Plenarprotokoll 15/86

Deutscher

Stenografischer Bericht

86. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Inhalt:

Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag Tagesordnungspunkt 4: der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Erste Beratung des von der Bundesregie- Siegfried Helias und Dr. Wolfgang rung eingebrachten Entwurfs einesTele- Gerhardt ...... 7505 A kommunikationsgesetzes (TKG) Nachträgliche Gratulation zum 65. Geburtstag (Drucksachen 15/2316, 15/2345) ...... 7511 C des Abgeordneten ...... 7505 A in Verbindung mit Benennung der AbgeordnetenGisela Hilbrecht und (Bremen) sowie von Frau Karin Knöbelspies als or- Zusatztagesordnungspunkt 2: dentliches Mitglied und der Abgeordneten und Wolfgang Börnsen Antrag der Abgeordneten Dr. Martina (Bönstrup) sowie von Herrn Oliver Passek Krogmann, Dagmar Wöhrl, weiterer Ab- als stellvertretendes Mitglied für den Verwal- geordneter und der Fraktion der CDU/ tungsrat der Filmförderungsanstalt ...... 7505 B CSU: Mehr Wettbewerb, Wachstum und Innovation in der Telekommunika- Benennung der AbgeordnetenGisela tion schaffen Hilbrecht als ordentliches Mitglied und des (Drucksache 15/2329) ...... 7511 C Abgeordneten Wolfgang Börnsen Wolfgang Clement, Bundesminister (Bönstrup) als stellvertretendes Mitglied für BMWA ...... 7511 D die Vergabekommission der Filmförderungs- anstalt ...... 7505 B Dr. Martina Krogmann CDU/CSU ...... 7513 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 7505 B Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7515 C Absetzung der Tagesordnungspunkte 19 und 21 7506 C FDP ...... 7517 B Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 7506 C Klaus Brandner SPD ...... 7518 C CDU/CSU ...... 7520 B Zur Geschäftsordnung: fraktionslos ...... 7521 C Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ...... 7506 D SPD ...... 7522 A SPD ...... 7507 D SPD ...... 7522 C Günther Friedrich Nolting FDP ...... 7509 B Dr. Martina Krogmann CDU/CSU ...... 7523 A BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7510 B Dr. Günter Krings CDU/CSU ...... 7525 C II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. , Donnerstag, den 15. Januar 2004

Tagesordnungspunkt 5: Volksrepublik China andererseits (Drucksache 15/2284) ...... 7539 B Bericht des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung c) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs einesGesetzes – zu dem von den Abgeordneten zur Ergänzung des Gesetzes zur Dr. Norbert Röttgen, Cajus Caesar, Sicherstellung einer Übergangsrege- weiteren Abgeordneten und der Frak- lung für die Umsatzbesteuerung von tion der CDU/CSU eingebrachten Ent- Alt-Sportanlagen wurf eines Gesetzes zur Änderung (Drucksache 15/2132) ...... 7539 B des Strafgesetzbuches – Graffiti-Be- kämpfungsgesetz – d) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes – zu dem von den Abgeordneten Jörg zur Änderung des Grundgesetzes van Essen, Rainer Funke, weiteren Ab- (Drucksache 15/2136) ...... 7539 C geordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum verbesserten Schutz des Eigen- e) Erste Beratung des von der Bundesre- tums gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen – zu dem vom Bundesrat eingebrachten Maasübereinkommen vom 3. De- Entwurf eines Strafrechtsänderungs- zember 2002 gesetzes – Graffiti-Bekämpfungsge- (Drucksache 15/2147) ...... 7539 C setz – (StrÄndG) f) Erste Beratung des von der Bundes- (Drucksachen 15/302, 15/63, 15/404, regierung eingebrachten Entwurfs ei- 15/2325) ...... 7527 C nes Gesetzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes, des Geflü- Daniela Raab CDU/CSU ...... 7527 C gelfleischhygienegesetzes und des Christoph Strässer SPD ...... 7528 D Lebensmittel- und Bedarfsgegen- ständegesetzes und sonstiger Vor- Jörg van Essen FDP ...... 7531 B schriften (Drucksache 15/2293) ...... 7539 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7532 C in Verbindung mit Dr. CDU/CSU ...... 7534 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 3: DIE GRÜNEN ...... 7534 C a) Erste Beratung des von der Bundes- Dr. Roger Kusch, Senator regierung eingebrachten Entwurfs ei- (Hamburg) ...... 7535 A nes Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung Michael Hartmann der Vaterschaft und das Umgangs- (Wackernheim) SPD ...... 7536 D recht von Bezugspersonen des Roland Gewalt CDU/CSU ...... 7537 D Kindes (Drucksache 15/2253) ...... 7539 D

Tagesordnungspunkt 22: b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines a) Erste Beratung des von der Bundesre- Gesetzes zu dem Vertrag vom gierung eingebrachten Entwurfs eines 17. Juli 2003 zwischen der Bundes- Gesetzes über die Errichtung des republik Deutschland und der Re- Bundesamtes für Bevölkerungs- publik Polen über die Ergänzung schutz und Katastrophenhilfe des Europäischen Übereinkommens (Drucksache 15/2286) ...... 7539 B vom 20. April 1959 über die Rechts- hilfe in Strafsachen und die Erleich- b) Erste Beratung des von der Bundesre- terung seiner Anwendung gierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 15/2254) ...... 7539 D Gesetzes zu dem Seeverkehrsab- kommen vom 10. Dezember 2002 c) Erste Beratung des von der Bundes- zwischen der Europäischen Gemein- regierung eingebrachten Entwurfs ei- schaft und ihren Mitgliedstaaten ei- nes Gesetzes zu dem Vertrag vom nerseits und der Regierung der 17. Juli 2003 zwischen der Bundes- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 III

republik Deutschland und der Re- Andreas Storm CDU/CSU ...... 7543 A publik Polen über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungs- BÜNDNIS 90/ übereinkommens vom 13. Dezember DIE GRÜNEN ...... 7544 A 1957 und die Erleichterung seiner Detlef Parr FDP ...... 7545 A Anwendung (Drucksache 15/2255) ...... 7540 A Erika Lotz SPD ...... 7546 B Wolfgang Zöller CDU/CSU ...... 7547 C Tagesordnungspunkt 23: Petra Selg BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7548 C a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 7549 B eingebrachten Entwurfs einesGeset- Rolf Stöckel SPD ...... 7550 A zes zu dem Vertrag vom 13. April 2000 zwischen der Bundesrepublik Monika Brüning CDU/CSU ...... 7551 A Deutschland und der Französischen Republik über die Festlegung der , Bundesministerin BMGS . . . . 7551 D Grenze auf den ausgebauten Stre- CDU/CSU ...... 7553 D cken des Rheins (Drucksachen 15/1650, 15/2196) . . . . 7540 A Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung b) Beschlussempfehlung und Bericht des für die Belange der Behinderten ...... 7554 D Finanzausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Vor- CDU/CSU ...... 7556 A schlag für einen Beschluss des Euro- päischen Parlaments und des Rates zur Auflage eines Aktionspro- Tagesordnungspunkt 6: gramms der Gemeinschaft zur För- derung von Maßnahmen auf dem Beschlussempfehlung und Bericht des Gebiet des Schutzes der finanziellen Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen Interessen der GemeinschaftKOM und Jugend (2003) 278 endg.; Ratsdok. 11237/03 – zu der Unterrichtung durch die Bun- (Drucksachen 15/1547 Nr. 2.83, desregierung: Fünfter Bericht der 15/2048) ...... 7540 B Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nati- in Verbindung mit onen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) Zusatztagesordnungspunkt 4: –zu dem Entschließungsantrag der a) Beschlussempfehlung und Bericht des Abgeordneten Renate Gradistanac, Rechtsausschusses zu der Streitsache Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter vor dem Bundesverfassungsgericht und der Fraktion der SPD sowie der 2 BvK 1/03 Abgeordneten Irmingard Schewe- (Drucksache 15/2348) ...... 7540 C Gerigk, Ekin Deligöz, weiterer Abge- b) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- ordneter und der Fraktion des BÜND- schusses: Übersicht 5 über die dem NISSES 90/DIE GRÜNEN zu der Deutschen Bundestag zugeleiteten Unterrichtung durch die Bundesregie- Streitsachen vor dem Bundesverfas- rung: Fünfter Bericht der Bundesre- sungsgericht publik Deutschland zum Überein- (Drucksache 15/2347) ...... 7540 C kommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskri- minierung der Frau (CEDAW) Zusatztagesordnungspunkt 5: –zu dem Entschließungsantrag der Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Heinrich tion der FDP: Haltung der Bundesregie- L. Kolb, weiterer Abgeordneter und rung zu den bereits jetzt erkennbaren der Fraktion der FDP zu der Unterrich- Auswirkungen der Gesundheitsreform tung durch die Bundesregierung: Fünfter Bericht der Bundesrepu- Dr. Dieter Thomae FDP ...... 7540 D blik Deutschland zum Übereinkom- Gudrun Schaich-Walch SPD ...... 7542 A men der Vereinten Nationen zur IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Beseitigung jeder Form von Diskri- Tagesordnungspunkt 8: minierung der Frau (CEDAW) Beschlussempfehlung und Bericht des – zu dem Antrag der Abgeordneten Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit Maria Eichhorn, , weiterer Abgeordneter und der Frak- – zu dem Antrag der Abgeordneten tion der CDU/CSU: Benachteiligung Dr. , Klaus Brandner, von Frauen wirksam bekämpfen – weiterer Abgeordneter und der Frak- Konsequenzen ziehen aus dem tion der SPD sowie der Abgeordneten CEDAW-Bericht der Bundesregie- (Berlin), rung (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE (Drucksachen 15/105, 15/599, 15/601, GRÜNEN: Sicherung von Standort 15/740, 15/1171) ...... 7558 C und Know-how des deutschen See- schiffbaus Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekretärin BMFSFJ ...... 7558 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Karl- Hannelore Roedel CDU/CSU ...... 7561 A Josef Laumann, weiterer Abgeordneter Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ und der Fraktion der CDU/CSU: Deut- DIE GRÜNEN ...... 7563 A schen Schiffbau aus der Schlecht- wetterlage in sicheres Fahrwasser Ina Lenke FDP ...... 7564 A leiten Ina Lenke FDP ...... 7565 C (Drucksachen 15/1575, 15/1101, 15/1930) 7586 C Angelika Graf (Rosenheim) SPD ...... 7566 D Dr. Margrit Wetzel SPD ...... 7586 C Rita Pawelski CDU/CSU ...... 7568 B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . 7589 B BÜNDNIS 90/ Renate Gradistanac SPD ...... 7570 B DIE GRÜNEN ...... 7591 B Walter Link (Diepholz) Hans-Michael Goldmann FDP ...... 7592 C CDU/CSU ...... 7571 C Anja Hajduk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7593 B Tagesordnungspunkt 7: CDU/CSU ...... 7594 A Antrag der Abgeordneten , Dr. Norbert Röttgen, weiterer (Zingst) CDU/CSU ...... 7595 B Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Verbrechen wirksam bekämpfen – Genetischen Fingerabdruck konsequent Tagesordnungspunkt 9: nutzen Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 15/2159) ...... 7573 C Ausschusses für Verbraucherschutz, Wolfgang Bosbach Ernährung und Landwirtschaft zu dem CDU/CSU ...... 7573 C Antrag der Abgeordneten Hans- Michael Goldmann, Dr. Christel Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 7576 A Happach-Kasan, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Agrar- Gisela Piltz FDP ...... 7578 B politische Herausforderungen der BÜNDNIS 90/ WTO und EU-Osterweiterung mit DIE GRÜNEN ...... 7579 C der Kulturlandschaftsprämie meis- tern Wolfgang Bosbach CDU/CSU ...... 7581 A (Drucksachen 15/1232, 15/1841) . . . . 7596 B Jerzy Montag BÜNDNIS 90/ Hans-Michael Goldmann FDP ...... 7596 C DIE GRÜNEN ...... 7581 D Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD ...... 7597 C (Altötting) CDU/CSU . . . . . 7582 B CDU/CSU ...... 7598 D SPD ...... 7584 A Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/ Ralf Göbel CDU/CSU ...... 7585 D DIE GRÜNEN ...... 7600 A Christine Lambrecht SPD ...... 7586 B Bernhard Schulte-Drüggelte CDU/CSU . . . . 7601 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 V

Tagesordnungspunkt 10: BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7620 C Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Dr. FDP ...... 7621 C eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Marga Elser SPD ...... 7622 A MAD-Gesetzes (1. MADGÄndG) (Drucksachen 15/1959, 15/2274) ...... 7602 C , Parl. Staatssekretär Tagesordnungspunkt 13: BMVg ...... 7602 C a) Antrag der Abgeordneten Peter Weiß Hans Raidel CDU/CSU ...... 7603 C (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Frak- Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ tion der CDU/CSU: Stabilisierung DIE GRÜNEN ...... 7604 B der Lage in Bolivien (Drucksache 15/1980) ...... 7623 B Rainer Funke FDP ...... 7605 C b) Antrag der Abgeordneten Dr. Ralf Petra Pau fraktionslos ...... 7606 A Brauksiepe, Dr. Christian Ruck, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Klaas Hübner SPD ...... 7606 D der CDU/CSU: Mehr Mut zur Re- Jürgen Herrmann form der EU-Entwicklungszusam- CDU/CSU ...... 7607 D menarbeit (Drucksache 15/1215) ...... 7623 B

in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dr. Peter Paziorek, weiterer Abge- Zusatztagesordnungspunkt 6: ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Antrag der Abgeordneten Karin Russland für eine Ratifizierung des Kortmann, Detlef Dzembritzki, weiterer Kioto-Protokolls gewinnen – Im Inter- Abgeordneter und der Fraktion der SPD esse des internationalen Klimaschutzes sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, und eines Erfolges des Emissionshan- Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- dels ter und der Fraktion des BÜNDNIS- (Drucksache 15/2163) ...... 7609 C SES 90/DIE GRÜNEN: Die Entwick- Kurt-Dieter Grill lungszusammenarbeit der EU kon- struktiv weiterentwickeln – Effizienz CDU/CSU ...... 7609 C und Nachhaltigkeit verbessern Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (Drucksache 15/2338) ...... 7623 C SPD ...... 7611 A Dr. Birgit Homburger FDP ...... 7613 B CDU/CSU ...... 7623 C Detlef Dzembritzki SPD ...... 7625 A Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7614 C Markus Löning FDP ...... 7626 D Cajus Caesar CDU/CSU ...... 7616 B Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7628 A Peter Weiß (Emmendingen) Tagesordnungspunkt 12: CDU/CSU ...... 7629 B Zweite und dritte Beratung des von der Karin Kortmann SPD ...... Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 7630 B eines Vierunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes CDU/CSU ...... 7631 D (34. ÄndGLAG) (Drucksachen 15/1854, 15/2230) ...... 7618 A/B Fritz Rudolf Körper, Tagesordnungspunkt 14: Parl. Staatssekretär BMI ...... 7618 B Erste Beratung des von der Bundesregie- (Recklinghausen) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- CDU/CSU ...... 7619 A zes zur Anpassung des Baugesetzbuches VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

an EU-Richtlinien (Europarechtsanpas- Tagesordnungspunkt 20: sungsgesetz Bau – EAG Bau) Antrag der Abgeordneten Peter Götz, Dirk (Drucksache 15/2250) ...... 7633 A Fischer (Hamburg), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU:Vor- in Verbindung mit lage eines städtebaulichen Berichts (Drucksache 15/2158) ...... 7646 A Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Joachim Tagesordnungspunkt 17: Günther (Plauen), Eberhard Otto (Go- dern), weiterer Abgeordneter und der Beschlussempfehlung und Bericht des Fraktion der FDP: Weitgehende Pla- Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität nungserleichterungen bei Anpas- und Geschäftsordnung sung des Baugesetzbuchs an EU- – zu dem Antrag der Abgeordneten Richtlinien Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau: (Drucksache 15/2346) ...... 7633 B Rechtsstellung der Abgeordneten der PDS im 15. Bundestag Achim Großmann, Parl. Staatssekretär BMVBW ...... 7633 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau: Än- Markus Grübel CDU/CSU ...... 7634 C derung der Geschäftsordnung des Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ Deutschen Bundestages DIE GRÜNEN ...... 7635 D (Drucksachen 15/873, 15/874, 15/2114) . 7646 B Joachim Günther Dr. Uwe Küster SPD ...... 7646 B (Plauen) FDP ...... 7636 D Petra Pau fraktionslos ...... 7647 A Wolfgang Spanier SPD ...... 7637 B Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 7648 B Thomas Dörflinger CDU/CSU ...... 7638 C Petra Pau fraktionslos ...... 7648 D

