Gerhard Schick (Hrsg.)

Veranlagung – Abgeltung – Steuerfreiheit Besteuerung von Kapitalerträgen im Rechtsstaat 2 Gerhard Schick (Hrsg.)

Veranlagung – Abgeltung – Steuerfreiheit Besteuerung von Kapitalerträgen im Rechtsstaat

Mit Beiträgen von Hans-Wolfgang Arndt, Peter Bareis, Dieter Birk, Lars P. Feld, Lüder Gerken und Gerhard Schick, Monika Jachmann, Manfred J.M. Neumann, Harald Noack, Gerhard Stratthaus und Frank Anton Weyss. Diese Veröffentlichung geht zurück auf die gleichnamige Tagung der Stiftung Marktwirtschaft am 11. November 2002 in Berlin.

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Umschlagabbildungen: Stiftung Marktwirtschaft

© Februar 2003

Stiftung Marktwirtschaft Charlottenstraße 60 10117 Berlin

E-Mail: [email protected] Internet: www.stiftung-marktwirtschaft.de

ISBN 3-89015-090-X Gerhard Schick (Hrsg.)

Veranlagung – Abgeltung – Steuerfreiheit Besteuerung von Kapitalerträgen im Rechtsstaat

Inhalt

Gerhard Schick • Abgeltungssteuer – Ausgestaltung und Perspektiven 9

Abgeltungssteuer aus juristischer und ökonomischer Sicht

Monika Jachmann • Zur Vereinbarkeit einer Abgeltungssteuer mit dem deutschen Verfassungs- recht 15

Dieter Birk • Zur Vereinbarkeit einer Abgeltungssteuer mit dem europäischen Recht 23

Manfred J. M. Neumann • Abgeltungssteuer – Ein erster Schritt in Richtung konsumorientierter Einkommensbesteuerung 31

Peter Bareis • Eckwerte einer Abgeltungssteuer für Deutschland 35

Rückführung von Fluchtkapital

Lars P. Feld • Rückführung von Fluchtkapital als Vorraussetzung für den fiskalischen Erfolg einer Abgeltungssteuer? 43

Hans-Wolfgang Arndt • Welche Maßnahmen zur Rückführung von Fluchtkapital sind rechtlich möglich? 55

Frank Anton Weyss • Erfahrungen mit dem österreichischen Modell einer Abgeltungssteuer 63

Politische Umsetzbarkeit einer Abgeltungssteuer

Lüder Gerken / Gerhard Schick • Sind Abgeltungssteuer und „goldene Brücke” in Deutschland konsensfähig? 71

Harald Noack • Die Abgeltungssteuer aus politischer Perspektive: Eine sympathische Alternative zu Kontrollmitteilungen 79

Gerhard Stratthaus • Die Abgeltungssteuer aus politischer Perspektive: Plädoyer für Pragmatismus 83

Die Referenten der Tagung 87

7 8 Abgeltungssteuer – Gerhard Schick Ausgestaltung und Perspektiven

Als die Hartz-Kommission vor dem Problem stand, Politiker für eine Abgeltungssteuer aus. Insbeson- für den Osten Deutschlands eine spezifische Maß- dere Finanzminister Eichel lehnte jedoch eine nahme vorzuschlagen, wurde die Idee des Job floa- Abgeltungssteuer ebenso ab wie über den Status ters geboren. Dieses Programm sollte durch die quo hinausgehende Maßnahmen zur Rückführung Repatriierung von Fluchtkapital finanziert werden. von Fluchtkapital. Für eine kurze Zeit schien es, als könnte sich die Bundesregierung mit dem pragmatischen Gedan- Die Diskussion über die Besteuerung von Kapital- ken anfreunden, eine „goldene Brücke” für Fluchtka- erträgen hat jedoch unmittelbar danach eine erstaun- pital zu bauen.1 Dann aber verwarf Gerhard Schrö- liche und für die meisten Beobachter völlig unerwar- der das Vorhaben, das ihm im Wahlkampf zu heikel tete Wendung genommen. Diverse, teilweise sach- war.2 Damit schien auch die damit verbundene fremde Gründe haben dazu beigetragen. Nicht Einführung einer Abgeltungssteuer vom Tisch. zuletzt fanden aber auch die auf der Tagung vorge- Dementsprechend haben die Regierungsparteien tragenen Argumente ihren Weg in das Kanzleramt, im Rahmen ihrer Koalitionsvereinbarung eine das Bundesfinanzministerium und in die Regierungs- verbesserte Bekämpfung der Steuerhinterziehung fraktionen.4 Der Bundeskanzler kündigte eine Abgel- beschlossen. Statt von der derzeitigen Kapitaler- tungssteuer auf Zinserträge, verbunden mit einer par- tragsbesteuerung auf eine Abgeltungssteuer über- tiellen Steueramnestie, an. Gleichzeitig sollten jedoch zugehen und eine „goldene Brücke” für Fluchtkapi- die Kontrollmitteilungen beibehalten werden. Statt tal anzubieten, wählten sie die Einführung von wie die meisten Experten in Abgeltungssteuer und Kontrollmitteilungen.3 Kontrollmitteilungen alternative Maßnahmen zur Vermeidung der Steuerhinterziehung bei Kapitaler- Während der von der Stiftung Marktwirtschaft aus- trägen zu sehen, argumentierte die Bundesregierung gerichteten Tagung „Veranlagung – Abgeltung – nun, die Kontrollmitteilungen erhöhten über die stei- Steuerfreiheit: Besteuerung von Kapitalerträgen im gende Aufdeckungswahrscheinlichkeit den Anreiz zur Rechtsstaat” am 11. November 2002 in Berlin, die Legalisierung von Fluchtkapital. Außerdem könne nur mit diesem Band dokumentiert wird, deutete wenig so der Sparerfreibetrag beibehalten werden und die darauf hin, daß die Abgeltungssteuer in Kürze ein- Bevorzugung von Menschen mit Kapitaleinkommen geführt werden könnte. Zwar sprachen sich neben im Rahmen von einkommensabhängigen Transfer- einer Reihe von Experten auch die anwesenden systemen verhindert werden.5

1 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.8.2002, S. 9, 3 Koalitionsvereinbarung „Erneuerung – Gerechtigkeit – „Widerstand gegen Steueramnestie bröckelt". Nachhaltigkeit. Für ein wirtschaftlich starkes, soziales und ökologisches Deutschland. Für eine lebendige Demokratie" 2 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.8.2002, S. 11, von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 16. Oktober „SPD rückt von Steuer-Amnestie ab". Vorausgegangen war 2002, S. 18. die Kritik der Union (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.8.2002, S. 11, „Union lehnt Steuer-Amnestie zur Fi- 4 So Christoph Keese in der Financial Times Deutschland nanzierung des Ostens ab"), die früheren Äußerungen füh- vom 16.12.2002, S. 32, „Zickzack zum richtigen Ergebnis". render Unionspolitiker widersprach (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.6.2002, S. 13, „Merz will Fluchtkapital 5 Barbara Hendricks in der Financial Times Deutschland zurücklocken"). vom 27.12.2002, S. 30, „Brücke zur Ehrlichkeit".

9 Die Beiträge dieses Tagungsbandes spiegeln zwei Einkommensteuer auf ein anreizkompatibles Niveau zentrale Streitpunkte in der Diskussion um die Kapi- interpretiert werden. Bei dieser Sichtweise wird talertragsbesteuerung wider, die durch die geplante grundsätzlich an der gleichen steuerlichen Be- Einführung einer Abgeltungssteuer und einer „gol- lastung aller Einkunftsarten festgehalten. Die denen Brücke” für Fluchtkapital noch größere Unterstützung einer Abgeltungssteuer ist lediglich Relevanz erhalten: taktisch motiviert: Die Abgeltungssteuer auf Zins- erträge soll einer entsprechenden Steuersenkung Der erste Streitpunkt betrifft die Finalität einer bei anderen Einkunftsarten vorausgehen und diese Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge: Ist mit der durch ein schrittweises Vorgehen erleichtern (Abb. Einführung dieser Steuer das gewünschte Steuer- 2). Jedenfalls müßte die Abgeltungssteuer sämtliche system erreicht oder stellt sie lediglich die Vorstufe Kapitalerträge umfassen, um Verzerrungen in der zu weitergehenden Reformen dar? Der zweite Kapitalallokation zu vermeiden. Streitpunkt bezieht sich auf den Gültigkeitsbereich der Abgeltungssteuer. Die Bundesregierung be- schränkt die Abgeltungssteuer auf Zinserträge. Um eine Verzerrung in der Kapitalallokation zu vermei- den, müßte die Abgeltungssteuer jedoch auf alle Formen von Kapitalerträgen ausgeweitet werden. Dies würde wiederum zu Abgrenzungsproblemen führen. Auch bezüglich der Bemessungsgrundlage wirft also die Einführung der Abgeltungssteuer Fragen nach dem weiteren Vorgehen auf: Wird die Abgeltungssteuer als eine pragmatisch begründete Ausnahmeregelung für Zinserträge angesehen, weil diese aufgrund der hohen Mobilität von Kapital leicht hinterzogen werden können, dann werden Zins- erträge dauerhaft niedriger besteuert als andere Einkunftsarten. Es käme zu einer Schedulensteuer (Abb. 1). Abb. 2: Allgemeine Steuersenkung

Schließlich kann die Abgeltungssteuer als ein erster Schritt in Richtung Konsumorientierung der Ein- kommensteuer angesehen werden. Als zweiter Schritt wären dann alle Kapitalerträge steuerfrei zu stellen, um das Steuersystem intertemporal neutral zu gestalten. Die Abgeltungssteuer auf Zinserträge wäre somit eine Vorstufe zu einer zinsbereinigten Einkommensteuer (Abb. 3).

Abb.1: Schedulensteuer

Alternativ dazu kann die Abgeltungssteuer als ein erster Schritt hin zu einer allgemeinen Senkung der

10 Der zweite Teil ist der Problematik des Fluchtkapitals gewidmet. Lars Feld macht deutlich, daß der fiskali- sche Erfolg einer Abgeltungssteuer zumindest kurz- fristig davon abhängig ist, ob es in ausreichendem Umfang gelingt, Fluchtkapital in die Legalität zurück- zuführen. Er untersucht die Voraussetzungen dafür, daß dieses fiskalische Ziel erreicht wird. Wolfgang Arndt diskutiert die Verfassungsmäßigkeit einer „gol- denen Brücke” und argumentiert, daß diese nur bei einer gleichzeitigen Veränderung der Kapitalertrags- besteuerung oder zumindest der Erhebungsform gegeben sei. Die Einführung einer Abgeltungssteuer könne eine „goldene Brücke” rechtfertigen. Frank Weyss schildert das österreichische System der Kapitalertragsteuer. Er zeigt, daß die Kombination Abb. 3: Zinsbereinigte Einkommensteuer aus Abgeltungssteuer und Steueramnestie in Öster- reich nicht nur ökonomisch, sondern auch fiskalisch Da der erste Schritt, die Einführung einer Abgel- erfolgreich war. tungssteuer auf Zinserträge, nun vollzogen wird, erhalten diese Überlegungen eine neue Dringlich- Im dritten Teil wird die politische Umsetzbarkeit einer keit. Die Frage nach der angemessenen Besteue- Abgeltungssteuer diskutiert. Lüder Gerken und rung von Kapitalerträgen im Rechtsstaat bleibt Gerhard Schick weisen anhand von aktuellen daher auf der Tagesordnung. Die Stiftung Marktwirt- Umfrageergebnissen darauf hin, daß das Gerechtig- schaft leistet nach der Studie ihres wissenschaftli- keitsgefühl der Bundesbürger eher für eine Abgel- chen Beirats, des Kronberger Kreises, zur Ab- tungssteuer als für die Durchsetzung der gegenwär- geltungssteuer 2000 und der Steuerfachtagung in tigen synthetischen Einkommensbesteuerung mit- Berlin 2001 mit diesem Tagungsband erneut einen tels Kontrollmitteilungen spricht. Staatssekretär Beitrag zu dieser Diskussion. Harald Noack aus Nordrhein-Westfalen und Finanz- minister Gerhard Stratthaus aus Baden-Württem- Im ersten Teil werden juristische und ökonomische berg nennen jeweils Eckpunkte einer möglichen Aspekte der Abgeltungssteuer diskutiert. Monika Reform der Kapitalertragsbesteuerung. In ihren Jachmann weist die Vereinbarkeit einer Beiträgen zeichnen sich bereits die Grundzüge der Abgeltungssteuer mit dem deutschen Verfassungs- nun vorliegenden Entwürfe einer relativen Abgel- recht nach. Ihre Ausgestaltung sei davon abhängig, tungssteuer mit partieller Steueramnestie ab. Insge- ob sie als Ausnahmebereich oder systemimmanent samt wird also in den Beiträgen des dritten Teils die begründet werde. In ersterem Fall könnte sie auf Einschätzung zum Ausdruck gebracht, daß eine sol- Zinserträge beschränkt werden, sonst wäre sie auf che Reform politisch durchsetzbar sei und mit alle Kapitalerträge anzuwenden. Dieter Birk prüft Unterstützung der Bevölkerung rechnen könne. europarechtliche Fragen einer Abgeltungssteuer. Diese Thesen wurden in der positiven Resonanz Neben dem primärrechtlichen Diskriminierungs- von Presse und Öffentlichkeit auf die Ankündigung verbot thematisiert er auch die Vereinbarkeit mit der des Bundeskanzlers zur Einführung einer Abgel- geplanten europäischen Zinsrichtlinie. Von ökono- tungssteuer eindrucksvoll bestätigt. mischer Seite wird unterschiedlich argumentiert: Während Manfred J. M. Neumann die Abgeltungs- steuer als Vorstufe einer zinsbereinigten Ein- kommensteuer würdigt, zielt Peter Bareis auf eine generelle Absenkung der Steuerbelastung auf Einkommen und fragt nach der geeigneten Bemessungsgrundlage. Berlin, den 7. Februar 2003

11 12 Abgeltungssteuer aus juristischer und ökonomischer Sicht

13 14 Zur Vereinbarkeit einer Monika Jachmann Abgeltungssteuer mit dem deutschen Verfassungsrecht

Problemskizze Gleichbehandlung der Einkunftsarten (Steuersatzgleichheit, gesteiger- te Inflationsabhängigkeit der Kapitalerträge, einkunftsartspezifischer Sparerfreibetrag, verschiedene Formen des Sparens)

Gestaltungsgleichheit Objektives Nettoprinzip (Aufwandsabzug, Typisierung, Kleinsparer)

Subjektives Nettoprinzip (Existenzminimum, Typisierung, Kleinsparer) Steuerliche Sozialstaatsprinzip Belastungs- Steuersatzgleichheit (Progression, Typisierung, Kleinsparer) gleichheit Erhebungsdefizite (inländische und ausländische Kapitalerträge) Gleichmäßige Besteue- rung nach der wirtschaft- Rechtsformneutralität (Kapitalgesellschaften) lichen Leistungsfähigkeit Sofort- und Zukunftskonsum

1 Die Abgeltungssteuer auf spezifischen Gewährung des Sparerfreibetrages2 Kapitalerträge als Gleichheitsproblem andererseits gleichheitsrechtliche Defizite auf. Hin- zu kommt eine Ungleichbehandlung der verschiede- Die geltende Besteuerung der Kapitalerträge weist nen Sparformen3 sowie die Nichtberücksichtigung wegen ihres – jedenfalls derzeit noch bestehenden der Inflation4. Die Abgeltungssteuer auf – Vollzugsdefizits1 einerseits und der einkunftsart- Kapitalerträge verspricht insoweit Abhilfe.

1 Dazu Bundesfinanzhof (BFH), Bundessteuerblatt (BStBl) II 1999, 335 (345); Birk/Kulosa, FR 1999, 433 (441); 1997, 499 (502ff.); Kronberger Kreis, Abgeltungssteuer bei Schemel, Reform der Zinsbesteuerung, 1999, 5f.; Schu- Kapitaleinkommen, Schriftenreihe des Frankfurter Instituts macher, FR 1997, 1 (6); Birk, Steuerliche Viertel- – Stiftung Marktwirtschaft und Politik, Bd. 37, 2000, 13ff.; jahresschrift (StVj) 1993, 97 (102); Zeitler, DStZ 1992, 513 Laule, in: Festschrift für Lutz Fischer, 1999, 335 (351ff.); (517); Giloy, FR 1991, 482 (483); Traxel, Freibeträge des Hoppe, Erhebungsdefizit im Bereich der Besteuerung von Einkommensteuergesetzes, 1986, 166ff. Zinseinkünften, 1998, 3 u. 65; Flick, Deutsche Steuer- 3 Zur Problemstellung vgl. Kronberger Kreis, Abgeltungs- Zeitung (DStZ) 1998, 186 (187); Tipke, Finanzrundschau steuer bei Kapitaleinkommen, Schriftenreihe des Frank- (FR) 1998, 117 (118); Schumacher, FR 1997, 1 (5); Streck, furter Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und Politik, Bd. 37, Deutsches Steuerrecht (DStR) 1993, 342 (345); grundle- 2000, 17f.; Wagner, in: Mayer (Hrsg.), Unternehmens- gend bereits Entscheidungen des Bundesverfassungsge- besteuerung – Perspektiven der Besteuerung, 1999, 81 richts (BVerfGE) 84, 239 (268ff.). (84). 2 Vgl. dazu BFH, Bundessteuerblatt (BStBl.) II 2002, 183 4 Vgl. dazu BverfGE 50, 57ff.; Leisner, in: Handbuch des (184ff.); Lindberg, in: Blümich, EStG, § 43, Rn. 6; v. Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR) VI, § Beckerath, in: Kirchhof, EStG, § 20, Rn. 470; Niehus, DStZ 149, Rn. 131; Papier, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, 2000, 697 (702); Laule, in: Festschrift für Lutz Fischer, Bd. II (Stand Juni 2002), Art. 14, Rn, 183ff.; Tipke, Die

15 Andererseits stellt sich auch die Einführung einer rechtfertigt werden. Ein solcher Systemwechsel Abgeltungssteuer aus der Perspektive des Verfas- könnte an eine originär unterschiedliche wirtschaft- sungsrechts als Problem der Besteuerungsgleich- liche Funktion von Arbeitseinkommen und Kapitaler- heit dar.5 Im geltenden Einkunftsartensystem der trägen anknüpfen. Letztlich sind Maßstab der ver- §§ 2, 13ff. Einkommensteuergesetz (EStG) be- fassungsrechtlich gebotenen steuerlichen Be- schreiben die Einkunftsarten einen einheitlichen lastungsgleichheit die Anforderungen von Art. 3 Belastungsgrund der Einkommensteuer.6 Ausg- Abs. 1 Grundgesetz (GG)10, bereichsspezifisch an- ehend hiervon bedeutet eine vom allgemeinen gewandt auf das Steuerrecht.11 Einkommensteuertarif abweichende Abgeltungs- steuer auf Kapitalerträge mit einem niedrigen pro- Auch jenseits der primären Problematik der Schedu- portionalen Steuersatz eine rechtfertigungsbedürfti- lierung wirft die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge ge Sonderbehandlung einer Einkunftsart.7 in der Einzelausgestaltung eine Reihe gleichheits- rechtlicher Fragen auf. Zentrale Themen sind inso- Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Einkunfts- weit Gleichbehandlung der verschiedenen Formen arten resultiert aus dem Gebot der Folgerichtigkeit des Sparens, objektives und subjektives Netto- (Gestaltungsgleichheit8).9 Nach einem – gegebe- prinzip, Progression, Rechtsformneutralität, die nenfalls partiellen – Systemwechsel könnte eine Erfassung ausländischer Kapitalerträge sowie die Abgeltungssteuer jedoch gleichheitsimmanent ge- Einbeziehung der Erbschaftsteuer.12

Steuerrechtsordnung (StRO) I, 2. Auflage, 2000, 513f.; (59); Gassner, JBl 1994, 289 (292), die in der Gleichbe- Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und handlung der Einkunftsarten eine Konkretisierung bzw. ein wirtschaftlicher Freiheit, 2000, 148ff. mit weiteren Nach- Subprinzip des Leistungsfähigkeitsprinzips selbst sehen. In weisen; Wissenschaftlicher Beirat des Bundesministeriums diesem Sinne auch Tipke, StRO I, 2. Auflage, 2000, 502f.; für Wirtschaft (BMWi), Anstehende große Steuerreform, in: ders. StuW, 1990, 246. Gutachten, XV. Bd., Gutachten vom August 1994 bis Juni 10 Vgl. dazu Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen 1997, 1873 (1878); v. Arnim, Die Besteuerung von Zinsen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, 24: Der bei Geldentwertung, 1978; Kröger, 1974, 2305. Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung nach der wirt- 5 So auch Matthiesen, FR 1999, 248 (252); Flick, DStZ 1998, schaftlichen Leistungsfähigkeit als verfassungsrechtliche 186 (190f.); Keßler, DStZ 1995, 629; Austrup, Zinsbesteue- Vorgabe ist bereits bei der Bestimmung von Gegenstand rung, 1994, 111; grundlegend BVerfGE 84, 239 (268ff.). und Grundtatbestand einer Steuer zu beachten; vgl. auch Lang, StuW 1985, 10 (14); anders Bundesverfassungsge- 6 Vgl. BVerfGE 99, 88 (95). richt (BVerfG), BStBl. II 1999, 509 (511): Aus dem Gebot 7 Schratzenstaller/Wehner, Wirtschaftsdienst 2000, 675 der möglichst gleichmäßigen Belastung aller Steuerpflichti- (679); Freitag, Besteuerung der Zinsen, 1999, 124; gen folge für den Gesetzgeber keine Beschränkung in sei- Matthiesen, FR 1999, 248 (252); Keßler, DStZ 1995, 629 nem Entscheidungsspielraum bei der Auswahl des Steuer- (630); dazu auch Gassner, Justizblatt (JBl) 1994, 289 gegenstandes; Vogel, DStJG 12 (1989), 123 (141f.) mit (292f.); Giloy, FR 1991, 482 (483f.); zur Recht- weiteren Nachweisen; Papier, Der Steuerberater (StB) fertigungsbedürftigkeit auch BFH, BStBl. II 2002, 183 1999, 49 (54). (188ff.) mit weiteren Nachweisen. 11 Vgl. dazu BVerfGE 84, 239 (268); Osterloh, in: Sachs, GG, 8 Dazu BVerfGE 99, 88 (95); BFH BStBl. II 2002, 183 (188f.); 3. Auflage, 2002, Art. 3, Rn. 37. BStBl II 1999, 450 (458f.); Kirchhof, Deutsche Steuerju- 12 Zu den einzelnen Problemstellungen vgl. Kronberger Kreis, ristische Gesellschaft e.V. (DStJG) 24 (2001), 9 (17); ders., Abgeltungssteuer bei Kapitaleinkommen, Schriftenreihe Steuer und Wirtschaft (StuW) 1984, 297 (301f.); Jach- des Frankfurter Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und mann, in: Festschrift für Klaus Offerhaus, 1999, 1071 Politik, Bd. 37, 2000, 17f.; Wagner, in: Mayer (Hrsg.), (1082); Arndt/Schumacher, Archiv für öffentliches Recht Unternehmensbesteuerung – Perspektiven der Besteu- (AöR) 118 (1993), 513 (517f.). erung, 1999, S. 81ff.; Flick, DStZ 1998, 186 (190ff.); 9 So BFH, BStBl II 1999, 450 (458); weitergehend Scheurle, Der Betrieb (DB) 1995, 543 (544ff.); Lang/Jann, Lang/Jann, Internationales Steuerrecht (IStR) 1995, 55 IStR 1995, 55 (60ff.); Zeitler, DStZ 1992, 513 (515f.).

16 2 Gleichbehandlung der Einkunftsarten Kapitals anstelle eines Sofortkonsums begründet keine gesteigerte Sozialpflichtigkeit des ursprünglich 2.1 Systemimmanente Rechtfertigung einer erworbenen und dann angelegten Kapitaleigentums Abgeltungssteuer (Art. 14 Abs. 2 GG). Vor diesem Hintergrund wäre eine niedrige Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge Im Rahmen einer systemimmanenten Rechtferti- systemimmanent als Schritt in Richtung einer zins- gung einer Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge wäre bereinigten Einkommensteuer16 zu rechtfertigen. die steuerliche Entlastung bzw. nur beschränkte Ergänzend wäre darauf abzustellen, daß sie – quasi Erfassung von Kapitalerträgen gegenüber Arbeits- als Annäherung an eine Cash-Flow-Besteuerung17 – einkommen Ausfluß einer gleichmäßigen Besteue- die steuerlichen Belastungsdifferenzen in Folge der rung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. geltenden Unterschiede in der Einkünfteermittlung Die systemimmanente Differenzierung zwischen mindern könnte.18 Kapitalerträgen und Erträgen insbesondere aus Arbeit könnte der Steuergesetzgeber darauf stützen, In diesem steuersystematischen Kontext ist die daß er diesen ein unterschiedliches wirtschaftliches Steuerfreiheit von Zinsen nicht die Ausnahme, son- Gewicht beimessen und hieraus eine unterschiedli- dern die Regel. Die gleichheitsrechtliche Problema- che Relevanz der steuerlichen Abschöpfung via tik einer in diesem Sinne systemimmanent gerecht- Gemeinlast für die Erfüllung der allgemeinen staatli- fertigten Abgeltungssteuer besteht nicht darin, daß chen Aufgaben folgern würde. Dieses unterschiedli- mit ihr Kapitaleinkommen niedriger besteuert wird che wirtschaftliche Gewicht könnte der Steuer- als Arbeitseinkommen, sondern darin, daß die gesetzgeber darin sehen, daß die Besteuerung von Abgeltungssteuer höher als Null ist.19 Zinsen wirtschaftlich betrachtet zu einer Doppel- belastung führt13. Denn die Vermögensposition, aus 2.2 Rechtfertigung einer der die Zinserträge resultieren, wurde in der Regel Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge schon bei ihrer Entstehung als Einkommen versteu- als Systemabweichung ert. Die Zinsen sind Folge der Einkommensver- wendung. Periodenübergreifende Belastungsgleich- Eine Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge kann je- heit14 bedeutet insoweit, daß gleichen Barwerten doch auch innerhalb des geltenden Einkunfts- von Zahlungsüberschüssen vor Steuern gleiche Bar- artensystems – als Systemabweichung – gerecht- werte der Steuerzahlungen auf diese Zahlungs- fertigt werden: Sie würde die – jedenfalls derzeit überschüsse entsprechen.15 Die Entscheidung des trotz Quellensteuer auch bei inländischen Kapital- Eigentümers für eine ertragbringende Anlage seines erträgen noch bestehenden – Erhebungsdefizite20

13 Grundlegend zur Doppelbelastung Schratzenstaller/ 17 Kronberger Kreis, Abgeltungssteuer bei Kapitalein- Wehner, Wirtschaftsdienst 2000, 675 (681); Schellhorn, kommen, Schriftenreihe des Frankfurter Instituts – Stiftung Wirtschaftsdienst 2000, 494; Wagner, in: Mayer (Hrsg.), Marktwirtschaft und Politik, Bd. 37, 2000, 39. Unternehmensbesteuerung – Perspektiven der Besteue- 18 Vgl. Wagner, DB 1999, 1520 (1523); Kronberger Kreis, rung, 1999, 81 (93); Wissenschaftlicher Beirat des BMWi, Abgeltungssteuer bei Kapitaleinkommen, Schriftenreihe Anstehende große Steuerreform, in: Gutachten, XV. Bd., des Frankfurter Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und Gutachten vom August 1994 bis Juni 1997, 1873 (1884f.). Politik, Band 37, 2000, 24ff. 14 Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Auflage, § 4, Rn. 19 Wagner, DB 1999, 1520 (1527); Kronberger Kreis, 119. Abgeltungssteuer bei Kapitaleinkommen, Schriftenreihe 15 Vgl. Wagner, StuW 2001, 354 (359); Wissenschaftlicher des Frankfurter Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und Beirat des BMWi, Anstehende große Steuerreform, in: Politik, Bd. 37, 2000, 34. Gutachten, XV. Bd., Gutachten vom August 1994 bis Juni 20 Grundlegend Hoppe, Erhebungsdefizit im Bereich der 1997, 1873 (1884f.). Besteuerung von Zinseinkünften, 1998. Zum verfassungs- 16 So Wissenschaftlicher Beirat des BMWi, Anstehende rechtlichen Gebot einer Belastungsgleichheit in der große Steuerreform, in: Gutachten, XV. Bd., Gutachten tatsächlichen Durchsetzung des materiellen Steuer- vom August 1994 bis Juni 1997, 1873 (1884f.); grundle- anspruchs BVerfGE 84, 239 (271), zur Relevanz von § 30a gend zur Zinsbereinigung Lang, in: Tipke/Lang, Steuer- AO BFH, BStBl II 1997, 499 einerseits sowie BFH/NV recht, 17. Auflage, § 4 Rn. 118. 1998, 424 andererseits.

17 wesentlich verringern21 , wird doch bei mangelnder dem Realzins. Ist die Steuer, weil der Zinssatz die Deklaration die (unter Umständen zu niedrige) Inflationsrate nicht übersteigt, aus dem Eigentums- Quellenbesteuerung definitiv.22 Es läge in der Ge- bestand zu entrichten, handelt es sich um eine staltungsfreiheit des Gesetzgebers, die Abgeltungs- unzulässige Substanzsteuer.28 Im Unterschied zu steuer einem flächendeckenden Berichtssystem23 Anlagen in Sachvermögen oder Einkünften aus vorzuziehen, unabhängig davon, ob und wie ein sol- nichtselbständiger Arbeit belastet die Inflation ches Berichtssystem effektiv und zugleich verfas- Gläubiger geldwerter Ansprüche typischerweise sungskonform auszugestalten wäre. besonders gravierend.29

Eine etwaige – ergänzende – Rechtfertigung unter Insgesamt bestehen gegen eine Abgeltungssteuer dem Aspekt der Alterssicherung wäre demgegen- im Hinblick auf die Differenzierung zwischen Kapital- über schon davon abhängig, daß die Abgeltungs- und Arbeitseinkommen keine verfassungsrechtli- steuer all die Einkünfte einbezöge, die unabhängig chen Bedenken. Sie wäre aber im einzelnen gleich- von der jeweiligen Einkunftsart zur privaten Eigen- heitsgerecht auszugestalten. und Altersvorsorge geeignet sind, insbesondere auch Sachkapitalanlagen.24 Darüber hinaus vermag 3 Gleichheitsgerechte Ausgestaltung eine pauschale Förderung wie die Abgeltungssteuer einer Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge im Einzelfall nicht sicherzustellen, daß die Besserstellung auf die dem Förderungsziel dienenden Einkünfte beschränkt wäre.25 Die 3.1 Reichweite der Abgeltungssteuer Bezugnahme auf die Förderung der privaten Eigen- und Altersvorsorge begegnet damit ähnlichen Was die sachliche Reichweite der Abgeltungssteuer Bedenken wie der geltende Sparerfreibetrag26. betrifft, wären Kapitalerträge im Privat- und Betriebs- Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht im Zins- vermögen grundsätzlich gleich zu behandeln.30 Dies urteil zutreffend die Berücksichtigung der Kapital- verhindert nicht nur im Interesse von Entscheidungs- bildung als existenzsichernde Versorgungsgrund- neutralität die Verlagerung von Betriebsvermögen in lage mit dem Gesichtspunkt der Inflationsanfälligkeit den privaten Bereich und den damit einhergehenden der Einkünfte aus Kapitalvermögen verbunden.27 Liquiditätsentzug, sondern ist auch Gebot der Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erwächst nur aus Besteuerungsgleichheit (Art. 3 Abs.1 GG). Grund-

21 Kritisch Scheurle, DB 1995, 543 (544). 28 Stellvertretend dazu Tipke, StRO I, 2. Auflage, 2000, 514; Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und 22 Ebenso Flick, DStZ 1998, 186 (187); Schumacher, FR wirtschaftlicher Freiheit, 2000, 148ff. mit weiteren 1997, 1 (5); anderer Ansicht BFH, BStBl. II 1997, 499 Nachweisen; Rädler, StuW 1996, 252 (255); grundlegend (503ff.). zum Schutz der Vermögenssubstanz BVerfGE 93, 121 23 Dazu Risto/Julius, DB 2002, Beilage 4, 7ff.; Hackmann, (137); zur Berücksichtigung der Inflation vgl. auch BVerfG, Betriebs-Berater (BB) 1992, Beilage 11; ders. Fachanwalt 84, 239 (282), wobei das BVerfG anders als noch in der Arbeitsrecht (FA) 49 (1991), 3 (7ff.); Tipke, FR 1991, 480, Entscheidung zum Nominalwertprinzip (BVerfGE 50, 57 Bruschke, Der Betriebs-Berater (BB)1990, 392 (395); v. (77ff.)) die Gewährung eines Inflationsausgleiches in das Hippel, BB 1990, 1951 (1953); Rodi, (NJW) 1990, 3246 gesetzgeberische Ermessen gestellt hat, damit jedoch (3251f.). Den Gedanken eines Informationssystems greift nach wie vor die Notwendigkeit einer Inflationsbereinigung für grenzüberschreitende Zinserträge nunmehr auch der an sich nicht (ausdrücklich) anerkennt (vgl. auch Scheurle, Entwurf einer Zinsrichtlinie des Europäischen Rates auf DB 1995, 543 (546)). (KOM (2001) 400 endg. vom 18.07.2001). 29 So auch BVerfGE 84, 239 (282); Flick, DStZ 1998, 186 24 So auch Schumacher, FR 1997, 1 (7); Austrup, (191f.); Badura, in: Handbuch des Verfassungsrechts Zinsbesteuerung, 1994, 86; Tipke, FR 1991, 480 (481); (HdbdVR), § 10, Rn. 43; Lang/Jann, IStR 1995, 55 (59); zuletzt BVerfG, BStBl II 2002, 618 (636). Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 513 (543); v. Arnim, Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 1980, 201 (208); zwei- 25 Zur Problematik der Mitnahmeeffekte BFH, BStBl. II 2002, felnd insoweit Wagner, DB 1999, 1520 (1521). 183 (188f.). 30 Zeitler, in: Festschrift für Klaus Offerhaus, 1999, 955 (964); 26 Vgl. dazu die Nachweise in Fußnote 2. wohl auch Wagner, DB 1999, 1520 (1528); kritisch 27 BVerfGE 84, 239 (282). Scheurle, DB 1995, 543 (546).

