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SWR2 Musikstunde 12.07.2011, 9.05 bis 10 Uhr Auf Flügeln des Gesangs (2) Music for a while – Das englische Lied Mit Jürgen Kesting

Indikativ 0‘40

Zwei Komponisten sind zum Inbegriff der englischen Musik geworden: der 1659 geborene Henry Purcell und der zweieinhalb Jahrhunderte später geborene Benjamin Britten. Beiden wurde der Ehrentitel „Orpheus Britannicus“ zuerkannt. Dieser Titel ist auf den Peter Pears überging: wegen seines Einsatzes für die Musik von Benjamin Britten. Die Ära von Henry Purcell war die goldene Zeit des englischen Counter-, der auch als Altus bezeichnet wird. Benjamin Britten wiederum war der erste moderne Komponist, der den Counter-Tenor auf der Opernbühne einsetzte. Wie es dazu kam? Im Jahre 1942 hatte Sir Michael Tippett den Auftrag erhalten, für den Chor der Canterbury Cathedral eine Messe zu schreiben. Tippett gab ihr den Titel „Plebs Angelica“. Gleichzeitig war Tippett damit befasst, die Oden und die weltlichen Lieder von Henry Purcell herauszugeben, die für einen Countertenor mit bedeutenden virtuosen Fähigkeiten geschrieben worden waren – wie aus dem Vokalsatz ersichtlich ist. 1944 erfuhr er, daß es in den Reihen des Canterbury Cathedral Choir einen Altus mit außergewöhnlichen Fähigkeiten gab: Alfred Deller. Tippett bat ihn, Henry Purcells „Music for a while“ zu singen.

Henry Purcell „Music for a while“ Alfred Deller, Countertenor Walter Bergmann, Cembalo EMI 5 65501 Track 20, 4:14“

Als Michael Tippett den 32jährigen Alfred Deller mit „Music for a while / shall all your cares beguile“ hörte – eine Air aus einer Bühnenmusik zu „Oedipus“ –, war es ihm, als ob, wie er sagte, „vergangene Jahrhunderte zurückkehrten“.

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Für mein Ohr, so sagte er, hat die Stimmeder Counter-Tenors einen ganz besonderen Klang, weil uns keine emotionellen Belanglosigkeiten von der absolut reinen musikalischen Qualität ablenken.

Dank der Unterstützung Tippetts konnte Deller, ein reiner Autodidakt, noch im selben Jahr im Londoner Morley College debütieren. Fünf Jahre entstanden seine ersten Aufnahmen, die ihn sogleich bekannt machten – vor allem „Sweeter than roses“ aus Henry Purcells „Pausanias“, von ihm mit extravaganten Verzierung der ersten Phrasen eingeleitet.

Henry Purcell „Sweeter than roses“ Alfred Deller, Countertenor Walter Bergmann, Cembalo EMI 5 65501 Track 19, 4:14“

Alfred Deller, begleitet von Walter Bergman, mit Henry Purcells „Sweeter than roses“. Alfred Deller war der Prophet eines Singens, das zunächst nur vor hellhörig oder willig lauschenden Ohren Gnade fand. Viele Hörer, gewöhnt an die seit dem 19. Jahrhunderten geltenden ästhetischen und sozio-kulturellen Normen mit der geschlechtsspezifischen Zuordnung von Stimmen und Rollen, reagierten irritiert auf den Falsett-Gesang, bisweilen auch indigniert über die „singularity of voice“. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten gelang Alfred Deller, seine Utopie, von der er gegenüber einem Freund gesprochen hatte, zu verwirklichen:

Ich habe vor, dem Counter-Tenor auf dem Konzertpodium die Gleichberechtigung neben allen anderen Stimmen zurück zu erkämpfen.

Ein Ergebnis war, daß durch Dellers Arbeit auch die Musik des Jahrhunderts, das der Ära Purcells voraus gegangen war, zurückzukehren begann. Es waren die Lautenlieder der elisabethanischen Epoche, also aus der Ära von William Shakespeare. Der größte unter den Madrigalisten war der 1562 oder 1563 geborene John Dowland, der nach seiner Tätigkeit am Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel, beim 4

Landgrafen von Moritz von Hessen und als Lautenist am Hof König Christians des Vierten in Dänemark stolz sagen konnte:

Einige Teile meiner bescheidenen Arbeiten haben fast überall in Europa Gnade gefunden und sind in den acht größten Städten jenseits des Kanals gedruckt worden.