Tagesordnungspunkt 15: Bericht des Rechtsausschusses gemäß Nächste Sitzung ...... 7649 D § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, weiteren Anlage 1 Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7651 A CSU eingebrachten Entwurf eines Geset- zes zur Änderung des Bürgerlichen Ge- setzbuches (Gesetz zur Beseitigung der Anlage 2 Rechtsunsicherheit beim Unterneh- menskauf) Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der (Drucksachen 15/1096, 15/2326) ...... 7640 B Beschlussempfehlung und des Berichts: Agrarpolitische Herausforderungen der WTO und EU-Osterweiterung mit der Tagesordnungspunkt 16: Kulturlandschaftsprämie meistern (Tages- ordnungspunkt 9) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Ab- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär geordneter und der Fraktion der CDU/ BMVEL ...... 7651 B CSU: Keine Kürzungen von Integrati- onsmaßnahmen (Drucksache 15/1691) ...... 7640 B Anlage 3 Willi Zylajew CDU/CSU ...... 7640 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Berichts: Entwurf eines Gesetzes zur , Parl. Staatssekretärin Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches BMFSFJ ...... 7641 C (Gesetz zur Beseitigung der Rechtsun- Dr. Max Stadler FDP ...... 7642 C sicherheit beim Unternehmenskauf)(Ta- gesordnungspunkt 15) Rita Streb-Hesse SPD ...... 7643 B Christine Lambrecht SPD ...... 7652 A Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU ...... 7644 D Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 7652 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 VII

Jerzy Montag BÜNDNIS 90/ Petra Weis SPD ...... 7655 B DIE GRÜNEN ...... 7654 A CDU/CSU ...... 7657 A Rainer Funke FDP ...... 7655 A Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7658 D Anlage 4 Joachim Günther (Plauen) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung FDP ...... 7659 C des Antrags: Vorlage eines städtebaulichen Berichts (Tagesordnungspunkt 20) Werner Kuhn (Zingst) CDU/CSU ...... 7659 D

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(A) (C) Redetext

86. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : (BKA) zur Zentralisierung aller operativen Einheiten des Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die BKA in Berlin (siehe 85. Sitzung) Sitzung ist eröffnet. 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Krogmann, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Zunächst möchte ich den KollegenKurt-Dieter Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:Mehr Wett- Grill, Siegfried Helias und Dr. im bewerb, Wachstum und Innovation in der Telekommuni- Namen des Hauses nachträglich die besten Glückwün- kation schaffen sche zu ihrem 60. Geburtstag sowie dem Kollegen – Drucksache 15/2329 – Norbert Geis zu seinem 65. Geburtstag übermitteln. Überweisungsvorschlag: Herzlichen Glückwunsch! Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss (Beifall) Rechtsausschuss Finanzausschuss Sodann teile ich mit, dass mit In-Kraft-Treten des Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (B) Vierten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsge- Landwirtschaft (D) setzes der Verwaltungsrat und die Vergabekommission Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien der Filmförderungsanstalt neu besetzt werden müssen. Haushaltsausschuss Nach diesem Gesetz sollen wie bisher drei ordentliche 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- und drei stellvertretende Mitglieder für den Verwal- gänzung zu TOP 22) tungsrat sowie ein Mitglied und ein Stellvertreter für die Vergabekommission vom Bundestag benannt werden. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vor- Für den Verwaltungsrat werden von der Fraktion der schriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes SPD die Kollegin Gisela Hilbrecht als ordentliches und die Kollegin Monika Griefahn als stellvertretendes – Drucksache 15/2253 – Mitglied, von der Fraktion der CDU/CSU der Kollege Überweisungsvorschlag: Bernd Neumann (Bremen) als ordentliches und der Rechtsausschuss (f) Kollege Wolfgang Börnsen (Bönstrup) als stellvertre- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tendes Mitglied, von der Fraktion des Bündnisses 90/Die b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Grünen Frau Karin Knöbelspies als ordentliches und ten Entwurfs einesGesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Herr Oliver Passek als stellvertretendes Mitglied vorge- land und der Republik Polen über die Ergänzung des schlagen. Für die Vergabekommission schlägt die Frak- Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 tion der SPD die Kollegin Gisela Hilbrecht als ordentli- über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichte- ches Mitglied und dieFraktion der CDU/CSU den rung seiner Anwendung Kollegen Wolfgang Börnsen (Bönstrup) als stellvertre- – Drucksache 15/2254 – tendes Mitglied vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen Überweisungsvorschlag: einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Damit Rechtsausschuss (f) sind die genannten Personen als Mitglieder bzw. Stell- Innenausschuss vertreter für die genannten Gremien benannt. c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs einesGesetzes zu dem Vertrag vom Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge- land und der Republik Polen über die Ergänzung des führten Punkte zu erweitern: Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner An- 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: wendung Haltung der Bundesregierung zu dem von Bundesminister Schily verkündeten Umzug des Bundeskriminalamtes – Drucksache 15/2255 – 7506 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: (C) Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gänzung zu TOP 23) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Landwirtschaft Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache vor Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen dem Bundesverfassungsgericht 2 BvK 1/03 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 15/2348 – Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit Berichterstattung: erforderlich, abgewichen werden. Abgeordnete Andreas Schmidt (Mülheim) Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesordnungs- b) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschus- ses (6. Ausschuss): Übersicht 5 über die dem Deut- punkt 19 – SED-Unrechtsbereinigungsgesetz – und den schen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Tagesordnungspunkt 21 – Deutsch-Polnische Wirt- Bundesverfassungsgericht schaftsförderungsgesellschaft – abzusetzen sowie den – Drucksache 15/2347 – für Freitag vorgesehenen Tagesordnungspunkt 20 – Vor- 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:Hal- lage eines städtebaulichen Berichts – heute nach Tages- tung der Bundesregierung zu den bereits jetzt erkennba- ordnungspunkt 16 zu beraten. ren Auswirkungen der Gesundheitsreform Des Weiteren mache ich auf eine nachträgliche Über- 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeord- weisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: neter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), Antje Hermenau, weiterer Abge- hier: ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Nachträgliche Ausschussüberweisung NEN: Die Entwicklungszusammenarbeit der EU kon- struktiv weiterentwickeln – Effizienz und Nachhaltigkeit Der in der 82. Sitzung des Deutschen Bundestages verbessern überwiesene nachfolgende Antrag sollzusätzlich dem – Drucksache 15/2338 – Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Dr. , Sabine Leutheusser- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gegen eine Aufhebung des (B) 7 Beratung des Antrags der bgeordneten A Joachim Günther (D) (Plauen), Eberhard Otto (Godern), (Bayreuth), EU-Waffenembargos gegenüber der Volksre- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:Weitge- publik China hende Planungserleichterungen bei Anpassung des Bauge- setzbuchs an EU-Richtlinien – Drucksache 15/2169 – – Drucksache 15/2346 – überwiesen: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Verteidigungsausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Sind Sie mit diesen Veränderungen einverstanden? – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. 8 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der einen Geschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die erneuerbaren Energien im Strombereich Fraktion der CDU/CSU hat fristgerecht beantragt, die – Drucksache 15/2327 – heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags „Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bun- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- desminister der Verteidigung zur Konzeption und heit (f) Weiterentwicklung der Bundeswehr“ zu erweitern. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Das Wort zur Geschäftsordnung hat Kollege Christian wirtschaft Schmidt, CDU/CSU-Fraktion. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- (Beifall bei der CDU/CSU) schätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- und Kollegen! Mit Schreiben vom 12. Januar 2004 hat wurfs eines Gesetzes über den Handel mit Berechtigun- unsere Fraktionsvorsitzende den Bundeskanzler ersucht, gen zur Emission von Treibhausgasen (Treibhausgas- Emissionshandelsgesetz – TEHG) ( [CDU/CSU]: Wo ist der ei- – Drucksache 15/2328 – gentlich?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7507

Christian Schmidt (Fürth) (A) in diesem Hohen Hause eine Regierungserklärung zur dass er die Verteidigung überall in die Welt hinausproji- (C) Konzeption und Weiterentwicklung der Bundeswehr ab- ziert, muss sich im Parlament dazu äußern, bevor er sich zugeben. Der entsprechende Antrag der CDU/CSU-der Presse zuwendet. Fraktion vom 14. Januar liegt Ihnen vor. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Seit Freitag, dem 9. Januar, war bekannt, dass Bun- neten der FDP) desminister Struck für Dienstag dieser Woche zu einer Die Begründung, Bundesminister Struck sei deshalb Pressekonferenz eingeladen hatte. Am letzten Wochen- vor die Presse getreten, um den öffentlichen Spekulatio- ende liefen bereits in verschiedenen Medien Vorabmel- nen in den Medien entgegenzutreten, ist nicht nur durch dungen über tief greifende Einschnitte und umfassende die Zeitabläufe widerlegt, sondern kann nur als mühsa- konzeptionelle Änderungen der Struktur und des Um- mer Versuch des Kanzleramtes – vielleicht wurde auch fangs der Bundeswehr im Personellen und Sachlichen. das Kanzleramt nicht über die Abläufe informiert – ver- Zwangsläufig wurden politisch Verantwortliche aller standen werden, Land zu gewinnen. Parteien um Stellungnahmen zu Sachverhalten gebeten, die sie nur in Fragmenten aus der Presse erfahren und Auch das Argument, dass der Bundesminister der mühsam zu einem unvollständigen Gesamtbild zusam- Verteidigung erst nach Abschluss aller Reformplanun- menfügen konnten. gen das Parlament durch eine Regierungserklärung in- formieren will, kann nicht überzeugen. Es gehört nicht nur zu den parlamentarischen Gepflo- genheiten in unserer Republik, sondern es ist auch ein Die laufenden Debatten in den Ausschüssen reichen Zeichen der Achtung vor diesem Hohen Hause, dass das ebenfalls nicht aus; denn in dieser Frage sind alle Kolle- Parlament als Souverän unseres Volkes vor der Presse in ginnen und Kollegen, ist das Plenum gefordert. Allein die Kenntnis gesetzt wird. vielen Anfragen, die diejenigen, die im Verteidigungsbe- reich tätig sind, in den letzten Tagen von verunsicherten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kommunalpolitikern, von Vertretern von Sozialverbän- Dies gilt insbesondere bei Entscheidungen von einerden, aber auch von den Kollege n, die zu Hause danach ge- Tragweite, wie sie für diese Reform der Bundeswehrfragt werden, wie es weitergehen wird, sind ein deutliches ohne Zweifel zutrifft. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Zeichen dafür, dass hier anders gehandelt werden muss, Presse unmittelbar informiert wird und das Parlament ir- als das bisher der Fall war. Die Verabreichung schmerz- gendwann zu einem späteren Zeitpunkt. Es ist auch nicht hafter Mittel, und dies auch noch mit falscher Indikation, hinnehmbar, dass die betroffenen Soldaten und ihre Fa- wird nicht dadurch erträglicher, dass sie dauernd in klei- milien von für sie tief greifenden Entscheidungen wie- nen Dosen erfolgt. derholt von den Medien Da der uns vorliegende Zeitplan für die Reformen der (B) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Miss- Bundeswehr die Vorlage eines Stationierungskonzeptes (D) achtung des Parlaments!) erst für November 2004 vorsieht – dann sind die Wahlen dieses Jahres vorbei –, würde das Parlament bis dahin in oder der Homepage des Verteidigungsministeriums er- völliger Unkenntnis gehalten, wenn nicht jetzt oder bald fahren oder sie sich zusammenreimen müssen. eine Debatte stattfindet. Die öffentliche Debatte hat ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stadium erreicht, das im Interesse der Sicherheit unseres Landes eine detaillierte Unterrichtung des Parlaments er- Im Ergebnis hat diese Pressekonferenz zu einer von forderlich macht. keinem gewünschten abermaligen Verunsicherung der Soldaten, zivilen Mitarbeiter und deren Angehörigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geführt. Diese Verunsicherung wurde durch die Äuße- Die CDU/CSU-Fraktion fordert daher den Bundesmi- rungen der Bundesfamilienministerin noch gesteigert, nister der Verteidigung auf, den Deutschen Bundestag die im Gegensatz zum Bundesverteidigungsminister die umgehend in einer Regierungserklärung über Stand und Frage der Wehrpflicht offen zur Disposition gestellt hat. Planungen der Reformen der Bundeswehr und die Ab- Ich höre, dass die Diskussion darüber, wer Koch und wer sicht der Bundesregierung, die Wehrstruktur einschnei- Kellner sein solle, im Kabinett andauert. Wir kennendend zu verändern, zu informieren und sich der parla- aber die Speisekarte nicht. Deswegen hätten wir gernmentarischen Debatte zu stellen. eine verbindliche Erklärung der Bundesregierung dazu, wie sie sich in diesen zentralen Fragen, die im Grundge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) setz verankert sind – bei einer Revision bliebe die Ent- scheidung dem Parlament vorbehalten –, verhält. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Arnold, SPD- Fraktion. Die Ankündigungen des Bundesverteidigungsminis- ters zur Reform der Bundeswehr gehen nach Auffassung Rainer Arnold (SPD): unserer Fraktion weit über die Organisationshoheit der Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hinaus. Wer es mit dem Begriff des Opposition schießt heute Morgen in dieser Frage schon Parlamentsheeres ernst meint, sollte das Parlament in ein bisschen zu scharf. Das Pulver ist allerdings nass. Fragen der Wehrverfassung und -strukturanpassung einbinden. Wer Art. 87 a unseres Grundgesetzes, in dem ( [CDU/CSU]: Das ist ein es heißt, dass zur Verteidigung Streitkräfte aufgestellt Verteidigungsexperte, der meint, mit nassem werden, dadurch sehr stark verändert und infrage stellt, Pulver schießen zu können!) 7508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Rainer Arnold (A) Deshalb vernebelt offenbar Pulverdampf den Blick auf Die gibt es aber im Augenblick noch gar nicht. (C) Ich die Wirklichkeit – sowohl auf die Wirklichkeit des Pro- denke, zwischen März und Mai wäre ein guter Zeit- zederes als auch vor allen Dingen auf die Wirklichkeit punkt, eine solche Debatte zu führen. des Inhalts dieser Reform. Es wird gut sein, wenn sich (Dr. [CDU/CSU]: Im Mai! – dieser Pulverdampf legt und wir dann eine sorgsame Volker Kauder [CDU/CSU]: Schnarchnasen Diskussion über die Zukunft der Streitkräfte miteinander seid ihr!) führen. Herr Schmidt, wir beide haben gestern in der Obleu- Herr Kollege Schmidt, die Behauptung, dass der Mi- terunde des Verteidigungsausschusses darüber gespro- nister dieser Tage der Öffentlichkeit etwas völlig Neues chen. Wir waren uns alle einig, dass diese Debatte bis präsentiert habe, ist falsch. spätestens Mai geführt werden soll. Sie wird geführt (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ werden. Wir als Sozialdemokraten haben überhaupt kei- CSU und der FDP) nen Grund, dieser Diskussion auszuweichen. Die Re- form, die Minister Struck vorgelegt hat, ist nämlich ein Vielmehr hat er zusammengefasst, was er bereits seitMusterbeispiel für Innovation in dieser Gesellschaft. Sie Monaten und in Teilbereichen auch in den Haushaltsbe- geht in die richtige Richtung. ratungen der beiden letzten Jahre angedeutet hat, (Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Vor CSU und der FDP) der Presse hat er das aber anders gesagt!) – Ja, natürlich. und es der Öffentlichkeit vorgestellt. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD) solche Lachnummer!) Gerade Sie, Herr Schmidt, als Fachpolitiker waren bei – Herr Kauder, wenn Sie in den letzten Tagen einmal ge- dieser Debatte in den letzten Wochen immer wieder da- nau zugehört hätten, was die Fachjournalisten und im bei. Übrigen auch Ihre Fachleute, was die Soldaten in den Streitkräften, was der Bundeswehr-Verband und die In- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Reden Sie doch dustrie zu den Grundzügen dieser Reform gesagt haben, nicht so daher! Sie sind doch klüger! So dumm dann hätten Sie erkennen müssen, dass diese Reform kann man doch gar nicht reden! – Günther richtig ist. Friedrich Nolting [FDP]: Das hat der Minister nicht verdient, was Sie da sagen!) ( [CDU/CSU]: Sie haben nicht verstanden, worum es geht!) (B) Nachdem jeder wusste, dass der Minister um die Jahres- (D) wende vor die Presse geht, hätte ich erwartet, dass Sie, Sie ist nicht nur notwendig,sondern eine wichtige Zu- kunftsetappe für die Bundeswehr, weil sie die Streit- wenn Ihnen das so wichtig ist, ganz regulär im Ältesten- kräfte daran ausrichtet, was Soldatinnen und Soldaten in rat dafür sorgen, dass der Bundestag diesen Tagesord- einem völlig veränderten sicherheitspolitischen Umfeld nungspunkt aufsetzt. Dann bräuchten wir hier keine In- in Zukunft leisten müssen. szenierung. Das wäre ein ganz normaler Vorgang gewe- sen. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wir sollten das jetzt hier debattieren!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn man solche Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Er ist eine Insze- Freunde hat, braucht man keine Feinde, Herr nierung und eine Schau. Wir werden diese Debatte in Struck!) Ruhe und mit der gebotenen Sorgfalt führen. Eine Regierungserklärung erzwingen zu wollen ist (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was sind Sie für schon ein bisschen merkwürdig. Sie können zwar einen ein Parlamentarier? Ihr seid Regierungs- solchen Antrag formulieren. Aber die Regierung ent- knechte, aber keine Parlamentarier!) scheidet selbst, ob und wann sie Regierungserklärungen – Herr Kauder, Sie brauchen da nicht so hereinzu- abgibt. schreien! Gerade weil ich Parlamentarier bin und die Sol- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich würde Sie daten sehr ernst nehme, möchte ich eine Diskussion, die gern einmal sehen, wenn Sie in der Opposition den Herausforderungen gerecht wird, nämlich dann, wären! Das ist ja nicht zu glauben!) wenn die nächsten Etappen einer feineren Planung und der Materialausplanung vonseiten des Bundesministers Das liegt in der Natur einer Regierungserklärung. Das ist vorliegen. Dann wissen wir, worüber wir im Detail reden. eine Frage des Prozederes. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wir wollen Außerdem: Die Reform geht bis ins Jahr 2010. Was vorher unsere Vorstellungen einbringen!) der Minister jetzt vorgestellt hat, ist eine weitere Etappe, Bei einem Reformprozess, der Jahre dauert, können nicht das Ende der Reformdebatte. Im März werdenwir nicht alle sechs Wochen jeden Schritt parlamenta- – Herr Schmidt weiß das – wichtige weitere Planungen risch diskutieren. vorgelegt. Dann geht es um Geräte und Material und die Umsetzung der groben Struktur in eine feinere. Sie ha- (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Sind wir nur Erfül- ben selbst von detaillierten Informationen gesprochen. lungsgehilfen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7509

