weiß, was das für sie in den zwei Wochen auch dort, dass Präsenzveranstaltungen – so es denn mög- danach im Hinblick auf Covid-Ansteckung bedeutet hat, lich ist – den absoluten Vorrang haben. Denn parlamen- meine Damen und Herren. Ich kann verstehen, dass viele tarische Demokratie und politische Auseinandersetzung abwägen und sagen: Unter diesen schwierigen Bedin- vollziehen sich immer in einer persönlichen Auseinan- gungen verschieben wir unsere Präsenzaufstellungs- dersetzung mit Argumenten. versammlung. Das haben ja viele gemacht, und es gibt (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- auch gerade Überlegungen dazu in vielen Parteien. Oder neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sie verschieben Landesparteitage; da geht es auch darum, Landeslisten aufzustellen. Wir werden auch dafür kämpfen, dass diese uns noch vorzulegende Rechtsverordnung keine Blaupause ist, die Aber ich glaube, das Wichtige ist, dass wir in dieser über den Fall einer Pandemie hinaus ihre Gültigkeit Situation jetzt diesen Feststellungsbeschluss treffen. Ich behält. Das sind wir uns als Linke und unserem Verständ- will Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir haben damals vor dem nis von Demokratie schuldig. Begriff der Unmöglichkeit gewarnt. Wir haben gesagt: Lassen Sie uns eine andere Formulierung für diese Kri- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. sensituation finden, aber nicht den Begriff der Unmög- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lichkeit. Sie haben leider den Ratschlägen des Innenmi- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nisteriums Ihre Zustimmung gegeben und sich für diesen Begriff entschieden. Deshalb ist es doch müßig, jetzt rückwärtsgewandt zu sagen: Weil das alles so schlecht Vizepräsident Wolfgang Kubicki: war, können wir heute nicht reagieren. – Wir müssen Vielen Dank, Herr Kollege Staetmanns. – Nächste reagieren, und deshalb sieht auch unsere Fraktion die Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, Fraktion Notwendigkeit, in dieser Situation diesen Feststellungs- Bündnis 90/Die Grünen. beschluss zu treffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, es ist doch wichtig, dass wir (B) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): jetzt sagen, – (D) Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir alle sind beruhigt, dass wir heute keine Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Regelung extra für Herrn Kubicki schaffen müssen. Spaß beiseite; denn es geht ja um ein sehr ernstes Anlie- Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte. gen, meine Damen und Herren. Die Ausgangslage ist, wie sie ist: Union und SPD Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): haben am 9. Oktober 2020 gegen die Stimmen von Bünd- – klar, diese Feststellung gibt’s. Die Priorität liegt bei nis 90/Die Grünen das Wahlgesetz geändert und eine der Präsenzveranstaltung, und das müssen wir auch alle unbestimmte und unklare Regelung zur Wahlvorberei- unseren Landesverbänden, unseren Kreisverbänden tung unter Coronabedingungen geschaffen. Wir hatten sagen. Das muss vor Ort sozusagen der Grundsatz sein. das seinerzeit kritisiert und Sie dringend aufgefordert, Aber da, wo es nicht möglich ist, – es im Bundeswahlgesetz nicht an Bestimmtheit mangeln zu lassen. Dieser Aufforderung und auch unserem Ände- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: rungsantrag, den inhaltlichen Vorschlägen, sind Sie sei- Frau Kollegin, bitte. nerzeit nicht nachgekommen, meine Damen und Herren. Das ist bedauerlich, und damit haben wir jetzt die Grund- lage, wie wir sie heute haben. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – auch regional vielleicht nicht möglich ist, ermöglicht Es ist darüber hinaus ein drängendes Problem und ein man jetzt zusätzlich durch den Feststellungsbeschluss Anliegen aller Parteien – auch unserer Partei –, rechts- diese Offenheit. Das ist der Beschluss, den wir heute sichere Regelungen zu haben, für alle Parteien die Wahl- treffen, – vorbereitung und Aufstellungsversammlung unter den Bedingungen einer großen Infektionslage und dieser Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Covid-Pandemie abhalten zu können. Wir wollen nicht Frau Kollegin Haßelmann, bitte. das Risiko eingehen – und so geht es vielen in unter- schiedlichen Regionen des Landes –, sich zu 600 zu ver- sammeln und damit im Infektionsgeschehen die Gesund- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): heit der teilnehmenden Menschen und auch vieler – und ich erwarte vom Bundesinnenministerium, dass anderer Menschen so zu gefährden, wie Sie das mit Ihrer die Rechtsverordnung dem Deutschen Bundestag dann Aufstellungsversammlung in Kalkar gemacht haben, aber auch rechtssicher und mit Bestimmtheit vorgelegt meine Damen und Herren, wird – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25721

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Michael Frieser (CDU/CSU): (C) Frau Kollegin Haßelmann, Sie müssen jetzt wirklich Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir zum Schluss kommen. sind, nehme ich einmal an, in der überwiegenden Anzahl dieses Hauses in der Politik, weil uns die direkte Aus- einandersetzung so am Herzen liegt, der Austausch von Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Argumenten, der Politik so lebendig macht, und das ist – und wir nicht wieder so eine katastrophale Ausgangs- das, wo wir uns alle am schwierigsten wiederfinden, nicht lage haben. nur wegen eines Bundestagswahlkampfes, sondern auch Vielen Dank, meine Damen und Herren. in der Frage des Übersetzens von Politik an die Men- schen. Deshalb ist es uns ein entscheidendes Anliegen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht nur die Bundestagswahl am Tag der Wahl zu orga- nisieren, sondern auch den Weg dahin. Das schaffen wir Vizepräsident Wolfgang Kubicki: mit einem Arsenal, einem Sicherheitsnetz. Es geht Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Als näch- darum, die Parteien in ihrer Selbstorganisationsfreiheit ster Redner erhält das Wort der fraktionslose Kollege in die Lage zu versetzen, die Möglichkeiten zu finden – Mario Mieruch. ohne einen satzungsändernden Parteitag durchführen zu müssen –, ein Stück weit flexibler zu sein, darauf zu Mario Mieruch (fraktionslos): reagieren. Das geht nicht vom Deutschen Bundestag Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten aus. Wir wollen den Bundesländern, wir wollen den Re- Damen und Herren! Zweifellos ist die Coronasituation gionen gar nicht erzählen, wie sie es machen können oder eine der größten Herausforderungen für unsere Gesell- machen müssen; denn dort sitzen die Fachleute; die wis- schaft und auch für die bevorstehenden Wahlen, und sen, an welcher Stelle sie in welcher Form ihre Aufstel- sehr, sehr viele unserer Bürger halten sich an die Maß- lungsversammlungen abhalten müssen, die notwendig nahmen, meiden Kontakte, meiden Ansammlungen etc. sind – Auftrag der Verfassung –, um Delegierte zu wählen und tatsächlich Kandidaten für die Bundestagswahl zu Gleichwohl muss aber auch an dieser Stelle erwähnt nominieren; die wissen am besten, wie man das zu tun werden, dass alles, was dieses Haus in Bezug auf die hat. bevorstehenden Wahlen beschließen möchte, nicht nur die hier anwesenden Parteien betrifft, sondern auch einen Insofern ist vollkommen klar – das darf ich auch sehr, sehr großen Anteil an kleinen Parteien, Bündnissen, sagen –: Dieser heutige Beschluss lässt wie auch unsere denen eine besondere Rolle an der demokratischen Parti- Änderung des Bundeswahlrechts überhaupt keinen Spiel- zipation in unserer Gesellschaft zuteilwird. Diese leiden raum, sie ist absolut präzise an dieser Stelle. Sie sagt (B) unter den gegebenen Umständen, aufgrund geschlossener nichts anderes als: Heute befinden wir, als Vorbehalt (D) Gaststätten oder sonstiger Versammlungsorte, nicht nur des Parlaments, dass wegen/aufgrund dieser Pandemie beim Finden von Räumlichkeiten, sondern sie haben auch bestimmte Dinge, die notwendig sind im politischen Ver- das große Problem, die erforderlichen Unterstützungsun- fahren, teilweise an bestimmten Orten nicht möglich terschriften zu sammeln, was bei den großen Parteien in sind. – Mehr ist es nicht. Damit wird ein Vorgang – erneut der Regel nicht problematisch ist. vom Parlament, durch Einbeziehung und Wiederdiskus- sion – in Gang gesetzt, an dessen Ende dann im Wege Wenn Sie heute diese Feststellung machen, aus der einer Verordnung darüber befunden wird: Wie schaut die später das Innenministerium heraus wesentliche, ganz Freiheit denn aus, die wir den Parteien tatsächlich über- relevante Schlüsse ziehen soll, wie die Bundestagswahl lassen wollen, damit sie am Ende ortsgenau, regional in diesem Jahr vorbereitet und dann auch durchgeführt präzise sagen können, an welcher Stelle von bestimmten werden kann, dann ist es zwingend erforderlich, auch satzungsrechtlichen Vorgaben gegebenenfalls Abstand festzuhalten, dass die Unterstützungsunterschriften teil- genommen werden muss? weise auch nicht zu sammeln sind, was unter anderem auch daran liegt, dass Wahlkreise nicht immer mit Land- Das ist genau der Unterschied, meine sehr verehrten kreisen gleichzusetzen sind und oftmals die einzelnen Damen und Herren. Um es einmal mit Karl Kraus zu Kandidaten oder die Unterschriftswilligen dann an der sagen: Es gibt leider Gottes Dinge, die sind so falsch, 15-Kilometer-Grenze scheitern können. da stimmt noch nicht einmal das Gegenteil. – Wer tat- Insofern habe ich einen entsprechenden Änderungsan- sächlich nicht in der Lage ist, eine faktische Unmöglich- trag eingebracht und bitte, das mit zu berücksichtigen, keit von einer rechtlichen Unmöglichkeit zu unterschei- damit auch die kleinen Parteien und Bündnisse die ent- den, hat meines Erachtens tatsächlich auch den Anspruch sprechende Rechtssicherheit bei der Durchführung ihrer verwirkt, zu sagen, wie er denn den Parteien im Grunde Aufstellungen haben und im September alles fair zugeht. eigentlich mit einem Rat zur Seite stehen will, wie man mit dieser Situation umgeht. Vielen Dank. Deshalb kann ich nur sagen: Wir wollen nicht in der Vizepräsident Wolfgang Kubicki: klassischen Trump-Manier mit Fehlbehauptungen wieder einen Hebel finden lassen, bei dem man so tut, als gäbe es Vielen Dank, Herr Kollege Mieruch. – Letzter Redner diese Pandemie nicht, als gäbe es die Todeszahlen nicht, zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael die Menschen, die darunter leiden. Es geht um Men- Frieser, CDU/CSU-Fraktion. schenleben, und wir haben auch ein Schutzrecht unseren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mitgliedern in den Parteien, den Bürgern gegenüber. 25722 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Michael Frieser (A) Genau dafür öffnet jetzt das Bundesministerium die Mög- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die (C) lichkeit, mit einer Verordnung, die wir erneut als Parla- vorgesehenen Plätze einzunehmen. Die Plätze an den Ur- ment diskutieren müssen. nen, so höre ich, sind alle besetzt. Dann eröffne ich die namentliche Abstimmung über den Antrag der Fraktio- Und dann kann ich mir den Vorwurf am Ende wirklich nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/25816. nicht ersparen: Durch dieses Gerede, das Sie hier evozie- Die Abstimmungsurnen werden um 18.29 Uhr geschlos- ren, sind wir überhaupt erst in die Lage gekommen, jetzt sen. Das bevorstehende Ende der namentlichen Abstim- immer noch mit Inzidenzzahlen kämpfen zu müssen; mung wird Ihnen rechtzeitig bekannt gegeben.2) (Lachen bei Abgeordneten der AfD) So, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: denn es liegt natürlich auch an bestimmen Teilen der Bevölkerung, dass wir an bestimmten Stellen nicht in Beratung der Antwort der Bundesregierung auf der Lage sind – vielleicht auch noch wochenlang nicht die Große Anfrage der Abgeordneten Christine in der Lage sein werden –, Veranstaltungen, die notwen- Buchholz, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, wei- dig sind, durchzuführen. Also, hören Sie auf, Dinge ein- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE fach zu negieren, so zu tun, als gäbe es keine Bedrohung! Antimuslimischer Rassismus und Diskrimi- Diese Bedrohung ist faktisch, und wir versuchen, die nierung von Muslimen in Deutschland Menschen, aber auch die Parteien darauf vorzubereiten, dass das funktioniert. Das stellen wir heute fest. Wir Drucksachen 19/11240, 19/17069 glauben, dass der Verordnungsweg ein sehr effektiver, Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die schneller Weg sein kann, über den wir bereits in der Linke vor. nächsten Sitzungswoche beschließen können. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Vielen Dank. beschlossen. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller Liebe: Wir sind in einer Debatte. Ich bitte auch die Kol- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und legen aus der Fraktion der SPD, doch der Debatte Auf- der SPD) merksamkeit zu schenken und nicht sich selbst. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nerin das Wort der Kollegin Christine Buchholz, Fraktion Vielen Dank, Herr Kollege Frieser. – Damit schließe Die Linke. ich die Aussprache. (Beifall bei der LINKEN) (B) (D) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache Christine Buchholz (DIE LINKE): 19/25816 mit dem Titel „Feststellung gemäß § 52 Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeden Tag Absatz 4 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes“. werden in Deutschland drei antimuslimische Straftaten angezeigt. Jeden zweiten Tag gibt es einen Angriff auf Hierzu liegen mir mehrere Erklärungen zur Abstim- eine Moschee oder einen muslimischen Repräsentanten. mung gemäß § 31 GO des Bundestages vor.1) (Zuruf von der AfD: Und auf Kirchen!) Bevor wir zu dieser Abstimmung kommen, stimmen wir über den Änderungsantrag des Abgeordneten Mario Die Straftaten gegen Muslime und Musliminnen werden Mieruch auf Drucksache 19/25901 ab. Wer stimmt für immer gewalttätiger. Das zeigt die Antwort der Bundes- diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer regierung auf die Große Anfrage der Linksfraktion. Diese enthält sich? – Dann stelle ich fest, dass gegen die Stim- Entwicklung ist alarmierend, und die Dunkelziffer ist laut me des Abgeordneten Mieruch mit den Stimmen aller Experten enorm. anderen Fraktionen des Hauses der Antrag abgelehnt Hinter diesen Zahlen stehen Menschen: zum Beispiel worden ist. die junge Frau aus Groß-Gerau, die letztes Jahr wegen ihres Kopftuches an einer Bushaltestelle rassistisch ange- Die Fraktion der AfD hat zu dem Antrag der Fraktio- griffen wurde – und der niemand half –, oder der Wolfs- nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/25816 burger Imam, der vor gerade einmal zwei Wochen Mord- namentliche Abstimmung verlangt. Die Abstimmung drohungen erhielt. Und dass sie auch vor Mord nicht erfolgt in der Westlobby. Ich weise ausdrücklich darauf zurückschrecken, zeigt der hinterhältige Mord an dem hin, dass auch in diesem Teil des Plenarbereichs die jungen Mann in einem Dönerimbiss in Halle, den der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung besteht rechte Attentäter nach seinem Angriff auf die Synagoge und ich Verstöße gegen diese Pflicht mit den Mitteln des erschoss. parlamentarischen Ordnungsrechts ahnden werde. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, hierauf zu Hass gegen Muslime ist ein zentrales Motiv der rech- achten. Sie haben zur Abgabe Ihrer Stimme nach Eröff- ten Terroristen. Angestachelt werden sie von den geisti- nung der Abstimmung 30 Minuten Zeit. Es stehen acht gen Brandstiftern der AfD. Wenn Frau Weidel hier von – Urnen zur Verfügung. Bitte gehen Sie nicht alle gleich- Zitat – „Kopftuchmädchen“ und – Zitat – „Messermän- zeitig zur Abstimmung. nern“ spricht, schürt sie den Hass gegen Muslime.

1) Anlage 2 2) Ergebnisse auf den Seiten 25731 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25723

Christine Buchholz (A) Aber antimuslimische Einstellungen werden leider (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Filiz (C) auch von staatlicher Seite gestützt. Immer wieder nähren Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Polizei und Verfassungsschutz Vorurteile, zuletzt bei den stigmatisierenden Razzien von Dutzenden schwerbe- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: waffneter Polizisten in Berliner Moscheen wegen angeb- Vielen Dank, Frau Kollegin Buchholz. – Nächster lich falscher Beantragung von Coronahilfen. Hier wurden Redner ist der Kollege Christoph de Vries, CDU/CSU- ganze Gemeinden unter Generalverdacht gestellt, wie mir Fraktion. der in Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaft hochgeschätzte Imam der Dar-As-Salam-Moschee, Taha (Beifall bei der CDU/CSU) Sabri, bestätigte. Eine befreundete Pastorin sagte mir, sie könne sich nicht vorstellen, dass Dutzende Polizisten Christoph de Vries (CDU/CSU): wegen des Verdachts auf falsch beantragte Coronahilfen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und eine Kirche stürmen würden. Kollegen! Wir beraten heute eine Große Anfrage der Hinzu kommt die Diskriminierung im Alltag. Wer Linksfraktion, die sie schon vor sehr langer Zeit an die einen türkischen oder arabischen Namen trägt, hat Bundesregierung gestellt hat und die auch schon vor fast Schwierigkeiten, eine Wohnung oder Arbeit zu finden. einem Jahr beantwortet worden ist. Vielleicht ist das mit Besonders häufig trifft es Frauen, die Kopftuch tragen. ein Grund, warum viele Entwicklungen zwischenzeitlich Ein Beispiel: Eine bosnische Muslimin wird für ihre Pro- noch nicht ganz angekommen sind. bearbeit in einer Münchner Bäckerei gelobt, dann aber Um es in aller Deutlichkeit ganz zu Anfang zu sagen: nicht eingestellt, da sie als – Zitat – „kopftuchtragende Es ist bedauerlich und gleichermaßen bedenklich, dass es Türkin“ einen ungebildeten Eindruck hinterlasse. in Teilen der deutschen Gesellschaft antimuslimische Wir sagen ganz klar: Niemand darf wegen seiner Reli- Ressentiments gibt und dass Diskriminierungen aufgrund gion benachteiligt werden! der Religion stattfinden; Sie haben es eben beschrieben. Für uns als Union ist völlig klar: Jegliche Diskriminie- (Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem rung und Muslimfeindlichkeit sind zu verurteilen, und sie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind auch aktiv zu bekämpfen. Das ist die Aufgabe der Jede Form der staatlichen Diskriminierung muss beendet Zivilgesellschaft, das ist die Aufgabe der Wirtschaft, aber werden. Das betrifft anlasslose Polizeikontrollen ebenso vor allen Dingen natürlich zuallererst die Aufgabe der wie Diskriminierung in staatlichen Institutionen. Die Lin- Politik – unsere Aufgabe. ke fordert eine Reform des Antidiskriminierungsrechts. Aber es kann doch niemand behaupten, dass wir uns in (B) Und: Die Betroffenen brauchen mehr Beratungsstellen, dieser Frage wegducken – genau das Gegenteil ist der (D) an die sie sich wenden können. Fall. Es waren die Innenminister, die schon 2016 be- schlossen haben, islamfeindliche Straftaten im Bereich (Beifall bei der LINKEN) der Hasskriminalität gesondert zu erfassen. Muslimische Religionsgemeinschaften sind gegenüber (Zuruf der Abg. Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE anderen in ihren Rechten und Aufgaben benachteiligt. GRÜNEN]) Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Ländern darauf hinzuwirken, Vereinbarungen zur Es sind Studien über muslimisches Leben in Deutschland Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaf- in Auftrag gegeben worden. Ich spreche die Antidiskri- ten voranzubringen. minierungsgesetzgebung an, aber auch die Beratungs- und Unterstützungsangebote für Opfer antimuslimischer (Beifall bei der LINKEN) Gewalt. Kurz gefasst: Es wird sehr, sehr viel von der Das Innenministerium hat nach dem Anschlag von Politik unternommen, um Vorurteile und Diskriminierun- Hanau, bei dem ein rechter Terrorist neun Menschen in gen abzubauen und auch um das Verständnis füreinander zwei Shishabars ermordete, den Unabhängigen Experten- zu fördern. kreis Muslimfeindlichkeit einberufen. Das begrüßen wir. Was dabei noch gar nicht berücksichtigt ist, sind die Um ihn zu stärken, fordert Die Linke, dass seine Hand- aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung gegen lungsempfehlungen nicht nur der Bundesregierung, son- Rechtsextremismus und Rassismus. Bis 2024 wird 1 Mil- dern auch dem Bundestag vorgelegt werden. liarde Euro für die Bekämpfung von Rechtsextremismus (Beifall bei der LINKEN) und Rassismus ausgegeben, für Prävention und Unter- stützung der Betroffenen. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. – Der Bundestag muss genauso wie die Zivilgesellschaft (Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: antimuslimischen Rassismus bekämpfen. Dazu braucht Das steht aber nicht in der Antwort und im es auch eine gemeinsame Positionierung der demokrati- Haushalt auch nicht! – Zuruf der Abg. Beatrix schen Fraktionen. von Storch [AfD]) Bei diesen 89 Einzelmaßnahmen sind auch viele Maß- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) nahmen dabei, die direkt oder indirekt zum Abbau der Dies wäre nicht nur ein wichtiges Signal an die Musli- Diskriminierung von Muslimen beitragen. Ich nenne minnen und Muslime in diesem Land, sondern auch ein nur die Aufstockung bei Modellvorhaben im Rahmen Zeichen der Solidarität gegen jede Form von Rassismus von „Miteinander im Quartier“ oder auch die For- und Ausgrenzung. schungsförderung im Bereich der Muslimfeindlichkeit. 25724 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Christoph de Vries (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen also: Der und die Geschichte der hier lebenden türkischstämmigen (C) Kampf gegen Muslimfeindlichkeit ist bei der Koalition in Menschen als die einer rassistisch diskriminierten Grup- guten Händen und wird sehr ernst genommen, und das ist pe erzählt, zu deren Beschützer er sich dann regelmäßig auch gut so. aufschwingt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Ja, aber Sie verkaufen weiterhin fleißig Waffen an Erdogan Ich kann Ihnen versichern: Die Bekämpfung aller For- und arbeiten hier fleißig weiter mit Herrn men religiösen oder politischen Extremismus in Deutsch- Erdogan!) land und die Verteidigung unserer freiheitlichen Demo- kratie sind nirgendwo so gut aufgehoben wie bei der Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dem Chris- Union; das muss man an dieser Stelle auch einmal ganz tentum können Sie traditionell eher wenig abgewinnen, klar sagen. und auch Ihre israelkritische Haltung ist zuweilen nur schwer von Antisemitismus zu unterscheiden. Aber Sie (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei Abge- machen manchmal auch, ob bewusst oder unbewusst, ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gemeinsame Sache mit Herrn Erdogan und anderen auto- NEN) ritären Herrschern. Wir sind nämlich – da Sie das gerade anmelden – (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Sie sind Erdo- gleich resistent gegen alle Formen des Extremismus in gans Partner Nummer eins! Sie sind der Partner unserem Land, und das unterscheidet uns im Übrigen von Erdogan!) ganz maßgeblich von Ihnen als Linke, die Sie immer wieder linksextremistische Taten verharmlosen oder mit Ich finde, Sie sollten das mal überdenken, und Sie sollten ganz kruden Erklärungen rechtfertigen, meine Damen sich nicht als williges Werkzeug von Islamisten benutzen und Herren. lassen, (Simone Barrientos [DIE LINKE]: Tata! Tata! (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Ausgerechnet Tata!) der Linken eine Partnerschaft mit Erdogan zu unterstellen! So ein Unsinn!) Werfen wir auch einmal einen Blick auf die AfD. Islamfeindlichkeit gehört, genauso wie die generelle deren wiederkehrender Topos immer die – vermeintli- Ablehnung von Zuwanderung, zum Standardportfolio che – Islamfeindlichkeit der gesamten deutschen Gesell- der extremen Rechten. Mit Ihrem Einzug in den Bundes- schaft ist. Ich sage Ihnen: Das gibt es nicht Deutschland. tag ist hier auch eine Sichtweise aufgekommen, die zwi- Das ist nicht so, meine Damen und Herren. (B) schen Islam einerseits und Islamismus bzw. politischem (Beifall bei der CDU/CSU – Christine (D) Islam andererseits nicht unterscheiden will oder kann. Buchholz [DIE LINKE]: Machen Sie mal die Auch diese Haltung weisen wir an dieser Stelle in aller Augen auf! – Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Deutlichkeit zurück. Sie unterscheiden sich nicht von Erdogan!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Lesen Sie mal die eigenen Gastbeiträge der Kollegin Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Dağdelen, die dazu im Januar im „Spiegel“ einiges Seite der Medaille sind natürlich Entwicklungen in der geschrieben hat. Sie hat mir da deutlich zugestimmt. Viel- islamischen Welt, die viel zu lange beschönigt und auch leicht sollten Sie das in Ihrer Fraktion erst mal klären, verharmlost worden sind. Das gilt ganz besonders für die meine Damen und Herren. politische Linke. Ich spreche hier vom Aufstieg des poli- Lassen Sie mich aber sagen: Kritik an jeder Religion tischen Islam und seiner Vertreter, die für eine islamische muss in unserem Land zulässig und möglich sein; denn Gesellschafts- und Werteordnung in unserem Land ein- Religionskritik ist ein zentrales Erbe der Aufklärung, das treten und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt da- wir uns als freiheitliche, als offene Gesellschaft auch mit bedrohen. bewahren müssen. Und wenn totalitäre Ideologien ver- (Zuruf der Abg. Christine Buchholz [DIE breitet werden, dann muss es Widerspruch geben. Das LINKE]) hat im Übrigen nichts mit Islamfeindlichkeit zu tun. Das ist die Verpflichtung eines jeden Demokraten. Ehrlich gesagt, ganz symptomatisch dafür ist auch der Titel dieser Großen Anfrage, den Sie gewählt haben: Also, wir weisen Muslimfeindlichkeit, Diskriminie- „Antimuslimischer Rassismus ... in Deutschland“. Meine rung und Vorurteile entschlossen zurück. Aber mit der Damen und Herren, das ist ein konstruierter Rassismus- gleichen Entschlossenheit müssen wir eben auch Fehl- begriff, der aus dem postkolonialen Spektrum stammt entwicklungen entgegentreten, dem politischen Islam und quasi Rassismus ohne Rassen kreiert. die Stirn bieten, und wir dürfen solche Dinge nicht aus falsch verstandener Toleranz ignorieren. Das wäre auch (Zurufe von der LINKEN) nicht im Sinne der Integration. Denselben Begriff führt auch der türkische Präsident Vielen Dank. Erdogan im Munde, wenn er ganz bewusst immer die Rassismuskeule gegen Deutschland schwingt (Beifall bei der CDU/CSU – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Eine Antwort auf (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Unfassbar! die Große Anfrage wäre besser gewesen! – Unfassbar!) Zuruf: Ganz schlechte Rede!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25725

