Jena - eine Episode aus Gershom Scholems Leben 73

Jena – eine Episode aus Gershom Scholems Leben

Im Oktober 1937 richtete Gershom Scholem „Ein offenes Wort über die wahren Absichten [s]eines Kabbalastudiums“ an Salman Schocken. Auf diesem Wid- mungsblatt zum 60. Geburtstag des Verlegers blickte Scholem auf die Anfänge seiner systematischen Erforschung der Kabbala im Frühjahr 1919 zurück. „Drei Jahre, die für mein ganzes Leben bestimmend geworden sind, 1916-1918, lagen hinter mir: sehr erregtes Denken hatte mich ebensosehr zur rationalsten Skepsis meinen Studiengegenständen gegenüber wie zur intuitiven Bejahung mystischer Thesen geführt, die haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilismus lagen.“1 In diese Zeit fällt Scholems Semester an der Universität Jena. Obwohl er sich nur gut sieben Monate in Jena aufhielt, ist das Wintersemester 1917/18 in seinen Tagebüchern, Erinnerungen und Briefen verhältnismäßig ausführlich dargestellt und in der Forschungsliteratur intensiv ausgewertet worden. Da wesentliche Mo- mente des Jenaer Universitätsbesuchs sowohl in den Erinnerungen als auch in der Literatur über Scholem trotzdem unklar geblieben sind, sehen wir uns dieses le- bensbestimmende Halbjahr etwas genauer an. Der Kriegsgegner Scholem war am 18. Juni 1917 zum Militärdienst nach Al- lenstein in Ostpreußen eingezogen worden. Er lehnte sich gegen alles auf, was dort geschah und wurde schon im August beurlaubt. Das gab ihm die Möglich- keit, an die Universität zurückzukehren. , wo er von 1915 bis zum Winter 1916/17 Mathematik und Philosophie studiert hatte, zog ihn nicht mehr an. Scho- lem wollte an eine kleinere Universität, in eine ruhigere Stadt und schwankte zwischen Heidelberg und Jena. Für Jena sprach, daß einige seiner Heidelberger Bekannten im Sommer 1917 dorthin gegangen waren. Außerdem saß sein Bruder Werner wegen Majestätsbeleidigung in Halle (Saale) im Gefängnis, und von Jena aus war es leicht, ihn von Zeit zu Zeit zu besuchen. Scholem hatte sich offenbar sehr genau auf Jena vorbereitet und dabei Walter Benjamin um eine Einschätzung der Jenaer Philosophen gebeten. Anfang Sep- tember schrieb dieser aus St. Moritz, daß Bruno Bauch kaum mehr als einige Details der philosophischen Forschung übermitteln könne. Wesentlich günstiger fällt Benjamins Urteil über Paul F. Linke aus: „Linke wird meines Wissens in phänomenologischen Kreisen nicht sehr geschätzt; doch habe ich einem Aufsatz von ihm einige Belehrung über das Wesen der Phänomenologie oder das was er dafür ansieht zu danken.“2 Scholem kam am 13. September 1917 nach Jena,3 entrichtete am 1. Oktober die Aufnahmegebühr und wurde am 9. Oktober immatrikuliert.4 Die Vorlesungen begannen, anders als im Vorlesungsverzeichnis angekündigt, am 2. Oktober.5 Da einige Dozenten aber erst am 8. Oktober anfingen, wird Scholem die erste Se-

1 G. Scholem, Ein offenes Wort über die wahren Absichten meines Kabbalastudiums, in: G. Scholem, Briefe I: 1914-1947, hg. von I. Shedletzky, München 1994, S. 471. 2 W. Benjamin, Gesammelte Briefe. Band I: 1910-1918, Frankfurt am Main 1995, S. 380. 3 G. Scholem, Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen. 2. Halbband 1917-1923, Frankfurt am Main 2000, S. 36. 4 Universitätsarchiv Jena (UAJ) Zählkarte Studentenkartei 1920-1935, 1281, veröf- fentlicht in B. Kirsche, Zur Geschichte der Juden an der Universität Jena, in: Juden in Jena, hg. vom Jenaer Arbeitskreis Judentum, Jena 1998, S. 123. 5 UAJ, BA 133, Bl. 100-103. Die Verlegung wurde von den Regierungen angeordnet, um Heizmaterial zu sparen.