Rainer Arnold (A) Dafür sind wir Fachpolitiker im Verteidigungsausschuss, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C) auch der Kollege Schmidt, da. Das ist dort unsere Auf- gabe. Ich sage Ihnen: So geht das nicht. Wir als FDP sind mit diesem Verfahren nicht einverstanden. Es reicht Lassen Sie mich noch einen Satz zur Wehrpflicht sa- nicht aus, dass der Bundesminister zu diesem Thema gen. Die Behauptung, dass die vorgelegten Reform-Pressekonferenzen gibt, wir als Parlament hierüber aber schritte des Ministers nichts Konkretes zur Wehrpflicht nicht sprechen können. Wir wollen unsere Vorstellungen sagten, ist falsch. Er sagt sehr deutlich, dass er von der als Parlamentarier und auch als Opposition rechtzeitig Wehrpflicht ausgeht. einbringen, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Warum sagt er es ( [CDU/CSU]: Richtig!) nicht hier? Warum kann er es nicht sagen?) damit die Regierung vielleicht noch etwas davon über- Das sicherheitspolitische Umfeld kann sich bis zum nimmt. Wir haben gute Vorschläge zur Reform der Bun- Jahr 2010 ändern. Niemand von uns weiß doch, wie die deswehr gemacht. Ich denke, wir haben als Parlamenta- Welt in sechs, sieben Jahren aussehen wird. Niemandrier auch die Pflicht, uns hierzu zu äußern. Ich frage Sie: weiß doch, was um Europa herum, in Nordafrika oder im Warum will Rot-Grün das verhindern? Warum will Rot- Kaukasus, passieren wird. Deshalb sagt der Minister,Grün eine zeitnahe Diskussion verhindern? Haben Sie dass die Politik die Option haben soll, zum geeigneten etwas zu verheimlichen? Zeitpunkt frei zu entscheiden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, das kann er Dr. Uwe Küster [SPD]: Ach, Herr Nolting! Po- doch alles vortragen!) panz!) Also ist auch dies ein völlig transparenter Prozess. Allen ist bekannt, dass die Bundeswehr chronisch un- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns auf terfinanziert ist. Abhilfe wird aber von Rot-Grün nicht die Debatte, die wir von März bis Mai dieses Jahres füh- geschaffen. Die Diskrepanz zwischen Auftrag, Ausrüs- ren werden, tung und Bereitstellung der Finanzmittel besteht weiter- hin und wird auch durch die anstehenden Veränderungen (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) nicht geringer. Aber darüber will Rot-Grün hier und und wir sind selbstbewusst und stolz auf das, was derheute nicht sprechen. Rot-Grün will von diesen grund- Minister vorgelegt hat. sätzlichen Problemen offensichtlich ablenken. In diesem Parlament soll hier und heute keine Diskussion stattfin- Herzlichen Dank. den. (B) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Uwe Küster [SPD]: Stellen Sie doch einen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Antrag! Schreiben Sie was auf! Dann können wir darüber diskutieren!) Präsident Wolfgang Thierse: Ihr Leitsatz lautet: Schieben, strecken und streichen! Er Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, FDP-Frak- wird auf dem Rücken der Angehörigen der Bundeswehr tion, das Wort. umgesetzt. Ich sage Ihnen: Für uns als FDP steht der Mensch, stehen die Soldatinnen und Soldaten im Mittel- Günther Friedrich Nolting (FDP): punkt. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- lege Arnold, über das, was Sie hier inhaltlich vorgetra- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen haben, hätte hier heute diskutiert werden können. der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh, Der Minister hätte auch zu den Fragen, die Sie aufge- oh!) worfen haben, Stellung nehmen können. Ich möchte Ihnen beispielhaft aufzeigen, worüber Sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) heute ebenfalls nicht diskutieren wollen. Die Soldaten in den Einsatzgebieten brauchen die bestmögliche Versor- Ich sage Ihnen eines: Die Bundeswehr ist eine Parla- gung und Unterstützung und den bestmöglichen Schutz. mentsarmee und sie muss eine Parlamentsarmee blei- Aber ist dieser Schutz in ausreichendem Maße gegeben? ben. Dafür treten wir ein. Ich hoffe, auch Sie werden das unterstützen. Weil es um die Konzeption und die Weiter- (Rainer Arnold [SPD]: Die Reform sorgt für entwicklung der Bundeswehr geht, muss das gesamte mehr Schutz! Sie wissen das!) Parlament hier und heute die Gelegenheit haben, über Herr Kollege Arnold, auch das sind Fragen, die hier und die Probleme und die Zukunft der Bundeswehr zu disku- heute beantwortet werden sollten. tieren. Es reicht nicht aus, wenn der Bundesminister der Verteidigung am Dienstag weit reichende Veränderun- Herr Minister, ist es richtig, dass die Fahrzeuge der gen ankündigt – die wahrscheinlich größten, die es je- Bundeswehr, die im Ausland eingesetzt werden, nur zu mals gegeben hat –, das Parlament hierüber aber nicht einem geringen Teil gepanzert sind? Wie sieht es mit zeitnah sprechen darf und soll. Herr Kollege Arnolddem Minenschutz aus? Wie wollen Sie Abhilfe schaf- – das frage ich auch die Grünen –, welch ein Parlaments- fen? Warum wird die Beschaffung von gepanzerten verständnis haben Sie eigentlich? Es geht doch um die Fahrzeugen verschoben oder deren Anzahl sogar ver- Parlamentsarmee. ringert? Auch hierüber, Herr Kollege Arnold und Herr 7510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Günther Friedrich Nolting (A) Kollege Nachtwei von den Grünen, hätten wir gerne ge- tigen Anliegen, eine breit angelegte und gründliche De- (C) sprochen. Wir hätten gerne hier und heute vom Minister batte zur Zukunft der Bundeswehr zu führen. Dieses ist Antworten bekommen. Ich frage Sie noch einmal: Wa- aber notwendig. rum will Rot-Grün das verhindern? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und bei der SPD) der CDU/CSU) Herr Nolting, mir Ihrer Rede haben Sie uns gerade Nun komme ich auf den Eurofighter zu sprechen. Ist wieder die schlechte Tradition von verkürzten Bundes- es richtig, dass 180 beschafft werden sollen, oder ist es, wehrdebatten vor Augen geführt. Debatten über Fragen wie man hinter vorgehaltener Hand hört, richtig, dassder Ausstattung und des Haushalts sind angesichts der nur 120 beschafft werden sollen? Auch über dieses Pro- Verantwortung für die Soldaten sehr wichtig; aber in Ih- jekt hätten wir hier und heute gerne gesprochen. ren Beiträgen in Bundeswehrdebatten beschränken Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sich nur darauf. Deswegen lehnen wir zum jetzigen Zeit- der CDU/CSU) punkt den Antrag auf Abgabe einer Regierungserklärung und eine anschließende Debatte ab. Herr Minister Struck, Sie sind ein langjähriger Parla- mentarier. Aber mittlerweile habe ich den Eindruck, Sie Sie scheinen offensichtlich den Überblick über den verhalten sich nur noch vordergründig kollegial. Ist das Stand der Reformplanung verloren zu haben. Zur Erin- nur eine Fassade, um uns einzuwickeln? Ich frage Sie: nerung: Vor dem Hintergrund der Ereignisse des Warum wollen Sie, warum will Ihre Regierungskoalition 11. September und angesichts des finanziell Machbaren eine Diskussion am heutigen Tag verhindern? Ich sage beschloss die Koalition eine Weiterentwicklung der Ihnen klipp und klar: Ab heute ist Schluss mit lustig. Das Bundeswehrreform, ehrlicherweise müssen wir sagen: ist keine Drohung, sondern ein Versprechen. eine deutliche Reform der vorherigen Reform. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai letzten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jahres wurde der neue Auftrag der Bundeswehr so defi- Ute Kumpf [SPD]: Versprecher! – Dr. Uwe niert, dass ihre Aufgabe weg von der Landesverteidi- Küster [SPD]: Sie sollten erst einmal verbal gung hin zu Auslandseinsätzen im Dienste kollektiver abrüsten!) Sicherheit und im Rahmen des Völkerrechts geht. Meine Damen und Herren, die FDP will eine Reform Am 1. Oktober erteilte Minister Struck – das wissen der Bundeswehr, die den Namen auch verdient, damit sie manche von Ihnen vielleicht nicht – demGeneralin- ihre Aufträge, die politisch gewollt sind, erfüllen kann. spekteur vor dem Hintergrund der Verteidigungspoliti- Die Finanzmittel der Bundeswehr müssen sich an ihren (B) schen Richtlinien und der internationalen Verpflichtung (D) Aufträgen orientieren und nicht umgekehrt. Die FDPder Bundesrepublik die Weisung, eine Neukonzeption will die Bundeswehrreformen mit konstruktiver Kritik der Bundeswehr zu entwickeln und daraus künftige begleiten. Sie müssen uns aber auch die Gelegenheit zur Struktur, Standortkonzepte usw. abzuleiten. Diese Kon- Diskussion geben. zeption des Generalinspekteurs befindet sich noch in Ar- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beit. Wesentliche Positionierungen wurden in den letzten der CDU/CSU) Monaten vom Minister und vom Generalinspekteur in vielen Reden und Artikeln der Öffentlichkeit bekannt Stimmen Sie deshalb dem Antrag der Union zu, damit gemacht. Dazu zählt zum Beispiel der grundlegende As- wir als Parlament hier und heute über die Parlamentsar- pekt der Differenzierung der Streitkräfte nach Eingreif-, mee Bundeswehr diskutieren können! Stabilisierungs- und Unterstützungskräften; das haben Vielen Dank. wir hier in der dritten Lesung des Haushalts thematisie- ren können. Hieran zeigt sich der Realitätssinn dieses (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ministers.