18 sätzlich einzubeziehen wären auch Kapitalerträge schen Investition und sofortigem Konsum ist aus der von Kapitalgesellschaften.31 Die gleichheitsgerechte freiheitsgrundrechtlichen Perspektive des Art. 14 Ausgestaltung einer Abgeltungssteuer knüpft im übri- Abs.2 GG gleichwertig, sei es, daß sich der Investor gen an deren grundsätzliche Rechtfertigung an. für eine Anlage mit Ansprüchen aus dem Investi- tionsertrag (Gewinn) oder für eine Anlage mit Fest- Soll sie als Systemabweichung durch die gesteiger- ansprüchen (Zinsen) entscheidet. Die Gleichbe- te Inflationsabhängigkeit der Kapitalerträge gerecht- handlung der verschiedenen Arten von Investitionen fertigt werden, ist eine Einbeziehung von Erträgen bedeutete Gestaltungsgleichheit. Entsprechend aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften nicht wäre vom steuerpflichtigen Gewinn aus unterneh- zwingend, soweit diese sachwertgestützt und damit merischer Tätigkeit eine (fiktive) Eigenkapitalver- weniger inflationsanfällig sind und im übrigen ein auf zinsung (kapitalmarktübliche Standardverzinsung) Inflationswirkungen beruhender Wertverlust typi- gleich einer Betriebsausgabe vom steuerpflichtigen scherweise nur schwer festzustellen ist.32 Auch die Gewinn auszunehmen und wie betriebliche Zinser- Nichteinbeziehung der kapitalbasierten Einkünfte träge mit dem Abgeltungssatz zu belegen.35 Nur die aus Vermietung und Verpachtung könnte durch de- über den Standardzins hinausgehende Verzinsung ren typischerweise geringere Inflationsabhängigkeit wäre der Gewinnbesteuerung zu unterwerfen.36 gerechtfertigt werden.33 Damit würde der Zinsbereinigungsgedanke in die Abgeltungssteuer integriert. Bei systemimmanenter Rechtfertigung könnte eine Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge – auf Dauer – Im Rahmen einer Rechtfertigung der Abgeltungs- nicht auf Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.v. § 20 steuer als Systemabweichung wäre dies jedoch EStG beschränkt werden.34 insofern nicht gleichheitsrechtlich zwingend, als der Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit Die Nutzungsentscheidung des Kapitaleigentümers von einer geringeren Inflationsanfälligkeit der in Gestalt einer Verwendungsentscheidung zwi- Unternehmensgewinne ausgehen könnte.37

31 Vgl. Zeitler, in: Festschrift für Klaus Offerhaus, 1999, 955 bei Kapitaleinkommen, Schriftenreihe des Frankfurter (964). Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und Politik, Bd. 37, 2000, 36ff.; Wagner, in: Mayer (Hrsg.), Unternehmensbesteu- 32 Vgl. dazu Freitag, Besteuerung der Zinsen, 1999, 78 mit erung – Perspektiven der Besteuerung, 1999, 81 (94f.); weiteren Nachweisen; Scheurle, DB 1995, 543 (546); Giloy, ders., DB 1999, 1520 (1528); kritisch Scheurle, DB 1995, FR 1991, 482. – Ob Erträge aus Kapitalgesellschaften im 543 (549); vgl. zur österreichischen Eigenkapitalverzinsung Interesse der Entscheidungsneutralität einzubeziehen Stöber, IStR 2002, 265. – Eine Beschränkung einer wären, weil die Anlage in Risikokapital sonst gegenüber der Zinsbereinigung in Kombination mit einer Abgeltungssteuer in risikoärmeres Finanzkapital benachteiligt würde wäre dif- auf bilanzierende Unternehmen erscheint vertretbar. Denn ferenziert zu untersuchen. Vgl. zur Problemstellung bei gewerblichen Überschussermittlern dominieren zum Wagner, in: Mayer (Hrsg.), Unternehmensbesteuerung – einen die Cash-flow-Elemente in der Steuerbemessungs- Perspektiven der Besteuerung, 1999, 81 (93); ders., DB grundlage, zum anderen können sie zum Vermögens- 1999, 1520 (1528); Scheurle, DB 1995, 543 (546). vergleich übergehen. Insoweit wäre die private Immo- bilienbewirtschaftung gleichzustellen (vgl. Wagner, DB 33 Dazu Dziadkowski, BB 1991, 1831 (1834); Gurtner, Inflation, 1999, 1520 (1528); Kronberger Kreis, Abgeltungssteuer bei Nominalwertprinzip und Einkommensteuerrecht, 1980, 36ff. Kapitaleinkommen, Schriftenreihe des Frankfurter Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und Politik, Bd. 37, 2000, 32). 34 So würden auch Verzerrungen der unternehmerischen Investitionsentscheidung vermieden. Zu diesem Problem- 36 Kronberger Kreis, Abgeltungssteuer bei Kapitalein- kreis Wagner, in: Mayer (Hrsg.), Unternehmens- kommen, Schriftenreihe des Frankfurter Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und Politik, Bd. 37, 2000, 38; Wagner, in: besteuerung – Perspektiven der Besteuerung, 1999, 81 Mayer (Hrsg.), Unternehmensbesteuerung – Perspektiven (93); ders., DB 1999, 1520 (1528); Kronberger Kreis, der Besteuerung, 1999, 81 (94f.); ders., DB 1999, 1520 Abgeltungssteuer bei Kapitaleinkommen, Schriftenreihe (1528); Wissenschaftlicher Beirat des Bundesministeriums des Frankfurter Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und für Finanzen (BMF), Reform der internationalen Politik, Bd. 37, 2000, 36f. Kapitaleinkommensbesteuerung, BMF-Schriftenreihe, 35 Vgl. These 10 der Einkommensteuer-Kommission, BB 1999, Heft 65, 77f. 1994, Beilage 24, 11; Kronberger Kreis, Abgeltungssteuer 37 Vgl. Flick, DStZ 1998, 186 (192).

19 Eine Berücksichtigung der von Kapitalgesell- vermögens44 wäre gegebenenfalls im Wege der schaften vor der Ausschüttung bereits bezahlten Antragsveranlagung eine Ermäßigung des erb- Körrperschaftsteuer kommt nach der Struktur der schaftsteuerlichen Zugriffs sicherzustellen.45 Abgeltungssteuer im Rahmen des geltenden Körperschaftsteuersystems grundsätzlich nicht in 3.2 Tarifgestaltung Betracht und ist insoweit auch nicht verfassungs- rechtlich zwingend. Belastungsgleichheit in der Die Tarifgestaltung für eine Abgeltungssteuer ist in Relation zu anderen Anlageformen würde freilich in mehrfacher Hinsicht von gleichheitsrechtlicher einem System erreicht, in dem der Körperschaft- Relevanz. So sieht die Abgeltungssteuer nach ihrer steuersatz für thesaurierte Gewinne an die Höhe Grundstruktur weder einen Aufwandsabzug vor, des Abgeltungssteuersatzes gekoppelt und eine noch wird die individuelle subjektive Leistungs- Ausschüttung dieser Gewinne ohne zusätzliche fähigkeit des Steuerschuldners abgebildet. Auch ist steuerliche Be- oder Entlastung möglich wäre.38 der intendierte Steuersatz – ohne Progression – für alle Steuerpflichtigen gleich. Ausländische Kapitalerträge könnte eine Abgel- tungssteuer als Quellensteuer grundsätzlich nicht Soweit der Steuerabzug mangels Antragsver- erfassen.39 Insofern bedeutete die Abgeltungs- anlagung definitiv wird, bedingt dies eine Brutto- steuer – gerechtfertigt als Systemabweichung – besteuerung. Der Aufwandsabzug ist jedoch – un- auch keinen Verifikationsgewinn.40 Hieraus folgt je- abhängig davon, ob die Abgeltungssteuer system- doch kein Gleichheitsverstoß. Denn dieses immanent oder als Systemabweichung gerecht- Erhebungsdefizit ist kein Spezifikum der Abgel- fertigt wird – grundsätzlich Gebot einer gleichmäßi- tungssteuer, sondern geht mit jeder Quellensteuer gen Besteuerung nach der wirtschaftlichen einher.41 Für die Einbeziehung der Erbschaftsteuer Leistungsfähigkeit.46 Es gilt, im Abgeltungssteuer- in eine Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge42 spre- satz die – nach allgemeinen Grundsätzen abzieh- chen kapitalmarktpolitische Aspekte.43 Aus verfas- baren – Aufwendungen zu typisieren. Die Abwei- sungsrechtlicher Sicht ist sie – angesichts der chung vom objektiven Nettoprinzip47 ist insoweit unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Fundie- durch den Vereinfachungseffekt der Abgeltungs- rung von Eigentum und Erbrecht – möglich, aber steuer zu rechtfertigen, d.h. dadurch, daß sie auf- nicht zwingend. Im Hinblick auf die Rechtsprechung wendige Kontrollmechanismen zur Beseitigung der des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten gegenwärtigen Vollzugsdefizite im Bereich der Be- Familienprinzip und zur Schonung des Betriebs- steuerung von Kapitalerträgen ersetzt.

38 Matthiesen, FR 1999, 248 (251f.). verlagerten Kapitals zu denken. Vgl. insoweit Rädler, StuW 1996, 252 (255). 39 Schratzenstaller/Wehner, Wirtschaftsdienst 2000, 675 (679); Flick, DStZ 1998, 186 (193); Tipke, BB 1998, 241 44 BVerfGE 93, 165 (174f.); zur erbschaftsteuerlichen (245); Scheurle, DB 1995, 543 (544); Giloy, FR 1991, 482 Behandlung des Betriebsvermögens vgl. stellvertretend (483); zur geltenden Rechtslage vgl. Weber-Grellet, in: Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Auflage, § 13, Rn. Schmidt, EStG, § 43, Rn.14. 151ff; Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleich- heit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, 142ff. 40 Flick, DStZ 1998, 186 (192f.); Tipke, BB 1998, 241 (245); Wissenschaftlicher Beirat des BMF, Reform der internatio- 45 In diesem Sinne auch Scheurle, DB 1995, 543 (549). nalen Kapitaleinkommensbesteuerung, BMF-Schriften- 46 Vgl. dazu BVerfGE 99, 88 (96); 82, 60 (86); 61, 319 (344); reihe, 1999, Heft 65, 85; Scheurle, DB 1995, 543 (544f.). Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Auflage, § 9, Rn. 42f.; 41 Schratzenstaller/Wehner, Wirtschaftsdienst 2000, 675 ders., DStJG 24 (2001), 49 (117); Tipke, StRO I, 2. Auflage, (679); Flick, DStZ 1998, 186 (193); Tipke, BB 1998, 241 2000, 503f.; Schöberle, in: Festschrift für Hans Flick, 1997, (245); Scheurle, DB 1995, 543 (544). 111 (114f.); Gassner, JBl 1994, 289 (292); Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 513 (520ff.). 42 Dazu Jarass, IStR 2002, 46 (50); Zeitler, in: Festschrift für 47 Bemessungsgrundlage der Abgeltungssteuer sind Brutto- Klaus Offerhaus, 1999, 955 (961); Flick, DStZ 1998, 186 Kapitalerträge, wodurch eine Berücksichtigung individueller (194); Rädler, StuW 1996, 252 (255). Umstände des Steuerpflichtigen (Werbungskosten etc.) im 43 Hierbei ist insbesondere an die Repatriierung ins Ausland Abzugszeitpunkt nicht möglich ist. Dazu Lang/Jann, IStR

20 Die – niedrige – Abgeltungssteuer berücksichtigt in gend vorgegeben.51 Die von Person zu Person typisierender Weise den über dem Realzins liegen- unterschiedliche Abweichung des einheitlichen den Kapitalertrag als Inflationsabgeltung.48 Dem Abgeltungssteuersatzes vom jeweiligen individuel- entspricht eine Abgeltungssteuer, deren Tarif sich len Steuersatz wäre damit nicht gleichheitswidrig. am halben Spitzensteuersatz orientiert.49 Soweit Dies würde auch gelten, wenn der Definitivsteuer- jedoch der herabgesetzte Abgeltungssatz bereits satz über dem progressiven Eingangssteuersatz für die inflationsbedingten Wirkungen ausgleichen soll, Arbeitseinkommen läge. Zu gewährleisten wäre wäre für die Typisierung des Aufwandsabzugs ein lediglich die Steuerfreiheit des Existenzminimums. zusätzlicher Abschlag zu machen.50 Zu fragen bleibt, inwieweit eine Abgeltungssteuer der subjekti- Das Bundesverfassungsgericht erachtet demge- ven Leistungsfähigkeit sowie der Progression der genüber im Zinsurteil eine Quellensteuer für verfas- Einkommensteuer Rechnung zu tragen hätte. sungsgemäß, die in einem linearen Abgeltungssatz nicht nur den absetzbaren Aufwand sondern auch Geht man von einer systemimmanenten Recht- den Progressionssatz in Durchschnittswerten typi- fertigung der Abgeltungssteuer aus (s.o. 2. 1.), so ist sierte.52 Dies entspricht einer Rechtfertigung der Maßstab für die steuerliche Gleichbehandlung Abgeltungssteuer als Systemabweichung. durch eine Abgeltungssteuer nicht die Normal- besteuerung, sondern die Nullbesteuerung. Die In diesem systematischen Kontext wäre bei soge- Abweichung der Abgeltungssteuer hiervon ist für nannten Kleinsparern mit einem individuellen alle Steuerpflichtigen gleich. Damit wäre eine Steuersatz unterhalb des Abgeltungssatzes, unter Sonderregelung für sogenannte Kleinsparer nur Umständen aber auch bei erheblichen Werbungs- geboten, wenn die proportionale Besteuerungs- kostenüberhängen oder außergewöhnlichen Be- gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) verlangte, daß die Ab- lastungen eine übermäßige Besteuerung zu vermei- weichung von der Nullbesteuerung nach Leistungs- den.53 Hierfür wäre eine Veranlagungsoption zu fähigkeitsgesichtspunkten gestaffelt sein müßte. präferieren.54 Ein entsprechendes Optionsrecht Eine direkte Parallele zwischen Normalsteuersatz wäre grundsätzlich allgemein einzuräumen. Zu- und Abgeltungssteuersatz läßt sich jedoch ange- gleich wäre jedoch zu vermeiden, daß es neben sichts des systematisch unterschiedlichen Ansatzes Kleinsparern insbesondere auch in Verlustfällen in nicht herstellen. Auch ist die Progression der Anspruch genommen würde und so der Verein- Einkommensteuer nicht verfassungsrechtlich zwin- fachungseffekt der Abgeltungssteuer zunichte

1995, 55 (61); grundsätzlich zum Nettoprinzip vgl. die Gutachten vom August 1994 bis Juni 1997, 1873 (1884). In Nachweise in Fußnote 46. Österreich ist der Abgeltungssatz auf den hälftigen Spit- zensteuersatz der Einkommensteuer begrenzt und beträgt 48 BVerfGE 84, 239 (284). seit 1996 25%. Vgl. Schuster, Die österreichische Abgel- 49 Dazu Flick, DStZ 1998, 186 (191); Lang/Jann, IStR 1995, tungssteuer – Modell für Deutschland?, Bundesverband 55 (60); zur Regelung in Österreich vgl. Schuster, Die deutscher Banken: Daten, Fakten, Argumente, 1999, 42. österreichische Abgeltungssteuer – Modell für Deutschland?, Bundesverband deutscher Banken: Daten, 50 In diesem Sinne Lang/Jann, IStR 1995, 55 (61). Fakten, Argumente, 1999, 42. – Dem BVerfG folgend könn- 51 Kirchhof, in: HStR IV, § 88, Rn. 178; Jachmann, Steuer- te sich der Abgeltungstarif an § 43a EStG orientieren gesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftli-cher (BVerGE 84, 239 (283)), womit nach geltender Rechtslage Freiheit, 2000, 23; dies., StuW 1998, 293 (295f.). ein Steuersatz zwischen 20 - 30 % möglich wäre. Für einen lineareren Satz von 20 - 25% votieren Nüssgens, Die Bank 52 BVerfGE 84, 239 (282f.). 2000, 355 (356); Kronberger Kreis, Abgeltungssteuer bei 53 BVerfGE 84, 239 (283). Kapitaleinkommen, Schriftenreihe des Frankfurter Instituts – Stiftung Marktwirtschaft und Politik, Bd. 37, 2000, 35 u. 54 Zwar käme im Anschluß an das BVerfG (BVerfGE 84, 239 45; Hellwig, in: Festschrift für Klaus Offerhaus, 1999, 1113 (282)) grundsätzlich auch eine Freibetragsregelung in Be- (1120); Flick, DStZ 1998, 186 (194); Rädler, StuW 1996, tracht (vgl. dazu Flick, DStZ 1998, 186 (194); Austrup, Zins- 252 (255); für 15% Wissenschaftlicher Beirat des BMWi, besteuerung, 1994, 115ff.; Ehrenforth, BB 1991, 2125 Anstehende große Steuerreform, in: Gutachten, XV. Bd., (2129)). In einem zwangsläufig wieder typisierten Freibetrag

21 gemacht würde.55 Im Hinblick darauf wäre eine Bruttobesteuerung auch im Falle der Antrags- veranlagung gerechtfertigt.56

4 Fazit

Eine Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge wäre – systemimmanent wie als Ausnahme im geltenden Einkunftsartensystem – verfassungskonform reali- sierbar. Sie bedeutete einen erheblichen Gewinn an Einfachheit der Besteuerung und steuerlicher Belastungsgleichheit.

könnten aber individuelle Härten weniger genau abgedeckt werden. Im übrigen würde eine Freibetragsregelung den gleichen Bedenken begegnen wie der geltende Sparerfrei- betrag (vgl. Hoppe, Erhebungsdefizit im Bereich der Be- steuerung von Zinseinkünften, 1998, 57f.; Scheurle, DB 1995, 543 (546f.); Lang/Jann, IStR 1995, 55 (61); Giloy, FR 1991, 482 (483f.); Paus, DStZ 1991, 618 (621); zur Kritik im einzelnen vgl. die Nachweise in Fußnote 2.

55 Lang/Jann, IStR 1995, 55 (61).

56 So insbesondere die Regelung in Österreich. Vgl. Matthiesen, FR 1999, 248 (249); Lang/Jann, IStR 1995, 55 (61); Scheurle, DB 1995, 543 (547).

22 Zur Vereinbarkeit einer Dieter Birk Abgeltungssteuer mit dem europäischen Recht

Unter Abgeltungssteuern werden Quellensteuern Soweit die EG Richtlinien zur Harmonisierung des verstanden, mit deren Erhebung die Steueransprü- Steuerrechts erlassen hat, sind die Mitgliedstaaten che des Staates erlöschen. Mit der Einbehaltung der verpflichtet, ihr nationales Recht dem Regelungs- Steuer ist die Steuerschuld des Steuerpflichtigen spielraum anzupassen, den die Richtlinien gewähren. grundsätzlich abgegolten. Die Abgeltungssteuer Allerdings enthält der EG-Vertrag keine ausdrückliche führt also zu einer Definitivbelastung des Steuer- Ermächtigung für die Harmonisierung der direkten pflichtigen, die deutlich unter dem Höchststeuersatz Steuern, so daß entsprechende Richtlinien nur auf liegt und viele Vorteile hat: weniger Verwaltungs- Art. 94 EG-Vertrag gestützt werden können, der eine aufwand, lückenlose Erfassung, keine Erklärungs- Angleichung nur derjenigen Rechts- und pflicht, Minderung des Anreizes zur Kapitalflucht Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten erlaubt, usw. Da die Abgeltungssteuer grundsätzlich die per- die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das sönlichen Verhältnisse nicht berücksichtigt, gerät sie Funktionieren des gemeinsamen Markts auswirken. in Konflikt mit dem Grundsatz der Besteuerung nach Es besteht somit keine Harmonisierungskompetenz der Leistungsfähigkeit und bedarf insoweit besonde- zur Einführung einheitlicher Steuerrechtsordnungen rer Rechtfertigung. Ob darüber hinaus noch ein in den Mitgliedstaaten, sondern lediglich eine Konflikt mit dem EG-Recht auftreten kann, soll für Kompetenz, steuerliche Hindernisse beim Funktio- den Bereich der Abgeltungssteuern auf Kapital- nieren des gemeinsamen Marktes durch Harmonisie- erträge in den nachfolgenden Ausführungen unter- rungsmaßnahmen auszuräumen. Die Frage, wie die sucht werden. Besteuerung der Kapitalerträge in den einzelnen Mitgliedstaaten zu erfolgen hat, könnte also durch eine EG-Richtlinie gar nicht entschieden werden. 1 Verhältnis von EG-Recht und Soweit jedoch nationales Recht mit den Grundfrei- innerstaatlichem Recht heiten des EG-Vertrags in Konflikt gerät oder soweit es im Anwendungsbereich der Richtlinie deren In der EU ist das Recht, Steuern zu erheben, nach Vorgaben widerspricht, kommt dem EG-Recht wie vor ausschließlich den Mitgliedstaaten vorbehal- Anwendungsvorrang zu. Danach ist das nationale ten.1 Dennoch wirkt das Europäische Recht in zwei- Recht zwar nicht nichtig, darf aber im Konfliktfall nicht facher Weise auf die nationale Rechtsordnung ein: angewandt werden. Nationales Steuerrecht kann mit dem Europäischen Primärrecht, also mit dem Recht der Verträge in Kon- Auf der Grundlage des Art. 94 EG-Vertrags hat die flikt geraten, insbesondere können steuerliche Vor- Kommission dem Rat am 19. 7. 2001 den Vorschlag schriften die im EG-Vertrag enthaltenen Grundfreihei- einer Zinsrichtlinie unterbreitet.3 Dieser Vorschlag ten beinträchtigen. Dies ist vor allem dann der Fall, geht zurück auf das vom ECOFIN-Rat am 1.12.1997 wenn Bürger anderer europäischer Staaten durch verabschiedete – „Maßnahmenpaket zur Bekämp- steuerrechtliche Regelungen diskriminiert werden.2 fung des schädlichen Steuerwettbewerbs in der

1 Dazu Birk, Steuerrecht, 5. Aufl. 2002, S. 60. 3 Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Gewährleistung einer effektiven Besteuerung von Zinserträgen innerhalb 2 Dazu Birk, Steuerrecht, 5. Aufl. 2002, S. 62. der Gemeinschaft, Amtsblatt der Europäischen Gemein-

23 Europäischen Union” und hat das Ziel, „grenzüber- Sachverhalten auftreten, wenn die Besteuerung schreitende” Zinserträge, also Zinserträge, die ein in nach dem nationalen Steuerrecht zu einer Benach- einem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger teiligung von Steuerbürgern anderer Mitglied- aus Kapitalanlagen in einem anderen Mitgliedstaat staaten führt. erzielt, zu erfassen. Die Richtlinie soll bis spätestens 31.12.2002 durch den Rat beschlossen werden. Die Abgeltungssteuer ordnet eine definitive Steuer- Allerdings wird der Beschluß noch vom Ergebnis der belastung auf Einkünfte aus Kapitalvermögen an, Verhandlungen abhängig gemacht, die die Kommis- die – aus der Sicht des Wohnsitzstaats – unbe- sion bzw. der ECOFIN-Rat mit ausgewählten Dritt- schränkt und beschränkt Steuerpflichtige grundsätz- staaten, den USA, Schweiz, Liechtenstein, San lich gleichermaßen trifft. Eine unterschiedliche Marino, Monaco und Andorra, führt. Ziel dieser Ver- Besteuerung kann jedoch bei Steuerinländern auf- handlungen soll es sein, diese Drittstaaten zur treten, wenn sie Kapitalerträge aus dem Ausland Umsetzung gleichwertiger Maßnahmen zu bewe- beziehen, die im Ausland einer höheren Besteue- gen. Entsprechende Verpflichtungen sollen auch die rung unterliegen. Darin kann aber keine steuerliche abhängigen und assoziierten Gebiete übernehmen. Diskriminierung durch den Wohnsitzstaat gesehen Die USA haben es jedoch bereits abgelehnt, den werden. Eine solche (versteckte) Diskriminierung Regelungsgehalt der Richtlinie zu übernehmen.4 läge vor, wenn die zu beurteilende Regelung nicht Auch die Schweiz hat bisher wenig Entgegen- ausdrücklich Ausländer betrifft, wenn sie aber kommen signalisiert, so daß die Verabschiedung der „durch die Anwendung anderer Unterscheidungs- Richtlinie im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sicher- merkmale” typischerweise Ausländer benachteiligt gestellt ist.5 oder Inländer bevorzugt.6 Daß sich Abgeltungs- steuern typischerweise zu Lasten von Ausländern auswirken, kann allgemein nicht festgestellt werden. 2 Abgeltungssteuer und primäres EG-Recht Eine andere Frage ist, ob in Detailregelungen be- nachteiligende Wirkungen von Ausländern enthalten Im Rahmen seiner vom nationalen Verfassungs- sind. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn recht begrenzten Regelungsbefugnis ist der Staat Rückerstattungen von Steuerbeträgen bei niedri- grundsätzlich frei, Abgeltungssteuern auf Kapital- gerem individuellen Steuersatz auf Steuerinländer erträge einzuführen. Das EG-Recht beschränkt beschränkt wären7 oder wenn Abgeltungssteuern – diese Regelungsbefugnis nicht. Ob der Staat also wie in Österreich – auf Inlandsdividenden be- die Kapitalerträge seiner Steuerbürger mit einer schränkt sind.8 Eine andere Frage ist auch, ob nicht Quellensteuer, einer Abgeltungssteuer oder nur im durch die unterschiedliche Behandlung von Rahmen der Veranlagung erfaßt, entscheidet er im Steuerinländern und Steuerausländern, die das Rahmen seiner Steuerhoheit selbst. Probleme Sekundärrecht (Zinsrichtlinie) erzwingt, eine können allenfalls bei grenzüberschreitenden Diskriminierung eintritt (dazu unten 3. 3.).

schaft (ABl.) C 270 E/259. beschränkten Steuerpflicht s. Schaumburg, Internationales 4 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.9.2002, S. 11. Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 5.281ff; ders., System- defizite im internationalen Steuerrecht, Steuern und 5 Handelsblatt vom 25./26.10.2002, S. 6; Frankfurter Wirtschaft 2000, 369, 372. Allgemeine Zeitung vom 20 9. 2002, S. 13. 8 Dazu den Schlußantrag des Generalanwalts Tizzano in der 6 Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGHE) Rechtssache Schmidt (EuGHE vom 2.11.99, Rs. C-516/99, vom 12.12.1974, Rs. 152/73 (Soitgu), Slg. 1974, 153 (164); Slg. 2000 I-4573) und Lang, Diskriminierung von EuGHE vom 8.5.1990, Rs. C175/88 (Biehl), Slg. 1990, I- Auslandsdividenden und Rechtsschutzdefizite in Öster- 1779 (1792). reich, Internationale Wirtschafts-Briefe Nr. 4 vom 27. 2. 7 Zur Vereinbarkeit der Abgeltungswirkung im Rahmen der 2002, Fach 5, Gruppe 2, S. 555.

24 3 Abgeltungssteuer und sekundäres Die Sicherstellung der Besteuerung soll über den . EG-Recht Informationsaustausch zwischen den Mitglied- staaten erfolgen. Gemäß Art. 8 Richtlinien-Entwurf Unter europarechtlichem Aspekt dürfte deshalb die übermittelt die Zahlstelle – das ist die Stelle, die an entscheidende Frage sein, inwieweit die Ab- den wirtschaftlichen Eigentümer die Erträge ausbe- geltungssteuer mit der Zinsrichtlinie vereinbar ist, zahlt – der zuständigen Behörde des Mitglied- die als Vorschlag der Kommission zur Verab- staates ihrer Niederlassung die erforderlichen schiedung auf dem Tisch liegt (s.o.). Informationen. Diese Behörde leitet die Informa- tionen dann an die Finanzbehörde des Mitglied- 3.1 Regelungsinhalt der Richtlinie staats weiter, in dem der wirtschaftliche Eigentümer ansässig ist (Art. 9). Belgien, Luxemburg und Öster- Die Richtlinie findet nur Anwendung auf grenzüber- reich sind für eine Übergangszeit von bis zu sieben schreitende Zinszahlungen. Sie soll die steuerliche Jahren von der Pflicht zum Informationsaustausch Erfassung von Zinserträgen sicherstellen, die ein in ausgenommen (Art. 10). einem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger in einem anderen Mitgliedstaat erzielt. Hierfür besteht 3.2 Richtlinie und Quellensteuer ein Regelungsbedürfnis, da nach der gegenwärti- gen Rechtslage in den Mitgliedstaaten die von den Die Zinsrichtlinie sieht keine Abgeltungssteuer für Steuerausländern erzielten Zinserträge in der Regel Zinserträge vor. Sie gewährt lediglich für den sie- weder durch ein Kontrollmitteilungssystem noch benjährigen Übergangszeitraum den Ländern durch eine anrechenbare oder abgeltende Quellen- Belgien, Luxemburg und Österreich das Recht, steuer erfaßt werden. Dies führt zu Verzerrungen Quellensteuern zu erheben und verpflichtet diese der Anlageentscheidung und des Wettbewerbs der Länder gleichzeitig, durch die Erhebung von Emittenten sowie zu erheblichen Steuerausfällen in Quellensteuern mit einem Mindeststeuersatz von den Mitgliedstaaten. Die steuerliche Regelungsbe- 15 % in den ersten drei Jahren und 20 % in den rest- fugnis gegenüber den Ansässigen, also den unbe- lichen Jahren ein Minimum an effektiver Besteu- schränkt Steuerpflichten, wird von der Richtlinie erung zu gewährleisten (Art. 11 Abs. 4). Daß mit nicht berührt. Das bedeutet, daß sich die Frage nach dem Begriff Quellensteuern nicht Abgeltungs- einem möglichen Konflikt mit dem Europarecht auf steuern gemeint sind, ergibt sich bereits daraus, die Sachverhalte beschränkt, in denen Nicht- daß nach Art. 11 Abs. 4 die Erhebung der Quellen- ansässige von einer nach nationalem Recht vorge- steuern einer Besteuerung der Erträge im Wohn- sehenen Abgeltungssteuer betroffen sind oder in sitzstaat entsprechend den innerstaatlichen Rechts- denen Ansässige durch die Abgeltungssteuer nach vorschriften nicht entgegensteht. Statt der Quellen- nationalem Recht benachteiligt werden, wenn sie besteuerung kann der Empfänger der Zinsen auch Kapitalanlagen im Ausland tätigen. den Informationsaustausch wählen. Das setzt aller- dings voraus, daß er seine Bank ausdrücklich zur Ziel der Richtlinie ist es, ein Minimum an effektiver Mitteilung entsprechender Auskünfte ermächtigt Besteuerung von Zinseinkünften in der EU sicherzu- (Art. 13 Abs. 1). stellen.9 Die Richtlinie vom 19.7.2001 sieht dem- entsprechend keine Harmonisierung der Nach dem Ablauf des Übergangszeitraums von sie- Bemessungsgrundlage oder der Steuersätze vor, ben Jahren dürfen auch Belgien, Österreich und sondern beschränkt sich darauf, zu „gewährleisten, Luxemburg keine Quellensteuern mehr von auslän- daß Erträge, die in einem Mitgliedstaat im Wege von dischen Anlegern erheben, sie nehmen dann eben- Zinszahlungen an wirtschaftliche Eigentümer erzielt falls am Informationsaustausch über Zinserträge werden, die als natürliche Personen in einem ande- teil. ren Mitgliedstaat ansässig sind, nach den inner- staatlichen Rechtsvorschriften dieses letzteren Mitgliedstaates effektiv besteuert werden können.” 9 Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses, (Art. 1 Richtlinien-Entwurf). ABl. 2002, Nr. C 48/55.

25 3.3 Richtlinie und deutsche Fallbeispiel 2: A bezieht neben seinen Einkünften in Abgeltungssteuer Deutschland auch Kapitalerträge in Frankreich. Frankreich gibt nach der Richtlinie die Informationen Die Möglichkeit, während einer Übergangszeit von an die deutsche Finanzverwaltung weiter, die sie sieben Jahren, eine Quellensteuer zu erheben, der Einkommensteuer nach dem persönlichen haben sich lediglich die Länder Belgien, Österreich Steuersatz unterwirft. Das deutsche Verfahrensrecht und Luxemburg vorbehalten (Art. 11 Abs. 1). Tritt die (§ 30a Abgabenordnung (AO)) wird nicht geändert Richtlinie in Kraft, ist es also Deutschland verwehrt, (Abb. 2). gegenüber Nichtansässigen, die in den An- wendungsbereich der Richtlinie fallen, d.h. Kapital- erträge aus Deutschland beziehen, eine Ab- geltungssteuer zu erheben. Vielmehr ist die deut- sche Finanzverwaltung gegenüber dem Wohnsitz- staat verpflichtet, die ihr nach Art. 8 übermittelten Informationen weiterzugeben (Art. 9). Dies führt, falls Deutschland eine Abgeltungssteuer für ansäs- sige Steuerpflichtige erhebt, zu einer Ungleichbe- handlung zwischen ansässigen und nichtansässi- gen Steuerpflichtigen, die Kapitalerträge von in Deutschland gelegenen Zahlstellen beziehen. Folgende Konstellationen sind denkbar: Fallbeispiel 1: A hat seinen Wohnsitz in Deutschland, B in Dänemark. Beide beziehen Kapitalerträge von einer deutschen Zahlstelle in Höhe von 1000. A zahlt hier- auf eine 25 %-ige Abgeltungssteuer. Über die von B Abb. 2: Steuerliche Belastung in Fallbeispiel 2. in Deutschland bezogenen Kapitalerträge gibt Deutschland die entsprechenden Informationen an Fallbeispiel 3: A bezieht neben seinen Einkünften in die dänische Finanzverwaltung weiter. B muß den Deutschland auch Kapitalerträge in Frankreich. Betrag nach dem im Dänemark geltenden Frankreich gibt nach der Richtlinie die Informationen Steuerrecht zum für ihn geltenden Steuersatz ver- an die deutsche Finanzverwaltung weiter. Inlän- steuern (Abb. 1). dische und ausländische Kapitalerträge werden der deutschen Abgeltungssteuer unterworfen (Abb. 3).

Abb. 1: Steuerliche Belastung in Fallbeispiel 1. Abb. 3: Steuerliche Belastung in Fallbeispiel 3.