Dowlands Lautenlieder trafen überall in Europa auf wahl- und qualverwandte Hörer. Vielen Liedern ist eine melancholische Gestimmtheit zu eigen: die Klage über die Welt als Jammertal. „In Dunkelheit will ich leben“ - „In the darkness let me dwell“. Sie hören das Lied mit dem Countertenor Andreas Scholl, der den Song in seine wunderbare Aufnahme der Sammlung „A Musical Banquet“ aufgenommen hat. Diese Sammlung europäischer Lautenlieder wurde von Robert Dowland, dem Sohn des Komponisten, herausgegeben. Andreas Scholl wird begleitet von dem Lautenisten Edin Karamazow.

John Dowland „In the darkness let me dwell“ Andreas Scholl, Countertenor Edin Karamazow, Laute Decca 466 917 Track 3, 4:16“

Ein Leitmotiv des Komponisten, das sich durch die meisten seiner Songs zieht, ist das des Liebesleids: wie zum Beispiel in „I saw my lady weepe“ und „Flow my tears“. Es handelt sich bei diesen Songs, wie Christian Kelnberger in seiner brillanten Dowland-Studie darlegt, um ein Lied-Paar. Das erste Lied nimmt wesentliche melodische Elemente des zweiten vorweg. Sie hören die beiden Lieder mit zwei Interpreten: „I saw my Lady weepe“ zunächst mit der engelhaften Sopranistin Emma Kirkby, die ohne jedes Vibrato singt.

John Dowland „I saw my Ladye weepe“ Emma Kirkby, Sopran Anthony Rooley, Laute 5

Decca 460 583 Track 11, 5:38“

Das Singen von Emma Kirkby, die Sie mit John Dowlands „I saw my Ladye weepe“ hörten, macht den Eindruck scheinbar vollkommener Kunstlosigkeit. Es ist ein keusches Singen, oder - um die Metapher von Michael Tippet aufzunehmen - frei von allen emotionalen Belanglosigkeiten. Das zweite Lied – „Flow my tears“ – hören Sie mit Andreas Scholl, begleitet von dem Lautenisten Andreas Martin

John Dowland „Flow, my tears“ Andreas Scholl, Clounter-Tenor Andreas Martin, Laute HMC 901603 Track 13, 2‘50

Andreas Scholl mit „Flow my tears“ von John Dowland, dessen Songs in England mit den Klavierliedern von Franz Schubert in eine Rangordnung gestellt werden. Gemeinsam ist ihnen – bei allen Unterschieden – die Subjektivierung des Ausdrucks. Aber es sind, selbst in Momenten verzweifelter Melancholie, keine dramatischen Lieder, sondern seismographisch erfasste Seelenbilder. Nach der Zeit der Madrigalisten und Lautenisten aus der elisabethanischen Ära – zu denen weiter Thomas Campion, William Byrd, Thomas Morley und Philip Rosseter zählen – und der Ära von William Purcell traten in England lange Zeit wenige Komponisten hohen Ranges hervor. Um ein „Revival of English Song“ im 19. Jahrhundert waren zwei Komponisten bemüht: Charles Villiers Stanford und . Sie setzten den in der viktorianischen Ära beliebten Drawing-room-Ballads oder den Parlour Ballads – melodisch gefälligen, aber sentimentalen Gesängen, Vertonungen zeitgenössischer Lyriker von Rang entgegen. In einer Ära verstärkter nationaler Kunstanstrengungen überall in Europa war auch ihnen die Rücksicht auf die Eigenheiten des Englischen besonders wichtig. Parry wie Stanford sind in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben. Selbst Dietrich Fischer-Dieskau, der Enzyklopädist des Liedgesangs, hat sie nicht entdeckt. Sänger wie der große irische Tenor John McCormack und die englische Altistin Kathleen Ferrier haben einzelne Songs in ihren Recitals gesungen – zu einer Zeit, 6 als Liederabende nicht unbedingt Weihestunden sein mussten: wie zum Beispiel „Love is a bable“ von Hubert Parry. Sie hören Kathleen Ferrier.