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Sie nehmen auch nicht zur Kenntnis, warum Bürger (C) Vielen Dank, Herr Kollege de Vries. – Nächster Red- Ängste haben. Die sehen doch die vielen Mordanschläge ner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Bernd radikaler Muslime – Paris, Nizza, Dresden, Wien –, die Baumann. abgeschnittenen Köpfe. (Beifall bei der AfD) (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Hanau) Die Bürger leiden auch im Alltag unter hoher Kriminali- Dr. Bernd Baumann (AfD): tät von Migranten. Sie fürchten die abgeschotteten Paral- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke lel- und Gegengesellschaften bis hin zur Clanherrschaft präsentiert heute eine Große Anfrage. Ihr Titel lautet in ganzen Stadtteilen. „Antimuslimischer Rassismus“. Schon das ist purer (Zurufe von der LINKEN) Unsinn. Muslime sind keine Rasse, keine Ethnie, kein Volk. Das ist eine Religion, ein Bekenntnis. Überdies weisen wissenschaftliche Studien nach: Zwei Drittel aller Muslime halten ihre islamischen Gesetze, die (Christine Buchholz [DIE LINKE]: „Antimus- Scharia, für wichtiger als die Gesetze des Landes, in dem limischer Rassismus“ ist ein Begriff!) sie leben. Deshalb: Wenn sich heute viele Bürger fürch- Meine Damen und Herren, antimuslimischer Rassis- ten, ist das nicht Rassismus, wie uns die Links-Grünen mus, das ist eine dieser typischen bescheuerten links-grü- weismachen wollen. Skepsis und Abneigung sind oft nen Wortverdrehungen, und schlimmer noch: Die Bun- logische Folgen Ihrer Politik. Sie alle hier tragen die desregierung übernimmt diesen linken Kampfbegriff. – Schuld für diese verfehlte Politik und die Situation und Herr de Vries, das müssen Sie sich klarmachen. nicht die Bürger draußen und deren angeblicher Rassis- mus. (Benjamin Strasser [FDP]: Sie haben keine (Beifall bei der AfD) Ahnung!) Und so dokumentiert die heute vorliegende Anfrage – Es steht in der Anfrage drin. keine Islamfeindlichkeit der Deutschen, sondern die tief- (Christoph de Vries [CDU/CSU]: Keine sitzende Deutschfeindlichkeit der gesamten politischen Ahnung!) Linken bis tief in die CDU hinein, meine Damen und Herren. Warum machen die Linken das? Sie wollen jede Art von Kritik am Islam unterdrücken und kriminalisieren. In (Beifall bei der AfD) Ihrer Anfrage beschwören Sie auf 151 eng bedruckten (B) Und nur noch ein Wort zu den Linken: Vor vielen (D) Seiten einen angeblichen massenhaften Rassismus. Wer Jahren brachte ein Gelehrter das Grundproblem mit über deutsche Leitkultur nachdenkt – ein Rassist. Wer dem Islam aus seiner Sicht so auf den Punkt – wörtlich –: beobachtet, dass sich Kulturen in ihren Normen und Wer- ten unterscheiden – ein Rassist. Wer sich vor einer Isla- Der Islam … schafft einen Zustand permanenter misierung seines Stadtteils fürchtet Feindschaft zwischen Muselmanen und Ungläubi- gen. (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Der hat ein Messer in der Tasche!) Wissen Sie, wer das war? Das war Ihr Vordenker; das war Karl Marx. Die Linken hatten sich damals noch um die und so den Islam als Bedrohung für die eigene Lebens- Arbeiterklasse gesorgt; der sollte es mal besser gehen. weise wahrnimmt – ein Rassist. So kommt Anklage auf Anklage: überall Nazis, Islamhass, Menschenfeindlich- Das interessiert heute nicht mehr. Linke Politik will keit. heute nicht mehr deutschen oder europäischen Arbeitern dienen, sondern vorrangig – das sehen wir jetzt wieder – (Zuruf der Abg. Christine Buchholz [DIE orientalischen und afrikanischen Migranten. Die wahre LINKE]) politische Heimat der Arbeiter ist heute die AfD. Wäre an solch böswilligen Verleumdungen auch nur (Beifall bei der AfD – [CDU/ annähernd was dran, Millionen Muslime würden doch CSU]: Karl Marx ist Ihr Schutzheiliger, oder aus Deutschland fliehen, wenn irgendwas daran stimmen was?) würde. Das Gegenteil ist der Fall: (Benjamin Strasser [FDP]: Reden Sie mal mit Vizepräsident Wolfgang Kubicki: den Opfern von Hanau!) Vielen Dank, Herr Dr. Baumann. – Nun kommt, von allen erwartet, der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. Wir sind das Sehnsuchtsland für muslimische Einwande- rer aus aller Welt. Millionen kamen zu uns; weitere Mil- (Beifall bei der SPD – Benjamin Strasser lionen wollen zu uns. [FDP]: Aber nur 3 Minuten und nicht 13! – Gegenruf: 3 Minuten braucht er zur Einlei- (Zuruf: Die mögen Deutschland lieber als Sie!) tung!) Ihre Große Anfrage ist eine falsche Anklage und eine – Kollege Strasser, ich werde auf die Redezeit sorgfältig große Lüge, meine Damen und Herren. achten. (Beifall bei der AfD) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) 25726 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Helge Lindh (SPD): sentanten dieses Landes sind – genauso wie Christen und (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Christinnen, wie Jüdinnen und Juden, sie sind genauso nähert sich dem Mobbing an. Aber ich achte drauf. Repräsentanten Deutschlands. – Das ist das Zweite. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Das Dritte ist: Wir müssen raus aus der Barbarei des Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das sagen Sie jedes Verstehens, wie ich es nenne. Wir leben doch in einer Mal!) humanen Gesellschaft davon, dass wir Dinge nicht ver- Herr Baumann, Sie haben ja gerade bei dem Thema stehen und verstehen wollen und dass wir Dinge nicht bewiesen, dass Sie nichts verstehen und davon viel und gleichmachen sollen, sondern Verschiedenheit akzeptie- dass Sie der personifizierte Beweis für die Berechtigung ren. Das macht uns doch aus. der Thematisierung des antimuslimischen Rassismus Das Vierte – das scheint mir das Wichtigste zu sein –: sind. Insofern war das ein hilfreicher Beitrag. Es gibt nicht nur so etwas wie ein Recht, seine Religion (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem zu praktizieren, und ein Recht, sie auch nicht zu prakti- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zieren, sondern auch ein Recht, sich nicht erklären zu müssen, nicht immer als muslimisch identifiziert zu wer- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, jedes den, sondern einfach als Individuum anerkannt zu wer- Maßnahmenpaket, jede Entscheidung ist daran zu mes- den. Und dieses Recht haben wir Musliminnen und Mus- sen, ob es uns endlich gelingt – und das ist bisher nicht limen in den letzten Jahrzehnten eben nicht zuteilwerden der Fall gewesen –, die Frage des antimuslimischen Ras- lassen, und da müssen wir ansetzen. sismus – ich benutze diese Begrifflichkeit ganz bewusst, weil es sich darum handelt – emotional und in der Form (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des von Empathie zu begreifen. Das scheint mir nach Hanau BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und nach dem NSU ausgesprochen wichtig zu sein. Und deshalb wünsche ich mir auch – und das ist vielleicht Das bedeutet für die Zukunft, dass wir Fehler klar aus- ein hehrer Wunsch noch für die nächsten Monate dieser sprechen, Versäumnisse benennen, dass wir uns entschul- Legislatur –, - digen, dass wir ein Zeichen des „Es tut uns leid“, des „Wir entschuldigen uns“ aussenden, dass wir den Rassis- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: mus als solchen benennen und – das kann keine einzelne Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. Maßnahme, sondern das wird ein langer Prozess sein – dass wir lernen, zu trauern. Der NSU und auch Hanau haben gezeigt, dass wir dazu nicht imstande sind. Helge Lindh (SPD): (B) – dass es uns gelingt, in einem großen Angriff für (D) Und wer sich hier im Raum erinnert – Herr Baumann, Humanität fraktionsübergreifend dies noch vor Ende Sie sollten sich das mal ganz genau ansehen –, dass wir der Legislatur gemeinsam zu bekennen. Das würde im Fall NSU medial wie politisch eine lange Zeit die mich freuen, im Sinne aller Musliminnen und Muslime – Opfer und die Angehörigen zum Täter gemacht haben: Das ist eine zutiefst beschämende Schande, die uns alle hier betrifft und nicht ruhig sein lassen kann. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Kollege. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Helge Lindh (SPD): – und als Zeichen des Zurückstellens parteipolitischer Wenn wir von dem Thema sprechen, sind, glaube ich, Erwägungen. vier Punkte wichtig. Das Erste: Wir müssen heraus aus einer Kultur der Unterstellung und des Verdachts. Wir Vielen Dank. sprechen ja hier immer davon, dass wir Sicherheitsbe- hörden, dass wir Polizisten nicht unter Generalverdacht (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie stellen wollen, zu Recht. Aber Musliminnen und Musli- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE me leben in diesem Land permanent im Rahmen der GRÜNEN) Islamdebatten unter Generalverdacht. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Christine Buchholz [DIE LINKE]: So ist es!) Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Bevor ich dem Diese Kultur des Generalverdachts und der Unterstellung Kollegen Strasser das Wort erteile, weise ich darauf hin, muss enden. – Das ist das eine. dass die Urnen für die namentliche Abstimmung noch circa zehn Minuten geöffnet sind. Auch diejenigen, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aus Schleswig-Holstein kommen, sollten sich also viel- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE leicht langsam auf den Weg machen, um abzustimmen. GRÜNEN) Das Zweite: Wir müssen ran an die Frage der Reprä- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) sentanz. Es reicht nicht, dass wir Musliminnen und Mus- Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Strasser, lime als Repräsentantinnen und Repräsentanten ihrer FDP-Fraktion. Community begreifen, sondern wir müssen auch das Zei- chen aussenden, dass sie Repräsentantinnen und Reprä- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25727

(A) Benjamin Strasser (FDP): Wir sollten uns deshalb intensiver als bisher der Frage (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und stellen, wie wir unser bewährtes Religionsverfassungs- Kollegen! Rassismus ist ein Problem in Deutschland. recht so weiterentwickeln, dass eine bessere Repräsenta- Tagtäglich werden neben vielen Gruppen auch Muslime, tion der Musliminnen und Muslime in Deutschland die in Deutschland geboren und aufgewachsen oder zuge- sichergestellt wird, die bisher keine Stimme haben. Wir wandert sind, mit Rassismus konfrontiert. Sie erleben brauchen sie bei dieser großen Aufgabe als Partnerinnen ihn, weil sie ein Kopftuch tragen, einen arabischen Vorn- und Partner, und wir sind sehr offen, auch hier in die amen haben oder weil sie schlicht und einfach Muslime Diskussion, in die Vorschläge zu gehen. sind. Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Zahlen einer Studie des Forschungsinstituts zur Zu- (Beifall bei der FDP) kunft der Arbeit aus dem Jahre 2016 belegen das auch: So müssen Kopftuchträgerinnen bei gleicher Qualifika- tion viermal so viele Bewerbungen schreiben wie Frauen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ohne Kopftuch. Jugendliche mit türkischen oder arabi- Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Nächste Redne- schen Namen haben größere Schwierigkeiten, einen Job rin ist die Kollegin Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen. zu finden, sogar noch viel größere, wenn sie Abitur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) haben. Bei gleicher Leistung haben Schülerinnen und Schüler mit türkischen Vornamen schlechtere Schulno- ten. Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Rassismus hat Auswirkungen auf Lebenschancen von ren! Zunächst richte ich einen Dank an die Fraktion Die Menschen. Er bedeutet, dass die Religion zählt und nicht Linke. Die Große Anfrage ermöglicht uns, umfassend die Leistung, dass Menschen bestenfalls toleriert, aber über antimuslimischen Rassismus in diesem Hohen Hau- keinesfalls akzeptiert werden. Und im schlimmsten Fall se zu debattieren. Umso enttäuschender ist allerdings die tötet Rassismus, wie wir es letztes Jahr in Halle und sehr träge und doch unambitionierte Antwort der Bundes- Hanau erleben mussten. Eine liberale Gesellschaft ohne regierung. Vor allem die notwendigen umfassenden poli- Rassismus ist deshalb auch das Ziel von uns Freien tischen Antworten auf die eindrücklich beschriebene Demokraten. Bedrohungssituation von Musliminnen und Muslimen fehlt, meine Damen und Herren. Herr de Vries, der Kabi- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem nettsausschuss wird nicht mit einem Wort erwähnt. Das Entschließungsantrag sind durchaus Punkte enthalten, ist schon bezeichnend für 150 Seiten als Antwort auf eine denen wir zustimmen können: mehr Präventionsangebote Große Anfrage, meine Damen und Herren. (B) oder eine stärkere Sensibilisierung von Beamtinnen und (D) Beamte für Rassismus. Aber an anderen Stellen Ihres (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entschließungsantrags lassen Sie sich auf eine sehr sowie bei Abgeordneten der LINKEN – gefährliche Diskussion ein. Sie versuchen, rassistisch Christoph de Vries [CDU/CSU]: Diese Anfra- motivierten Vorurteilen mit Vorurteilen gegenüber Sich- ge ist vor einem Jahr beantwortet worden!) erheitsbehörden zu begegnen. Wenn Sie beispielsweise In Deutschland hat es im Jahr 2019 statistisch jeden Razzien gegen die organisierte Clankriminalität, die zweiten Tag islamfeindliche Angriffe auf Moscheen immer – immer! – im Rahmen eines rechtsstaatlichen und muslimische Einrichtungen gegeben – jeden zweiten Ermittlungsverfahrens durchgeführt werden, allen Erns- Tag! Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Diskrimi- tes als – Zitat – „anlasslos stigmatisierend“ bezeichnen, nierung – laut der Antwort auf die Große Anfrage – erfah- dann nehmen Sie Ihrem Antrag nicht nur die Ernsthaftig- ren Musliminnen und Muslime in allen Lebensbereichen: keit; Sie delegimitieren auch den Rechtsstaat. im öffentlichen Raum, am Wohnungs- und Arbeitsmarkt, (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Cem in Bildungseinrichtungen, im Gesundheitswesen und vor Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) allem im Netz. Insbesondere Frauen, so dokumentiert die Antidiskriminierungsstelle, die ein Kopftuch tragen, sind Der Rechtsstaat urteilt eben ohne Ansehen der Person. von Mehrfachdiskriminierungen, verbaler und körperli- Die Herkunft und die Religion allein können niemals ein cher Gewalt betroffen, meine Damen und Herren. Das Grund für eine Verurteilung sein. Sie dürfen aber auch können wir nicht hinnehmen. nicht dazu führen, dass der Rechtsstaat bewusst weg- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaut. Dieses Prinzip werden wir Freie Demokraten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) immer verteidigen. Ministerin Giffey schafft es trotz dieser erschrecken- (Beifall bei der FDP) den Zahlen aus dem Bericht der eigenen Antidiskriminie- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Staat allein wird rungsstelle nicht, eine dringend notwendige Reform des rassistische Einstellungen nicht einfach wegverbieten 15 Jahre alten Antidiskriminierungsgesetzes vorzulegen, können. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, meine Damen und Herren. Ein Armutszeugnis, absolut und wir werden Rassismus nur mit der Gesellschaft be- ungenügend! Lassen Sie mich auch sagen: Keine gute seitigen können. Deswegen kommt der Zusammenarbeit Bilanz für eine Kandidatin, die Bürgermeisterin der welt- mit den muslimischen Religionsgemeinschaften in offenen Stadt Berlin werden möchte. Deutschland bei der Bekämpfung des Rassismus eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zentrale Rolle zu. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 25728 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Filiz Polat (A) Die Bundesregierung hat keinen Überblick über die me deshalb zurück zu Zusatzpunkt 16 und frage in der (C) von Beratungsstellen bearbeiteten Fälle, meine Damen ersten Runde: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwe- und Herren. Ähnlich geht es den Betroffenen selbst mit send, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist Blick auf mögliche Anlaufstellen: 70 Prozent der Betrof- nicht zu sehen. Ich muss trotzdem noch zwei Minuten fenen sagen laut einer Studie der Antidiskriminierungs- oder anderthalb Minuten bis 18.29 Uhr warten. stelle – so zitiert in der Antwort –, dass sie keine Bera- Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten, Herr Kollege tungsangebote für Diskriminierungsvorfälle kennen, Castellucci: meine Damen und Herren. Das ist doch ein katastrophaler Zustand; den gilt es abzustellen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie fangen Ihre Rede an. – Oh, es kommen noch Leute. – sowie der Abg. Christine Buchholz [DIE LIN- Noch schließen wir nicht, also einen kleinen Moment KE]) noch. Herr Castellucci, es ist besser, Sie warten noch die 20 Sekunden Es braucht endlich einen Neustart in der Antidiskrimi- nierungspolitik. Dazu gehören eine Reform des AGG, die ( [CDU/CSU]: Sie können Aufwertung der Antidiskriminierungsstelle und eine ja runterzählen!) Kofinanzierung von Beratungsstellen in den Ländern Und reden dann in einem Stück. für einen niedrigschwelligen Zugang zum Diskriminie- rungsschutz. Das sind wir den Betroffenen schuldig, mei- Noch einmal die Frage: Ist noch ein Mitglied des Hau- ne Damen und Herren. ses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Es kommt noch jemand; sensationell! Hoffentlich nie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mand aus Schleswig-Holstein; das würde mich betrüben. sowie der Abg. Christine Buchholz [DIE LIN- KE]) (Zuruf von der LINKEN: Ach, Sie haben doch gewonnen! Das reicht doch!) Antimuslimische Vorurteile sind tief verwurzelt in allen gesellschaftlichen Schichten und im Übrigen über – Nein, nicht deshalb. Beim letzten Mal waren es Schles- alle Parteigrenzen hinweg. Die Muslimfeindlichkeit hat wig-Holsteiner, die noch kamen. aber eine hohe Bindekraft für rechtsextreme und rechte Sehr gut. Also, letztmalig der Aufruf: Ist noch ein Mit- Parteien. Sie nutzen diese Stimmung in der Bevölkerung, glied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abge- um sich und ihre Politik in der Mitte der Gesellschaft geben hat? – Ich stelle fest: Das ist nicht der Fall. – Damit anschlussfähig zu machen. Es ist wirklich fünf vor zwölf. schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe- (B) Nehmen Sie die Ängste und Sorgen der Musliminnen und rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- (D) Muslime endlich ernst. Aus persönlichen Berichten weiß nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später ich um die seelischen Verletzungen durch Diffamierung, bekannt gegeben. vor allem im Alltag. So, und nun, Herr Kollege Professor Castellucci, haben Meine Damen und Herren, Solidarität und Anteilnah- Sie als letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt 20 das me sind das Gebot der Stunde. Es ist an uns allen, tagtäg- Wort. lich gemeinsam gegen jede Form von Rassismus und (Beifall bei der SPD) Menschenfeindlichkeit aufzustehen, damit dem Hass der Nährboden entzogen wird; denn dieser Angriff ist ein Angriff auf uns alle: auf unsere Freiheit, auf unsere Dr. Lars Castellucci (SPD): Gesellschaften und auf unsere Demokratien. Stellen wir Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Spannung uns dem gemeinsam entgegen, gerne noch in dieser auf meine Rede erhöht haben. – Herr Präsident! Sehr Legislaturperiode mit einem parteiübergreifenden Antrag geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol- oder einer Resolution. legen! Ich möchte zunächst einmal der antragstellenden Fraktion danken, dass sie uns diese wichtige Debatte Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ermöglicht, die leider auch notwendig ist, und ich möchte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als letzter Redner dieser Debatte sagen, was ich für das sowie bei Abgeordneten der LINKEN) eigentliche Thema dieses Abends halte, und das ist: Wie gelingt uns das gute Zusammenleben in Vielfalt in Deutschland? Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Herr Professor (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Castellucci, Sie müssen noch einen kleinen Moment war- Das Erste, was man sehen muss, ist, dass wir ein viel- ten. Wir kommen jetzt noch zu anderen Dingen. fältiges Land sind, Herr Baumann, ob einem das nun Der Kollege Hans-Jürgen Irmer, CDU/CSU-Fraktion, gefällt oder nicht. Wir müssen von gegebenen Tatsachen hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) ausgehen, wenn wir Gutes bewirken wollen. Wir sind ein vielfältiges Land und haben damit nicht nur die Men- Bevor ich Herrn Professor Dr. Lars Castellucci das schen mit Migrationshintergrund angesprochen, die uns Wort erteile, will ich darauf hinweisen, dass die Zeit für vielleicht zuerst einfallen. Das sind übrigens 25 Prozent, die namentliche Abstimmung gleich vorbei ist. Ich kom- also ein Viertel der Menschen in diesem Land. Aber es sind nicht ein Viertel der Menschen hier in diesem Parla- 1) Anlage 4 ment, nicht ein Viertel der Menschen am Kabinettstisch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25729

Dr. Lars Castellucci (A) und nicht ein Viertel in unseren Behörden. Das zeigt, dass Überweisungsvorschlag: (C) wir noch viel zu tun haben, um Vielfalt wirklich gut zu Ausschuss für Kultur und Medien (f) Auswärtiger Ausschuss gestalten. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung Es geht aber nicht nur um Migrationshintergrund, son- Ausschuss für Tourismus dern auch darum: Die Menschen haben unterschiedliche b) Beratung des Antrags der Abgeordneten sexuelle Orientierung, sie haben unterschiedlichen Glau- Martin Erwin Renner, Marc Bernhard, Peter ben, sie haben unterschiedliche Befähigungen. Das alles Boehringer, weiterer Abgeordneter und der macht unsere Vielfalt aus. Ich bin fest davon überzeugt, Fraktion der AfD dass wir gelernt haben – oder die meisten von uns –, uns mehr oder weniger so zu akzeptieren, wie wir eben sind. Deutsch als Arbeitssprache in der Ge- Das macht uns alle freier. Deswegen sage ich: Diese Viel- meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik falt tut uns gut in Deutschland. der Europäischen Union (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Drucksache 19/25802

Aber das geht nicht von selbst, nicht automatisch. Da- Überweisungsvorschlag: mit uns Vielfalt guttut, dürfen wir nämlich nicht nur die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss vielen einzelnen Gruppen in diesem Land wahrnehmen, Verteidigungsausschuss wertschätzen und in ihren Bedürfnissen erkennen, son- dern wir müssen auch dafür sorgen, dass das Zusammen- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten leben all dieser Gruppen in Vielfalt gelingt. Dazu müssen beschlossen. wir an die Wurzeln für diskriminierendes Verhalten Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- heran. Eine dieser Wurzeln für diskriminierendes Verhal- ner dem Kollegen Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion, das ten sehe ich darin, dass Menschen selbst sich zurückge- Wort. setzt, nicht ausreichend wahrgenommen, vielleicht nicht vollständig zugehörig fühlen. Deshalb: Die beste Politik (Beifall bei der AfD) gegen Diskriminierung, die beste Antidiskriminierungs- politik ist eine Politik, die sich an alle richtet, die nicht spaltet, Herr Baumann, eine Politik, die niemanden zu- Dr. Götz Frömming (AfD): rücklässt, und auch eine Politik, die Orientierung schafft Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer für die Zukunft, dass die Menschen wissen: Sie haben einmal vor dem Kölner Dom oder auch im Ulmer Müns- auch in Zukunft einen Platz in diesem Land. ter stand, der wird sich gefragt haben, wie es wohl die (B) Baumeister des Mittelalters vermochten, ohne moderne (D) Mit anderen Worten: Das eigentliche Thema dieser Technik solche Wunderwerke, so etwas Schönes und heutigen Debatte, die Herausforderung, die sich uns Erhabenes zu schaffen. Oft dauerte es bekanntlich viele stellt, ist: der gesellschaftliche Zusammenhalt. An diesem Jahrzehnte, im Falle des Kölner Doms sogar mehrere gesellschaftlichen Zusammenhalt müssen und werden Jahrhunderte, bis die Kathedralen des Mittelalters ihre wir intensiv weiterarbeiten. heutige Gestalt erhielten. Ähnlich bewundern wir auch Vielen Dank. die Naturschönheiten unseres Landes: die Moore, Seen, Berge und Wälder. Einige Eichen im Spessart sind fast so (Beifall bei Abgeordneten der SPD) alt wie der Kölner Dom. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt etwas, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: das ist noch schöner als der Kölner Dom und älter als die Vielen Dank, Herr Professor Castellucci. – Damit ältesten Eichen im Spessart: Das ist unsere gemeinsame schließe ich die Aussprache. deutsche Sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache (Beifall bei der AfD) 19/25778. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wir sollten ihr mehr Aufmerksamkeit schenken, wir soll- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist ten sie pflegen und hegen, meine Damen und Herren. dieser Entschließungsantrag bei Enthaltung der Fraktion Damit meine ich nicht, dass wir unsere Sprache nun kon- Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion servieren sollten, dass wir sie einfrieren oder gar in ein Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Museum sperren. Sprachen überleben dann, meine Hauses abgelehnt. Damen und Herren, wenn sie gesprochen werden. Und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: natürlich: Ja, sie wandeln sich dabei. Auch das Deutsche hat sich ausgehend vom Althochdeutschen über das Mit- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten tel- und Frühneuhochdeutsche bis heute gewandelt und Dr. Götz Frömming, Stephan Brandner, wird sich auch weiter wandeln. Aber dieser Wandel, mei- Marcus Bühl, weiterer Abgeordneter und ne Damen und Herren, war stets ein natürlicher. Keine der Fraktion der AfD Obrigkeit hat ihn angeordnet, keine Polizei hat ihn über- 2021 zum Jahr der deutschen Sprache wacht, und das soll auch so bleiben, meine Damen und erklären Herren. Drucksache 19/25801 (Beifall bei der AfD) 25730 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dr. Götz Frömming (A) Gleichwohl gab es immer wieder einmal Versuche, die Eine genau entgegengesetzte, also nicht bevormunden- (C) deutsche Sprache aktiv zu reinigen. Das begann schon im de Position hat Martin Luther übrigens eingenommen. Er Barock und ging in der Aufklärung so weiter. Fremdwör- hat bekanntlich dem Volk aufs Maul geschaut. Er hat ter sollten zwanghaft durch deutsche ersetzt werden oder nicht in die Grammatik und die Regeln der deutschen gar der Gebrauch bestimmter Wörter ganz vermieden Sprache eingegriffen. Deshalb empfehlen wir: Nehmen oder sogar verboten werden. Auf die deutsche Sprache wir uns Martin Luther zum Vorbild! Rufen wir das Jahr selbst hat das alles sich wenig ausgewirkt. Goethe selbst 2021 zum Jahr der deutschen Sprache aus! Pflegen wir riet zur Gelassenheit. Wörter kommen, einige bleiben, sie! Sorgen wir dafür, dass sie auch in der EU gepflegt andere gehen wieder. und gesprochen wird! Jetzt wo Großbritannien ausgetre- ten ist, wird es ja noch absurder, wenn sich dort alle nur Aber dieser Tage, meine Damen und Herren, erleben noch im schlechten Englisch unterhalten. Übrigens haben wir etwas anderes: Die Sprachpuristen von heute zielen unsere Freunde, die Franzosen, genau den gleichen Vor- nicht mehr nur auf einzelne Wörter, die sie zu Unwörtern stoß gemacht. erklären, sondern sie zielen auf die DNA unserer Sprache selbst, nämlich auf die Grammatik. Ausgerechnet der alt- ehrwürdige Dudenverlag – lange ist es her – hat sich vor Vizepräsident Wolfgang Kubicki: einigen Tagen an die Spitze derjenigen gestellt, die das Kommen Sie zum Schluss, bitte? generische Maskulinum abschaffen wollen. „Mieter“ ist jetzt nicht mehr jemand, der etwas gemietet hat, sondern Dr. Götz Frömming (AfD): nur noch die männliche Person, die etwas gemietet hat. Sie werden das Französische in den Mittelpunkt stel- Ihr zur Seite gestellt ist jetzt eine weibliche Person, die len. Wir sollten das mit dem Deutschen genauso machen. etwas gemietet hat, also eine „Mieterin“. Stimmen Sie unseren Anträgen zu! (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Aydan Ich danke Ihnen. Özoğuz [SPD]: Hä? Das war doch schon (Beifall bei der AfD) immer so!) Man fragt sich natürlich, wo bei dieser heteronormativen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Betrachtungsweise die übrigen biologischen oder sozial Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Frömming. – Ich konstruierten Geschlechter bleiben. Damit beglückt uns erteile nun das Wort der Kollegin Melanie Bernstein, dann womöglich die Dudenredaktion in ihrer nächsten CDU/CSU-Fraktion. Ausgabe. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (Beifall bei der AfD) (D) Melanie Bernstein (CDU/CSU): Die Abschaffung des generischen Maskulinums, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei meine Damen und Herren, betrifft im Online-Duden der Lektüre Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und Kol- 12 000 Personen und Berufsgruppen; man war also flei- legen von der AfD, ist mir wieder einmal das Muster ßig. Aber: Die Fachwelt, so lesen wir, ist weniger begeis- Ihres politischen Handelns aufgefallen. Zunächst einmal tert. Zum Beispiel die Linguistin Dr. Ewa Trutkowski von geht das ja ganz gut los: Sie loben Luther und seine Ver- der Freien Universität Bozen sagt, dass der Duden – ich dienste um die moderne deutsche Sprache, schreiben von zitiere – seine Deutungshoheit über die deutsche Sprache Diskussionsveranstaltungen und einem Dialog; alles missbrauche, um eine einseitige Sichtweise im Streit um schön und gut. Aber dann liefern Sie ja doch zuverlässig, die Geschlechtergerechtigkeit zu propagieren. weil Sie die bürgerliche Maske nicht mal für zwei Seiten Nun könnte man meinen, es handele sich beim Duden aufrechterhalten können. Da ist die Rede von „Deutsch- um eine einmalige Entgleisung, aber weit gefehlt: Der türken“ und deren Smartphone-Nutzungsgewohnheiten. Wahnsinn hat Methode. Sogar im öffentlichen Rundfunk Weil also ein Migrant „ortsanzeigende Präpositionen“ sind die Nachrichtensprecher neuerdings angehalten, eine nicht beherrscht, wollen Sie „Festveranstaltungen und vermeintlich gendergerechte Sprache zu verwenden. Mit Symposien“ durchführen. Von dem Franzosen, der kein merkwürdigen gutturalen Lauten und Kunstpausen mit- „h“ aussprechen kann, und dem Amerikaner, der mit dem ten im Wort soll versucht werden, eine Sprache zu etab- „ch“ auch so seine Probleme hat, natürlich kein Wort. lieren, die sonst niemand spricht. Man sollte das ernst Dann kommt der Rundumschlag auf alles, was der nehmen, meine Damen und Herren; denn wer es auf die durchschnittliche AfDler so gar nicht leiden kann: der Grammatik einer Sprache abgesehen hat, der will nicht „Hipster“, die Bar, in der die Bedienung Englisch spricht, nur die Sprache verändern, sondern der will das Denken der Deutschtürke, der Migrant, Fremdsprachen, kulturel- verändern, der will einen anderen Menschen schaffen. le Vielseitigkeit, Weltoffenheit. Was Sie wie immer nicht verstehen, ist, dass diese Erscheinungen nicht von der (Beifall bei der AfD) Bundesregierung verordnet sind. Keiner schreibt vor, Meine Damen und Herren, das ist autoritär. So etwas gibt welche Sprache in einem Restaurant gesprochen werden es eigentlich nur in Diktaturen. Gegen solche Versuche muss. Es gibt kein Verbot englischsprachiger Musik. sollten sich alle demokratischen und freiheitsliebenden Andersherum zwingt Sie übrigens auch niemand, ein Menschen stemmen. Hipstercafé aufzusuchen. Derzeit gibt es zwar gute Gründe, dass Cafés geschlossen sind, aber die verstehen (Beifall bei der AfD) Sie ja auch nicht. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25731

Melanie Bernstein (A) Ich muss schon sagen: Innerhalb einer Textseite den politische Stiftungen, die auf der ganzen Welt unsere (C) Bogen von Luthers Bibelübersetzung zu der Art, wie Ideale von Freiheit und Demokratie vertreten, also all mit türkischem Akzent das Wort „ich“ ausgesprochen das, was Sie gemeinhin „Steuergeldverschwendung“ wird, zu ziehen, ist eine beachtliche Leistung; das ist nennen. ein richtig starkes Stück. In meinem Wahlkreis setze ich mich seit Langem für Und da, genau da, liegt der Grund, warum meine Frak- den Erhalt der Bibliothek im Kloster Preetz ein. Das sind tion diesen Antrag ablehnt. über 10 500 Bände, die meisten übrigens auf Deutsch, die (Karsten Hilse [AfD]: Nein, das ist nicht der wir gemeinsam vor dem Verfall retten. Ehrenamtlich Grund!) gestalte ich das Programm im Kleinen Theater in Wahl- Ihnen geht es nämlich nicht um die Liebe zur deutschen stedt, auch auf Deutsch. Sprache. Ihnen geht es um die Ablehnung alles anderen. So wie ich machen das viele hier von uns. Wir müssen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- uns also von Ihnen nicht erzählen lassen, wir ließen die neten der SPD, der FDP, der LINKEN und des deutsche Sprache verkommen. Wir benutzen sie nur BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht, um Zwietracht und Hass in die Gesellschaft zu Dabei verstehen Sie nicht, dass hier niemand mit Zwang tragen. Das tun Sie. Und, ehrlich gesagt, noch nicht mal arbeitet. Wer will denn der Bedienung im Café vorschrei- besonders geschickt. ben, wie sie spricht, dem Migranten, wie er mit seinen Herzlichen Dank. Freunden schreibt, dem „Hipster“, welche Zeitung er liest? Sie wollen das, wir nicht. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Richard von Weizsäcker hat beim Staatsakt „40 Jahre LINKEN) Grundgesetz“ 1989 gesagt: „Patriotismus ist Liebe zu den Seinen; Nationalismus ist Haß auf die anderen“. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Karsten Hilse [AfD]: Deswegen heißen wir ja Vielen Dank, Frau Kollegin Bernstein. – Bevor ich auch „Patrioten“!) dem Kollegen Ebbing das Wort erteile, unterbreche ich Das unterscheidet uns von Ihnen, meine Damen und Her- ganz kurz die Aussprache und komme zurück zu Zusatz- ren von der AfD. punkt 16. Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und chen Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der der SPD) CDU/CSU und SPD „Feststellung gemäß § 52 Absatz 4 (B) Wir wollen fördern und nicht ausgrenzen. Wir unterstüt- Satz 1 des Bundeswahlgesetzes“, Drucksache 19/25816, (D) zen das Goethe-Institut, das in fast 100 Ländern unsere bekannt: abgegebene Stimmkarten 580. Mit Ja haben Kultur und unsere Sprache vermittelt, allein im Jahr 2020 gestimmt 486, mit Nein haben gestimmt 73, Enthaltun- an über 250 000 Menschen weltweit. Wir unterstützen gen 21. Der Antrag ist damit angenommen.1)

Endgültiges Ergebnis Dr. André Berghegger Thorsten Frei Jürgen Hardt Abgegebene Stimmen: 580; Melanie Bernstein Dr. Hans-Peter Friedrich davon Christoph Bernstiel (Hof) ja: 486 Michael Frieser nein: 73 Hans-Joachim Fuchtel Thomas Heilmann enthalten: 21 Ingo Gädechens (Chemnitz) Dr. Mark Helfrich Ja Michael Brand (Fulda) Rudolf Henke CDU/CSU Dr. Sebastian Brehm Ansgar Heveling Dr. Ursula Groden-Kranich Alexander Hoffmann Hermann Gröhe Dr. Klaus-Dieter Gröhler Philipp Amthor Michael Grosse-Brömer Artur Auernhammer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Alois Karl Dorothee Bär Marie-Luise Dött Manfred Grund Anja Karliczek Thomas Bareiß Hansjörg Durz Torbjörn Kartes Thomas Erndl Monika Grütters Hermann Färber Fritz Güntzler Dr. Stefan Kaufmann (Börde) Michael Kießling Sybille Benning Dr. Dr. Georg Kippels