26 Die Richtlinie führt dazu, daß die Erhebung einer Quellensteuer wie einer Abgeltungssteuer auf in Deutschland ansässige Steuerpflichtige beschränkt bleibt. Dies kann zu einer steuerlichen Schlechterstellung der Nichtansässigen führen (Fallbeispiel 1), die aber europarechtlich unbeacht- lich ist, da sie auf der Anwendung der ausländi- schen Rechtsordnung beruht. Ein Gebot gleicher steuerlicher Belastung in Europa gibt es nicht.10 Vielmehr führt die Anwendung des Europarechts immer nur zur sogenannten „Kästchengleichheit”, also zum Gebot, Steuerinländer und Steueraus- länder innerhalb des nationalen Rechtsrahmens gleich zu behandeln (Gebot der Nichtdiskrimi- nierung). In Fallbeispiel 1 werden A und B zwar nicht gleich behandelt. Dies beruht aber darauf, daß Abb. 4: Informationsübermittlung in Fallbeispiel 1. Deutschland aufgrund der Richtlinie seine Besteu- Doch diese Bedenken überzeugen nicht. Jedem erungsbefugnis gegenüber B nicht ausübt. Würde Mitgliedstaat steht es aus europarechtlicher Sicht es sie ausüben, würde B ebenfalls der Abgeltungs- frei, wie er die Zinseinkünfte der Steuerinländer in steuer unterworfen werden. seinem Hoheitsgebiet erfassen möchte. Deshalb wird man bereits bezweifeln müssen, daß in einer Von Bedeutung ist aber ein anderer Aspekt: Eine Informationsweitergabe an das Ausland, die durch Umsetzung der Zinsrichtlinie in innerdeutsches die EG-Richtlinie erzwungen wird und für die es auf- Recht würde eine Änderung von § 30a Abs. 2 AO grund der im Inland bestehenden Abgeltungssteuer erfordern, da diese Vorschrift einen regelmäßigen keine Notwendigkeit gibt, eine Diskriminierung liegt. Informationsaustausch nicht zuläßt. Eine Änderung Unabhängig davon wäre aber die Schlechterstellung wäre aber in dem Umfang nötig, wie nach der europarechtlich gerechtfertigt12, da sie auf unter- Zinsrichtlinie Informationen über Zinszahlungen schiedlichen rechtlichen Ausgangslagen beruht. Der erfaßt und weitergegeben werden müssen (in Wohnsitzstaat hat keine rechtliche Möglichkeit, Fallbeispiel 1 von Deutschland an Dänemark, vgl. eigenständige hoheitliche Maßnahmen zu ergreifen, Abb. 4). Betroffen wären also nur Zinszahlungen in um die steuerliche Erfassung ausländischer ein anderes Mitgliedsland, nicht hingegen Zins- Zinseinkünfte sicherzustellen. Er ist auf die zahlungen an inländische Bezieher von Kapital- Informationsübermittlung durch den Quellenstaat einkünften. Im Schrifttum wird diskutiert, ob eine sol- angewiesen. Der rechtfertigende Grund wäre also che partielle Aufhebung des sogenannten Bankge- die Sicherung des Steueranspruchs des Wohn- heimnisses in Bezug auf Steuerausländer mit dem sitzstaates, die ja gerade durch die Richtlinie er- europäischen Primärrecht vereinbar wäre.11 Zum reicht werden soll. einen könnte das allgemeine Diskriminierungs- verbot aus Art. 12 EG-Vertrag verletzt sein, weil Hingegen würde die Abgeltungssteuer ein anderes Zinsempfänger mit Wohnsitz in einem anderen Problem lösen, welches auftritt, wenn aufgrund der Mitgliedstaat im Vergleich zu inländischen Empfän- Richtlinie ein grenzüberschreitender Informations- gern hinsichtlich der Erfassungsintensität (lückenlo- austausch eingeführt wird, im Inland aber das Ver- se Informationsübermittlung) benachteiligt werden. fahrensrecht unverändert bleibt (also § 30a AO nicht

10 Dazu Birk, Besteuerungsgleichheit in der Europäischen der europäischen Zinsbesteuerung, Deutsches Steuer- Union, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft 19 (1996), recht (DStR) 2002, S. 57. S. 63 ff. 12 Erhardt-Rauch/Rauch, Ist der Schutz von Bankkunden 11 Erhardt-Rauch/Rauch, Ist der Schutz von Bankkunden nach § 30a AO auch künftig noch haltbar? Neue Wege bei nach § 30a AO auch künftig noch haltbar? Neue Wege bei der europäischen Zinsbesteuerung, DStR 2002, S. 62.

27 angetastet wird). In diesem Fall würden nämlich entsprechend wird in Art. 17 des Richtlinien-Entwurfs Zinserträge aus dem Ausland aufgrund der Infor- auch klargestellt, daß die Richtlinie die Mitgliedstaa- mationsübermittlung vollständig zum persönlichen ten nicht daran hindert, gemäß ihren innerstaatlichen Steuersatz erfaßt werden, während für Zinserträge Rechtsvorschriften oder Doppelbesteuerungsabkom- aus dem Inland der Schutz des § 30a AO greift, men Quellensteuern zu erheben. diese also ohne entsprechende Deklaration regel- mäßig nur mit der niedrigeren Kapitalertragsteuer Aber auch soweit ausländische Sachverhalte betrof- (die keine Abgeltungssteuer ist) belegt wären (Fall- fen sind, die aber aus dem Anwendungsbereich der beispiel 2, vgl. Abb. 5). Richtlinie herausfallen, wäre die Erhebung einer Quellensteuer bzw. Abgeltungssteuer möglich. Das heißt, daß auch Erträge, die nicht unter die Definition der Zinszahlung in Art. 6 fallen, also z.B. Erträge aus sogenannten Finanzinnovationen oder Erträge aus Produkten der Versicherungsbranche, von einer nationalen Quellensteuer erfaßt werden könnten. Ebenso kann eine Quellensteuer auf Erträge erhoben werden, die nicht an wirtschaftliche Eigentümer im Sinne von Art. 2 der Richtlinie, also z.B. Kapitalgesell- schaften, gezahlt werden.

Erhebt Deutschland allerdings eine Abgeltungs- steuer für Erträge, die nicht unter den Anwendungs- bereich der Richtlinie fallen, dann muß darauf geachtet werden, daß inländische Kapitalanleger nicht insoweit diskriminiert werden, als sie von einer Abb. 5: Informationsübermittlung in Fallbeispiel 2. ausländischen Zahlstelle Zinszahlungen erhalten.

Das sogenannte Bankgeheimnis würde also typi- scherweise dazu führen, daß die deutsche Finanzver- waltung hinsichtlich der Kapitalerträge inländischer Anleger nur dann ausreichende Informationen er- langt, wenn diese ihr Kapital im Ausland anlegen. Im Schrifttum wird hier ein Verstoß gegen die Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit gese- hen13, was an dieser Stelle dahinstehen mag.14 Jedenfalls führt die Erhebung einer Abgeltungssteuer dazu, daß der deutsche Wohnsitzstaat Kapitalerträge stets gleichbehandelt, unabhängig davon, ob sie im Inland oder im Ausland erzielt werden (Fallbeispiel 3). Im Ergebnis steht die Richtlinie der Einführung einer Abgeltungssteuer nicht entgegen, soweit rein inländi- sche Sachverhalte betroffen sind, da diese nicht in Abb. 6: Primärrechtskonforme Belastung ausländischer den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Dem- Kapitalerträge.

13 Erhardt-Rauch/Rauch, Ist der Schutz von Bankkunden deutschen Gesetzgebers liegt, sondern darin, daß die Mit- nach § 30a AO auch künftig noch haltbar? Neue Wege bei gliedstaaten der deutschen Finanzverwaltung Informatio- der europäischen Zinsbesteuerung, DStR 2002, S. 63. nen liefern. Diese Informationsübermittlung ist aber keine Maßnahme (oder Folge) der deutschen Gesetzgebung, 14 Im Ergebnis kann diese Ansicht nicht überzeugen, da die sondern eine Maßnahme der Mitgliedstaaten. beeinträchtigende Wirkung nicht in einer Maßnahme des 15 Dazu oben Fn. 8.

28 Obwohl also in diesem Fall Informationen aus dem 6). Dieses Ergebnis hat aber nichts mit der Zinsricht- ausländischen Mitgliedstaat über die Zinszahlungen linie zu tun, sondern ergibt sich allein aus dem an die deutsche Finanzverwaltung gelangen, dürfte Primärrecht. Es entspricht der Auffassung des Deutschland diese Zahlungen nicht in die Einkom- Generalanwalts, die dieser in der Rechtssache mensteuerveranlagung einbeziehen, sondern Schmidt in seinem Schlußantrag geäußert hat15: müßte sie aus Gründen der Kapitalverkehrsfreiheit Die Beschränkung der Abgeltungssteuer auf bloße ebenso wie die inländischen Zinszahlungen der Inlandssachverhalte (Inlandsdividenden) steht mit (günstigeren) Abgeltungssteuer unterwerfen (Abb. der Kapitalverkehrsfreiheit nicht im Einklang.

29 30 Die Abgeltungssteuer – Ein erster Manfred J.M. Neumann Schritt in Richtung konsumorientierter Einkommensbesteuerung

Für die Einführung einer Abgeltungssteuer auf Die heutige Form der Einkommensbesteuerung ver- Kapitalerträge sprechen eine Reihe von Vorzügen. letzt in besonderem Maße das Neutralitätsgebot. Weil die Steuer an der Quelle zugreift, werden die Neutralität der Besteuerung verlangt, daß Steuern Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung verringert. – wenn man von spezifischen Lenkungssteuern Es bedarf keiner flächendeckenden Ausforschung absieht – die wirtschaftlichen Entscheidungen der der Bankgeschäfte der Bürger. Zugleich erspart die Unternehmen und der privaten Haushalte unbeein- mit der Abgeltungssteuer einhergehende Steuer- flußt lassen sollen. Eine spezielle negative Eigen- vereinfachung der Finanzverwaltung wie den Bür- schaft der heutigen Einkommensteuer ist das gern Kosten der Steuererhebung. Ökonomisch ge- Fehlen intertemporaler Neutralität. Im Unterschied sehen ist von weit größerer Bedeutung, daß mit der zu einer allgemeinen Konsumsteuer, wie beispiels- Einführung einer Abgeltungssteuer die marginale weise der Mehrwertsteuer, verzerrt die Einkommen- und die durchschnittliche Steuerbelastung von Kapi- steuer die Entscheidung des Bürgers über die talerträgen verringert werden kann. Davon sind gün- Aufteilung seines gegenwärtigen Einkommens auf stige Wirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Kapi- heutigen Konsum und auf Sparen, das Konsum in talbildung und damit auf die Entwicklung von Sozial- der Zukunft ermöglicht. Weil der Bürger seine Er- produkt und Beschäftigung zu erwarten. sparnis aus versteuertem Einkommen finanziert und die darauf erzielten Zinsen ebenfalls versteuern Weil mit einer moderaten Abgeltungssteuer eine muß, senkt die Einkommensteuer mit dieser doppel- Senkung der Steuerbelastung von Kapitalerträgen ten Besteuerung die auf die Ersparnis zu erzielende verbunden ist, kann sie als ein erster Schritt in Nettorendite. Das ist nichts anderes als eine Sen- Richtung des Übergangs zu einer generell konsum- kung des relativen Preises des gegenwärtigen Kon- orientierten Besteuerung des Einkommens verstan- sums im Verhältnis zu zukünftigem Konsum. Um den werden. Im Unterschied zur heutigen Einkom- Professor Wenger1 zu zitieren, das ist so, als ob mensbesteuerung würde eine Konsumorientierung man das durch Marktpreise bestimmte Austausch- der Einkommensteuer bedeuten, daß nur jener Teil verhältnis zwischen Äpfeln und Birnen durch eine des Einkommens besteuert wird, der unmittelbar in Sondersteuer auf Äpfel zugunsten des Birnenver- den gegenwärtigen Konsum fließt. Konkret blieben zehrs verzerrte. bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkom- mens entweder die Zuführungen von Einkommen Die Einkommensteuer wirkt unter intertemporalem zur Ersparnis außer Ansatz (sparbereinigte Einkom- Aspekt wie eine Lenkungssteuer. Mit der Besteue- mensteuer) oder, äquivalent, die Kapitaleinkünfte, rung der Zinserträge begünstigt der Staat den sofor- und zwar bis zur Höhe einer risikofreien Verzinsung tigen Konsum von Einkommen, er schwächt also (zinsbereinigte Einkommensteuer). Der Kronberger den Anreiz zu sparen. Das ist eine steuerliche Kreis (1996) hatte sich mit den Vorschlägen von Willkür, die freilich kaum beabsichtigt sein dürfte. Rose (1994) und anderen Ökonomen eingehend Jedenfalls sollte es als pervers erscheinen, wenn auseinandergesetzt und vertritt seitdem als Grund- 1 „Steuerpläne ein Stück aus dem rot-grünen Tollhaus”, ansatz die Besteuerung des zinsbereinigten Ein- Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. November 2002, S. kommens. 23.Vgl. beispielsweise Schön (2001, 124).

31 der Staat die gesamtwirtschaftliche Kapitalbildung Eine Zinsbereinigung der Einkommen müßte flan- durch steuerliche Diskriminierung bewußt untermi- kiert werden von einer Zinsbereinigung der Unter- nieren würde. Schließlich hat fast jedermann inzwi- nehmensgewinne, weil die Anlage von Ersparnissen schen erkannt, daß das im Rahmen der gesetzli- in Eigenkapital nicht diskriminiert werden darf chen Rentenversicherung versprochene Niveau der gegenüber der Anlage in Fremdkapital. Andernfalls Alterseinkünfte angesichts der absehbaren demo- müßte mit einer Anpassung der Volkswirtschaft auf graphischen Verschiebungen nicht aufrechterhalten einen niedrigeren Investitionspfad gerechnet wer- werden kann, und zwar unabhängig davon, ob man den. Ganz entsprechend der Zinsbereinigung wäre jetzt eine Rentenerhöhung aussetzt oder den Bei- bei der Besteuerung der Gewinne eine marktübliche tragssatz auf 19,5 Prozent erhöht. Die Ökonomen Verzinsung des Eigenkapitals als Betriebsausgabe sind sich einig, daß es ohne eine wesentliche Ver- vorweg abzuziehen. Das würde bedeuten, daß Ge- stärkung der kapitalgedeckten Vorsorge von dem winne insoweit besteuert werden, als sie die mark- Jahr 2010 an zu einer zunehmenden Absenkung tübliche Verzinsung des Eigenkapitals übersteigen. des Rentenniveaus kommen wird. Die Steuerfreiheit von Zinsen in Höhe des risikofrei- Die negative Wirkung der heutigen Einkommen- en Zinssatzes würde die bisherige Diskriminierung steuer auf die Kapitalbildung wird noch verstärkt, von Investitionen zugunsten gegenwärtigen Kon- weil bekanntlich nominale anstatt realer Zinserträge sums aufheben. Eine Abgeltungssteuer auf Kapital- besteuert werden (Kronberger Kreis 2000). Mit der erträge mit moderatem Steuersatz kann als ein Besteuerung des im nominalen Zinsertrag enthalte- erster Schritt in diese Richtung verstanden werden, nen Inflationsausgleichs – der ökonomisch gesehen weil sie damit beginnt, Kapitalerträge steuerlich zu ungeschmälert erhalten werden muß, damit die entlasten (Kronberger Kreis 2000; Neumann 2001). inflationsbedingte Abnahme des Realwerts der Weitere Entlastungen können zu späteren Zeitpunk- angelegten Mittel ausgeglichen wird – verringert die ten ohne besondere Schwierigkeiten vorgenommen Einkommensteuer den verbleibenden realen Zinser- werden, weil lediglich der Steuersatz zu reduzieren trag zusätzlich, und zwar um so stärker, je höher die ist. Die Abgeltungssteuer behandelt alle Steuer- Inflationsrate ist. Sie verzerrt damit die Konsum- pflichtigen gleich, indem sie gleich abweicht von Spar-Entscheidung um so mehr zu Lasten der Zu- dem unter dem Neutralitätsgebot angemessenen kunft. Satz von Null.

Die fehlende intertemporale Neutralität, um die es Von juristischer Seite ist gegen die Konsumorien- hier geht, läßt sich in die Einkommensbesteuerung tierung der Einkommensteuer eingewandt worden, einfügen, indem das Prinzip der Konsumorien- sie stehe in systematischem Widerspruch zu dem tierung eingeführt wird. Eine einfach zu handhaben- Gedanken der Steuer als einer unspezifischen de Form der Konsumorientierung ist die Zinsberei- Gegenleistung für die Bereitstellung öffentlicher nigung der Einkommen. Das zu versteuernde Ein- Güter. Denn diese öffentlichen Güter würden von kommen wird daher ermittelt, indem vom Brutto- den Bürgern bereits während ihrer Erwerbsphase in einkommen die Zinseinkünfte abgezogen werden. Anspruch genommen, der Staat müsse dann aber Grundsätzlich sind die Zinseinkünfte allerdings nicht zumindest zum Teil auf erst später erfolgenden in voller Höhe abzuziehen, denn die Konsum-Spar- Konsum warten, er trete insoweit also in Vorlei- Entscheidungen richten sich nicht an den im Kapi- stung.2 Bei der zinsbereinigten Einkommensteuer talmarkt realisierten Renditen aus – die ja auch Risi- – und daher bei der Abgeltungssteuer – ist das aber koprämien für die Übernahme spezieller Risiken nicht der Fall. Denn hier wird die Ersparnis aus ver- enthalten –, sondern an dem in diesen Renditen steuertem Einkommen finanziert, insoweit tritt also enthaltenen, also geringer anzusetzenden risikofrei- der Bürger in Vorleistung, nicht der Staat. en Zinssatz. Man kann die Kategorie des risikofrei- en Zinssatzes durch den marktüblichen Zinssatz konkretisieren. 2 Vgl. beispielsweise Schön (2001, 124).

32 Schließlich: Die Einführung einer Abgeltungssteuer Kapitalerträgen erstreckt wird. Um neue allokative auf Kapitalerträge würde zu dem Ziel einer Vereinfa- Schäden zu vermeiden, sollte die Abgeltungssteuer chung des Steuersystems beitragen. Darauf soll hier deshalb nicht einfach als eine Besteuerung von nicht weiter eingegangen werden. Lediglich zur Zinseinkünften, sondern als grundlegende Besteue- Höhe des Steuersatzes seien zwei Bemerkungen rung aller Kapitaleinkünfte eingeführt werden. angebracht. Da der Steuersatz der Körperschaft- steuer derzeit 25 Prozent beträgt, würde die Wahl dieses Satzes für die Abgeltungssteuer eine Literatur Differenzierung der Gewinne in Standard- und Über- gewinne bei den Kapitalgesellschaften überflüssig Kronberger Kreis (1996): Steuerreform für Arbeitsplätze und Umwelt, Band 30. Bad Homburg: Frankfurter Institut – machen. Das wäre ein Vorteil, wobei das krückenar- Stiftung Marktwirtschaft und Politik. tige Halbeinkünfteverfahren aufzuheben wäre. Die- Kronberger Kreis (2000): Abgeltungssteuer bei Kapitalein- ser Vorteil ist allerdings nicht hoch zu veranschla- kommen, Band 37. Bad Homburg: Frankfurter Institut – gen, wenn man die Einführung einer Abgeltungs- Stiftung Marktwirtschaft und Politik. Neumann, Manfred J.M. (2001): Standortbestimmung aus öko- steuer als einen ersten Schritt in Richtung einer voll- nomischer Sicht. In: Kirchhof, Paul / Neumann, Manfred ständigen Steuerentlastung normaler Kapitalerträge J.M. (Hg.). Freiheit, Gleichheit, Effizienz, Ökonomische und begreift. Dann liegt es näher, schon anfangs einen verfassungsrechtliche Grundlagen der Steuergesetz- niedrigeren Satz, etwa 20 Prozent, zu wählen. In gebung. Bad Homburg: Frankfurter Institut – Stiftung diesem Fall dürfte es sich vertreten lassen, daß die Marktwirtschaft und Politik, 23–33. Rose, Manfred (1994): Ein einfaches Steuersystem für Besteuerung abschließend ist, also auch für Bezie- Deutschland, Wirtschaftsdienst Nr. 8, 423–432. her geringer Einkommen kein Anrechnungsverfah- Schön, Wolfgang (2001): Schlußfolgerungen aus juristischer ren vorgesehen wird. Allerdings ist zu bedenken, Sicht. In: Kirchhof, Paul / Neumann, Manfred J.M. (Hg.). daß ein niedriger Steuersatz die Fremdfinanzierung Freiheit, Gleichheit, Effizienz, Ökonomische und verfas- sungsrechtliche Grundlagen der Steuergesetzgebung. Bad zulasten der Eigenfinanzierung begünstigen würde, Homburg: Frankfurter Institut – Stiftung Marktwirtschaft und sofern die Abgeltungssteuer nicht auf alle Arten von Politik, 121–127.

33 34 Eckwerte einer Abgeltungssteuer Peter Bareis für Deutschland

1 Einführung 2 Zur Rechtfertigung einer Abgeltungssteuer Die von dem damaligen Bundesfinanzminister ein- gesetzte Einkommensteuer-Kommission konstitu- Wer für eine Konsumausgabensteuer im Gewande ierte sich neun Jahre vor der Tagung der Stiftung der Einkommensteuer plädiert, verlangt im Ergebnis Marktwirtschaft zur Abgeltungssteuer, nämlich am eine völlige Steuerfreistellung der (durchschnittli- 11.11.1993. Ein Jahr später, am 8.11.1994, über- chen, normalen) Kapitalerträge („zinsbereinigte reichte sie dem Finanzminister in Bonn ihren Be- Einkommensteuer”3, „Einfachsteuer”4). Diese Forde- richt. Danach, so wird kolportiert, waren sofort rung erhebe ich nicht. Deshalb muß ich vor der Jecken bei ihm, um sich gegen den Vorschlag der Erwartung warnen, daß ich ein überzeugendes Kon- Kommission zu wenden, Ausgaben für Freizeitver- zept für eine gegenüber dem Spitzensatz der eine steuerlich nicht mehr für abziehbar zu erklären. Einkommensteuer wesentlich ermäßigte Abgel- tungssteuer liefern werde. Zinsen sind nach dem von Ganz so eindeutig wie die Aussagen zur steuerli- mir favorisierten Konzept realisierte Reinvermö- chen Abzugsfähigkeit dieser Ausgaben waren die genszugänge eines Individuums und daher bei die- Empfehlungen der Einkommensteuer-Kommission sem Individuum ebenso wie andere Reinvermögens- zur Zinsbesteuerung damals nicht.1 Die Kommis- zugänge normal zu besteuern. Aus dieser Sicht kann sion hat sich zwar gegen eine Konsumausga- eine evtl. niedrigere Besteuerung von „Ka- bensteuer oder entsprechende Vorschläge ausge- pitalerträgen” systematisch nicht begründet werden. sprochen, sich aber mit einer relativen Abgeltungs- steuer angefreundet. Daß dies heute noch eine Wer dagegen für eine Konsumausgabensteuer plä- sinnvolle Lösung ist, bezweifle ich, weil sich die diert, für den ist eine Abgeltungssteuer „ein Schritt Rahmenbedingungen besonders durch das Halb- auf dem Weg dorthin” (Kronberger Kreis 2000). Das einkünfteverfahren und den Wegfall der Vermögen- Bundesverfassungsgericht5 hält die Auffassung, steuer drastisch verändert haben und weil nach den daß Zinsen Einkünfte sind, zumindest nicht für ab- Plänen der Koalition2 weitere fragwürdige Detailän- wegig, weshalb eine Abgeltungssteuer auch von derungen folgen sollen. diesem Standpunkt aus beleuchtet werden muß.

1 These 10 der Einkommensteuer-Kommission (1995). 4 Rose (2002).

2 Entwurf des Steuervergünstigungsabbaugesetz 5 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom (StVergAbG). 27.06.1991, 2 BvR 1493/89, Bundessteuerblatt (BStBl.) II 1991, S. 654. Der Bundesfinanzhof (BFH) hält die 3 Stellvertretend sei auf die Vorschläge der sogenannten Zinsbesteuerung ebenfalls nicht für verfassungswidrig. KNS-Gruppe verwiesen. Vgl. Smekal/Sendlhofer/Winner Urteil des BFH vom 18.02.1997 VIII R 33/95, BStBl. II (1999), Rose (1991). 1997, S. 499 und vom 15.12.1998 VIII R 6/98, BStBl. II

35 „Eckwerte” stecken ein Gebiet ab. Das Ergebnis der ohne daß die Stimmen verstummt sind, die ihre Analyse hängt nicht nur von der Grundwertung, son- Wiedereinführung fordern (was ich für völlig indisku- dern auch davon ab, welche Rahmenbedingungen tabel halte).7 man als unveränderbar ansieht. Das kann je nach Standpunkt variieren. Insofern kann ich nur beding- Pragmatische Gesichtspunkte von einigem Gewicht te Aussagen treffen und werde mich auf die könnten vielleicht für eine Abgeltungssteuer auch Einkommen- und Körperschaftsteuer beschränken. dann sprechen, wenn eigentlich eine umfassende Einkommensteuer als Ideal angesehen wird. Die viel- Hätten wir eine wesentlich niedrigere Staatsquote6 fältigen Erfahrungen bei Ankündigungen von Zins- und wesentlich niedrigere Steuersätze, wäre das abschlag- und Kapitalertragsteuer zeigen, daß auch Thema weniger problematisch. So besteht wohl Deutschland nicht in der Lage ist, „scheues” Kapital Konsens darüber, daß der Spitzensatz bei der ohne wirtschaftliche Schäden „einzusperren”.8 Es Einkommensteuer weiter gesenkt werden muß. Ich besteht insoweit ein Steuerwettbewerb, der zu ermä- halte die vom „Karlsruher Entwurf” (Kirchhof 2001) ßigten Steuersätzen auf Kapitaleinkünfte veranlassen angestrebte Höchstgrenze von 35% für ein erstre- könnte. Die Tatsache, daß Kapitaleinkünfte nicht benswertes Ziel. Das bedeutet, daß auch Arbeits- immer voll besteuert werden – z.B. Kapitallebens- einkünfte nicht höher besteuert werden sollten. versicherungen oder Arbeitnehmersparen (§ 19a Einkommenssteuergesetz EStG) – oder daß bei Könnte eine Abgeltungssteuer eine Vorreiterrolle für Kapitaleinkünften, die nicht zu den Gewinneinkünften eine allgemeine Senkung der Steuersätze spielen gerechnet werden, nur die „Früchte”, grundsätzlich und wäre dies hinreichend wahrscheinlich, könnte aber keine Substanzgewinne (Veräußerungsge- ich mich dieser Forderung anschließen. winne) besteuert werden, daß schließlich Freibeträge gewährt werden, verdeutlicht, daß die hohe „normale” Mit niedrigeren allgemeinen Steuersätzen unter Grenzsteuerlast den Gesetzgeber zu Ausnahme- Beseitigung der differenzierenden Ausnahme- regelungen veranlaßt hat. tatbestände könnte die Staatsquote gemindert wer- den. Dann wären sowohl das Ziel der Vereinfachung Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß als auch das Ziel einer Eindämmung des staatlichen dies in ebenso beachtlichem Ausmaß auch bei Ar- Dirigismus erreicht. Insofern könnte die Forderung beitseinkünften der Fall ist, wenn man sich den nach einer Abgeltungssteuer einen zusätzlichen Katalog des § 3 EStG und die sonstigen Steuerer- Druck hin zu einer allgemeinen Senkung der Steuer- leichterungen (§§ 3b, 9a Nr. 1, 19a EStG, auch Fahr- sätze bewirken. Dies war auch der Grundgedanke ten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte) ansieht. der These 10 der Einkommensteuer-Kommission (1995). Heute bin ich skeptischer, was die Tragfähig- Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts9, keit eines solchen Konzeptes anlangt. Heute muß den staatlichen Steueranspruch tatsächlich durch- auch berücksichtigt werden, daß die damals noch zusetzen, ist mit zunehmender Höhe der Steuer- erhobene Vermögensteuer – eine ungerechtfertigte sätze immer schwieriger zu erfüllen. Ausweich- Zusatzbelastung der Kapitalerträge – entfallen ist, reaktionen beschränken sich jedoch keineswegs nur

1999, S. 138. Beide Urteile beziehen sich auf die Ver- 8 Eine Beurteilung der Ausweichreaktionen durch die Einfüh- fassungsmäßigkeit der Zinsbesteuerung im Veranlagungs- rung der Zinsabschlagsteuer zum 01.01.1993 findet sich in zeitraum 1993. Hierzu auch ausführlich Risto/Julius Deutsche Bundesbank (1994). Empirische Befunde zur (2002). Quellenbesteuerung von 1987 finden sich bei Wenger (1990). 6 Im Jahre 2001 betrug die Staatsquote (Gesamtausgaben des Staates in % des BIP) 48,3 %. Quelle: 9 BVerfG E vom 27.06.2001, 2 BvR 1493/89, BStBl. II 2001, www.destatis.de/basis/d/fist/fist027.htm S. 16. 10 Hierzu ausführlich Institut für Angewandte Wirtschaftsfor- 7 „Gabriel und Steinbrück treiben Plan für Vermögensteuer schung (2001). voran”, Süddeutsche Zeitung vom 27.11.2002; „Union uneinig über Vermögensteuer”, Financial Times Deutsch- 11 Auch die Vertreter einer konsumorientierten Besteuerung land vom 26.11.2002. sprechen sich hierfür aus. Siehe hierzu Fußnote 3.

36 auf Kapitaleinkünfte. Auch die Schattenwirtschaft gewinne nach geltendem Recht keine Einkünfte. Die wächst mit wachsenden Steuersätzen.10 Es müßten Abgrenzung der Steuerbarkeit nach den Kriterien also durch die Rückführung von Fluchtkapital so der fehlenden Überschußerzielungsabsicht oder der hohe Einnahmen erzielt werden, daß deshalb auch Liebhaberei dürfte nur unvollkommen gelingen.13 die übrigen Einkünfte niedriger besteuert werden Auch muß hier folgerichtig verfahren werden. Wird können. Ob dieser Beweis gelingt und ob die die Besteuerung auf die Erträge beschränkt, dürfen Reaktionen der Arbeitnehmer und Gewerkschaften in die Totalerfolgsermittlung für die Prüfung der dies nicht konterkarieren, ist unklar. Einkunftserzielungsabsicht keine Substanzgewinne einbezogen werden.

3 Zur Ausgestaltung einer Selbst wenn der Kapitalbegriff definitorisch befriedi- Abgeltungssteuer gend abgrenzbar wäre, kann die Abgeltungssteuer kaum auf laufende Erträge beschränkt bleiben, da Es ist nicht selbstverständlich, was unter „Erträgen sich diese in vielen Fällen nicht eindeutig von aus Kapital” zu verstehen sein soll. Dazu wäre Substanzgewinnen unterscheiden lassen. Eine zunächst eine allgemein akzeptierte Definition des Abgeltungssteuer muß deshalb nach der Reinver- Kapitalbegriffs notwendig. Eine einwandfreie und mögenszugangstheorie erhoben werden, das heißt allgemein akzeptierte Differenzierung zwischen es sind auch Substanzgewinne als abgeltungs- Erträgen aus Arbeits- und solchen aus Kapitalein- pflichtig zu betrachten (Beispiel: § 20 Abs. 1 Nr. 4 kommen ist meines Erachtens nicht möglich. Unklar Satz 2 EStG: keine nachgewiesene Emissions- ist deshalb, ob unter eine Abgeltungssteuer – neben rendite). Sollten die Koalitionsbeschlüsse Gesetz den Kapitalerträgen nach § 20 EStG – zum Beispiel werden, kann erst recht nicht mehr auf die Quellen- auch der ganze Gewinn oder ein Teil des Gewinns theorie Bezug genommen werden.14 eines Einzelgewerbetreibenden fallen sollten. Dies wäre meines Erachtens folgerichtig.11 Interpretiert man die direkte Progressionszone des Steuertarifs als Umverteilung zugunsten einkom- Doch auch die Frage, ob z.B. ein Beamter, dem sein mensschwacher Steuersubjekte, die unbedingt für Dienstherr eine Pensionszusage nach dem „Alimen- alle Einkünfte zu gewähren ist, so muß man für eine tationsprinzip” versprochen hat, in Höhe des in der relative Abgeltungssteuer plädieren. Wer einen Aktivenzeit entgangenen Arbeitseinkommens rech- geringeren Differenzsteuersatz als den Abgeltungs- nerisch für das Leibrentenversprechen „gespart” satz aufweist, darf die abgeltungspflichtigen Ein- hat, wird teilweise bejaht.12 Insoweit müßte die künfte in die Steuerveranlagung einbeziehen.15 Rente als „Kapitalertrag” anzusehen sein. So weit sollte der Begriff wohl nicht ausgedehnt werden. Juristische Personen, besonders Kapitalgesell- schaften, haben keine eigene Leistungsfähigkeit. Es muß daher auf die inhaltliche Abgrenzung in § 20 Eine wie auch immer geartete Körperschaftsteuer EStG zurückgegriffen und es kann formal an die kann daher nur Abgeltungs- oder Vorauszahlungs- Kapitalertragsteuer angeknüpft werden. Ob und steuer für die Einkommensteuer sein. Hier zeigt sich inwieweit die Früchte des Kapitaleinsatzes bei den bei der geltenden definitiven Körperschaftsteuer ein übrigen Einkünften abgrenzbar sind, ist fraglich. besonderes Problem. Die gegenwärtige Vorbela- Unter Umständen muß zusätzlich zwischen freiwilli- stung beträgt bereits mehr als 35 %, werden Ge- gem und erzwungenem Konsumverzicht unterschie- winnrücklagen aus der Zeit vor dem Systemwechsel den werden. ausgeschüttet, wegen der faktischen Definitivsteuer von 30% noch wesentlich mehr. Denn es muß auch In manchen Fällen ist unklar, ob es sich überhaupt die Gewerbeertragsteuer in die Belastungsrech- um „steuerbare” Einkünfte handelt. So sind Lotto- nung einbezogen werden, da sie faktisch zur Sonder-

12 So Wagner (1999; 2000). 14 Der Entwurf des StVergAbG sieht eine Ausdehnung der Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte vor. 13 Ausführlich hierzu beispielsweise Fischer (1999). 15 So geschehen in Belgien, Frankreich, Österreich und

37 steuer für Kapitalgesellschaften geworden ist. Beträgt Bei einer Abgeltungssteuer ist das Problem des daher der Abgeltungssteuersatz weniger als 40 %, so Abzugs von Betriebsausgaben oder Werbungs- darf auf Gewinnausschüttungen und Dividenden kosten zu lösen. Hier darf nicht der Fehler bei der inländischer Kapitalgesellschaften keine Abgel- Körperschaftsteuer wiederholt werden, wonach Be- tungssteuer mehr erhoben werden, denn die Defi- triebsausgaben oder Werbungskosten als nicht ab- nitivbelastung liegt bereits bei oder über diesem Satz. ziehbar erklärt werden, wenn sie mit „steuerfreien Einnahmen” im Zusammenhang stehen. Betrachtet Wird so verfahren, dann stellt sich in aller Schärfe man die Körperschaft- und Gewerbeertragsteuer die Frage, wie bei gewerblichen Personenunterneh- der Kapitalgesellschaft als Abgeltungssteuer für die men, bei Land- und Forstwirten und bei Selbstän- Anteilseigner, dann beziehen diese zwar formal- digen, aber auch bei Vermietern verfahren werden rechtlich „steuerfreie Einkünfte”. Diese Einkünfte soll. Denn in allen diesen Fällen ist Kapital für diese sind aber bereits mit Abgeltungssteuer von über 35 Tätigkeiten bereitgestellt, dessen „Verzinsung” mit % belegt. Diese muß den Anteilseignern zugerech- niedriger Abgeltungssteuer belegt werden müßte. net werden. Ihre damit zusammenhängenden Die Frage, wie bei Verlusten zu verfahren ist, kann Werbungskosten oder Betriebsausgaben müssen ich nicht befriedigend beantworten: Muß dann unter- folglich voll abziehbar sein. stellt werden, daß ein positiver Kapitalertrag vorhan- den ist, der trotz Gesamtverlust mit Abgeltungs- Der Abgeltungssteuersatz sollte für alle Kapital- steuer zu belegen ist? einkünfte dieselbe Höhe haben. Die fein ziselierten Unterscheidungen beim geltenden Kapitalertrag- Eine definitive Abgeltungssteuer führt, soweit der steuerabzug sind nicht begründbar.16 Veräußerungspreis – z.B. bei einer Aktie – bereits auf der Ebene der Kapitalgesellschaft mit Definitivsteuer Sollte erwogen werden, wegen des internationalen belegte Erträge vergütet, zu einer Doppelbesteu- Steuerwettbewerbs einen niedrigeren Satz als den erung des Veräußerers, da neben dem Kaufpreis- für 2005 in Aussicht genommenen Spitzensatz der abschlag in Höhe der Definitivbelastung der Veräuße- Einkommensteuer von 42% für die Abgeltungssteuer rungsgewinn der Aktien oder GmbH-Anteile zu- zu wählen, so muß dies meines Erachtens nach den sätzlich steuerpflichtig ist. Wird die Körperschaft- derzeitigen Rahmenbedingungen vom Gesetzgeber steuer nach geltendem Recht als Abgeltungssteuer als gezielte Lenkungsmaßnahme zur Förderung von für die Einkommensteuer betrachtet – was meines Investitionen sehr genau begründet werden.17 Sonst Erachtens bei Einführung einer Abgeltungssteuer stellt sich mit aller Schärfe die Frage nach der zwingend ist – und sollen Anteilsgewinne und -verlu- Gleichmäßigkeit im Vergleich mit den Einkünften, die ste generell steuerpflichtig werden, sehe ich auch nicht unter die Abgeltungssteuer fallen. hierfür keine zufriedenstellende Lösung.

