reise Des Lebens süsse Seite 1 An der Uferpromenade in Santa Maria di scheint die Zeit stillgestanden zu sein 2 Eine Sünde wert: die Gebäck- spezialitäten aus dem

Viva la Nostalgia! Rund 100 Kilometer südlich von Neapel beginnt das Cilento, Italiens bestgehütetes Geheimnis. Dabei hat es alles, was ein Sehnsuchtsziel so braucht: viel Kultur, noch mehr Natur und jede Menge Dolce Vita Fotos: Katja Ruge

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MADAME 10/2007 hristus kam nur bis “, heit. Normannen, Byzantiner, Griechen, Zitronenbäume flankieren die uralten schrieb einst der Dichter Carlo Römer und Staufer – alle hinterließen Straßen, über der kleinen Piazza hängt Levi in seinem gleichnamigen ihre sichtbaren Spuren in dieser Region. der Espressoduft wie ein Versprechen, C Bestsellerroman über das kleine Meine erste Erkenntnis: Alles braucht bevor ich einkehre, kaufe ich für ein paar Dorf südlich von Neapel. Und „Grazie a seine Zeit. Habe ich mir vorgenommen, Cent frische Pfirsiche an einem Stra- Dio“, danke Gott, dass auch der Massen- rund 60 Kilometer zu fahren, ist gerade ßenstand. Bei meiner Ankunft in Pioppi, tourismus irgendwo an der -Küste die halbe Wegstrecke zurückgelegt und einem herrlich antiquierten Badeort, ist stoppte und das Cilento dadurch immer schon geht die Sonne unter. Warum nur? es schon Mittag. Der Duft von gebra- noch das bestgehütete Geheimnis von Das Zauberwort heißt Entschleunigung. tenen Garnelen steigt mir in die Nase, Bella Italia ist. Ein Naturparadies, mit Verweilen. Den Augenblick genießen. So und statt die mit Palmen bewachsene 180 000 Hektar der zweitgrößte National- schaue ich den alten Männern in Oglias- Piazza mit den herrschaftlichen Villen park Italiens und seit 1997 UNESCO- tro beim Kartenspiel über die Schulter. anzuschauen, sitze ich schon im „La Weltkulturerbe, was der Region über „Ciao bella“, rufen sie und das Kompli- Caupona“, ein Glas Bombino Bianco vor Nacht 130 Millionen Euro bescherte, die ment trägt mich beschwingt durch den mir, ofenwarmes Brot mit dem besten jetzt liebevoll in die Restaurierung der Abend. Ich spaziere über rausgeputzte Olivenöl der Welt, frische Sardellen. Ge- alten Orte investiert werden. Ansonsten Uferpromenaden, durch unüberschau- nießen macht glücklich. Mein Blick hat sich nicht allzu viel getan, irgendwie bares Gassengewirr, vorbei an verfalle- schweift zum Meer, bunte Holzboote, erinnert alles ein bisschen an die Film- nen, mit Jasmin und Efeu überwucher- Gozzi, dümpeln auf den Wellen, Fischer klassiker der Sechziger, mit dem Unter- ten Adelspalästen und Klostergemäuern. sitzen am Kai, reparieren ihre Netze, be- schied, dass dies das wahre Leben ist. Entdecke verträumte Dörfer hinter jeder vor sie genau wie ihre Vorfahren vor Das Cilento beginnt bei den Tempelrui- Straßenkurve, auf grünen Hügeln liegen Hunderten von Jahren wieder hinaus- nen von Paestum im Golf von trutzige Burgen. Friedlich ist es hier und fahren. „Es sind weniger geworden, die und endet an den rauen Klippen des heiter, Stress und Hektik wohnen anders- Väter wanderten nach Deutschland aus“, Golfes von Policastro. Dazwischen: ein- wo. Um mich herum nichts als wilde, erzählt Julio, dem die kleine Strandbar same Bergdörfer, endlose Sandstrände, urwüchsige Landschaft mit blühenden gehört, doch ein Lachen blitzt in seinen Wasserfälle, verschwiegene