Präsident Wolfgang Thierse: Seit letzter Woche allerdings – das sollte man beden- Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei,ken – haben sich in der Presse Falschmeldungen gehäuft. Bündnis 90/Die Grünen. Aus diesem Grunde gab es Reaktions- und Klarstel- lungsbedarf vonseiten des Ministers, der eine Pressekon- ferenz gegeben hat. Die Obleute des Ausschusses sind Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kurz vorher schriftlich über diese Stellungnahme gegen- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die über der Presse informiert worden. Die Abgabe einer Union fordert kurzfristig eine Regierungserklärung des Regierungserklärung zum heutigen Zeitpunkt, vor die- Verteidigungsministers zur Konzeption und Weiterent- sem Hintergrund und vor allem angesichts des Standes wicklung der Bundeswehr. Ihr Antrag ist ein Schnell-des Planungsprozesses ist weder angemessen noch hilf- schuss und dient nicht reich. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Zugleich sind wir aber selbstverständlich der Auffas- der FDP – Ulrich Heinrich [FDP]: Sie haben ja sung, dass eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der keine Ahnung!) Bundeswehr geführt werden muss, zweckmäßigerweise – hören Sie sich bitte auch den zweiten Teil des Satzes nach Vorlage der Konzeption. Dann gibt es nämlich eine an und machen Sie erst dann den Mund auf! – dem rich- echte Diskussionsgrundlage. In diesem Rahmen ist dann Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7511

Winfried Nachtwei (A) klarzustellen – Herr Nolting und Herr Schäuble, auch für Präsident Wolfgang Thierse: (C) Sie könnte diese Frage sehr interessant sein –, Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Erweiterung der (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Deswegen Tagesordnung? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthal- wollen wir ja die Debatte!) tungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und dass die Bundeswehr nur für die Erreichung von Zielen Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/ und nach Regeln der Vereinten Nationen und des Völ- CSU und FDP abgelehnt. kerrechts zum Einsatz kommt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da kann man nur Zusatzpunkt 2 auf: sagen: Gute Nacht, Herr Kollege!) 4 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ich will angesichts völlig falscher Vergleiche, die heut- gebrachten Entwurfs einesTelekommunika- zutage manchmal angestellt werden, daran erinnern: Das tionsgesetzes (TKG) ist etwas völlig anderes als das, wofür deutsche Truppen – Drucksachen 15/2316, 15/2345 – zum Beispiel vor 100 Jahren in Namibia gegen Hereros Überweisungsvorschlag: eingesetzt wurden. Dies war ein diametral entgegenge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) setzter Einsatzzweck. Innenausschuss Rechtsausschuss Klarzustellen und zu klären ist weiterhin, dass die Un- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und terscheidung zwischen Eingreif- und Stabilisierungs- Landwirtschaft kräften nichts daran ändert, dass Stabilisierung die wahr- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union scheinlichste und somit Hauptaufgabe der Bundeswehr Ausschuss für Kultur und Medien sein wird. Klarzustellen ist abschließend, dass weltweite ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Einsätze der Bundeswehr zwar möglich, deshalb aber Dr. Martina Krogmann, Dagmar Wöhrl, Karl- keineswegs immer wünschenswert oder gar machbar Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der sind. Wenn man einerseits von einer gewissen Entgren- Fraktion der CDU/CSU zung der Möglichkeiten derBundeswehr spricht, dann muss man sich andererseits vermehrt vor allem auch Ge- Mehr Wettbewerb, Wachstum und Innova- danken über die Grenzen solche Einsätze machen. tion in der Telekommunikation schaffen – Drucksache 15/2329 – (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das zeigt doch der Bedarf an Debatte!) Überweisungsvorschlag: (B) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (D) Diese Fragen stehen an. Diese Debatte muss breit, Innenausschuss Rechtsausschuss (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Eben, das kön- Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und nen wir ja!) Landwirtschaft also nicht nur unter den Fachpolitikern, sondern auch in Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien und mit der Gesellschaft, also insgesamt, geführt wer- Haushaltsausschuss den. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wann denn?) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Ich finde es bemerkenswert: Gestern sind wir Obleute des Verteidigungsausschusses übereingekommen, dass Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolle- diese Debatte in den nächsten Monaten hier im Parla- ginnen und Kollegen, die nicht an der Aussprache teil- ment und zusammen mit der Gesellschaft in der Öffent- nehmen wollen, den Plenarsaal möglichst geräuschlos zu lichkeit geführt werden soll. verlassen, damit wir in aller Ruhe und mit aller Konzen- tration mit der Debatte beginnen können. Kolleginnen und Kollegen vor allem von der Union, ich denke, Sie sollten sich endlich auf diese Debatte vor- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- bereiten. Vor allem sollte Ihr in diesem Zusammenhang minister Wolfgang Clement das Wort. bestehender Hühnerhaufen endlich gemeinsame Positio- (Beifall bei der SPD) nen entwickeln und vorstellen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft SES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeord- und Arbeit: neten der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Verschonen Sie uns heute bitte mit der Profilneurose ei- Herren! Ich denke, wir können sagen, dass wir mit der nes Teils Ihrer Fraktion! Liberalisierung der Telekommunikation in den zurück- liegenden eineinhalb Jahrzehnten gut vorangekommen Danke schön. sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir erinnern uns alle: Am Anfang standen die großen und bei der SPD) Themen wie die Privatisierung staatlicher Unternehmen 7512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Bundesminister Wolfgang Clement (A) und die Beseitigung von Monopolrechten. Heute geht es frastruktur investieren und technologische Innovationen (C) im Wesentlichen darum, die sektorspezifische Regulie- erfolgen. Dennoch müssen wir auch dort, wo ökonomi- rung auszugestalten; denn diese Regulierung ist notwen- sche Bedingungen einen infrastrukturellen Wettbewerb dig und ökonomisch sinnvoll, weil es darum geht, die behindern, gute Voraussetzungen für einen Dienstewett- ehemaligen Monopolmärkte endgültig zu Wettbewerbs- bewerb schaffen. Auch dies versuchen wir mit unserem märkten zu machen. Entwurf. Während wir also die Regulierungen bei den Vorleistungen aufgrund ihrer Bedeutung für die Wettbe- Ich denke, dass sich die Telekommunikationsregulie- werbsentwicklung weitgehend in ihrer heutigen Form rung insgesamt als erfolgreich erwiesen hat. Die Zahl fortschreiben, lockern wir die Regulierung im Endkun- der Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen denbereich. So sind künftig Endkundenentgelte nur noch in Deutschland ist gewaltig gestiegen. Die Verbraucher in begründeten Ausnahmefällen genehmigungspflichtig. haben dadurch in erheblichem Umfang von Preissenkun- gen im Bereich der Festnetze, des Mobilfunks und des Mit Blick auf die von Wettbewerbern in den letzten Internets profitiert. Inzwischen gibt es mehr Mobilfunk- Jahren immer wieder vorgebrachten Beschwerden haben als Festnetzanschlüsse. Das Angebot hat sich enorm ver- wir die Missbrauchsaufsicht im Telekommunikations- breitert. Das ehemalige Monopolunternehmen hat seine gesetz präzisiert. Auch das verdient eine intensivere Be- Produktivität in der äußerst schwierigen Phase nach der trachtung, die mir jetzt aufgrund der Zeitabläufe nicht Zeit der New Economy verbessert, ist effizienter gewor- möglich ist. den und gehört unverändert zu den weltweit führenden Telekommunikationsunternehmen. Es gilt, diese Ent- Durch die Aufnahme der Mediationals alternatives wicklungen zu stabilisieren und zu sichern. Instrument zur Streitbeilegung können überflüssige Re- gulierungsverfahren vermieden werden. Und das Wich- Wir wollen mit der Novelle unterstützen, tigste: dass Wir haben den Rechtsweg um eine Instanz ver- Deutschland einer der führenden und besten Telekom- kürzt. Wie im Kartellrecht soll es künftig bei zwei munikationsstandorte bleibt und dass deutsche Unter- Instanzen bleiben. Damit werden wir in vielen Fällen nehmen im weltweitenWettbewerb erfolgreich sein schneller zu einer abschließenden Klärung und Entschei- können. dung kommen. Das ist eine wichtige Grundlage für den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich dynamisch entwickelnden Telekommunikations- DIE GRÜNEN) markt. Das erreichen wir am besten durch eine Stärkung des Aufgrund der Vorgaben der Europäischen Union ent- Wettbewerbs. Dafür brauchen wir allerdings, anders als fällt auch das Lizensierungsregime. Das ist wiederum in anderen Sektoren, noch auf absehbare Zeit gewisse ein Beitrag zum Bürokratieabbau in unserem Land. Wir (B) (D) staatliche Eingriffe. Daran orientiert sich der Ihnen vor- kämpfen uns, wie Sie wissen, Schritt für Schritt – um liegende Gesetzentwurf. nicht zu sagen: Millimeter für Millimeter – nach vorn. Die Regulierungen zum Universaldienst und zur Fre- Dieser Entwurf ist in weiten Teilen durch die neuen quenzpolitik bleiben weitgehend unverändert. Neu ist al- Richtlinien der Europäischen Union gekennzeichnet.lerdings, dass künftig unter bestimmten Bedingungen Wir wollen die Regulierungauf die Märkte beschrän- Frequenzen gehandelt werden können. ken, die strukturelle Zutrittsbarrieren aufweisen, auf de- nen keine Tendenz zu wirksamem Wettbewerb zu erken- Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Ge- nen ist und für die zu erwarten ist, dass das allgemeine setzentwurf auf der Basis der neuen Vorgaben der Euro- Kartellrecht zur Lösung von Wettbewerbsproblemenpäischen Union berücksichtigt, so meine ich, in ausge- nicht oder noch nicht ausreicht. Aufgrund der Vorgaben wogener Weise die Interessen der Beteiligten am Markt. der Europäischen Union wird der Anwendungsbereich Wo möglich und sinnvoll, haben wir überflüssige Regu- der Regulierung nicht vom Gesetzgeber definiert, son- lierungen abgebaut. Dem gegenüber haben wir in den dern von der Regulierungsbehörde. Diese Regulierungs- Bereichen, in denen wir auf Regulierung noch nicht ver- behörde ist in ihren Entscheidungen zur Marktdefinition zichten können, weil der Wettbewerb noch nicht ausrei- und Marktanalyse weitestgehend an die Empfehlungen chend in Gang gekommen ist, die Effektivität der Regu- der Europäischen Kommission gebunden. lierung zu verbessern versucht. Wir schaffen mit unserer Novelle für die Unternehmen Das Wirtschafts- und Arbeitsministerium hat dabei im Markt verlässliche und stabile Rahmenbedingungen. von Anfang an eine sehr intensive Diskussion mit Ihnen, Deshalb haben wir die in den Richtlinien angelegten gro- vor allen Dingen mit den Fachleuten in den Fraktionen, ßen Ermessensspielräume der Regulierungsbehörde ingeführt, aber auch mit der gesamten Telekommunikati- Absprache mit den Marktbeteiligten strukturiert undonsbranche. Dies war ein außerordentlich intensiver Dis- konkretisiert. Das gilt insbesondere in dem für Wettbe- kussionsprozess. Ich möchte sehr gern die Gelegenheit werber wichtigen Bereich der Vorleistungen. nutzen, mich für die sachliche und sehr konstruktive Diskussion nicht zuletzt auch bei den beteiligten Unter- Unser Gesetzentwurf zielt auch auf eine vernünftige Ba- nehmen und Verbänden zu bedanken. lance zwischen Infrastruktur- und Dienstewettbewerb. Dafür ist es erforderlich, dass Anreize zu effizienten In- Ich denke, dass auch die Stellungnahme des Bundesrates, vestitionen in Infrastrukturen nicht verloren gehen. Ich mit dem wir in einer Reihe von Punkten übereinstimmen, bin überzeugt, dass sich ein funktionsfähiger Wettbe-zeigt, dass die Zeit der beinahe ideologisch geprägten werb am besten da entwickelt, wo Wettbewerber in In- Auseinandersetzung vorüber ist und dass wir uns – poli- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7513

Bundesminister Wolfgang Clement (A) tisch gesprochen – in einem Wettbewerb um die beste Die von der unionsgeführten Bundesregierung einge- (C) Gestaltung dieser Märkte befinden. Diese Märkte sind leitete Liberalisierung hat große Erfolge hervorge- für uns in Deutschland von außerordentlicher Bedeu-bracht. tung. Wir haben eine gute Ausgangsposition und müssen sicherstellen, dass sie erhalten bleibt bzw. noch weiter (Hubertus Heil [SPD]: Wir haben sie gestärkt wird. Das ist unsere Aufgabe und soll mit die- mitbeschlossen!) sem Gesetzentwurf erreicht werden. In den ersten Jahren sind 200 000 neue Arbeitsplätze Angesichts des sehr sachlichen Ringens um den bes- entstanden. Unter der rot-grünen Bundesregierung hat ten Weg bin ich zuversichtlich – ich darf mir diese Be- die Telekommunikationsbranche ihre Spitzenstellung in merkung erlauben –, dass das Gesetzgebungsverfahren Europa und in der Welt verloren. zügig abläuft und es vielleicht noch vor der Sommer- (Hubertus Heil [SPD]: Das ist ja billig!) pause abgeschlossen werden kann. Es wäre uns im Inte- resse der Dynamik des Marktes, mit dem wir zu tun ha- Die Wettbewerbsentwicklung ist ins Stocken geraten. ben und auf dem wir tätig sind, zu wünschen. Die Monopolkommission hat erst kürzlich wieder fest- gestellt, dass auch nach sechs Jahren Liberalisierung ein Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit. Anschlusswettbewerb im Ortsnetz praktisch nicht statt- findet. Auf dem Zukunftsmarkt Breitband sind wir in- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zwischen nur noch Mittelmaß. Wir liegen weltweit weit DIE GRÜNEN) hinter den USA und Japan zurück. Auch in Europa lie- gen wir hinter den skandinavischen Ländern, der Präsident Wolfgang Thierse: Schweiz und Österreich nur noch im Mittelfeld. Ich erteile der Kollegin Martina Krogmann, CDU/ Natürlich hat die Krise der New Economyalle er- CSU-Fraktion, das Wort. wischt, aber uns hat es unter der rot-grünen Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU) gierung ganz besonders stark getroffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): neten der FDP) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue Wir sind im Wachstum überdurchschnittlich zurückge- mich, dass Sie, Herr Minister Clement, in Ihrer Rede zu fallen und hinken jetzt den anderen Staaten hinterher. Recht die große Bedeutung der Telekommunikations- Deshalb müssen wir jetzt alles dafür tun – mit der No- branche für uns alle hervorgehoben haben. Doch wenn (B) velle des Telekommunikationsgesetzes haben wir die(D) Ihnen die Branche wirklich so sehr am Herzen liegt,große Chance –, ein klaresSignal in Richtung Wettbe- dann frage ich mich, warum Sie es nicht einmal ge-werb, Wachstum und Innovation zu setzen. schafft haben, die entsprechenden EU-Richtlinien recht- zeitig umzusetzen. Sie allerdings tun das genaue Gegenteil. In Ihrem Ge- setzentwurf fehlt jegliche ordnungspolitische Grundli- (Hubertus Heil [SPD]: Ach Gottchen!) nie. Das, was am Anfang an vernünftigen Vorschlägen Eigentlich hätten die Richtlinien bis zum 24. Juli vergan- aus dem Bundeswirtschaftsministerium kam, ist im Ab- genen Jahres umgesetzt werden müssen. Die EU hat in- stimmungsprozess mit dem Bundesfinanzminister, Herrn zwischen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Eichel, komplett verwässert worden. Ich finde es wirk- Deutschland eingeleitet. Ich kann nur sagen: Glückli-lich tragisch, dass der Finanzminister wegen der Riesen- cherweise ist unsere Wirtschaft schneller als Sie. Wenn löcher in seinen Kassen als Aktionär zuallererst auf den unsere Telekommunikationsunternehmen in dem glei- Kurs der Aktien der Deutschen Telekom schaut, chen Tempo wie diese Bundesregierung arbeiten wür- (Hubertus Heil [SPD]: Was haben Sie gegen den, dann würden wir heute in Deutschland wahrschein- die Telekom?) lich immer noch per Rauchzeichen kommunizieren. anstatt eine vernünftige Telekommunikationspolitik zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – betreiben. Hubertus Heil [SPD]: Sorgfalt kommt vor Ein- falt, Frau Kollegin!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Es ist schlimm genug, dass wir wieder einmal zu den Letzten in Europa gehören. Viel schlimmer sind aller- Telekommunikationspolitik muss sich doch an den Er- dings die Auswirkungen auf diese Zukunftsbranche: Ein fordernissen des Marktes orientieren und nicht an den Jahr Rechts- und Planungsunsicherheit bedeutet ein Jahr, Begehrlichkeiten eines klammen Finanzministers. in dem nicht investiert wird und Stillstand herrscht. Dies (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist besonders hart für eine Branche, die Innovationsmo- tor und Treiber für Wachstum ist. Wir müssen uns immer Wir wollen einen fairen Wettbewerb zwischen den An- wieder klar machen, dass es in dieser Branche im welt- bietern. Gerade kleinere und auch neue Marktteilnehmer weiten Standortwettbewerb darauf ankommt, Spitze zu brauchen einen wirksamen Schutz vor marktbeherrschen- sein, um bei uns zukünftig Wachstum und Innovationen den Unternehmen. Deshalb müssen ihreAntragsrechte zu schaffen. gestärkt werden. 7514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Martina Krogmann (A) Herr Minister, stellen Sie sich einmal vor, Ihre Akten- Jetzt nutzen Sie ab und zu die Möglichkeit des Call-by- (C) tasche würde gestohlen, Call, verschiedene Mehrwertdienste oder auch alterna- tive Auskunftsdienste. Am Ende des Monats erhalten Sie (Dr. [SPD]: heute nur eine Rechnung von der Deutschen Telekom Stell dir das mal vor!) AG, auf der alle Beträge stehen. Das muss auch so blei- Sie hätten aber kein Recht, Anzeige zu erstatten, sondern ben. Denn stellen Sie sich einmal vor, Sie würden für müssten das einfach hinnehmen. Ich kann mir Ihre Em- alle diese Dienste von den einzelnen Unternehmen ei- pörung vorstellen und würde diese Empörung auch tei- gene Rechnungen und dann vielleicht auch eigene Mah- len. nungen zum Beispiel über 1,17 Euro, über 5,37 Euro oder über 73 Cent bekommen. (Dr. Rainer Wend [SPD]: Die können Sie sich nicht vorstellen! – Gegenruf der Abg. (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das ist beim Einkau- Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Sie haben da fen auch so!) wahrscheinlich mehr Erfahrung mit Herrn Sie würden als Verbraucher mit einem Haufen von Rech- Clement!) nungen und Mahnungen über Kleinstbeträge von Firmen Genau so gehen Sie aber, Herr Kollege Wend, mit den überschwemmt, die Sie teilweise überhaupt nicht ken- Wettbewerbern um. In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass nen. Wettbewerbsunternehmen kein Recht auf Beantragung (Hubertus Heil [SPD]: Sie bauen einen Popanz eines Verfahrens haben, wenn sie sich zum Beispiel auf!) durch Dumpingpreise diskriminiert fühlen. Hier geht es um Millionenbeträge, hier geht es um Unternehmen und Genau das will aber die Bundesregierung. Da kann ich hier geht es um Arbeitsplätze. nur sagen: Das ist für den Verbraucher absolut unzumut- bar und das werden wir nicht mitmachen. Wir wollen eine faire Chance für Wettbewerber und deshalb Antragsrechte in drei Bereichen: erstens im Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – reich der Marktregulierung, zweitens im Rahmen der Dr. Rainer Wend [SPD]: So ein Schmarren! Das Missbrauchsaufsicht und drittens zur Überprüfung von finde ich nicht gut! – Hubertus Heil [SPD]: Das Entgelten im Vorleistungs- und im Endkundenbereich. ist ein schwieriges Thema, Frau Krogmann!) Denn es kann doch nicht sein, dass die Wettbewerbsun- Der nächste Punkt ist: Ihr Gesetzentwurf ist eigentlich ternehmen tatenlos zusehen müssen, wenn eine falsche jetzt schon Makulatur. Sie wissen genau, dass er in einigen Entwicklung auf den Märkten die Existenz ihrer Unter- zentralen Bereichen heute schon gegen EU-Recht verstößt. nehmen bedroht. Es ist ein Skandal, dass Sie die ur-Seit Vorlage Ihres Arbeitsentwurfs vom März 2003 versu- (B) (D) sprünglich vorgesehenen Rechte der Wettbewerber ein- chen EU-Vertreter, Ihnen klar zu machen, dass verschie- fach vom Tisch gefegt haben. Da machen wir nicht mit. dene Definitionen und auch Prinzipien in Ihrem Entwurf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht mit den EU-Richtlinien übereinstimmen. Das be- trifft zum einen die Definition des funktionsfähigen Wir alle freuen uns natürlich auch über die positive Ent- Wettbewerbs und zum anderen das Prinzip der doppelten wicklung der Deutschen Telekom AG als unserem einzi- Marktbeherrschung. gen Global Player. Diese positive Entwicklung darf nicht durch überzogene Regulierung gefährdet werden. Wollen wir doch einmal Klartext reden – das habe ich übrigens in Ihrer Rede vermisst, Herr Minister Clement –: (Hubertus Heil [SPD]: Haben wir gerade ge- Mit dieser EU-rechtswidrigen Politik verfolgen Sie nur fordert!) ein Ziel, nämlich denMobilfunk außen vor zu lassen. Wettbewerb darf nicht zum Selbstzweck werden, son- Der Grund dafür ist ganz einfach, Kollege Heil. Sie ha- dern Wettbewerb ist nachgewiesenermaßen in unserer ben gegenüber den Mobilfunkanbietern einfach ein sozialen Marktwirtschaft das Instrument, mit dem wir schlechtes Gewissen. Und ich sage Ihnen: Das haben Sie am besten Innovationen und die besten Produkte für die zu Recht. Denn schließlich war es Herr Eichel, der in Verbraucher schaffen. Dies bedeutet immer, dass sich In- Deutschland eine Versteigerung derUMTS-Lizenzen novationen für den Entwickler lohnen müssen; auch für provoziert hat, das marktbeherrschende Unternehmen. (Widerspruch bei der SPD) Freie Wahl der Anbieter und die Abrechnung aus und zwar mit den weltweit höchsten Gebühren von ins- einer Hand – das ist das, was die Verbraucher wollen. gesamt 51 Milliarden Euro. Deshalb wollen wir von der Union, dass der Kunde es bei Fakturierung, Inkasso und Mahnung für verschie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dene Telefondienstleistungen wie bisher auch nur mit ei- neten der FDP) nem Partner zu tun hat. Eine Rechnung und eine Mah- Inzwischen wissen alle, dass diese Art von Versteige- nung – das ist das, was wir wollen. rung ein Riesenfehler war. (Hubertus Heil [SPD]: Auch vom Mobilfunk?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Anders das Vorgehen der Bundesregierung. Ich will Ih- nen ein Beispiel nennen: Nehmen wir einmal an, Sie ha- Die Mobilfunkunternehmen werden von der horrenden ben einen Anschluss bei der Deutschen Telekom AG.Schuldenlast fast erdrückt. Ein Unternehmen hat die Li- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7515