4 Fazit

Portugal. Siehe vertiefend Jacobs (2002, 123). Der Druck auf die Politik, generell die Grenzsteuer- 16 § 43a EStG unterscheidet fünf Abschlagsätze zwischen 35 sätze bei der Einkommensteuer zu senken, muß % und 10 %. nicht nur für Kapitaleinkünfte aufrecht erhalten blei- 17 Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil ben. Ob die Forderung nach einer ermäßigten vom 6.3.2002, 2 BvL 17/99, BStBl. 2002 II, S. 618, in sei- Abgeltungssteuer für Kapitaleinkünfte diesen Druck nem zweiten Leitsatz besonders hervorgehoben: „Sollten nichtfiskalische Förderungs- und Lenkungszwecke den erhöht, ist nach der Einführung des unsystemati- rechtfertigenden Grund für steuerliche Vergünstigungen schen Halbeinkünfteverfahrens und dem nun bilden, so ist neben einer erkennbaren Entscheidung des bekannt gewordenen Inhalt der sogenannten Gesetzgebers auch ein Mindestmaß an zweckgerechter „Giftliste” des Bundesfinanzministeriums sehr frag- Ausgestaltung des Vergünstigungstatbestandes erforder- lich.” Fleißig (2000) gibt einen Überblick zur Zinsbesteu- lich. Der Grundsatz der Besteuerung nach der finan- erung ausgewählter EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz. ziellen Leistungsfähigkeit wird in der Praxis immer Ein Kurzüberblick findet sich bei Hofmann (2002). stärker vom Grundsatz der Beliebigkeit verdrängt.

38 Literaturverzeichnis Kirchhof, Paul (2001). Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes, Heidelberg: C.F.Müller Verlag. Kronberger Kreis (2000). Abgeltungssteuer bei Kapitalein- Deutsche Bundesbank (1994). Monatsbericht Januar. Frankfurt/ kommen. Bad Homburg: Frankfurter Institut – Stiftung Main: Deutsche Bundesbank. Marktwirtschaft und Politik. Einkommensteuer-Kommission. (1995). Thesen der Ein- Risto, Ulrich / Julius, Jürgen (2002). Die Verfassungswidrigkeit kommensteuer-Kommission zur Steuerfreistellung des der Zinsbesteuerung. Der Betrieb, Beilage Nr. 4 zu Heft 17, Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der Einkom- S. 1–11. mensteuer. Bonn: Bundesministerium der Finanzen. Rose, Manfred (Hg.). (1991). Konsumorientierte Neuordnung Fischer, Gerd. (1999). ABC - L5, Lotterie, Preise, Wetten, sonsti- des Steuersystems. Heidelberg: Springer-Verlag. ge Leistungen, in: Karl-Friedrich Peter (Hg.). ABC der Rose, Manfred (2002). Einfachsteuer. Heidelberg: abzugsfähigen/nichtabzugsfähigen Ausgaben, in: Neue Internetpräsentation, abrufbar unter www.einfachsteuer.de. Wirtschafts-Briefe Fach 3c, S. 5300–5301. Smekal, Christian / Sendlhofer, Rupert / Winner, Hannes (Hg.). Fleißig, Eva. (2000). Die Harmonisierung der Zinsbesteuerung in (1999). Einkommen versus Konsum: Ansatzpunkte zur der EU: eine Analyse unter rechtsvergleichender Steuerreformdiskussion, Heidelberg: Physica. Berücksichtigung der Besteuerung in Deutschland, Öster- Wagner, Franz W. (1999). Die Integration einer Abgeltungssteuer reich, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg und der in das Steuersystem – Ökonomische Analyse der Schweiz, Köln: Josef Eul. Kapitaleinkommensbesteuerung in Deutschland und der Hofmann, Norbert (2002): Zinsbesteuerung in Europa, in: EU. Der Betrieb 1999, S. 1520–1528. Datenverarbeitung, Steuer, Wirtschaft, Recht, S. 127–128. Wagner, Franz W. (2000). Zinsbesteuerung in Form einer defini- Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (2001). tiven Abgeltungssteuer? in: Mayer, Horst (Hg.). Unterneh- Schattenwirtschaft in Deutschland: Fluch oder Segen? mensbesteuerung – Perspektiven der Besteuerung. Mitteilungen 4/2001. Tübingen: Institut für Angewandte Stuttgart: Richard Boorberg, S. 81–96. Wirtschaftsforschung. Wenger, Ekkehard (1990). Das Quellensteuerexperiment von Jacobs, Otto H. (2002). Internationale Unternehmens- 1987. Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft, S. 177– besteuerung, 5. Auflage. München: Beck. 190.

39 40 Rückführung von Fluchtkapital

41 42 Rückführung von Fluchtkapital als Lars P. Feld* Voraussetzung für den fiskalischen Erfolg einer Abgeltungssteuer?

1 Einleitung Maßnahme sicherstellen soll, daß hinreichend viel Kapital in Deutschland repatriiert wird. „Es ist besser, wenn Geld in Leipzig arbeitet als Steuersündern, die Kapital im Ausland angelegt wenn es in Liechtenstein auf Banken rumliegt. Das haben und die Einkünfte daraus den deutschen ist das Prinzip, um das es geht.”1 Mit dieser Finanzbehörden vorenthalten, solle somit der Weg Bemerkung schreckte Bundeskanzler Schröder im zurück in die Legalität geebnet werden.5 August diesen Jahres im Zusammenhang mit der Diskussion um den „Job-Floater” der Hartz- Dieser Beitrag handelt weder von den Vorschlägen Kommission seinen Finanzminister auf. Dieser lehn- der Hartz-Kommission noch von der ökonomischen te den Vorschlag einer Steueramnestie für im Vorteilhaftigkeit einer Abgeltungssteuer auf Kapital- Ausland angelegtes Fluchtkapital umgehend als einkünfte. Hier geht es vielmehr um die im „Schlag ins Gesicht aller ehrlichen Steuerzahler” Zusammenhang mit dem „Job-Floater” diskutierte ab,2 um danach vorzugeben, man denke im Finanz- Rückführung von Fluchtkapital als Voraussetzung ministerium über Lösungen des Problems nach, und für den fiskalischen Erfolg einer Abgeltungssteuer. schließlich für eine Lösung auf EU-Ebene zu votie- Es sind zwei Fragen, die sich daraus vordergründig ren.3 Kürzlich nahm der britische Schatzkanzler ergeben. Zum einen ist zu klären, was sich hinter Gordon Brown die Idee einer Steueramnestie für der Formulierung „Rückführung von Fluchtkapital” Fluchtkapital im Zusammenhang mit der Frage des verbirgt: Es geht um eine partielle Steueramnestie Informationsaustauschs bei der Besteuerung von für repatriiertes und bislang unversteuertes Kapital Kapitaleinkünften in der EU und den Verhandlungen aus dem Ausland. Steuersündern wird keine allge- mit der Schweiz auf.4 meine Amnestie gewährt. Lediglich den in Deutsch- land Steuerpflichtigen, die Kapitalvermögen im Aus- Die Opposition näherte sich der Idee einer Steuer- land halten, daraus Einkünfte beziehen und diese amnestie wohlwollend vorsichtig. dem Finanzamt verheimlichen, wird damit ein brachte in diesem Zusammenhang eine Abgeltungs- Angebot zur Rückkehr in die Legalität unterbreitet. steuer auf Kapitaleinkünfte in Höhe von 25 Prozent in die Diskussion, welche die neue Glaubwürdigkeit Diese partielle Steueramnestie wird zum zweiten im der deutschen Politik in der Besteuerung von Hinblick auf den fiskalischen Erfolg einer Ab- Kapitaleinkünften ausdrücken und als flankierende geltungssteuer zu untersuchen sein. Wieviel an

* Ich danke Vito Tanzi (Staatssekretär im italienischen Financial Times Deutschland vom 12.8.2002, Finanzministerium) und Massimo Bordignon (Università http://www.ftd.de/pw/de/. Cattolica die Milano) für die detaillierten Auskünfte zur jüngsten italienischen Steueramnestie sowie Jan 3 Siehe „Steueramnestie fliegt aus Bericht der Hartz- Schnellenbach (Philipps-Universität Marburg) für die Kommission”, Financial Times Deutschland vom Unterstützung bei der Datenaufbereitung. 13.8.2002, http://www.ftd.de/pw/de/. 1 Zitiert nach „Regierung fährt bei Steueramnestie 4 Siehe „Steueramnestie als Waffe gegen die Schweiz?” Zickzackkurs”, Financial Times Deutschland vom Neue Zürcher Zeitung Nr. 259 vom 7.11.2002, S. 21. 12.8.2002, http://www.ftd.de/pw/de/. 5 Siehe „Große Koalition für Steueramnestie”, Handelsblatt 2 Zitiert nach „Regierung plötzlich doch für Steueramnestie”, vom 29.7.2002, http://www.handelsblatt.com.

43 zusätzlichen Steuereinnahmen kann der Fiskus während Steuerzahler mit Grenzsteuersätzen über durch eine Amnestie cum Einführung einer 25 Prozent, sofern sie bislang ihre Einkünfte ord- Abgeltungssteuer unmittelbar erwarten? Es sollte nungsgemäß deklarieren, besser gestellt werden. unstreitig sein, daß aus einer Abgeltungssteuer auf Auch für den Fall, daß Steuerzahler mit einem Kapitaleinkünfte gesamthaft ökonomische Vorteile Grenzsteuersatz der Einkommensteuer über 25 resultieren (Kronberger Kreis, 2000). Der fiskalische Prozent bisher steuerunehrlich sind, können unab- Erfolg einer Abgeltungssteuer ist hingegen zweifel- hängig von einer Rückführung von Fluchtkapital haft. Ohne die zusätzliche Versteuerung des im keine zusätzlichen Steuereinnahmen erwartet wer- Ausland gehaltenen Finanzvermögens der Bundes- den. Es läßt sich zwar argumentieren, daß die Abgel- bürger dürfte die Einführung einer Abgeltungssteuer tungssteuer heutige Steuerhinterzieher mit inländi- eher mit zusätzlichen Belastungen der Bundes- und schen Kapitaleinkünften aufgrund des Quellen- Länderhaushalte einhergehen. abzugsverfahrens zu der gesetzlich vorgesehenen Steuerzahlung zwingt, insofern also die Steuerhinter- Dies läßt sich folgendermaßen begründen: Gegen- ziehung reduziert. Da nach dem derzeitigen Steuer- wärtig wird eine Zinsabschlagsteuer in Höhe von 30 recht die Zinsabschlagsteuer (Kapitalertragsteuer) Prozent auf Zinseinkünfte (35 Prozent im Tafelge- an der Quelle abgeführt wird, kann lediglich die schäft) und eine Kapitalertragsteuer von 20 Prozent Differenz zwischen persönlichem Grenzsteuersatz bei Gewinnanteilen erhoben. Die Kapitalertrag- und Zinsabschlag hinterzogen werden. Bei Einfüh- steuer und der Zinsabschlag sind als Steuervoraus- rung einer Abgeltungssteuer in Höhe des jetzigen zahlung auf Kapitaleinkommen konzipiert, so daß Zinsabschlags von 30 Prozent sind von diesen Steu- steuerehrliche Bürger ihre Zins- und Dividendenein- erpflichtigen also lediglich Steuereinnahmen in glei- künfte mit dem Grenzsteuersatz der Einkommen- cher Höhe zu erwarten. Liegt der Abgeltungssatz wie steuer belastet sehen und der Finanzminister geplant unter 30 Prozent, drohen sogar Minder- dadurch weitere Steuereinnahmen verbuchen kann. einnahmen. Der fiskalische Erfolg der Abgel- Steuerzahler mit einem individuellen Einkommen- tungssteuer könnte sich somit allenfalls mittelbar und steuersatz unterhalb von 30 Prozent (20 Prozent) in der langen Frist aufgrund positiver Wachstums- erhalten eine Steuererstattung, solche mit einem effekte einer Reform der Kapitaleinkommensbesteu- individuellen Einkommensteuersatz oberhalb von 30 erung einstellen. Anders gewendet ist der unmittel- Prozent (20 Prozent) wird die Zinsabschlagsteuer bare fiskalische Erfolg einer Abgeltungssteuer an (Kapitalertragsteuer) angerechnet. Der im den Erfolg bei der Rückführung von Fluchtkapital Bundestagswahlkampf von der CDU/CSU vorge- gebunden. Diese ist realistischerweise ohne partielle brachte und jüngst von der Bundesregierung aufge- Steueramnestie nicht erreichbar. griffene Vorschlag sieht eine Abgeltungssteuer auf Zinserträge von 25 Prozent vor. Die Steuer- Die im Titel des Beitrags enthaltene Frage ist damit erstattung für die Steuerpflichtigen, deren individuel- zu einem guten Teil bereits beantwortet; dies aber ler Einkommensteuersatz unter dem Kapitalertrag- dennoch nur zum Teil, denn weitere Fragen schlie- steuersatz liegt, soll nach Einführung der Abgel- ßen sich an, wovon manche eher naheliegend, an- tungssteuer beibehalten werden (relative Abgel- dere den üblichen Überlegungen zum Thema Steu- tungssteuer). Die Steuerzahler, deren individueller eramnestie weiter entrückt sind. Es gilt zunächst, Grenzsteuersatz über 25 Prozent liegt, können den potentiellen fiskalischen Erfolg einer solchen durch die Abgeltungssteuer im Vergleich zur derzei- partiellen Steueramnestie im Vergleich zu allgemei- tigen Regelung einen Steuervorteil verbuchen. nen Steueramnestien herauszustellen. In Abschnitt 2 werden Steueramnestien in ausgewählten Aus dieser Konstellation dürfte sich eine fiskalische Ländern auf ihren fiskalischen Erfolg hin untersucht, Belastung der öffentlichen Haushalte ergeben, da wobei die Erfahrungen in diesen Ländern es erlau- Steuerzahler mit Grenzsteuersätzen unter 25 Pro- ben, allgemeine mit partiellen Steueramnestien zu zent nicht schlechter gestellt werden und dadurch vergleichen, die speziell zur Rückführung von keine zusätzlichen Steuereinnahmen entstehen, Fluchtkapital dienen. In Abschnitt 3 werden die

44 Erfahrungen in Italien im Jahr 2001/2002 dargelegt. ohne daß die Strafsteuern und weitere pönale Re- Diese jüngste Steueramnestie, das sogenannte meduren, die im Falle der Entdeckung von Steuer- „scudo fiscale”, ermöglicht es, die Bedingungen für hinterziehung Anwendung finden, zum Zuge kom- den fiskalischen Erfolg einer Amnestie zur Rück- men. Die Vor- und Nachteile von Steueramnestien führung von Fluchtkapital zu ermitteln. Eine Steuer- sind erst in jüngerer Zeit von Ökonomen diskutiert amnestie kann aber nicht isoliert im Hinblick auf worden.7 Verfechter einer Steueramnestie betonen ihren fiskalischen Erfolg betrachtet werden. Viele den sofortigen und kurzfristigen fiskalischen Erfolg, Argumente in der politischen Diskussion beziehen der eintritt, wenn Individuen die Gelegenheit zur sich auf die allgemeine Problematik der Steuer- Nachzahlung von Steuern ergreifen, um ohne straf- hinterziehung, vor allem aber auf die Bestimmungs- rechtliche Konsequenzen den Weg zurück in die gründe der Steuermoral. Die Betrachtung wird daher Legalität zu finden. Auch können zukünftige Steuer- in Abschnitt 4 in den Gesamtzusammenhang von zahlungen höher ausfallen, wenn durch die Am- Steuerhinterziehung und Steuermoral eingebettet. nestie Steuerzahler dauerhaft dazu angehalten wer- In Abschnitt 5 erfolgt auf Basis der in den den, ihr Einkommen voll zu deklarieren. Dies gilt Abschnitten zuvor angestellten Überlegungen nach Ansicht einiger Autoren vor allem dann, wenn abschließend eine Einschätzung des Erfolgs einer die Amnestie mit einer Verschärfung des Straf- partiellen Steueramnestie in Deutschland. maßes für Steuerhinterziehung und/oder mehr Aus- gaben für die Steuerfahndung verknüpft wird. 2 Der fiskalische Erfolg von Steueramnestien Die Kritiker einer Steueramnestie bezweifeln auf- grund der Erfahrungen mit Steueramnestien in ver- Steueramnestien als Mittel der staatlichen Finanz- schiedenen Ländern den kurzfristigen fiskalischen politik sind bereits seit dem antiken Rom bekannt. Erfolg. Noch schädlicher schätzen sie jedoch die Verschiedene Länder haben in jüngerer Zeit mit langfristigen Wirkungen von Steueramnestien ein. einer Steueramnestie neue Wege in der öffentlichen Ehrliche Steuerpflichtige fragen sich, warum sie sich Einnahmenerzielung eingeschlagen. Dazu gehören ehrlich verhalten sollen, wenn Steuerhinterzieher neben einigen westeuropäischen Ländern wie bevorzugt behandelt werden, und ziehen die Belgien, Frankreich, Irland, Italien, Österreich und Möglichkeit der Steuerhinterziehung für sich ernst- der Schweiz auch asiatische Länder wie Indien, hafter in Betracht. Schließlich bekommen Individuen Indonesien, Pakistan, die Philippinen und Sri Lanka Appetit auf weitere Steueramnestien, wenn eine sowie die pazifischen Staaten Australien und Amnestie nicht glaubhaft als einmalige Gelegenheit Neuseeland. Insbesondere in lateinamerikanischen erscheint. Sie werden sich weniger steuerehrlich Ländern wurde das Instrument der Steueramnestie verhalten und Steuern bis zur nächsten Steuer- 8 wiederholt – zuweilen in zweijährigen Abständen – amnestie dem Fiskus vorenthalten. genutzt, um neue Einnahmen für den Fiskus zu erzielen. Zudem sind Steueramnestien in den 1980er und 1990er Jahren von einer Reihe von U.S.-Bundesstaaten als probates Mittel der 6 Für einen relativ neuen Überblick über die verschiedenen Steuerpolitik betrachtet worden. In der Periode von Steueramnestien siehe Hasseldine (1998). 1982 bis 1997 wurde in 35 U.S.-Bundesstaaten (und 7 Frühe Arbeiten zur ökonomischen Analyse von Steueram- in Washington, D.C.) von Steueramnestien in der nestien stammen von Leonard und Zeckhauser (1987), Alm einen oder anderen Form Gebrauch gemacht, d.h. / Beck (1990), Andreoni (1991), Malik / Schwab (1991) und als Amnestierung entweder der Einkommen- und Stella (1991). Eine Übersicht über die verschiedenen Argumente findet sich in Alm und Martinez-Vazquez (2002). Körperschaftsteuern oder sämtlicher von dem betreffenden Bundesstaat erhobenen Steuerarten.6 8 Alm und Martinez-Vazquez (2002, S. 40) verweisen auf Milka Casanegra de Jantscher (Ehemalige Leitung der Abteilung Steuerverwaltung des Fiscal Affairs Department Eine Steueramnestie gibt grundsätzlich die Möglich- des IMF), wonach eine Steueramnestie „bread for today, keit, bislang nicht entrichtete Steuern nachzuzahlen, hunger for tomorrow” bedeute.

45 Da bereits der kurzfristige fis- kalische Erfolg einer Steuer- amnestie umstritten ist, er- scheint es sinnvoll, die bishe- rigen Erfahrungen mit Steuer- amnestien etwas näher zu be- trachten. Tabelle 1 enthält die wichtigsten Daten zu Steuer- amnestien in den amerikani- schen Bundesstaaten.9 Ne- ben dem Namen des Bundes- staates und dem Jahr der Amnestie sind die durch die Steueramnestie betroffenen Steuerarten, die zusätzlichen Steuereinnahmen in Mio. U.S.-$ und in Prozent der gesamten Steuereinnahmen sowie die Existenz einer Teil- zahlung aufgeführt. Bemer- kenswert ist zunächst, daß sich die U.S.-Bundesstaaten in der Regel für eine allgemei- ne Steueramnestie entschie- den haben. In nur wenigen Fällen, wie in Kalifornien, Ida- ho, Oklahoma und Texas, be- zieht sich die Steueramnestie auf einzelne Steuerarten. So- wohl hinsichtlich des fiskali- schen Erfolgs gemessen in den zusätzlichen absoluten Steuereinnahmen als auch in bezug auf den relativen fiska- lischen Erfolg der Amnestie in Prozent der gesamten Steuer- einnahmen läßt sich eine erhebliche Variation zwischen den Staaten feststellen. Wäh- rend North Dakota vor knapp 20 Jahren nur 200.000 U.S.-$ mit einer Amnestie einnahm, gelang es dem Staate New York nur 3 Jahre später ganze Tabelle 1: Steueramnestien der amerikanischen Bundesstaaten und ihr 401,3 Mio. U.S.-$ zu erlösen. fiskalischer Erfolg

9 Die in Tabelle 1 von Hasseldine (1998) übernommenen und Hirlinger (1986) sowie Alm und Beck (1991) auf Daten wurden mit den Angaben von Mikesell (1986), Parle Konsistenz überprüft.

46 Diese Summen relativieren sich jedoch, wenn man Steuereinnahmen auch hinter den Einnahmen der sie in Relation zu den gesamten Steuereinnahmen U.S.-Bundesstaaten) zurück. Im Rahmen des Pro- setzt. Mehr als 2,6 Prozent der Steuereinnahmen gramms zur Rückführung von Fluchtkapital wurde ließen sich in keinem Fall erzielen. Dieses ‚Kunst- eine einmalige Abgeltungssteuer von 25 Prozent stück' gelang New Jersey mit seiner Amnestie im auf Kapitaleinkommen fällig. Auch die folgende par- Jahre 1996. Im Durchschnitt werden durch eine tielle Amnestie für Fluchtkapital im Jahr 1986, die Amnestie zusätzliche Einnahmen in Höhe von 0,76 mit einer einmaligen Abgeltungssteuer von 10 Prozent der gesamten Steuereinnahmen im Budget Prozent einherging, erfüllte die Erwartungen nach verbucht. Der Median liegt bei nur 0,5 Prozent, da Einschätzung Hesseldines (1998), die jedoch nicht alleine 14 Bundesstaaten Einnahmen unter 0,2 quantitativ untermauert wird, nicht. Prozent der gesamten Steuereinnahmen hatten. Texas mit einer Amnestie im Rahmen der Sales Tax und zusätz- lichen Einnahmen von 0,006 Prozent im Jahr 1984 sowie Louisiana mit einer allgemeinen Amnestie im Jahr 1987 und zusätz- lichen Einnahmen von 0,008 Prozent der Steuereinnahmen hat- ten den geringsten Erfolg. Es läßt sich zudem feststellen, daß Folgeamnestien von Ausnahmen abgesehen eher weniger zusätzli- che Einnahmen bescherten. Wenn reuige Steuersünder im Zusam- menhang mit der Amnestie die Steuerzahlungen in Raten be- gleichen konnten, wirkte sich dies weder zum Vor- noch zum Nachteil der Finanzbehörden aus.

Der moderate fiskalische Erfolg von Steueramnestien bestätigt sich im internationalen Vergleich nur teilweise (Tabelle 2). Die Hälfte der hier aufgeführten Amnestien waren fiskalisch eher erfolgreich, die andere Hälfte eher erfolglos. Insbesondere die französischen Steueramnestien von 1982 und 1986 waren fiskalisch ein deutli- Tabelle 2: Steueramnestien in ausgewählten Ländern und fiskalischer Erfolg cher Mißerfolg. Im Jahr 1982 boten die französischen Finanzbehörden eine allgemeine Es läßt sich nicht feststellen, daß Teilamnestien zur Steueramnestie kombiniert mit einem speziellen Rückführung von Fluchtkapital allgemein erfolglos Programm zur Rückführung nicht versteuerter waren. Während Frankreich in seinen Teilamnestien Finanzanlagen aus dem Ausland an. Zusammen genau so viel Mißerfolg wie in der allgemeinen blieben die Steuereinnahmen weit hinter den Amnestie hatte, obwohl sie mit einer moderaten Erwartungen (und in Relation zu den gesamten (wenn auch einmaligen) Abgeltungssteuer auf

47 Kapitaleinkommen verbunden waren, waren Italien würde und dies eine einmalige Gelegenheit sei. Die- und Österreich eher erfolgreich. Die Bezugsgröße se Erwartung ist im wesentlichen bestätigt worden. zur Einschätzung des fiskalischen Erfolgs der öster- reichischen Abgeltungssteuer ist zwar eine andere Als Zwischenergebnis läßt sich nach Betrachtung als in den anderen Ländern, ein Anstieg der der Steueramnestien einer Reihe von U.S.- Steuerbasis der Kapitalertragsteuer (KESt) um 58 Bundesstaaten und ausgewählter Länder festhalten, Prozent ist aber sicherlich als Erfolg zu werten daß der kurzfristige fiskalische Erfolg nicht über- (Schuster 1999). wältigend ausfiel (Mikesell 1986). Am Beispiel Colorados verdeutlichen Alm und Beck (1993) in Im Vergleich zu den amerikanischen Bundesstaaten einer sorgfältigen Zeitreihenanalyse mit Monats- darf auch die letzte allgemeine Steueramnestie in daten von 1980 bis 1989, daß eine Steueramnestie der Schweiz aus den Jahren 1968/69 als erfolgreich zudem keine langfristigen Wirkungen auf die Steu- gelten. Der „Bundesbeschluß über den Erlaß einer ereinnahmen hat.10 Es wurden in diesem Beispiel allgemeinen Steueramnestie” mußte eine Volks- weder neue Steuereinnahmen generiert, noch die abstimmung nach den Regeln des obligatorischen Steuerehrlichkeit signifikant unterminiert. Die Am- Verfassungsreferendums passieren, bei der nicht nestieskeptiker werden somit hinsichtlich der kurzfri- nur eine einfache Mehrheit der Stimmbürger, son- stigen Wirkungen von Steueramnestien bestätigt, dern auch eine Mehrheit der Kantone zustimmen hinsichtlich der langfristigen Wirkungen auf die mußte. Am 18. Februar 1968 wurde die Steuer- Steuermoral aber widerlegt. Der skeptischen Sicht amnestie mit 61,9 Prozent der abgegebenen läßt sich im Hinblick auf den kurzfristigen Erfolg der Stimmen bei einer Stimmbeteiligung von 41 Prozent Steueramnestien entgegenhalten, daß die meisten angenommen, wobei in allen Kantonen eine Mehr- der betrachteten Amnestien zwei wesentliche Be- heit erzielt werden konnte. Der Amnestie von dingungen für erfolgreiche Steueramnestien zudem 1968/69 war im Jahr 1964 ein Amnestieversuch vor- nicht erfüllen. Zum einen erscheinen die meisten ausgegangen, der sehr deutlich mit 58 Prozent der Steueramnestien den Steuerzahlern nicht glaubhaft abgegebenen Stimmen und 18,5 zu 3,5 Kantonen als einmalige Gelegenheit. In den USA griffen unter- abgelehnt wurde. Der Unterschied zwischen beiden schiedliche Bundesstaaten nach der ersten „Welle” Gesetzesvorlagen findet sich im wesentlichen in der Steueramnestien Mitte der achtziger Jahre be- einem Punkt. Der abgelehnte Gesetzentwurf von reits zu Beginn der neunziger Jahre zu Folgeam- 1964 wurde mit einer schärferen Kontrolle der nestien. Auch den betrachteten nationalen Am- Steuerhinterziehung verknüpft, die auch eine perso- nestien fehlt diese Glaubwürdigkeit, etwa in Frank- nelle Aufstockung der Steuerverwaltung bedeutet reich, Irland und Italien. Österreich und die Schweiz hätte. Nachdem der Gesetzgeber dieses Vorhaben konnten hingegen glaubwürdig belegen, daß ihre fallenließ, war die Steueramnestie im Jahre 1968 für Amnestien außergewöhnliche Ereignisse sind, und die Bürger akzeptabel. hatten damit Erfolg. Neuseeland ist das einzige Bei- spiel einer einmaligen Steueramnestie mit nur mo- Der Steueramnestie auf Schweizer Bundesebene deratem fiskalischem Erfolg. waren nach dem Zweiten Weltkrieg in 13 von 26 Kantonen Amnestien der Einkommen- und Vermö- Die zweite Bedingung für eine erfolgreiche Steuer- gensteuer vorausgegangen, die aufgrund eines Ab- amnestie besteht nach Ansicht einiger Autoren in seitsstehens des Bundes einen moderaten fiskali- der Verschärfung des Steuerstrafrechts. Sie dient schen Erfolg hatten. Seit 1969 fand keine Bundesam- dazu, die Glaubwürdigkeit der Steueramnestie im nestie in der Schweiz mehr statt, und lediglich zwei Hinblick auf ihre Einmaligkeit zu erhöhen. Die ange- Kantone, das Tessin und das Wallis, führten kantona- führten nationalen Amnestien waren mit Ausnahme le Amnestien durch, die jedoch eher geringen fiskali- schen Erfolg hatten. In der Diskussion um die Bun- 10 Auch Fisher, Goddeeris und Young (1989) gehen von kei- desamnestie 1968 wurde die Erwartung geschürt, nen nennenswerten langfristigen Wirkungen von daß bis auf weiteres keine Steueramnestie folgen Steueramnestien der U.S.-Bundesstaaten aus.