Buchten, Wiesen, satten Weinreben und türkis- Augen auf, als er von den Kindern spricht, mystische Grotten und ganz viel Platz klarem Meer. Duftende Bougainvilleen, die allmählich wieder in ihre Heimat zu- zum Sein. Was es mit den wuchtigen Sa- Oleanderbüsche und leuchtender Gins- rückkehren, luxuriöse Landgüter eröff- razenentürmen aus dem 12. und 13. ter führen zu kleinen Orten, in denen nen und Restaurants übernehmen. Jahrhundert auf sich hat, erklärt mir der Wäscheleinen quer zwischen den Häu- Das Wetter ist zu schön, und so streiche Fischer Massimo im kleinen Küstendörf- sern gespannt sind. ich zunächst meinen Besuch im verschro- chen Marina di : „Früher Es riecht nach Thymian und wildem Fen- benen Meeresmuseum im Palazzo Vin- dienten sie als Warnsystem, um vor In- chel. Schmetterlinge schwirren durch die ciprova und lasse den frisch renovierten vasoren zu schützen.“ Heute sind sie weiche, warme Luft, aus der Ferne das Palast aus dem 17. Jahrhundert in der Zeitzeugen einer bewegten Vergangen- Blöken eines Schafes, ein sanfter Wind, Sonne strahlen. Lieber weiterziehen, ein ansonsten ist es still. Aufwachen auf ita- Gelato mit weißen Feigen probieren zum Auf Entdeckungsreise 1 Zimmer mit Aus- lienische Art, in einem der schönsten herrlichen Blick über den Golfo di Velia sicht auf dem Landgut „Le Favate“ 2 Luigi Landgüter Süditaliens: „Le Favate“. Von bis zum Capo Palinuro, dessen wilde und Fabio verkaufen den besten Ziegenkäse meinem Zimmer aus blicke ich auf end- Felsverklüftungen wie eine steinerne Rie- von Casal Velino 3 Bei Millemila in Santa Maria gibt es Bücher, schöne Schreibwaren lose Olivenhaine, die Bäume mit dickem senhand ins Meer hineinragen. und Schmuck 4 Kater Leos Lieblingsplatz Rumpf und knorrigen, silbrig schim- Abstecher nach Acciaroli. Kilometerlan- 5 Genau 111 Treppen führen zur Spitze des mernden Ästen. Das leckere Frühstück ge, fast menschenleere Sandstrände säu- Kirchturms in Gioi 6 ist das Dorf der mit Produkten aus eigenem Anbau auf men das Ufer, aber in der kleinen Marina Künstler und Literaten – und es gibt heraus- ragendes Olivenöl 7 Vom Boot aus lassen sich der Terrasse zieht sich, weil ich mich ein- ist ordentlich was los. Der Ort ist ein be- viele einsame Buchten und traumschöne fach nicht losreißen mag … liebter Ankerplatz für Segler aus aller Beaches entdecken wie hier bei Punta Spi- Durch unzählige Kurven führt der holp- Welt, sie treffen sich in den kleinen Bars nosa 8 Frische Blumen auf dem Markt von rige Weg zum Meer. Stunden dauert das, und Restaurants am Hafen und erzählen 9 Der Poseidon-Tempel in Paestum ist mehr als 2500 Jahre alt 10 Das Cilento ge- nicht etwa, weil viel Verkehr ist, sondern von ihren kleinen und großen Abenteu- mütlich erfahren: im klassischen Alfa Spider weil ich ständig anhalten muss. ern. Darauf, dass auch der Schrift- ➛ 109 reise Italienische Idylle 1 In den engen Gassen von Pisciotta kann man sich leicht verirren 2 Einer der freundlichen Bewohner des Nationalparks 3 Die Schutzheilige der Meere ist gleichzei- tig die Namensgeberin für den Ort Santa Maria