Dr. Martina Krogmann (A) zenz bereits zurückgegeben; ein zweites steht praktisch Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, (C) vor dem Aus. Der Aufbau der Netze für die so genannte seit Wochen verkünden Sie eineInnovationsoffensive. dritte Generation des mobilen Internets gerät ins Stocken. Die Wahrheit ist jedoch: Solange Sie so unausgegorene Auch in diesem Zukunftsbereich drohen wir in Deutsch- Gesetze wie den vorliegenden Gesetzentwurf vorlegen, land im internationalen Vergleich zurückzufallen. werden Sie – auch wenn Sie noch so viele Innovations- räte ins Leben rufen – selbst die größte Innovations- (Ulrich Kelber [SPD]: Sagen Sie einmal etwas bremse bleiben. zum Mobilfunk!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ich nenne Ihnen gerne unsere Forderungen. Wie Sie wissen, haben wir einen detaillierten Antrag eingebracht. Ihr „Jahr der Innovation“ hat mit diesem Gesetzent- wurf denkbar schlecht begonnen. Greifen Sie unsere (Hubertus Heil [SPD]: Aber er widerspricht Forderungen auf! Dann haben Wettbewerb, Wachstum dem, was Sie sagen! – Gegenruf des Abg. und Beschäftigung in unserem Land wieder eine gute Volker Kauder [CDU/CSU]: Seien Sie doch Zukunft. mal ruhig! – Gegenruf des Abg. Hubertus Heil [SPD]: Sie haben doch keine Ahnung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In diesem Antrag fordern wir erstens, dass die EU-Re- geln zwingend eingehalten werden müssen. Zweitens Präsident Wolfgang Thierse: fordern wir, dass im Interesse des Mobilfunks der von Ich erteile der Kollegin Michaele Hustedt, Bünd- der EU vorgegebene Rahmen auf nationaler Ebene so nis 90/Die Grünen, das Wort. ausgeschöpft werden muss, dass weiche Regulierungsin- strumente – die in Ihrem Gesetzentwurf aber nicht vor- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gesehen sind – greifen können, sodass die Regulierung Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! in diesem Zukunftsbereich nicht sofort sozusagen mit Sicherlich sind wir mit der TKG-Novelle in Bezug auf dem scharfen Schwert erfolgen muss. Ich halte es für ei- die Umsetzung der EU-Richtlinien etwas im Verzug. nen Skandal, dass Sie mit zweifelhaften Gesetzen neue und zusätzliche Hürden r fü den Mobilfunk aufbauen (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Etwas?) wollen. Aber das hat seine Ursache auch in dem engen Dialog (Beifall bei der CDU/CSU) mit den Unternehmen, mit denen wir die Novelle entwi- ckelt haben. Dieser Dialog war hilfreich, um einen soli- Lassen Sie mich zum Schluss auf ein altbekanntes so- den Entwurf vorzulegen. (B) zialdemokratisches Grundübel zu sprechen kommen. (D) Wahrscheinlich gibt es nicht ein einziges Gesetz der rot- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN grünen Bundesregierung, das keine neuen und zusätzli- sowie bei Abgeordneten der SPD) chen Belastungen und Sonderabgaben für die Bürger Ich bedanke mich jedenfalls beim Bundeswirtschaftsmi- und Unternehmen vorsieht. nisterium ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit mit (Hubertus Heil [SPD]: Das gibt es gar nicht!) Herrn Tacke und den Mitarbeitern des Ministeriums. Genauso ist es auch bei Ihrer TKG-Novelle. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die Dialogoffensive geht in die falsche Rich- (Hubertus Heil [SPD]: Sie wollen das auf die tung!) Bürger verschieben!) Die Telekommunikation ist eineSchlüsseltechnolo- Die Bundesregierung will erstens die Telekommuni- gie der Wissensgesellschaft. Ein kostengünstiger Zugang kationsüberwachung vollständig zulasten und auf Kos- zu den Telekommunikationsdienstleistungen und zum ten der Unternehmen ausweiten. Internet entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit der (Hubertus Heil [SPD]: Reden Sie einmal mit Wirtschaft und ist damit zugleich Voraussetzung für In- den Bundesländern darüber, was die wollen! novationen und eine funktionierende Servicegesell- Reden Sie einmal mit Beckstein darüber!) schaft. Dabei handelt es sich um finanzielle Belastungen, die für Die neuen Kommunikationstechnologien sind der einzelne Unternehmen im dreistelligen Millionenbereich Motor der Globalisierung und helfen uns gleichzeitig liegen, Herr Kollege Heil. Zweitens – das ist der Gipfel, – das sollte uns immer bewusst sein –, die Globalisie- meine Damen und Herren! – will die Bundesregierung rung auch im Hinblick auf die Individuen, die Wirtschaft eine neue Zwangsabgabe für Telekommunikationsunter- und die Unternehmen zu bewältigen. Deswegen ist die nehmen einführen, um damit die Regulierungsbehörde heutige Diskussion – auch als Fachdiskussion – sehr zu finanzieren. wichtig. Wir lehnen beide Belastungen ab. Es geht nicht an, Lassen Sie mich zunächst einmal etwas Positives an- dass Rot-Grün gerade dieser Zukunftsbranche immersprechen. Der Wettbewerb in der Telekommunikation neue Abgaben auferlegt. hat sich in Deutschland positiv entwickelt. Nach dem Gutachten der Monopolkommission haben die Wettbe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. werber der Telekom seit 2001 weitere Marktanteile hin- Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) zugewonnen. Außerdem sind in letzter Zeit die Preise 7516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Michaele Hustedt (A) für die Nutzung der Sprachtelefonie, des Internets und Ein weiterer wichtiger Punkt – auch diesen haben Sie (C) des Mobilfunks gesunken. Das kommt den Verbrauchern bereits angesprochen – ist derVerbraucherschutz. Sie und der Wirtschaft zugute. Frau Krogmann, machen Sie sollten nicht behaupten, dass in dem vorliegenden Ge- nicht ständig den Fehler der Opposition, gute Dinge am setzentwurf die einheitliche Rechnungsstellung infrage Standort Deutschland schlechtzureden. Das schadetgestellt werde; denn das ist falsch und verunsichert nur nicht nur Ihnen, sondern auch der wirtschaftlichen Ent- die Kunden. Richtig ist, dass der Kunde umfassende In- wicklung. formationen bekommt und dass er sich sicher auf den Märkten bewegen kann, dass er also keine Angst haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss, von den Anbietern „beschissen“ zu werden. und bei der SPD) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ein böses Der Wettbewerb verläuft allerdings nicht einheitlich. Wort!) Der Infrastrukturwettbewerb kommt nur im Mobilfunk- bereich so richtig in Gang. Schade ist in der Tat – hier Hier müssen wir für Preistransparenz sorgen. Das ist in müssen wir besonders aufpassen und eventuell nachhel- einer Wettbewerbswirtschaft eigentlich eine Selbstver- fen –, dass bei der zentralen Zukunftstechnologie Breit- ständlichkeit, leider aber noch nicht auf diesem neuen band noch keine dynamische Entwicklung in Gang ge- Markt. Deshalb sind wir füreine Preisansagepflicht für kommen ist. Das hat aber weniger mit Rot-Grün alsalle Mehrwert- und Call-by-Call-Dienste, damit der vielmehr mit dem mangelnden Wettbewerb in diesem Kunde weiß, worauf er sich einlässt. Der Verbraucher Bereich zu tun. Diesen müssen wir verbessern. darf am Ende des Monats keine böse Überraschung erle- ben, weil er unwissentlich eine sehr teure Dienstleistung Mit der TKG-Novelle sollen weitere wichtige Im-in Anspruch genommen hat. pulse gegeben werden. Wir haben uns dabei an der Leit- linie orientiert: so wenig Regulierung wie möglich, aber Wir müssen außerdem den Missbrauch bei den so viel Regulierung wie nötig. Ich finde, dass der Ge- 0190er- und 0900er-Mehrwertdiensterufnummern ein- setzentwurf hierzu einen gelungenen Kompromiss dar- schränken. Vor diesem Hintergrund ist es nach meiner stellt. In der EU-Wettbewerbsrichtlinie wird zwar eine Meinung nicht optimal, dieMissbrauchsbekämpfung schrittweise Überführung der Regulierungsvorschriften in der Nummerierungsverordnung zu regeln. Sie sollte in das allgemeine Wettbewerbsrecht gefordert. Aberweiterhin Teil des Gesetzes bleiben. dort, wo noch eine marktbeherrschende Stellung besteht, Ein weiterer wichtiger Punkt des vorliegenden Ge- ist eine harte Regulierung weiterhin notwendig. Frausetzentwurfs ist die Frage des Datenschutzes. Der Ent- Krogmann, im Mobilfunkbereich gibt es einen funktio- wurf sieht vor, die Dauer und die Qualität des staatlichen nierenden Wettbewerb mit vier Anbietern. Solange sich Zugriffs vor allem auf Verkehrsdaten deutlich auszuwei- (B) diese vier Anbieter auf dem Markt halten, solange also ten. Wer hat also wann, wo und mit wem telefoniert?(D) Wettbewerb besteht, halte ich eine zusätzliche Regulie- Hier befindet man sich natürlich im Spannungsfeld zwi- rung in diesem Bereich für nicht notwendig. schen Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung und den Freiheitsrechten der Bürger. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was ist denn mit den Terminierungsentgelten?) Den gläsernen Bürger wollen wir, die Grünen, nicht. Wir geben deswegen zu bedenken – die Behauptung, es Der Regierungsentwurf sieht vor, dass zukünftig die könne zu einer weiteren Kostenbelastung der Bürger Ex-ante-Regulierung von Endkundenmärktenzu- kommen, ist richtig –, ob es nicht besser wäre, diesen rückgeführt werden soll. Das ist entsprechend dem Stand Punkt in das Gesetz nicht aufzunehmen und zwecks des Wettbewerbs okay. Allerdings muss dann sicherge- Straffung des – bisher zersplitterten – Datenschutzes die stellt werden, dass die Vorleistungen der Telekom für StPO-Novelle abzuwarten. Zuerst muss klar sein, was die Wettbewerber schnell und verlässlich bereitgestellt untersucht werden soll; danach muss geklärt werden, werden. Aus unserer Sicht wäre eine Verpflichtung der wie es untersucht werden soll. Wäre das nicht ein sinn- Telekom zu einer umgehenden Bereitstellung der not- voller Weg? wendigen Infrastrukturen insbesondere bei der Einfüh- rung neuer Produkte notwendig. Ich muss aber auch sagen: Dieser – aus meiner Sicht sinnvolle – Weg ist nur zusammen mit der Opposition Ein weiterer wichtiger Punkt – Frau Krogmann, Sie möglich; denn wir brauchen die Zustimmung des Bun- haben ihn bereits angesprochen – ist dieBeschleuni- desrates. Das Problem besteht in der Tat darin – Frau gung der Gerichtsverfahren. Im Gesetzentwurf wird Krogmann, wenn Sie diesen Zustand beklagen, dann vorgeschlagen, auf eine Instanz zu verzichten. müssen Sie auch dazu etwas sagen –, dass im Bundesrat eine noch weiter gehende Vers chärfung, zum Beispiel die (Rainer Funke [FDP]: Das ist nicht gut! Ganz Verlängerung der Mindestspeicherzeit von Daten, gefor- schlecht!) dert wird. Ich fordere Sie auf, Einfluss auf die Innenmi- Ich halte die Beschleunigung der Gerichtsverfahren für nister der von Ihrer Partei regierten Länder auszuüben. sehr gut; denn kurze Gerichtsverfahren helfen, die Ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wicklung der Wettbewerbsintensität zu verstärken. Wenn und bei der SPD) ein Wettbewerber Jahre auf ein Gerichtsurteil warten muss, dann ist er vom Markt verschwunden, weil erKehren Sie zur Verhältnismäßigkeit zurück und unter- keine Kunden mehr hat. Die Beschleunigung der Ge-stützen Sie uns in unserem Ziel, den Datenschutz zu richtsverfahren ist also absolut zu begrüßen. bündeln! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7517