1) Anlage 3 25732 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Dr. Matthias Zimmer Kirsten Lühmann (C) Heiko Maas SPD Isabel Mackensen Carsten Körber Tankred Schipanski Alexander Krauß Christian Schmidt (Fürth) Dorothee Martin Dr. Ingrid Arndt-Brauer Dr. Günter Krings Patrick Schnieder Rüdiger Kruse Ulrike Bahr Dr. Roy Kühne Dr. Klaus-Peter Schulze Dr. Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Uwe Schummer Dr. Matthias Bartke Andreas G. Lämmel Sören Bartol Ulrich Lange Bärbel Bas Falko Mohrs Johannes Selle Lothar Binding (Heidelberg) Siemtje Möller Dr. Dr. Dr. Detlef Müller (Chemnitz) Dr. Michelle Müntefering Björn Simon Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. Rolf Mützenich Tino Sorge Dr. Dr. Lars Castellucci Ulli Nissen Nikolas Löbel Katrin Staffler Bernhard Daldrup Josephine Ortleb Dr. Dr. Daniela De Ridder Mahmut Özdemir Dr. Jan-Marco Luczak Dr. (Duisburg) Aydan Özoğuz Karin Maag (Rostock) Dr. Thomas de Maizière Yasmin Fahimi Dr. Dr. Astrid Mannes Dr. Stephan Stracke Dr. (Minden) (Altötting) Max Straubinger Dr. Dr. Dr. Dr. Hermann-Josef Dr. Mathias Middelberg Tebroke (B) Hans-Jürgen Thies Timon Gremmels Dennis Rohde (D) Alexander Throm Dr. Martin Rosemann Axel Müller Dr. Dietlind Tiemann Michael Groß René Röspel Sepp Müller Antje Tillmann Uli Grötsch Dr. Carsten Müller Bettina Hagedorn Michael Roth (Heringen) (Braunschweig) Dr. Volker Ullrich Rita Hagl-Kehl Bernd Rützel Stefan Müller (Erlangen) Metin Hakverdi Axel Schäfer (Bochum) Dr. Dr. (Kleinsaara) Hubertus Heil (Peine) Marianne Schieder Dr. Georg Nüßlein Christoph de Vries Dr. Nils Schmid Florian Oßner Dr. Johann David Dr. Barbara Hendricks Wadephul Gabriele Hiller-Ohm (Aachen) Thomas Hitschler Dagmar Schmidt (Wetzlar) Ingrid Pahlmann Carsten Schneider (Erfurt) Sylvia Pantel Dr. () Michael Schrodi Stephan Pilsinger Dr. (Spandau) Dr. Christoph Ploß Peter Weiß Ralf Kapschack (Emmendingen) Rita Schwarzelühr-Sutter Sabine Weiss (Wesel I) Cansel Kiziltepe Martina Stamm-Fibich Alois Rainer Kai Whittaker Dr. Bärbel Kofler Sonja Amalie Steffen Annette Widmann-Mauz Daniela Kolbe Bettina Margarethe -Emre Kerstin Tack Johannes Röring Wiesmann Dr. Norbert Röttgen Elisabeth Winkelmeier- Christian Lange Markus Töns Stefan Rouenhoff Becker (Backnang) Carsten Träger Erwin Rüddel Tobias Zech Dr. Helge Lindh Marja-Liisa Völlers Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25733

(A) Dirk Vöpel Simone Barrientos Dr. Jürgen Braun (C) Dr. Dr. Marcus Bühl Lorenz Gösta Beutin Ekin Deligöz Matthias Büttner Dagmar Ziegler Matthias W. Birkwald Katharina Dröge Harald Ebner Joana Cotar Dr. Jens Zimmermann Christine Buchholz Dr. Gottfried Curio Dr. Birke Bull-Bischoff Siegbert Droese FDP Jörg Cezanne Thomas Ehrhorn Sevim Dağdelen Katrin Göring-Eckardt Berengar Elsner von Fabio De Masi Erhard Grundl Gronow Nicole Bauer Dr. Anja Hajduk Dr. Anke Domscheit-Berg Britta Haßelmann Dr. Anton Friesen Dr. Jens Brandenburg Klaus Ernst Dr. Bettina Hoffmann (Rhein-Neckar) Susanne Ferschl Dr. Dr. Götz Frömming Mario Brandenburg Dr. Alexander Gauland (Südpfalz) Dr. Dr. Kirsten Kappert- Albrecht Glaser Dr. Dr. André Hahn Gonther Karlheinz Busen Matthias Höhn Katja Keul Armin-Paulus Hampel Britta Katharina Dassler Sven-Christian Kindler Mariana Iris Harder-Kühnel Bijan Djir-Sarai Ulla Jelpke Sylvia Kotting-Uhl Dr. Roland Hartwig Christian Dürr Dr. Achim Kessler Jochen Haug Daniel Föst Katja Kipping Christian Kühn (Tübingen) Udo Theodor Hemmelgarn Otto Fricke Jan Korte Renate Künast Martin Hess Katrin Helling-Plahr Markus Kurth Karsten Hilse Markus Herbrand Nicole Höchst Katja Hessel Sven Lehmann Martin Hohmann Manuel Höferlin Stefan Liebich Steffi Lemke Dr. Bruno Hollnagel Reinhard Houben Dr. Gesine Lötzsch Dr. Leif-Erik Holm Dr. Irene Mihalic Pascal Meiser Claudia Müller Dr. Amira Mohamed Ali Beate Müller-Gemmeke Dr. Cornelia Möhring Dr. Dr. (B) Norbert Müller (Potsdam) Dr. Konstantin von Notz (D) Pascal Kober Zaklin Nastic Omid Nouripour Norbert Kleinwächter Dr. Lukas Köhler Dr. Alexander S. Neu Friedrich Ostendorff Enrico Komning Konstantin Kuhle Petra Pau Cem Özdemir Jörn König Sören Pellmann Lisa Paus Steffen Kotré Alexander Graf Dr. Rainer Kraft Lambsdorff Filiz Polat Rüdiger Lucassen Tobias Pflüger Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Jens Maier Dr. (Heilbronn) Eva-Maria Schreiber Dr. Lothar Maier Dr. Dr. Petra Sitte Dr. Birgit Malsack- (Lausitz) Helin Stefan Schmidt Winkemann Matthias Nölke Friedrich Straetmanns Kordula Schulz-Asche Dr. Wieland Schinnenburg Dr. Kirsten Tackmann Dr. Wolfgang Strengmann- Hansjörg Müller Matthias Seestern-Pauly Jessica Tatti Kuhn Volker Münz Frank Sitta Alexander Ulrich Margit Stumpp Sebastian Münzenmaier Bettina Stark-Watzinger Jürgen Trittin Dr. Marie-Agnes Strack- Dr. Zimmermann Sabine Zimmermann Benjamin Strasser (Zwickau) Tobias Matthias Peterka Katja Suding Paul Viktor Podolay Jürgen Pohl BÜNDNIS 90/ Nein DIE GRÜNEN CDU/CSU Martin Erwin Renner Dr. Andrew Ullmann Hans-Jürgen Irmer Ulrike Schielke-Ziesing Johannes Vogel (Olpe) Jörg Schneider Margarete Bause AfD Dr. Dr. Bernd Baumann Dr. DIE LINKE Marc Bernhard René Springer Doris Achelwilm Dr. Franziska Brantner Peter Boehringer Beatrix von Storch Gökay Akbulut Agnieszka Brugger Stephan Brandner Dr. Alice Weidel 25734 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Dr. Harald Weyel Enthalten Christine Aschenberg- (C) Dugnus AfD Hartmut Ebbing Dr. Andreas Bleck Dr. Dr. Christian Wirth Dr. h. c. Thomas Franziska Gminder Sattelberger Roman Johannes Reusch Gerald Ullrich Fraktionslos Dr. Gero Clemens Hocker Sandra Weeser FDP Wolfgang Kubicki Mario Mieruch Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.

Nun kommen wir zurück zur Aussprache zu TOP 21. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ich erteile dem Kollegen Hartmut Ebbing, FDP-Fraktion, Dr. Eberhard Brecht [SPD]) das Wort. Das Bewahren und das Fördern, ja das Pflegen der (Beifall bei der FDP) eigenen Sprache hingegen halte ich aber auch für unter- stützenswert. Sprachenvielfalt gilt es zu erhalten und nachhaltig zu fördern, keine Frage. Aber die Begründung Hartmut Ebbing (FDP): des Antrages der AfD zum Jahr der deutschen Sprache Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- zeigt uns doch, welch Geistes Kind hier herrscht. Ja, nen und Kollegen! Weltweit kennen wir derzeit circa Sprache bleibt nicht stehen; sie entwickelt sich und über- 200 Sprachfamilien mit insgesamt 6 500 Sprachen. 100 nimmt ständig Wörter aus anderen Sprachen. Wie viele weitere Sprachfamilien sind in der letzten Zeit ausgestor- Wörter von den französischen Hugenotten sind ins Deut- ben. Die meisten Sprachen existieren dort, wo Bevölke- sche übernommen worden, wie viele deutsche Wörter ins rungsgruppen weitestgehend isoliert von anderen Men- Jiddische oder Wörter aus dem Jiddischen ins Deutsche? schen leben, so im indopazifischen Raum oder auch in Sie werfen türkischstämmigen Mitbürgern unter anderem Afrika. vor, unfähig zu sein, ein „ch“ von einem „sch“ zu unter- Bei den Ureinwohnern Nordamerikas existierte pro scheiden. Die überwältigende Mehrheit unserer türkisch- (B) (D) Stamm eine Sprache. Um stammübergreifend kommuni- stämmigen Mitbürgerinnen und -bürger spricht ein besse- zieren zu können, ist eine Zeichensprache entwickelt res Hochdeutsch als … – Na gut, das lasse ich jetzt mal, worden. Dies führte dazu, dass die Ureinwohner der ansonsten kriege ich Ärger mit einigen anderen. – Stellen höheren Bildungsschichten oft neben ihrer eigenen Spra- Sie sich einmal vor, die Engländer würden von uns Deut- che selbst in ihrem eigenen Stamm auch die Zeichen- schen verlangen, das „th“ richtig auszusprechen. Na viel sprache angewandt haben. Spaß; da hätten wir hier alle kein Vergnügen mehr. Zum Glück leben wir nicht mehr isoliert voneinander Übrigens hat Luther aus 20 indogermanischen Spra- und damit auch nicht bedroht von den uns umgebenden chen und Dialekten eine neue Sprache entwickelt. Stämmen oder Ländern. Nach den Erfahrungen des Zwei- ten Weltkrieges haben wir die Vorteile eines Miteinanders Vizepräsident Wolfgang Kubicki: auf Augenhöhe innerhalb Europas kennen- und schätzen Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. gelernt. Unsere gemeinsame Zeichensprache ist das Eng- lische geworden, Hartmut Ebbing (FDP): (Zuruf von der AfD: „Zeichensprache“ ist gut!) Er hat also gerade nicht eine Sprache als privilegiert und das ist auch gut so. – Da könnte man eigentlich mal ausgewählt, sondern eine neue erfunden. klatschen. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Das ist Unsinn!) (Beifall bei der FDP) Ich bin nicht in allen Dingen der Freund von Luther, aber was die Sprache angeht, war er weit fortschrittlicher, als Nur circa 90 Millionen Menschen sprechen als Mutter- es die AfD heute ist. sprache Deutsch, weitere 80 Millionen als Zweitsprache. Im Vergleich dazu sprechen 370 Millionen Menschen Danke schön. Englisch als Muttersprache und fast 900 Millionen als (Beifall bei der FDP) Zweitsprache, und zwar kultur- und länderübergreifend.

Das Wichtigste in der GASP ist eine europäische Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Handlungsfähigkeit. Dazu ist zunächst eine gemeinsame, Vielen Dank, Herr Kollege Ebbing. – Ich bin gespannt, akzeptierte Lingua franca notwendig. Englisch ist die wie die Stenografen das protokollieren, was Sie gerade internationale Handelssprache geworden. Daher glauben als Zischlaute von sich gegeben haben. wir von der FDP, dass eine dritte offizielle Arbeitssprache in der europäischen GASP nicht mehr notwendig ist. (Heiterkeit) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25735

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Aber die sind ja gut ausgebildet. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Wir haben das (C) Justizministerium, das gendert!) Nächster Redner ist der Kollege Martin Rabanus, SPD- Fraktion. Wir haben das PASCH-Schulnetzwerk. Wir haben fast 1 Milliarde Euro für die Auswärtige Kultur- und Bil- (Beifall bei der SPD) dungspolitik, zu einem erheblichen Teil auch zur Förde- rung der deutschen Sprache. Martin Rabanus (SPD): Ganz herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr All das tun wir, und es ist gut. Die AfD ist nicht not- verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und wendig, damit die Förderung der deutschen Sprache statt- Kollegen! Die beiden Anträge, die die AfD vorgelegt findet. hat, sind überflüssig, die Rede war peinlich, und das Und: Wir sind uns der Bedeutung der deutschen Spra- Prinzip, dem Sie folgen, ist: Jeder blamiert sich so gut, che als Kultur- und Wissenschaftssprache selbstverständ- wie er kann. Sie können das gut, verehrte Kollegen von lich bewusst. Das, glaube ich, gilt für alle Fraktionen hier der AfD. in diesem Haus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Götz Frömming [AfD]: Sie schauen zu, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE wie sie verschwindet!) GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Und Sie kön- nen das besser!) Wir machen das aber ohne Überheblichkeit, und wir machen das ohne Ausgrenzen von anderen. Das ist am Denn Sie legen uns hier Anträge vor, die den Über- Ende des Tages wahrscheinlich der Unterschied. schriften nach ja durchaus berechtigt sein könnten, auch wenn ich, was die Gemeinsame Außen- und Sicherheits- Aber selbst wenn man das Bedürfnis hat, die deutsche politik anbelangt, die Einschätzung des Kollegen Ebbing Sprache durch ein Jahr der deutschen Sprache in beson- teile, dass wir da auf Funktionalität und nicht auf die derer Weise zu würdigen – worüber man ja an sich und Frage der Sprachenvielfalt schauen müssen. für sich genommen diskutieren kann –, kann man es eben nicht so machen. Denn ein Jahr, das bereits begonnen hat, Aber Sie legen einen Antrag vor, der datiert ist auf den ohne vernünftige konzeptionelle Unterfütterung zum 24. Januar 2020 – ich habe mich nicht versprochen: Anlass zu nehmen, funktioniert nicht. 2020 –, und begehren die Vorlage eines Berichtes zum 31. Juli 2020. Aus welcher Mottenkiste haben Sie diesen Als Beispiel, wie man das macht, sei auf das Müntzer- Antrag denn eigentlich gezogen? Und wenn Sie noch Jahr verwiesen. Die Koalition hat in den Haushaltsbera- (B) nicht einmal in der Lage sind, das Datum zu korrigieren, tungen finanziell Vorsorge getroffen für das Jubiläum des (D) dann kann es mit dem Anliegen tatsächlich nicht beson- 500. Todestages von Müntzer. Ich weiß nicht, ob Ihnen ders weit her sein, werte Kollegen von der AfD. das im Rahmen der Haushaltsberatungen entgangen ist. Dieser Todestag ist 2025. Das ist vorausschauende und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vorsorgende Politik, damit man konzeptionell auch das der FDP und der LINKEN) aufstellen kann, was nötig ist. Bei dem zweiten Antrag ging es mir, ehrlich gesagt, Aus den genannten Gründen wird es Sie wenig über- wie Melanie Bernstein. Ich habe ihn gelesen und habe raschen, dass die SPD-Fraktion diesen beiden Anträgen gedacht: Vielleicht geht es der AfD tatsächlich mal aus vollster Überzeugung nicht zustimmt. Die Förderung darum, einen konstruktiven Beitrag zur Förderung der der deutschen Sprache gibt es seit Jahren und Jahrzehnten deutschen Sprache zu leisten. durch diesen Deutschen Bundestag, und es wird sie noch (Simone Barrientos [DIE LINKE]: Nee! Hast geben, wenn die AfD längst Geschichte ist. du nicht wirklich geglaubt!) Herzlichen Dank. – Habe ich nicht wirklich geglaubt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich habe dann weitergelesen; dann war die Sache auch der CDU/CSU) klar. Denn so macht man das natürlich nicht. Ganz im Gegenteil: Wie man die deutsche Sprache fördert, beweist dieser Bundestag in unterschiedlichen Mehr- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: heitsverhältnissen und Zusammensetzungen seit Jahren Vielen Dank, Herr Kollege Rabanus. – Nächste Red- und Jahrzehnten. Denn es wird gemacht. nerin ist die Kollegin Simone Barrientos, Fraktion Die Linke. Im Inland wird es gemacht. Die dafür zuständige Staatsministerin Monika Grütters ist hier und folgt der (Beifall bei der LINKEN) Debatte. Aber es gibt ein zweites Ministerium, das ganz intensiv die Förderung der deutschen Sprache betreibt; Simone Barrientos (DIE LINKE): meine Vorrednerin, Kollegin Bernstein, hat darauf abge- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und stellt. Kollegen! Wir haben es schon gehört: Mit zwei Anträgen Wir haben das Goethe-Institut in fast 100 Ländern. Wir will die AfD die deutsche Sprache retten. Ich will mich haben den DAAD. Wir haben die politischen Stiftungen. mit dem Antrag beschäftigen, der fordert, dass 2021 zum Wir haben Auslandsschulen. Jahr der deutschen Sprache erklärt wird. 25736 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Simone Barrientos (A) Gefordert werden Symposien und Festveranstaltung. (Beatrix von Storch [AfD]: Das ist einfach (C) Gefordert wird – ich zitiere aus dem Antrag –, „im Rah- Blödsinn!) men dieses Programms mit Bürgern und Wissenschaft- Damit kennen Sie sich nicht aus; das wissen wir auch. lern in einen Dialog über Gegenwart und Zukunft der deutschen Sprache einzutreten“. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Wäre doch schön!) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bürger und Wissenschaftler – angedacht sind offenbar reine Männerrunden. Um mit einem Zitat von George Eliot zu enden: „Es gibt niemanden, der sich einer Frau gegenüber arroganter, (Dr. Götz Frömming [AfD]: Generisches aggressiver oder verächtlicher verhält als ein Mann, der Maskulinum!) um seine Männlichkeit bangt.“ Anlass soll der Beginn der Bibelübersetzung durch Martin Luther vor 500 Jahren sein. Ist Ihnen irgendwie Vielen Dank. recht plötzlich eingefallen. Denn um das, was Sie fordern, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- noch in diesem Jahr zu realisieren, hätte es natürlich Vor- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE lauf gebraucht – wenn es denn ernst gemeint gewesen GRÜNEN) wäre. Ist es aber nicht; wissen wir. Ihnen geht es nicht um Sprache und Kultur. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beatrix von Storch [AfD]: Sondern um Hass Vielen Dank, Frau Kollegin Barrientos. – Als nächster und Hetze!) Redner hat das Wort der Kollege Erhard Grundl, Bünd- Ihnen geht es um Deutschtümelei. nis 90/Die Grünen. Worte werden zu Taten – das zeigte sich beim Angriff (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf die Synagoge in Halle genauso wie bei den rassisti- schen Morden in Hanau. Das zeigte sich auf den Stufen des Bundestages im August genauso wie auf den Stufen Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): des Kapitols vor wenigen Tagen. Worte werden zu Taten. Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Wen wundert’s: Die AfD verkündet wieder einmal (Karsten Hilse [AfD]: Ganz genau! Deutsch- den Niedergang der deutschen Sprache. tümelei auf den Stufen des Kapitols!) Das Beispiel: „ich“ oder „isch“. Das komplementär – Ihre Worte werden zu Taten, und da ist es ganz egal, in (B) distribuierte Allophon „ch“ im Wort „ich“ steht ganz (D) welcher Sprache man spricht; entscheidend ist, welche oben auf der Liste der bedrohten Elemente der deutschen Worte man wählt. Sprache. Im Gegensatz dazu sei das breit angewandte (Karsten Hilse [AfD]: Da kriegen Sie nicht mal „sch“, also das „isch“, eine schwere Bedrohung, und einen Beifall aus der eigenen Fraktion!) diese Bedrohung – Sie ahnen es natürlich schon – geht Victor Klemperer belegte dies eindrücklich in seinem von den Migranten und Deutschtürken aus, die eben Standardwerk „LTI“, seiner Analyse der, wie er es nennt, angeblich alle lieber „isch“ statt „ich“ sagen. Sprache des Dritten Reiches; dort bedienen Sie sich. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Unsinn! Das sind Victor Klemperer kommt darin zu dem Schluss, dass die deutschen Kinder, die auch schon so spre- Menschen weniger durch einzelne Reden beeinflusst chen!) werden als durch die ständige stereotype Wiederholung der immer gleichen völkischen Begriffe, und genau das Nun, ich sage Ihnen: Ohne das „isch“ wäre unsere wun- tun Sie. derbare gesprochene deutsche Sprache so arm wie Ihre Vorstellungskraft. Das zeigt sich auch, wenn man sich anschaut, welche Begriffe in den letzten Jahren zum Unwort des Jahres (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ gekürt wurden – alles Begriffe, die in Ihrem Vokabular DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) einen Stammplatz haben. Von „Klimahysterie“ bis „Coronadiktatur“, von „Lügenpresse“ bis „Volksverrä- Nehmen Sie bloß mal Hape Kerkeling und seinen ter“: Sie nutzen Sprache, um zu diffamieren und zu belei- Horst Schlämmer und seinen gerade für uns alle immer digen. Sie nutzen Sprache für Fake News und Verleum- aktuellen Evergreen „Isch kandidiere!“. dungen. Sprache ist Ihnen Transportmittel für Hass und (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Hetze. Ihre Worte werden zu Taten. SES 90/DIE GRÜNEN) Aber zurück zum Antrag und seiner Begründung. Die Hören Sie sich aufmerksam die Bläck Fööss oder die Gefahr für die deutsche Sprache geht laut AfD – wir Höhner an. Das ist deutsches Kulturgut. Und wenn Ihnen hörten es schon – von Hipstern aus, die ihren Kaffee die Bläck Fööss oder die Höhner zu hip sind, dann ver- auf Englisch bestellen – that’s a big problem; really –, suchen Sie es mit Willy Millowitsch oder Heinz Schenk. von Türken, die mit Akzent sprechen – ick weeß ooch Da werden Sie viele „ischs“ finden. nich; Berliner dürfen aber noch berlinern, immerhin –, und – wen wundert’s ? – von geschlechtergerechter Spra- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ che. Geschlechtergerechte Sprache zu nutzen, ist aber DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nichts anderes als eine Frage von Respekt und Anstand. CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25737

Erhard Grundl (A) Und hatten Sie nicht gerade noch Luther zitiert, der Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) bekanntlich dem Volk aufs Maul schaute? Ich sage Ihnen Mit anderen Worten: Junge deutsche Wissenschaftler- aus vollem Herzen und als Niederbayer: Es lebe das innen und Wissenschaftler kommen da an, wo sie hinwol- „isch“! len: in der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft – und das ist eine gute Botschaft. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Und wir werden es mit Verve gegen Ihre Versuche, es sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- auszumerzen, verteidigen. KEN) (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Dass Sie diese Botschaft nicht hören wollen, ist mir DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD, klar. der FDP und der LINKEN) Und noch einen Schönheitsmakel machen Sie aus: die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gendergerechte Sprache. Da hätte ich tatsächlich einen Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Kompromissvorschlag: Lassen Sie uns das generische Femininum verwenden – 2 000 Jahre. Dann könnten wir Männer uns immer hübsch mitgedacht fühlen. Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bei Ihrer Bagage isch einfach Hopfen und Malz ver- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten loren. der SPD) Ich danke für die Aufmerksamkeit. Im zweiten Antrag entdecken die Urheberinnen der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Unwörter der letzten Jahre, die Advokatinnen der natio- bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- nalen Einfalt, die Antieuropäerinnen von rechts außen, da ordneten der CDU/CSU und der FDP) entdecken sie dann anscheinend urplötzlich die Vorzüge der europäischen Vielfalt, wenigstens der Sprachenviel- falt. Und die sieht so aus: dass mehr Deutsch gesprochen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: werden soll, am besten von allen. Herzlichen Dank, Herr Kollege Grundl. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula Groden-Kranich, Andererseits wollen die Kolleginnen hier im toten CDU/CSU-Fraktion. rechten Winkel die deutsche Sprache zu ihrer Rettung (B) paradoxerweise verzwergen. „Klein, aber mein“ ist die (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Devise.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die LINKEN) Antragstellerin fordert die Bundesregierung in ihrem An- Seit 2017 fordern sie nämlich ununterbrochen, der Bun- trag unter Tagesordnungspunkt 21 b auf – ich zitiere sinn- destag solle der Deutschen Welle signifikant Gelder strei- gemäß –, Deutsch zur gleichberechtigten offiziellen chen, also ausgerechnet der Institution, die die deutsche Amtssprache zu erheben, wie es etwa auch in der Kom- Sprache in die Welt trägt. mission der Fall ist. Gemäß Artikel 342 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gibt es in der (Volker Münz [AfD]: Die senden doch auf EU 24 gleichberechtigte Amtssprachen und Arbeitsspra- Englisch!) chen der EU-Organe. Also fällt Ihr Antrag unter die Kate- Was Sie hier aufführen, ist, freundlich gesagt, verschwur- gorie „ein Antrag, den die Welt nicht braucht“. belt. Einzig und allein Ihr tumber nationalistischer Sub- text ist allgegenwärtig und sonnenklar. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der CDU/CSU und der SPD) Tatsache ist: Deutsch ist eine gefragte Sprache in der Welt, in der Kunst, der Wissenschaft, im Journalismus, in Jeglicher Schriftverkehr, der von einem Mitgliedstaat der Politik. 2020 lernten weltweit mehr als 15,4 Millionen oder einem Bürger an ein EU-Organ gerichtet wird, muss Menschen Deutsch. Tatsache ist auch, dass in Wissen- auch in dieser Sprache beantwortet werden. Für Sitzun- schaftsbereichen, etwa der Bildungsforschung, die Zah- gen der EU-Organe wird überwiegend ein Dreisprachen- len der deutschsprachigen Publikationen konstant sind. regime angewendet, also Englisch, Französisch und Der Anstieg englischsprachiger Publikationen deutscher Deutsch. Dieses Regime ist rechtlich bindend. Deutsch Autorinnen und Autoren scheint das Resultat des er- genießt als eine der drei Verfahrenssprachen bereits eine folgreichen Bemühens zu sein, in internationalen Zeit- Sonderstellung. Auch das Intranet im Parlament ist drei- schriften zu publizieren, so der Monitoring-Bericht des sprachig. All dies gilt laut Erläuterung Nummer 30 zum Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische For- Maastrichter Vertrag auch für die Gemeinsame Außen- schung. und Sicherheitspolitik, GASP. Dass es Ihnen gar nicht um gerechtere Sprachregime Vizepräsident Wolfgang Kubicki: innerhalb der EU geht, sieht man auch an Ihrer Antrags- Kollege Grundl. begründung; denn hier heißt es wörtlich: 25738 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Ursula Groden-Kranich (A) Im Hinblick auf die erwünschte verstärkte Arbeits- Auf diese Form von Kreativität, die bei Ihnen, übersetzt (C) migration innerhalb der EU wäre diese Sprachpoli- von Deutsch in AfD-Deutsch, oftmals in Falschnachrich- tik sinnvoll. ten, kurz: Lügen, mündet, können wir gut und gerne ver- Gemeint ist das Erlernen von Deutsch als erste oder zwei- zichten. Den Hinweis zur Aufklärung und zum techni- te Fremdsprache. Aber mal ehrlich: Was hat das denn mit schen Fortschritt verstehen wir als Appell an Sie selbst. der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu tun? Wir lehnen den Antrag deshalb ab. Vor einem Monat klang dies noch ganz anders. Damals Danke schön. schrieben Sie in einem Antrag, die Personenfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit sollten einer Zustim- (Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN mungspflicht der Mitgliedstaaten unterworfen werden. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Simone Barrientos [DIE LINKE]: Hört! Hört!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Nun frage ich mich: Was wollen Sie eigentlich? Wieso sollen möglichst viele Europäer Deutsch lernen, die dann Vielen Dank, Frau Kollegin. – Wir kommen zum letz- möglichst doch nicht zu uns kommen sollen? Hier zeigt ten Redner: Helge Lindh, SPD-Fraktion. sich wieder der wahre Kern Ihres Anliegens: Sie möchten (Beifall bei der SPD) weniger Europa (Karsten Hilse [AfD]: Nein, weniger EU!) Helge Lindh (SPD): und das bisschen Europa, das dann noch übrig bliebe, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! möglichst deutsch. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Die deutsche Bundesregierung und auch der Deutsche dass ich so traurig bin; Bundestag finden es schon seit Jahren richtig, dass ein Märchen aus fernen Zeiten, Deutsch als Sprache, als Fremdsprache, als Kulturgut das geht mir nicht aus dem Sinn. und auch als Sprache in der Politik gefördert wird. Dies ist eine Selbstverständlichkeit. Tatsächlich wünschen wir AfD, oh weh, oh weh. uns, dass die Sprache Deutsch, auch wenn sie bereits eine Euer Deutsch ist tot und dunkelt, Amts- und Arbeitssprache innerhalb der EU-Organe dar- und finster trübt der Hass; stellt, auch zu einer Sprache des Alltags wird. Doch sind das Deutsch der Rapper indes funkelt wir einmal ehrlich: Englisch ist in Europa zur Lingua und macht Euch alle nass. (B) franca geworden und im Berufsalltag der europäischen (D) Organe oftmals kleinster gemeinsamer Nenner. Aber es AfD, oh weh, oh weh. gibt auch andere Beispiele, wie wir es in der Deutsch- Französischen Parlamentarischen Versammlung erleben, (Beifall bei der SPD – Simone Barrientos [DIE wo parallel Deutsch und Französisch gesprochen wird. LINKE]: Die machen sich selber nass!) Bezogen auf die GASP ist es aber noch eindeutiger. Die Die Lasker-Schüler, ja, sie sitzet enge Bindung mit der NATO, der North Atlantic Treaty mit ihren Versen tief im Herz; Organization, erklärt doch schon, weshalb die englische west-östlich Goethes Divan blitzet, Sprache gerade auf diesem Themengebiet eine sehr wich- das Völkische schreit auf vor Schmerz. tige Stellung hat. Dass Sie also ausgerechnet die GASP für diesen Antrag vorschlagen! AfD, oh weh, oh weh. Zur Förderung des Kulturguts deutscher Sprache im Deutsche, kauft deutsche Zitronen, In- und Ausland gibt es im Auswärtigen Amt und im so schrillt sie, eure Melodei; Kanzleramt zwei Staatsministerinnen und im Bundestag das Hirn vorm Denken zu verschonen, gar einen eigenen Ausschuss, den Unterausschuss für da seid ihr stets ganz vorn dabei. Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Daran nehmen Sie nur sehr selten teil. Die zugehörigen Mittlerorganisa- AfD, oh weh, oh weh. tionen sehen es als eine ihrer Kernaufgaben, die deutsche (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Sprache in vielerlei Hinsicht zu fördern. Dass dies schon BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) seit Jahren erfolgreich geschieht, bekamen Sie auch in mehreren Antworten auf Ihre Anfragen mitgeteilt. Sie Der ach so vielgestalt’gen Wahrheit sollten also hinlänglich informiert sein. tut täglich ihr gar weh; Lassen Sie mich abschließend noch eines feststellen: ihr scheut der grauen Töne Arbeit, Sie reden über Sprache, wir reden über Inhalte. Sie spre- kennt Asche nur und Schnee. chen von Sprachenvielfalt, meinen aber Deutsch. Sie AfD, oh weh, oh weh. sprechen von der Emanzipation der europäischen Volks- sprachen vom Latein und meinen Deutsch. Tatsächlich ist (Karsten Hilse [AfD]: Herr Präsident! Das ist Deutsch schon privilegiert gegenüber Spanisch und Ita- Missachtung des Parlaments, was der hier lienisch, die den gleichen Anspruch haben könnten. Aber macht! Haben wir schon Karneval, oder wie sagen Sie es in Ihrem Antrag selbst? Ich zitiere: „Aus was? – Gegenruf der Abg. Simone Barrientos sprachlicher Ausdrucksfähigkeit erwächst Kreativität.“ [DIE LINKE]: Ruhig, Brauner!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25739