48 Neuseelands nicht von solchen Maßnahmen beglei- hielten. Die Amnestie ermöglichte eine weitgehende tet. Neuseeland war allerdings auch mit seiner Steu- Straffreiheit für Steuersünder, belastete die neu de- eramnestie von 1988 wenig erfolgreich (Hasseldine klarierten Einkünfte nur moderat und war mit keiner 1989). Für die amerikanischen Amnestien stellen Verschärfung des Steuerstrafrechts verbunden. Alm und Beck (1991) fest, daß Verschärfungen des Steuerstrafrechts oder die Intensivierung der An diesen Vorgaben für den Erfolg der Steueram- Finanzkontrolle die zusätzlichen Einnahmen aus der nestie von 1982 orientiert sich offenbar auch die Amnestie erhöhten. Alm, McKee und Beck (1990) jüngste partielle Steueramnestie zur Rückführung stützen die These der positiven Wirkungen einer von Fluchtkapital in Italien. Das zugrundeliegende Verschärfung der Strafsteuer für Steuerhinterzie- italienische Gesetz mit dem Namen „scudo fiscale” hung zudem in einer Experimentalstudie. Daß sol- (fiskalischer Schutz) wurde im September 2001 ein- che Verschärfungen auch kontraproduktiv sein kön- geführt und verfügte eine Amnestie für repatriiertes nen, verdeutlicht hingegen das Schweizer Beispiel. Fluchtkapital bis Ende Februar 2002. Die Amnestie Eine Verschärfung der Kontrolltätigkeit wurde von wurde jedoch bis zum 15. Mai 2002 verlängert. Das den Bürgern im Referendum von 1964 abgelehnt. vorgebliche Ziel dieser Teilamnestie war die Repa- Erst nachdem von der Verschärfung der Kontroll- triierung von Kapital zur Finanzierung von Investitio- intensität abgesehen wurde, war die Steueram- nen und nicht die Erzielung zusätzlicher Steuerein- nestie für die Bürger akzeptabel und führte letztlich nahmen. Italienische natürliche Personen (keine ju- zu einem größeren fiskalischen Erfolg als Steuer- ristischen Personen), die illegal Vermögensanlagen amnestien in den USA. im Ausland hielten, konnten eine Bank autorisieren, das im Ausland gehaltene Vermögen gegenüber dem Staat zu deklarieren. Die Bank behielt 2,5 Pro- 3 Der fiskalische Erfolg des zent des auf diese Weise repatriierten Vermögens italienischen „scudo fiscale” von ein und führte es an den Fiskus ab. Darüber hinaus 2001/2002 fielen keine Steuerzahlungen oder Strafsteuern an. Diese Steuerzahlung schützt den Steuerzahler vor In Tabelle 2 ist das Beispiel Italien augenfällig. Zum zukünftigen Kontrollen durch die Steuerbehörden. einen erscheint die Steueramnestie von 1982 als Das Bankgeheimnis bleibt zudem gewahrt, da die besonders erfolgreich. Nach Angaben von Cassone Bank die Namen der Kunden, die an der Steu- und Marchese (1995) erbrachte diese Amnestie 7,3 eramnestie teilnahmen, nicht weitergeben muß. Milliarden U.S.-$ (zu konstanten Preisen von 1995) und damit 15 Prozent der Steuereinnahmen von In der öffentlichen Diskussion wird diese Amnestie 1982. Zum anderen sticht die jüngste Steueram- im allgemeinen als erfolgreich angesehen. Insge- nestie zur Rückführung von Fluchtkapital aus den samt 56 Milliarden Euro Auslandskapital, vornehm- Jahren 2001/2002 ins Auge, weil sie entgegen aller lich aus der Schweiz, wurden repatriiert. Der italieni- Beteuerungen in der Öffentlichkeit keinen überwälti- sche Staat nahm alles in allem 1,4 Milliarden Euro genden fiskalischen Erfolg hatte. Steueramnestien ein. Im Vergleich zu den gesamten Steuereinnah- haben Tradition in Italien. Allgemeine Amnestien fan- men beläuft sich dieser Betrag auf 0,4 Prozent. Das den in den Jahren 1973, 1982 und 1992 statt. In italienische Finanzministerium schätzte den im allen drei Fällen handelt es sich um Steuer- Ausland von Italienern gehalten Vermögensbestand amnestien, die jeweils die Steuerperioden seit der vor der Teilamnestie auf insgesamt 500 Milliarden letzten Amnestie umfaßten. Die Amnestie von 1982 Euro, wovon etwa 200 Milliarden Euro von Indi- war aufgrund der für Steuersünder günstigen viduen gehalten wurden. Bezogen auf diese Summe Bedingungen besonders erfolgreich. Es wurde bei- wäre die Rückführung von Fluchtkapital durch den spielsweise sichergestellt, daß die Finanzbehörden „scudo fiscale” erfolgreich, denn mehr als ein Viertel im Zuge der Steueramnestie keinen Zugang zu des Auslandskapitals italienischer natürlicher Informationen über die hinterzogene Steuerbasis er- Personen wäre demnach zurückgeflossen.

49 Dieser Auffassung widersprechen jedoch die Die Theorie der Steuerhinterziehung, wie sie zuerst Angaben von Schweizer Banken. Nur etwa 10 Pro- von Allingham und Sandmo (1972) entwickelt zent der italienischen Kunden verschiedener wurde, beruht auf der ökonomischen Analyse des Schweizer Großbanken nahmen das Angebot des Verbrechens von Becker (1968). Als entscheidende italienischen Fiskus an. Der Banco di Lugano sind Bestimmungsgründe für das Ausmaß der Steuer- nach Presseberichten durch die Amnestie lediglich hinterziehung stellen diese Autoren und in ihrem 1,7 Prozent ihres Kapitals verloren gegangen. Auch Gefolge eine Vielzahl von Ökonomen vornehmlich die UBS bezeichnet den Effekt der Amnestie als auf das erwartete Strafmaß ab. Die Höhe des begrenzt, wobei ihr Programm zur Eröffnung von Grenzsteuersatzes der Einkommensteuer und das Filialen in Italien zeitlich mit der Amnestie zusam- tatsächliche Einkommen haben theoretisch je nach menfiel, so daß italienische Kunden der UBS ihr Steuerfunktion (progressiv, regressiv, proportional) Kapital ohne einen Wechsel der Bank repatriieren und je nach subjektiver Risikoeinschätzung (risiko- konnten. Alles in allem ist davon auszugehen, daß avers, risikofreudig, risikoneutral) keinen eindeuti- die alleine in der Schweiz gehaltenen Auslands- gen – positiven oder negativen – Einfluß auf die vermögen von italienischen natürlichen Personen Steuerhinterziehung. Die im Gesetz vorgesehene den vom italienischen Finanzministerium geschätz- Strafe für Steuerhinterziehung und die von der Kon- ten Betrag übersteigen. Nimmt man die Auslands- trollintensität abhängige Wahrscheinlichkeit der Ent- anlagen in Luxemburg, Österreich, den Kanalinseln deckung, deren Produkt als erwartetes Strafmaß und weiteren Off-shore-Zentren mit ins Bild, dürfte bezeichnet wird, führen hingegen dazu, daß Indivi- letztlich deutlich weniger als ein Viertel des italieni- duen weniger Steuern hinterziehen. Je höher die schen Auslandskapitals repatriiert worden sein. Dies erwartete Strafe ist, desto höher sind die Oppor- verdeutlicht, daß trotz der für Steuersünder günsti- tunitätskosten der Steuerhinterziehung. Desto höher gen Bedingungen der Amnestie in Italien der Erfolg muß auch die erwartete relative Vorteilhaftigkeit der im Hinblick auf die Ziele Kapitalimport und Steuerhinterziehung sein, um die erwarteten Kosten Einnahmenerhöhung eher als ambivalent einzu- aufzuwiegen. Aus dieser Überlegung heraus erklärt schätzen ist. Vor dem Hintergrund der italienischen sich die Betonung der Verschärfung des Steueramnestie von 2001/2002 bleibt als Zwischen- Steuerstrafrechts im Zusammenhang mit Amnestien ergebnis somit festzuhalten, daß der fiskalische in den USA. Erfolg selbst einer so generösen Steueramnestie ungewiß ist. In ihrer Übersicht über Studien der Steuerhinter- ziehung weisen Andreoni, Erard und Feinstein (1998) darauf hin, daß empirische Studien der 4 Vor- und Nachteile einer Steuerhinterziehung die theoretischen Überlegun- gen jedoch nur zum Teil stützen. Zum einen stellt Steueramnestie oder: sich der marginale Einkommensteuersatz empirisch Wege zur Steuermoral zumeist als positiv heraus. Je höher die Grenz- steuerbelastung, desto höher ist das Ausmaß an Trotz der Fokussierung auf den fiskalischen Erfolg Steuerhinterziehung. Zum zweiten haben Straf- einer Rückführung von Fluchtkapital soll der allge- steuer und Kontrollintensität entweder keinen oder meine steuerpolitische Rahmen, in den die Diskus- nur einen geringen negativen Einfluß auf die Steuer- sion um eine Steueramnestie eingebettet ist, nicht hinterziehung. Die Hoffnung, durch hinreichend aus dem Blick verloren werden. Steueramnestien hohe Strafen die Steuerhinterziehung zu bekämp- kommen als steuerpolitische Alternative gar nicht fen, bestätigt sich nicht. Zudem ist dieses Grund- erst in Betracht, wenn Steuerhinterziehung ein ver- modell der Steuerhinterziehung auch nicht in der nachlässigbares Phänomen ist. Es stellt sich daher Lage, das Ausmaß an Steuerehrlichkeit befriedi- die Frage, was die Bestimmungsgründe der Steuer- gend zu erklären. Vor dem Hintergrund der in den hinterziehung sind, um dann festzustellen, inwiefern meisten Ländern anzutreffenden relativ geringen eine Steueramnestie Abhilfe schaffen kann. Strafen und Kontrollen durch die Finanzbehörden ist

50 es eher verwunderlich, warum so viele Steuerzahler chen Leistungen, die sie für ihr Geld erhalten, zufrie- ehrlich sind. In ihrem Beitrag mit dem Titel „Why do dener und daher eher bereit, einen adäquaten people pay taxes?” stellen Alm, McClelland und Betrag dafür zu zahlen. In einer Experimentalstudie Schulze (1992, 22) fest: „A purely economic analysis berichten Feld und Tyran (2002) zudem, daß die of the evasion gamble implies that most individuals höhere Legitimität des Abstimmungsverfahrens in would evade if they are ‚rational', because it is unli- der direkten Demokratie zu mehr Steuerehrlichkeit kely that cheaters will be caught and penalised.” führt. Die Steuermoral steigt, da direktdemokrati- sche Entscheidungsverfahren einer höheren proze- Das tatsächliche Ausmaß an Steuerehrlichkeit läßt duralen Fairneß genügen (Pommerehne, Hart und sich nur durch die individuelle Steuermoral erklären. Feld 1997). Die nachträgliche Einführung der Steuermoral als Grund für relativ geringe Steuerhinterziehung ist Die Steuermoral wird zudem erheblich durch die jedoch unbefriedigend, solange sie als eine Art Beziehung zwischen Steuerzahler und Steuerbe- Präferenz für Steuerehrlichkeit angesehen wird. Es hörden beeinflußt. Die Steuerzahler verhalten sich ist notwendig, die Bedingungen herauszustellen, gemäß einer Reziprozitätsnorm, so daß sie eine welche die Steuermoral begünstigen, ihr quasi auf- freundliche Behandlung durch die Steuerbehörden helfen, um wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen auch mit Freundlichkeit in Form einer ehrlichen ziehen zu können. Moralische Appelle genügen in Einkommensteuererklärung erwidern. Auf Basis aller Regel nicht, die Steuermoral in irgendeiner eines Fragebogens an die Schweizer Steuer- Weise zu verstärken, wie jüngst Blumenthal, behörden legen Feld und Frey (2002; 2002a) und Christian und Slemrod (2001) herausstellten. Frey und Feld (2002) Evidenz für die Schweiz vor, Vielmehr erhöht sich die Steuermoral, wenn den wonach Steuerbehörden, welche die Steuerzahler Individuen die öffentlichen Leistungen, die sie im als Partner in einer Austauschbeziehung statt als Austausch für ihre Steuerzahlungen erhalten, deut- Untergebene in einer hierarchischen Beziehung se- lich werden, wenn also die Äquivalenzbeziehung hen, mit einer geringeren Steuerhinterziehung kon- zwischen Steuerpreis und öffentlicher Leistung frontiert sind. Dabei finden sich die freundlicheren erhalten bleibt.11 Haben die Steuerzahler den Steuerbehörden in den eher direktdemokratisch ver- Eindruck, daß ihren Steuerzahlungen keine hinrei- faßten Kantonen. Der positive Effekt eines freundli- chenden Leistungen des Staates gegenüberstehen, chen Verhaltens der Steuerbehörden auf die Steuer- so erhöht sich ihr Anreiz zur Steuerhinterziehung. ehrlichkeit besteht nach diesen Ergebnisse jedoch unabhängig von einer direktdemokratischen Einen Einfluß auf die Steuermoral haben auch die Verfassung, wird aber in direktdemokratischen politischen Entscheidungsmechanismen, mit denen Systemen verstärkt. finanzpolitische Entscheidungen getroffen werden. Empfinden die Bürger den politischen Prozeß, der Eine Steueramnestie kann angesichts dieser zu diesen Entscheidungen führt, als fair, dann sind Anreizstrukturen entgegen der traditionellen öko- sie eher bereit, zur staatlichen Finanzierung beizu- nomischen Auffassung der Skeptiker (Stella 1991, tragen. Weck-Hannemann und Pommerehne Andreoni, Erard und Feinstein 1998) langfristig posi- (1989), Pommerehne und Weck-Hannemann tive Wirkungen auf die Steuerehrlichkeit der (1996), Frey (1997), Feld und Frey (2002a) und Frey Zensiten haben. Steueramnestien dienen als Signal und Feld (2002) legen empirische Ergebnisse für die für einen Neuanfang in der Austauschbeziehung Schweizer Kantone vor, wonach die Steuerhinter- zwischen Steuerbehörden und Steuerzahlern. ziehung in Kantonen mit direkten politischen Mitbe- Steuerzahler und Steuerbehörden sind beide nicht stimmungsrechten über Referendum und Initiative vor Irrtümern gefeit. Es kann den Steuerzahlern signifikant niedriger ist. In direkten Demokratien passieren, daß sie Einkommensteile in der Steuer- haben die Bürger einen unmittelbaren Einfluß auf Niveau und Qualität der vom Staat bereitgestellten 11 Alm, McClelland und Schulze (1992) sowie Alm, Jackson öffentlichen Leistungen und die Steuerpreise, die und McKee (1993) legen experimentelle Evidenz für diesen sie dafür zu zahlen haben. Sie sind mit den öffentli- Zusammenhang vor.

51 erklärung vergessen. Andreoni, Erard und Feinstein 5 Einschätzung des Erfolgs einer (1998, 820) berichten für das Jahr 1988 beispiels- (partiellen) Steueramnestie in weise, daß 7 Prozent der amerikanischen Steuer- pflichtigen fälschlicherweise zu hohe Einkommen Deutschland deklarierten. Das Vergessen von Einkommensteilen sollte daher auch als ein geringfügigeres Vergehen Was bedeutet dieser Diskurs für den fiskalischen anerkannt werden. Eine Steueramnestie erlaubt es Erfolg einer Teilamnestie zur Rückführung von selbst im Falle eines aktiveren Steuerbetruges, die Fluchtkapital in Deutschland? Eine solche Teilam- Tür für ein steuerehrliches Verhalten in der Zukunft nestie kann dazu geeignet sein, deutschen Steuer- aufzustoßen (Pommerehne und Zweifel 1991). pflichtigen, die ihr Vermögen im Ausland halten und Dabei ist allerdings darauf zu achten, daß die Zen- die Kapitaleinkünfte in Deutschland nicht versteu- siten zukünftige Steueramnestien nicht antizipieren, ern, den Weg in die Legalität zu ebnen. sondern als einmaligen Akt der „Versöhnung” anse- hen. Die Schweizer Steueramnestie von 1968/69 ist (1) Die Amnestie sollte so ausgestaltet sein, ein gutes Beispiel dafür, daß diese Gelegenheit zur daß sie von den Steuerpflichtigen als einmalige Aussöhnung glaubhaft als außerordentlich darge- Gelegenheit aufgefaßt wird. Es muß glaubhaft ver- stellt werden kann. Wird eine solche Steueramnestie mittelt werden, daß diese Gelegenheit im Verlauf mit höheren Strafen oder Kontrollen verbunden, so eines normalen Arbeitslebens, d.h. innerhalb von wirkt die Absicht eines Neuanfangs in der etwa 30 Jahren, nicht wieder auftritt. In dieser Hin- Austauschbeziehung zwischen Staat und Bürger sicht dürfte Deutschland Probleme haben, da die unglaubwürdig. Die Verschärfung des Steuerstraf- letzte partielle Steueramnestie für nicht erklärte Zin- rechts verdrängt die intrinsische Motivation der sen von 1990 nicht sehr lange zurückliegt und zu- Zensiten zur Steuerehrlichkeit. Dies erfordert es dem wenig Erfolg hatte.12 letztlich auch, die Bedingungen der Steueramnestie so auszugestalten, daß das Ziel eines Neuanfangs (2) Die Amnestie sollte entgegen der amerikani- und nicht der fiskalische Erfolg im Vordergrund schen Auffassung nicht mit einer Verschärfung des steht. Die Steuersünder würden die Betonung des Steuerstrafrechts oder der Kontrollintensität verbun- fiskalischen Ziels als Indiz dafür nehmen, daß es den sein, da die Verdrängung der Steuermoral da- den Finanzbehörden nicht wirklich darum geht, den durch in aller Regel stärker als der Abschreckungs- Zensiten eine neue Chance einzuräumen. effekt ausfällt. Das italienische „scudo fiscale” ist in dieser Hinsicht vorbildlich, da es den Banken er- Der Staat muß also eine Gratwanderung zwischen möglicht, die Identität der Steuersünder vor den Fi- freundlichem Verhalten gegenüber den Steuer- nanzbehörden zu schützen.13 pflichtigen auf der einen Seite und einer Vermittlung der Norm „Steuerehrlichkeit” durch ein geeignetes (3) Schließlich wird eine Steueramnestie be- Steuerstrafrecht auf der anderen Seite vollführen. günstigt, wenn sie mit einer Reduktion der Steuer- Das Ziel der Bekämpfung der Steuerhinterziehung belastung verbunden wird. Kapital flüchtet ins Aus- erfordert zum einen, der Steuermoral aufzuhelfen land, wenn die Steuerlast als übermäßig im Ver- und auch straffällig gewordenen Steuerzahlern die gleich zu den erhaltenen öffentlichen Leistungen ge- Rückkehr in die Legalität zu erleichtern. Zum ande- fühlt wird. Eine Abgeltungssteuer auf Kapitalein- ren ist es aber notwendig, bei steuerehrlichen künfte in Höhe von 25 Prozent könnte somit in einer Zensiten nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, eigentlichen Wechselwirkung zum fiskalischen Er- daß sich Steuerhinterziehung am Ende lohnt. folg der Teilamnestie beitragen.

12 Die letzte allgemeine Steueramnestie in Deutschland übrigen nicht für häufige Steueramnestien bekannt ist. stammt hingegen aus dem Jahre 1936. Möglicherweise läßt sich den Steuerpflichtigen gegenüber glaubhaft argumentie- 13 Selbst unter Androhung der Todesstrafe konnte die deut- ren, daß es sich bei der Steueramnestie von 1990 um eine sche Steueramnestie von 1936 nicht wirklich einen fiskali- außerordentliche Maßnahme handelt, da Deutschland im schen Erfolg herbeiführen (Rainer 1989).

52 Selbst wenn diese Bedingungen eingehalten wer- Becker, G.S. (1968):. Crime and Punishment: An Economic den, sollte man sich hinsichtlich der Rückführung Approach. Journal of Political Economy 76. 169–217. Blumenthal, M. / Christian, C. / Slemrod, J. (2001): Do Normative von Fluchtkapital dennoch nicht reich rechnen. In Appeals Affect Tax Compliance? Evidence from a Controlled der Presse angegebene Schätzungen über zusätzli- Experiment in Minnesota. National Tax Journal 54. 125–138. che Steuereinnahmen von 2,5 Milliarden Euro durch Cassone, A. / Marchese, C. (1995): Tax Amnesties as Special eine Teilamnestie zur Rückführung von Fluchtkapital Sales Offers: The Italian Experience. Public dürften übertrieben sein. Unter sehr günstigen Finance/Finances Publiques 50. 51–66. Feld, L.P. / Frey, B.S. (2002). Trust Breeds Trust: How Taxpayers Bedingungen ist es Italien nicht gelungen, einen Are Treated. Economics of Governance 3. 87–99. durchschlagenden Erfolg mit dem „scudo fiscale” zu Feld, L.P. / Frey, B.S. (2002a): The Tax Authority and the erzielen. Solch günstige Bedingungen für Steuer- Taxpayer: An Exploratory Analysis. Universität St. Gallen: sünder sind in Deutschland schon aus verfassungs- Mimeo. Feld, L.P. / Tyran, J.-R. (2002): Tax Evasion and Voting: An rechtlichen Gründen kaum zu erwarten. Nun sind Experimental Analysis. Kyklos 55. 197–222. die italienischen 1,4 Milliarden Euro dennoch keine Fisher, R.C. / Goddeeris, J.H. / Young, J.C. (1989): Participation in vernachlässigbare Summe, selbst wenn vergleich- Tax Amnesties: The Individual Income Tax. National Tax bare deutsche Einnahmen auch die Minderein- Journal 42. 15–27. Frey, B.S. (1997): A Constitution for Knaves Crowds Out Civic nahmen, die aus dem Übergang von der Kapitaler- Virtues. Economic Journal 107. 1043–1053. tragsteuer (Zinsabschlagssteuer) zur Abgeltungs- Frey, B.S. / Feld, L.P. (2002):. Deterrence and Morale in Taxation: steuer in Deutschland resultieren werden, nur teil- An Empirical Analysis. CESifo Working Paper No. 760, weise kompensieren könnten. Die Rückführung von August 2002. Fluchtkapital ist somit eine notwendige, aber keine Hasseldine, J. (1989): Increasing Voluntary Compliance: The Case of Tax Amnesties. Australian Tax Forum 6. 509–523. hinreichende Bedingung für den fiskalischen Erfolg Hasseldine, J. (1998). Tax Amnesties: An International Review. einer Abgeltungssteuer. Bulletin for International Fiscal Documentation 52. 303–310. Kronberger Kreis (2000): Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkommen. Bad Homburg: Frankfurter Institut – Stiftung Marktwirtschaft und Politik. Leonard, H. / Zeckhauser, R. (1987). Amnesty Enforcement and Literaturangaben Tax Policy. In: Summers, L. (Hg.). Tax Policy and the Economy. Cambridge: MIT Press. 55–85. Allingham, M.G. / Sandmo, A. (1972): Income Tax Evasion: A Malik, A.S. / Schwab, R.M. 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53 54 Welche Maßnahmen zur Hans-Wolfgang Arndt Rückführung von Fluchtkapital sind rechtlich möglich?

1 Die Steueramnestie ziehen” ist.4 Eine Amnestie kann demnach nicht all- täglich erlassen werden, sie ist auf die Bewältigung Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher noch von Ausnahmetatbeständen beschränkt.5 Eine nicht ausführlich mit der Verfassungsmäßigkeit einer Steueramnestie stellt die spezifische Anwendung Steueramnestie beschäftigt. Die einzigen Ausfüh- eines Amnestiegesetzes im Bereich des Steuerrechts rungen des Gerichts zu einem Steueramnestiegesetz dar. Mit einer Steueramnestie gewährt der finden sich in dem Urteil vom 27. Juni 1991.1 In die- Gesetzgeber Straffreiheit für den Straftatbestand der sem Urteil wies es einen Vorlagebeschluß des Steuerhinterziehung.6 Finanzgerichts Münster2 bezüglich des vom Gesetz- geber 1988 erlassenen Steueramnestiegesetzes als Neben der Straffreiheit beinhalten die meisten Steu- unzulässig ab. Die Verfassungsmäßigkeit des eramnestiegesetze einen Verzicht der Finanzbehör- Steueramnestiegesetzes sei nach den Ausführungen den auf die Festsetzung der in der Vergangenheit des Bundesverfassungsgerichts für den Ausgang des entstandenen und hinterzogenen Steuern. Dieser zugrundeliegenden Rechtsstreits entscheidungsu- Verzicht auf Steuerfestsetzung muß nicht vollständig nerheblich. Aus seiner Urteilsbegründung lassen sich sein. Denkbar ist auch ein teilweiser Steuerverzicht, kaum Informationen gewinnen, die bei der Untersu- der z.B. durch die Anwendung eines verminderten chung der Verfassungsmäßigkeit einer aktuellen Steuersatzes auf die hinterzogenen Einkünfte oder Steueramnestie hilfreich sind. Ein Rückgriff auf die durch eine Freistellung, die sich nur auf bestimmte Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Jahre bezieht, erreicht werden kann. Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Amnestie- regelung liegt deshalb nahe.3 Fast beiläufig erwähn- Eine Steueramnestie stellt kein Novum in der deut- te das Bundesverfassungsgericht in seinem Platow- schen Rechtsgeschichte dar. Bereits 1913 wurde mit Urteil, daß Amnestien „aus Anlaß eines besonders § 68 des Wehrbeitragsgesetzes7 der sogenante Ge- bedeutenden Ereignisses im Leben eines Volkes neralpardon gewährt. Wer für 1914 sein Einkommen (z.B. Inkrafttreten einer neuen Verfassung) gewährt und Vermögen richtig angab, wurde von der Strafe für werden” oder daß mit einer Amnestie „unter eine Zeit, eine früher begangene Steuerhinterziehung und von in der das Rechtsbewußtsein infolge außergewöhnli- der Nachversteuerung der bisher verheimlichten Ver- cher Verhältnisse erheblich gestört war, ein Strich zu mögens- und Einkommensbeträge befreit.8

1 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (StVj) 1989, 25; Steinert, M., Deutsche Steuer-Zeitung (BVerfGE) 84, 233. (DStZ) 6/1989, 144; Schätzler, J.-G., Gnadenrecht, 1992, 213. 2 Finanzgericht (FG) Münster, Vorlagebeschluß vom 17.01.1989 - X 8251/86 E, abgedruckt in Neue Juristische 6 Die Einbeziehung der Ordnungswidrigkeit der leichtfertigen Wochenschrift (NJW) 17/1989, 1111. Steuerverkürzung gemäß § 378 AO ist möglich, vgl. § 1 Abs. 4 StrbEG; abgedruckt in Bundessteuerblatt (BStBl) I 3 BVerfGE 2, 213; 10, 234. 1988, 259. 4 BVerfGE 10, 234 (241). 7 Reichsgesetzblatt (RGBl) 1913, 505ff. 5 Vgl. Schünemann, B., Steuerliche Vierteljahresschrift 8 Vgl. Rainer, T., FR 4/1989, 98.

55 In der folgenden Zeit wurden in regelmäßigen Ab- 1990 seine Einkünfte aus Kapitalvermögen für 1986 ständen neue Steueramnestien durchgeführt.9 Den und 1987 richtig und vollständig bei den Finanz- Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Dritten behörden erklärte. Darüber hinaus wurde in § 2 Reich. Innerhalb von zehn Jahren erließ der Staat StrbEG auf die Festsetzung der hinterzogenen drei Steueramnestien: das sogenannte Volks- Steuern für Veranlagungszeiträume vor 1986 ver- verratsgesetz von 193310, das Gesetz über Ge- zichtet. währung von Straffreiheit bei Devisenzuwider- handlungen von 193611 und die im Jahr 1942 vom Diese sogenannte Zinssteueramnestie löste in der Führer erlassene Verordnung zum Schutz der Öffentlichkeit und in der Literatur heftige Diskus- Rüstungswirtschaft.12 Ein Verzicht auf Nachver- sionen aus.16 Die überwiegende Mehrheit sah in steuerung der verheimlichten Einkommens- und dem enthaltenen Steuerverzicht einen Verstoß ge- Vermögensbeträge war in diesen Steueramnestien gen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Zu einer Ent- allerdings nicht enthalten. Es handelte sich „ledig- scheidung des Bundesverfassungsgerichts über die lich” um einen Strafverzicht, der bei dem Volksver- Verfassungsmäßigkeit des StrbEG kam es trotz der ratsgesetz durch eine Befreiung von Zinsen und in der Literatur zahlreich geäußerten Bedenken Verzugszuschlägen ergänzt wurde.13 nicht. Den Vorlagebeschluß des FG Münster, das sich der in der Literatur geäußerten Kritik anschloß Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im und gemäß Art. 100 Abs. I GG, § 80 Abs. 1 Bundes- Jahr 1949 setzte dieser Entwicklung ein Ende. Nach verfassungsgerichtsgesetz einen Antrag auf ein der Durchführung von zwei wenig erfolgreichen Normenkontrollverfahren stellte,17 erklärte das Bun- Steueramnestien im Jahr der Gründung verzichtete desverfassungsgericht für unzulässig. Die Frage der der Gesetzgeber für etwa 40 Jahre auf den Erlaß Verfassungsmäßigkeit der Steueramnestie sei für eines weiteren Steueramnestiegesetzes. den Ausgang des zugrundeliegenden Rechtsstreits entscheidungsunerheblich.18 In seiner Urteilsbe- Zu dem Erlaß einer Steueramnestie kam es erst gründung stellte das Gericht allerdings fest, daß die wieder im Rahmen der Steuerreform 1990 mit dem Gesamtheit der Regelungen des Steuerreform- „Gesetz über die strafbefreiende Erklärung von Ein- gesetzes „eine vollständige und gleichheitsgerechte künften aus Kapitalvermögen und von Kapitalver- Besteuerung der Kapitaleinkünfte sicherstellen soll mögen” (StrbEG).15 Das StrbEG gewährte Straffrei- und die Steuerfreistellung lediglich als Hilfe zum heit für begangene Steuerhinterziehungen und Übergang in die Legalität” zu sehen ist.19 Dies ver- leichtfertige Steuerverkürzungen im Bereich der anlaßte bereits manche Autoren, von der Ver- Einkünfte aus Kapitalvermögen. Voraussetzung war, fassungsmäßigkeit der Steueramnestie auszuge- daß der Steuerpflichtige bis zum 31. Dezember hen. 20

9 Vgl. Rainer, T., FR 4/1989, 98; Steiner, M., DStZ 6/1989, 16 Vgl. Arndt, H.-W., Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 142. (NVwZ) 9/1988, 787; Kübler, J., DStZ 16/1988, 400; Schünemann, B., StVj 1989, 3; Tipke, K., BB 3/1989, 157; 10 RGBl 1933 I, 360. Scholtz, R.-D., DStZ 11/1989, 263; Birk, D., NJW 17/1989, 11 RGBl 1936 I, 1016. 1072; Rüping, H., StVj 1993, 124. 12 RGBl 1942 I, 165. 17 FG Münster, Vorlagebeschluß vom 17.01.1989 - X 8251/86 E, abgedruckt in NJW 17/1989, 1111. 13 Vgl. Steinert, M., DStZ 6/1989, 143. 18 BVerfGE 84, 233 (236). 14 Gesetz zur Milderung dringender sozialer Notstände, Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten 19 BVerfGE 84, 233 (238). Wirtschaftsgebietes (WiGBl) 1949, 205; sowie das Gesetz 20 Vgl. Schätzler. J.-G., Gnadenrecht, 1992, 248; Grabner, R./ über die Ausgabe von Berlin-Schuldverschreibungen, vgl. Herzog, O./ Quantschnigg, P., Österreichische Steuer- Steinert, M., DStZ 6/1989, 143. Zeitung (ÖStZ) 8/1993, 98; Scheuerle, F., Der Betrieb (DB) 15 BStBl I 1988, 259. 11/1995, 548.

56 2 Zur Zulässigkeit einer aktuellen hält vielmehr an der grundsätzlichen Besteuerung Steueramnestie: Systemwechsel von Einkünften aus Kapitalvermögen fest und for- ciert ein einheitliches Modell der Zinsbesteuerung in Eine Amnestie ist auf besonders bedeutende Ereig- Europa.24 nisse oder auf die Bewältigung von Ausnahmesitua- tionen beschränkt. Im Bereich des Steuerrechts 3 Zur Zulässigkeit einer aktuellen könnte ein besonders bedeutendes Ereignis vorlie- gen, wenn der Gesetzgeber zu der Überzeugung Steueramnestie: Störung des gelangt, daß die aktuelle Besteuerungskonzeption Rechtsbewußtseins nicht (mehr) sachgerecht sei und er diese grundle- gend ändern möchte. Das neue Steuersystem sieht Die Besteuerung von Kapitaleinkünften könnte eine z.B. vor, daß Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht Störung des Rechtsbewußtseins bewirken, wenn mehr besteuert werden. Als Begründung für sein die materielle Steuerpflicht dieser Einkünfte als ein Vorgehen könnte der Gesetzgeber anführen, daß unerlaubter Eingriff des Staates in die Tasche des die Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus Steuerpflichtigen gewertet werden muß. den Bürger zwinge, selbst für das Rentenalter vor- zusorgen. Mit dem Verzicht auf die Besteuerung von Die Steuerpflicht von Einkünften aus Kapitalver- Einkünften aus Kapitalvermögen, welches die klas- mögen hat eine lange Tradition. Sie begann mit dem sische Form der Ersparnisbildung darstellt,21 möch- ersten deutschen Einkommensteuergesetz vom 23. te der Gesetzgeber einen Beitrag zu der privaten Februar 1808, das Einkommen aus Kapital- Vorsorge der Bürger leisten. Außerdem belebe vermögen besteuerte. Bis heute hat sich an der (inländisches) Kapitalvermögen den Kredit- bzw. grundsätzlichen Steuerpflicht für Kapitaleinkünfte Kapitalmarkt und nütze so der deutschen nichts geändert. Im Laufe der Zeit wurde der Um- Volkswirtschaft. Diese Argumentation wird vom fang der Einkünfte immer weiter ausgedehnt. Zu Bundesverfassungsgericht unterstützt. Art. 3 Abs. 1 Beginn setzte sich das Einkommen aus Kapitalver- GG räumt dem Gesetzgeber bei der Erschließung mögen ausschließlich aus Dividenden und Zinsen von Steuerquellen eine weitgehende Gestaltungs- von ausgeliehenen Kapitalien zusammen.25 Heute freiheit ein, wobei er sich von finanzpolitischen, regelt § 20 Einkommensteuergesetz (EStG) den volkswirtschaftlichen, sozialpolitischen und steuer- umfangreichen Katalog der Einkünfte aus Kapital- technischen Erwägungen leiten lassen darf.22 Das vermögen.26 Gericht überprüft nur die Einhaltung äußerster Grenzen, „nicht aber, ob der Gesetzgeber im Einen vollständigen oder teilweisen Verzicht auf die Einzelfall die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste Besteuerung von Zinsen fordern die Anhänger der und gerechteste Lösung gefunden hat”.23 konsumorientierten Besteuerung.27 Sie sehen in der Besteuerung von Kapitaleinkünften eine Eine (Steuer-)Amnestie stellt bei einer derartigen Benachteiligung von zukünftigem Konsum gegenü- Reform des Steuersystems einen Schlußstrich unter ber dem gegenwärtigen.28 Das Bundesverfassungs- die Vergangenheit und eine Anpassung an die ver- gericht hat bisher jedoch keine Zweifel an der änderte Wirklichkeit dar. In Deutschland ist solch ein Verfassungsmäßigkeit einer grundsätzlichen Be- Wandel aktuell nicht zu erkennen. Die Regierung steuerung von Kapitaleinkünften geäußert. Das

21 Vgl. Steichen, A., Besteuerung von Zinserträgen, 1999, 25 BVerfGE 84, 239 (240f.). 232. 26 Bezüglich Entstehung und Entwicklung vgl. Wassermeyer, 22 BVerfGE 21, 54 (63). F., in: Kirchhof, P./ Söhn, H., Einkommensteuergesetz, 2002, § 20 Randnummer A 51ff. 23 BVerfGE 26, 302 (310). 27 Vgl. Lang, J., Besteuerung von Einkommen, 2001, 81. 24 Vgl. Claus Hulverscheidt „Regierung plötzlich doch für Steueramnestie” (Financial Times Deutschland vom 28 Vgl. Steichen, A., Besteuerung von Zinserträgen, 1999, 12.08.2002). 238.