Michaele Hustedt (A) Wir wollen die Novelle des Telekommunikationsge- Ich gebe zu, dass das Telekommunikationsgesetz aus- (C) setzes nutzen, um den Gehörlosen endlich den Zugang gesprochen komplex und kompliziert ist. Natürlich be- zur Telekommunikation zu ermöglichen. Rund 130 000 deutet die Regulierung zur Öffnung eines Sektors einen Menschen sind zurzeit von der Nutzung des Telefonsschwerwiegenden rechtlichen Eingriff in den freien ausgeschlossen. In der heutigen Wissenschaftsgesell-Wettbewerb und natürlich ist die wirtschaftliche Interes- schaft ermöglichen es aber moderne Bildtelefone mitsenlage der Beteiligten ausgesprochen unterschiedlich. Digitalkamera und Gebärdensprachendolmetscher Ge- hörlosen und Schwerhörigen, am Telefondienst teilzu- Es geht aber nicht, dass ein solch kompliziertes Ge- setzesvorhaben aufgehalten wird, obwohl schon ein ver- nehmen. nünftiger Vorschlag vom Bundesfinanzminister vorlag. Wir wollen das fördern und wir wollen, dass die (Beifall bei der FDP) Mehrkosten auf alle Telekommunikationsteilnehmer verteilt werden. Das wird für den einzelnen Telekommu- Ich will das hier ganz klar beim Namen nennen. Das nikationsteilnehmer kaum zu spüren sein; denn diesegeht deswegen nicht, weil er als Aktionär der Telekom Kosten werden sehr gering sein. Ich glaube, dass es in ei- AG auch Eigeninteressen hat. Wir müssen schnell dahin ner sozialen Bürgergesellschaft für alle zumutbar ist, zur kommen, dass fiskalische Interessen des Finanzministers Deckung der Kosten dieser Dienstleistungen für die Ge- gegenüber dem Interesse an einer politisch sauberen hörlosen und die Schwerhörigen beizutragen. Trennung zwischen Schiedsrichter- und Mitspielerrolle zurücktreten. Es muss also eine Trennung zwischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eigentümer auf der einen Seite und Regulierer auf der sowie bei Abgeordneten der SPD) anderen Seite erfolgen. Ich komme zum Schluss. Insgesamt halte ich diesen (Beifall bei der FDP) Gesetzentwurf für gelungen. Wir glauben, dass an dem einen oder anderen Punkt im parlamentarischen Verfah- Die Öffnung des Telekommunikationsmarktes in der ren noch einige Verbesserungen vorzunehmen sind. Vergangenheit war richtig. Das alte TKG ist auch nicht überholt. Es ist ein gutes Gesetz gewesen. Der jetzige (Rainer Funke [FDP]: Das ist wohl wahr!) Bundeswirtschaftsminister hat in den Gesprächen da- Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen. mals sehr intensiv daran mitgewirkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hubertus Heil [SPD]: Guter Mann!) und bei der SPD) Die FDP setzt voll und ganz auf die Kraft desWett- bewerbs. Deshalb stimmen wir auch mit der grundsätz- (B) Präsident Wolfgang Thierse: lichen Zielrichtung der TKG-Novelle überein. Lassen(D) Ich erteile dem Kollegen Rainer Funke, FDP-Frak- Sie mich dennoch ganz deutlich sagen: Die Ex-ante-Re- tion, das Wort. gulierung und insbesondere der Eingriff in die freie Preisbildung durch eine staatliche Institution müssen ein Übergangsphänomen bleiben. Rainer Funke (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tele- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Martina kommunikation ist in der Tat einer der dynamischsten Krogmann [CDU/CSU]) Sektoren der deutschen Volkswirtschaft. Im Telekommu- Im Telekommunikationssektor bleibt jedoch eine Re- nikationssektor finden derzeit rund 350 000 Menschen gulierung des Vorleistungsbereichs vorerst notwendig. ihren Arbeitsplatz. Im vergangenen Jahr sind allein im Hier ist die Marktbeherrschung des ehemaligen Staats- regulierten Bereich der Telekommunikationsdienste ge- monopolisten – leider auch durch politisch falsche Vor- schätzte 63 Milliarden Euro umgesetzt worden. gaben, Stichwort „DSL“ – nach wie vor erdrückend. (Hubertus Heil [SPD]: Richtig!) Hier muss der Gesetzgeber handeln; Frau Dr. Krogmann hat schon darauf hingewiesen. In den kommenden Jahren werden weitere Milliardenin- vestitionen anstehen. Stichworte hierzu sind „breitban- Allerdings sollte der Gesetzgeber der Regulierungs- dige Infrastruktur“ und „neue Mobilfunksysteme“. Alle behörde dabei klarer, als im Gesetzentwurf geschehen, diese Entwicklungen werden die gesamtwirtschaftliche vorschreiben, wann sie handeln muss. Wie sie handeln Bedeutung des Telekommunikationssektors weiter erhö- soll, ist hingegen eher in das Ermessen der Behörde zu hen. stellen. Der flexible Einsatz von Regulierungsinstrumen- ten mit unterschiedlicher Eingriffsintensität muss mög- Diese Branche braucht dringendKlarheit und Si- lich werden. cherheit bei den rechtlichen Rahmenbedingungen. Weit über 2 000 Unternehmen warten deshalb sehnsüch- (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann tig und voller Ungeduld auf die TKG-Novelle. Die Bun- [CDU/CSU]) desregierung ist bei der Vorlage dieses Gesetzentwurfs Aber die Erreichung des Ziels, auch den Telekommuni- erheblich in Verzug geraten; schließlich hätte sie die ent- kationssektor bei wirksamem Wettbewerb in die allge- sprechenden europäischen Richtlinien bereits Mitte des meine Wettbewerbsaufsicht, also die der Kartellbehörde, vergangenen Jahres umsetzen müssen. Mittlerweile hat zu entlassen, darf nicht durch zu große Ermessensspiel- sogar die Europäische Kommission ein Vertragsverlet- räume des Regulierers in der Frage, wann er handelt, zungsverfahren eingeleitet. konterkariert werden. Ermessensspielräume können 7518 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Rainer Funke (A) leicht zu mehr Regulierung als notwendig führen, viel- beispielsweise in Person von Herrn Schily, der heute al- (C) leicht auch verführen. lerdings nicht anwesend ist. Machen Sie es sich also nicht zu leicht! Deshalb bin ich im Übrigen gemeinsam mit der Bun- desregierung der Auffassung, dass wir den Mobilfunk keiner Ex-ante-Regulierung unterwerfen sollten. Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Funke, Sie müssen bitte zum Ende kom- (Beifall des Abg. Klaus Brandner [SPD] sowie men. des Abg. Hubertus Heil [SPD])

Hier herrscht derzeit wirksamer Wettbewerb. Rainer Funke (FDP): (Hubertus Heil [SPD]: Ja! – Gegenruf der Abg. Ich will noch ein Wort zu den Rechtswegen sagen. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Nein! Wir werden darüber zu diskutieren haben. Ich präferiere Herr Heil, Sie haben nicht zugehört!) den Zivilrechtsweg, Hier brauchen wir derzeit keine Instanz, die besser sein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten will als der Markt. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hubertus allerdings über mindestens zwei Instanzen, damit auch Heil [SPD]) höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesen wichtigen Wir werden uns in den anstehenden Beratungen – das wirtschaftlichen Fragen möglich wird. ist schon angeklungen – intensiv über Detailfragen un- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. terhalten müssen. So werden wir über die Gefahr einer Remonopolisierung einzelner Märkte reden müssen. Wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten werden wohl nicht mehr über das Ob, aber sicherlich der CDU/CSU) darüber, wie wir Resale-Geschäftsmodelle ermöglichen, noch im Detail verhandeln müssen. Wir werden uns über Präsident Wolfgang Thierse: die Notwendigkeit der Inkassoverpflichtungen der Deut- schen Telekom austauschen und wir werden sehr ent- Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Brandner, SPD- schieden über den Versuch des Bundesrates diskutieren Fraktion. müssen, das Recht auf informationelle Selbstbestim- mung der Telekommunikationskunden auszuhöhlen. Klaus Brandner (SPD): Weder eine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten (B) für sechs Monate noch eine Verpflichtung zum Erheben Damen und Herren! In den vergangenen Wochen haben (D) persönlicher Daten von Prepaid-Karten-Kunden wird die mehrere Investmentbanken ihre Bewertungen für Tele- FDP mitmachen. kommunikationstitel angehoben, teilweise von „neu- (Beifall bei der FDP) tral“ auf „attraktiv“ gestellt. Diese Höherbewertung be- traf den ehemaligen Monopolisten genauso wie die Ich bin sehr gespannt, Frau Hustedt, ob Sie den Mund Wettbewerber. Damit ziehen die Analysten die Konse- nur spitzen oder ob Sie bei den Beratungen dann auch quenz aus den deutlich verbesserten Wirtschaftsdaten pfeifen werden. der Telekommunikationsbranche. Von einem Stillstand, (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann wie Frau Krogmann meinte, kann also keine Rede sein. [CDU/CSU] – Jörg van Essen [FDP]: Bei den (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Grünen ist das immer so! – Hans-Joachim Otto BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [Frankfurt] [FDP]: Das ist die Stunde der Wahrheit!) Die Umsätze im TK-Markt sind im Jahre 2002 im Festnetzbereich um 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr Auch wir haben ja Ihre Position eingenommen, nämlich und im letzten Jahr noch einmal um weitere 2,5 Prozent dass erst einmal das StGB und vor allem die StPO, was gestiegen. Bei den Mobilfunkdienstleistungen gab es die Telefonüberwachung angeht, überarbeitet werden 2001 sogar einen Zuwachs von 8,5 Prozent und 2002 müssen. von weiteren 4,1 Prozent. In den letzten beiden Jahren (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sind etwa 20 Milliarden Euro in den Dienstleistungs- NEN]: Das müssen Sie denen von der CDU/ markt Telekommunikationsbranche investiert worden. CSU sagen! – Hubertus Heil [SPD]: Denen An diesen Investitionen war die Deutsche Telekom je- vom Bundesrat!) doch nur zu etwa 50 Prozent beteiligt. Die Wettbewerber tragen bereits, wie an diesen Daten deutlich wird, die – Nicht nur denen, sondern sicherlich auch dem Bundes- Hälfte der Investitionen. Das macht klar, dass die Zeiten rat; Herr Senator Kusch, ich begrüße Sie. eines auf allen Ebenen dominierenden Monopolisten (Jörg Tauss [SPD]: Die Länder vorbei sind. Das gibt Hoffnung, dass wir in absehbarer sind das Problem!) Zeit die Regulierung des Marktes überwinden können. Das macht auch die Leistungsfähigkeit dieser Branche – Leider liegt dieses Problem auch hier, deutlich. Trotz allgemeiner Wachstumsschwäche der (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Martina deutschen Wirtschaft konnte der Telekommunikations- Krogmann [CDU/CSU]) bereich deutlich zulegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7519