Helge Lindh (A) Ich glaube, die Wogen des Hasses verschlingen voran die, die zu jung sind für Distanzunterricht, und die (C) am Ende nur den eig’nen Wahn; finanziell Schwachen. Die soziale Kluft wächst, das Mit- das hat mit ihrer Sirenen Singen einander kommt ins Stocken. Auch die Eltern leiden, die die AfD, ihr selbst, getan. Mütter, Alleinerziehende. Homeoffice, Homecare, Vielen Dank. Homeschooling, alles drei ist parallel kaum zu steuern. Den Familien müssen wir danken. Auf ihren Schultern (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- ruht sehr viel gesellschaftlicher Zusammenhalt. Von KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihnen muss die Regierung Schaden abwenden. sowie bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Nicole Höchst [AfD]) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist erlaubt, hier Das gilt genauso für die Lehrkräfte. Mehr als 500 lie- auch in Versform vorzutragen. – Ich beende die Ausspra- gen derzeit im Krankenhaus. Und unter den Erzieherin- che zu diesem Tagesordnungspunkt. nen gibt es 2,2-mal mehr positive Coronadiagnosen als im Schnitt. Wer hat versäumt, sie zu schützen? Wer hat Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf versäumt, ihnen das richtige Handwerkszeug zu geben den Drucksachen 19/25801 und 19/25802 an die in der für einen Digitalunterricht, der diesen Namen verdient? Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht Es fällt uns jetzt bitter auf die Füße, dass die Verant- der Fall. Dann verfahren wir so. wortlichen von Beginn an nur auf Durchwurschteln ge- setzt haben. Gesundheitsschutz steht an erster Stelle, und Ich rufe die Zusatzpunkte 11 und 12 auf: dann kommt die Unterrichtspflicht des Staates. ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. h. c. (Beifall bei der FDP) Thomas Sattelberger, Katja Suding, Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar), weiterer Abgeord- Dieses Land braucht einen Pandemieplan für Schulen, neter und der Fraktion der FDP bundesweit einheitliche, verbindliche Inzidenzindikato- ren für Präsenz-, Distanz- und Wechselunterricht, damit Lockdown nutzen – Schuljahr retten für alle nachvollziehbar ist, wann Schulen schließen und Drucksache 19/25791 wann es verantwortbar ist, sie wieder zu öffnen. Staat- Überweisungsvorschlag: liche Plattformen, die IT, die Server brechen zusammen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Digitaler Distanzunterricht, eigentlich nur eine Ultima Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss Digitale Agenda Ratio, ist derzeit leider Standard und ein Fiasko. Und (B) Haushaltsausschuss die Ministerin verweigert sich dem Gespräch mit privaten (D) ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Birke EduTechs, obwohl diese praxiserprobte, seriöse Lösun- Bull-Bischoff, Dr. Petra Sitte, Anke Domscheit- gen parat haben, obwohl diese EduTechs ihr schon im Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion April 2020 einen offenen Brief geschrieben haben. – DIE LINKE Runter vom hohen Ross, ran an den runden Tisch, Frau Karliczek! Schulen und Kitas in der Pandemie – Pla- nungssicherheit schaffen (Beifall bei der FDP) Drucksache 19/25799 Bund und Länder müssen jetzt sicherstellen, dass der Jahrgang 2021 nicht mit dem Stigma „Notabschluss“ Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) leben muss, auch wenn die Linken das geradezu herbei- Ausschuss für Arbeit und Soziales beten. Pläne für digitale Prüfungen, zumindest für münd- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liche, sind überfällig. Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss (Beifall bei der FDP) Es sind 30 Minuten für die Aussprache beschlossen. Gerade all diejenigen, die in normalen Zeiten so gern den Bitte nehmen Sie Platz. – Es beginnt der Abgeordnete Nannystaat bauen, sollten jetzt zeigen, dass ein starker Dr. Thomas Sattelberger für die FDP-Fraktion. Staat in der Krise Herr und Frau der Lage ist. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Setzen Sie die unerträgliche Beantragungsbürokratie Dr. h. c. Thomas Sattelberger (FDP): beim DigitalPakt aus. Die Gelder müssen fließen: für Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Klarer Onlinelizenzen, IT-Koordinatoren, Luftreiniger, Endge- Kurs ist wichtig in der Krise. Ich habe das selbst erlebt, räte, FFP2-Masken. Die Schule brennt, aber statt zum bei der Lufthansa nach dem Terrorattentat 9/11 und bei Löscheimer zu greifen, verteilt das BMBF Kreide. Ran der Telekom im Zusammenhang mit der Schweinegrippe. an den Speck, Frau Karliczek! Kopf aus dem Sand! Doch unseren Schulen fehlt in dieser Jahrhundertkrise Packen Sie es endlich an! der klare Kurs. Sie erleben Chaos, Föderalismus von sei- Recht herzlichen Dank. ner schlechten Seite, Gemeinschaftskundeunterricht der schlechten Art. Fällt der Präsenzunterricht aus, dann lei- (Beifall bei der FDP – Kai Gehring [BÜND- den Schülerinnen und Schüler am meisten. Es ist schänd- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Beitrag hat uns lich, welchen Schaden sie derzeit nehmen müssen, allen wirklich weitergebracht!) 25740 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: holt nicht nur diskutiert, sondern auch sehr deutlich (C) Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Dr. Dietlind gemacht worden. Ganz bewusst mischt sich der Bund in Tiemann, CDU/CSU-Fraktion. diese Angelegenheiten nicht ein oder, wie ich heute sagen muss, begrenzt; denn immer wieder wurde gefordert, der (Beifall bei der CDU/CSU) Bund möge sich mit finanziellen Mitteln einbringen, und das haben wir, denke ich, in großem Umfang getan; ich Dr. Dietlind Tiemann (CDU/CSU): will hier nicht alle Zahlen wiederholen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Und täglich grüßt das Murmeltier“! Das ist an (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dieser Stelle aber ein bisschen verfehlt, lieber Herr ordneten der SPD) Sattelberger. Wenn ich höre, dass die FDP hier so laut Die Folge wäre nicht, wie von Ihnen so schön dargestellt, nach dem Staat schreit, dann hat das schon eine besonde- eine transparente Schließung und Öffnung der Schulen re Bedeutung. Das macht mich nicht nur nachdenklich, oder der vielleicht reibungslose Betrieb von Lernplattfor- sondern auch stutzig. men und Cloudsystemen. Das Ergebnis wäre ganz ein- (Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP]: Wir fach ein ausufernder Streit um Kompetenzen und Zustän- rufen nach EduTechs!) digkeiten, von der Kommune bis auf die Bundesebene. Ich denke, wir alle wissen, wie die Praxis aussieht. Das Ich komme zu dem, was Die Linke in ihrem Antrag wollen wir nun wirklich keinem zumuten. geschrieben hat. Beinahe wöchentlich debattieren wir hier im Plenum – in den Sitzungswochen, selbstverständ- Seit der letzten Föderalismusreform wird auf dem lich – über die Coronastrategie für Schulen und Kitas. Bund in Sachen Bildung nur herumgehackt, weil er sich (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Leider müs- nicht einmischen soll oder weil er gefälligst sein Geld für sen wir das tun!) die versäumten Aufgaben der Länder hergeben soll. Es ist schon schwierig, einen solchen Spagat zu machen, auch Das ist nun wirklich nichts Neues. Offen, geschlossen, für diejenigen unter uns, die sehr sportlich sind. teiloffen – alle Arten von Empfehlungen finden sich auch in dem heute vorliegenden Antrag wieder. Daneben Der jüngste Anlass zur Kritik steht auch im Antrag der ist eine Vielzahl von Vorschlägen vorhanden, wie die Linken, der Stufenplan des RKI. Der Bund hat der KMK Viruslast gesenkt werden kann, wie die Eltern besser ein- angeboten, mit dem Wissen des RKI und der nationalen gebunden werden können oder die Ausstattung verbessert Bildungsinstitute eine länderübergreifende Strategie zu werden kann. All das liegt auf dem Tisch. entwickeln. Auch das ist schon zur Sprache gekommen. Das Ergebnis: Die Bildungsminister verbitten sich das (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: „Kann“! – (B) Einmischen des Bundes. – Das, liebe Kolleginnen und (D) Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP]: Es pas- Kollegen, sind die Tatsachen. Und jetzt sollen wir die siert doch nichts!) Kompetenzen der Länder einfach mal übergehen, und Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, davon gibt das, obwohl doch pausenlos klargestellt wird, dass wir es schon sehr viel. Ich halte nichts davon, hier wiederholt uns raushalten sollen. eine kritische Überprüfung durchzuführen. Ich erinnere In dieser Situation hat der Bund das einzig Vernünftige an unsere Debatte vor Weihnachten um Luftfilteranlagen. gemacht – ich sage das hier noch mal – und auf eine Drei- Die Studien, die dazu vorlagen, rechtfertigen aus Sicht Säulen-Strategie gesetzt: klare Kommunikation nach des Bundes nun wirklich keine Millionen- und Milliar- außen, Nutzung aller eigenen Kompetenzen zur Bewälti- denausgaben. Ich will damit nicht völlig in Abrede stel- gung der Pandemie, Gesprächsbereitschaft bei der Erhö- len, dass sie nicht notwendig sind; aber es gehört nicht auf hung von Fördergeldern. Das will wohl keiner von Ihnen unseren Tisch. in Abrede stellen. Bei uns wussten Schüler, Lehrer und Diese Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen, Eltern immer, woran sie sind. Wir haben von Anfang an betrachte ich nur als schmückendes Beiwerk. Der Antrag klargemacht, dass wir den sozialen Ort Schule erhalten der Linken benennt doch seinen wahren Kern in einem wollen. Wir haben klargestellt, welche Regeln und Tech- Satz. Ich zitiere ihn: niken zur Eindämmung der Infektion für uns Vorrang Die Pandemie nimmt keine Rücksicht auf bürokra- haben und welche nicht. Und wir haben von Bundesseite tische und föderale Sonderwünsche oder Kompe- drei Zusatzvereinbarungen zum DigitalPakt in wenigen tenzstreitigkeiten. Monaten von der Idee über die Finanzierung bis zur Um- setzung gebracht. Auch das darf man an dieser Stelle Ich übersetze das so: Die Linke fordert, der Bund solle die wiederholen. Das verstehe ich unter der in Ihrem Antrag volle Verantwortung für die Coronastrategie an Schulen geforderten Planungssicherheit. übernehmen. – Das ist ja wohl verfehlt. Unsere Strategie bleibt auch in Zukunft klar: Die Kom- (Beifall bei der CDU/CSU) munen und die Länder sollen vor Ort im Benehmen mit Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, es kann den Elternvertretern und den Lehrerverbänden entschei- doch nicht Ihr Ernst sein, so etwas hier zum Ausdruck zu den, ob die Schulen geöffnet oder geschlossen werden. bringen, und dann auch noch in Schriftform. Die Verant- Wir alle haben hier erklärt – auch ich –, dass wir alles wortung geht in unserem Land von unten nach oben: Die daransetzen werden, die Schulen offen zu halten. Aber Pflicht der Kommunen, der Gemeinden, der Landkreise das, was wir entscheiden, muss Sinn machen und verant- geht über in die Verantwortung der Länder, nämlich der wortbar sein. Das gehört nun einmal in die Hände, die vor Schulämter und der Ministerien. Auch das ist hier wieder- Ort sind. Die Länder sollen weiterhin den Distanzunter- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25741

Dr. Dietlind Tiemann (A) richt organisieren und administrieren. Die Länder sollen ken, wieso in Ihren Anträgen wieder das Hohelied von (C) feststellen, für wen der Distanzunterricht gilt und wer der Digitalisierung gesungen wird. Die Realität, meine eine Ausnahme bekommt. Somit wissen alle Beteiligten, Damen und Herren, sieht doch ganz anders aus. woran sie sind. Damit kommen wir, denke ich, gut zurecht und hoffentlich auch durch diese Krise. Aus die- Vor zwei Tagen erschien in der „Welt“ ein Interview sem Grund lehnen wir Ihren Antrag ab. mit einer Berliner Schulleiterin, die aus dem Nähkästchen geplaudert hat. Darin wird sie gefragt, welche Rolle denn Vielen Dank. das digitale Onlinelernen in ihrer Schule spiele. Ich zitie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- re ihre Antwort mit Erlaubnis des Präsidenten: Nein, ordneten der SPD) digital ist nur ein kleiner Anteil. Es gibt bei uns im Ein- gangsbereich der Schule einen Windfang mit Körbchen, wo die Eltern Schulaufgaben abholen und sie dann auch Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: zurückbringen. – So sieht die Realität aus, meine Damen Der nächste Redner: für die Fraktion der AfD der und Herren. Die Vorstellung, dass ganze Schulklassen Abgeordnete Dr. Götz Frömming. statt im Klassenzimmer stundenlang mit dem Lehrer in (Beifall bei der AfD) einem virtuellen Unterrichtsraum sitzen und dabei genau- so viel lernen wie beim Präsenzunterricht, gibt es nur in den Wunschfantasien von FDP-Politikern und von Fir- Dr. Götz Frömming (AfD): men, die mit solchen Angeboten ihr Geld verdienen. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon zum zweiten Mal sind unsere Schulen in (Beifall bei der AfD) den Lockdown gegangen. Beim ersten Mal, im letzten Jahr – das war kurz vor Ostern – hat unsere Fraktion sogar Die Coronakrise zeigt doch, wozu die Schulen eigent- zugestimmt. Wir waren sogar die Ersten, die gesagt lich da sind. Es sind mindestens vier Dinge – das konnte haben: Lasst uns etwas früher in die Osterferien gehen man in dieser Phase wie durch ein Brennglas wahrneh- men –: Erstens. Die Schule wird vor allem als außer- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: familiärer Aufenthaltsort für junge Menschen benötigt. Aber Sie haben auch gesagt, es gibt keinen Zweitens. Schüler brauchen stabile Strukturen, um lernen Virus!) zu können. Je jünger sie sind, desto mehr brauchen sie oder – je nach Bundesland – die Osterferien um eine diese stabilen Strukturen. Drittens. Bildung funktioniert Woche verlängern. – Damals wussten wir noch nicht, nur wirklich in einem leiblichen Beziehungssystem. Vier- was an den Schulen wirklich los ist, wie stark Kinder tens. Kleinere Klassen sind lern- und diskussionsförder- das Virus übertragen oder auch nicht. Wir haben damals (B) lich. Wir hätten schon längst mehr Lehrer einstellen müs- (D) gedacht, es handelt sich um eine Schulschließung, die sen. vielleicht wenige Wochen dauert. Aber es wurden mehre- re Monate. Es kamen die Sommerferien. In diesen Mona- (Beifall bei der AfD) ten, auch in den Sommerferien, wurde die Zeit überhaupt nicht genutzt, um die Schulen vorzubereiten, damit wir Meine Damen und Herren, es wird endlich Zeit, dass bei der zweiten Welle besser ausgestattet sind als bei der wir das umsetzen, was Lehrerverbände, was Kinderärzte ersten. Die Zeit ist verplempert worden. Sie ging vorbei. empfohlen haben – Sie können all das nachlesen; auch Nun haben wir das gleiche Dilemma. Wir sind im zweiten wir haben es schon mehrfach vorgetragen –: Wir brau- Lockdown, und wieder wissen Eltern, Lehrer, Schüler, chen endlich tragfähige Hygiene- und Infektionsschutz- Familien nicht, wann die Kinder wieder in die Schulen konzepte. Die Gebäude müssen saniert werden, Luftreini- gehen können. Wir hangeln uns von einer Ankündigung, gungsgeräte angeschafft werden. Es muss mehr Personal von einem Versprechen zum nächsten. Eltern und Schüler gewonnen werden, die Lerngruppen müssen verkleinert sind in einer dramatischen Situation. Und das Schlimme werden. Und wir müssen Wechsel- und Rotationsmodelle ist: Wir wissen nicht, wie wir da wieder herauskommen. erproben. Teilweise wird das den Schulen sogar verboten. Wir haben schon vor Monaten vorgeschlagen, wie man Das alles, meine Damen und Herren, ist nicht allein durch kluge Wechsel innerhalb eines Tages erreichen den Ländern zuzuschreiben; es ist auch das Versagen kann, dass der Lehrer alle Schüler regelmäßig sieht; des Bundes, der lange Zeit gehofft hat, das würde sich denn gerade die Schüler aus bildungsfernen Eltern- im Sommer irgendwie auswachsen. Das hat es leider häusern geraten unter die Räder. Es wundert mich, dass nicht getan, meine Damen und Herren. Das ist Ihr Ver- sich hier nicht mehr darum gekümmert wird. Das ist doch schulden – alle miteinander –, die Sie hier Verantwortung sonst immer Ihre Klientel. Jetzt müssen wir das sagen. tragen. Das tun wir gerne. (Beifall bei der AfD) Ich danke Ihnen für das Zuhören. Meine Damen und Herren, wenn diese Krise eines zeigt, dann das, wie wichtig geöffnete Schulen sind und (Beifall bei der AfD) wie wichtig leibhaftige Lehrer sind. Sie können durch Homeschooling, durch Onlineunterricht und durch ein Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: paar Laptops nicht das ersetzen, was Schulen und Lehrer Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Ulrike im Präsenzunterricht leisten. Das sollte langsam jedem Bahr. klar geworden sein. Es ist mir deshalb auch unverständ- lich, liebe Kollegen von der FDP und auch von den Lin- (Beifall bei der SPD) 25742 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Ulrike Bahr (SPD): Kind und für Alleinerziehende von 20 auf 40 Tage pro (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kind. Das sind passgenaue Hilfsangebote, die in Bundes- Kollegen! In einer der letzten Debatten des vergangenen kompetenz liegen Jahres haben wir an dieser Stelle über die Schulen disku- tiert. Nun debattieren wir in einer unserer ersten bil- (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann dungspolitischen Runden des noch jungen Jahres erneut [SPD]) darüber. und mit denen wir auch Planungssicherheit schaffen. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja, das muss sein!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich gebe zu: Das Thema Schulschließungen ist und bleibt Denn der Anspruch gilt neuerdings, wenn Kitas oder elementar. Aber es ist doch so, dass immer neue Anträge, Schulen geschlossen oder nur eingeschränkt geöffnet die sich um das gleiche Thema drehen, der grund- sind und Eltern dadurch ein Betreuungsproblem haben. sätzlichen Problematik nicht unbedingt weiterhelfen. Selbst wenn Eltern grundsätzlich im Homeoffice arbei- ten, besteht künftig der Anspruch auf Kinderkrankentage. (Beifall der Abg. Dr. Astrid Mannes [CDU/ CSU] – Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Dann Auf ein weiteres Dilemma finden Ihre Anträge auch lesen Sie die!) keine Antwort: Die Pandemie verläuft nicht linear. Sie ist nicht planbar, weder bei den Fallzahlen noch bei der geo- Es ist unumstritten, dass wir mehr Verlässlichkeit für grafischen Verteilung der Hotspots. Genau das macht es Schülerinnen und Schüler, deren Eltern sowie für Lehre- doch so schwierig, passgenau und verlässlich zu kommu- rinnen und Lehrer benötigen; denn sie sind die Leidtra- nizieren, was wann wo wieder möglich sein wird. Trotz- genden. Ihnen muten wir im Moment sehr viel zu, und dem ist es richtig, auf folgende zwei Punkte zu beharren: ihnen haben wir auch im vergangenen Jahr einiges abver- langt. Ich bewundere meine Kolleginnen und Kollegen an Erstens. Wir brauchen klare und einheitliche Vorgaben den Schulen, die trotz widriger Umstände ihren Lehrauf- für Schulen, die sich nicht ad hoc ändern. trag ernst nehmen und lebensnahe Lernangebote täglich umsetzen. Das gilt es anzuerkennen. Zweitens. Wir brauchen Notfallszenarien, falls die Inzidenzwerte weiter ansteigen, anstatt zu sinken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Diese zwei Punkte sind zentral; denn die Krise schafft DIE GRÜNEN) Bildungsverlierer/-innen. Das ist die bittere Realität. Des- halb kann ich den guten Willen zwar anerkennen, dass die (B) Die eingebrachten Vorschläge der Linken und der FDP (D) verzerren in meinen Augen aber die Realität. Ja, wir Kulturminister/-innen so lange am Modell des Präsenz- brauchen praktikable und flexible Lösungen vor Ort. Vie- unterrichts festhielten bzw. schnell zum ihm zurückkeh- lerorts gibt es sie, woanders noch nicht. Das heißt aber ren wollten. Die beste digitale Ausstattung kann niemals nicht, dass wir einfach von der Bundesseite aus Vorschlä- den persönlichen Austausch ersetzen, aber bei steigenden ge anordnen, als wären wir der Aufsichtsrat der Länder. Inzidenzzahlen auf Schulöffnungen zu pochen, geht eben Es ist doch eine Illusion, wenn Sie mit den Anträgen auch nicht. versprechen, dass wir in Berlin nur mit dem Finger schnipsen müssen und schon wären die Probleme wie Wie schwierig es ist, Anspruch und Regierungswirk- die fehlenden Schulserverkapazitäten für die Schul- lichkeit miteinander in Einklang zu bringen, erleben wir Clouds, die unzureichende digitale Ausstattung an mit einer CDU-Bildungsministerin in Baden-Württem- Schulen oder die mangelnde Kommunikation zwischen berg oder einer FDP-Bildungsministerin in NRW oder – Bund und Ländern gelöst. auch selbstkritisch – einer SPD-Bildungssenatorin in Berlin. In Baden-Württemberg pochte Ministerin Eisen- Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch ich bin der Mei- mann auf den Präsenzunterricht an Schulen nach den nung, dass man sich hätte anders vorbereiten können. Weihnachtsferien, in Nordrhein-Westfalen verbot Minis- Dazu hatten wir und die Länder Zeit, wenn auch nicht terin Gebauer einem Oberbürgermeister, in seinen Klas- viel. Hinterher lässt sich das allerdings auch leichter fest- sen das Wechselmodell zuzulassen, und in Berlin, so stellen. Fakt ist aber auch, dass wir bereits vieles auf den berichtet „Der Tagesspiegel“, sollte – mit Zustimmung Weg gebracht haben, beispielsweise mit den zusätzlichen der Grünen und der Linken – ab dieser Woche mit einem 1,5 Milliarden Euro für den DigitalPakt Schule, mit de- Stufenmodell wieder der Unterricht in Präsenz anlaufen, nen wir Laptops für Schülerinnen und Schüler und Leh- bevor auch das gekippt wurde. rerinnen und Lehrer bezahlen sowie die Pflege und War- tung dieser Geräte finanzieren. Es ist nicht so, dass unsere Machen wir uns ehrlich: Es gibt keine einfachen bundesseitigen Unterstützungsleistungen jetzt auslaufen. Lösungen, auch wenn Sie das mit Ihren Anträgen Das Gegenteil ist der Fall. Wir helfen weiter und schärfen suggerieren. Trotzdem müssen wir erwarten können, kontinuierlich bestehende Instrumente nach. dass sich die Länder bezüglich des Schulunterrichts künf- tig besser abstimmen und nach gemeinsamen Maximen Homeschooling und Homeoffice vertragen sich nicht. handeln. Das weiß Ministerin Giffey, und das erleben wir persön- lich jeden Tag. Deshalb entlasten wir Familien. Heute (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie haben wir die Ausweitung der Kinderkrankentage be- bei Abgeordneten der LINKEN – Tankred schlossen: von 10 auf 20 Arbeitstage pro Elternteil pro Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25743

Ulrike Bahr (A) Der von uns befürwortete, aber von den Landesregierun- Wir brauchen ein Krisenmanagement – und haben es (C) gen in Bayern und Baden-Württemberg nicht gewollte nicht. Die Debatte über kollektive Nichtzuständigkeit löst Nationale Bildungsrat hätte hier gute Arbeit leisten kön- nicht nur kein Problem; vielmehr schüttelt ganz Deutsch- nen. land bereits den Kopf darüber. Ehrlich gesagt, vonseiten der Union habe ich schon deutlich konstruktivere Debat- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie tenbeiträge gehört. der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LIN- KE]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Schulen sind ge- Nun sollten wir vor allem von der Bundesregierung das schlossen, und das ist auch notwendig. Gravierende Aus- einfordern, was ausgemacht war, zum Beispiel den wirkungen auf den Bildungserfolg sind vorprogrammiert. Abschluss von Mobilfunkverträgen für die Tablets der Vor allem diejenigen jungen Leute haben ein Problem, Schülerinnen und Schüler, damit alle einen Zugang zum denen das Schulsystem schon vor Corona einen Misser- Internet bekommen. folg nach dem anderen aufs Auge gedrückt hat, die immer noch kein eigenes Gerät haben, geschweige denn einen Glücklicherweise läuft es in anderen Bereichen nach verbindlich geregelten Rechtsanspruch auf eine digitale langem Hin und Her endlich deutlich besser. Grundsicherung – und die Bundesregierung kann nicht (Nicole Höchst [AfD]: Für die Grundschulen einmal Auskunft darüber geben, wie der Stand beim nicht!) Abfluss der Mittel für den DigitalPakt Schule ist. Server sind ständig überlastet, und die Diskussion über den Konkret will ich die Unterzeichnung der Verwaltungsver- Lehrkräftemangel ist hier bei uns im Plenum bereits ein einbarung für die Investitionsmittel für den Ganztagsaus- Klassiker. bau loben. Nun stehen 750 Millionen Euro bereit, damit Länder und Kommunen die Planung, den Neubau, den Was brauchen wir jetzt am dringendsten? Erstens. Wir Umbau, die Erweiterung, die Modernisierung und die brauchen klare einheitliche, vor allen Dingen aber ver- Sanierung von Ganztagsangeboten finanzieren können. bindliche – verbindliche! – Regeln. (Nicole Höchst [AfD]: Und dann darf keiner (Beifall bei der LINKEN) hin!) Die Empfehlungen des RKI für Schulen sind aus der Zeit Das ist gut so; denn die Coronamonate haben noch einmal gefallen. Sie müssen überarbeitet werden; zumindest für besonders deutlich gemacht, wie wichtig eine gute und Inzidenzzahlen jenseits der 50. Aber auch hier müssen die verlässliche Betreuungsinfrastruktur für Kinder und für Regeln verbindlich sein, und zwar für alle Länder. Eltern ist – wichtig für die Förderung der Kinder, wichtig (B) für die Familien, wichtig auch für das Arbeitsleben und Zweitens. Wir brauchen eine Entlastung für Schülerin- (D) die Wirtschaft. Nur so kann die Vereinbarkeit von Familie nen und Schüler; denn nichts wäre absurder, liebe Kolle- und Beruf funktionieren, ginnen und Kollegen, wenn Schülerinnen und Schüler in den Präsenzunterricht zurückkommen und von Tests und (Nicole Höchst [AfD]: Ist nicht gegeben!) Klassenarbeiten erschlagen werden. Nicht das Testen ist nur so können wir weitergehen auf dem Weg zu mehr wichtig, zu lernen ist wichtig. Chancengerechtigkeit in der Bildung. (Beifall bei der LINKEN) (Nicole Höchst [AfD]: Bildung war noch nie so ungerecht wie heute! – Gegenruf des Abg. Kai Schülerinnen und Schüler müssen die Sicherheit haben, Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, dass sie eben nicht von Tests und Klassenarbeiten dass Sie nicht mehr im Schuldienst sind! – erschlagen werden. Sie müssen die Gewissheit haben, Gegenruf von der LINKEN: Gott sei Dank!) dass ihre Abschlussprüfungen verändert werden, und sie müssen die Gewissheit haben, dass sie bundesweit aner- Vielen Dank. kannt werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Um Wechselmodelle in der Zukunft zu sichern, brau- chen wir dritte Räume. Wir brauchen Räume in Theatern, Vielen Dank. – Jetzt kommt die nächste Rednerin: für in Gemeinderäumen und in Jugendklubs. Natürlich brau- die Fraktion Die Linke die Abgeordnete Dr. Birke Bull- chen wir dafür auch mehr Personal. Lehramtsstudierende Bischoff. müssen angesprochen werden, Studis der Sozialen Arbeit (Beifall bei der LINKEN) und viele andere mehr. Herr Kollege Sattelberg, Sie reden permanent vom Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE): Coronastigma. Ich sage Ihnen: Wer in diesen Zeiten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, sein Lernen organisiert, Probleme gewälzt und sich mit das Intervall, in dem wir über die Situation der Schulen in der Situation auseinandergesetzt hat, hat eine so groß- Coronazeiten debattieren, verkleinert sich. Das finde ich artige Lebenskompetenz entwickelt, dass er allemal unse- gut so, ganz einfach deshalb, weil das Thema viele Men- re Wertschätzung verdient. schen bewegt. Aber je öfter hier auf Grundlage von Anträgen der demokratischen Opposition debattiert (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wird, desto weniger bewegt sich. neten der SPD) 25744 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Dr. Birke Bull-Bischoff (A) Drittens und letztens. Wir brauchen eine Entlastung für ihrer Vorgehensweise fest, aber das führt nur dazu, dass (C) Eltern. Unser Vorschlag – weil Homeschooling und die Minister/-innen anschließend doch wieder Sonderwe- Homeoffice zusammen nicht funktionieren –: Es muss ge gehen. Das überfordert Schulen, das überfordert Lehr- die Möglichkeit geben, die Situation über eine Senkung kräfte und Familien, das zermürbt und untergräbt Ver- der Arbeitszeit auf 50 Prozent bei gleichzeitigem Lohn- trauen. ausgleich zu meistern. – Sie können als Bundesregierung Unsere zentrale Forderung an Ministerin Karliczek die Situation von Schulen nicht aussitzen. Erklärte kol- und an die KMK ist: Ändern Sie Ihre Strategie, und lektive Nichtzuständigkeit, liebe Kolleginnen und Kol- formulieren Sie Ziele, wie zum Beispiel die Gewährleis- legen, ist kein Krisenmanagement. tung der Erreichbarkeit der Kinder oder eine Erhöhung (Beifall bei der LINKEN) der Kontaktfrequenz zu den Lehrkräften! Und vor allem: Beziehen Sie die Betroffenen endlich in die Diskussionen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: mit ein! Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Margit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen. Zwei Bildungsgipfel haben stattgefunden, und immer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) noch redet niemand mit den Betroffenen. Beteiligen Sie Elternvertretungen, Schüler/-innen, Lehrkräfte und Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schulträger an den Diskussionen; denn sie sind es letzt- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und endlich, die alle Entscheidungen umsetzen und aushalten Herren! The same procedure: Die FDP legt erneut einen müssen. Daher ist es auch logisch und folgerichtig, es den Antrag zur aktuellen Lage an Schulen vor, der sich kaum Schulen zu überlassen, wie sie diese Ziele erreichen und vom vorhergehenden unterscheidet. Inhaltlich ist keine die Methoden an die jeweils herrschende Pandemielage substanzielle Fortentwicklung zu erkennen. anpassen. (Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP]: Weil es Handeln Sie endlich effektiv, und geben Sie Vertrauen immer schon richtig ist, liebe Frau Stumpp!) und Entscheidungshoheit in die Schulen, die oftmals wei- ter und kreativer sind als die Kultusminister/-innen! Das nährt den Verdacht, dass dieser Antrag lediglich dazu dient, die Bildungsministerin der FDP lobend zu erwäh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Rede von (B) NEN) (D) Helge Lindh vorhin hat der Abgeordnete Karsten Hilse Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein paar beschaffte den Zwischenruf „Haben wir schon Karneval, oder was?“ Luftreinigungsgeräte machen noch lange keine gute Bil- gemacht. Daraufhin hat die Abgeordnete Simone dungspolitik. Barrientos erkennbar ihm zugerufen: „Ruhig, Brauner!“ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Barrientos, ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungs- ruf. Frau Gebauer wird ihren Aufgaben nicht einmal ansatzweise gerecht. Es fällt schwer, zu beurteilen, wer Der nächste und gleichzeitig letzte Redner zu diesem das chaotischere Krisenmanagement hat: Ministerin Tagesordnungspunkt ist der Kollege Tankred Schipanski, Gebauer in Nordrhein-Westfalen oder Ministerin Eisen- CDU/CSU-Fraktion. mann bei uns in Baden-Württemberg. Dieses Versagen (Beifall bei der CDU/CSU) können Sie nicht mit einem Antrag kaschieren. Aber ihr Antrag gibt mir Gelegenheit, darzulegen, wie die Pande- mie in den Schulen aus unserer Sicht besser bewältigt Tankred Schipanski (CDU/CSU): werden kann. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- ne Damen und Herren! Die Debatte ist fast schon bizarrer Wir brauchen zügig eine Basisdigitalisierung aller als die Oppositionsanträge selbst. Wenn die Linke hier Schulen, die darauf abzielt, alle Schülerinnen und Schü- von kollektiver Unverantwortlichkeit spricht, ist das völl- ler schnell zu erreichen. Mit einem Sofortprogramm und iger Quatsch. flankierenden Maßnahmen vonseiten der Länder, die zum Beispiel mit versierten Lehrkräften die betreffenden (Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE]: Schulen unterstützen, könnte in kurzer Zeit viel erreicht „Nichtzuständigkeit“, anderer Begriff, Herr werden. Die von uns beantragte Bundeszentrale für digi- Kollege! Sie müssen einfach mal hinhören!) tale und Medienbildung könnte weitere Hilfe leisten. Das Liebe Frau Kollegin, die Länder sind für Schulbildung generelle Problem ist damit aber nicht behoben. verantwortlich. Punkt! Schulen brauchen mehr Flexibilität und mehr Ent- (Beifall bei der CDU/CSU) scheidungshoheit. Wenn man Ihren Antrag liest, dann sieht man, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihnen jeder Realismus fehlt. Sie wollen das Aussetzen Das fordern wir seit einem halben Jahr; denn es hat sich von allen Prüfungen wegen Corona. Absurd! Sie wollen schon früh gezeigt, dass starre Regelungen in der Krise ein Recht auf Homeoffice für alle. Reden Sie einmal mit nichts nützen. Wider besseres Wissen hält die KMK an Handwerkern und mit Verkäuferinnen und Verkäufern! Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25745

