SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

Wer war – und wem gehört er?

Autor: Claus Heinrich Redaktion: Udo Zindel Regie: Claus Heinrich Sendung: Mittwoch, 18.12.2013, 8.30 Uhr, SWR2 Wissen

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Funny van Dannen: „Als Willy Brandt Bundeskanzler war“: „Als Willy Brandt Bundeskanzler war, hatte Vati noch volles Haar, war Ute Lemper noch kein Star, als Willy Brandt Bundeskanzler war.“

OT Collage: „Er war einer der Menschen oder der wichtigste weswegen ich zur Sozialdemokratie gekommen bin.“ (Gerhard Schröder)

„Er war derjenige, der mich bewegt hat, damals noch als junge Frau.“ (Renate Schmidt)

„Für mich ist die SPD identisch mit Brandt. Das klingt zwar komisch, klingt nach Personenkult, aber so war es halt.“ (Hans Ulrich Klose)

„Ich hab natürlich mich schon in der Zeit, als ich in die SPD eingetreten bin, sehr stark an Willy Brandt orientiert.“ (Kurt Beck)

„Gerade wegen eines bürgerlichen Hintergrundes war ich entsetzt über die Dünkelhaftigkeit des Bürgertums im Umgang mit Willy Brandt.“ (Peer Steinbrück)

Sprecher: Es gibt kaum einen lebenden Sozialdemokraten, der nicht wegen oder zumindest auch wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten ist. Keiner seiner mittlerweile zehn Nachfolger im Amt des Bundesvorsitzenden würde es sich erlauben bei seiner Antritts- oder Abtrittsrede auf eine Referenz an Willy zu verzichten. Auch nicht die beiden politischen Enkel, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und Gerhard Schröder:

OT Collage: „Es ist nicht einfach, ein Amt zu übernehmen, das Willy Brandt, Jochen Vogel, Björn Engholm und für uns geführt haben.“ (Oskar Lafontaine)

„In der Nachfolge von und Willy Brandt zu stehen, das war für mich eine große Ehre. Und ich hab es auch als eine Verpflichtung verstanden und so gut zu machen versucht wie ich’s konnte.“ (Gerhard Schröder)

Sprecher: Wer war Willy Brandt – und wem gehört er? – ein Feature von Claus Heinrich.

OT Rainer Ehrt „Wir sprachen schon von den Geheimratsecken, dem Stirngewölbe, dazu die hohen Wangenknochen, eine kraftvolle Kinnpartie, ein Antlitz wie ein offenes Visier. Das spezielle Ensemble von Proportionen, welches einen Charakterkopf ausmacht. Dazu ein Lächeln, das man nicht vergisst. Ebenso wenig übrigens die kratzbürstige Reibeisenstimme.“

Sprecher: So sieht und hört der Cartoonist Rainer Ehrt den großen Sozialdemokraten. Willy Brandt war eine Erscheinung mit großem Wiederkennungswert, was den Karikaturisten, die sein politisches Leben begleitet haben, die Arbeit erleichtert hat. Aber, meint Rainer Ehrt …

OT Rainer Ehrt:‘ … „Hier ist, selbst bei bescheidenstem Strich und konventionellster Figurenkonstellation, wenn Willy Brandt auftaucht, eigentlich immer etwas von Charakter und Profil und Kantigkeit vorhanden, weit entfernt zum Beispiel vom später erfundenen eindimensionalen Kohl- Konterfei als feiste Birne.“

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Sprecher: Charakter, Profil und Kantigkeit – diese Eigenschaften gelten nicht nur für Willy Brandts Physiognomie. Für seine Kantigkeit steht z. B. der zentrale Satz aus seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler 1969:

OT Willy Brandt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

Sprecher: Ein Satz wie ein Fanal. Ein Jahr nach dem Höhepunkt der Studentenunruhen markierte er das Ende der restaurativen Nachkriegszeit. Brandts Satz war der verheißungsvolle Auftakt für das reformhungrige Deutschland. Und zugleich unverzichtbarer Teil seines späteren Vermächtnisses. Gleichberechtigt neben der Entspannungspolitik mit dem Kommunistischen Osten, die Brandt eingeleitet hat. Und an deren Ende, als später politischer Lohn, drei Jahre vor Brandts Tod, der Mauerfall stand:

OT Collage Mauerfall „Der Tag wird kommen an dem das Brandenburger Tor nicht mehr an der Grenze liegt …. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland, ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein … Meine Überzeugung war es immer, dass die betonierte Teilung, und dass die Teilung durch Stacheldraht und Todesstreifen gegen den Strom der Geschichte standen. Berlin wird leben und die Mauer wird fallen … Herr Bundeskanzler, die Früchte von Ost-West-Entspannung und europäischer Umwälzung ernten zu können, ist nicht das schlechteste, was einer Regierung widerfahren kann.“

Sprecher: Willy Brandts Jahrhundertbiografie liefert Stoff für zahlreiche Mythen. Vor 100 Jahren am 18. Dezember 1913 geboren in einem Lübecker Vorort engagiert sich der begabte Gymnasiast früh in der Arbeiterjugend. Er bricht früh mit der SPD, die er für zu wenig kämpferisch hält und wird Mitglied der linkssektiererischen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. In deren Diensten leistet er Untergrundarbeit gegen die Nazis, muss aber schon früh nach Norwegen und später nach Schweden fliehen. Er nimmt die norwegische Staatsbürgerschaft an und kehrt nach dem Krieg zunächst als Korrespondent für skandinavische Zeitungen nach Deutschland zurück. Er wechselt als Presseattaché der Norwegischen Militärmission nach Berlin und beginnt dort seine Laufbahn als SPD-Politiker. Die deutsche Staatsangehörigkeit hat er 1948 wieder angenommen.

Die Figur Brandt eignet sich für Projektionen aller Art bis hin zum politischen Missbrauch. Seine Siege und Niederlagen waren stets grandios: der Einzug ins Kanzleramt im dritten Anlauf 1969. Das überstandene Misstrauensvotum und die triumphale Wiederwahl 1972. Der Friedensnobelpreis für den Brückenbauer in Richtung Osten. Dann der tiefe Sturz nach der Agentenaffäre Guillaume 1974 und das schmachvolle Ende als Vorsitzender nach 24 Jahren an der Spitze der ältesten demokratischen deutschen Partei, der SPD. Und das wegen einer zweitrangigen Personalie, nämlich der Bestellung einer jungen, griechisch-stämmigen Pressesprecherin. In der nach ihm benannten SPD-Parteizentrale steht heute eine überlebensgroße Willy-Brandt-Statue. Sie steht auf Rollen, so dass der Hausmeister das Willy-Mobil je nach Bedarf durch die große Veranstaltungshalle schieben kann. Zum Beispiel neben, oder besser gesagt über den bayerischen Finanzminister Markus Söder von der CSU anlässlich der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD. Sehr zur Gaudi des Sozialdemokraten .

OT Söder/Schulz: „Wir haben ja die Hoffnung, dass die Hand von Willy Brandt die Strahlen auf Sie herablässt…Ich würde mir da nicht so viele Hoffnungen machen an der Stelle (Lachen). Gaub i net….ja, aber wir geben die Hoffnung nie auf. “ (M. Schulz, M. Söder) 3

Sprecher: Sozialdemokraten schreiben ihrem Parteiheiligen gerne augenzwinkernd übermenschliche Eigenschaften zu. Eine Willy Brandt-Statue wie in der Parteizentrale mit oder ohne Strahlkraft kann sich aber auch jeder ganz persönlich bauen. Brandts ebenso unkonventionelle wie widersprüchliche Lebensgeschichte liefert dafür reichlich Material. Die Journalistin Wibke Bruns meint:

OT Wibke Bruns: „Er konnte gut reden, er sah gut aus. Er hatte eine wunderbare, für diesen Zweck wunderbare Biografie. Eine Biografie, die wirklich makellos war und die ihn als einzigen dazu legitimierte, im Warschauer Ghetto auf die Knie zu fallen. Kein anderer Politiker hätte das gekonnt, ohne dass man ihn gesteinigt hat.“

OT Radioreportage/Egon Bahr: „Der Kanzler rückt jetzt die Schleife, die Schwarzrotgoldene Schleife am Kranz zurecht und verharrt dann schweigend vor dem Denkmal.“ (Radioreportage)