Klaus Brandner (A) Andererseits sind jedoch auch Schattenseiten festzu- schneller und passgenauer in Stellen vermittelt werden(C) stellen: Die Gesamtzahl derBeschäftigten ging 2002 können. Auch die Mittelstandsförderung ist für die hier gegenüber dem Vorjahr um 5 Prozent auf nunmehrangesprochene Branche wichtig. Wir haben gerade für 230 000 zurück. Das betraf nahezu ausschließlich diediese Unternehmen Technologiezentren eingerichtet und Wettbewerber. In diesem Jahr steht bei der Deutschen Know-how bereitgestellt, mit denen Gründer unterstützt Telekom ein massiver Stellenabbau in der Größenord- werden können. nung von 40 000 Arbeitsplätzen bevor. Damit ist erst- In diesem Zusammenhang will ich das ThemaBüro- mals seit Beginn der Liberalisierung im Jahre 1998 ein kratieabbau ansprechen. Dieser erleichtert nicht nur Einbruch bei den Beschäftigtenzahlen zu verzeichnen. Unternehmensgründungen. Wir sind auf Unternehmen Der Beschäftigungsabbau ist insbesondere sektorspezi- im TK-Bereich angewiesen, um Bürokratieabbau, aber fisch: Im Festnetzbereich ist er doppelt so hoch ausgefal- auch Effizienzsteigerung verwirklichen zu können. Die len wie im Mobilfunkdienst. Das heißt, die Unternehmen Branche hat die Technologien, mit denen wir zum Bei- haben sich konsolidiert und damit Konsequenzen aus spiel Behördengänge unnötig machen, Genehmigungen dem Platzen der Blase des Neuen Marktes gezogen. Der vereinfachen und inzwischen die Steuererklärung pa- Zuwachs von circa 20 000 Stellen nach der Liberalisie- pierlos, einfach, online ermöglichen. Da ist im Übrigen, rung wird durch den aktuellen Arbeitsplatzabbau nicht meine Damen und Herren von der Opposition, Ihr Mo- nur zunichte gemacht, wir verlieren in dieser Branche dell – „Steuererklärung auf dem Bierdeckel“ – ein alter sogar massiv Arbeitsplätze. Das macht klar: Eine Neu- Hut. – Ein paar Klicks und einfache Steuererklärungen justierung ist notwendig; die Rahmenbedingungen der über das Internet sind auch schon heute möglich; dessen Telekommunikationsbranche müssen überarbeitet wer- sollten wir uns alle bewusst sein. den. Wir müssen den Trend stoppen, dass die Konsoli- dierung der Unternehmen zulasten der Beschäftigungs- (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Nur leider nicht zahlen geht. Die Zahlen verdeutlichen aber auch, dass in Deutschland!) die Nachfrage ungebrochen ist. – Das ist auch in Deutschland möglich! Die Analyse zeigt, dass es nunAufgabe der Politik Das weist bereits auf das zweite Projekt hin: Wir ist, durch eine Anpassung der Rahmenbedingungen an brauchen einen neuen Technologieschub. Wir waren bei sich verändernde technische und gesellschaftliche Be- der Digitalisierung des Telefons, bei der Einführung der dingungen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Breitbandtechnologie und bei der Netzabdeckung für die tatsächlich vorhandenen Umsatzsteigerungen auch den Mobilfunk in Europa und weltweit mit an der Spitze. zu einem deutlichen Mehr an Beschäftigung und Ausbil- dung führen. Damit ist die Zielrichtung aus meiner Sicht Diese Zeiten sind vorbei, weil das alte TKG nicht ge- (B) eindeutig vorgegeben: Wir müssen die Rahmenbedin- nügend Anreize für Investitionen gelassen hat. Heute ha- (D) gungen so setzen, dass mehr investiert wird, dass die In- ben wir in Europa die zweitschlechtesten Wachstumsra- frastruktur ausgebaut wird und dass mehr Dienstanbieter ten bei dieser Breitbandtechnologie. Wir sind im Bereich die Netze für ihre Angebote nutzen. E-Government weit hinten. Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, mit der Der Bürokratieabbau setzt auf Onlinelösungen, da- wir gleichzeitig den Katalog der Maßnahmen zur Förde- rauf, Formulare unnötig zu machen. Anmeldungen und rung von Innovationen in der Wirtschaft eröffnen wol- Statistiken werden online erledigt. Das, meine Damen len. Wir werden nach den Reformen am Arbeitsmarkt und Herren, ist die Zukunft, auf die wir uns gemeinsam mit dem gleichen Reformwillen die TKG-Novelle, konzentrieren sollten. (Zurufe von der CDU/CSU: Oje!) (Beifall bei der SPD – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Fangen Sie einmal an damit! – das Energiewirtschaftsgesetz und weitere Maßnahmen Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Nur zu!) für Innovationen und für die Etablierung von Zukunfts- Auch im Gesundheitswesen gibt es viele Anwendungs- technologien im Mittelstand in Angriff nehmen. Aus möglichkeiten: Jedes Rezept wird heute noch sechsmal meiner Sicht spielt dabei das Telekommunikationsgesetz erfasst. Wir brauchen Unternehmen, die für diese unnöti- bei zwei Projekten eine herausragende Rolle: zum Ersten gen Vorgänge bessere und patente Lösungen entwickeln. die Neugründung von Unternehmen. Dabei sind Hilfe- Das ist der Zusammenhang: Wir brauchen Anbieter von stellungen notwendig, die das Eingehen dieses Wagnis- Dienstleistungen und Software, damit die öffentlichen ses erleichtern. Auch und gerade in der Telekommunika- Verwaltungen mit modernen Lösungen effektiv arbeiten tionsbranche brauchen wir eine neue Gründerwelle. Wir können. brauchen mehr Angebote von Diensten und mehr Inves- titionen in die Bereitstellung von Infrastruktur. Dazu Damit hat das TKG auch eine Funktion als Binde- werden, ermöglicht durch die Reformen des letzten Jah- glied zum Thema Innovation. res, auch die Ich-AGs bei den Programmierern, die Mi- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Oi, oi, nijobs in den Callcentern und die Mittelstandsförderung oi!) bei den Netzbetreibern hilfreich sein. Wir haben bei den Reformen 2003 die Grundlage dafür geschaffen, dassKaum ein Bereich hat in unserer Vorstellung die Innova- sich neue innovative Unternehmen leichter gründen las- tionsfähigkeit der Wirtschaft so unterstrichen wie die sen, dass sie auch weniger Steuern und Abgaben zahlen Kommunikationsmedien. Hier ist auch ein deutlicher und entrichten müssen und dass die Arbeit Suchenden Impuls für eine Zunahme des Wachstums zu erkennen; 7520 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Klaus Brandner (A) auf die wieder zunehmende Bedeutung der Technolo- Relaisstationen oder Sendeanlagen schon längst geplant (C) giewerte an der Börse habe ich bereits hingewiesen. Al- sind, endlich realisiert werden. lein die Breitbandtechnologie kann bei einem zuneh- menden Ausbau der Verfügbarkeit über die vielfältigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Anwendungsmöglichkeiten einen deutlichen Beitrag Das Telekommunikationsgesetz kann zum Schwung- zum Wirtschaftswachstum leisten. rad werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Hubertus Heil [SPD]: Das wird es!) Wir sind ja erst am Anfang der Nutzung des Internets. Es kann das Wachstum der Wirtschaft anschieben, das Die Zukunft kann heißen, die mobile Gesellschaft zuwir dringend brauchen. schaffen, Informationen immer dort nutzbar zu machen, wo sie gerade gebraucht werden. Die Nutzung für Ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hörlose ist von Frau Hustedt angesprochen worden. der SPD sowie der Abg. Michaele Hustedt Diese Nutzung eröffnet Chancen der Teilhabe am gesell- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schaftlichen Leben durch neue Technologien. Wenn dieses Gesetz richtig gemacht wird, kann Deutsch- Ein weiteres Beispiel ist die Jobcard. Stellen Sie sich land international verloren gegangenen Boden im High- vor, wie effektiv wir mit einer solchen Lösung auch ge- techbereich wieder gutmachen. gen Schwarzarbeit vorgehen könnten: Auf dem Bau, in der Gastronomie und natürlich auch im Reinigungs- (Ulrich Kelber [SPD]: Wir haben keinen Bo- dienst können Beschäftigungsverhältnisse sofort trans- den verloren!) parent gemacht werden. – Herr Kollege Kelber, Deutschland hat in den letzten Alles das macht deutlich: Die Telekommunikations- Jahren in diesem Bereich – das hat die Kollegin gesetz-Novelle bietet eine Chance für moderne Innova- Krogmann zu Recht angeprangert – Boden verloren. Das tionen. Das Bundesministerium für Wirtschaft undbedauern wir. Arbeit hat, wie wir von allen Seiten gehört haben, gute (Ulrich Kelber [SPD]: Oppositionsgerede!) Vorarbeit geleistet. Es kommt jetzt darauf an, eine ein- vernehmliche Lösung möglichst schnell zu erzielen, da- – Das ist kein Oppositionsgerede. mit die Innovationen für die Menschen in diesem Land positiv spürbar werden. Ich baue auf Ihre konstruktive Tatsache ist, dass 1996 durch die Liberalisierungen, Mitarbeit. die damals unter der früheren Bundesregierung vorge- nommen worden sind, erhebliche Wachstumspotenziale (Beifall bei der SPD) (B) freigesetzt worden sind. Wir waren technologisch(D) Spitze. Aber Sie haben durch die organisierte politische Präsident Wolfgang Thierse: Untätigkeit der letzten Monate dazu beigetragen, dass Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Singhammer, wir in vielen Bereichen diesen Vorsprung verspielt ha- CDU/CSU-Fraktion. ben. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Johannes Singhammer (CDU/CSU): der SPD – Ute Kumpf [SPD]: Sie wissen es Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- besser! – Hubertus Heil [SPD]: Das ist unter ren! Der Kollege Brandner hat eben in Bezug auf die Te- Ihrem Niveau!) lekommunikation einen Zustandsbericht, der die mehr als fünf Jahre Ihrer Regierungszeit umfasst, vorgelegt. Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann muss es Sie Herr Kollege Brandner, Sie haben Recht. Herr Minister, zumindest nachdenklich stimmen, dass die EU ein Ver- ich kann dazu nur sagen: Packen Sie es an! Es gibt viel tragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Dieses Gesetz zu tun. hätte nämlich sehr viel eher vorgelegt werden müssen. Wir wollen mit einem modernen Telekommunika- (Beifall bei der CDU/CSU) tionsgesetz folgende Ziele erreichen: Das neue Gesetz muss rasch dazu beitragen, dass die 230 000 Arbeits- Wir wollen mehr Wettbewerb und weniger staatliche plätze im engeren Bereich der Telekommunikation um Reglementierung und Bevormundung. Wir wollen die einige Zehntausende aufgestockt werden. Wir wollen, Wachstumskräfte fördern statt einengen. Ich will Ihnen dass mit dem neuen Gesetz Rahmenbedingungen ge-einige Beispiele nennen. Wir wollen die Zahl der Breit- schaffen werden, damit der Umsatz der Telekommunika- bandanschlüsse – ich denke, in diesem sehr wichtigen tionsindustrie – er betrug im engeren Bereich der Tele- Bereich sind Sie mit der Opposition einig – deutlich er- kommunikation 64 Milliarden Euro – rasch und deutlich höhen. Wir wollen, dass diese Technologie eine größere nach oben geht. Wir wollen, dass mit dem neuen Gesetz Verbreitung erfährt und dass die Investitionschancen, die Investitionsbremsen gelockert und beseitigt werden. Wir in dieser Technologie stecken – das geschätzte Volumen wollen auch, dass Rechts- und Planungssicherheit ge- beträgt 20 Milliarden Euro in den nächsten Jahren –, ge- schaffen werden, nutzt werden. (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [SPD]: Konkret!) die es erlauben, dass Milliardeninvestitionen, die für die Verlegung von Leitungskabeln sowie für den Bau von – Auch konkret. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7521

Johannes Singhammer (A) Wir wollen Wettbewerb ermöglichen. Das heißt kon- Präsident Wolfgang Thierse: (C) kret, dass Fakturierung, Inkasso und Mahnung in einer Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau. Hand bleiben müssen. Das ist richtig und wichtig aus Gründen des Verbraucherschutzes und um unwirtschaft- Petra Pau (fraktionslos): liche Parallelstrukturen zu vermeiden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn man die Debatte heute hier verfolgt, hat man den Eindruck, dass es Massenpetitionen zur sofortigen In- Wir wollen aber auch, dass Anreize zur Schaffung al- kraftsetzung dieses Gesetzentwurfes gibt. Das ist aber ternativer Möglichkeiten der Rechnungsstellung genutzt nicht so. Dieser Gesetzentwurf trifft auf harsche Kritik und gefördert werden, um zu einem größeren Angebot in der Wirtschaft, aber noch mehr bei Datenschützern. bei der Fakturierung zu kommen. Deshalb möchte ich Sie eingangs an ein Jubiläum er- (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil innern, das nahezu unbemerkt verstrichen ist: Vor [SPD]: Was denn nun?) 20 Jahren sprach das Bundesverfassungsgericht sein so – Das habe ich doch gesagt: Wir wollen alternative Mög- genanntes Volkszählungsurteil. Damit stärkte es das lichkeiten fördern. Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz. Das nun vorliegende Telekommunika- Zum Thema Resale sage ich, dass eine Bündelung des tionsgesetz spricht diesem Urteil Hohn. Resale, die im Ermessen der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post liegt, zugelassen werden (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch kann. Ich denke, dass das wichtig ist. [fraktionslos]) Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Wir wollen, dass Sie wollen per Gesetz erzwingen, dass bei Telefonge- sprächen alle anfallenden Verbindungsdaten über sechs die Regulierungsbehörde auch in Zukunft ihren Aufga- Monate gespeichert werden. Damit werden nicht nur ben nachkommen kann und dass sie richtige Ziele ver- Anrufer, sondern auch Angerufene erfasst. Das wider- folgt. Das bedeutet, dass die Regulierungsbehörde unab- spricht dem Datenschutz ebenso wie dem Verbraucher- hängig ist. Wir wollen präzise Ermessensspielräume an schutz. Mehr noch: Sie behandeln im Informationszeit- der richtigen Stelle, sodass Investitionsentscheidungen alter alle, die sich moderner Kommunikationsmittel möglich werden. bedienen – man kann auch sagen: die gesamte Bevölke- Wir wollen, dass Regulierungsverfügungen nur von rung –, wie potenzielle Verbrecher. Wir alle wissen: Die der in der Regulierungsbehörde neu zu schaffenden Prä- technischen Möglichkeiten, Herr fremder Daten zu wer- sidentenkammer im Rahmen ihrer erweiterten Aufgaben- den, wachsen immens. Leider wächst auch die Begierde (B) bereiche getroffen werden. Wir wollen, dass grundsätz- des Staates, diese Möglichkeiten auszunutzen. Das ist(D) lich Weisungen des Bundesministeriums für Wirtschaft die eigentliche Krux. und Arbeit an die Regulierungsbehörde veröffentlicht Der Bundesrat und, wie ich in der Zeitschrift des Bun- werden. Das ist im Hinblick auf den Gesichtspunkt der des Deutscher Kriminalbeamten las, auch Frau Bundes- Transparenz von besonderer Bedeutung. ministerin Zypries wollen sogar prophylaktisch sam- Wir wollen, dass der Beirat der Regulierungsbehörde meln. Wer ein Prepaidhandy, ein Handy mit beschränkter künftig eine verstärkte Position bei der politischen Kon- Kartenfunktion, aber ohne Vertrag, erwirbt, soll künftig trolle der Regulierungsbehörde wahrnehmen kann und registriert werden. Kein Rechnungs- und Buchungsver- damit der Funktion eines Bindegliedes zu den gesetzge- fahren gebietet eine solche Praxis, benden Körperschaften des Bundes und der Länder (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch nachkommen kann. [fraktionslos]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nur die ungehemmte Sammelwut persönlicher Daten. neten der FDP) Diese angestrebte Identifikationspflicht ist nichts ande- Wir wollen ganz konkret, dass der Beirat neue Möglich- res als eine Datenspeicherung auf Vorrat und ohne Ver- keiten zur universellen Kontrolle der Umsetzung derdacht. Der Rechtsstaat geht und Big Brother kommt. Das Ziele des TKG erhält. Ich sage an dieser Stelle auch: Das ist von derselben Güte wie der Vorschlag, künftig die muss nicht mit einer Personalaufblähung und mit neuen DNA von Säuglingen unmittelbar nach deren Geburt zu Strukturen verbunden werden. Insbesondere einen drit- erfassen. Denn mit höherem Lebensalter wächst die ten Vizepräsidenten bei der Regulierungsbehörde halten Wahrscheinlichkeit, dass sie später entweder Verbrecher wir für überflüssig. oder Opfer von Verbrechen werden. Das ist Ihre Logik, aber nicht die Logik der PDS im Bundestag. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Abschließend: Lassen Sie den Tiger aus dem Tele- tionslos] – Hubertus Heil [SPD]: Mit dem kommunikationstank, in den Sie ihn bisher eingesperrt TKG hat das nichts zu tun!) haben, frei! Eröffnen Sie Möglichkeiten für die Tele- kommunikation! Wir wollen Ihnen, soweit es SinnAber nicht nur vonseiten der Nutzer moderner Kom- macht, gerne dabei helfen. munikation ist Ihr Gesetz ein Unding. Auch für die An- bieter entsprechender Leistungen enthält es Zumutungen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekom- neten der FDP) munikation und neue Medien e. V. hat diese Zumutung 7522 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Petra Pau (A) sehr bildlich beschrieben. Ich zitiere den Hauptgeschäfts- Betrachtet man allein die Zahl von Nutzern von Mo- (C) führer: biltelefonie, stellt man fest, dass sie im Jahr 2003 im Vergleich zu 1998 von 14 Millionen auf über 63 Millio- Nimmt man allein den E-Mail-Verkehr bei einem nen gestiegen ist. Das ist ein Zuwachs von sage und einzigen größeren Internetprovider, ergeben sich schreibe 350 Prozent. Aber auch die technischen Innova- bei der geforderten zwölfmonatigen Dauer etwa tionen sind enorm: Im Jahr 2003 gab es 3,2 Millionen 30 000 Gigabyte gespeicherter Daten. Ausgedruckt DSL-Anschlüsse. Frau Kollegin Krogmann, die Ursache und abgeheftet wären das 3 000 Kilometer Ordner. für die langsame Ausbreitung von Breitbandigkeit liegt Das ist mehr als die Strecke von Berlin bis Kairo. darin, dass wir nicht frühzeitig genug damit begonnen Mit Ökonomie hat ein solches Vorgehen überhaupthaben. Darin sind wir uns doch wohl einig: Wir können nichts zu tun. noch viel mehr machen. Wir wollen, dass wir in diesem Bereich durch kluge Rahmensetzung unterschiedliche Er rechnet weiter, dass für die Sicherheitsbehörden da- Breitbandangebote in Deutschland nutzen können. Hier von wahrscheinlich nur 10 Meter relevant sind. Ichgibt es einen Nachholbedarf, auf den ich gleich noch zu- möchte hinzufügen: Selbst we nn es 100 Meter wären, wä- rückkommen werde. ren 99,9 Prozent zu viel und falsch gespeicherte Daten. Deshalb: Machen Sie ein besseres Gesetz und kom- men Sie noch einmal wieder! Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Heil, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Kollegen Kelber? tionslos])