© Koninklijke Brill NV, Leiden ZRGG 60, 1 (2008) Also available online - www.brill.nl 74 UWE DATHE mesterwoche auch dazu genutzt haben, um sich einen Eindruck von den Dozen- ten zu verschaffen. Bei Rudolf Eucken, dem wirkungsmächtigsten und berühm- testen Gelehrten der Universität, saß er einmal im Hörsaal, entschied sich dann aber für andere Veranstaltungen. Die appellative Weltanschauungslehre des No- belpreisträgers konnte Scholems Ansprüchen an stringente Begründungen nicht genügen. Ende der Woche wußte Scholem, was er hören wollte. Er schrieb am 6. Oktober an Werner Kraft: „Vielleicht interessiert Sie mein Vorlesungsplan. Ich höre eine Einleitung in die Theoretische Physik [Felix Auerbach], eine flächen- theoretische Vorlesung [Robert Haußner] und eine über besondere geometrische Gebilde und Sätze [Johannes Thomae], eine Logik [Bauch] nebst einem Seminar über Lotze’s Logik [Bauch], eine Vorlesung über Philosophie als Ideenlehre [Lin- ke], die mir eine Einleitung in den Gedankenkreis der Husserlschen Schule („Phä- nomenologie“) verspricht und ein Seminar über das Problem der Allgemeinheit und Notwendigkeit von Hume bis Husserl [Linke], so daß ich also nicht zuviel höre und doch manche Anregung davon haben werde, auf allen Gebieten.“6 Bemerkenswert an diesem Plan ist mehreres. Erstens: Scholem blieb genügend Zeit für seine vielen außeruniversitären Tätigkeiten. Er setzte in Jena sein autodi- daktisches Hebräischstudium fort, gab jüdischen Kommilitoninnen Unterricht in dieser Sprache, arbeitete an der Übersetzung der „Klagelieder“7, kümmerte sich um organisatorische Fragen der zionistischen Jugendbewegung, weswegen er unzähli- ge Briefe schrieb und oft umherreiste, besuchte seinen Bruder im Gefängnis und unternahm viele Ausflüge in die malerische Umgebung Jenas. Zweitens: Anders als in Berlin dominieren nicht mehr rein mathematische Vorlesungen. Im Vergleich mit Berlin, wo Scholem so bedeutende Mathematiker wie Ferdinand Georg Frobe- nius, , Erhard Schmidt, Friedrich Schottky, Hermann Amandus Schwarz und gehört hatte, besuchte er in Jena Vorlesungen bei dem wissenschaftlich unbedeutenden Haußner bzw. bei Thomae, der zwar als Forscher Großes geleistet hatte, im Winter 1917/18 aber längst mit seinen Kräften am Ende war und nur noch aushilfsweise las. Die „Allgemeine Funktionentheorie“ des gera- de auf diesem Gebiet herausragenden Paul Koebe wird er ausgelassen haben, weil er schon in Berlin gute Funktionentheoretiker gehört hatte. Drittens: Auerbachs Vorlesungen galten als didaktisch hervorragend; die „Theoretische Physik” bot eine Ergänzung zu Heinrich Rubens’ „Experimentalphysik” in Berlin und paßte gut in Scholems allgemeinen Berufsplan. In Jena dachte er noch fest daran, nach Beendi- gung der Universität als Lehrer für Mathematik und Physik nach Palästina zu ge- hen.8 Viertens: Sein philosophisches Programm zeichnet sich dadurch aus, daß Veranstaltungen zur praktischen Philosophie fehlen. Seit den Berliner Studienta- gen interessierte sich Scholem vor allem für Erkenntnistheorie, Logik und Philoso- phie der exakten Wissenschaften. Dieses Interesse glaubte er bei Bauch und Linke befriedigen zu können, die Titel der Vorlesungen und Übungen versprachen eini- ges. Aber schon nach den ersten Sitzungen notierte Scholem ins Tagebuch: „Idee zu einer Komödie: das Bauchweh, eine Vorlesung bei Bauch. In drei Akten. / Oder: Psychologie wider Willen. Steriler Schurke. Idiot“ Und eine Woche später: „Bauch ist ein Idiot. Linke ist bedeutend klüger.“9 Was störte Scholem an Bauch? Vom

6 Scholem (wie Anm. 1), S. 113. Die Namen der Dozenten haben wir hinzugefügt, vgl. Vorlesungsverzeichnis der Universität Jena für das Wintersemester 1917/18. 7 Vgl. Scholem (wie Anm. 3), S. 112-127, dazu die editorische Notiz S. 112. 8 Seinem Freund Aharon Heller teilte er mit, daß Auerbach Jude sei. In: Scholem, Briefe I (wie Anm. 1), S. 109. 9 Scholem (wie Anm. 3), S. 53 und S. 60.