„Und plötzlich wurde es ganz still und wir gingen ran und tippten einem auf die Schulter und sagten: Was ist denn los? Der drehte sich um und sagte: er kniet. Und am Abend, da habe ich meinen Mut zusammen genommen und habe gesagt: Das war aber doll. Und seine Reaktion war: Ich hatte plötzlich das Gefühl, Kranzniederlegung reicht nicht. Es war der Instinkt des Augenblicks, völlig ungeplant. Ich habe viel, viel, viel, viel, viel später natürlich gesagt: der hatte in seinem Hintern mehr Instinkt als viele in ihrem Kopp.“ (Bahr)

Sprecher: So erinnert sich Egon Bahr, politischer Weggefährte und Freund Willy Brandts – und heute mit über 90 Jahren eine Art politischer Nachlassverwalter.

Brandts berühmte Geste vor dem Mahnmal der Opfer des Warschauer Ghettos im Jahr 1970 war damals hochumstritten. Fast die Hälfte der Befragten gab bei einer Spiegel-Umfrage an, dass dieses Versöhnungszeichen doch übertrieben sei. Der Schriftsteller Günter Grass:

OT Günter Grass: „Guckt Euch mal das Presseecho an, das ihn in Deutschland empfangen hat: Der Verzichtpolitiker.“

Sprecher: Der heutige SPD-Vorsitzende :

OT Sigmar Gabriel: „Welch eine Geste, einen größeren Beitrag als Patriot kann man eigentlich nicht leisten, und wieder hat die extreme Rechte, wieder hat auch die CDU/CSU ihn als Vaterlandsverräter beschimpft.“

OT Matthias Brandt: „Jahrelang, wenn ich aus der Schule rausgekommen bin, dann stand gegenüber der Schule groß an die Wand geschrieben: Brandt an die Wand.“

Sprecher: … erzählt Matthias, der jüngste der drei Brandt-Söhne, ein bekannter Schauspieler und seinem Vater äußerlich am ähnlichsten. Die politische Rechte konnte sich in ihrer Infamie auf Konrad Adenauer berufen, der wenige Tage nach dem Mauerbau 1961 an die uneheliche Herkunft des damaligen Berliner Regierenden Bürgermeister Brandt erinnerte. Tatsächlich wuchs Brandt, der damals noch Herbert Frahm hieß, bei seiner Mutter Martha Frahm auf, einer Verkäuferin im Konsumverein. Seinen Vater John Möller verschwieg

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sie ihm. Brandt lernte ihn nie kennen. Auch seine Zeit im Exil wurde ihm von nicht wenigen Deutschen als Vaterlandsverrat vorgeworfen wurde. Der Angegriffene reagierte kämpferisch:

OT Willy Brandt: „Nun, es stimmt, dass ich erst seit 28 Jahren Willy Brandt heiße. Mit meinem Geburtsnamen und dem Namen meiner damals unverheirateten Mutter verband mich, als ich nach Deutschland zurückkehrte, wenig mehr als die Erinnerung an eine nicht ganz leichte Kindheit. Das mag vielen ungewöhnlich erscheinen und ist es wohl auch. Aber es hat niemand das Recht, mir meine Ehre streitig zu machen.“

Sprecher: Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der aus Adenauers CDU stammte, sagte am Grab von Willy Brandt:

OT Richard von Weizsäcker: „Kaum war er in der Öffentlichkeit bekannt, da wurde er um seiner vaterlosen Jugend und seines angeblich vaterlandslosen Exils willen auf schamlose Weise geschmäht. Tiefe Verletzungen ließen Narben zurück, doch blieb diesem empfindsamen Manne der Hass ganz fremd. Er reagierte leise und im Herzen souverän.“

Sprecher: In Wahrheit war Brandt tief getroffen. Seine Sensibilität, seine gelegentliche Melancholie, die bis ins Depressive gehen konnte, sie wurden ihm als Schwäche ausgelegt. Vor allem von den beiden politischen Weggefährten, mit denen Brandt die legendäre Troika bildete: dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier Helmut Schmidt und dem ehemaligen Kommunisten Herbert Wehner. Letzterer sagte ausgerechnet in Moskau im Sommer 1973 zu Journalisten: „Der Herr Bundeskanzler badet gerne lau; so in einem Schaumbad." War Brandt tatsächlich überempfindlich? Egon Bahr, der in seiner Berliner Zeit als Pressesprecher für den Regierenden Bürgermeister Brandt arbeitete, hat sich diese Frage zunächst auch gestellt:

OT Egon Bahr: „Der erste Abend, an dem ich ihm gegenüber saß, da habe ich ihm gesagt, wir kennen uns doch eigentlich gar nicht, im Rathaus. Und seine Miene verschloss sich und ich dachte, Mensch, das ist eine Mimose. Also hab ich nachgelegt und gesagt, ich werde ich immer sagen, was ich denke, auch wenn es Ihnen nicht gefällt. Und sagte er: wenn es zu schlimm wird, dann aber nur unter vier Augen. Das heißt, ich habe realisiert, man konnte ihm nur nahe kommen, wenn man ihm nicht zu nahe kommen wollte. Und er bestimmte, wie weit er sich aufschloss.“

Sprecher: Bloß nicht zu nahe kommen – ein Persönlichkeitsmerkmal Willy Brandts aus der Zeit des Exils, unter dem auch die ihm nächsten Menschen litten. Zum Beispiel sein Sohn Matthias:

OT Matthias Brandt „Mir ist es nicht gelungen, einen tatsächlichen Zugang zu diesem Menschen zu kriegen, wohl einige Momente der Nähe, die sich immer wieder ergeben haben, eine große Zuneigung, die wir füreinander empfunden haben, aber absolute Abwesenheit von Nähe“.

Sprecher; Aber nicht nur Willy Brandts Verschlossenheit ist eine Folge seines Lebens. Auch seine Offenheit für die rebellierende Nachkriegsjugend findet ihren Schlüssel in Brandts Vergangenheit. Sein ältester Sohn Peter, heute Professor für Geschichte, demonstrierte in den 60er-Jahren gegen den Vietnamkrieg:

OT Peter Brandt: „In der Öffentlichkeit, da kam es wahrscheinlich so rüber, der rebelliert gegen den Vater. 5

Auch da muss ich sagen, ich bin kein Tiefenpsychologe, aber ich habe es nicht so empfunden, mir war es eigentlich eher unangenehm, ihm zu schaden, sofern das geschehen ist.“

OT Egon Bahr: „Ich sehe das ein bisschen anders als du, Peter. Und zwar war die Toleranz mit großer Sicherheit der Tatsache geschuldet, dass dieser Willy Brandt natürlich an seine eigene Jugend dachte, und da war er auch weiter links. Er hat, davon bin ich fest überzeugt, mit Wohlwollen auf diesen Sohn geguckt, der da seinen eigenen Weg vergleichbar dem des Vaters ging.“

Sprecher: Und doch war es gleiche Willy Brandt, der Berufsverbote für vermeintlich Radikale im öffentlichen Dienst durchsetzte und damit große Teile der Jugend wieder vor den Kopf stieß. Und der nach seiner Zeit als Bundeskanzler wiederum die Friedensbewegung und den Anti- Atomprotest unterstützte. Und der als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission für die Emanzipation der Entwicklungsländer warb. Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik:

OT Albrecht von Lucke: „Schmidt sagte: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Hat ja bekanntlich Massen von Jugendlichen aus der Partei getrieben. Und er hätte noch viel mehr rausgetrieben, wenn nicht ein Brandt dagewesen wäre, der genau den visionären Ansatz ein Stück weit verkörpert hat. Brandt sagte ja selber spät: Ich stellte fest, dass ich sukzessive immer linker geworden bin.“

Sprecher: Kein Wunder also, dass es die Jusos waren, die den Rücktritt Willy Brandts vom Parteivorsitz 1987 besonders lautstark beklagten:

ATMO Jusos: „Willy-Willy“-Rufe, dann „Rot-Grün“

Sprecher: Die Mär vom Visionär Willy Brandt, der als kalter Krieger nach dem Mauerbau begann, dann als moderner Reformer nach innen und mutiger Brückenbauer gen Osten reüssierte. Ein Mann, der unter den Sachzwängen seines Amtes als Bundeskanzler litt und der erst nach dem Auszug aus dem Kanzleramt zu dem wurde, den nun alle Menschen reinen Herzens innig lieben konnten: das Gegenstück zum hartherzigen Krisenmanager Helmut Schmidt.