Tankred Schipanski (A) Das, was Sie fordern, ist absurd. Ihr nächster Vorschlag jüngste Vereinbarung zu mehr Transparenz, Vergleich- (C) lautet: Alle arbeiten wegen Corona 50 Prozent weniger, barkeit und Einheitlichkeit bei Prüfungen ist wieder bekommen aber 100 Prozent Lohn. – Absurd! eine Enttäuschung: keine Verbindlichkeit, keine Sankt- (Beifall des Abg. Sebastian Brehm [CDU/ ionsmöglichkeiten, kein Staatsvertrag. Das ist wieder CSU]) eine vertane Chance. Mit solchen Vorschlägen haben Sie bereits die DDR in den Staatsbankrott geführt. Lesen Sie einmal den Schü- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: rer-Bericht, aber verschonen Sie uns mit solchen unrea- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des listischen Vorschlägen, und verkaufen Sie die Menschen Kollegen Frömming? nicht für dumm! (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Birke Bull- Tankred Schipanski (CDU/CSU): Bischoff [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Lesen Nein; wir machen das gerne als Kurzintervention Sie mal richtig!) danach. Beim Antrag der FDP, liebe Kolleginnen und Kolle- gen, ist es leider nicht besser. Hören Sie doch auf, den Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Menschen zu suggerieren, dass man mit mobilen Luft- Ob das gemacht wird, entscheide ich. filtern und einer Whitelist, also einer Positivliste für datenschutzkonforme Lernangebote, das Schuljahr retten Tankred Schipanski (CDU/CSU): kann. Dabei zeigt uns die Coronakrise besonders die hohen (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja!) Defizite in der digitalen Schulbildung. Wir sind uns hier im Hohen Hause doch alle einig, dass die Bundesländer Das ist schlichtweg Blödsinn, und so etwas können Sie in diesem Bereich die Sache anscheinend nicht alleine auch nicht mehr mit Ihrem Kunstbegriff „Serviceopposi- packen, aber wir ziehen unterschiedliche Schlussfolge- tion“ rechtfertigen. rungen daraus. Es ist auch eine Binsenweisheit, dass die Prüfung, Für die Unionsfraktion kann es nicht heißen: „Bund, wenn man coronabedingt den Prüfungsstoff nicht schafft, übernimm du“, sondern für uns heißt es: „Bund, hilf!“ natürlich angepasst werden muss. Darüber entscheidet Und der Bund hilft auch. Meine Kollegin hat es vorhin aber doch nicht der Bundestag oder der Landtag. Das aufgezeigt: DigitalPakt, Zusatzvereinbarung, bundeswei- ist eine Entscheidung der Schule vor Ort, te Bildungsplattform, digitale Kompetenzzentren. – Wir (B) ( [CDU/CSU]: Sehr richtig!) haben hier alles debattiert. Eine helfende Hand wird aber (D) der Kultusminister nach Abstimmung in der Kultusminis- müde, wenn der Hilfsbedürftige nicht mitzieht und nicht terkonferenz. kooperiert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Damit habe ich doch das Stichwort. Der eigentliche Ich appelliere abermals an die Kultusministerkonfe- Grund der heutigen Debatte ist doch die Kultusminister- renz und die Ministerpräsidentenkonferenz, hier kon- konferenz, deren Präsidentschaft am heutigen Tage wech- struktiv mitzuwirken und sich nicht in Kleinstaaterei zu selt. Wir alle wissen, dass die für die Schulbildung zu- verlieren. Die Lage und das Thema sind einfach zu ernst. ständige KMK zu langsam arbeitet, zerstritten ist und seit Ich weiß noch, wie wir uns im Jahre 2013 unter dem Jahrzehnten ineffektiv wirkt. Daher haben wir ja den Druck der Aufklärung der NSU-Mordserie hier im Bun- Nationalen Bildungsrat vorgeschlagen – wir haben das destag verständigt haben, gemeinsam mit den Ländern vorhin in der Debatte schon gehört –, aber die Länder den Sicherheitsföderalismus zu reformieren, und ich den- haben das abgelehnt. ke, unter dem Druck der Coronakrise muss es uns gelin- Hören Sie doch auf, den Menschen zu suggerieren, gen, auch diesen Bildungsföderalismus zu reformieren. dass der Bund effektive Einflussmöglichkeiten auf die Daher bin ich Anja Karliczek für ihr „Spiegel“-Interview Bundesländer im Bereich der Schulpolitik hat! Die hat am vergangenen Wochenende sehr dankbar. Ich denke, er nicht. sie stößt damit eine richtige Debatte an, (Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE]: Die hat (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: er nicht!) Sie stoßen gar nichts an! Sie rennen hinterher!) Wir sind auf Kooperation angewiesen, und wenn die Län- und finde es einfach nur schwach, wie reflexartig man- der diese Kooperation verweigern, dann können wir cher Landespolitiker darauf reagiert. Eigentlich heißt es nichts tun, außer empfehlen, analysieren und beraten. doch in Baden-Württemberg: Nicht gemeckert ist genug Mehr nicht! gelobt. Anscheinend gibt die Verfassungswirklichkeit des (Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE]: Aber Artikels 20 Absatz 3 – das Bundesstaatsprinzip – zu Hinterherstiefeln reicht nicht!) meinem großen Bedauern einfach nicht mehr her. Fast jede Fraktion hier im Deutschen Bundestag trägt Wir haben als Unionsfraktion schon viele gute Vor- auch Verantwortung in den Bundesländern. Dort muss die schläge an die KMK gegeben. Nein, sie setzt sie nicht Einsicht reifen, dass es einen Mehrwert darstellt, wenn um. Wir werden immer wieder neu enttäuscht. Auch die sich der Bund bei Einzelthemen einbringt und mitgestal- 25746 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Tankred Schipanski (A) tet. Von daher ist es ein Neujahrswunsch für dieses Jahr, rem Unternehmen den letzten Stoß versetzen würde. – (C) dass wir eine sachliche Diskussion mit klugen Vorschlä- Und dann weiter: Ich bin fassungslos. – Dem ist wirklich gen für eine Reform des Bildungsföderalismus in nichts hinzuzufügen. Deutschland führen. (Beifall bei der FDP) (Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Da kämpfen – ich sage das gerade in Richtung der Das heißt nicht, liebe Opposition, Ihre alten Anträge aus Kollegen von SPD und Grünen – dieser Tage Familien- dem Schreibtisch hervorzukramen und unrealistische unternehmen um ihre Existenz, und den Grünen im Vorschläge zu präsentieren. Es geht darum, einen koope- Schlepptau des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten rativen Föderalismus sinnvoll weiterzuentwickeln. Las- Olaf Scholz fällt nichts Besseres ein, als ihnen mit einer sen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! zusätzlichen Belastung in den Rücken zu fallen. Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist ein Schlag ins Vielen Dank. Gesicht derer, die in Deutschland den Karren ziehen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP – Stefan Schmidt [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: über Ihren eigenen Antrag!) Ich schließe die Aussprache. Bei dem, was Sie sagen, Herr Kollege, müssen sie doch Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf einen einzigen Eindruck haben: Was Corona mit unserem den Drucksachen 19/25791 und 19/25799 an die in der Familienbetrieb, bei dem wir persönlich in Haftung sind, Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Genau!) Gibt es andere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. nicht geschafft hat, das besorgt am Ende die Politik. – Das darf nicht passieren; das darf keine Politik einer Ich rufe die Zusatzpunkte 13 und 14 auf: Bundesregierung nach dem 26. September 2021 sein. Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall bei der FDP) Christian Dürr, Dr. Florian Toncar, Katja Hessel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Abgesehen von dem erheblichen Aufwand für den Staat zur Erhebung einer Vermögensteuer – das ist hier Mehr Vermögen aufbauen statt Leistung schon oft diskutiert worden –, ist das doch vor allem bestrafen eines: Es ist eine Steuer auf Betriebsvermögen. Drucksache 19/25792 (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Genau!) (B) (D) Überweisungsvorschlag: Das Ganze geht an die Substanz von Unternehmen. Das Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie kann am Ende so weit führen, dass Unternehmen in Jah- ren, in denen sie massive Verluste erzielen, dennoch Erste Beratung des von den Abgeordneten Steuern – nämlich in Form der Vermögensteuer – an Markus Herbrand, Christian Dürr, Dr. Florian den Staat abführen müssen. Das ist ungerecht, das scha- Toncar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion det den Arbeitsplätzen, das kostet Arbeitsplätze. Das darf der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes nicht Ihre Bundestagswahlkampagne sein. Das ist gegen zur Änderung des Vermögensteuergesetzes die Unternehmer, die in unserem Land ins Risiko gehen. (VStG) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Drucksache 19/25789 der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Liebe Kollegen von SPD und Grünen, wir haben in Finanzausschuss dieser Corona-Wirtschaftskrise doch eines gelernt: Die Auch für diese Aussprache sind 30 Minuten beschlos- finanzielle Substanz auch von Unternehmen – – sen. – Bitte nehmen Sie Platz. (Lachen der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD]) Ich eröffne die Aussprache, und es beginnt der Abge- ordnete Christian Dürr, FDP-Fraktion. – Da können Sie gerne lachen, Frau Kollegin. Sie haben auch Zuschriften von Unternehmern bekommen, die die (Beifall bei der FDP) versprochenen Hilfen von Herrn Altmaier nicht erhalten haben. Die bekommen Sie auch; das können Sie mir nicht Christian Dürr (FDP): anders erzählen. Diesen fallen Sie in den Rücken. Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Finanzielle Substanz von Unternehmen – das ist doch und Kollegen! Ein Unternehmer aus meinem Heimatbun- die allerbeste Krisenprävention. Die können wir doch desland Niedersachsen hat mir vor wenigen Tagen fol- nicht abschaffen, indem wir zusätzlich Steuern auf dieses gende E-Mail geschrieben: Ich habe den Betrieb von Vermögen erheben, liebe Kollegen. meinem Vater mit fünf Mitarbeitern übernommen. Heute beschäftigen wir über 400 Menschen, sind massiv vom (Beifall bei der FDP) Lockdown betroffen, und die von der Bundesregierung Für den Staat gilt doch: Wir werden – das ist das, was versprochenen Hilfen kommen einfach nicht an. Anstatt Olaf Scholz dauernd sagt – aus dieser Krise nicht heraus- dass man sich darum kümmert, wird in der Politik die wachsen können, indem wir zusätzliche Belastung schaf- Wiederauflage der Vermögensteuer diskutiert, die unse- fen. Wir brauchen wirtschaftlichen Erfolg, meine Damen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25747

Christian Dürr (A) und Herren. Der ist aber nur dann darstellbar, wenn die (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Na, wer (C) Unternehmerinnen und Unternehmer, die Familienunter- denn?) nehmen wirtschaftlich erfolgreich sein können. Und aber die Zuschauer fragen sich, ob das der Ernst ist. dagegen dürfen Sie nicht mehr kämpfen. Sonst haben Sie aus dieser Krise nichts gelernt, liebe Kolleginnen Der Otto Normalverbraucher will gerade Antworten und Kollegen. auf folgende Fragen: Wie bekommen wir die Todeszah- len runter? Welche Möglichkeiten gibt es kurzfristig, die (Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Stefan Krankenhauskapazitäten zu erhöhen? Wie senken wir Liebich [DIE LINKE] – Stefan Schmidt dauerhaft die Zahl der Neuinfektionen? – Was machen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie die FDP und die Linken in der vorherigen Debatte? Sie doch mal zu Ihrem Antrag!) bedienen mit diesem aufgewärmten Menü die Forderun- Das Problem in Deutschland, Herr Kollege – das ist, gen ihrer Wählerklientel. was die Linke, die SPD und die Grünen total verkennen –, (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Nee, nee, ist doch nicht, dass wir zu viele Vermögende haben. Das nee!) Problem ist doch, dass wir zu wenig Menschen haben, die die Chance hatten, Vermögen aufzubauen. Das liegt an Liebe Kollegen über alle Parteigrenzen hinweg, brau- Ihrer Steuererhöhungsspirale. chen wir jetzt nicht einen nationalen Kraftakt? In meinem Heimatwahlkreis, in Wittenberg, regiert ein linker Land- (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- rat, in meinem Heimatland die Kenia-Koalition aus SES 90/DIE GRÜNEN) Schwarzen, Roten und Grünen. Allen ist eines klar: Die brauchen endlich den Freiraum. dass wir jetzt über Parteigrenzen hinweg darum kämpfen müssen, den Menschen das Leben zu retten. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Albrecht Glaser [AfD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Genau solche Vorschläge machen wir in unserem Antrag. Liebe Freie Demokraten, glauben Sie ernsthaft, es inte- Da müssen Sie endlich umsteuern. Alles andere ist das ressiert irgendeinen vor Ort aktuell, was in Ihrem Antrag Gegenteil von Solidarität. steht, Deswegen: Lassen Sie uns gemeinsam für Vermögens- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja!) aufbau kämpfen, für Vermögensaufbau von Menschen wie etwa Aktienverluste besser steuerlich abzusetzen mit kleinen und mittleren Einkommen. sind? (B) (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] (Christian Dürr [FDP]: Ja, allerdings!) (D) [SPD]) Schauen Sie, ich bin mit meinem Team seit Weihnachten Das muss doch die Strategie sein, damit Menschen die im Gesundheitsamt in Wittenberg unterwegs. Wir verfol- Möglichkeit haben, Herr Kollege Binding, sich selbst- gen die Kontaktketten, weil bei uns die Hütte brennt. ständig zu machen, und nicht nur abhängig beschäftigt Meinen Sie allen Ernstes, ich hätte bei einer Vorbespre- sind, meine Damen und Herren. Dafür sind unsere Vor- chung mit dem linken Landrat ein einziges Mal über die schläge da. Einführung der Vermögensteuer debattiert? (Beifall bei der FDP) (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Dann sagen Beenden Sie also diese Steuererhöhungsdebatte und las- Sie das Ihrem Koalitionspartner Olaf Scholz! – sen Sie uns für Arbeitsplätze in Deutschland kämpfen! Christian Dürr [FDP]: Das ist doch der Finanz- Das ist die richtige Antwort auf diese Krise. minister, dessen Vorlage das fordert!) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ist das allen Ernstes Ihre Idee, wie wir aus dieser Anstren- gung herauskommen? Nein. Wir haben gemeinsam ver- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Sebastian sucht, Lösungen zu finden, damit nächste Woche bei mir Brehm [CDU/CSU] – Stefan Liebich [DIE im Wahlkreis das Krankenhaus nicht überläuft. LINKE]: Kein Wort zu Ihrem eigenen Antrag!) (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja, die Impf- strategie können wir gerne auch diskutieren!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Unser Ministerpräsident Reiner Haseloff und seine Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der SPD-Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne versu- Abgeordnete Sepp Müller. chen gerade, alles Menschenmögliche zu tun, um die (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Menschen in unserem Land zu impfen und zu schützen. Albrecht Glaser [AfD]) Und noch einmal: Brauchen wir heute nicht einen natio- nalen Kraftakt über Parteigrenzen hinweg? Sepp Müller (CDU/CSU): (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Haben wir Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- angeboten bei der Impfstrategie!) ren! Wer heute hier die Debatten verfolgt, der muss wirk- Lasst uns dabei den Wahlkampf hintanstellen. lich zu dem Schluss kommen, dass der Wahlkampf eröff- net ist. Die einen fordern „Steuern runter!“, die anderen (Beifall bei der CDU/CSU – Bettina Stark- gleich „Steuern rauf!“; Watzinger [FDP]: Haben wir alles angeboten!) 25748 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Sepp Müller (A) Liebe FDP, was nützt es denn, wenn wir den Soli für wie wir aus dieser Krise herauskommen. Aber die Men- (C) die Einzelhändler beispielsweise abschaffen? schen interessiert da draußen gerade nicht, was wir hier (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Damit die ihre debattieren. Deswegen, liebe Kollegen, lassen Sie uns Geschäfte wieder eröffnen können, deshalb!) zum Ernst der Lage wieder zurückkommen und die wah- ren Probleme der Menschen lösen. Einer davon hat mich gestern tränenüberströmt angeru- fen, weil er ab Februar kein Geld mehr hat. Was nützt (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Da gehören dem die Abschaffung des Soli, wenn er gar kein Einkom- aber die Mittelständler und Einzelhändler men mehr hat, auf das er überhaupt Soli zahlen kann? dazu!) (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD] und Danke. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN) Der Einzelhändler will, der Schuhhändler will, dass wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: hier, verdammt noch mal, unsere Arbeit machen, Vielen Dank, Kollege Sepp Müller. – Für die AfD (Christian Dürr [FDP]: Das tun Sie ja nicht, macht sich der Abgeordnete Albrecht Glaser bereit. Sie Herr Kollege Müller! – Bettina Stark- haben das Wort. Watzinger [FDP]: Sie sind an der Regierung!) (Beifall bei der AfD) dass er wieder seinen Laden aufmachen kann. Das ist unsere Verantwortung. Und da interessiert gerade nie- Albrecht Glaser (AfD): manden, ob jemand eine Vermögensteuer einführen Danke sehr, Herr Vizepräsident. – Meine sehr verehr- will, ob er besser Aktienverluste verrechnen kann oder ten Damen und Herren! Mit allem Respekt, lieber Kolle- ob es einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer gibt. ge Müller: Ich denke, beide Realitäten haben ihre Berech- Das interessiert niemanden. tigung. Da kann man nicht sagen: Das eine hat so lange Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Todes- Pause, bis das andere behandelt ist. zahlen bei mir im Wahlkreis zeigen, dass wir alle eine In dem vorgelegten Gesetzentwurf der FDP-Bundes- Verantwortung haben. Deswegen kann ich nur noch ein- tagsfraktion wird – das ist in der Tat ein altes und lange mal an alle appellieren, dass wir einen nationalen Kraft- währendes Problem – die überfällige Abschaffung der akt brauchen. Wir können auf Ihre Themen eingehen, Vermögensteuer gefordert. Darüber hinaus liegt ein Sach- beispielsweise auf den Freibetrag bei der Grund- antrag der FDP mit sechs zusätzlichen Forderungen vor, erwerbsteuer. Sie wissen, dass müssen wir mit den Län- die – das muss ich allerdings hinzufügen – nahezu alle (B) dern machen. Wir müssen uns aber gemeinsam auch von der AfD in früheren Anträgen bereits aufgestellt wor- (D) darüber unterhalten, wie wir schneller das Geld an die den sind. Unternehmen auszahlen können. (Beifall bei der AfD – Lachen bei der FDP (Beifall des Abg. Karsten Klein [FDP] – sowie des Abg. Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/ Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja, bitte DIE GRÜNEN] – Christian Dürr [FDP]: So ein schön!) Quatsch, Herr Glaser!) Da haben auch FDP-Wirtschaftsminister Verantwortung, Das Thema Vermögensteuer war seit eh und je brisant, in Rheinland-Pfalz beispielsweise, weil die dialektischen Materialisten damit ihr großes Pro- (Karsten Klein [FDP]: Peter Altmaier! Rufen jekt der Gesellschaftsveränderung ins Werk setzen woll- Sie da doch mal an! Peter Altmaier heißt der!) ten – immer schon und auch heute noch. Zudem lassen sich damit stets die niederen Gefühle von Neid und Miss- wo die Auszahlung bedauerlicherweise nicht so gut gunst anheizen. Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 klappt. steuertheoretisch und verfassungsrechtlich überzeugend Aber es bringt doch nichts, wenn wir in dieser Zeit, in begründet, dass die bis dahin geltende Vermögensteuer der wir uns befinden, hier vorne anfangen, mit Dreck zu ab 1996 nicht mehr erhoben werden darf. Was also tun? werfen. Aus dem Besten, was die steuerwissenschaftliche Lite- (Karsten Klein [FDP]: Machen Sie Ihre ratur zu bieten hat, lässt sich wie folgt zitieren: Gegen die Arbeit! – Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Die Wiedereinführung der periodischen Vermögensteuer Koalition muss ihre Arbeit machen!) spricht bereits die damit unweigerlich verbundene Bewertungsungleichheit, die auch alternative Vermö- Wir haben die Verantwortung, über Parteigrenzen hinweg gensteuerentwürfe nicht vermeiden können. darüber zu reden, wie wir diese Pandemie bekämpfen können, wie wir die Infiziertenzahlen nach unten bekom- Darüber hinaus setzt das Bundesverfassungsgericht men, wie wir die Krankenhauskapazitäten nach oben be- über den Gedanken des Vermögensbestandsschutzes aus kommen. Das ist unsere Aufgabe. Artikel 14 jeglicher Vermögensteuer enge Grenzen. Danach bleibt, schreiben die Autoren, für die Vermögen- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja! Sie haben steuer neben der Einkommensteuer nur noch ein schma- einen Gesundheitsminister!) ler Anwendungsbereich. Diesen Bereich verenge noch Gerne können wir im Sommer, wenn hoffentlich die weiter, wer das Betriebsvermögen zugunsten einer auf Impfungen erfolgreich waren, wir viele geimpft haben, das Privatvermögen beschränkten Vermögensteuer aus- über alle unterschiedlichen politischen Ansätze reden, klammern wolle. Die dann eintretende, einseitige Erosion Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25749

Albrecht Glaser (A) der Bemessungsgrundlage würde das Gleichheitsdefizit Es wäre schön – letzter Satz, Herr Präsident –, wenn im (C) noch erhöhen und trüge zur weiteren Chaotisierung des weiteren Fortgang der Debatte über die ganze Palette deutschen Steuerrechts bei. Es gebe für die Vermögen- dieser Themen endlich einmal mit Steuersystematik und steuer keinen überzeugenden Rechtfertigungsgrund. Es mit vernünftigen vermögenspolitischen Argumenten entspreche daher nicht nur der Steuergerechtigkeit, son- gerungen würde. Wir werden als AfD – dern auch der ökonomischen Vernunft, die Vermögen- steuer nicht zu reaktivieren. Als Zeichen ökonomischer Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: und rechtsstaatlicher Rationalität sollte die Vermögen- Es ist jetzt fertig. steuer auch formalrechtlich aufgehoben werden. – Zitat Ende. Albrecht Glaser (AfD): (Beifall bei der AfD) – konstruktiv daran mitwirken, damit an der Stelle Meine Damen und Herren, zu Recht weist der FDP- steuerpolitisch fundamental etwas geschieht, was in drei Antrag darauf hin – Recht, wem Recht gebührt –, dass Jahren in diesem Bundestag nicht geschehen ist. von den 36 OECD-Ländern in jüngster Zeit nur noch 4 Herzlichen Dank. eine Vermögensteuer erheben. (Beifall bei der AfD) (Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir erheben übrigens auch keine!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Das ist State of the Art, meine sehr verehrten Damen und Herr Glaser, Sie können die Zeit, die der Kollege Herren, und wer sich dagegenstemmt, hat ein paar Pro- Müller eingespart hat, nicht für sich verbrauchen. bleme und wird viele Probleme erzeugen. Die AfD hat diese Frage bereits 2016 in ihrem Grund- Albrecht Glaser (AfD): satzprogramm entschieden. Dort steht die Abschaffung Das ist schade. der Vermögensteuer drin, und dazu stehen wir, weil sie als Substanzsteuer Fundamente unserer Eigentumsord- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: nung in diesem Land – und dazu gehört natürlich auch die unternehmerische Welt – untergräbt. Das verstehen Sie, ja? – Gut. Die Kollegin Cansel Kiziltepe von der SPD-Fraktion (Beifall bei der AfD) macht sich bereit. Sie haben das Wort. Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Solida- (Beifall bei der SPD) (B) ritätszuschlag hat die AfD wiederholt Abschaffungsan- (D) träge gestellt, ebenfalls zur Grunderwerbsteuer als Hin- dernis für persönlich genutztes Eigentum. Wer eine Welt Cansel Kiziltepe (SPD): und ein Land von Eigentümern will, muss an dieser Stelle Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diese Bremse für 85 Prozent der Bevölkerung, die sich „Mehr Vermögen aufbauen statt Leistung bestrafen“, so nach Wohneigentum sehnen, beseitigen. heißt Ihr Antrag, zu dem Sie kein einziges Wort gesagt haben. Die Dynamisierung des Sparerfreibetrags haben wir früher auch erfolglos beantragt. Dem hatte die FDP sei- (Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nerzeit nicht zugestimmt. NEN]: Richtig!) Das Thema „Wiederherstellung der Steuerfreiheit von Um diesen Leitsatz in die Tat umzusetzen, will die FDP Veräußerungsgewinnen bei Einkünften aus Kapitalver- das Vermögensteuergesetz abschaffen. Was das Bundes- mögen nach einer Haltefrist“ ist ebenfalls eine AfD-Posi- verfassungsgericht nicht gemacht hat, und das zu Recht, tion. Dabei sind wir für die Regelung, die bis 2009 – also wollen Sie mit einem Handschlag streichen. Es ist wirk- auch unter dem Regime der Großen Koalition – bestand, lich ein Segen für das Gemeinwohl in unserem Land, dass nämlich ein Jahr, während der FDP-Antrag deutlich Sie, Kollege Dürr, kein Verfassungsrichter sind. Ihr Vor- anspruchsloser eine Haltefrist von fünf Jahren fordert. schlag zeigt, dass es der FDP wieder nur um ihre Klientel geht. Auch die Forderung nach voller Verlustberücksichti- gung bei Wertpapieren, etwa Wertlosigkeit von Options- (Beifall bei der SPD – Bettina Stark-Watzinger scheinen, ist steuersystematisch dringend geboten. Nach- [FDP]: Wir machen die Gesetze und nicht das dem es in der Euro-Welt keine Zinsen mehr gibt, mit Bundesverfassungsgericht!) Staatsanleihen ebenfalls kein langfristiger Vermögens- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Leistung bringen aufbau mehr möglich ist – nach der Lesart der FDP nur die, die bereits Vermögen haben. Die Krankenschwestern, die Assistenzärzte hinge- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gen, die gerade Tag und Nacht irgendwie das Land am Laufen halten, sind aus Sicht der FDP keine Leistungs- Kommen Sie bitte zum Ende. träger. Das sehen wir als Sozialdemokraten anders.