57 Gericht hat mehrfach auf den weitgehenden bei stark eingeschränkt. Er könnte versuchen, die Ka- Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers bei der pitalflucht durch die Einführung von strengeren Kon- Erschließung von Steuerquellen hingewiesen.29 trollen zu unterbinden. Der Bundesrechnungshof wies allerdings in einer Stellungnahme vor dem Bundes- Die materielle Steuerpflicht von Einkünften aus finanzhof (BFH) darauf hin, daß selbst die sehr weit- Kapitalvermögen stellt somit keinen Ausnahmetat- gehende und mit § 30 a AO nicht zu vereinbarende bestand dar, dessen Behebung den Erlaß einer Kontrolle von inländischen Bankkonten die Kapital- Amnestie legitimiert. flucht ins Ausland nicht vollständig erfassen und damit auch nicht verhindern könne.33 Einen legitimen Grund für den Erlaß einer Steuer- amnestie könnte aber auch das Steuererhebungs- Eine wirkungsvollere Maßnahme, die Kapitalflucht verfahren liefern. Können die Finanzbehörden eine einzudämmen, stellt die Erhöhung der Besteue- gleichmäßige Steuererhebung nicht sicherstellen, rungsakzeptanz von Kapitalerträgen dar. Die schließt eine Steueramnestie, die im Zuge der Steuerpflichtigen sollen auf diese Weise „freiwillig” Reform des Steuererhebungsverfahrens erlassen auf die Verlagerung von Vermögen ins Ausland ver- wird, endgültig mit dem Zustand einer allgemeinen zichten. Diesen Weg ging 1993 unser Nachbarstaat Ungleichbehandlung ab. Österreich. Er führte unter Beibehaltung des Bank- geheimnisses eine Abgeltungsteuer auf Zinsen und Inwieweit die Forderung des Bundesverfassungsge- Dividenden ein. Der Steuersatz liegt bei moderaten richts, „daß das materielle Steuergesetz in ein nor- 25 %. Dieser niedrige Steuersatz berücksichtigt die matives Umfeld eingebettet sein muß, welches die Inflationsanfälligkeit von Kapitalvermögen und die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tat- bereits von Herrn Abs erkannte Tatsache, daß Kapi- sächlichen Erfolges prinzipiell gewährleistet”,30 mit tal scheu wie Reh ist und bei einer als zu streng der tatsächlichen Steuererhebungspraxis im Bereich empfundenen Besteuerung die Flucht ergreift.34 Mit der Einkünfte aus Kapitalvermögen erfüllt ist, ist frag- der Neuregelung war eine Steueramnestie für Ein- lich. In der Literatur wird, vor allem bei Zinseinkünften, künfte aus Kapitalvermögen verbunden. Die Steuer- regelmäßig auf die hohe Steuerhinterziehungsquote reform ließ die Einnahmen aus der Besteuerung von und die damit verbundene Ungleichbehandlung der Kapitaleinkünften massiv ansteigen und löste eine Steuerpflichtigen hingewiesen.31 Als Hauptursache Rückkehr von im Ausland ruhendem Vermögen für die mangelhafte Steuererhebung werden das österreichischer Bürger und österreichischer Stiftun- strukturelle Vollzugshindernis des § 30 a gen aus.35 Insgesamt aber kann man durchaus die Abgabenordnung (AO) und die dadurch begünstigte Ansicht vertreten, daß das derzeitige Steuerer- Kapitalflucht ins Ausland genannt. Bei ausländischen hebungsverfahren zu einer Störung des Rechtsbe- Einkünften ist eine Besteuerung durch das wußtseins in Deutschland geführt hat. Daher kann Versenden von Kontrollmitteilungen sichergestellt. man die formalen Anforderungen des Bundesver- fassungsgerichts für eine Steueramnestie mit guten Kommt es bei der Besteuerung von Kapitaleinkünften Gründen für gegeben erachten. Ob der Gesetz- nicht zu einer europäischen Einigung, könnte geber zur Korrektur den österreichischen Weg geht Deutschland versuchen, die Kapitalflucht durch den oder in- und ausländische Kontrollmitteilungen Erlaß von nationalen Regelungen einzudämmen.32 durchsetzt, spielt indes für die nachfolgende Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers ist hier- Gleichheitsprüfung keine Rolle.

29 BVerfGE 50, 386 (392). In dem zu entscheidenden Fall 32 Die folgenden Ausführungen treffen auch im Fall der EU- geht es um Zinseinkünfte, wobei die Begründung meines weiten Regelung für Drittstaaten zu, mit denen keine Erachtens auf die Gesamtheit der Kapitaleinkünfte über- gleichwertigen Maßnahmen vereinbart wurden. tragbar ist. 33 BFH-Urteil vom 18.02.1997 - VIII R 33/95, abgedruckt in 30 BVerfGE 84, 239 (271). BStBl II 1997, 504. 31 Vgl. Schumacher, R., FR 1/97, 1; Tipke, K., Betriebs- 34 Vgl. Zeitler, F.-C., DStZ 17/1992, 514. Berater (BB) 5/1998, 241; Flick, H., DStZ 6/1998, 187. 35 Vgl. Flick, H., DStZ 6/1998, 186.

58 4 Zur Zulässigkeit einer aktuellen te daher bestrebt sein, zum Wohle jedes einzelnen, Steueramnestie: Gleichheitswidrige den entstandenen Steueranspruch möglichst voll- ständig durchzusetzen. Diskriminierung gesetzestreuer Kapitalertragsteuerpflichtiger? Das Finanzgericht Düsseldorf formulierte in einem Urteil zum StrbEG, daß die durch den Steuer- Hat der Gesetzgeber bei dem Erlaß einer Steuer- verzicht verursachte Besserstellung von Steuerun- amnestie die formalen Anforderungen berücksichtigt ehrlichen „geeignet ist, das Vertrauen in die Rechts- und wird mit einer Steueramnestie ein Schlußstrich staatlichkeit gesetzgeberischer Maßnahmen schwer unter die Vergangenheit gezogen, hängt die zu erschüttern”.37 Das Unverständnis der Steuer- Verfassungsmäßigkeit des Steueramnestiegesetzes ehrlichen ist besonders groß, wenn sie gleichzeitig letztlich von der Vereinbarkeit der Regelung mit dem mit dem Erlaß der Steueramnestie Steuern auf Ka- allgemeinen Gleichheitssatz ab. pitaleinkünfte abführen müssen, die den Steuer- sündern durch die Steueramnestie erlassen wer- Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesver- den. fassungsgerichts ist der erste Schritt einer allgemei- nen Gleichheitsprüfung die Festlegung der durch Eine so grobe Beeinträchtigung des Rechtsbewußt- die Regelung verursachten Ungleichbehandlung. seins läßt sich wenn überhaupt nur durch entspre- Mit der aktuell diskutierten Variante einer chend schwerwiegende Unterschiede bzw. Gründe Steueramnestie verzichtet der Staat auf eine rechtfertigen. Zu der weit verbreiteten Steuerhinter- Bestrafung der Tat und zumindest teilweise auch auf ziehung bei Einkünften aus Kapitalvermögen konnte die Festsetzung der hinterzogenen Steuern. Dieser es nur kommen, weil § 30 a AO die Kontrollmög- Straf- und Steuerverzicht bevorzugt Steuer- lichkeiten der Finanzbehörden stark einschränkt. hinterzieher im Bereich der Einkünfte aus Kapital- Die auf diese Weise geminderte Gefahr des vermögen und wirkt sich ungleich aus gegenüber Steuerhinterziehers, daß die Finanzbehörden seine dem, der sich gesetzestreu verhalten und seine Tat entdecken, verleitet viele Steuerpflichtige, ihre Steuern ordnungsgemäß gezahlt hat. Ungleich wirkt Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht anzugeben. sich der Verzicht auch auf denjenigen aus, der Das gesetzwidrige Verhalten dieser Steuerhinter- Steuern auf eine der anderen sechs Einkunftsarten zieher kann somit als Folge der mangelhaften Praxis hinterzogen hat. der Steuererhebung gewertet werden.

Die bevorzugte Behandlung von Steuerhinterziehern Das Wissen über die weit verbreitete Nichtangabe könnte eine grobe Beeinträchtigung des Rechts- von Kapitaleinkünften kann wiederum selbst bei bewußtseins der steuerehrlichen Bevölkerung bewir- ansonsten Steuerehrlichen eine Steuerhinter- ken. Die Steuerehrlichen haben gesetzestreu ihre ziehung von Einkünften aus Kapitalvermögen verur- Steuerlast an die Finanzbehörden abgeführt. Die sachen. Erkennt der Steuerpflichtige, daß den Steuerhinterzieher hingegen haben durch die Finanzbehörden durch § 30 a AO die Hände gebun- Nichtangabe der Einkünfte aus Kapitalvermögen den sind und sie in den meisten Fällen nur tatenlos gesetzwidrig ihre Steuerlast gemindert. Diese zusehen können, wie Einkünfte hinterzogen werden, Minderung geht auf Kosten der Allgemeinheit. Die gibt es für den Bürger nur eine Möglichkeit, eine Reduzierung der persönlichen Steuerbelastung der gleichmäßige Besteuerung von Einkünften aus Steuerunehrlichen muß durch die Solidargemein- Kapitalvermögen herzustellen: Er hinterzieht seine schaft der Steuerzahler ausgeglichen werden, was Einkünfte aus Kapitalvermögen ebenfalls. ceteris paribus zu einer Erhöhung der Steuerlast der ehrlichen Steuerpflichtigen führt. Dies veranlaßte Tipke zu seiner Formulierung, daß in der Gemein- 36 Vgl. Tipke, K., BB 3/1989, 158. schaft der Steuerbürger „jeder gegen jeden einen 37 FG Düsseldorf, Beschluß vom 16.01.1989 -14 V 558/88a Anspruch auf Steuerehrlichkeit” hat.36 Der Staat soll- [E], abgedruckt in Der Betrieb (DB) 5/1989, 255.

59 Verantwortlich für die mangelhafte Verwaltungspraxis sprechend großzügige Regelung der Nachzah- und damit zumindest mitverantwortlich für die weit lungsfristen berücksichtigen. verbreitete Steuerhinterziehung ist der Gesetzgeber, der in der Steuerreform 199038 den damaligen Ban- kenerlaß in § 30 a AO gesetzlich fixierte.39 Steinert spricht in diesem Zusammenhang von einer „Beihilfe” 5 Zur Zulässigkeit einer aktuellen des Staates an der Steuerhinterziehung.40 Gesteht Steueramnestie: Gleichheitswidrige der Gesetzgeber sein Versagen in der Zinsbesteu- Privilegierung von Steuerstraftätern erung ein, indem er das jetzige System grundlegend untereinander? reformiert, wäre es zwar legal, weiterhin die durch das alte System hervorgerufenen Steuerhinterzie- Ist eine Steueramnestie auf die Hinterziehung von hungen zu verfolgen, gerecht wäre es aber nicht. bestimmten Einkünften beschränkt, verursacht sie Vielmehr sollte der Gesetzgeber als Konsequenz der neben der Ungleichbehandlung von Steuerehrlichen (Mit-) Verantwortung für die Steuerhinterziehung von und -unehrlichen immer auch eine Ungleichbehand- einer strafrechtlichen Verfolgung der Tat absehen. lung von Steuerstraftätern untereinander. In den Zusätzlich zu dem Strafverzicht erscheint ein zumin- Genuß des Straf- und teilweisen Steuerverzichts dest teilweiser Verzicht auf die Festsetzung der hin- kommen bei der aktuell diskutierten Variante einer terzogenen Steuer gerechtfertigt. Die Bürger haben Steueramnestie lediglich die Steuerhinterzieher im sich jahrelang darauf „verlassen” können, daß der Bereich der Einkünfte aus Kapitalvermögen. Die Staat die Hinterziehung von Einkommensteuer auf Steuerhinterziehung bei anderen Einkunftsarten ist Kapitaleinkünfte duldet und toleriert. Eine nachträgli- von der Amnestierung nicht betroffen. Es entsteht che Steuererhebung der sich in den letzten 10 Jahren der Eindruck, daß es für den Gesetzgeber zwei kumulierten hinterzogenen Steuern wird wegen der Klassen von Steuerhinterziehern gibt, wobei die weiten Verbreitung der Steuerhinterziehung in vielen Hinterziehung von Einkommensteuer auf Kapital- Fällen wohl zu einer enormen finanziellen Belastung erträge weniger schwer wiegt als die Hinterziehung des Steuerpflichtigen führen. Von einer Nachent- bei den übrigen sechs Einkunftsarten.41 Die Bevor- richtung sind nicht nur wenige Reiche betroffen, son- zugung bestimmter Steuerhinterzieher kann zu dern auch der „Durchschnittsbürger”, dem die Mittel einer Irritation des Rechtsbewußtseins bei den oft fehlen werden, die nachträglich festgesetzten benachteiligten Steuerhinterziehern führen und Steuern an die Finanzbehörden abzuführen. bedarf einer entsprechenden Rechtfertigung.

Ein vollständiger Steuerverzicht ist hingegen nicht Der einzige Unterschied der Vergleichsgruppen, der gerechtfertigt, weil es unabhängig von der Mitver- eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte, ist antwortung des Gesetzgebers immer noch der die Einkunftsart, in der die Steuerhinterziehung tatsächlichen Tatbegehung durch den Steuer- begangen wurde. In der Literatur und auch in der pflichtigen bedurfte. Dieser wußte, daß sein Handeln Rechtsprechung wird immer wieder darauf hinge- subjektiv gesehen vielleicht legitim erscheint, objek- wiesen, daß es sich bei Kapitalvermögen um eine tiv allerdings als ein Vergehen gegen geltendes sehr flexible Einkunftsquelle handelt, die im Ver- Recht gewertet werden muß. Diese Teilschuld des gleich zu den anderen Einkunftsarten örtlich weit Steuerpflichtigen rechtfertigt, daß er wenigstens weniger gebunden ist.42 Die Ungebundenheit er- einen Teil der hinterzogenen Steuern nachentrichten leichtert es dem Steuerpflichtigen, z.B. durch eine muß. Die durch die Nachzahlung eventuell entste- Verlagerung des Kapitalvermögens ins Ausland der henden finanziellen Probleme des Steuerhin- deutschen Besteuerung zu entgehen und so eine terziehers sollte der Gesetzgeber durch eine ent- Steuerhinterziehung zu begehen.

38 Bundesgesetzblatt (BGBl) I 1988, 1093. 40 Vgl. Steinert, M., DStZ 6/1989, 145. 39 Vgl. Felix, G., Kölner Steuerdialog (KÖSDI) 8/1988, 7313; 41 Vgl. Zacharias, E./ Rinnewitz, J./ Spahn, E., DStZ 4/1989, Tipke, K., BB 5/1998, 246. 87.

60 Ob dieser Unterschied von solcher Art und solchem schaftspolitische Überlegungen eine Bevorzugung Gewicht ist, daß er eine durch die Steueramnestie von Steuerhinterziehern im Bereich der Einkünfte verursachte Ungleichbehandlung rechtfertigen aus Kapitalvermögen rechtfertigen. Den Nutzen, kann, ist fraglich. den die Gesellschaft aus der Rückführung des im Ausland ruhenden Kapitalvermögens ziehen kann, Der Erleichterungsgedanke kann eine Ungleichbe- wiegt möglicherweise schwerer als die Irritation des handlung der unterschiedlichen Steuerhinterzieher Rechtsbewußtseins der übrigen Steuerhinterzieher. nicht rechtfertigen. Das Argument, daß es sich bei Selbst wenn man in diesem Punkt anderer Meinung einer Steuerhinterziehung um ein klassisches Fort- sein sollte, ist aber noch auf folgenden wesentlichen setzungsdelikt handelt, ist nicht von der Hinterzie- Gesichtspunkt hinzuweisen: hung einer bestimmten Einkunftsart abhängig. Es ist nicht nachvollziehbar, warum gerade die Rückkehr Bei Einkünften aus Kapitalvermögen kann das von Steuerhinterziehern im Bereich der Einkünfte gesetzwidrige Verhalten der Steuerhinterzieher teil- aus Kapitalvermögen besonders erleichtert werden weise mit der mangelhaften Steuererhebungspraxis sollte. Das gleiche gilt für das Argument, daß eine der Finanzbehörden erklärt werden. Bei diesen Rückkehr der Steuerhinterzieher in den Kreis der Einkünften schränkt § 30 a AO die Möglichkeiten der Steuerzahler eine Verringerung der Ungleichbe- Finanzbehörden, die Angaben der Steuerpflichtigen handlung bewirkt. Die Verringerung findet unabhän- in ihren Steuererklärungen zu kontrollieren, im gig von der der Steuerhinterziehung zugrundelie- Vergleich zu den sechs anderen Einkunftsarten genden Einkunftsart statt. stark ein. Die auf diese Weise verminderte Gefahr, daß eine Steuerhinterziehung entdeckt wird, verlei- Bei der Rechtfertigung des Steuerverzichts vor den tet bereits viele Steuerpflichtige, ihre Einkünfte aus Steuerehrlichen sind fiskalische Überlegungen ziel- Kapitalvermögen in der Steuererklärung nicht anzu- führend, wenn die Steuermehreinnahmen in der geben. Im Gegensatz zu den Kapitaleinkünften ist Zukunft auch tatsächlich der Steueramnestie zuzu- bei allen anderen Einkunftsarten die schreiben sind. Im Fall der Ungleichbehandlung von Steuererhebung durch hinreichende unterschiedlichen Steuerhinterziehern fällt die Kontrollmöglichkeiten der Finanzbehörden sicherge- Rechtfertigung mit diesen Überlegungen schwer. Es stellt. Der potentielle Steuerhinterzieher braucht ist zu beachten, daß eine Rückkehr von Steuer- mehr an krimineller Energie, um den Finanzbe- hinterziehern in den Kreis der Steuerehrlichen hörden Einkünfte aus anderen Einkunftsarten vorzu- unabhängig von der Einkunftsart der hinterzogenen enthalten. In vielen Fällen reicht bloßes Verschwei- Steuern zu einer Zurückdrängung der Schattenwirt- gen der Einkünfte nicht aus, und es bedarf zusätzli- schaft und damit zu einer Erhöhung der Steuerein- cher Vertuschungshandlungen. nahmen führt.43 Aus fiskalischen Gründen ist es nicht nachvollziehbar, warum der Gesetzgeber Die Mitverantwortung des Staates an der mangel- durch eine Steueramnestie nur die Rückkehr von haften Steuererhebung im Bereich der Einkünfte Steuerhinterziehern im Bereich der Einkünfte aus aus Kapitalvermögen und die damit verbundene Kapitalvermögen unterstützen sollte. Erliechterung der Steuerhinterziehung können daher die durch eine Steueramnestie hervorgerufe- Für eine Steueramnestie im Bereich der Einkünfte ne ungleiche Behandlung der Steuerhinterzieher aus Kapitalvermögen sprechen wirtschaftspolitische untereinander rechtfertigen. Überlegungen. Befindet sich das vor den deutschen 42 Vgl. Jakob, W., Deutsches Steuerrecht (DStR) 27/1992, Finanzbehörden versteckt Kapitalvermögen im 895; Anzinger, H. M., Steuer und Wirtschaft (StuW) 3/2002, Ausland, kann die Gesellschaft von der Rück- 261; BVerfGE 84, 239 (282); BFH-Urteil vom 18.02.1997 - führung der Gelder ins Inland profitieren. Weil die VIII R 33/95 abgedruckt in BStBl II 1997, 504. Ausdehnung der Steueramnestie auf die anderen 43 Vgl. Petrick-Rump, B., Ökonomische Wirkungen von sechs Einkunftsarten nicht zu einer Erhöhung des Steueramnestien, 1996, 57. inländischen Kapitalvermögen führt, können wirt- 44 Bundestags Drucksache11/2536, S. 30

61 6 Fazit 5. Erste und wesentliche Voraussetzung ist, daß mit einem solchen Vorhaben ein Systemwechsel im Be- Ich sehe nur eine Maßnahme, die Steuerhinterzie- reich der Kapitalertragsbesteuerung vorgenommen her freiwillig veranlassen könnte, Fluchtgeld von wird. Um es mit den Worten des Bundesverfas- Auslandskonten ins Inland zu transferieren. Es han- sungsgerichtes zu sagen: man geht wohl nicht fehl delt sich dabei um eine Kombination von Steuer- in der Annahme, daß im Bereich der Besteuerung amnestie, ganz oder zumindest teilweiser Verscho- von Kapitaleinkünften eine Störung des Rechtsbe- nung der Steuernachentrichtung und der Garantie, wußtseins – seitens der Steuerpflichtigen und des auf Grund des Transfers keine weiteren Nachteile Fiskus (§ 30a AO) – vorliegt. Als ein solcher System- befürchten zu müssen. Mein Beitrag beschäftigt sich wechsel käme der Übergang zu einer Abgeltungs- ausschließlich mit der Frage, ob diese Maßnahme steuer in Betracht. Ohne einen Systemwechsel ist (zusammenfassend Steueramnestie genannt) eine derartige Maßnahme zur Rückführung von – sollte sie der einfache Gesetzgeber beschließen – Fluchtkapital verfassungsrechtlich unzulässig. verfassungsrechtlich zulässig wäre. 6. Neben der Reform des deutschen Erhebungs- 1. Ich korrigiere meine vor dem Deutschen verfahrens wäre für eine gleichmäßige Erfassung 1990 geäußerte Auffassung, wonach es verfassungs- von ausländischen Einkünften aus Kapitalvermögen rechtlich unter keinen Umständen zulässig ist, eine zusätzlich eine Verständigung mit dem Ausland not- Steueramnestie mit dem (teilweisen) Verzicht auf wendig. Dieses muß entweder eine Quellensteuer Nachforderung hinterzogener Steuern zu verbinden.44 erheben oder die für eine Besteuerung in Deutsch- land notwendigen Informationen weiterleiten. Ein 2. Diese Ansicht entspricht nach wie vor meinem derartiger Systemwechsel stellt einen hinreichen- Rechtsgefühl. Denn eine solche Maßnahme diskrimi- den Anlaß für den Erlaß einer Steueramnestie dar. niert gesetzestreue Steuerzahler gegenüber Steuer- hinterziehern: Der Dieb bleibt nicht nur strafbefreit, 7. Eine weitere Voraussetzung ist, daß der gravie- sondern darf auch noch die Beute behalten. Der Ge- rende Gleichheitsverstoß, den eine derartige setzesvollzug reduziert sich auf die Inanspruchnah- Steueramnestie zur Folge hätte, durch hinreichend me „der Ängstlichen und der Dummen”. Auch poli- gewichtige Gründe gerechtfertigt werden kann. Als tisch dürfte eine solche Maßnahme nur schwer zu ein solcher Rechtfertigungsgrund kommt das fis- vermitteln sein. kalische Begehren, im Ausland befindliche Kapital- guthaben in die Bundesrepublik Deutschland 3. Auf der anderen Seite steht die Rechtsprechung zurückzuverlagern, allein nicht in Betracht. des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit einer Amnestie. Angesichts dieser Rechtsprechung 8. Als eine solche Rechtfertigung könnte man aber spricht manches dafür, daß das Bundesverfassungs- durchaus in Betracht ziehen, daß es hier nicht nur um gericht eine Steueramnestie unter bestimmten, fiskalische Erwägungen und auch nicht nur darum engen Voraussetzungen für zulässig halten würde. geht, Steuerhinterziehern „eine goldene Brücke zu- rück zur Steuerehrlichkeit” zu errichten. Zusammen 4. Fast beiläufig erwähnt das Bundesverfassungsge- mit diesen beiden Motiven ist m.E. entscheidend, daß richt, daß Amnestien „aus Anlaß eines besonders be- die Gesetzgebung und Verwaltung selber in den letz- deutenden Ereignisses im Leben eines Volkes (z.B. In- ten Jahrzehnten hauptursächlich am „Elend der Kapi- krafttreten einer neuen Verfassung) gewährt werden” talertragsbesteuerung” beteiligt waren. Bankenerlaß oder „unter einer Zeit, in der das Rechtsbewußtsein und § 30a AO sind dafür Beleg genug. Wenn der infolge außergewöhnlicher Verhältnisse erheblich Gesetzgeber die Kraft finden sollte, die Umkehr zu ei- gestört war, einen Strich zu ziehen ist”.45 Eine Am- nem weniger steuerhinterziehungsanfälligen System nestie kann demnach nicht alltäglich erlassen werden, zu vollziehen, könnte das Bündel der genannten Mo- sie ist i.d.R. auf Ausnahmetatbestände beschränkt. tive als Rechtfertigung für eine Steueramnestie mit einem teilweisen Verzicht auf Steuernachforderung 45 BVerfGE 10, 234, 241 verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen.

62 Erfahrungen mit dem Frank Anton Weyss österreichischen Modell einer Abgeltungssteuer

1 Der Weg zur Endbesteuerung Zinsen unterlagen – wie grundsätzlich alle anderen Einkünfte – der Einkommensteuer, das Kapital der Das österreichische System der steuerlichen Erfas- Vermögensteuer, im Erbfall der Erbschaftssteuer. sung von Erträgen aus Sparkapital – die Endbe- Die Zinseinkünfte wurden aber zum größten Teil steuerung – hat sich sowohl aus der Sicht der effi- nicht versteuert, wobei offen ausgesprochen werden zienten Einhebung von Steuern als auch aus der muss, daß vielen die Notwendigkeit einer Erklärung Sicht der Optimierung des Steueraufkommens sehr von Zinseinkünften nicht bewußt war oder zumin- bewährt. Vor allem wird der Erfolg dieses Steuer- dest nicht plausibel schien. Damit war auch in wei- systems von der Akzeptanz durch die Steuerpflich- ten Kreisen kaum ein Unrechtsbewußtsein hinsicht- tigen getragen. lich der Nichtbesteuerung von Kapitalerträgen vor- handen. Allerdings ergaben sich für viele unerwarte- Die Entwicklung zu dem heute geltenden Modell der te Probleme dann, wenn Ersparnisse für geplante Endbesteuerung startete im wesentlichen mit der 1. Investitionen verwendet werden sollten. Der hohe Etappe der großen Steuerreform von 1988. Mit einer Grad an Nichtbesteuerung bedeutete überdies eine grundsätzlichen und systematischen Neuregelung Diskriminierung des Risikokapitals.”1 der Ertragsteuern – Verbreiterung der Steuerbasis und Senkung der Spitzensteuersätze – wurde auch Somit wurde bereits 1993 eine Quellensteuer auf eine Kapitalertragsteuer (KESt) auf Erträge von For- Geldeinlagen bei Banken und Forderungs- derungswertpapieren und Geldeinlagen bei Banken wertpapieren mit Abgeltungscharakter eingeführt. in Höhe von 10 % eingeführt. Diese Kapitalertrag- Die davor geltende anrechenbare Abzugsteuer in steuer war lediglich eine Vorauszahlung auf die Ein- der Höhe von 10 % wurde auf 22 % und später auf kommen- bzw. Körperschaftsteuer und wurde bei 25 % erhöht. Mit dem Steuerabzug an der Quelle der Berechnung der Steuer im Wege der Veranla- wurde sowohl die Einkommensteuerschuld als auch gung durch das Finanzamt berücksichtigt. Da dieses die Erbschaftssteuer zur Gänze abgegolten. konventionelle System der Besteuerung von Kapital- Gleichzeitig wurde von dem bisher geltenden Netto- erträgen für den Fiskus nicht sehr ergiebig war und prinzip bei der Berechnung der Steuer abgegangen; andererseits die Einhebung über die Veranlagung die KESt wird von den Bruttoerträgen berechnet. sehr verwaltungsintensiv war, wurde das „synthe- Somit wurden die Erträge aus Sparkapital aus dem tische Prinzip” der Einkommensbesteuerung verlas- System der progressiven Einkommensteuerberech- sen und eine pauschalierte einheitliche Steuer im nung ausgenommen; es wurde ein einheitlicher pau- Endbesteuerungsgesetz verfassungsrechtlich ver- schalierter Satz eingehoben, womit die Einkommen- ankert. Dazu stellten der damalige Finanzminister steuer für unbeschränkt steuerpflichtige natürliche Lacina und der Staatssekretär Dietz folgendes fest: Personen zur Gänze als abgegolten gilt. „Das bisher in Österreich bestehende Problem der Besteuerung von Kapitalerträgen wird nunmehr 1 Ferdinand Lacina und Johannes Dietz im Vorwort „Die durch das einfache System einer Endbesteuerung neue KESt”, Hauptverband der österreichischen Sparkas- abgelöst. sen vom 15.02.1993.

63 Gleichzeitig mit der Einführung der Abgeltungs- vermögen3 durch Abzug einer Kapitalertragsteuer steuer wurde durch eine Amnestieregelung eine wurde der einfache Gesetzgeber ermächtigt, bei rechtliche Bereinigung der bisher ungenügenden bestimmten Kapitalerträgen eine Endbesteuerung Umsetzung der steuerrechtlichen Vorschriften durch einzuführen4. die Steuerpflichtigen verwirklicht. Dementsprechend hieß es in der Regierungsvorlage: „Dies hat seine Die Endbesteuerung im Bereich der Einkommen- Ursache darin, daß das Steuerbewusstsein in der steuer gilt für bestimmte Kapitaleinkünfte natürlicher Bevölkerung insbesondere aus Kapitalanlagen Personen und im Bereich der Körperschaftsteuer für anders ist, als in bezug auf übrige Einkünfte und juristische Personen mit Einkünften aus Kapital- Vermögen”.2 vermögen, z.B. Vereine.

Wenngleich es durch die Amnestie zwangsläufig zu Endbesteuert sind Kapitalerträge einer Ungleichbehandlung der steuerehrlichen – aus Geldeinlagen bei inländischen Banken, Steuerpflichtigen gegenüber den anderen Steuer- pflichtigen kommt, rechtfertigt die Bereinigung und – aus sonstigen Forderungen gegenüber inlän- die zukünftige steuerrechtliche Gleichbehandlung dischen Banken, denen ein Bankgeschäft des privaten Sparkapitals diese Maßnahme. zugrunde liegt, – aus Forderungswertpapieren, wenn sich die Die verfassungsrechtlich verankerte Amnestie- kuponauszahlende Stelle im Inland befindet, regelung betraf im wesentlichen den Amnestie- zeitraum 1992 und Vorjahre. Die Wirkung erstreckte – aus Aktien, GmbH-Anteilen, Genossen- sich auf den Bereich der Einkommensteuer (Körper- schaftsanteilen, Genussrechten, Partizipa- schaftsteuer), der Vermögensteuer und der tionskapital und Stiftungszuwendungen, Erbschafts- und Schenkungssteuer soweit sich wenn der Schuldner der Kapitalerträge Wohn- diese Steuer auf die Kapitalerträge und das sitz, Geschäftsleitung oder Sitz im Inland Vermögen beziehen (Amnestie der Kapitalerträge). hat. Diese Amnestie umfaßte die Abstandnahme von der – aus Anteilsscheinen an einem Kapitalanla- Nachforderung der Abgaben (Bemessungs- gefonds im Sinne des Investmentfondsge- amnestie) sowie den Wegfall der damit im Zusam- setzes, soweit die ausgeschütteten Beträge menhang bestehenden Strafbarkeit (Strafamnestie). aus Gewinnanteilen und aus Aktien resultie- ren. Andere Einkünfte und Vermögen als jene, die der Endbesteuerung unterliegen, haben für die Unter die Steuerabgeltung fallen Erträge aus Amnestie keine Bedeutung. D.h. betriebliche Ein- Forderungswertpapieren sowie Genußrechten nur künfte die bisher nicht steuerlich erfaßt wurden, wur- dann, wenn sie bei ihrer Begebung sowohl in recht- den auch nicht amnestiert (keine Amnestie der licher Hinsicht als auch in tatsächlicher Hinsicht Mittelherkunft). einem unbestimmten Personenkreis (mindestens 500 Anteilseigner) angeboten werden, d.h. nicht 2 Die Endbesteuerung im Detail „private-placement-Papiere” sind.

Mit dem Bundesverfassungsgesetz über eine Die Endbesteuerung im Bereich der Einkommen- Steuerabgeltung bei Einkünften aus Kapital- steuer für natürliche Personen gilt unabhängig

2 Erläuternde Bemerkungen zum Abschnitt I der Regie- 4 Eine verfassungsrechtliche Ermächtigung war notwendig, rungsvorlage, 811 der Beilage zu den stenografischen Pro- weil gegen eine ausschließlich einfachgesetzliche Endbe- tokollen des Ministerialrates XVIII. GP vom 30.11.1992. steuerung verfassungsrechtliche Bedenken bestanden. Die Endbesteuerung bestimmter Kapitaleinkünfte ist gegen- 3 1, Bundesgesetzblatt (BGBl) 1993/11 idF BGBl 1993/818 über anderen Einkünften begünstigt (Doralt, Recht der Wirt- „Endbesteuerungsgesetz”. schaft 1992, 352).