Hubert Parry „Love is a bable“ Kathleen Ferrier, Alt Frederick Stone, Klavier Decca 430 061, 1.40“

Es gibt wenige Sängerinnen, die sich durch die Kunst der Kunstlosigkeit in den Maße auszeichneten wie die Altistin Kathleen Ferrier, die Sie mit Hubert Parrys „Love is a bable“ hörten. Der bedeutendste englische Komponist des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhundert war Edward Elgar. Einzelne seiner Lieder fanden sich im Repertoire der Sopranistin Maggie Teyte und von einst berühmten Tenören wie John Coates, Tudor Davies und Walter Hyde. Weithin berühmt wurden allein die „Sea Pictures“ für Alt und großes Orchester. Allerdings ist der Komponist dafür kritisiert worden, daß er für die fünf Lieder – anders als sein Zeitgenosse Gustav Mahler – auf Gebrauchs-Lyrik zurückgegriffen hat. Gleichwohl, der Zyklus ist ein höchstwertiges Beispiel für sublime Stimmungskunst. Populär geworden ist das Lied „Where Corals Lie“ – eine sehnsüchtige Phantasie nach dem „Land, wo die Korallen glühn“ – ein Vers, der am Ende aller vier Strophen wiederholt wird. Die eindringlichste Aufnahme des Zyklus verdanken wir der herausragenden englischen Mezzo-Sopranistin nach dem Krieg: Janet Baker, die den Zyklus mit dem London Symphony Orchestra unter Sir John Barbirolli aufgenommen hat.

Edward Elgar „Where Corals Lie“ aus den SEA PICTURES Janet Baker, Mezzo London Symphony Orchestra Leitung: Sir John Barbirolli EMI 2 08088 CD Track 14, 4:10“

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„Where Corals Lie“ aus den „Sea Pictures“ von Edward Elgar mit der Mezzo- Sopranistin Janet Baker und dem London Symphony Orchestra unter Sir John Barbirolli. Wie schon zu Beginn angedeutet, hat England nach Henry Purcell, dem Orpheus Britannicus, für lange Zeit keinen Komponisten von Rang hervorgebracht. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts stand Händel im Mittelpunkt des Opernlebens, aber es war keine englische Oper, sondern die italienische Opera Seria. Allerdings lockte das gut organisierte Konzertwesen, entstanden auf dem Boden einer bürgerlichen Handelsgesellschaft, Johann Christian Bach und vor allem Joseph Haydn nach London. Aber erst in der Zeit nach 1850, in der alle Völker des Kontinents um Autonomie kämpften und deshalb auch um kulturelle Identität bemüht waren, kam es zu einer „English Musical Renaissance“. Neben Charles Stanford und Hubert Parry sind Arthur Bliss, und der durch seine Orchester-Suite „Die Planeten“ berühmt gewordene zu nennen, ebenso wie Ralf Vaughan Williams. Williams, ein Schüler von Stanford und Parry, hat zahlreiche Lieder-Zyklen geschrieben: Darunter „Seven Songs from „The Pilgrim’s Progress“ und kleinere Gruppen auf Texte von Walt Whitman, William Shakespeare, William Blake und zahlreiche Einzellieder. Eine Kostbarkeit ist ein Lied auf ein Sonett von Dante Gabriel Rossetti: „Silent Noon“. Rossetti, Poet und Maler, gehört zu der Gruppe der sogenannten Präraffeliten, die die Reform der britischen Kunst durch den Rückgriff auf die Renaissance anstrebten. Mit dem kunstvoll-sinnlichen, metaphorisch verrätselten Liebesgesang hören Sie Heddle Nash, den besten englischen Tenor der Jahre zwischen 1930 und 1955, geschätzt von Arturo Toscanini ebenso wie von Sir . Sein Klavierpartner ist Gerald Moore:

Ralph Vaughan Williams „Silent noon“ Heddle Nash, Tenor Gerald Moore, Klavier HQM Golden Voice 6. Seite 1, Titel 7, 4:50“

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„Silent noon“ von Vaughan Williams in einer Aufnahme mit Heddle Nash, begleitet von Gerald Moore. Der berühmteste Zyklus von Vaughan Williams sind die „Songs of Travel“ auf Gedichte von Robert Louis Stevenson. Es sind Klagen eines im ersten Lied vorgestellten Vagabunden über seine verlorenen Lieben – eine Lebensgeschichte in einzelnen Bildern wie in Schuberts „Winterreise“ – wenn auch nur thematisch. Eine großartige Aufnahme der Orchesterfassung ist dem Bariton Thomas Allen und dem City of Symphony Orchestra unter Simon Rattle zu danken. Sie hören daraus „Youth and love“. Der atmosphärische Beginn der zweiten Strophe von „Youth and love“ – beginnend mit den Worten „Thick als stars“ – erinnert in seiner atmosphärischen Farbigkeit an Maurice Ravel:

Raph Vaughan Williams „Youth and love“ aus den SONGS OF TRAVEL Thomas Allen, Bariton. City of Birmingham Symphony Orchestra Leitung: Simon Rattle EMI EL 27 0059 Seite II, Titel 4, 3:13“

„Youth and love“ aus den „Songs of Travel“ von Vaughan Williams, gesungen von Thomas Allen, begleitet vom City of Birmingham Symphony Orchestra unter Leitung von Simon Rattle. Es sei erwähnt, daß der eminent vielseitige Thomas Allen zu den besten Sängern gehört, die England im vergangenen Jahrhundert hervorgebracht hat. Wie reizvoll es wäre, auf Komponisten wie Percy Grainger, Frank Bridge, Roger Quilter, Peter Warlock und Gerald Finzi einzugehen – der Abschluß der heutigen Sendung ist dem zweiten Orpheus Britannicus vorbehalten: Benjamin Britten und Peter Pears, der seinerseits, wie auch schon erwähnt, als Orpheus Britannicus berühmt ist. Peter Pears war der erste Peter Grimes, der erste Male Chorus in „The Rape of Lucrezia“, der erste Albert Herring, der erste Peter Quint in „The Turn of the Screw“ und der erste Gustav Aschenbach in „Der Tod in Venedig“ – und auch der erste Interpret von Werken wie „Serenade for tenor, horn and strings“, von „Les 9

Illuminations“, der „Holy Sonnets of John Donne“ – um nur die bekanntesten Werke zu nennen. Der erste Zyklus, den Benjamin Britten für Peter Pears schrieb – zwischen März und Oktober 1940 – waren die „Seven Sonnets of Michelangelo“. Britten wählte jene berühmten Liebesgedichte, die Michelangelo an den jungen Tommaso Cavalieri richtete und nach dem Vorbild Petrarcas die Liebe in all ihren Stationen umkreisen: Bekenntnis, Enttäuschung, Leid und Verklärung. Die Auswahl hatte Bekenntnischarakter: Es war eine Liebeserklärung an den Interpreten, der auch zu seinem Lebenspartner wurde. Zwei Monate nach der Londoner Uraufführung im September 1942 entstand die erste Studio-Aufnahme. Sie ist unübertroffen – und sie ist wahrscheinlich unübertrefflich. Die Stimme von Peter Pears, die zu goutieren einen erworbenen Geschmack voraussetzt, klingt in dieser frühen Aufnahme nicht nur fest, frisch und strahlend, sondern aus ihr klingt jener Rausch der Jugend, wie ihn Goethe definierte: „Jugend ist Trunkenheit ohne Wein“. Sie hören zum Abschluß das lyrisch getönte dritte Michelangelo–Sonnett: „Veggio co’ bei vostri occhi“.

Benjamin Britten „Veggio co’ bei vostri occhi“ aus den SEVEN SONNETS OF MICHELANGELO Peter Pears, Tenor Benjamin Britten, Klavier Membran 231134 VCD 10 Track 3, 3:08“

Das war das dritte aus Benjamins Brittens Zyklus „ Seven Sonnets of Michelangelo“ mit Peter Pears, begleitet von Benjamin Britten. Auch heute wieder ein Encore. Oft sind es ja die nach einem Konzert gewährten Zugaben, die den Hörern am nachdrücklichsten in Erinnerung bleiben. Viele Abende mit Musik großer Komponisten sind zu Ende gegangen mit einfachen Liedern oder Songs, die zu singen aber keineswegs einfacher ist. Der große irische Tenor John McCormack hat nach wenigen sehr erfolgreichen Jahren die Opernbühne verlassen und hat nur noch Konzerte gegeben. Nach Arien oder Liedern von Schubert und Wolf hat er irische Balladen oder auch die schon erwähnten gefühlvollen Balladen gesungen. Sein „signature song“ – also seine 10

Erkennungsmelodie – war Charles Marshalls Song „I hear you calling me“ mit seinen magischen Pianissimo-Tönen. Mit Alfred Polgar ließe sich sagen:

Das ist schon eine Kunst, auch wenn es nicht eben Kunst ist.

Charles Marshall „I hear you calling me“ John McCormack Naxos 8.110328 Track 13, 3:48“