Albrecht Glaser (AfD): (Beifall bei der SPD) – sofort –, kann man zwar auch die Vermögensbildung Wir wollen ein gut finanziertes Gesundheitssystem, über Aktien und Derivate erschweren, man sollte es aber und eine funktionierende Vermögensteuer würde dabei nicht tun. sehr viel helfen. Nicht nur das, es wäre auch ein gerechter 25750 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Cansel Kiziltepe (A) Weg. Ein Blick auf die Fakten hilft wie immer – das rate wegen der Pandemie weniger Geld zur Verfügung. Die (C) ich Ihnen ja jedes Mal hier –: In kaum einem anderen Reichen wissen nicht mehr wohin mit ihrem Geld, die Land in Europa ist die Vermögensungleichheit so groß Armen wissen nicht, wie sie über die Runden kommen wie in Deutschland. 1 Prozent der Bevölkerung besitzt sollen. hier knapp 35 Prozent des gesamten Vermögens. Gleich- Als wir gestern darüber debattiert haben, wenigstens zeitig sind die vermögensbezogenen Steuern in Deutsch- die Dispozinsen zu deckeln, war die FDP dagegen; aber land so gering wie in keinem anderen Land. heute will sie Steuern für die Reichen senken oder ganz (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Dann definie- abschaffen. Diesem Irrsinn stellen wir uns mit aller Kraft ren Sie doch mal, was Sie als Vermögen entgegen. Damit kommen Sie nicht durch. bezeichnen!) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, Vermögen erhält BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) man in diesem Land vor allem durch Vererben. Und Sie wollen das Vermögensteuergesetz aufheben, damit wer einmal groß geerbt hat, muss es nur noch im Family nie wieder eine Vermögensteuer eingeführt wird. Wir Office seelenruhig verwalten lassen, und dann ist alles wollen die Vermögensteuer als Millionärssteuer endlich gut. wieder erheben. Wenn aber die belohnt werden sollen, die hart arbeiten, dann müssen wir anders als die FDP an die mittleren Haben Sie die Dokumentation „Ungleichland“ gese- Einkommen denken. Hier muss sich Arbeit lohnen, damit hen? Ich will gleich mal ein Hoch auf den öffentlich- das Aufstiegsversprechen nicht Schall und Rauch ist. rechtlichen Rundfunk ausbringen. (Beifall bei der SPD – Bettina Stark-Watzinger (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- [FDP]: Das sehen wir ja!) Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Hier muss auch der Vermögensaufbau stattfinden und Sie ist in der Mediathek der ARD immer noch zu sehen, nicht auf den Karibikinseln dieser Welt. Dafür kämpfen und man lernt gleich zu Beginn dieser Dokumentation wir als SPD. den Immobilienunternehmer Christoph Gröner kennen. Er sitzt in einem Privatflugzeug und sagt: „Wenn Sie (Beifall bei der SPD – Bettina Stark-Watzinger 215 Millionen haben, schmeißen Sie das Geld zum Fens- [FDP]: Wo haben Sie denn was für untere und ter raus, und dann kommt es zur Tür wieder rein. Sie mittlere Einkommen getan in dieser Legislatur- kriegen es nicht kaputt.“ periode?) (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Fragen Sie (B) Damit sich Leistung lohnt, haben wir die geringen und mal die Mittelständler!) (D) mittleren Einkommen entlastet. Damit Arbeit den nötigen Respekt bekommt, kämpfen wir für höhere Löhne und Sobald man in Autos, Häuser, Immobilien investiere, mehr Tarifbindung. Damit jeder in dieser Gesellschaft steigere sich der Wert; mit Konsum könne man Geld nicht aufsteigen kann, wollen wir ein gut finanziertes Bil- zerstören. Dass dieser Mann im letzten Jahr 800 000 Euro dungs- und Gesundheitssystem. an den Berliner Landesverband der CDU gespendet hat, passt gut ins Bild und auch zu der Debatte, die Friedrich (Beifall bei der SPD – Bettina Stark-Watzinger Merz unter der Überschrift „Neidsteuer“ gestartet hat. [FDP]: Das gerade im Lockdown!) (Beifall bei der LINKEN) Eine gute Vermögensteuer wäre für all das eine Hilfe. Es ist ja nicht so, dass die Reichen nur Lindners Truppe Vielen Dank. als einzige Lobby haben. In der Vergangenheit wurde von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rot-Grün, von Schwarz-Gelb und von Schwarz-Rot der LINKEN) immer wieder den Reichen geholfen. Mehrmals wurde der Spitzensteuersatz abgesenkt. Mit der sogenannten Abgeltungsteuer werden Aktienverkäufe weniger be- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: steuert als Lohnarbeit, und dank der Erbschaftsteuerre- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion Die geln werden an Erben leistungslos große Vermögen von Linke erteile ich das Wort dem Kollegen Stefan Liebich. zig Milliarden Euro steuerfrei verschenkt. (Beifall bei der LINKEN) Was hat diese Politik erreicht? Wer reich geboren wird, bleibt reich. Wer arm geboren wird, bleibt arm. Stefan Liebich (DIE LINKE): Die FDP will diese himmelschreiende Ungerechtigkeit Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die heute weitertreiben. Wir wollen und wir werden sie stop- FDP packt heute Abend eines der ganz großen Probleme pen. unserer Zeit an: Die Reichen müssen reicher werden. Die reichsten 10 Prozent in unserem Land besitzen jetzt schon (Beifall bei der LINKEN) zwei Drittel des gesamten Vermögens in Deutschland, und im vergangenen Jahr ist das Geldvermögen auf den Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: deutschen Sparkonten um 393 Milliarden Euro gewach- Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht nun sen. Die meisten Menschen werden sich die Augen rei- der Abgeordnete Stefan Schmidt. ben, weil sie davon nichts gemerkt haben. Ganz im Gegenteil: Ein Drittel der Menschen hat im letzten Jahr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25751

(A) Stefan Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und umfassende Bildung hat, und das geht nur, wenn (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- man versteht, dass Reichtum für wenige nicht die Lösung nen und Kollegen! Es wurde gerade schon angesprochen, ist, sondern das Problem. Herr Dürr: Eigentlich haben Sie nicht über den Antrag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesprochen, den Sie hier zur Abstimmung stellen; „Mehr und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Vermögen aufbauen statt Leistung bestrafen“ heißt der. der SPD) Nicht das erste Mal täuscht der Titel eines FDP-Antrags vollkommen über den Inhalt hinweg. Vermögensaufbau beginnt bei denen, die kein Vermö- gen haben, und das ist die Hälfte der Gesellschaft in (Beifall der Abg. Katharina Dröge [BÜND- unserem Land. Vermögensaufbau beginnt bei der über- NIS 90/DIE GRÜNEN]) großen Mehrheit derer, die sich keine Gedanken über die Besser passen würde „Noch mehr Steuergeschenke für Besteuerung von Wertpapieren machen, weil sie schlicht Vermögende und Besserverdiener“. Diese Klientelpolitik und ergreifend keine Wertpapiere haben. der FDP machen wir Grüne sicher nicht mit. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Christian Dürr [FDP]: Eben! Das ist das Pro- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) blem!) Wir wollen, dass Vermögen gerechter verteilt wird. Nie Setzen wir also an bei einem höheren Grundfreibetrag in war die Schere zwischen Arm und Reich in unserer der Einkommensteuer, von dem Geringverdiener ganz Gesellschaft so weit gespreizt wie heute: Das reichste besonders profitieren. Setzen wir an bei einem Bürger- Promille der Deutschen verfügt über 20 Prozent des Ver- innen- und Bürgerfonds, damit vor allem finanziell mögens – im Gegensatz dazu besitzt die Hälfte der Bevöl- Schwächere fürs Alter vorsorgen können. Setzen wir an kerung kein nennenswertes Vermögen. Die Kollegin bei bezahlbarem Wohnraum für alle! Kiziltepe, der Kollege Liebich haben bereits ähnlich kras- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Haben Sie in se Beispiele der Ungleichheit benannt. Berlin geschafft mit dem Mietendeckel!) Warum also sollen wir den Soli vollständig abschaffen Da hätten Sie gute Ideen. Das haben Sie heute leider nicht und so die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter abgeliefert. öffnen? Warum sollen wir durch Steuerfreibeträge dafür sorgen, dass sich Vermögende noch billiger mit Immobi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lien eindecken können? Ihre Forderungen gehen meilen- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- weit an den Sorgen und Bedürfnissen der Menschen in KEN) (B) unserem Land vorbei. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Es macht sich bereit und läuft sich warm der Abge- KEN) ordnete Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön. Das Problem der FDP ist, dass sie unter Gerechtigkeit immer nur Leistungsgerechtigkeit versteht, aber ein völ- lig falsches Bild von Leistung hat; denn es ist keine Leis- Sebastian Brehm (CDU/CSU): tung, in einem reichen Haushalt geboren worden zu sein. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Es ist auch keine Leistung, Vermögen verwalten zu lassen Kollegen! Deutschland wird weltweit beneidet um seine und Vermögen zu erben. Nein, dieses falsche Bild der mittelständisch geprägte Struktur und um seine Innova- FDP zementiert nur die Ungleichheit in unserem Land. tionskraft. Diese mittelständische Struktur und Innova- tionskraft sind in der aktuellen Lage gefährdet. Deswegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist es wichtig, wie der Kollege Müller ausgeführt hat, dass sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- wir alle Bemühungen unternehmen, die Probleme der KEN) Pandemie einzudämmen und diesem Mittelstand zu hel- Zum alten, neoliberalen Schreckgespenst der Vermö- fen. gensteuer. Einerseits wird sie seit Jahrzehnten gar nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- erhoben, andererseits hat gerade die Pandemie viele Ver- ordneten der SPD) mögende sogar noch vermögender gemacht. Wäre es da nicht fair und folgerichtig, dass sehr hohe Vermögen auch Aber es ist auch wichtig, zu sagen: Die Innovations- einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung unseres kraft und der Mittelstand sind auch gefährdet, wenn man Gemeinwohls leisten? Starke Schultern können mehr tra- die Hand an die Substanz dieser Struktur legt, gen als schwache, und das müssen sie auch. (Christian Dürr [FDP]: So ist es! – Albrecht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Glaser [AfD]: So ist es!) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- und das würde eine Vermögensteuer machen. Deshalb KEN – Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Das tun wird es in dieser Legislaturperiode unter Führung der sie auch!) CDU/CSU mit Sicherheit nicht zu einer Wiedereinfüh- rung der Vermögensteuer kommen. Deshalb ist auch Ihr Ich bin überzeugt, dass eine Gesellschaft nur dann Antrag obsolet. wohlhabend, nur dann vermögend ist, wenn es gerecht zugeht, wenn jeder Mensch die Chance auf Teilhabe (Lachen bei Abgeordneten der FDP) 25752 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Sebastian Brehm (A) Was in der kommenden Legislaturperiode sein könnte, also thesauriert werden, nicht mit dem Spitzensteuersatz, (C) bei entsprechenden, anderen Mehrheiten, kann man sondern mit maximal 25 Prozent besteuert werden. Denn ahnen, wenn man heute die Debatte verfolgt hat. Es gibt wenn wir dann Geld in den Firmen haben, dann wird auch entsprechende Forderungen der SPD. Herr Kollege mehr investiert, dann kommt es zu Wachstum, dann Schmidt von den Grünen, wir haben die am Montag mit- kommt es zu mehr Beschäftigung und dann kommt es einander diskutiert. Da wurde noch die Vermögensteuer auch mittel- und langfristig zu mehr Steuereinnahmen von den Linken gefordert. beim deutschen Staat. Diese Diskussion um die Vermögensteuer ist Gift für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wachstum und Beschäftigung. Übrigens: Wenn wir die Steuern auf thesaurierte (Beifall bei der FDP) Gewinne – nicht auf Gewinne, die entnommen werden – Unsere mittelständisch geprägte Struktur in Deutschland auf 25 Prozent senken würden, käme es nach einer Studie war nur möglich durch das Prinzip der sozialen Markt- des ifo-Instituts zu 15 Prozent mehr Wachstum; so würde wirtschaft von Ludwig Erhard. sich diese Reform selbst finanzieren. (Christian Dürr [FDP]: Richtig!) Wir können diskutieren über eine moderate Anpassung Mit dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft geht auch des Spitzensteuersatzes für sehr hohe Einkommen, wenn das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wir gleichzeitig den Solidaritätszuschlag abschaffen für einher. alle und keine Substanzbesteuerung mehr vornehmen. Das ist meine persönliche Meinung. Ich habe hier zusam- (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Aber da gab es men mit meinem Kollegen Fritz Güntzler ein entspre- doch eine Vermögensteuer!) chendes Papier erarbeitet. Aber das geht nur gleichzeitig Derjenige, der mehr verdient, leistet finanziell auch mehr mit einer Verschiebung der Steuerkurve nach rechts und für die Gemeinschaft, und das ist auch richtig so. Derzeit einer deutlichen Entlastung für kleinere und mittlere Ein- zahlen Menschen mit einem Einkommen von mehr als kommen zur Entlastung der Krankenschwester, zur Ent- 265 000 Euro bzw. 530 000 Euro in der Zusammenver- lastung des Busfahrers, zur Entlastung der jungen Fami- anlagung neben dem Spitzensteuersatz zusätzlich 3 Pro- lien. Und es geht auch nur – das ist der Unterschied zent Reichensteuersatz; das ist auch in Ordnung. 2,3 Pro- zwischen Ihnen und uns –, wenn man es in Kombination zent der Bestverdienenden in Deutschland zahlen mit einer notwendigen Reform und einer Modernisierung 25 Prozent der gesamten Steuerlast, während 30 Prozent der Unternehmensbesteuerung in Deutschland macht. der kleineren und mittleren Einkommen keine Steuern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zahlen. (B) (D) (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Alle zahlen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesamt- Mehrwertsteuer!) konzept ist es möglich, Freiraum zu schaffen für die kleineren und mittleren Einkommen und ihnen die Mög- Mit einer Substanzbesteuerung würde der deutsche Mit- lichkeit zu geben, Vermögen aufzubauen. Deswegen ist telstand, der heute die Hauptlast der Steuern trägt, ins es auch richtig, für selbstgenutzten Wohnraum einen Mark getroffen. Eine Vermögensteuer wäre eine Belas- Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer einzurichten. Das tung der Substanz, eine Belastung auch des Betriebsver- steht im Koalitionsvertrag. Wir würden es gerne umset- mögens. Schon einmal versteuertes Geld würde noch- zen. Allein, derzeit fehlt der Wille beim Koalitionspart- mals besteuert. ner. (Zuruf von der LINKEN: Stimmt doch gar (Bernhard Daldrup [SPD]: Na, na, na! Hallo?!) nicht!) Also, deswegen wollen wir weiter kämpfen: Wir wol- Das widerspricht dem Grundsatz der Besteuerung nach len kämpfen für mehr Wachstum, für mehr Beschäfti- der Leistungsfähigkeit. Besteuerung der Substanz ist des- gung, mit einem sinnvollen Konzept: Entlastung der klei- halb falsch. Sie vernichtet Innovationskraft, vernichtet neren und mittleren Einkommen, Entlastung derjenigen, Investitionskapital und vernichtet Arbeitsplätze in die Geld reinvestieren. Und dann können wir auch über Deutschland. moderate Anpassungen reden. Ich glaube, das ist der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und richtige Weg, um Vermögen zu schaffen. Ich freue mich der FDP und des Abg. Albrecht Glaser [AfD]) auf eine Diskussion auch in der kommenden Wahlperio- Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen wie- de. Wir werden darüber im Wahlkampf, glaube ich, noch der mehr Steuereinnahmen, um aus der Pandemie heraus- viel miteinander reden. zukommen und die Mittel zur Deckung der Kosten der Herzlichen Dank. Pandemie zu erwirtschaften. Aber das funktioniert nicht mit einer Besteuerung der Substanz, sondern es funktio- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- niert nur mit Wachstum. Wachstum schafft man nur dann, ordneten der FDP) wenn investiert wird, und investiert wird nur dann, wenn Geld für Investitionen zur Verfügung steht. Deshalb kann Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ich nur immer wieder wiederholen: Wir brauchen eine Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Modernisierung der Unternehmensbesteuerung in der Kollege Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion. Deutschland dergestalt, dass Gewinne, die für Investitio- nen und für Innovationen im Betrieb gelassen werden, (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25753

(A) Bernhard Daldrup (SPD): Wenn Sie schon über Ihren eigenen Antrag reden wol- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich len, dann lassen Sie uns das noch mal nach der Abschaf- finde es irgendwie etwas eigenartig: Während sich Mil- fung des Solis machen. Lasst die Leute doch mal einen lionen Menschen Sorgen machen um ihre wirtschaftliche Blick auf den Soli-Rechner des BMF werfen. Da werden Zukunft und wie sie sie eigentlich bestehen können, sie sehen: Eine vierköpfige Familie wird bis zu einem zu macht sich die FDP Sorgen um die Zukunft der Reichen versteuernden Betrag von 151 000 Euro keinen Soli mehr und der Millionäre in diesem Land. bezahlen und bis zu einem Betrag von bis zu 211 00 Euro nur noch in der Gleitzone sein. Diejenigen aber, die über (Christian Dürr [FDP]: Nein, um die Fami- dieser Grenze liegen, müssen einen Beitrag leisten. Und lienunternehmer, die sich kümmern!) wissen Sie, warum? Weil in einer Demokratie Gerechtig- Das ist schon eine eigenartige Geschichte; das muss ich keit und Solidarität in der Krise Produktivfaktoren dar- wirklich sagen. stellen. Das haben Sie überhaupt noch nicht begriffen! (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN) Das ist der entscheidende Punkt! Und Ihre Häme, Herr Dürr, verstehe ich überhaupt Dann kommt mal wieder die Grunderwerbsteuer. Sie nicht. Denn in der ersten Januarwoche sind im Zusam- wollen den Bund dazu verpflichten, dass er Ihre nicht menhang mit 280 000 Anträgen rund 1,2 Milliarden Euro eingelösten Versprechen zur Absenkung der Grund- bewilligt worden. Bei der Dezemberhilfe sind 400 Millio- erwerbsteuer in Nordrhein-Westfalen erfüllen und dafür nen Euro bewilligt worden. bezahlen soll. Das ist Ihr Trick. Senken Sie doch die Grunderwerbsteuer! (Christian Dürr [FDP]: Nichts kommt an! Das ist Quatsch, was Sie erzählen, Herr Daldrup!) (Zuruf des Abg. Christian Dürr [FDP]) Wenn Sie wissen wollen, wie was schiefläuft, dann fra- Sie sind in dieser Frage doch ein Politschwindler und gen Sie Herrn Pinkwart! Was soll diese Häme eigentlich? nichts anderes. Das muss man mal klar und deutlich Es ist intellektuell ausgesprochen dürr, was Sie hier anzu- sagen. bieten haben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Wir machen sehr viel zur Verbesserung der Vermö- Machen Sie sich im Übrigen keine Sorgen um die Ver- gensbildung von Menschen, angefangen bei der Abschaf- (B) mögenden. Die Vermögen der Vermögenden schwinden fung des Solis für 90 Prozent der Zahler über die Erhö- (D) auch in der Coronakrise nicht, ganz im Gegenteil. hung des Kindergeldes bis hin zu höheren Freibeträgen, 20 Milliarden Euro allein in diesem Jahr. Deutschland (Zuruf des Abg. Christian Dürr [FDP]) hat nicht das Problem, zu viele Vermögende zu haben, sondern, zu wenig Menschen zu haben, die Vermögen – Jetzt seien Sie mal ruhig! haben. – Ja, richtig, FDP. Aber die Schlussfolgerung (Weiterer Zuruf des Abg.Christian Dürr [FDP]) daraus darf nicht sein, allein die Vermögenden zu schonen, sondern sollte sein, für mehr Gerechtigkeit in – Flegel. diesem Land zu sorgen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, beruhigen Sie sich. Es ist schon spät. Ich verstehe das, aber trotzdem bitte ich In der Sprache des sozialen Liberalismus heißt das: Sie, sich zu beruhigen. Gerechtigkeit bedeutet gleiche Freiheit für alle, nicht aber Freiheit nur für wenige. Bernhard Daldrup (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Genau. – Die „FAZ“ berichtet unter Bezug auf die DIE GRÜNEN] – Christian Dürr [FDP]: Aber Credit Suisse, dass in Deutschland die Zahl der Dollar- das Gegenteil tun Sie doch!) millionäre im letzten Jahr in der Coronazeit um 58 000 Das ist der Punkt, und darauf sollten Sie sich besinnen. gestiegen ist. Man muss sich da also nicht unbedingt die Sorge machen, die Aufhebung des Vermögensteuergeset- Herzlichen Dank. zes würde nicht dazu führen, dass sich irgendetwas (Beifall bei der SPD) ändert. Ihr Gesetzentwurf ist schlicht und einfach lächer- lich, und nichts anderes. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Christian Dürr [FDP]: Was sagt denn der Herr Ich schließe die Aussprache. Scholz dazu?) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Niemand will das – Sebastian Brehm hat es nicht vorge- den Drucksachen 19/25792 und 19/25789 an die in der schlagen, und ich auch nicht. Das wird in dieser Legisla- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. turperiode mithin auch nicht kommen. Ihr Popanz ist Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht völlig unangebracht. der Fall. Dann verfahren wir so. 25754 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf: Natürlich wissen wir, dass es viele Unternehmen gibt, (C) die den Infektionsschutz supergut beachten und Home- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin office ganz selbstverständlich anbieten. Aber es gibt auch Göring-Eckardt, Beate Müller-Gemmeke, Unternehmen, die ihren Beschäftigten keine Wahl lassen, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abge- und das sind in Zeiten von Corona zu viele. Das Magazin ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE „Zeit Online“ hat gefragt: „Müssen Sie weiterhin ins GRÜNEN Büro?“ In kurzer Zeit, in wenigen Stunden, haben mehr Homeoffice-Gebot und Arbeitsschutz in der als 1 000 Menschen darauf geantwortet, in den meisten Pandemie konsequent durchsetzen Fällen mit Ja. Die Aussagen waren etwa: Wir müssen ins Büro, aber ohne eine Begründung, warum. – Man macht Drucksache 19/25798 Druck auf uns, dass wir präsent sind. – Ich gehöre zur Auch hier ist eine Aussprache von 30 Minuten be- Risikogruppe und muss trotzdem im Büro arbeiten. – schlossen. – Bitte nehmen Sie Platz. Und – ganz wichtig; Zitat –: „Solange es keine gesetz- liche Regelung gibt, wird Homeoffice hier nicht erlaubt Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin: die Kolle- werden.“ Genau diese Unternehmen brauchen klare poli- gin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen. tische Vorgaben, und zwar eine Arbeitsschutzverord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nung; denn sie lassen sich von Appellen allein nicht beeindrucken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das ist wichtig; denn Homeoffice kann die Coronain- Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- fektionen signifikant reduzieren. Das haben die Ökono- gen! Der Lockdown schränkt die Menschen gerade stark men von der Universität Mannheim gezeigt: 1 Prozent ein. Schulen und Kitas sind geschlossen, Restaurants und mehr Homeoffice senkt die Infektionsrate um 4 Prozent Theater auch. Die Menschen müssen in Zeiten von Coro- bis 8 Prozent. Wenn heute genauso viele Beschäftigte zu na auf viel verzichten, insbesondere auf Kontakte und Hause arbeiten würden wie im ersten Lockdown im Begegnungen. Die Wirtschaft aber bleibt in großen Teilen März/April letzten Jahres, dann könnte die Infektionsrate unangetastet. An vielen Orten wird gearbeitet, als gäbe es halbiert werden. Homeoffice ist also eine Chance, und die keine Pandemie. Und genau das können viele Menschen sollten wir nutzen. einfach nicht mehr verstehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir mehr Homeoffice fordern, dann stellen wir (B) natürlich nicht alle Unternehmen unter Generalverdacht, (D) Gleichzeitig sind die Infektionszahlen extrem hoch, und wir wollen auch keinen wirtschaftlichen Lockdown. die Intensivstationen sind voll, und immer mehr Men- Im Gegenteil: Wir wollen damit die Zahl der Kontakte schen sterben. Wir müssen also diese Coronawelle end- reduzieren und gleichzeitig die Wirtschaft am Laufen lich brechen, und das geht nur, wenn wir die Kontakte halten. So kommen wir schneller durch die Pandemie. noch mehr reduzieren. Deshalb fordern wir heute eine Das muss doch unser gemeinsames Ziel sein. Arbeitsschutzverordnung, mit der die Arbeitgeber ver- pflichtet werden, Homeoffice zu ermöglichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz gibt es seit dem Mehr Homeoffice reduziert nicht nur die Kontakte; 1. Januar 2021, also seit 14 Tagen, eine Rechtsgrundlage, Homeoffice führt auch dazu, dass die öffentlichen Ver- mit der das Arbeitsministerium ohne Bundesregierung kehrsmittel leerer werden. So werden auch diejenigen und ohne Bundesrat eine solche Verpflichtung zum geschützt, die weiterhin zu ihrem Arbeitsplatz fahren Homeoffice ganz schnell umsetzen könnte, und zwar müssen, weil sie eben im Krankenhaus, bei der Polizei bundesweit und damit einheitlich. Also, bitte nutzen Sie oder im Supermarkt arbeiten. Mehr Homeoffice in den diese Möglichkeit! Bitte nutzen Sie Homeoffice zur Unternehmen und natürlich auch im öffentlichen Dienst Bekämpfung der Coronapandemie! schützt uns als Gesellschaft und insbesondere auch soli- Vielen Dank. darisch die Beschäftigten, die eben nicht im Homeoffice arbeiten können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wir wollen die Beschäftigten natürlich nicht verpflich- Auf den weiten Weg von dort hinten im Saal nach hier ten, im Homeoffice zu arbeiten. Wer nicht will und wegen vorn macht sich jetzt der Kollege Thomas Heilmann, der Art der Tätigkeit nicht kann, muss stattdessen im CDU/CSU-Fraktion. Unternehmen den bestmöglichen Infektionsschutz erhal- (Beifall bei der CDU/CSU) ten. Wer aber zu Hause arbeiten kann und will, der soll auch tatsächlich die Möglichkeit bekommen, im Home- office zu arbeiten. Genau das ist unsere zentrale Forde- Thomas Heilmann (CDU/CSU): rung. Herr Präsident! Meine Damen und Herren hier im Saal und draußen an den digitalen Endgeräten! Liebe Grüne, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihr Antrag ist ganz genau von vorgestern. In der Corona- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25755

Thomas Heilmann (A) krise geht ja alles ganz schnell, und da kann es irgendwie Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) schon mal passieren, dass auch ein relativ neuer Antrag NEN): vom letzten Dienstag nicht mehr ganz aktuell ist. Herr Kollege, ich habe wirklich eine ganz kurze Frage. Wenn es eine Arbeitsschutzverordnung gibt, würden Sie Am Dienstag haben Sie ihn formuliert, und schon heu- mir zugestehen, dass sie dann für den öffentlichen Dienst te, am Donnerstag, also ganze zwei Tage später, ist die und die Behörden genauso gilt wie für alle anderen dritte Ihrer drei Forderungen in einem hier verabschiede- Arbeitsstätten auch und dass Ihre Argumente von eben ten Gesetz aufgegriffen worden. Wir haben hier vor we- deswegen nicht zusammenpassen? nigen Stunden darüber diskutiert und es dann verabschie- det: das erhöhte und vereinfachte Kinderkrankengeld. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Debatten, die wir vorhin dazu geführt haben, müssen wir ja jetzt nicht wiederholen. Thomas Heilmann (CDU/CSU): Kommen wir deswegen zu Ihrer anderen Forderung. Ihre Fragestellung ist leicht verwirrend, weil dann, Sie wollen gesetzlich vorschreiben, dass alle Bürotätig- wenn man alle diejenigen ins Homeoffice schickt, wo keiten ins Homeoffice wechseln. es geht, wie Sie sagen, im öffentlichen Dienst ja das Problem da entsteht, wo es keine digitale Akte gibt, (Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ oder da, wo es wie in Berlin noch nicht mal für 10 Prozent DIE GRÜNEN]) der Leute eine VPN-Leitung gibt. In der Logik Ihres – In Ihrer Rede klang das ein wenig anders. – Wenn die Antrags müsste man dann sagen: Es geht leider nicht. Art der Tätigkeit es zulässt, so schreiben Sie in Ihrem Und dann können alle im öffentlichen Dienst noch weiter Antrag, dann soll man damit in das Homeoffice wechseln in ihren Büros bleiben. Und das führt ja dann in der Logik müssen. So ist Ihr Antrag zu verstehen; sonst macht er ja Ihres Antrags dazu, dass sie eben doch nicht ins Home- gar keinen Sinn. office müssen. Und das kritisiere ich, dass Sie Missstände im öffentlichen Dienst hinsichtlich der Bestrebungen, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE wie wir mehr Leute ins Homeoffice kriegen, zwar mit GRÜNEN]: Nein! – Weitere Zurufe vom einem Wort erwähnen, im Zweifel aber keinerlei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zuhören! Lösungsperspektive aufzeigen. Und das, ehrlich gesagt, Lesen!) ist für eine Partei, die regieren will, nicht genug. – Sie haben den Antrag vor zwei Tagen geschrieben. Wir (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom haben ihn alle so gelesen. Wenn Sie das so nicht meinen, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dann sind wir uns schon mal ein Stück näher. (B) Unabhängig von der Frage, wie man mit dem öffent- (D) Ihr Antrag ist aber auch deswegen ein typischer Oppo- lichen Dienst umgeht, hat Ihr Antrag noch einen zweiten sitionsantrag, Nachteil; denn er liest sich so – auch bei Ihrer Rede, Frau (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Müller-Gemmeke, die ich gerade hörte, entstand der Ein- GRÜNEN]: Weil er es durch Verordnung druck –, als wenn Sie sagen wollten: Nun, die Privaten regelt!) haben einen Lockdown, Theater und Kultur haben einen Lockdown, die Schulen haben einen Lockdown, und die weil er einen wichtigen Faktor erwähnt, aber nicht wirk- Wirtschaft muss jetzt auch einen Lockdown kriegen. – So lich aufgreift. Die größten Defizite beim Thema Home- liest sich das ja, obwohl das nicht genau so da drinsteht. office hat nämlich leider der öffentliche Dienst, und zwar auch in den zwölf Bundesländern, in denen die Grünen (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mitregieren. NEN]: Genau das Gegenteil! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da auch drin! – Weitere – Na ja, wissen Sie, in der Kommunikation ist es immer Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) so, dass Sie nicht das voraussetzen können, was sich der Absender vielleicht gedacht hat, sondern in Rechnung – Ja, das steht mit einem Satz darin, dass der öffentliche stellen müssen, wie es beim Adressaten ankommt. Und Dienst nicht vorbildlich sei. Punkt. Aber die Frage, wie ehrlich gesagt, anders kann man das nicht lesen. wir das ändern, kommt da in keinem Satz vor. Und ehr- lich gesagt ist meine Auffassung, dass wir Politiker uns (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) immer auch an die eigene Nase fassen müssen. Frau Müller-Gemmeke, Sie haben gerade gesagt – – (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ Dann fangen Sie doch an!) DIE GRÜNEN]) – Nun quatschen Sie doch nicht die ganze Zeit dazwi- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schen! Kollege Heilmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Thomas Heilmann (CDU/CSU): Leute, wir wollen doch fertig werden. Jetzt beruhigen Wir dürfen nicht von anderen etwas verlangen, was wir Sie sich doch bitte. selber nicht erfüllen können. – Gerne eine Zwischenfra- ge. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 25756 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Thomas Heilmann (CDU/CSU): Die regeln das halt mit so einer Schichtlösung. Da steht (C) Frau Müller-Gemmeke, Sie haben gerade gesagt, es aber in Ihrem Antrag nicht drin. würde gearbeitet, als wenn es keine Pandemie gäbe. – (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ehrlich gesagt, das trifft überhaupt nicht meine Beobach- tungen. Ich kenne in Berlin überhaupt keinen Betrieb, der Ich persönlich kann mir vorstellen, dass wir sagen: Wir für seinen Bürobetrieb nicht irgendeine Form von Pande- entzerren das weiter, wir entzerren das auch in Produk- miekonzept hat. Ich kenne gar keinen. tionsbetrieben. Wie damals beim gestaffelten Schulbe- ginn wollen wir einen gestaffelten Schichtbeginn. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dann machen Sie sich mal schlau!) Nun muss man sagen, dass viele, viele Großbetriebe ja schon sehr gute Konzepte haben und auch noch intensiv Ich lese auch in den sozialen Medien oder in irgendwel- Statistik darüber führen. Ein DAX-Konzern rechnet vor, chen nicht repräsentativen Umfragen wie in der „Zeit“, dass nur 5 Prozent derjenigen in der Belegschaft, die mit dass es offensichtlich solche Fälle geben soll, Corona infiziert sind, sich auch im Betrieb angesteckt haben. Das heißt, das Risiko draußen ist größer als das (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Risiko drinnen mit Pandemiekonzept. GRÜNEN]: Viele!) Wenn es schlecht laufen sollte, dann wäre es aus mei- und dann müssten wir gegen diese Fälle in der Tat etwas ner Sicht richtig, dass wir neben der Obergrenze für das tun. Da brauchen wir aber wirklich keine Arbeitsschutz- Büro und Homeoffice-Geboten – das ist ja das Thema verordnung. Ihres Antrags – weitere Pandemiekonzepte erwarten. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich warne davor, die Wirtschaft in weitem Umfang run- NEN) terzufahren. Das wird alles noch viel teurer als das vor- herige – auch mit unglaublichen sozialen Folgen, nicht Ich glaube, dass das, was der Bundespräsident morgen nur wirtschaftlichen Folgen. zusammen mit dem DGB und dem BDA vorhat, der erste richtige Schritt ist, nämlich: Wir führen jetzt in einem (Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ Appell allen Beschäftigten und allen Arbeitgebern vor DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi- Augen, schenfrage) Und ich warne davor, dass ein Lockdown auch für Europa (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schlechte Folgen hat. Der Lockdown der deutschen Wirt- NEN]: Die MPK hat das schon angesprochen!) schaft führt dazu, dass wir faktisch die Lieferketten für wie wichtig das Thema Homeoffice ist – da sind wir uns ganz Europa unterbrechen werden. (B) ja einig –, und fordern sie auf, dass sie da mehr tun sollen. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (D) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zwischenfrage!) NEN]: Im Lockdown appellieren wir!) Insofern: Ich verstehe die Intention Ihres Antrags, aber ich kann ihm leider nicht zustimmen. In der Tat brauchen wir mehr Homeoffice. Wir brauchen natürlich auch mehr Schichtdienste, und wir brauchen (Beifall bei der CDU/CSU) mehr Testungen. Ihr Antrag spielt ja ein bisschen auf die Frage an, ob Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: die Mutationen uns nicht noch mal zu weiteren Maßnah- Als nächster Redner kommt jetzt der Kollege Jürgen men zwingen werden. Pohl für die Fraktion der AfD. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der AfD) GRÜNEN]: Genau!) Jürgen Pohl (AfD): Das ist heute Abend noch nicht mit Gewissheit zu sagen. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Wer- Ich glaube, wir hoffen alle, dass das nicht notwendig ist. te Zuschauer an den TV-Geräten und werte zwei Gäste! (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der vorliegende Antrag der Grünen „Homeoffice-Gebot NEN]: Das ist präventiv!) … konsequent durchsetzen“ ist schlichtweg abzulehnen. Schon der Titel ist verräterisch und zeigt, in welchen – Aber wenn das so ist, dass Ihr Antrag präventiv ist, dann pseudomoralischen Gefilden die Grünen inzwischen hätten Sie es reinschreiben sollen. – Wenn dem so wäre, mäandern. dann gäbe es aus unserer Sicht bessere Maßnahmen. (Zuruf von der AfD: Sehr richtig!) (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das elfte Gebot „Du hast Recht auf Homeoffice“ brachte NEN]: Welche denn?) uns nicht Moses, sondern realitätsferne grüne Politiker, Wie wäre es denn mit einer Obergrenze für das gleich- die als ideologische Fantasten fern der gesellschaftlichen zeitige Nutzen von Büros? Das machen ja auch viele. Ich Praxis unterwegs sind. kenne eine Anwältin, die kommt morgens um 5 Uhr und (Beifall bei der AfD – Lachen beim BÜND- ist um 9 Uhr wieder raus aus ihrem Büro, damit dann eine NIS 90/DIE GRÜNEN) Angestellte da arbeiten kann. Derartige moralisch verbrämte Universalansprüche ken- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen wir bereits aus der grünen Klimareligion. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25757