64 davon, ob sich die Kapitalanlage im Privatvermögen Die Abzugspflicht erstreckt sich auch auf besondere oder im Betriebsvermögen befindet. Endbesteuert Entgelte und Vorteile auf Disagio-Beträge sowie sind damit auch betriebliche Kapitalanlagen von Ein- vom Schuldner übernommene Kapitalertragsteuern zelunternehmen und von Personengesellschaften und auf Ausgleichszahlungen, die der Verleiher soweit daran ausschließlich natürliche Personen eines Wertpapiers von einem Kreditinstitut erhält. beteiligt sind. Von der Abzugsverpflichtung der Kapitalertrag- Soweit im Inland bezogene Kapitalerträge aus For- steuer gibt es eine Reihe von Ausnahmen und zwar: derungswertpapieren nicht der Kapitalertragsteuer – Bei Identität von Gläubiger und Schuldner. unterliegen, z.B. Forderungswertpapiere, die vor dem 31.12.1983 in Schilling-Währung begeben wur- – Bei Kapitalerträgen von unbeschränkt steu- den und aufgrund der sogenannten „Auffettungs- erpflichtigen Körperschaften. klausel” nicht steuerpflichtig gestellt wurden, gilt die – Bei einer mindestens 25 %igen Beteiligung Einkommensteuer nur dann als abgegolten, wenn an einer inländischen Kapitalgesellschaft die kuponauszahlende Stelle freiwillig angewiesen oder Genossenschaft. wird, einen Betrag in Höhe der Kapitalertragsteuer einzubehalten und an die Finanzverwaltung abzu- – Bei Bankeinlagen und bei Ausgleichszah- führen (Optionserklärung). Von dieser Möglichkeit lungen im Rahmen der Wertpapierleihe un- hat der überwiegende Anteil der Sparer Gebrauch ter Kreditinstituten. gemacht und hat freiwillig zur KESt optiert. – Bei Zinserträgen aus Einlagen bei ausländi- schen Betriebsstätten von Banken. Soweit die Einkommensteuer durch den KESt- Abzug als abgegolten gilt, sind die Kapitalerträge – Bei Kapitalerträgen aus Geldeinlagen und steuerlich weder beim Gesamtbetrag der Einkünfte sonstigen Forderungen bei Banken sowie noch beim Einkommen zu berücksichtigen. Der- bei Kapital- und Forderungswertpapieren, artige Kapitalerträge bleiben daher sowohl bei der wenn Bemessungsgrundlage für die Veranlagung als auch – der Empfänger keine natürliche Person für die Berechnung der Steuererklärungspflicht ist und unberücksichtigt. – der Empfänger dem Abzugsver- pflichteten nachweist, daß die Kapitaler- Aufwendungen im Zusammenhang mit endbesteu- träge als Betriebseinnahmen eines in- erten Kapitaleinkünften (Werbungskosten bzw. oder ausländi-schen Betriebes zu erfas- Betriebsausgaben) sind nicht abzugsfähig. Die sen sind (Befreiungserklärung) und Steuer wird daher vom sogenannten Bruttoertrag berechnet. – der Empfänger eine Gleichschrift der Befreiungserklärung unter Angabe sei- Ursprünglich betrug die Kapitalertragsteuer einheit- ner Steuernummer über den Abzugs- lich 22 %. Seit 01.07.1996 wurde sie auf 25 % verpflichteten dem Finanzamt zuleitet erhöht. und – Kapitalerträge aus Forderungswert- Bei Steuerpflichtigen, deren Tarifsteuer unter Einbe- papieren, die auf dem Depot des Kredit- ziehung der endbesteuerten Kapitalerträge unter institutes hinterlegt sind. 25 % liegt, kann die Kapitalertragsteuer auf Antrag angerechnet bzw. mit dem übersteigenden Betrag Die Kapitalertragsteuer entfällt außerdem aufgrund rückerstattet werden. Im Veranlagungsfall sind der „Mutter-Tochter-Richtlinie” der EU bei grenz- jedoch die Kapitalerträge auch in die Steuerberech- überschreitendem Dividendenfluß innerhalb der EU. nungsbasis ohne Abzug von Betriebsausgaben Begünstigt sind demnach Gewinnausschüttungen, bzw. Werbungskosten einzubeziehen. wenn sie an einen in der EU ansässigen Anteilseig-

65 ner erfolgen, auf den die Mutter-Tochter-Richtlinie 3 Theoretische Aspekte zur anzuwenden ist. Abgeltungssteuer

Steuerschuldner der Kapitalertragsteuer ist der Zur Begründung und zur Rechtfertigung der pau- Empfänger der Kapitalerträge. Vergleichbar mit der schalierten Abgeltungssteuer in Österreich wurden Einhebung der Lohnsteuer haftet jedoch die aus- eine Reihe von Gründen angeführt, die sich im zahlende Unternehmung bzw. die kuponauszahlen- wesentlichen in rechtstheoretische und in ökonomi- de Stelle, in der Regel die Kreditinstitute, für die sche Überlegungen einteilen lassen. Einbehaltung und Abfuhr der KESt. Der Steuer- schuldner wird nur in Ausnahmefällen in Anspruch Durch die Einführung des einheitlichen Steuer- genommen. satzes für persönliches Sparkapital auf maximal die Hälfte des höchsten Progressionssatzes für natürli- Soweit der Schuldner die Kapitalertragsteuer für che Personen (in Österreich derzeit 50 %) wird das Rechnung des Gläubigers übernimmt, ist der über- Prinzip der synthetischen Einkommensteuerer- nommene Betrag als zusätzliche Leistung dem Kapi- fassung durchbrochen. talertrag zuzurechnen. In diesem Fall beträgt die Steuer daher 33,33 % vom ausgeschütteten Kapital- Diese Sonderstellung der Sparkapitalbesteuerung ertrag. wurde begründet:5 – Mit der besonderen Auswirkung der Geldver- Der Steuerabzug ist in dem Zeitpunkt vorzunehmen, dünnung im Bereich der Kapitaleinkünfte. in dem die Kapitalerträge dem Gläubiger zufließen. Die zu besteuernden Zinsen beinhalten Wird über die Ausschüttung der Kapitalerträge von schon die zu erwartende Inflation. Dadurch einer Körperschaft beschlossen, so gilt als Tag des wird eine höhere effektive Steuerbelastung Zufließens der im Beschluß bezeichnete Auszah- bewirkt. lungstag. Fehlt es an einer solchen Festsetzung, so gilt als Zeitpunkt des Zufließens der Tag nach der – Kapitalbesitz kommt letztendlich aus Erspar- Beschlußfassung. nissen, die wiederum aus bereits versteuer- tem Einkommen stammen. Bei Einkünften eines „stillen Gesellschafters” gilt der – Durch die Kapitalertragsbesteuerung wird im Gesellschaftsvertrag festgesetzte Tag als Tag des die Wahl zwischen gegenwärtigem und zu- Zufließens, sonst der Tag nach der Bilanzaufstel- künftigem Konsum verzerrt. lung. Bei Kapitalerträgen aus Forderungswert- – Ein hoher Kapitalertragsteuersatz bewirkt papieren gilt der Zeitpunkt der Fälligkeit als Zufluss- die Verminderung der Akzeptanz dieser zeitpunkt. Steuer durch die Steuerpflichtigen und kann zu einem Abfluss der Geldmittel in andere Zum 01.01.2001 wurde durch das Kapitalmarkt- Länder führen. offensivegesetz (KMOG) für Investmentfonds eine neue Besteuerung eingeführt. Demnach sind Sub- – Das subjektive Gefühl der Steuerbelastung stanzgewinne, die innerhalb des Investmentfonds bei der Abzugsteuer ist für den Steuerpflich- anfallen, mit einer effektiven Steuer von 5 % (20 % tigen geringer. der Substanzgewinne unterliegen einer 25 %igen – Durch den Abzug der Steuer an der Quelle Kapitalertragsteuer) zu erfassen. Steuerpflichtig wird der Steuerpflichtige von allen weiteren sind sowohl ausgeschüttete als auch thesaurierte Erklärungs- und Nachweispflichten hinsicht- Substanzgewinne. lich der Kapitalerträge befreit. – Für den Staat ergibt sich der Vorteil, daß 5 Siehe Helmut Schuster und Alfred Stiglbauer (2000), Die österreichische Abgeltungssteuer – Modell für Deutsch- trotz geringeren Steuersatzes der Nettoer- land?, Zeitschrift für Wirtschaft und Bankrecht, Jänner trag dieser Abgabe höher ist, als dies bei 2000. einer zu veranlagenden Steuer der Fall wäre.

66 Insgesamt führen alle diese Argumente zu einer ser Effekt wird zum Teil dadurch erreicht, daß hohen Akzeptanz durch die Steuerpflichtigen. die Einbehaltung und Abfuhr dieser Steuer direkt von der auszahlenden Stelle, in der In einer Befragung der österreichischen Banken zur Regel dem Kreditinstitut, durchgeführt wird. Einschätzung der Auswirkungen der neuen Steuer- erhebungsform hat die überwiegende Mehrheit der – Durch das Bruttoprinzip fällt bei der Berech- österreichischen Anleger die Steuerreform als sehr nung der Abgeltungsteuer die sehr aufwen- positiv eingeschätzt (86 %).6 dige Berücksichtigung von Werbungskosten bzw. von Betriebsausgaben sowie deren Ebenso war die Entwicklung für den österreichi- Kontrolle weg. schen Kapitalmarkt sehr positiv. Die Spareinlagen der Inländer sind seit 1993 um rund 19 % und die Trotz der schwierigen Ausgangsposition für die von Ausländern um 25 % gewachsen. steuerliche Erfassung der Erträge aus Sparkapital wegen der damals noch in Österreich geltenden Die Liberalisierung der Kapitalmärkte und der techno- Anonymität, dem strengen Bankgeheimnis und auch logische Fortschritt im Bereich des internationalen wegen des mangelnden Steuerbewußtseins der Geldtransfers machen große Kapitalbewegungen Anleger hat die Reform auch für die Finanz- möglich. verwaltung ein akzeptables Ergebnis gebracht. Könnte dieses Modell auch in anderen europäi- Mit der Kombination Abzugsteuer und Abgeltungs- schen Ländern oder überhaupt in der gesamten EU steuer – wie sie in Österreich seit 1993 gilt – werden umgesetzt werden, könnten andere Maßnahmen, eine Reihe von Vorteilen erreicht. wie das aufwendige und voraussichtlich ineffiziente Meldesystem, wie es in der EU-Zinsenrichtlinie vor- – Durch diese Einhebungsart wird ein hoher gesehen ist, vermieden werden. Dies wäre auch für Grad an Verwaltungsvereinfachung für die die europäische Erweiterung ein gangbarer Weg. staatliche Verwaltung und somit ein hoher Insgesamt würde der gesamte europäische Kapital- Nettoertrag an Steueraufkommen erzielt. Die markt von einer solchen Regelung profitieren.

6 Siehe Helmut Schuster und Alfred Stiglbauer (2000), Die österreichische Abgeltungssteuer – Modell für Deutsch- land?, Zeitschrift für Wirtschaft und Bankrecht, Jänner 2000.

67 68 Politische Umsetzbarkeit einer Abgeltungssteuer

69 70 Lüder Gerken Sind Abgeltungssteuer und Gerhard Schick „goldene Brücke” in Deutschland konsensfähig?

Bei der Thematik der Kapitalertragsbesteuerung Klientel mehrheitsfähig oder wenigstens vermittel- sind neben rechtlichen Aspekten – was ist verfas- bar. Ob es sich bei diesen Positionen um die wis- sungskonform?, was gestattet das Europa-Recht? – senschaftlich richtige Antwort auf die drängenden und ökonomischen Gesichtspunkten – welche Be- politischen Probleme handelt, ist dann – was man steuerung führt zu einer effizienten Kapitalallo- mitunter beklagen mag – zweitrangig. kation? – insbesondere auch die Gerechtigkeitsvor- stellungen der Bürger von Bedeutung. Denn bei der 1 Veranlagung Beantwortung der Frage, wer in welcher Weise zur Finanzierung öffentlicher Leistungen beitragen soll und in welchem Ausmaß Umverteilung gerechtfer- Das deutsche Einkommensteuerrecht orientiert sich tigt ist, stößt die Wissenschaft an ihre Grenzen. im Prinzip an der Reinvermögenszugangstheorie.2 Nach dem heute allgemein akzeptierten Ansatz des Sie besagt, daß Einkünfte unterschiedlichster Art in normativen Individualismus1 können nur die einzel- gleicher Weise der jährlichen Einkommensbe- nen Bürger Werturteile fällen. steuerung unterworfen werden sollen. Dies impli- ziert eine synthetische Einkommensteuer. Sie wird Auch für die wissenschaftliche Diskussion ist es zum einen mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip daher wichtig zu fragen, welche Vorstellungen die begründet, nach dem Steuerpflichtige mit höherer Bürger in Deutschland bezüglich einer gerechten Leistungsfähigkeit einen größeren Anteil an der Besteuerung haben. Dies gilt insbesondere für Finanzierung der staatlichen Aufgaben übernehmen Argumentationen, die sich auf Gerechtigkeitserwä- sollen als Steuerpflichtige mit geringerer Leistungs- gungen stützen. Sie sollten solche Werturteile zu- fähigkeit. Die Leistungsfähigkeit des einzelnen wird grundelegen, die von den betroffenen Menschen dabei anhand des jährlichen Einkommens be- geteilt werden. Darüber hinaus ist es auch für die stimmt. Unter bestimmten, restriktiven Annahmen Umsetzbarkeit steuerpolitischer Reformen relevant, bezüglich der individuellen Nutzenfunktionen kann was die Bürger als gerecht ansehen. Schließlich aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip ein progressiver werden in einem demokratischen System nur sol- Tarifverlauf für die synthetische Einkommensteuer che Reformen umgesetzt, die eine Mehrheit im abgeleitet werden.3 Parlament erhalten. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Politiker meinen, die Reformen seien in Zum anderen kann die Gleichbesteuerung verschie- der Bevölkerung oder zumindest bei ihrer eigenen dener Einkunftsarten damit begründet werden, daß

1 Popper, Karl R. (1958/1992), Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II - Falsche Propheten: Hegel, Marx und Columbia University Press; Simons, Henry C. (1938), die Folgen, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 107f. Personal Income Taxation: The Definition of Income as a Problem of Fiscal Policy, Chicago: The University of 2 Diese Theorie geht zurück auf Schanz, Georg (1896), Der Chicago Press. Einkommensbegriff und die Einkommensteuergesetze, Finanzarchiv, 13. S. 1–87; Haig, Robert M. (1921), The 3 Dazu ausführlicher Gerken, Lüder / Märkt, Jörg / Schick, Concept of Income – Economic and Legal Aspects, in: Gerhard (2000), Internationaler Steuerwettbewerb, Haig, Robert M. (Hg.), The Federal Income Tax, New York: Tübingen: Mohr Siebeck, S. 6–13.

71 jede Abweichung von ihr lenkend in den Wirtschafts- prozeß eingreift. Der Staat beschneidet folglich durch eine differentielle Besteuerung die Freiheit der Individuen bei der Auswahl ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten.4 Schließlich sprechen pragmatische Gründe für eine synthetische Einkommensteuer: Werden alle Einkunftsarten in gleicher Weise bela- stet, können Abgrenzungsprobleme zwischen ver- schiedenen Einkunftsarten, beispielsweise zwi- schen Geschäftsführergehalt und Unternehmer- gewinn, vermieden werden.

Die synthetische Einkommensteuer ist jedoch ledig- lich ein Ideal. Regelmäßig wird vom Prinzip der Gleichbesteuerung unterschiedlicher Einkunftsarten Abbildung 1 abgewichen, beispielsweise um die Vermögens- bildung ärmerer Bevölkerungsschichten oder gene- rell die Vorsorge für das Alter zu fördern. Dies gilt auch für das deutsche Steuersystem: Während Zinsen aus Sparguthaben oberhalb des Freibetrags voll mit dem individuellen Grenzsteuersatz zu ver- steuern sind, bleiben die Erträge aus Lebensver- sicherungsverträgen unter bestimmten Bedingun- gen steuerfrei; bei der Riester-Rente und im Rah- men der vermögenswirksamen Leistungen gibt es Abbildung 2 sogar staatliche Zuschüsse zur Kapitalbildung. Eine weitere Inkonsistenz im deutschen Einkommen- steuerrecht wird die geplante, grundsätzlich ver- Mehrheit von fast drei Vierteln abgelehnt (Abbildung 1). nünftige nachgelagerte Besteuerung der Renten5 Interessanterweise ist diese Ablehnung weitgehend darstellen. unabhängig von der parteipolitischen Präferenz. (Abbildung 2). Neueste Umfrageergebnisse lassen Zweifel daran aufkommen, ob die Deutschen die Gerechtigkeits- 2 Steuerfreiheit vorstellung teilen, die dem deutschen Einkommen- steuerrecht zugrundeliegt.6 Die Besteuerung von Aus ökonomischer Sicht ist die jährliche Abgren- Zinseinkünften in gleicher Höhe wie andere Ein- zung des Einkommens weder zwingend noch wirk- kommensarten wird mit einer überwältigenden lich überzeugend. Schließlich orientieren sich die

4 Kirchhof, Paul (2001), Standortbestimmung aus verfas- sungsrechtlicher Sicht, in: Kirchhof, Paul / Neumann, 6 Umfrage des Mannheimer Instituts für praxisorientierte Manfred J.M. (Hg.), Freiheit, Gleichheit, Effizienz – Ökono- Sozialforschung im Auftrag des Bundesverbandes deut- mische und verfassungsrechtliche Grundlagen der scher Banken. Die Ergebnisse basieren auf einer Steuergesetzgebung, Bad Homburg: Frankfurter Institut – Befragung von 1.015 wahlberechtigten Bürgern Stiftung Marktwirtschaft und Politik, S. 15. Deutschlands in der Zeit vom 22. bis 24. Oktober 2002. 5 Börsch-Supan, Axel / Lührmann, Melanie (2000), 7 Grundlegend hierzu Mirrlees, James A. (1971), An Prinzipien der Rentenbesteuerung, Bad Homburg: Exploration in the Theory of Optimum Income Taxation, Frankfurter Institut – Stiftung Marktwirtschaft und Politik. Review of Economic Studies, 38, S. 175–208.

72 Menschen bei ihren wirtschaftlichen Entschei- mensverwendung von der Einkommensteuer zu be- dungen nicht am Kalenderjahr. Investition und Er- freien (zinsbereinigte Einkommensteuer). Oder man sparnis, gerade auch für die Altersvorsorge, weisen interpretiert die Bildung von Kapital als Investitions- regelmäßig über die gegenwärtige Rechnungs- entscheidung. Dann wären Zinsen als Einkommen periode hinaus. Entsprechend betrachtet die finanz- aus Vermögen zu versteuern, die Kapitalbildung wissenschaftliche Optimalsteuerlehre7 im Unter- selbst jedoch von der Einkommensteuer zu befreien schied zur traditionellen Reinvermögenszugangs- (sparbereinigte Einkommensteuer). theorie nicht die einzelnen jährlichen Einkommen, sondern das persönliche Einkommen über die Reine Konsumsteuersysteme, wie sie die Optimal- gesamte Lebenszeit. Die Bürger gleichen in dieser steuerlehre und die genannte juristische Argumen- Sichtweise die unterschiedlichen Möglichkeiten zur tation empfehlen, sind in der Realität selten. Die Einkommenserzielung in verschiedenen Jahren staatliche Förderung einzelner Formen der Alters- durch Ersparnisse oder Kreditaufnahme aus. Durch sicherung zeigt jedoch, daß die Überlegung, die eine Besteuerung von Kapitalerträgen wird die inter- Kapitalbildung zur Altersvorsorge von der Steuer zu temporale Allokationsentscheidung allerdings ver- befreien, auch in der Politik zunehmend Unter- zerrt.8 Es kommt zu einer im Vergleich zum stützung findet. Allerdings erfolgt diese Förderung Optimum geringeren Spar- und Investitionstätigkeit nicht in Form einer generellen Steuerbefreiung für und folglich zu geringerem gesellschaftlichem Kapitalerträge, sondern durch die spezifische Wohlstand. Je weniger der Staat Kapitalerträge Subventionierung einzelner Anlageformen. Fraglich steuerlich belastet, desto effizienter ist folglich die ist daher, ob die aus dieser unsystematischen intertemporale Allokation. Ein optimales Steuer- Besteuerung resultierenden Verzerrungen zwischen system verwirklicht nach dieser Sichtweise intertem- den steuerbefreiten und den nicht steuerbefreiten porale Neutralität, indem es ganz auf die Besteue- Anlagenformen nicht zumindest teilweise die Vor- rung von Kapitalerträgen verzichtet. Dies wird ent- teile der Steuerbefreiung kompensieren. weder durch eine Kopfsteuer oder durch eine Konsumsteuer erreicht.9 Die Umfrageergebnisse zeigen, daß die Idee der Steuerfreiheit von Kapitalerträgen in der deutschen Juristen begründen die Steuerfreiheit von Kapital- Bevölkerung in großem Maße geteilt wird. Die erträgen mit der Vermeidung von Doppelbe- steuerung. Doppelbesteuerung liegt dann vor, wenn (1) dasselbe Steuersubjekt (2) mit demselben Steuerobjekt (3) zweimal einer gleichartigen Steuer unterworfen wird. Im Fall der Kapitalertragsbe- steuerung sei die Doppelbesteuerung darin zu sehen, daß zum einen die Erträge aus Kapital und zum anderen das Einkommen, aus dem dieses Kapital gebildet wurde, steuerlich belastet werden. Zwei Möglichkeiten bestehen folglich für die Vermei- dung dieser Doppelbesteuerung: Entweder kann die Bildung von Kapital als Einkommensverwendung interpretiert werden. Dann wäre die Ersparnis aus dem versteuerten Einkommen zu bilden und die Zinserträge als Ergebnis dieser Form der Einkom- Abbildung 3

8 Neumann, Manfred J.M. (2001), Standortbestimmung aus 9 Zur Ausgabensteuer Kaldor, Nicholas (1955/1965), An Ex- ökonomischer Sicht, in: Kirchhof, Paul / Neumann, Manfred penditure Tax, 4. Auflage, London: Unwin University Books; J.M. (Hg.), Freiheit, Gleichheit, Effizienz – Ökonomische zur Konsumsteuer vgl. die Beiträge in Rose, Manfred (Hg.) und verfassungsrechtliche Grundlagen der (1991), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, Steuergesetzgebung, Bad Homburg: Frankfurter Institut – Berlin: Springer, sowie in Smekal, Christian / Sendelhofer, Stiftung Marktwirtschaft und Politik, S. 28–30. Rupert / Winner, Hannes (Hg.) (1999), Einkommen versus

73 Besteuerung von Zinsen aus Sparguthaben wird Arbeitseinkommen liegen sollen. Man spricht auf- von über zwei Dritteln der Befragten abgelehnt grund dieser Zweiteilung im Englischen auch von (Abbildung 3). Selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern „Dual income tax”. Mit der an der Quelle abgeführ- besteht mit fast 67% eine deutliche Ablehnung. ten proportionalen Abgeltungssteuer ist die Steuer- pflicht abgegolten; eine Veranlagung im Rahmen der Diese Ablehnung ist seit Jahren stabil. Im Februar progressiven Einkommensteuer entfällt. 1996 antworteten 61% und im Juli 1998 62% der Teilnehmer einer ähnlichen Befragung, sie hielten Eine solche Sonderbehandlung der Kapitalerträge eine Zinsbesteuerung für nicht gerecht. Unter- kann als möglicherweise konsensfähiger Kompro- stützung findet dabei sowohl die Argumentation, miß zwischen der aus Gründen der Gleichbe- Zinserträge sollten nicht so stark belastet werden, handlung wünschenswerten Gleichheit der Steuer- weil sie zur Vermögensbildung und damit zur Alters- sätze für verschiedene Faktorerträge und der aus vorsorge beitragen, als auch die juristische Argu- Gründen der Effizienz wünschenswerten Nullbe- mentation der Doppelbesteuerung (Abbildung 4). steuerung von Kapitalerträgen interpretiert werden. Außerdem verweisen Verfechter der Abgeltungs- Würden Sie folgenden Aussagen zustimmen oder nicht zustimmen? steuer darauf, daß bei der Besteuerung von Kapitalerträgen mehr als der tatsächliche Wertzu- – ,,Zinsen sollten nicht so stark besteuert werden wie andere wachs belastet wird, wenn die Kaufkraft des Geldes Einkommensarten, wie z.B. Löhne oder Mieten, weil Zinsen zur inflationsbedingt abnimmt.11 Denn die der Besteue- Vermögensbildung und damit zur Vorsorge für das Alter dienen. rung zugrunde liegenden nominalen Zinserträge – Zinsen sollten nicht so stark besteuert werden wie andere enthalten neben der Entlohnung für den Liquiditäts- Einkommensarten, weil das Geld, für das man Zinsen bekommt, verzicht auch einen Inflationsausgleich. Diesen zu bereits schon einmal besteuert worden ist.” besteuern kann im Extremfall sogar konfiskatorische Wirkung haben. Erst wenn die Besteuerung der Kapitalerträge um den Inflationsausgleich reduziert wird, kommt es zu einer Gleichbesteuerung aller Einkommensarten.

Da die reale Verzinsung einzelner Anlageformen im Abbildung 4 Rahmen der steuerlichen Veranlagung kaum ermit- telt werden kann, soll der reduzierte Abgeltungs- steuersatz eine pauschalierte Entlastung gegenüber dem allgemeinen Einkommensteuersatz gewähren. 3 Abgeltung Die Höhe dieser Entlastung wird nur zufällig in ein- zelnen Jahren genau das Maß erreichen, das zur Eine Zwischenposition, die sowohl die genannten steuerlichen Befreiung des Inflationsausgleichs not- Effizienz- als auch die erwähnten Gerechtigkeits- wendig wäre. Der unerwünschte Effekt wird aber aspekte berücksichtigt, stellt die Abgeltungssteuer reduziert. Die Abgeltungssteuer ist bei dieser auf Kapitalerträge dar.10 Sie führt zu unterschiedli- Sichtweise kein Kompromiß zwischen Effizienz- und chen Steuersätze für verschiedene Einkunftsarten Gerechtigkeitsaspekten, sondern zielt auf die öko- (sogenannte Schedulensteuer), weil die Sätze der nomisch korrekte Anwendung des Prinzips der Abgeltungssteuer unter den Steuersätzen auf Gleichbesteuerung verschiedener Einkommens-

Konsum, Heidelberg: Physica-Verlag. einkommen. Bad Homburg: Frankfurter Institut – Stiftung Marktwirtschaft und Politik, S. 16f. 10 Vgl. Kronberger Kreis (2000), Abgeltungssteuer bei Kapitaleinkommen. Bad Homburg: Frankfurter Institut – 12 Märkt, Jörg (2002), Steuern als Preise. Zur Notwendigkeit Stiftung Marktwirtschaft und Politik. einer Besteuerung ohne Trittbrettfahrer angesichts des Steuerwettbewerbs. Freiburg: Unveröffentlichtes Manus- 11 Kronberger Kreis (2000), Abgeltungssteuer bei Kapital- kript.

74 arten, das aus der Reinvermögenszugangstheorie folgt.12

Damit für Geringverdiener die Abgeltungssteuer nicht zu einer effektiven Steuererhöhung auf Kapitalerträge führt, gehen die meisten Verfechter einer solchen Steuer davon aus, daß für diese eine Abbildung 6 Veranlagungsoption eingeräumt wird, wie das heit von Kapitalerträgen angesehen wird: Unter den- beispielsweise in Österreich praktiziert wird. Dort hat jenigen, die eine Abgeltungssteuer ablehnen, halten die Abgeltungssteuer im Vergleich zur vorherigen 73 % die Zinsbesteuerung generell für ungerecht, prä- Veranlagung zu einem erhöhten Nettozufluß von ferieren folglich eine Nullbesteuerung (Abbildung 6 ). Kapital aus dem Ausland sowie zu höheren Steuereinnahmen geführt.13 Will man aus Gründen 4 Steuerhinterziehung der Einfachheit diese Veranlagung vermeiden, muß Für die Steuergerechtigkeit ist die Durchsetzung des Steuerrechts fast ebenso wichtig wie die Ausgestaltung desselben. Denn wenn Steuern in großem Umfang hinterzogen werden, läßt sich die vom Steuerrecht angestrebte Verteilung der Steuerlast nicht erreichen. Gegenüber der vom Gesetzgeber intendierten Gesetzeswirkung kommt es zu einer Umverteilung von Ehrlichen zu Unehrlichen. Häufig wird diese mit einer Umver- teilung von Arm zu Reich gleichgesetzt, weil den Besserverdienenden ein höherer Anteil an Kapital- einkommen am gesamten zu versteuernden Einkommen und realistischerweise aufgrund des höheren Grenzsteuersatzes auch ein höherer Abbildung 5 Anreiz zur Steuerhinterziehung zugeschrieben wird. der Steuersatz der Abgeltungssteuer die Sätze der Die Deutschen scheinen sich, wenn man wiederum Einkommensteuer selbst im unteren Tarifbereich die genannte Umfrage heranzieht, in Sachen unterschreiten.14 Steuerhinterziehung keinen Illusionen hinzugeben. Über 84% der Befragten gehen davon aus, daß Die Bundesbürger scheinen sich auf den ersten Auslandszinsen oft oder sogar sehr oft nicht dekla- Blick mit einer am österreichischen Modell orientier- ten Abgeltungssteuer nicht anfreunden zu können: 56 % lehnen sie ab (Abbildung 5).

Vor dem Hintergrund der zuvor genannten Umfrage- ergebnisse muß diese Ablehnung jedoch dahinge- hend interpretiert werden, daß sie als unzureichen- der Zwischenschritt zu einer generellen Steuerfrei- 13 Schuster, Helmut (1999), Die österreichische Abgel- tungssteuer – Modell für Deutschland? Daten, Fakten, Argumente, Köln: Bundesverband deutscher Banken.

14 Kronberger Kreis (2000), Abgeltungssteuer bei Kapitaleinkommen. Bad Homburg: Frankfurter Institut – Stiftung für Marktwirtschaft und Politik, S. 35. Abbildung 7

75 riert werden (Abbildung 7). Dieses Verhalten stößt 5 Kontrollmitteilungen erstaunlicherweise auf ein relativ großes Verständ- nis (Abbildung 8). Zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung bei Kapitaleinkommen kann zum einen der Anreiz zur Steuerhinterziehung gesenkt werden, indem die Differenz zwischen der Rendite legal versteuerter Anlagen und der Rendite alternativer, illegaler Anlagemöglichkeiten reduziert wird. Solches leistet die Abgeltungssteuer. Sie wird daher auch als Maßnahme gegen Kapitalflucht und Steuerhinter- ziehung angesehen. Zum anderen kann die Aufdeckungswahrscheinlichkeit erhöht werden. Die Koalitionsparteien haben sich zu diesem Zweck zu Beginn der Legislaturperiode dazu entschlossen, im Inland Kontrollmitteilungen einzuführen.15 Zusätz- lich setzten sie auf eine EU-weite Bekämpfung der Abbildung 8 Steuerhinterziehung durch Kontrollmitteilungen der Banken und Sparkassen an die Steuerbehörden Diese Bewertung ist seit Jahren stabil: im Februar des Heimatstaates.16 Diese Vorhaben finden laut 1996 zeigte etwas weniger, im Juli 1998 etwas mehr Umfrageergebnis vom Oktober 2002 nicht die als die Hälfte der Teilnehmer ähnlicher Umfragen Zustimmung der Bürger. Die Einführung von Kon- dafür Verständnis, daß Bürger ihre Zinsen aus trollmitteilungen im Inland, die eine Aufhebung des Sparguthaben nicht angeben. Die Empörung in der sogenannten Bankgeheimnisses nach § 30a der Bevölkerung, die man aufgrund der verkehrten Abgabenordnung impliziert, wird selbst von den Umverteilungswirkung von Steuerhinterziehung er- Wählern der Koalitionsparteien abgelehnt (vgl. warten könnte, bleibt also aus. Dieses Phänomen Abbildung 10). Noch deutlicher ist die Ablehnung mit erklärt sich aus der erwähnten Ablehnung der Zins- über 60% bei Gewerkschaftsmitgliedern, deren besteuerung: Unter denjenigen Befragten in der Vertreter traditionell großen Einfluß auf die SPD- Untersuchung vom Oktober 2002, die eine Zinsbe- Politik haben.17 steuerung für nicht gerecht halten, ist das Verständ- nis dafür, daß Zinseinnahmen verschwiegen wer- den, doppelt so hoch wie unter denjenigen, die eine 6 Rückführung von Fluchtkapital Zinsbesteuerung für gerecht halten (Abbildung 9). Bei einem partiellen Steuererlaß, verbunden mit einer strafrechtlichen Amnestie heute, kommt der Gesetzgeber den Eignern von Fluchtkapital über die bereits heute durch Selbstanzeige mögliche straf- rechtliche Amnestie hinaus entgegen: Wenn Steuer- flüchtlinge ihr Kapital in die Legalität zurückführen, Abbildung 9 wird ihnen ein Teil der aufgelaufenen Steuerschul-

15 Koalitionsvereinbarung „Erneuerung – Gerechtigkeit – und Österreich vorerst ihr Bankgeheimnis, führen aber eine Nachhaltigkeit. Für ein wirtschaftlich starkes, soziales und Quellensteuer ein, die bis 2010 auf 35% ansteigt. Die ökologisches Deutschland. Für eine lebendige Demokratie” Einnahmen aus dieser Steuer fließen zu drei Vierteln an von SPD und Bündnis 90 / Die Grünen vom 16. Oktober den Fiskus des Ansässigkeitsstaates. Die anderen zwölf 2002, S. 20. EU-Staaten versenden ab 2004 Kontrollmitteilungen über Zinserträge auf Konten von EU-Ausländern. 16 In der Zwischenzeit wurde auf europäischer Ebene ein Kompormiß erzielt (Financial Times Deutschland vom 22. 17 Diese Ergebnisse werden von Emnid-Umfragen vom 22. Januar 2003, S. 1). Danach bewahren Luxemburg, Belgien Juli und vom 4. November 2002 mit je 1000 Befragten

76 Die Bundesregierung plant, daß in Zukunft alle Zinserträge von den Banken und Die Zustimmung ist dabei gerade bei Sparkassen dem Finanzamt direkt gemeldet werden müssen. Finden Sie das gut, oder finden Sie das nicht gut? Wählern der SPD mit knapp 58% überdurchschnittlich hoch. Der Grund für die Zustimmung in der Be- völkerung ist offensichtlich: Die der- zeitige Regelung, bei der Steuersün- der eine Bestrafung dadurch vermei- den können, daß sie sich selbst anzeigen und die aufgelaufene Abbildung 10 Steuerschuld nachzahlen, wird als den erlassen. Sinn einer solchen Regelung ist es nicht ausreichend angesehen. Weniger als 5% der nicht zuletzt, deren künftige Beteiligung an der Fi- Befragten glauben, daß sie häufig in Anspruch nanzierung der staatlichen Leistungen zu erreichen. genommen wird. Diese Einschätzung teilen in ähnli- Entsprechende Maßnahmen hatten beispielsweise chem Maße diejenigen, die einen partiellen Erlaß der in Italien den gewünschten fiskalischen Erfolg, die Steuerschuld befürworten, und diejenigen, die einen Steuereinnahmen stiegen aufgrund des Kapitalrück- solchen Erlaß ablehnen (Abbildung 12). Allerdings flusses deutlich an.18 Die Mehrheit der Deutschen rechnen 65% der Befragten auch bei einer „goldenen bringt dem Vorschlag, Steuersündern eine „goldene Brücke” nicht mit einer Legalisierung von Flucht- Brücke” zu bauen, durchaus Sympathie entgegen. kapital in großem Umfang; selbst die Befürworter 52% der Befragten stimmen einer solchen Regelung sind mehrheitlich kritisch (Abbildung 13). zu (Abbildung 11). Wenn es solch einen Steuernachlaß geben würde, glauben Sie, daß dann viele Steuersünder von dieser Regelung Gebrauch Es gibt ... den Vorschlag, ... Steuersündern einmalig einen Teil machen würden, oder glauben Sie das nicht? der aufgelaufenen Steuerschuld zu erlassen, wenn sie ihre Zinseinnahmen nachträglich dem deutschen Finanzamt melden. Finden Sie diesen Vorschlag gut oder finden Sie diesen Vorschlag nicht gut?