Ich fahre lieber auf einer Yacht im Kiel- wasser des griechischen Helden Odysseus die Cilento-Küste entlang, mache einen Abstecher zur Blauen Grotte am Kap von Palinuro. Die steht ihrer berühmten 2 Schwester auf Capri in nichts nach, nur dass man sie fast für sich allein hat. Ge- nau wie die vielen Badebuchten, die im- mer wieder zwischen den bizarr zerklüf- teten Felsformationen auftauchen. Gioi ist ein verschlafenes Bergdorf. Hier leben, so heißt es, die fröhlichsten Hun- dertjährigen der Welt. Und tatsächlich: So schöne alte Gesichter sah ich noch nie, jede Runzel erzählt von Weisheit und Lebensfreude. Ihr Geheimnis verraten sie gern: alles leicht nehmen und genießen. Apropos Genuss: Mein Magen knurrt jetzt und weit und breit ist kein Restau- rant in Sicht. Also wird kurzerhand alles aus den umliegenden Häusern herbeige- schafft, damit die hungrige Fremde doch noch zu Brot, frischem Büffelmozzarella und hausgemachtem Mandelkuchen kommt. Welch ein Mahl, mitten auf dem kleinen Kirchplatz auf klapprigen Stühlen und in bester Gesellschaft! Das 1 3 war übrigens der einzige Fall von lukul- lischem Notstand auf meiner Reise. An- steller Ernest Hemingway hier mehrere Familienkapellen gesäumt sind, gehört sonsten finden sich allerorts erstklassige Monate verbrachte, ist der Friseur Fabio wie in alten Zeiten nur den Fußgängern. Restaurants, die regionale Köstlichkeiten besonders stolz: „Er ging immer mit dem Pisciotta Paese liegt auf einem grünen wie „Rigatoni con fiori di zucca e gam- Fischer Massarone aufs Meer, der hatte Hügel, wie Schwalbennester kleben die beretti“ – Rigatoni mit Zucchiniblüten bei uns den Spitznamen ,U Viecchu‘ (der windschiefen Häuser daran. Schaut man und Shrimps – servieren. Alte)“, erzählt der 70-Jährige. Und ob- in die eine Richtung, blickt man auf Ma- Santa Maria di Castellabate schimmert gleich der Protagonist in Hemingways rina di Pisciotta, das Schwesterdörfchen im Abendlicht. Kinder spielen auf der Klassiker „Der alte Mann und das Meer“ direkt am Tyrrhenischen Meer. Wendet mondän anmutenden Promenade Fuß- ein Kubaner ist, sind sich die Dorfältesten man sich gen Norden, so streckt sich der ball, die Luft schmeckt nach Salz. Ein absolut sicher, dass „U Viecchu“ ihn zu höchste Berg der Region, der 1730 Meter Spaziergang zur Punta Licosa lässt alte seiner Geschichte inspiriert hat. hohe Monte Gelbison, in den Himmel. Sagen wieder aufleben. Man berichtet, Dem Schriftsteller hätte es sicher auch Die Einheimischen glauben, der Berg sei hier hätte die Sirene Leucosia die Seeleu- in Pisciotta gefallen. Der mittelalterliche heilig, und auch für mich hat dieser Ort te mit ihrem Gesang ins Unglück gelockt; Ort ist längst zu einer beliebten Zufluchts- etwas Magisches. Der Weg zum Gipfel- heute leitet der Leuchtturm die Schiffe stätte einer großstadtmüden Künstler- kreuz lohnt, an klaren Tagen kann man sicher über das Meer. Aus den blecher- boheme geworden. Die dicken Altstadt- von hier aus das rund 200 Kilometer ent- nen Boxen eines türkisen Fiat 500 erklin- mauern schlucken jegliches Gehupe der fernte Capri betrachten, das man, wenn gen melancholische Weisen. Die Musik Lastwagen, die sich durch die schmalen man gern einmal einen Tag unter Touris- des Cilento berührt die Seele. Die Lieder Straßen vor dem Borgo zwängen. Das La- ten sein möchte, in knapp zwei Stunden erzählen von Liebe und Sehnsucht. Der byrinth der kopfsteingepflasterten Gas- von Acciaroli mit dem Tragflügelboot er- tiefen Sehnsucht heimzukehren an die- 110 sen, die von Marienfiguren und uralten reichen kann. Aber wer will das schon? sen wunderbaren Ort. Tina Engler MADAME 10/2007