OT Willy Brandt: „Neben guter Gesinnung und soliden Kenntnissen ist eine ordentliche Portion gesunden Machtbewusstseins vonnöten.“

Sprecher: Diesen Satz gab der scheidende Parteivorsitzende auf seiner Abschiedsrede 1987 seinen Genossen mit auf den Weg. War Willy Brandt also doch Realpolitiker? Egon Bahr sieht es so:

OT Egon Bahr: „Dass der Brandt ein Mensch über den Wolken war, das stimmte gar nicht. Wer in dieser seltsamen Partei 24 Jahre Vorsitzender ist, der muss wissen, mit wem er telefonieren muss, um das in der Hand zu behalten. Das war der Brandt genauso wie Kohl. Der war auch so machtbewusst.“

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Sprecher: Willy Brandt sorgte mit solchen Mehrdeutigkeiten schon zu Lebzeiten für reichlich Stoff für Mythen. Das kann ein probates Herrschaftsinstrument sein, schützt aber vor späterem politischem Missbrauch durch andere nicht, wie Sigmar Gabriel demonstriert:

OT Sigmar Gabriel: „Willy Brandt wird bei uns immer wieder gern zitiert. In diesem Jahr ist sein 100. Geburtstag. Brandt hat viele Reden gehalten. Man kann für jede Argumentation in der SPD ein Willy- Brandt-Zitat finden, (Gelächter) auch für sich widersprechende. (Gelächter) Das liegt aber nicht an Willys Reden, sondern an unserer Interpretation.“

Sprecher: Wie kein zweiter hat sich Brandts Lieblingsenkel Oskar Lafontaine interpretationsfähige Brandt-Äußerungen politisch zunutze gemacht. Zum Beispiel wenn es um die Frage von Krieg und Frieden ging:

OT Oskar Lafontaine: „Ich lege aber Wert darauf, dass solange Brandt die Geschicke der SPD direkt oder indirekt wesentlich bestimmt hat, das keine Option war. Denn der Kernsatz seiner Nobelpreisrede, die ja jeder nachlesen kann, ist: Krieg ist nicht die ultima ratio, sondern die ultima irrato. Das heißt: Krieg als Mittel der Politik hat er strikt abgelehnt. Und insofern kann sich auch niemand, der seriös ist, für seine Argumentation auf Brandt berufen.“

Sprecher: Mit dieser Interpretation inspirierte der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine seinen neuen Genossen Gregor Gysi. Der vereinnahmte Brandt 2011 auf dem Programmparteitag für die Linke:

OT Gregor Gysi „Ich finde es sehr gut, dass wir auf Vorschlag von Oskar Lafontaine aufgenommen haben das Willy-Brandt-Korps. Und dann bekam er aufgrund seines Wirkens den Friedensnobelpreis. Und zwar weil er ganz eindeutig weltweit für Gewaltverzicht eingetreten ist. Und in dieser seiner bedeutendsten Rede, nämlich bei der Verleihung des Friedensnobelpreises, hat er gesagt: „Krieg ist die ultima irratio.“ Und die SPD hat jetzt beschlossen, Krieg ist die ultima ratio. Und deshalb gehört ihnen nicht mehr Willy Brandt. Ab heute gehört er uns. Und darauf bin ich stolz!“

Sprecher: Viele buhlen heute um Brandts politisches Erbe. Oskar Lafontaine macht sich sogar regelrecht zum politischen Erbschleicher. Anfang der 90er-Jahre spricht er sich für die faktische Abschaffung des Asylrechts in Deutschland aus.

OT Oskar Lafontaine: „Da konnte ich mich sogar auf Brandt berufen, der damals gesagt hat – das ist mir noch so präsent als wenn er es gerade gesagt hätte. Als dann die Wogen hoch gingen, hat er gesagt: „Ja, wisst ihr, zu meiner Zeit“ – er musste ja auch fliehen – „konnte man sich auf jeden Fall kein Flugticket erwerben und konnte also in das Land seiner Vorstellungen reisen.“ Oder so. Er wollte damit eben nur sagen, man muss das ein bisschen auf den Boden der Tatsachen zurückführen. Und man kann auch als international orientierter linker Politiker durchaus zugeben, dass nicht alle Zuwanderer jetzt verfolgt sind und nicht alle aus purer Not kommen. Also da muss man schon differenzieren. Was mich immer beschäftigt hat, war bei dieser Debatte: Wenn ich gesehen habe wie die Zusammensetzung der Zuwanderer war: Alte, Kranke, Behinderte habe ich nie gesehen.“