Jürgen Pohl (A) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lienfreundlichen Rechtsanspruch auf Nichterreichbarkeit (C) des Arbeitnehmers im Homeoffice steht im Antrag vor- – Kennen wir. sorglich erst gar nichts drin. In dieser besonderen Notsituation, in die die Bundes- Abschließend: Die populistische Forderung der Grü- regierung Wirtschaft und Gesellschaft hineingelenkt hat, nen, die Beamten und Besserverdienenden ins Homeof- (Widerspruch des Abg. Kai Whittaker [CDU/ fice zu senden, CSU]) (Zuruf der Abg. Katharina Dröge [BÜND- wirkt die quasi hypermoralische Forderung, im Sinne NIS 90/DIE GRÜNEN]) eines elften Gebotes, nach Homeoffice nicht nur deplat- ziert, sondern ist vielmehr die Eröffnung des Wahlkamp- um deren Work-Life-Balance zu verbessern, dient einzig fes seitens der Grünen. und allein dem Umgarnen der besserverdienenden Wäh- lerschicht. (Zurufe der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Werte Kollegen, worum geht es heute eigentlich? Arbeiten im Homeoffice oder Telearbeit bietet, wenn Eins ist gewiss, meine Damen und Herren: Die mühse- klug organisiert, für eine begrenzte Zahl von Arbeitneh- lig beladenen Arbeitnehmer, die unter widrigsten Bedin- mern für eine begrenzte Zeitspanne die Gelegenheit, gungen in den Betrieben weiterarbeiten, und natürlich die menschliche Arbeit flexibler zu gestalten. Jedoch ist Besserverdienenden sind bei uns in der AfD als Partei der Homeoffice in vielen Bereichen der Produktion, des Arbeitnehmer herzlich willkommen. Handwerkes und auch der Dienstleistungsbranche (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Zurufe schlichtweg unmöglich. von der SPD) (Zuruf von der SPD: Na so etwas!) Zum Schutz der deutschen Arbeitnehmerschaft ertei- Arbeitsabläufe im Rahmen des Homeoffice bedürfen len wir den grünen Sozialexperimenten eine klare Absa- einer besonderen Arbeitsorganisation. Das heißt, sie müs- ge! sen im Einzelnen aufwendig – und, liebe Grünen, das Ich bedanke mich bei Ihnen. Frohes Aufregen! heißt kostenintensiv – abgestimmt und geplant werden. Folglich sollte die Beurteilung von Homeoffice und des- (Beifall bei der AfD – Beate Müller-Gemmeke sen Handhabe auch allein den Betriebspartnern überlas- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Alter- native, wenn man schon so einen Antrag nicht (B) sen bleiben: den Betriebsräten, den Arbeitgebern. (D) mal ganz liest!) Selbstverständlich bleibt es den Tarifparteien vorbe- halten, im Rahmen der Tarifautonomie entsprechende Regelungen in Rahmenrichtlinien und Tarifverträgen zu Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: vereinbaren. Eine generelle bußgeldbewehrte Verpflich- Und schon geht’s weiter. – Die Kollegin Kerstin Tack tung jedoch, die den Arbeitgeber zwingt, Arbeitnehmer hat das Wort für die SPD-Fraktion. ins Homeoffice zu schicken, birgt allerdings erhebliche (Beifall bei der SPD) Nachteile für die Beschäftigten selbst. Vorrangig liegt nämlich die Pflicht zur Gesunderhaltung und zu entspre- chendem Arbeitsschutz bei der Regierung und bei den Kerstin Tack (SPD): Arbeitgebern. Sie haben die Voraussetzung für ein gesun- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- des Arbeiten im Betrieb zu schaffen. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Recht haben wir in dieser Pandemie mit der Herausforderung an das Darüber hinaus gefährden der erzeugte Bürokratieauf- gemeinsame solidarische Zusammenstehen die größte wuchs und die geforderte Denunziationshotline das Fort- Herausforderung der letzten Jahrzehnte. Deshalb ist es bestehen der eh schon existenzbedrohten Betriebe und auch richtig, zur Bewältigung dieser Krise über jede damit auch deren Arbeitsplätze. Kurzum: Das grüne Maßnahme nachzudenken und zu streiten, die es ermög- Homeoffice-Gebot gefährdet die Arbeitsplätze! licht, Kontakte zu reduzieren und auch im Interesse der (Beifall bei der AfD) Wirtschaft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesund zu halten oder nicht krank werden zu lassen. Man merkt deutlich: Der vorliegende Antrag ist das Machwerk realitätsferner Gesellschaftsplaner, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf der Abg. Jessica Tatti [DIE LINKE]) Deshalb ist es auch richtig, dass wir über Homeoffice die die Bedürfnisse des modernen Arbeitnehmers gänz- diskutieren. Es war auch richtig, dass die Bundeskanzle- lich aus den Augen verloren haben. Vielmehr dient die rin mit den Ministerpräsidenten den Unternehmen den von den Grünen geforderte Homeoffice-Breitenlösung dringenden Rat gegeben hat, in diesem erneuten Lock- vorwiegend dem Interesse des Arbeitgebers. Es droht down für so viel Homeoffice wie möglich zu sorgen. Und die Ausdehnung der Arbeitszeit, die Entgrenzung von wir machen uns ernste Sorgen darüber, Arbeitszeit und Freizeit, sodass die Arbeitnehmer massiv in die gesundheitsgefährdende Ausbeutung, nämlich (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nicht bei Selbstausbeutung, getrieben werden. Von einem fami- der AfD!) 25758 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Kerstin Tack (A) dass das häufig nur bedingt genutzt und ermöglicht wird; (Beifall bei der SPD sowie des Abg. (C) denn dazu gehören ja beide Seiten. Deshalb ist es auch Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]) richtig, dass wir alles dafür tun, dass diese Möglichkeit der Kontaktbeschränkung mehr als heute genutzt wird. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Nächste: der Kollege Johannes Vogel, FDP-Frak- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tion. Wenn die Zahl der Infektionen nicht runtergeht oder viel- (Beifall bei der FDP) leicht sogar steigt: Ja, dann werden wir mehr Maßnahmen brauchen, sowohl im Arbeitsleben als auch andere Maß- Johannes Vogel (Olpe) (FDP): nahmen zum Schutz unserer Bevölkerung. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Gerade im Lockdown sollte mobiles Arbeiten und Home- GRÜNEN]: Dann macht doch mal!) office überall dort ermöglicht werden, wo es irgend geht; das sage ich ganz klar. Ich habe auch kein Verständnis für Insbesondere – das will ich auch sagen – ist es im Arbeitgeber, die sich Homeoffice verweigern, auch wenn Eigeninteresse eines jeden Unternehmens, dafür zu sor- es betrieblich möglich wäre. Ich bin auch dankbar, wenn gen, dass es auch nach acht Wochen noch die Beschäftig- einzelne Journalisten, wenn Menschen auf Twitter auf ten gibt, die sie heute haben. Deshalb müssen die Unter- Einzelfälle hinweisen und damit problematisieren. Wofür nehmen ein eigenes Interesse daran haben, dass ihre ich aber kein Verständnis habe, ist, dass ebenso auf Twit- Beschäftigten so wenig Kontakte wie möglich haben. Da eignet es sich, darauf zu achten: Wie kommen meine ter zum Beispiel Homeoffice mit stumpfem Unterneh- mer-Bashing verwechselt wird. Beschäftigten in den Betrieb? Was ist im Betrieb an Kon- taktarmut möglich? Was kann ich tun, damit meine (Beifall bei der FDP) Beschäftigten, für die ich eine Verantwortung habe, die Wir brauchen mehr Homeoffice, aber weniger Kapital- Chance haben, in den nächsten Wochen möglichst gesund ismuskritik. durch diese Krise zu kommen? Wir machen uns für unse- re Mitarbeitenden diese Gedanken, und jedes Unterneh- (Lachen bei der LINKEN) men – das können wir erwarten – muss und soll sich diese Liebe Kollegin Beate Müller-Gemmeke, die Wirt- Gedanken auch machen. schaft bleibt auch nicht unangetastet. Die Wirtschaft, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das sind vielmehr wir alle. Das sind die Selbstständigen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die wir kennen. Das ist die Gastronomin um die Ecke. Das sind die vielen Unternehmen, die Arbeitsplätze (B) Da ist Homeoffice eine von mehreren Möglichkeiten, schaffen und die derzeit um ihre Existenz ringen, liebe (D) kontaktarm durch die nächsten Wochen zu kommen. Kolleginnen und Kollegen. Ich habe den Antrag der Grünen so verstanden, dass es Ansteckungen und Auswirkungen zu minimieren: Das um die nächsten Wochen geht. Ich will gar nicht aus- ist, ehrlich gesagt, unser aller Verantwortung, weil wir schließen, dass wir in den nächsten Wochen verschärfte uns sonst keine Impfstoffe leisten können, sonst keine Maßnahmen nicht nur im Arbeitsleben brauchen werden. Hilfspakete auflegen können und sonst als Gesellschaft Niemand von uns kann das heute seriös ausschließen, auch nicht mit einem guten Gesundheitssystem durch aber wir hoffen sehr, dass das nicht nötig wird. diese Krise kommen können, liebe Kolleginnen und Kol- In diesem Sinnen wollen natürlich auch wir, dass legen. Homeoffice nicht nur irgendwas ist, sondern ein gut (Beifall bei der FDP) abgesicherter Umstand. Ja, wir wollen ein Recht auf Homeoffice. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich muss ganz ehrlich sagen: Leider hilft Ihr Antrag hier auch (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD]) nicht so wirklich weiter; denn außer Bußgeld fällt Ihnen Wir wollen gute Mitbestimmung. Wir wollen gute Ar- nicht so richtig viel ein. beitsschutzbestimmungen. Wir wollen den Unfallschutz (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE berücksichtigt sehen. GRÜNEN]: Arbeitsschutzverordnung!) Wenn man aus pandemischen Gründen der Meinung Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ist, man muss beim Homeoffice zu einer Verpflichtung Ihre Redezeit ist beendet. übergehen, dann muss man auch so ehrlich sein und sagen: Das gilt dann nicht nur für die Unternehmen, son- Kerstin Tack (SPD): dern dann dürfen sich das auch die Beschäftigten bei den Jetzt in der Krise aber wollen wir, dass Homeoffice so Arbeitsplätzen, wo Homeoffice betrieblich möglich ist, vielen wie möglich – ich bin fertig – ermöglicht wird. natürlich nicht mehr aussuchen können. So ehrlich muss Und bitte, wenn es dazu Verschärfungen bedarf, dann man dann sein. Das trauen Sie sich aber nicht, liebe müssen wir diese machen, auch wenn wir das eigentlich Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Das lehnt nicht wollen. Deshalb der dringende Appell, jetzt die auch der DGB aus guten Gründen ab. Das ist aber eine richtigen Maßnahmen zu ergreifen, damit wir zu weiteren Frage der politischen Ehrlichkeit, sich hier dann auch so Schritten nicht gezwungen werden. offen zu machen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25759

Johannes Vogel (Olpe) (A) Klar ist: Wir sind mitten in einer gefährlichen Pande- Das heißt, die Strategie, auf die Freiwilligkeit der Arbeit- (C) mie, und – da stimme ich der Kollegin Kerstin Tack zu – geber zu setzen, ist krachend gescheitert; und das geht so niemand kann verantwortlich irgendeine Maßnahme, die nicht weiter. Kontakte reduzieren kann, sicher ausschließen, weil kei- ner die Entwicklung der nächsten Tage kennt. Vielleicht (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ist dann aber eine Pflicht, zum Beispiel für diejenigen, die NIS 90/DIE GRÜNEN) mit dem Fahrrad ins Einzelbüro fahren, gar nicht der ent- Es ist für niemanden nachvollziehbar, dass allein die scheidende Hebel. Es lässt einen gewissen Rückschluss privaten Kontakte auf das absolute Minimum beschränkt zu, dass die Länder, die diesen Weg in den letzten werden, während Millionen weiterhin in vollen Bussen Wochen gegangen sind – Frankreich oder Belgien zum und Bahnen zur Arbeit fahren. Die Bundesregierung tut Beispiel –, nach den Daten, die uns vorliegen, gar nicht gerade so, als ob das Virus am Werkstor haltmacht. Des- mehr Homeoffice-Nutzung haben, als das zum Beispiel halb ist es richtig, dass Arbeitgeber für die Dauer der in den Niederlanden schon im ganzen letzten Sommer der Pandemie verpflichtet werden, im Interesse ihrer Fall war. Beschäftigten Homeoffice anzubieten – überall, wo das Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und möglich ist. liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, vielleicht (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ist die Pflicht zum Homeoffice gar nicht die entscheiden- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) de Frage, sondern vielleicht ist der entscheidende Punkt für mehr Homeoffice, dass wir in der Politik endlich Dafür sind dann auch die Voraussetzungen zu schaffen, unsere Hausaufgaben machen. Sie von der Koalition, etwa durch das Stellen von notwendigen Arbeitsmitteln liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Ihre Hausaufga- wie digitalen Endgeräten. ben machen. Denn immer noch drängen Sie Unterneh- Herr Vogel, ja, neben einer Verpflichtung sind auch men in rechtliche Grauzonen, wenn Homeoffice prakti- Kontrollen und Bußgelder wichtig, wenn die Unterneh- ziert wird. Das verunsichert gerade kleine und mittlere men dem nicht nachkommen. Deshalb stimmen wir dem Unternehmen. Immer noch haben Sie ein Arbeitszeitge- Antrag der Grünen zu, auch wenn ich ein bisschen setz, was gar nicht zur Homeoffice-Realität passt. Bauchschmerzen habe; denn offen bleibt, wer konkret (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE und nach welchen Kriterien entscheidet, wer von zu Hau- GRÜNEN]: Oh nein! Jetzt nicht damit kom- se aus arbeitet und wer nicht. Eine pauschale Lösung für men!) alle Betriebe und Branchen gibt es nicht. Das Infektions- risiko ist in einem Großraumbüro anders zu bewerten als – Das ist so, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Immer in einem sehr kleinen Betrieb, in dem jeder Beschäftigte (B) noch ist es so, dass Beschäftigte, wenn sie sich zu Hause ein eigenes Büro hat. Und nicht nur Homeoffice, sondern (D) den Arbeitsplatz erst einrichten müssen, weil sie viel- auch versetzte Arbeitszeiten können sinnvoll sein. All das leicht gar keinen richtigen Schreibtisch haben, das kom- darf nicht einseitig durch die Arbeitgeber bestimmt wer- plett selbst finanzieren müssen, weil Sie von der Koali- den. Damit das funktioniert, braucht es mehr Mitbestim- tion eine Homeoffice-Steuerpauschale ablehnen. mung in den Betrieben. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koa- lition, machen Sie erst mal diese Hausaufgaben! Das (Beifall bei der LINKEN) wäre die vordringlichste Aufgabe der Politik. Das können Die Beschäftigten und die Betriebsräte müssen hier ein- wir von den Niederlanden lernen; und die liegen bei der gebunden werden. Nutzung von Homeoffice in Europa ganz vorne. Das wäre die erste Aufgabe, die wir uns jetzt in den nächsten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir dürfen Wochen vornehmen sollten. diejenigen nicht vergessen, die überhaupt keine Mög- lichkeit haben, ins Homeoffice zu gehen. Das sind weit Vielen Dank. mehr als die Hälfte der Beschäftigten. Sie arbeiten in der (Beifall bei der FDP) Pflege, im öffentlichen Nahverkehr, in den Supermärk- ten, und sie haben mit dieser Homeoffice-Debatte, die wir hier gerade führen, überhaupt nichts am Hut. Ein Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Gewerkschafter der IG Metall drückte es mir gegenüber Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin so aus – ich zitiere –: Während die Politik über Home- Jessica Tatti. office philosophiert, arbeiten die Leute am Band Arsch an (Beifall bei der LINKEN) Arsch. Homeoffice hilft hier nicht. Arbeitgeber müssen also Jessica Tatti (DIE LINKE): auch gezwungen werden, überall die Arbeit in den Betrie- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ben, in den Büros, in den Läden infektionssicher zu Kollegen! Es liegt auf der Hand: Mit Homeoffice können machen. Beschäftigte vor Ansteckungen mit Covid-19 geschützt (Beifall bei der LINKEN) werden. Im April, also in der ersten Welle der Pandemie, haben fast 30 Prozent der Beschäftigten von zu Hause aus Denn viele Betriebe haben noch immer kein oder kein gearbeitet. Im November waren es nicht mal mehr 15 Pro- ausreichendes Konzept, ihre Beschäftigten vor Anste- zent – und das, obwohl die Bundesregierung mehrfach ckungen zu schützen. Und wenn es Konzepte gibt, wird appelliert hatte, Homeoffice breitflächig anzubieten. die Durchsetzung nicht ausreichend kontrolliert. Sankt- 25760 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Jessica Tatti (A) ionsmöglichkeiten fehlen weitgehend. Muss man sich da (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (C) also wundern, wenn die Infektionszahlen nicht wirklich GRÜNEN]: Woher wissen Sie denn, dass das sinken? gut umgesetzt ist? Da gibt es doch überhaupt keine Kontrollen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der Leerstellen: Der Antrag geht in die richtige Richtung. Die Ausdeh- Vollzugsdefizite und Beanstandungen, die grundlegender nung von Homeoffice ist im Moment der gebotene Weg, Art sind, sind mir nicht bekannt. Das zeigt: Die betrieb- wenn es dem Wunsch der Beschäftigten entspricht. lichen Schutzmaßnahmen sind insgesamt erfolgreich. So (Beifall bei der LINKEN) ist die Infektionsgefahr in den Betrieben, Frau Müller- Gemmeke, nachweislich gering. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Der Kollege Stephan Stracke nähert sich dem Mikro- GRÜNEN]: Das wird doch gar nicht unter- fon. – Sie haben das Wort. sucht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Das zeigt, dass die Schutzmaßnahmen in diesem Bereich durchaus wirken. Die Arbeitgeber haben im Übrigen Stephan Stracke (CDU/CSU): auch ein hohes Eigeninteresse, dass es dabei bleibt. Jeder Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- möchte nämlich, dass sein Betrieb entsprechend läuft, ren! Homeoffice überall dort, wo es geht, ist die richtige und niemand möchte, dass es letztendlich flächende- Strategie, um dem Infektionsgeschehen im beruflichen ckend zu Schließungen kommt, wie wir es im Frühjahr Alltag letztendlich wirksam zu begegnen. Mehr mobile des letzten Jahres erleben mussten. Arbeit als bisher, das muss der Anspruch sein. Allerdings sehen wir natürlich auch, dass die Muta- Darüber hinaus muss weiterhin mit größter Sorgfalt auf tionslage uns Sorgen bereiten wird. Deswegen ist nicht die Einhaltung der Arbeitsschutzstandards geachtet wer- auszuschließen, dass hier die Arbeitsschutzstandards und den. -regeln noch mal angepasst werden, beispielsweise was den Gebrauch von FFP2-Masken angeht oder was (Beifall der Abg. Beate Müller-Gemmeke Abstände betrifft und vieles mehr. Aber neue gesetzliche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Pflichten sind nicht sinnvoll. Sie führen nur zu mehr Das ist auch das zentrale Ergebnis des gestrigen Home- Unsicherheit, mehr Frustration und mehr Bürokratie. office-Gipfels von Markus Söder mit den Sozialpartnern (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE in Bayern. Es braucht keine Homeoffice-Pflicht per Ge- GRÜNEN]: Warum denn?) (B) setz; darin waren sich alle Gesprächspartner einig. Mehr (D) mobile Arbeit im Homeoffice ist vielmehr eine Aufgabe Ein Beispiel: Mobile Arbeit hat natürlich faktische der Wirtschaft, aber nicht nur der Wirtschaft, sondern Grenzen, etwa in der Produktion, im Handwerk, natürlich auch der öffentlichen Arbeitgeber. Deswegen ist natürlich die Erwartungshaltung, dass auch die öffent- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE liche Hand entsprechend vorangeht und mehr Homeof- GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht!) fice bereitstellt, richtig. Es ist gut, dass Bayern in diesem im geöffneten Einzelhandel, in der Gastronomie. In Bereich tatsächlich auch vorangehen will. Das löst auch Bayern sind rund 45 Prozent der Betriebe überhaupt nicht einen Digitalisierungsschub aus, der weit über diese Pan- für Homeoffice geeignet bzw. da ist es nicht möglich. Soll demie hinausreichen wird, meine sehr verehrten Damen man jetzt erst mal dokumentieren, wo es überall möglich und Herren. ist und wo nicht? Dann wird die Pandemie rum sein, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bevor man seine Dokumentationspflichten erfüllt hat. Deswegen muss nicht „mehr dokumentieren“, sondern Das mobile Arbeiten hat seit Beginn der Pandemie im „mehr machen“ die Devise sein. Da fallen die Grünen Frühjahr 2020 deutlich zugenommen. So hat etwa jeder wieder in alte Reflexe hinein, nämlich zunächst einmal vierte Betrieb in Deutschland im Zuge der Covid-19-Pan- zu verbieten, statt einfach auf Anreize zu setzen. demie die Möglichkeit für Homeoffice und Telearbeit für die Beschäftigten erleichtert, und gut jeder dritte Be- Genau das ist unser Ansatzpunkt: Anreize statt Ver- schäftigte arbeitet derzeit im Homeoffice. Das zeigt: bote. Denn mobiles Arbeiten ist durchaus vorausset- Die Unternehmen und die Beschäftigten stellen sich den zungsstark, Herausforderungen. In den Betrieben gelten hohe Stan- dards zum Schutz der Beschäftigten vor dem Coronavi- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rus. Die Arbeitsschutzregel konkretisiert letztendlich hier gerade was die technischen Voraussetzungen angeht. Es diesen hohen Standard mit insgesamt 17 Punkten, und geht um mobile Endgeräte, Softwareprogramme, es geht Homeoffice ist einer von 17. Das heißt: Homeoffice ist um technologische Rahmenbedingungen, eine funktion- kein Allheilmittel, sondern Teil einer Gesamtstrategie, ierende IT-Infrastruktur, die sicher und stabil sein muss. um das Infektionsrisiko für die Beschäftigten zu senken All das funktioniert nicht per Knopfdruck, sondern kostet und Neuinfektionen im betrieblichen Alltag zu verhin- natürlich auch noch viel Geld. Dieser Aufgabe stellen dern. sich die Unternehmen. Aber ihnen Anreize zu bieten, Die Arbeitsschutzregeln werden insgesamt, finde ich, sie zu unterstützen bei dieser herausfordernden Aufgabe sehr erfolgreich umgesetzt. mit steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten, ist extrem Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25761

Stephan Stracke (A) wichtig. Und der Ministerpräsident Markus Söder hat ja Schrumpfung ist, dass schon kleine Änderungen im (C) hierzu auch entsprechende Vorschläge unterbreitet. Ich Exponenten einen großen Ausschlag, also eine stärkere halte sie für sehr, sehr gut. Verlängerung oder Verkürzung, ergeben können. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Also, liebe Wirtschaft: Ich lobe erst mal all diejenigen, die ihre Beschäftigten schon ins Homeoffice geschickt Auch dass beispielsweise Bundesminister Scheuer den haben. Aber alle anderen, bitte erklärt nicht nur uns, Vorschlag gemacht hat, für Haushalte mit schlechter was wir zu tun haben, sondern überlegt mal selber, was Internetverbindung zusätzliche Zuschüsse für einen ihr tun könnt. Satellitenanschluss zu organisieren, zeigt: Schnelligkeit und Kreativität sind in diesen Bereichen gefragt. Das (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Hast du zeichnet uns aus, weil es uns darum geht, letztendlich deine Leute schon ins Homeoffice geschickt?) diese Pandemie wirkungsvoll zu bekämpfen. Das tun wir zusammen mit der Wirtschaft und dem Staat. – Ich sehe, Matthias Zimmer, sehr viele Abgeordnete allein im Büro, und es funktioniert. Ich habe viel gelernt. Herzliches Dankeschön. Es hat einen Digitalisierungsschub bei mir im Büro gege- ben. Ich sage allen Arbeitgebern: Probiert es mal aus. Es (Beifall bei der CDU/CSU) nützt euch nämlich selbst am meisten, weil eure Beschäf- tigten gesund bleiben und der Lockdown endlich schnel- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ler gelockert werden kann. Es nützt uns als gesamter Vielen Dank, Stephan Stracke. – Die voraussichtlich Gesellschaft. letzte Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe, SPD- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fraktion. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Sicher wäre ein Recht auf Homeoffice das probateste Mittel; Hubertus Heil hat es jetzt nicht in der Regierung Daniela Kolbe (SPD): durchsetzen können. Er hat aber viele Vorschläge Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gemacht, die auch in der Pandemie Sinn machen, etwa Kollegen! Mein Kollege Martin Rosemann hat vorhin zur Wegefrage, also dazu, den Unfallschutz zu klären, hier – da ging es um das Thema SGB II – das Märchen auch dazu, die Rechte von Beschäftigten im Homeoffice von Hase und Igel bemüht. Er erzählte von dem grünen zu klären. Ich hoffe, dass wir das hier weiter besprechen Hasen, der sehr viel Wichtiges fordert, und von dem roten werden. Igel Hubertus, der ruft: „Ick bin allhier.“ (B) Meine Erfahrung ist jedenfalls: Es funktioniert gut. Es (D) Ein bisschen ist es jetzt der Teil 2 zum Thema Home- macht Beschäftigte auch glücklich. Aber meine Beschäf- office und auch zum Thema Arbeitsschutz; denn tigten wären auch sehr glücklich, wenn sie, weil die Inzi- Hubertus Heil hat sich das Thema Homeoffice nun wirk- denzzahlen nach unten gegangen sind, endlich ihre Mitar- lich nicht erst seit gestern auf die Fahne geschrieben. Er beiterinnen und Kollegen mal mit einem guten Gefühl hat eine Initiative zum Homeoffice auf den Weg gebracht. wiedersehen. Dafür tragen wir alle eine Verantwortung. Auch das Thema „Arbeitsschutz während der Pandemie“ Vielen Dank. steht bei ihm ganz oben auf der Agenda. Wir haben ge- meinsam das Arbeitsschutzkontrollgesetz mit breiter (Beifall bei der SPD) Mehrheit beschlossen. Der SARS-CoV-2-Arbeits- schutzstandard gilt, und die SARS-CoV-2-Arbeitsschutz- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: regel gilt seit August. Da steht extrem viel drin zum Thema „mehr Homeoffice“, aber auch dazu, wie man Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. die Menschen schützen kann, die eben nicht im Home- Wir kommen zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ office arbeiten können. Daran sieht man, dass im Arbeits- Die Grünen auf Drucksache 19/25798 mit dem Titel ministerium jemand sitzt, der an der Seite der Beschäftig- „Homeoffice-Gebot und Arbeitsschutz in der Pandemie ten steht und versucht, ihre Gesundheit zu schützen. konsequent durchsetzen“. Die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen wünscht Abstimmung über ihren Antrag in (Beifall bei der SPD) der Sache. Hingegen verlangen die Fraktionen CDU/ Ebenjener Hubertus Heil hat gestern mit Personalern CSU und SPD Überweisungen an folgende Ausschüsse: der großen Unternehmen gesprochen und ist einen ganz Federführung: Ausschuss für Arbeit und Soziales, Mit- massiven Appell losgeworden. Denn ja: Wo man Home- beratung: Ausschuss für Wirtschaft und Energie, Aus- office machen kann, muss das auch passieren, und die schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Aus- meisten Unternehmen wissen aus eigener Erfahrung: Da schuss für Gesundheit und schließlich Ausschuss Digitale bricht nicht alles zusammen. In Wahrheit läuft dann man- Agenda – also eine umfassende Beratung in vielen Aus- ches sogar besser. schüssen. Ein weiteres Zögern und Zaudern werden wir als Deut- Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den scher Bundestag hier jedenfalls nicht unkommentiert ste- Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich darf Sie fra- hen lassen können; denn das verlängert den Lockdown gen: Wer stimmt für die Überweisung? – CDU/CSU, für uns alle und auch für die deutsche Wirtschaft. Der SPD, AfD und FDP. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/ Spaß bei exponentiellem Wachstum und eben auch Die Grünen und Linke. – Enthaltungen keine. Dann ist 25762 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) die Überweisung so beschlossen. Wir stimmen also über Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- (C) den Antrag auf Drucksache 19/25798 nicht in der Sache tages auf Mittwoch, 27. Januar 2021, 13 Uhr, ein. ab. Die Sitzung ist geschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- nung. (Schluss: 21.04 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25763