Abbildung 13

Abbildung 11

In Deutschland können sich Steuersünder selbst anzeigen und gestützt, in denen 59% bzw. 66% der Befragten sich gegen die hinterzogenen Steuern nachzahlen; sie gehen dann straffrei eine Abschaffung des Bankgeheimnisses aussprechen, aus. Glauben Sie, daß Steuersünder sich ... selbst anzeigen? selbst wenn dadurch mehr Steuergerechtigkeit geschaffen würde (WirtschaftsWoche vom 7.11.2002, S. 14). 18 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.8.2002, S. 9 „1,5 Milliarden Euro Einnahmen iItalien” sowie Neue Zürcher Zeitung vom 27.6. 2002, S. 10 „Erfolgreiche Amnestie der italienischen Regierung”. Zu den Folgen der Einführung einer Abgeltungssteuer in Österreich Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.8.2002, S. 12 „Österreichs Abgeltungssteuer greift” sowie ausführlich Schuster, Helmut (1999), Die österreichische Abgeltungssteuer – Modell für Deutschland? Daten, Fakten, Argumente, Köln: Abbildung 12 Bundesverband deutscher Banken.

77 Dieser Einschätzung stehen Schätzungen gegen- über, nach denen bis zu 200 Mrd. Euro von deut- schen Steuerpflichtigen in die Legalität zurückge- führt werden könnten.19 Entsprechend müßten Banken in den Zielländern von Fluchtkapital wie z.B. der Schweiz befürchten, daß ein partieller Steuer- nachlaß für reuige Steuerflüchtlinge zu einem mas- siven Kapitalabfluß führen könnte.

7 Fazit

Die Gerechtigkeitsargumente, die in der wissen- schaftlichen und in der politischen Diskussion um die Kapitalertragsbesteuerung vorgetragen werden, sind vor dem Hintergrund der zitierten Umfrage- ergebnisse nochmals zu hinterfragen. Sie beziehen sich möglicherweise auf eine überkommene Gerechtigkeitsvorstellung, die angesichts der zu- nehmenden Bedeutung privater Altersvorsorge und einer sehr hohen Abgabenbelastung den Präfe- renzen der Bürger nicht mehr entspricht. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, daß die Zustimmung zur Abgeltungssteuer zunimmt, je jünger die Befragten sind. Bei den unter 24-jährigen hat die Abgeltungs- steuer sogar eine absolute Mehrheit.

19 So der Steuerexperte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Kühn (Neue Zürcher Zeitung vom 21.3.2002, S. 15 „Wann fließt Fluchtgeld zurück?”).

78 Die Abgeltungssteuer aus politischer Harald Noack Perspektive: Eine sympathische Alternative zu Kontrollmitteilungen

Augenblicklich werden folgende Wege einer effekti- (2) Vollziehbarkeit der Steuergesetze und Verwal- ven Besteuerung der Kapitaleinkünfte diskutiert: tungsaufwand, (3) steuersystematische Probleme und Einfügung in das bisherige Besteuerungs- – ein Kontrollmitteilungssystem, verbunden system, (4) Sicherung des Steueraufkommens für mit der Abschaffung des § 30a AO und die öffentlichen Haushalte, (5) Transparenz und Ak- – eine Abgeltungssteuer. zeptanz des Steuerrechts sowie (6) die Anreize für Das Finanzministerium von Nordrhein-Westfalen die Rückholung des Fluchtkapitals aus dem Ausland. und ich persönlich hegen große Sympathie für eine Abgeltungssteuer, denn sie hat vielerlei Vorzüge. 1 Steuergerechtigkeit

Wenn man die Wahl hat zwischen Kontroll- Sollte man nicht den gesamten Verwaltungsaufwand mitteilungen als verwaltungstechnischer Lösung bei der Kapitalertragsbesteuerung lassen, weil er ja einerseits und einer gesetzestechnischen Lösung, relativ groß ist und der Ertrag relativ gering? Dieser nämlich einer Abgeltungssteuer, andererseits, dann Meinung bin ich nicht: Man muß auf den muß man die Wirkungen beider Lösungen verglei- Grenznutzen schauen, und Steuergerechtigkeit – chen. Tatsache ist, daß bei der verwaltungstechni- gemessen am Prinzip der Besteuerung nach der schen Lösung die Verwaltung zusätzlich belastet Leistungsfähigkeit – ist ein Nutzen an sich. Steuer- wird – und das in Zeiten, in denen man von der gerechtigkeit kann mit der Abgeltungssteuer herge- Überlastung der Verwaltungen, insbesondere auch stellt werden. der Finanzverwaltungen zu Recht redet. Die Steuer- gewerkschaft weist regelmäßig auf diesen Zustand Es wird dabei darauf zu achten sein, daß der hin. Wer also eine zusätzliche verwaltungstechni- Steuersatz im Falle unterschiedlicher individueller sche Lösung implementieren will, muß daher nach- Steuersätze insofern zu Steuerungerechtigkeit führt, weisen, daß sie deutliche Vorzüge gegenüber einer daß jemand mit einem niedrigeren Steuersatz den gesetzestechnischen Lösung hat, beziehungsweise höheren Abgeltungssteuersatz zahlen muß. Da gibt die gesetzestechnische wesentliche Defizite im es in Österreich das wie ich finde überzeugende Vergleich zur verwaltungstechnischen. Beispiel, daß man für diesen Fall dem Steuer- pflichtigen ein Wahlrecht einräumt. Das heißt, dieses Ich will vor dem Hintergrund der rechtlichen, steuer- technische Problem ist lösbar. rechtlichen, verwaltungswissenschaftlichen und ökonomischen Diskussion, die ich hier nicht im ein- Der Gerechtigkeitsaspekt ist also dann kein zelnen rezipieren kann, die politisch entscheidenden Problem, wenn man ein Wahlrecht für Steuer- Parameter aufzeigen, anhand derer man die Frage pflichtige, die sonst einer höheren Besteuerung als Kontrollmitteilungen versus Abgeltungssteuer der individuellen Besteuerung unterliegen würden, beantworten kann: nämlich (1) Steuergerechtigkeit, zuläßt.

79 2 Vollzug der Steuergesetze und vermieden wird, daß Bezieher von geringeren Verwaltungsaufwand Einkünfte, die ihre Kapitaleinkünfte bisher nicht oder mit einem geringeren als dem Abgeltungssteuersatz Allerdings gibt es nicht nur eine im Gesetz normier- versteuern mußten, die Steuerentlastung der te Besteuerungsgleichheit, sondern es muß auch – Bezieher höherer Einkünfte bezahlen müssen. wie das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat – Daher ist die Einführung einer Abgeltungssteuer im Gesetzesvollzug sichergestellt werden, daß die wohl nur bei Einräumung eines Veranlagungswahl- gesetzlich normierte Steuerpflicht erfüllt wird. Ob rechts für diejenigen möglich, deren individueller dieses Postulat bei der gegenwärtigen Besteuerung Grenzsteuersatz unter dem Abgeltungssteuersatz der Einkünfte aus Kapitalvermögen erfüllt ist, wird liegt. Ein solches Wahlrecht führt aber wiederum zu zu Recht kritisch gesehen. Von vielen Seiten wird einem Verwaltungsaufwand, der die von einer bemängelt, daß die Regelungen des § 30a der Ab- Abgeltungssteuer zu erwartende Verwaltungs- gabenordnung, Stichwort Bankgeheimnis, die vereinfachung mindert. gesetzmäßige Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen verhindert. 3 Steuersystematische Probleme und Dieses Problem kann grundsätzlich auf zwei Arten Einfügung in das bisherige gelöst werden, durch ein Kontrollmitteilungs- Besteuerungssystem verfahren im Rahmen einer Veranlagungsbe- steuerung oder durch eine Abgeltungssteuer. Dabei Für den Steuerrechtler ist die Abgeltungssteuer im hat jede Lösung Vor- und Nachteile. Vergleich zur Kontrollmitteilung ein Rückfall in alte, vermeintlich überwundene Zeiten. Denn mit einer Ein Kontrollmitteilungsverfahren kann die richtige Abgeltungssteuer wird ein Stück dessen, was über- Besteuerung sicherstellen, verursacht jedoch einen wunden schien, nämlich ein Stück Schedulensteuer nicht zu unterschätzenden Verwaltungsaufwand, so- wieder eingeführt. Mit der Kontrollmitteilung hinge- wohl bei den Kreditinstituten als auch bei der gen wird das geltende Steuerrecht nicht verändert. Finanzverwaltung. Darüber hinaus steigt der Anreiz, Man fügt lediglich dem vorhandenen System sich dem Kontrollmitteilungsverfahren durch Verla- Kontrollmitteilungen hinzu. Ich denke, die Politik ist gerung des Kapitals in ein Land mit einem Besteu- und muß in der Lage sein, diese steuerrechtswis- erungsregime ohne Kontrollmitteilung zu entziehen. senschaftliche Frage zu entscheiden. Wenn dieses Zudem wird gegen die Einführung von Kontrollmit- schedulare Element Vorzüge hat, dann, meine ich, teilungen eingewandt, wenn bereits erhebliches sollte man diese steuerrechtswissenschaftliche und Kapitalvermögen ins Ausland verlagert wurde, steuerrechtsdogmatische Fragestellung sehr schnell obwohl es keine Kontrollmitteilungen gibt, dann sei beantworten können. mit einer noch größeren Kapitalverlagerung nach Einführung von Kontrollmitteilungen zu rechnen. Damit sind die zu bedenkenden Auswirkungen einer möglichen Abgeltungssteuer jedoch noch nicht Dagegen begrenzt eine Abgeltungssteuer den erschöpft. Wie sollen die Verluste behandelt wer- Verwaltungsaufwand bei den Beteiligten und kann den? Eine Abgeltungssteuer erfasst nur die positi- einen Anreiz bieten, Kapital im Inland zu belassen ven Einnahmen. Ob und in welcher Höhe den Ein- oder sogar ins Inland zurückzuführen, wenn der nahmen Ausgaben gegenüberstehen, ist für den Abgeltungssteuersatz im internationalen Vergleich Steuerabzug unbeachtlich. Daher kann die Situation attraktiv ist. Allerdings hat die angestrebte Verwal- entstehen, daß bei einer Fremdfinanzierung des an- tungsvereinfachung Grenzen. Da ein abgesenkter gelegten Kapitals Verluste entstehen und trotzdem Abgeltungssteuersatz insbesondere Einkunfts- Steuern erhoben werden. Hier muß wohl denjeni- bezieher mit einem höheren Grenzsteuersatz gen, die Verluste erzielen, die Möglichkeit einge- begünstigt, ist die Einführung einer Abgeltungs- räumt werden, zumindest die abgezogene Steuer steuer politisch nur zu vermitteln, wenn der Eindruck erstattet zu bekommen.

80 Zu bedenken sind darüber hinaus auch die sein. Aber ich meine, wenn für alle eine Abgeltungs- Auswirkungen, die eine Abgeltungssteuer auf das steuer gilt, dann haben wir auch Transparenz. übrige Besteuerungsregime haben dürfte. Es gibt steuerpflichtige Einnahmen aus Kapitalvermögen, Politische Entscheidungen können sich nicht allein bei denen die Einführung einer Quellensteuer als darauf beschränken, Steuermehr- und Minder- Abgeltungssteuer nicht möglich ist. Ich denke etwa einnahmen zu berechnen. Sie müssen insbesonde- an private Darlehen oder an Einkünfte aus dem re auch die allgemeine Akzeptanz von Besteue- Ausland. Der anzuwendende Steuersatz auf rungsregeln berücksichtigen. Besteuerungsregeln, Kapitaleinkünfte kann aber nicht davon abhängen, die von den betroffenen Bürgern boykottiert werden, ob ein Steuerpflichtiger Zinsen von einem können nicht oder nur mit einem erheblichen Kreditinstitut oder von einem Verwandten bezieht Aufwand durchgesetzt werden. Dies gilt vor allem, oder ob ein Kreditinstitut im Inland oder im Ausland wenn der Staat auf die Mitwirkung der Steuer- die Zinsen auszahlt. Die Einführung einer pflichtigen angewiesen ist oder Ausweichmög- Abgeltungssteuer wird daher nicht nur Kapitaler- lichkeiten bestehen. Beides ist gerade im Bereich träge mit Quellensteuerabzug betreffen, sondern der Besteuerung von Kapitaleinkünften in hohem auch zu einer gesonderten Besteuerung aller übri- Maße gegeben. gen Kapitaleinkünfte führen müssen. Die in weiten Teilen der Bevölkerung als zu hoch 4 Sicherung des Steueraufkommens empfundene Besteuerung der Kapitaleinkünfte ver- schlechtert das allgemeine Steuerklima und trägt Die Sicherung des Steueraufkommens der öffentli- sicherlich mit dazu bei, daß hier, aber auch in ande- chen Haushalte ist mit beiden Systemen möglich. ren Einkunftsbereichen, Strategien zur Steuerver- Insofern sind Kontrollmitteilungen und Abgeltungs- meidung Konjunktur haben. Dies reizt zum steuer gleichwertig. Man muß natürlich sehen, daß Steuerwiderstand und bleibt auch bei denjenigen für die Kontrollmitteilungen zusätzlicher Aufwand Steuerpflichtigen nicht ohne Wirkung, die ihre entsteht. Da muß man feststellen: Kontrollmit- Kapitaleinkünfte – noch – korrekt versteuern. Hier teilungen bedeuten mehr Aufwand, mindern also stellt die Abgeltungssteuer eine mögliche Lösung eigentlich den Ertrag. Insofern hat die Abgeltungs- dar. Wenn es gelingt, durch die Abgeltungssteuer steuer unter dem Gesichtspunkt nicht nur verwal- eine von der überwiegenden Mehrheit der Steuer- tungsreformerischer, sondern fiskalischer Gesichts- pflichtigen akzeptierte Besteuerung der Kapital- punkte ein leichtes Prä. einkünfte einzuführen, könnte dies den allgemeinen Steuerwiderstand mindern und so ohne großen Verwaltungsaufwand eine Verbesserung des 5 Transparenz und Akzeptanz des Steueraufkommens bewirken. Steuerrechts Umfrageergebnisse1 zeigen, daß mehr als 56 % der Als Maßstab muß gelten, daß alle Einkünfte aus Bundesbürger eine 25%-ige Abgeltungssteuer Kapital, inländisches wie ausländisches, auch wenn ablehnen. Die Besteuerung der Sparzinsen halten es in vorvergangenen Zeiten im Ausland angelegt 67,5 % nicht für gerecht. Diese Zahlen belegen und nicht versteuert wurde, gleich behandelt wer- allerdings nicht unbedingt wissenschaftlich-empi- den müssen. Die Abgeltungssteuer begegnet der risch Handlungsnotwendigkeiten für die Politik. Steuerungerechtigkeit. Und diese Ungerechtigkeit Denn daß derjenige, der zur Zahlung verpflichtet ist, darf übrigens auch nicht entstehen durch eine wenn er gefragt wird, ob er das gerecht findet, nein Amnestie. Wenn es zu einer Abgeltungssteuer sagt, ist sein gutes Recht. Diese Aussage muß aber kommt, dann kann das nicht heißen, daß damit das nicht in Politik umgesetzt werden. Steuern müssen sogenannte Fluchtkapital von einer Amnestie erfaßt wird und diejenigen, die bisher steuerehrlich waren, 1 Repräsentative Umfrage des Instituts für praxisorientierte dann den Eindruck bekommen müßten, daß die Sozialforschung, Mannheim, im Oktober 2002 unter 1.015 Steuerunehrlichen belohnt werden. Dies kann nicht wahlberechtigten Bürgern Deutschlands.

81 schließlich die Ausgaben sichern, und unter diesem gebliebene Kapital ein. Die Lösung war praktikabel Gesichtspunkt würde eine Abgeltungssteuer eine und befriedigend. Worauf man hier sicherlich wird gleichmäßige Belastung und damit auch nicht nur achten müssen, ist folgendes: Wenn man pauscha- Gerechtigkeit, sondern Transparenz und Akzeptanz le Abgeltungen der nicht gezahlten Steuern über herstellen und die Akzeptanz erhöhen. den vergangenen Zeitraum erwägt, muß natürlich ein Anreiz für die Betroffenen vorhanden sein. Es 6 Amnestie darf nicht alles, was nicht rechtmäßig oder nicht den rechtlichen Vorschriften entsprechend angelegt war, Eine weitere Frage ist, mit welchen Aspekten, mit wel- über Nachforderungen vollständig verloren gehen. chen Instrumenten kann man Anreize für die Aber es muß natürlich auch eine Distanz geben zu Rückholung von Fluchtkapital schaffen? Ich sage vergleichbaren Anlegern, die über einen entspre- ganz deutlich: Nicht mit einer Amnestie. Teilweise chenden Zeitraum hier in Deutschland rechtmäßig werden auch verfassungsrechtlich Bedenken geäu- und ordentlich ihre Kapitalerträge versteuert haben. ßert, eine Amnestie sei dann nicht zulässig, wenn sie Es wäre zu diskutieren, was unter Anreizgesichts- auf Nachforderungen verzichte. In diesem Punkt will punkten und gleichzeitig unter dem Gesichtspunkt, ich einmal von den verfassungsrechtlichen Bedenken den steuerehrlichen Bürger nicht zu benachteiligen, Gebrauch machen – nicht, weil ich unter dem vertretbar ist. Auch das ist, wie die Beiträge dieses Gesichtspunkt der Verfassung alles, was nicht will- Bandes zeigen, ein lösbares Problem. kommen ist, gern verhindern möchte, sondern weil ich meine, daß hier die Frage auftaucht: Kann man 7 Fazit denjenigen belohnen, der sich über längere Zeit nicht rechtstreu verhalten hat? Das ist eine sehr allgemei- Alle Prüfmaßstäbe, die anzulegen sind, führen zu ne und populäre Betrachtung, aber sie führt im dem Ergebnis, daß eine Abgeltungssteuer nicht Ergebnis – und muß dahin führen – dazu, daß eine zuletzt unter Verwaltungsgesichtspunkten, also Amnestie in dem Fall als nicht akzeptabel und auch unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer unter den Aspekten Gleichheit und Gerechtigkeit als zusätzlichen Belastung für die Finanzverwaltungen, nicht akzeptabel erachtet würde. Vorzüge zu haben scheint. Ferner gibt es gute Beispiele im Ausland. Gerade das österreichische Aber auch hier gibt es Lösungen. Ich will darauf hin- Beispiel sollte in der weiteren Diskussion Berück- weisen, daß es mit der Regelung über die Nach- sichtigung finden. Eine Sympathie für eine Abgel- erklärung von Kapitalerträgen im Zusammenhang tungssteuer ist bei mir vorhanden. Sie ist sicherlich mit der Einführung der sogenannten kleinen Kapital- die überzeugendere Lösung. Entscheidend wird es ertragssteuer durch das Steuerreformgesetz 1990 auf die Höhe des Steuersatzes und die fiskalischen ein Modell gab, das umfassend war. Es schloß Auswirkungen, d.h. auf die Einnahmen einer sowohl den Kapitalertrag als auch das unversteuert Abgeltungssteuer ankommen.

82 Die Abgeltungssteuer aus Gerhard Stratthaus politischer Perspektive: Plädoyer für Pragmatismus

In der Diskussion um den Reformbedarf bei der taleinkünfte in die Einkommensteuerveranlagung Kapitalertragsbesteuerung sollte man zunächst ein- beantragen können. Eine zu hohe Abgeltungssteuer mal feststellen, was eigentlich das Ziel einer würde dann wieder erstattet. Aber auch da kommt Abgeltungssteuer sein soll. Zumindest in der politi- bereits der Einwand, daß die relative Abgeltungs- schen Diskussion, in der es nicht ganz so präzise steuer natürlich für denjenigen, der in einer sehr zugeht wie auf einer wissenschaftlichen Tagung, hohen Steuerprogression ist, im Vergleich zur werden drei Gründe genannt, die zum Teil zueinan- Veranlagung ein Vorteil sein könnte. Aber ich glau- der in einem gewissen Zielkonflikt stehen: Da geht be, wenn wir nicht bereit sind, gewisse Pauschalie- es einmal um das Ziel der Rückführung von Flucht- rungen hinzunehmen, dann werden wir überhaupt kapital, dann möglicherweise um die Vermeidung nichts erreichen. Ich kann deswegen diese von neuem fliehenden Kapital und schließlich um Gerechtigkeitsbedenken, die darauf hinauslaufen, den Versuch, im Inland angelegte Gelder wieder in daß auch die relative Abgeltungssteuer allein den die Steuerlegalität zurückzuholen. Gutverdienenden bevorzugen und dem anderen nichts bringen würde, persönlich nicht teilen. 1 Zwei Grundformen Die Frage ist, wie es mit einer Verwaltungsver- Die Abgeltungssteuer ist ein Quellensteuerabzug, einfachung aussehen würde. Es könnte ohne Frage der in zwei Grundformen möglich ist. In der Form der zu einer Verwaltungsvereinfachung kommen, weil absoluten Abgeltungsteuer kommt es mit dem der komplizierte Vordruck der Anlage KAP beim Quellensteuerabzug zu einer abschließenden Quellenabzugsverfahren nicht mehr ausgefüllt wer- Besteuerung der Kapitaleinkünfte. Bei der relativen den müßte. In wie weit das der Fall ist, hängt natür- Abgeltungssteuer hingegen wird zwar auch zu- lich letzten Endes davon ab, wie viele Steuer- nächst der Abzug an der Quelle vorgenommen, der pflichtige die Veranlagungsoption bei der relativen Kapitalanleger hat aber die Möglichkeit, für die Abgeltungssteuer nutzen. Und das hängt wiederum Einbeziehung der Kapitaleinkünfte in die Einkom- davon ab, ob man Freibeträge einräumen würde und mensteuerveranlagung zu optieren. wie hoch diese Freibeträge sind. Ich glaube, die Frage der Freibeträge für Zinseinkünfte müßte im Ich bin der Meinung, daß eine Abgeltungssteuer Einzelfall diskutiert werden. absoluter Art, die also in der Tat den kleinen Einkommensbezieher benachteiligen und den 2 Anwendungsbereich großen bevorzugen würde, nicht durchsetzbar und auch nicht denkbar ist. Wir haben uns im Finanzministerium Baden- Württemberg sehr lange Gedanken gemacht, ob nur Eine relative Abgeltungssteuer, die eine Möglichkeit Zinsen oder ob auch Dividenden einer solchen der Option zur Steuerveranlagung zulassen würde, Abgeltungssteuer zu unterwerfen wären. Diese wäre hingegen etwas, mit dem ich mich im Prinzip Frage ist in Deutschland seit der jüngsten Unterneh- anfreunden könnte. Einer angemessenen Besteue- menssteuerreform wohl nicht mehr ganz einfach zu rung der Geringverdiener wird hier dadurch Rech- beantworten. Derzeit werden Gewinne von nung getragen, daß sie die Einbeziehung ihrer Kapi- Kapitalgesellschaften mit einer Definitivsteuer von

83 25 % belastet; die Dividenden werden darüber hin- Natürlich müsste man dann auch, wie das Professor aus im sogenannten Halbeinkünfteverfahren ver- Arndt und Professor Feld in ihren Beiträgen andeu- steuert. Man müßte also dieses Halbeinkünfte- ten, Möglichkeiten finden, wie man bei der verfahren in der Art anwenden, daß man die Rückführung von nicht versteuerten Zinsen zum Abgeltungssteuer nur zur Hälfte oder nur auf die Beispiel gewisse Pauschalierungen finden könnte. Hälfte der Einkünfte erheben würde. Hinzu kommt, Wir hatten in Deutschland bereits einmal eine sol- daß bei einer Einbeziehung der Dividenden in die che Regelung, und zwar im Jahre 1990: Abgeltungssteuer auch die Einbeziehung von Demjenigen, der bis 1990 die Einkommensteuer- Gewinnen aus der Veräußerung von Beteiligungen erklärung für die Zeit ab 1986 korrigierte und die an Kapitalgesellschaften erwogen werden müßte. hinterzogenen Steuer nachzahlte, wurde die Im geltenden Recht werden – zumindest so lange Steuerschuld aus den Jahren vor 1986 erlassen. die Spekulationsfristen noch bestehen – Verkäufe, Dies wäre eine Möglichkeit, die man heute noch ein- die in kürzer als einem Jahr realisiert werden, so mal in Erwägung ziehen könnte. Alternativ könnte behandelt, als ob es ein voller Zufluß der stillen man sich auch etwas Ähnliches wie in Spanien vor- Reserven wäre. Die Veräußerungsgewinne werden stellen. Dort mußte, wer von der Nachversteuerung dann eben zum halben Satz – oder umgekehrt: die befreit werden wollte, das zurückgeführte Geld in Hälfte zum vollen Satz – versteuert. Der Anteilsver- Staatspapieren angelegen, die weit unter dem kauf ist somit einer Totalausschüttung gleichgestellt. Marktzinssatz verzinst wurden. Ich habe mir aller- Dies macht natürlich große Probleme bei dings sagen lassen, daß das Geld, als diese niedrig Personengesellschaften. Wir sind im Finanzministe- verzinsten Papiere ausgelaufen sind, zum großen rium Baden-Württemberg deswegen alles in allem Teil wieder ins Ausland zurückgeflossen ist. der Meinung gewesen, man sollte eine Abgeltungs- steuer im Prinzip auf Zinseinkünfte beschränken Wenn über die Zurückführung von steuerinduzier- und nicht auf Dividenden ausdehnen. Bereits die tem Fluchtkapital gesprochen wird, ist natürlich aus Zinseinkünfte zu definieren, ist schwer genug. volkswirtschaftlicher Sicht einmal die Frage zu stel- len, ob die Rückführung von Kapital unter volkswirt- 3 Wirkungen einer Abgeltungssteuer schaftlichen Gesichtspunkten in einer offenen Weltwirtschaft wirklich von so großer Bedeutung ist. Die Frage ist nun, welche Wirkung eine solche Denn das Kapital, das aus steuerlichen Gründen Abgeltungssteuer hätte. Bildet sie einen Anreiz zur von Deutschland aus ins Ausland fließt, ist ja damit Rückführung von im Ausland angelegtem Kapital? noch lange nicht für die Verwertung in Deutschland Führt sie in der Tat dazu, daß inländische Geldan- verloren gegangen. Denn es wird – oft auf sehr lagen legalisiert werden? In diesem Zusammen- komplizierten Wegen – wieder nach Deutschland hang ist zu überlegen, ob im Zusammenhang mit zurückkommen können. Das Rückholungsinteresse der Einführung einer Abgeltungssteuer eine besteht daher allein aus Sicht des heimischen Amnestieregelung getroffen werden sollte. Ich teile Fiskus. hierzu die Auffassung von Herrn Noack und halte eine Amnestie für wenig glücklich. 4 Abgeltungssteuer als Wir haben heute in Deutschland bereits die psychologisches Signal Selbstanzeige, die eine Strafbefreiungsmöglichkeit beinhaltet. Weil ich kein Jurist bin, möchte ich das Der Reiz einer Abgeltungssteuer liegt meiner einmal ganz einfach ausdrücken: Eine vollständige Auffassung nach weniger in greifbaren Fakten als Amnestie in der Form einer Strafbefreiung für alles, in der – sehr wichtigen – psychologischen Wirkung. was in der Vergangenheit geschehen ist, und darü- Eine Abgeltungssteuer ermöglicht eine im ber hinaus auch noch eine vollständige Befreiung Vergleich zur Regelbesteuerung niedrigere von der Steuernachzahlung, kann ich mir unter poli- Steuerbelastung. Sie führt vielleicht nicht dazu, daß tischen Gesichtspunkten nicht vorstellen. Das wäre sehr viel Geld aus dem Ausland zurückkehrt, denn auch kaum durchzusetzen. eine mäßige Abgeltungssteuer ist immer noch

84 höher als gar keine Steuer. Aber sie kann vielleicht 2001 den Vorschlag für eine Richtlinie zur Gewähr- doch den einen oder anderen Anleger dazu bewe- leistung einer effektiven Besteuerung von Zinser- gen, sein Kapital erst gar nicht ins Ausland zu trans- trägen innerhalb der Gemeinschaft vorgelegt. ferieren. Dies gilt erst recht, wenn die Anlage im Gegenstand des Richtlinienentwurfs ist die Be- Ausland mit Kosten und mit Unannehmlichkeiten steuerung von Kapitaleinnahmen, die eine natürli- verbunden ist. che Person mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat in einem anderen EU-Mitgliedstaat erzielt. Die Man muß das ganz pragmatisch sehen. Bevor ich Richtlinie sieht den Austausch von Informationen Finanzminister wurde (jetzt erzählen mir die Leute vor. Ich befürchte, daß das nicht funktioniert, und so etwas nicht mehr), hat mir jemand in meinem zwar zumindest deswegen, weil manche Länder in Ortsverband erzählt, er habe sein Geld nach der EU den Eintritt und das Geltendwerden der ent- Luxemburg gebracht. Dabei ging es um eine sprechenden EU-Richtlinie davon abhängig Summe, bei der anzunehmen war, daß die Zinsen machen, ob Länder außerhalb der EU zustimmen. weit unter den Freibeträgen geblieben wären. Auf Ich bin nicht ganz sicher, ob in einigen Ländern nicht die Frage, warum er das gemacht habe, hat er mich eine klammheimliche Hoffnung besteht, daß wegen darauf hingewiesen, ein anderer, den er mir mit dieser Bedingung keine Zustimmung zu Stande Namen genannt hat, habe es auch so gemacht. kommt. Man muß das, glaube ich, ganz pragmatisch Solche Dinge gibt es tatsächlich, und es geht nicht unter diesen Gesichtspunkten sehen. immer um die großen Summen. 6 Fazit Deswegen glaube ich, daß man auch diese psycho- logische Wirkung sehen sollte: Eine niedrige Abgel- Die Grundüberlegung der EU, die Besteuerung von tungssteuer erspart für diese kleineren Steuerflücht- Kapitaleinkünften international zu harmonisieren, linge die Probleme, daß das Geld im Ausland ist, wo um eine rein steuerinduzierte Kapitalflucht uninter- es kompliziert zu verwalten ist, und daß sie vielleicht essant zu machen, halte ich im Prinzip für richtig. Angst haben, erwischt zu werden oder irgendwann Aber das Kapital ist bekanntlich ein scheues Reh, nicht mehr an das Geld heranzukommen. oder, um es wissenschaftlicher auszudrücken: Kapital ist die mobilste Besteuerungsgrundlage. Die Abgeltungssteuer könnte daher meines Erach- Nationale Regelungen stoßen deswegen sehr tens unter politischen Gesichtpunkten durchaus schnell an ihre Grenzen. Ich glaube, daß pragma- eine vernünftige Wirkung haben. tisch und realistisch gesehen eine solche Infor- mationsaustauschregelung innerhalb der EU, insbe- sondere, wenn ihr Eintreten noch von der Zustim- 5 Pragmatismus vor Gerechtigkeit mung der Schweiz, Monacos und anderer Staaten abhängig gemacht wird, zur Zeit und wohl auch in Letzten Endes geht es um die Frage: Pragmatismus absehbarer Zeit keine reelle Chance hat. oder Gerechtigkeit? Ich gehe immer noch davon aus, daß das Leistungsfähigkeitsprinzip das richtige Deswegen bleibt eine Abgeltungssteuer für mich Prinzip der Besteuerung ist. Nur vor diesem eine Alternative, vielleicht sogar die beste Hintergrund, daß alle Einkunftsarten im Prinzip Alternative. Dies entbindet uns nicht von der Pflicht, gleich besteuert werden sollten nach der Leistungs- eine europäische Lösung zu suchen und zu finden. fähigkeit des Steuerpflichtigen, ist die Abwägung mit Die Abgeltungssteuer ließe sich aus meiner Sicht dem Pragmatismus zu fordern. mit einer europaweiten Quellensteuer in Einklang bringen. Sie scheint mir daher unter dem, was poli- Der Lösungsweg der EU-Finanzminister geht in eine tisch erreichbar ist, die vernünftigste, die einzige andere Richtung. Die EU-Kommission hat im Juli und die beste Lösung.

85 86 Die Referenten der Tagung

Prof. Dr. Hans-Wolfgang Prof. Dr. Lars P. Feld Arndt Universität Marburg Universität Mannheim Institut für Finanzwissenschaft Lehrstuhl für Recht und Steuer- recht

Prof. Dr. Hans-Peter Bareis Dr. habil. Lüder Gerken Universität Hohenheim Stiftung Marktwirtschaft Lehrstuhl für betriebswirtschaft- liche Steuerlehre und Prüfungs- wesen

Prof. Dr. Dieter Birk Prof. Dr. Monika Jachmann Universität Münster Universität Hamburg Institut für Steuerrecht Seminar für Finanz- und Steuer- recht

87 Prof. Dr. Manfred J.M. Neu- Gerhard Stratthaus, MdL mann Finanzminister des Landes Universität Bonn Baden-Württemberg Institut für Internationale Wirt- schaftspolitik

Dr. Harald Noack Dr. Frank Anton Weyss e.h. Staatssekretär des Ministe- Österreichischer Sparkassen- riums der Finanzen des Landes verband Nordrhein-Westfalen

Dr. Gerhard Schick Stiftung Marktwirtschaft

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