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Sprecher: Lafontaine sprach in der Anfang der 90er-Jahre aufgepeitschten Stimmung sogar öffentlich von “Fremdarbeitern“:

OT „Das ist mir so rausgerutscht. Es war von mir nicht diskriminierend gemeint. Allerdings war ich immer für eine Steuerung der Zuwanderung. Weil ich eines wusste – und das war eine Auseinandersetzung auch innerhalb der SPD etwa mit den Schriftsteller Günter Grass beispielsweise, der also der Steuerung der Zuwanderung sehr, sehr ablehnend gegenüber stand. Ich habe ihm gesagt: Die Zuwanderung ist nicht ein Problem der wohlhabenden Leute, zu denen auch die politische Führung oder die Schriftsteller gehören. Die Zuwanderung ist ein Problem der kleinen Leute.“

Sprecher: Eben jener Schriftsteller Günter Grass trat 1994 aus Protest gegen den Asylkompromiss aus der SPD aus. Willy Brandt war da schon zwei Jahre tot. 30 Jahre zuvor hatte eine lange Brieffreundschaft zwischen Grass und Brandt begonnen, die kürzlich in Buchform veröffentlicht und im Willy-Brandt-Haus vorgestellt wurde. In Gegenwart des Schriftstellers und unter der überlebensgroßen Statue des Verstorbenen:

OT Günter Grass, gelesen von einem Schauspieler: „Berlin am 3. April 1965. Lieber Herr Brandt, als aufmerksamer Zuhörer saß ich gestern Abend in der Sporthalle. Helmut Schmidts Rede und Ihre Rede hoben sich gut im Sinne einer Steigerung voneinander ab. Dennoch machte in Schmidts Rede ein Zuviel von satirischem Charme und Improvisation dem Mangel an Satire und Improvisation in Ihrer Rede deutlich. (Lachen) Legen Sie es mir bitte nicht als Beckmesserei aus, wenn ich kritisch auf die verschwimmenden Satzenden in Ihrer Rede hinweise. Ich wünsche Ihnen alles Gute und ab und zu Grund, wenn nicht zum Lachen, dann doch wenigstens zum Lächeln. Freundliche Grüße. Ihr Günter Grass“

Sprecher: Grass beriet Brandt nicht nur als Rhetorik-Lehrer, sondern mischte sich im Laufe der Jahre auch immer wieder politisch ein. Er setzte sich Brandt gegenüber für die rebellierenden Studenten ein und wetterte gegen die Große Koalition 1966:

OT Günter Grass, gelesen von einem Schauspieler: „Lieber Willy Brandt, wie sollen wir weiterhin die SPD als Alternative verteidigen, wenn das Profil eines Willy Brandt im Proporzeinerlei der Großen Koalition nicht mehr zu erkennen sein wird. Die große und tragische Geschichte der SPD wird für Jahrzehnte ins Ungefähr münden.“

Sprecher: Die Große Koalition war aber, anders als von Grass damals und auch aktuell wieder befürchtet, nicht der Weichspüler für die SPD. Im Gegenteil: Sie wurde zum der Steigbügel für Brandts Kanzlerschaft. 1972 unterstützte der wahlkämpfende Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Grass Willy Brandt nach Kräften. Und wollte dann allerdings mehr sein als ein Berater und Agitator. Wibke Bruns, seinerzeit eine der wenigen profilierten Frauen im Bonner Hauptstadtjournalismus:

OT Wibke Bruns: „Aber dann wollte er Cash sehen. Das heißt, er wollte der Ratgeber von Willy Brandt sein, er wollte, dass Willy Brandt ihn fragt, bevor er irgendwelche Sachen beschließt. Und dies macht man mit Willy Brandt nicht. So hat mir Rainer Wilke, sein Büroleiter, erzählt, hat er dann irgendwann gesagt, Wilke möge ihn diesen aufgeregten Menschen vom Hals halten.“