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Bach, Bela SPD Nolte, Jan Ralf AfD Baradari, Nezahat SPD Nord, Thomas DIE LINKE Bluhm-Förster, Heidrun DIE LINKE Petry, Dr. Frauke fraktionslos Bystron, Petr AfD Pilger, Detlev SPD Damerow, Astrid CDU/CSU Remmers, Ingrid DIE LINKE Esdar, Dr. Wiebke SPD Rimkus, Andreas SPD Fischer (Karlsruhe-Land), CDU/CSU Rüffer, Corinna BÜNDNIS 90/ Axel E. DIE GRÜNEN Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU Glöckner, Angelika SPD Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gohlke, Nicole DIE LINKE Schneidewind-Hartnagel, BÜNDNIS 90/ Hänsel, Heike DIE LINKE Charlotte DIE GRÜNEN Hebner, Martin AfD Schön, Nadine CDU/CSU Heinrich, Gabriela SPD Seitz, Thomas AfD (B) (D) Herzog, Gustav SPD Skudelny, Judith FDP Heßenkemper, Dr. Heiko AfD Steffel, Frank CDU/CSU Irlstorfer, Erich CDU/CSU Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE Kaiser, Elisabeth* SPD Wagner, Andreas DIE LINKE Kamann, Uwe fraktionslos Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kemmer, Ronja* CDU/CSU Weber, Gabi SPD Kluckert, Daniela FDP Weiler, Albert H. CDU/CSU Kuffer, Michael CDU/CSU Weingarten, Dr. Joe SPD Landgraf, Katharina CDU/CSU Zdebel, Hubertus DIE LINKE Launert, Dr. Silke CDU/CSU Ziemiak, Paul CDU/CSU Lehmann, Sylvia SPD Zimmermann, Pia DIE LINKE Ludwig, Dr. Saskia CDU/CSU

Martens, Dr. Jürgen FDP * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Mattfeldt, Andreas CDU/CSU Miazga, Corinna AfD Müller, Bettina SPD Müller-Rosentritt, Frank FDP Noll, Michaela CDU/CSU 25764 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Anlage 2 teien, weniger zwischen Personen. Die Personen werden (C) dafür von den Mitgliedern der Parteien oder deren Dele- Erklärungen nach § 31 GO gierten direkt und regional in den Aufstellungsversamm- zu der namentlichen Abstimmung über den Antrag lungen gewählt. Daher ist eine Durchführung von Auf- der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feststel- stellungsversammlungen in Präsenz ein zentrales lung gemäß § 52 Absatz 4 Satz 1 des Bundeswahl- Element der demokratischen Willensbildung, auf das gesetzes nicht verzichtet werden kann. (Zusatzpunkt 16) Ihre Durchführung ist auch in Zeiten einer anstecken- den Krankheit möglich und vertretbar: So zeigen der von Andreas Bleck (AfD): Mit der Feststellung gemäß der AID durchgeführte Parteitag in Kalkar und die Auf- § 52 Absatz 4 Satz 1 BWahlG wird das Bundesministe- stellungsversammlungen in Rheinland-Pfalz, Sachsen- rium des Innern, für Bau und Heimat ermächtigt, im Falle Anhalt und Niedersachsen, dass von solchen Veranstal- einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Ereignisses tungen keine erhöhte Infektionsgefahr ausgeht. Doch höherer Gewalt durch Rechtsverordnung mit Zustim- selbst wenn dies der Fall wäre, sind die allermeisten Mit- mung des Deutschen Bundestages von den Bestimmun- glieder auf Aufstellungsversammlungen in einer Alters- gen über die Aufstellung von Wahlbewerbern abweichen- gruppe, in der ein schwerwiegender oder tödlicher de Regelungen zu treffen und Abweichungen der Parteien Krankheitsverlauf bei Infektion mit dem Coronavirus von entgegenstehenden Bestimmungen ihrer Satzun- höchst unwahrscheinlich ist. Wir sind neben der körper- gen zuzulassen, um die Benennung von Wahlbewerbern lichen Unversehrtheit vor allem der Demokratie ver- ohne Versammlungen, soweit erforderlich, zu ermögli- pflichtet, die auch in Ausnahmesituationen unverändert chen. funktionieren muss. Ein Land, in dem über 100 000 Men- schenleben im Jahr abgetrieben werden, sollte nicht Dadurch kann sichergestellt werden, dass die Parteien wegen der Gefahr einzelner Komplikationen ihre demo- vor dem Hintergrund der Einschränkungen wegen der kratischen Personalfindungsprozesse über Bord werfen. Coronamaßnahmen der Länder auch bei entgegenstehen- Aufstellungsversammlungen sind möglich und sie sind den Bestimmungen ihrer Satzungen Wahlbewerber auf- unverzichtbar. stellen können. So ist in Bayern die Durchführung von Versammlungen zur Aufstellung von Wahlbewerbern mit mehr als 100 Personen in geschlossenen Räumen zurzeit nicht möglich. Zwar klagt die AfD Bayern dagegen, aber Anlage 3 ob sie recht bekommt, ist ungewiss. Inwieweit sich für die Erklärung nach § 31 GO (B) Parteien konkrete Vor- oder Nachteile ergeben, hängt (D) vom Entwurf der Rechtsverordnung ab. Mit der Feststel- des Abgeordneten Hans-Jürgen Irmer (CDU/CSU) lung gemäß § 52 Absatz 4 Satz 1 BWahlG trifft der zu der namentlichen Abstimmung über den Antrag Bundestag keine Entscheidung in dieser Sache. der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feststel- Allerdings lehne ich das Hauruckverfahren, mit dem lung gemäß § 52 Absatz 4 Satz 1 des Bundeswahl- die Fraktionen CDU /CSU und SPD ihren Antrag in den gesetzes Bundestag eingebracht haben, ab. (Zusatzpunkt 16) Norbert Kleinwächter (AfD): Dürfen wir – selbst in Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt. Mein einer Pandemie – die Grundregeln unseres demokrati- Votum lautet Ja. schen Zusammenlebens ändern? Ich glaube nein. Die vorliegende Drucksache, die die Koalitionsfraktio- nen kurzfristig eingebracht hatten, soll den Bundestag Anlage 4 feststellen lassen, dass die Durchführung von Aufstel- lungsversammlungen zur Bundestagswahl ganz oder teil- Zu Protokoll gegebene Rede weise unmöglich sei. Doch was soll dann folgen? zur Beratung der Antwort der Bundesregierung Angedachte digitale Formate oder Briefwahlen können auf die Große Anfrage der Abgeordneten Christine die unbedingt nötige persönliche Kommunikation auf Buchholz, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weite- einem Parteitag – zwischen Kandidaten und wählenden rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mitgliedern einerseits und unter den Mitgliedern anderer- Antimuslimischer Rassismus und Diskriminierung seits – nicht ersetzen. Aufstellungsversammlungen wer- von Muslimen in Deutschland den so zu undirektionalen Beschallungsprogrammen ohne Kommunikation. Wer keine ausreichende Internet- (Tagesordnungspunkt 20) verbindung oder Computerkenntnisse hat, ist im Nach- teil. Aufstellungsversammlungen werden von der Prä- Hans-Jürgen Irmer (CDU/CSU): Gewalt gegen wen senz in einen unregulierten Bereich verschoben, dessen auch immer, Diskriminierung gegen wen auch immer, ist Nachteile noch niemand umfassend bewerten kann. grundsätzlich inakzeptabel! Es gibt keine Legitimation Dies ist vor dem Hintergrund der Bedeutung der Auf- für die Ausübung von Gewalt. Das gilt für Angriffe auf stellungsversammlungen von besonderer Relevanz. Die Moscheen, das gilt für Angriffe auf Asylantenheime, das Bundestagswahl ist vor allem eine Wahl zwischen Par- gilt für Angriffe auf Kopftuchträgerinnen – das gilt aber Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25765

(A) genauso auch für Angriffe auf Kippa-Träger, deutsche Trennung von Staat und Religion, die Gleichwertigkeit (C) Bürger, Rettungskräfte oder Polizeibeamte. Diese Fest- von Mann und Frau, die Akzeptanz von Homosexualität stellung gehört zur Grund-DNA von CDU und CSU. gibt. Und davon gibt es zu viele! Fragen Sie einmal Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SED-recht- unsere christlichen Glaubensbrüder und -schwestern, identischen Linkspartei, mit Ihrem Antrag bedienen Sie die dort leben. Grundlage all dieser Verhaltensmaßnah- ausgerechnet den Vorwurf ultrakonservativ-orthodoxer men und -regeln ist der Koran, in dem 200 Suren zu Moslemverbände wie zum Beispiel des Zentralrats der Kampf und Vernichtung der Ungläubigen auffordern Muslime, der durch seinen Vorsitzenden Mazyek bereits und nebenbei im Übrigen den Religionswechsel bei- im März 2018, also vor knapp drei Jahren, in der IZ spielsweise zum Christentum mit dem Tode bestrafen („Islamische Zeitung“) eine neue Dimension eines anti- (Apostasie). muslimischen Rassismus beklagt hat. Mit anderen Wor- Ich würde mir wünschen, dass die führenden Vertreter – ten: Muslime in der Opferrolle, aus der heraus man mit gerade des orthodoxen Islam – ihren Leuten erklären viel Erfolg Forderungen stellen kann. Ein Mazyek, der würden, alle diese kriegerischen Verse aus der moham- Grundgesetz und Scharia für kompatibel hält, der für das medanischen Zeit – es gab auch eine friedfertige Zeit – Kopftuchtragen muslimischer Frauen ist, weil dies sind nur erklärbar aus dem historischen Kontext heraus angeblich eine islamische Pflicht sei, der erklärt, dass und haben für moderne Muslime keinerlei Bedeutung ein Moslem die Ehe einer muslimischen Frau mit einem mehr! Das wäre die Aufklärung, die das Christentum, „Ungläubigen“ nicht unterstützen kann, und der gegen das auch dunkle Kapitel hatte, hinter sich hat. Ich würde eine Preisvergabe durch die FDP an Necla Kelek protes- mir wünschen, dass all die Rechte, die Muslime zurecht tiert hat, und der im Übrigen eng mit den Muslimbrüdern in Deutschland einfordern, auch in allen muslimischen und der ATIB, also den Grauen Wölfen, verbunden ist. Ländern Christen, Buddhisten, Hindus oder Atheisten Das ist einer Ihrer Kronzeugen. gegenüber ebenso eingeräumt würden. Dann wäre ich Ein anderer Kronzeuge ist der von Enes Bayrakli und gerne bereit, zu akzeptieren, dass man Islam nicht mit Farid Hafez, zwei selbsternannten österreichischen Isla- „Unterwerfung“, sondern mit „Friede“ übersetzt. mophobie-Forschern, erstellte sogenannte europäische Und zum Schluss: Ich würde mir wünschen, dass sich Islamophobie-Report –, herausgegeben im Übrigen von Muslime deutschlandweit als ehrenamtliche Vorstände in der türkischen Seta-Stiftung, Gründer ist Ibrahim Kalin, Sportvereinen, in Kulturvereinen, als Elternvertreter, als heutiger Sprecher und Berater von Erdogan, also AKP- Übungsleiter, als Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr, nah, kofinanziert von der EU-Kommission mit des THW, des DRK, des Malteserhilfsdienstes engagie- 130 000 Euro, was – aus meiner Sicht zurecht – Manfred ren würden – das Ganze flächendeckend, der Nachbar Weber von der CSU ebenso kritisiert wie Kollegin Nicole (B) von nebenan. Das wäre gelebte Integration, und so man- (D) Beer von der FDP. Ziel dieses Reportes ist es natürlich, che Diskussion würde sich damit von allein erledigen. jegliche Kritik am Islam zu unterbinden, indem Islam- kritik mit Rassismus gleichgestellt wird. Wer also Kritik am Islam übt, ist nach deren Verständnis automatisch Anlage 5 Rassist. Das erinnert mich ein klein wenig an den mar- xistischen Dreisprung: „Diffamieren – Isolieren – Liqui- Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung dieren.“ Im Übrigen halte ich es für einen Skandal, dass eine Der Bundesrat hat in seiner 998. Sitzung am mit Steuergeldern finanzierte Broschüre anerkannte und 18. Dezember 2020 beschlossen, den nachstehenden integrierte sowie honorige, säkulare Muslime wie Profes- Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Arti- sor Khorchide oder Seyran Ates auf eine Islamophobie- kel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: und damit Rassismus-Liste setzt. Das ist unglaublich! – Gesetz zur Verbesserung der Transparenz in der Was sagen Sie eigentlich dazu? Ist das auch Ihre Auf- Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur fassung? Wie kann es im Übrigen sein, dass in Deutsch- Modernisierung der Sozialversicherungswahlen land säkulare Muslime unter Polizeischutz gestellt wer- und zur Änderung anderer Gesetze (Gesetz Digi- den müssen, nicht weil sie von irgendwelchen dumpfen tale Rentenübersicht) Deutschen bedroht werden, sondern von Vertretern des – Zehntes Gesetz zur Änderung des Weingesetzes politischen Islam? Diese Vertreter sind Ihre Kronzeugen. Ich stehe auf der Seite der säkularen Muslime! Und Sie? – Gesetz zur Verbesserung der Gesundheitsversor- gung und Pflege (Gesundheitsversorgungs- und Meine sehr verehrten Damen und Herren, in einem Pflegeverbesserungsgesetz – GPVG) Punkt haben Sie allerdings Recht: Die Einstellung vieler Bundesbürger zum Thema Islam ist kritisch, ist negativ. Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung Im Übrigens natürlich null Legitimation für Gewalt, um gefasst: das deutlich zu sagen! Aber diese Grundeinstellung ist Zu Artikel 2a – Änderung des Krankenhausfinanzie- da. Die spannende Frage allerdings ist: Warum? Es geht rungsgesetzes nicht um den einzelnen Moslem in der Nachbarschaft, es geht um das Gesamterscheinungsbild des Islam. Das Pro- Mit Artikel 2a des Dritten Gesetzes zum Schutz der blem ist, dass das Bild des Islam zu oft von islamischen Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von natio- Staaten geprägt ist, in denen es keine Religionsfreiheit, naler Tragweite wurde im Lichte des angespannten Meinungsfreiheit, Demokratie, Mehrparteiensystem, die Versorgungsgeschehens erneut die Möglichkeit für 25766 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Krankenhäuser geschaffen, Ausgleichszahlungen für Möglichkeit für Spezialversorger ohne Notfall- (C) coronabedingte Leerstände zu erhalten. Dies wird stufe, wie zum Beispiel Lungenfachkliniken von den Ländern dem Grunde nach begrüßt. oder sonstige internistische Fachkliniken, die Es ist jedoch – wie bereits im Gesetzgebungsverfah- Ausgleichszahlungen zu erhalten. ren vom Bundesrat vorgebracht – zu befürchten, dass Diese Regelungen tragen der Versorgungsreali- die Regelung deutlich hinter den Bedürfnissen der tät nicht hinreichend Rechnung. Insbesondere Praxis zurückbleibt. beachten sie nicht, dass die Einrichtungen der a) Der Bundesrat begrüßt deshalb den von der Bun- Basisnotfallversorger einen nicht unerhebli- deskanzlerin mit den Regierungschefinnen und chen Teil der Versorgungslast tragen. Es steht Regierungschefs der Länder am 25. November konkret zu befürchten, dass sich diese Kranken- 2020 getroffenen Beschluss, wonach das Bundes- häuser als Reaktion auf die neue Regelung aus ministerium für Gesundheit mit dem nach § 24 der Versorgung von COVID-19-Patienten KHG gebildeten Beirat und den Gesundheitsmi- zurückziehen. Gleiches gilt für Fachkliniken nisterinnen und -ministern der Länder zeitnah für Innere Medizin (insbesondere für Lungen- eine erste Bestandsaufnahme machen und gegebe- und Bronchialheilkunde), die nach der derzeiti- nenfalls per Verordnung Anpassungen vornehmen gen Rechtslage selbst bei Vollauslastung der wird. übrigen Intensivkapazitäten keinerlei Aussicht b) Der Bundesrat bittet das Bundesministerium für auf Ausgleichszahlungen haben. Gesundheit, die Auswirkungen der in Artikel 2a Zu Buchstabe e: des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes getroffe- nen Regelungen so bald als möglich zu überprüfen Die Inzidenz ist geeignet, um den zu erwarten- und in enger Abstimmung mit den Ländern im den Anteil an COVID-19-Patienten im Kran- Verordnungsweg Nachbesserungen auf den Weg kenhaus vorherzusagen; eine Korrelation mit zu bringen. den Erlösrückgängen eines Krankenhauses c) Dabei ist insbesondere der Nachrang der Kranken- besteht jedoch nicht. häuser der Basisnotfallversorgung, die einen nicht unerheblichen Teil der Versorgungslast tragen, kri- Auch bei niedrigerer Inzidenz kann es erforder- tisch zu hinterfragen. lich sein, dass Krankenhausbetten freigehalten werden müssen, um eine räumliche Trennung d) Zu prüfen ist zudem, ob internistische Fachklini- von infektiösen und nicht-infektiösen Patienten (B) ken, die keiner Notfallstufe nach den Regelungen sicherzustellen. (D) des Gemeinsamen Bundesausschusses zugeordnet werden können, aber einen relevanten Beitrag bei Außerdem ist der Anteil der Patienten, die sich der Bekämpfung der Coronapandemie leisten, in derzeit für einen elektiven Eingriff entscheiden, die Ausgleichszahlungen einzubeziehen sind. gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen.

e) Der Bundesrat bittet das Bundesministerium für Durch die daraus entstehenden Erlösrückgänge Gesundheit, die 7-Tages-Inzidenz von über 70 je verbunden mit den weiter anfallenden Vorhalte- 100 000 Einwohner des Landkreises beziehungs- kosten ist mit einer erheblichen finanziellen weise der kreisfreien Stadt als ein Kriterium für Mehrbelastung der Krankenhäuser zu rechnen. den Anspruch auf Ausgleichzahlungen zu strei- chen. Zudem besteht die Gefahr, dass durch die aus- Begründung: schließliche Betrachtung der Inzidenz auf Ebene des Landkreises beziehungsweise der Zu Buchstabe a bis d: kreisfreien Stadt inzwischen etablierte Versor- In einem ersten Schritt können nach dem neuen gungsstrukturen sowohl auf Landes- als auch § 21 Absatz 1a KHG nur Krankenhäuser der auf Bundesebene (Kleeblattkonzept) konterka- erweiterten und der umfassenden Notfallversor- riert werden. gung von den Ausgleichszahlungen profitieren, wenn im betreffenden Landkreis oder der kreis- Durch die Festlegung der 7-Tages-Inzidenz auf freien Stadt eine Inzidenz von über 70 je mindestens 70 je 100 000 Einwohner des Land- 100 000 Einwohner vorliegt und im 7-Tages- kreises beziehungsweise der kreisfreien Stadt, Durchschnitt mehr als 75 Prozent der Intensiv- werden somit die Landkreise beziehungsweise kapazitäten belegt sind. kreisfreien Städte mit einer niedrigeren Neuin- fektionsrate benachteiligt. Erst ab einer Belegung von 85 Prozent der Intensivkapazitäten oder wenn in der Kommu- Mit Stand vom 27. November 2020 trifft diese ne kein Krankenhaus der erweiterten oder Benachteiligung auf 16 Prozent aller Landkrei- umfassenden Notfallversorgung vorhanden ist, se beziehungsweise kreisfreien Städte Deutsch- können auch Krankenhäuser der Basisnotfall- lands zu (Datenbasis RKI). versorgung nachrangig zum Bezug von Aus- gleichszahlungen berechtigt werden. Nach der- – Zweites Gesetz zur Änderung des Bundesmeldege- zeitiger Rechtslage besteht außerdem keine setzes (2. BMGÄndG) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25767

(A) Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung (C) gefasst: gefasst: Der Bundesrat bittet die Bundesregierung zu prüfen, Der Bundesrat begrüßt den Eingang einiger im ob die Änderung des § 27 Absatz 4 Satz 3 BMG sach- Gesetzgebungsverfahren geforderter Gesetzesanpas- gerecht ist, und bittet in diesem Sinne spätestens nach sungen in das Jahressteuergesetz 2020. zwei Jahren um Evaluierung der Vorschrift auch unter Der Bundesrat bedauert, dass Anpassungen, die Einbeziehung der Vollzugspraxis in den Justizvoll- sowohl der Entlastung der Bürgerinnen und Bürger zugsanstalten der Länder. als auch der Steuerverwaltung von Bürokratie dienen Begründung: und gleichzeitig den Weg für eine Versorgung mit § 27 Absatz 4 Satz 3 BMG statuiert eine Melde- regenerativen Energien ebnen, nicht vorgenommen pflicht der Anstalten im Fall der nicht nur kurz- wurden. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung fristigen Freiheitsentziehung. Die Mitteilung ent- daher um eine zeitnahe Umsetzung der Steuerbefrei- hält nach § 27 Absatz 4 Satz 3 BMG die in den ung der Einnahmen aus dem Betrieb von Solaranlagen Meldescheinen vorgesehenen Daten. Der Melde- im Sinne des § 3 Nummer 2 des Erneuerbare-Ener- schein umfasst die Personaldaten, insbesondere gien-Gesetzes, die ausschließlich auf der Erzeugung Namensbezeichnung, Geburtsdaten und Anschrif- und Vermarktung von Strom aus einer auf, an oder in ten. einem Gebäude angebrachten, nach dem 31. Dezem- ber 2019 errichteten Solaranlage bis zu einer instal- Die in § 27 Absatz 4 Satz 3 BMG normierte Ver- lierten Leistung von 10 Kilowatt peak (kWp) beruhen. pflichtung der Haftanstalten wurde im parlamen- Die Steuerbefreiung soll auf neu errichtete Anlagen tarischen Verfahren durch Streichung der Ein- beschränkt werden. schränkung „soweit sie der Anstalt bekannt sind“ geändert. Unklar bleibt, ob damit für die Justiz- Begründung: vollzugsanstalten die Pflicht einhergeht, die in Kleine Solar-(Photovoltaik-)Anlagen mit einer dem Meldeschein vorgesehenen Daten selbst zu installierten Leistung bis zu 10 kWp werden typi- erheben, um sie anschließend zu übermitteln. Die scherweise von Eigenheimbesitzern betrieben. Da- Haftanstalten verfügen über keine gesetzliche bei stehen vielfach nicht ökonomische Gründe der Grundlage, um zusätzliche Überprüfungen, Daten- Gewinnerzielung im Vordergrund, sondern insbe- erhebungen oder gar Ermittlungen in melderechtli- sondere ökologische Überlegungen. Allerdings cher Hinsicht vornehmen zu können. Hinzu kom- erfüllt auch der Betrieb einer solchen kleinen men die datenschutzrechtlichen Vorgaben für eine Anlage bei Gewinnerzielungsabsicht den Tatbe- (B) rechtmäßige Datenverarbeitung. stand eines Gewerbebetriebs. (D) – Gesetz zur Änderung des Bundesarchivgesetzes, Die Einspeise- und Entnahmevergütungen sind in des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Einrich- den letzten Jahren kontinuierlich zurückgefahren tung einer oder eines SED-Opferbeauftragten worden. Für im Jahr 2020 neu errichtete Solar- – Gesetz zur Verbesserung des Verbraucherschutzes Anlagen mit einer für Wohnhäuser üblichen Größe im Inkassorecht und zur Änderung weiterer Vor- bis zu 10 kWp beträgt die Einspeisevergütung we- schriften niger als 10 Cent je Kilowattstunde. Damit erge- ben sich bei einer vollständigen Einspeisung von – Gesetz zur Änderung des Justizkosten- und des 10.000 Kilowattstunden pro Jahr in das Netz über Rechtsanwaltsvergütungsrechts und zur Ände- 20 Jahre durchschnittlich Gewinne von weniger rung des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen als 100 Euro pro Jahr. Soweit der erzeugte Strom der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- teilweise selbst verbraucht wird, fällt der Gesamt- und Strafverfahrensrecht (Kostenrechtsände- gewinn noch geringer aus, da der für den entnom- rungsgesetz 2021 – KostRÄG 2021) menen Strom anzusetzende Wert niedriger ist als – Erstes Gesetz zur Änderung des Verpackungsge- die Einspeisevergütung. Eine Fremdfinanzierung setzes der Anlage würde den Gewinn noch weiter – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 19. Februar schmälern. 2013 über ein Einheitliches Patentgericht Hinzu kommt, dass sich neuere Anlagen oftmals – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 5. Mai 2020 deshalb als Totalverlustbetriebe darstellen, weil zur Beendigung bilateraler Investitionsschutzver- sie von vornherein mit einer Batterie verbunden träge zwischen den Mitgliedstaaten der Europä- sind, die sehr teuer in der Anschaffung ist und ischen Union deshalb zu entsprechend hoher Abschreibung führt. – Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushalt- splans für das Haushaltsjahr 2021 (Haushaltsge- Mit dem Gesetz zur weiteren steuerlichen Förde- setz 2021) rung der Elektromobilität und zur Änderung wei- terer steuerlicher Vorschriften vom 12. Dezember – Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeits- 2019 (BGBl. I S. 2451) wurde für die Gewerbe- schutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz) steuer bereits eine Steuerbefreiung von Anlagen – Jahressteuergesetz 2020 (Jahressteuergesetz bis 10 kWp installierter Leistung zum zurücklie- 2020 – JStG 2020) genden Jahreswechsel eingeführt. 25768 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021

(A) Diesem Beispiel folgend sollen die Einnahmen Technikfolgenabschätzung (TA) (C) solcher kleinen Anlagen für die Einkommensteuer Digitale Medien in der Bildung steuerfrei gestellt werden. Damit soll ein bislang wesentliches Hindernis zur Errichtung kleiner Drucksache 18/9606 Anlagen bei der Steigerung des Anteils an regene- – Unterrichtung durch die Bundesregierung rativen Energien im Gebäudesektor beseitigt wer- den. Denn die Erklärungspflichten in der Einkom- Bericht zum Anerkennungsgesetz 2017 mensteuererklärung einschließlich der Anlage Drucksache 18/12756 EÜR erscheinen angesichts der geringen zu erwar- tenden Gewinne aus diesen Anlagen nicht ange- – Unterrichtung durch die Bundesregierung messen. Ebenso sollen Errichter einer solchen Bericht über die Verwendung der 2017 in den Lan- Anlage und das Finanzamt von der Erstellung deshaushalten freigewordenen BAföG-Mittel bzw. Prüfung einer Totalüberschussprognose ent- Drucksachen 19/2498, 19/2768 Nr. 1.3 lastet werden. – Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Vor dem Hintergrund, dass Altanlagen zum Teil Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß noch wesentlich höhere Einspeisungsvergütungen § 56a der Geschäftsordnung erzielen, soll die Steuerbefreiung auf Anlagen be- schränkt werden, die nach dem 31. Dezember Technikfolgenabschätzung (TA) 2019 errichtet werden. Darüber hinaus soll die Robotik und assistive Neurotechnologien in der Steuerbefreiung auch deshalb auf neu errichtete Pflege – gesellschaftliche Herausforderungen Anlagen begrenzt werden, um zu vermeiden, dass Anlagen in eine Steuerbefreiung überführt Drucksache 19/2790 werden, die Anlaufverluste aufgewiesen haben. – Unterrichtung durch die Bundesregierung – Gesetz zur Verbesserung der Hilfen für Familien Bericht über die Verwendung der 2018 in den Lan- bei Adoption (Adoptionshilfe-Gesetz) deshaushalten freigewordenen BAföG-Mittel – Gesetz über eine einmalige Sonderzahlung aus Drucksachen 19/10412, 19/10763 Nr. 3 Anlass der COVID-19-Pandemie an Besoldungs- – Unterrichtung durch die Bundesregierung und Wehrsoldempfänger Bericht zum Anerkennungsgesetz 2019 – Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuld- Drucksache 19/16115 (B) befreiungsverfahrens und zur Anpassung pande- (D) miebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, – Unterrichtung durch die Bundesregierung Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht so- wie im Miet- und Pachtrecht Bericht über die Verwendung der 2019 in den Lan- deshaushalten freigewordenen BAföG-Mittel – Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Drucksachen 19/19630, 19/20213 Nr. 1.6 Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechts- fortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- – Gesetz zur Änderung des Erneuerbare-Energien- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Gesetzes und weiterer energierechtlicher Vor- Beratung abgesehen hat. schriften Ausschuss für Inneres und Heimat Der Bundesrat hat zudem in der oben genannten Sit- Drucksache 19/19658 Nr. A.2 zung beschlossen, der Dritten Verordnung zur Ände- Ratsdokument 7731/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.8 rung der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz Ratsdokument 9180/1/20 REV 1 gemäß Artikel 80 Absatz 2 des Grundgesetzes zuzustim- men. Finanzausschuss Drucksache 19/24803 Nr. A.2 Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirt- EP P9_TA-PROV(2020)0265 schaft hat gemäß § 20 Absatz 5 des Milch- und Fettge- Ausschuss für Wirtschaft und Energie setzes mitgeteilt, dass der Bundesrat in seiner 998. Sit- Drucksache 19/22367 Nr. A.40 zung am 18. Dezember 2020 beschlossen hat, der Ratsdokument 9389/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.41 Verordnung zur Fortentwicklung des Rohmilchgüte- Ratsdokument 9390/20 rechts zuzustimmen (Bundesrat-Drucksachen 676/20 Drucksache 19/23079 Nr. A.41 Ratsdokument 10591/20 (Verordnung) und 676/20 (Beschluss)). Drucksache 19/24803 Nr. A.3 Ratsdokument 12623/20 Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung hat mitgeteilt, dass er gemäß § 80 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Bericht- Drucksache 19/24546 Nr. A.19 Ratsdokument 12189/20 erstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 19/24803 Nr. A.4 EP P9_TA-PROV(2020)0255 – Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Drucksache 19/24803 Nr. A.5 EP P9_TA-PROV(2020)0256 Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß Drucksache 19/24803 Nr. A.6 § 56a der Geschäftsordnung Ratsdokument 12361/20 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2021 25769

(A) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ratsdokument 11420/20 (C) Drucksache 19/24803 Nr. A.7 Drucksache 19/24546 Nr. A.27 Ratsdokument 12477/20 Ratsdokument 11400/20 Drucksache 19/24546 Nr. A.28 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ratsdokument 11406/20 Drucksache 19/3112 Nr. A.54 Drucksache 19/24803 Nr. A.8 Ratsdokument 9229/18 EP P9_TA-PROV(2020)0282 Drucksache 19/22367 Nr. A.69 Ratsdokument 9278/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.71 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ratsdokument 9349/20 Drucksache 19/17195 Nr. A.21 Drucksache 19/24153 Nr. A.11 Ratsdokument 5849/20

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333