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Sprecher: Der notorische Besserwisser Grass war gekränkt, blieb aber trotz der unwirschen Abfuhr an Willy Brandts Seite. Bis heute gibt er gerne den staatsbürgerlichen Kronzeugen der sozialliberalen Zeit. Als deren oberster Geschichtsschreiber und -Interpret sieht sich aber vor allem Egon Bahr, der unter Brandt Pressechef, Botschafter und Staatssekretär im Kanzleramt war. Und der auch heute noch nicht ganz uneitel ist, wie man im Südwestrundfunk erfahren konnte:

OT SWR-Sendung/Egon Bahr: Moderator: „Egon Bahr war der Architekt der Ostverträge. Gefällt Ihnen die Formulierung?“ Bahr: „Fabelhaft. Wundervoll. Es stimmt ja auch. Man darf ja auch nicht vergessen: Kein Architekt ist so etwas ohne den Bauherrn.“

Sprecher: Egon Bahr kannte Brandt als Politiker wie kein anderer. Ihre jahrzehntelange Zusammenarbeit gibt ihm das Wissen, aber auch die Macht das Bild, das wir uns heute von Willy Brandt machen, entscheidend zu beeinflussen. Bis hin zur Legendenbildung. Denn viele Anekdoten, die Bahr noch heute gerne erzählt, lassen sich nicht mehr überprüfen:

OT Egon Bahr: „1969 waren die ersten Ergebnisse und Hochrechnungen verheerend. Und Brandt zog sich in sein Zimmer zurück, telefonierte mit Walter Scheel und traf eine große und einsame Entscheidung. Wir werden versuchen, eine sozialliberale Koalition zu bilden. Das war Charisma, was man nicht beschreiben kann, was man nicht kaufen kann, was einem so zuwächst. Und als er das verkündete, gab es zwei, die Bedenken hatten ohne sie so klar zu äußern. Das eine war Herbert Wehner, das andere war Helmut Schmidt. Beide wollten die Große Koalition weiter machen.“

Sprecher: Der Übervater der bundesrepublikanischen Sozialdemokratie kann sich nicht mehr wehren gegen richtige und falsche Freunde. Auch nicht gegen selbsternannte Nachlassverwalter, Erbschleicher und Besserwisser. Willy Brandt starb 79-jährig am 8. Oktober 1992 in Unkel bei Bonn. Zahlreiche Bücher und Veranstaltungen erinnern in diesem Gedenkjahr an ihn. Sogar zwei Comic-Bücher wurden aufgelegt. Das Theater in seiner Geburtsstadt Lübeck führt das das Drama „Willy Brandt – die ersten 100 Jahre“ auf. Und in Hamburg geht der originalgetreue Nachbau des legendären Salonwagens auf Fahrt, mit dem Brandt in den Bundestagswahlkämpfen unterwegs war. Lauter Gelegenheiten also, die zahlreichen Legenden und Mythen wieder aufleben zu lassen, die nicht nur Brandts politisches Leben umranken. Und zu denen er zu Lebzeiten nach Kräften beigetragen hat. Auf einen Heiligenschein, den ihm sein Sohn Peter scherzhaft aufsetzen will, ausgerechnet mit Hilfe von Heiner Geißler, kann Willy Brandt aber vermutlich verzichten:

OT Peter Brandt: Peter Brandt: „Ich hab das natürlich verfolgt, dass er bis in die 80er-Jahre hinein einer der umstrittensten Politiker der Bundesrepublik war, von seinen Anhängern geliebt und von den Gegnern gehasst. Und heute hat man ja fast wirklich den Eindruck, es gibt niemanden, der jetzt gegen ihn groß was hat. Also es fehlt jetzt nur noch, dass er heiliggesprochen wird. Vielleicht kann der Herr Geißler da ein Wort einlegen. Aber dazu muss er, glaube ich, katholisch sein.“

Heiner Geißler: „Heilig kann er nur sein, wenn er im Himmel ist. Das wissen wir nicht so genau. (Gelächter)“

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Funny van Dannen: Als Willy Brandt Bundeskanzler war: „Als Willy Brandt Bundeskanzler war, hatte Mutti noch goldenes Haar, waren Ernie und Bert noch ein Paar, als Willy Brandt Bundeskanzler war.“

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