Hubertus Heil (SPD): Präsident Wolfgang Thierse: Gern. Ich erteile dem KollegenHubertus Heil, SPD-Frak- tion, das Wort. Ulrich Kelber (SPD): Hubertus Heil (SPD): Herr Kollege Heil, Sie haben den Zuwachs bei der Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Mobiltelefonie angesprochen. Wir haben uns vorhin von gen! Im Telekommunikationssektor liegt eines derder Frau Kollegin Krogmann den Vorwurf anhören müs- höchsten Entwicklungspotenziale für wirtschaftliches sen, wir sollten bei der Regulierung von Mobiltelefonie Wachstum in unserem Land. Das ist hier bereits mehr- mehr den europäischen Vorschlägen folgen. (B) fach betont worden. Dieser Markt ist darüber hinaus eine Können Sie mir bestätigen, dass wir kurz vor Weih-(D) Schlüsselbranche für die Modernisierung unseres Lan- nachten mit der Kollegin Krogmann mit den Mobilfun- des insgesamt, also für Wachstum, Innovation und für kern zusammengesessen haben und sie diesen gesagt die Schaffung von Arbeitsplätzen. Es gilt, eine solche hat, sie persönlich werde sich gegen jede Regulierung Boombranche weiterzuentwickeln und ihr einen Rahmen bei der Mobiltelefonie einsetzen? Uns hat das verwun- zu geben, der gesamtwirtschaftlich zum größtmöglichen dert, weil sie einem Vertreter der EU-Kommission bei Erfolg wird. In dieser Zielsetzung sind wir uns sicherlich einer Veranstaltung der American Chamber of Com- alle einig. merce am Abend vorher gesagt hatte, sie sei für mehr Seit In-Kraft-Treten des Gesetzes im Jahr 1996 haben Regulierung im Mobilfunksektor. sich die Rahmenbedingungen entscheidend geändert. Die EU-Richtlinien geben das vor. Aber nicht nur diese Hubertus Heil (SPD): sind dafür verantwortlich, sondern vor allem eine sehr Ich kann nur sagen: In der gleichen Art und Weise, in dynamische Entwicklung auf dem Markt und techni- der die Kollegen von der Union auf den Pudding ge- scher Fortschritt machen es notwendig, heute ein neues hauen haben, benehmen sie sich auch in Gesprächen, Telekommunikationsrecht zu schaffen. nämlich wie ein Pudding, den man nicht an die Wand na- Als Gesetzgeber wollen wir heute nicht nur auf die geln kann. Wir haben tatsächlich das Problem, Frau Veränderungen, die ich beschrieben habe, reagieren,Dr. Krogmann, dass wir sehr gern mit Ihnen fachlich zu- sondern wir müssen vielmehr vor Augen haben, wie der sammenarbeiten würden. Das Spiel kann aber nicht so Telekommunikationsmarkt in fünf oder zehn Jahren laufen, dass Sie allen in der Branche in Gesprächen alles sein soll und sein kann. versprechen, statt klare Kante zu zeigen. Wir stehen bereits heute an einem Punkt, der 1996 bei Wir wollen, dass im Mobilfunkbereich die deutschen der Beschlussfassung über das TKG so nicht vorstellbar Besonderheiten betrachtet werden. Es gibt dort eine an- war. Die Branche hat nach Angaben der Monopolkom- dere Geschichte als im Festnetzbereich. Es gibt in mission im Jahr 2003 einen Umsatz von 63 Milliarden Deutschland einen ordentlichen Wettbewerb zwischen Euro erwirtschaftet; das sind fast 20 Milliarden Euroden Netzen, und wir müssen aufpassen, dass wir Regu- mehr als im Jahr 1998. Von Stillstand kann also nicht die lierung nicht in dem Maß einführen, in dem wir es nicht Rede sein, Frau Kollegin Krogmann. brauchen. Das ist vollkommen klar. Deshalb werden wir dieses Spiel nicht mitmachen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7523

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Wir sind nicht der Regulierer, (C) Kollege Heil, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Krogmann? (Klaus Brandner [SPD]: Wo ist die Frage an Herrn Heil?)

Hubertus Heil (SPD): sondern die Ordnungspolitiker, die den Rahmen zu set- Sehr gern. zen haben. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, Kollege Heil? (Zuruf von der SPD: Können Sie bestätigen, dass …?) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) – Nein, kann ich nicht. Hubertus Heil (SPD): Frau Kollegin Krogmann, vielleicht kann ich genauso Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): lange antworten, wie Sie gefragt haben – Kollege Heil, könnten Sie bitte bestätigen, dass das Spielchen, das Sie sich mit Ihrem Kollegen Kelber auf (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der meine Kosten geleistet haben, eine Unverschämtheit SPD) war? wenn es eine Frage gewesen wäre. Sie müssen keine (Beifall bei der CDU/CSU) stellen; das ist in Ordnung. Ich versuche es zumindest einmal. Hubertus Heil (SPD): (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Versu- Nein, das kann ich nicht. chen Sie es einmal! Das ist das Thema!)

Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): – Soll ich Ihnen antworten? Das kann ich gern machen. Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, was ich bereits Die Frage ist doch, ob Sie de factoRegulierung im in meiner Rede ausgeführt habe. Mobilfunkbereich wollen oder nicht. (Zurufe von der SPD: Frage! – Volker Beck (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das ist [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kurz- nicht die Frage!) interventionen sind am Ende der Rede er- laubt!) Mit dieser Frage haben wir uns auseinander zu setzen. Ich gebe Ihnen Recht, dass die EU-Richtlinien im Ich habe darauf hingewiesen, dass von allen Seiten (B) Grundsatz eine technologieneutrale, netzneutrale Regu- (D) – aus der Wirtschaft, von der Monopolkommission, von lierung vorsehen. Wir können aber spezifische Regulie- der Regulierungsbehörde, aber vor allem auch von der rungen durchaus möglich machen. Das sagen Ihnen auch EU-Kommission – die Art der Umsetzung angeprangert eine ganze Menge Experten. wird, die Sie im Telekommunikationsgesetz vorsehen. Sie haben gesagt, die Wirtschaft in Deutschland be- ( [Starnberg] [SPD]: Und jetzt trachte das alles als EU-rechtswidrig. Dann haben Sie die Frage!) die Monopolkommission, die EU-Kommission und die Sie versuchen, eine Lex Mobilfunk zu schaffen, die von RegTP zitiert. Reden Sie doch einmal mit der Wirt- vornherein bestimmte Märkte ausgrenzt. Dies ist mitschaft! Reden Sie einmal mit den Unternehmen! Die ma- EU-Recht nicht kompatibel. chen sich große Sorgen wegen Aussagen wie der Ihren, die der Kollege Kelber vor der Amerikanischen Han- Unsere Position dazu ist ganz klar. Wir müssen EU- delskammer zitiert hat. Das bringt Sorge und Verun- Recht einhalten. Es siehtunter anderem vor, dass die sicherung mit sich. Regulierungsbehörde aufgrund einer Marktanalyse fest- zustellen hat, auf welchen Märkten – der Terminierungs- Deutschland ist im Mobilfunkbereich sehr gut aufge- entgeltmarkt ist vorgegeben – kein wirksamer Wettbe- stellt. Wir haben Wettbewerb und ganz ordentliche werb herrscht. Im Rahmen der Marktanalyse muss die Preise – im Mittelfeld in Europa. Die Frage ist, ob Sie in Regulierungsbehörde entscheiden, welche Instrumente Bereichen regulieren wollen, wo Regulierung nicht not- anzuwenden sind. wendig ist, oder ob Sie die Regulierung dort konzentrie- ren und durchschlagskräftig machen wollen, wo wir sie (Dr. Uwe Küster [SPD]: Fragen!) wirklich brauchen. Frau Kollegin Krogmann, das ist die Wir möchten – das und nichts anderes ist unsere Posi- Frage, die Sie begreifen müssen. tion; das habe ich zu jedem Zeitpunkt gesagt – weiche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Instrumente ins Gesetz aufnehmen, DIE GRÜNEN) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Fragen! Unglaub- Insgesamt kommt die Monopolkommission zu dem lich! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: „Kön- Ergebnis, dass die Wettbewerbsentwicklung im Tele- nen Sie mir das bestätigen?“) kommunikationsbereich auch in den vergangenen – ge- um der Regulierungsbehörde die gesamte Palette der In- samtwirtschaftlich durchaus schwierigen – zwei Jahren strumente zugunsten des Mobilfunkes zu Verfügung zu sehr positiv verlaufen ist. Auch das zum Stichwort Still- stellen. stand, Frau Kollegin Krogmann. 7524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Hubertus Heil (A) Der Kabinettsentwurf zur Novellierung des Telekom- weil dies, wie auch aus Ihren Reihen immer wieder be- (C) munikationsgesetzes ist eine gute Grundlage für die fol- stätigt wird, wirklich die Magna Charta für die gesamte gende parlamentarische Arbeit. Für die SPD-Bundes-Branche ist. tagsfraktion erkläre ich, dass wir den vor uns liegenden (Beifall bei der SPD) Gesetzentwurf an vier Maßstäben messen werden. Meine Damen und Herren, im Folgenden möchte ich Der erste Maßstab, auf den es uns ankommt, ist, ob der noch kurz auf einige Einzelheiten des Gesetzentwurfes Gesetzentwurf und die dort definierten Rahmenbedingun- eingehen, zum Beispiel, Frau Kollegin Krogmann, auf gen ordnungspolitischen Gesichtpunkten Rechnung tra- die Forderung des Bundesrates nach einer sechsmonati- gen. Es gilt, den Rahmen so anzulegen, dass es zu mehr gen Speicherung aller bei der Telekommunikation Wettbewerb kommt. Es geht uns aber nicht um reinen anfallenden Verkehrsdaten auf Vorrat. Aus meiner Preiswettbewerb – vielleicht mag uns das unterscheiden –, Sicht stellt eine solche Verpflichtung für die Branche sondern um einen volkswirtschaftlich produktiven, nach- eine zu große Bürde da. Sie ist in Abwägung mit den haltigen Wettbewerb. Deshalb ist der Wettbewerbsbegriff Anforderungen der inneren Sicherheit als unverhältnis- im Verfahren genau zu definieren. Auch die Frage der mäßig zu betrachten. Marktdefinition spielt eine wichtige Rolle. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der zweite Maßstab ist eine Gesetzesfolgenabschät- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zung, die wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens vorzunehmen versuchen, um zu ermessen, welche volks- Frau Kollegin Krogmann, ich möchte Ihnen eines sa- wirtschaftlichen Auswirkungen die vorgesehenen Rege- gen: Sie müssen in ihren Reihen ein bisschen aufpassen, lungen haben. Unser Ziel ist es, durch sinnvollen Wett- dass es nicht zu einer komischen Arbeitsteilung beim bewerb Innovationen, Wachstum und Beschäftigung in Datenschutz und bei der Sicherheit im Telekommunika- Deutschland zu fördern. Deshalb müssen wir sowohltionsbereich kommt. Ihre Innenpolitiker, vor allem dieje- durch Wettbewerb im Infrastrukturbereich als auchnigen aus den Ländern, fordern immer schärfere Rege- durch Dienstewettbewerb Investitionsanreize schaffen. lungen. Professor Picot, der Vorsitzende des Wissenschaft- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Ihre lichen Arbeitskreises für Regulierungsfragen und ein an- doch auch, Herr Kollege!) erkannter Telekommunikationsexperte, schätzt, dass ein Dann beklagen Sie im Bundestag die Kosten für die massiver Ausbau der Breitbandnetze in Deutschland das Branche. Das ist ein Verfahren, das wir so nicht mitma- Wirtschaftswachstum zwischen 0,3 und 0,5 Prozent pro chen werden. Jahr steigern könnte. Diese Perspektive zeigt deutlich, (B) dass es sich lohnt, in der Gesetzgebung sehr sorgfältig (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Fragen (D) im Interesse unseres Landes zu arbeiten. Sie doch auch mal Herrn Schily! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Führen Sie mal einen er- Ich mache mir keine Illusionen: Es geht um ein gebnisoffenen Dialog mit Herrn Schily!) Thema, das die Zuschauer, die uns heute zuhören und nicht in der Diskussion stecken, nicht mitreißt. Es istWir werden verhältnismäßig vorgehen und dieses Ansin- kein Herzblutthema vieler Menschen. Nichtsdestoweni- nen des Bundesrates und auch des Landes Hamburg zu- ger ist das ein für unsere Volkswirtschaft ganz entschei- rückweisen. dendes Thema. Denn hier geht es um die Grundlagen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die für Wachstum und Beschäftigung gelegt werden. DIE GRÜNEN) Drittens werden wir den Gesetzentwurf an den Anfor- Wir werden die sicherheitsrelevanten Fragestellungen derungen unserer Verfassung messen, viertens – und sehr sorgfältig prüfen. Auch werden wir den Belangen zwar in dieser Reihenfolge – an den Vorgaben aus den des Verbraucherschutzes und des Datenschutzes Rech- fünf in nationales Recht umzusetzenden europäischen nung tragen. Hier werden wir in den nächsten Tagen und Richtlinien. Konstitutiv für diese Richtlinien ist – das Wochen eine sehr intensive Debatte zu führen haben. habe ich gesagt – die Technologieneutralität. Das ist Denn es geht tatsächlich um Bürgerrechte, aber auch um keine Frage. Aber wir müssen darauf achten, dass den Belastungen für die Branche. Rahmenbedingungen, der Geschichte und dem Entwick- lungsstand in Deutschland im Rahmen des Korridors, Diskussionsbedarf gibt es meines Erachtens auch im den wir nutzen können, Rechnung getragen wird. Bereich des Rechtsschutzes. Jetzt haben wir im Gesetz- entwurf vorgesehen, dass es bei der Frage, wie sich Un- Wir werden im Gesetzgebungsverfahren also einen ternehmen gegen Regulierungsentscheidungen gericht- ordnungspolitischen, einen volkswirtschaftlichen, einen lich wehren können, beim Verwaltungsrechtsweg Verfassungsmäßigkeits- und einen EU-Konformitätstest bleiben soll. durchführen, weil wir sehr sorgfältig sein wollen. Natür- lich ist es nicht schön, wenn man Zeiträume zur Umset- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ja, leider!) zung von Richtlinien cht ni einhält. Aber, Frau Ich will Ihnen sagen, dass ich in dieser Diskussion sehr Dr. Krogmann, ich sagen Ihnen ganz klar: Hier geht offen bin, auch einen anderen Weg zu gehen und in Er- Sorgfalt vor Schnelligkeit. Wir wollen ein gutes Gesetz, wägung zu ziehen, die Zivilgerichtsbarkeit, die Kartell- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist Ihnen senate der Zivilgerichte, als zuständig zu betrachten. noch nie gelungen!) Herr Kollege Krings, das werden wir sehr sorgfältig prü- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7525

Hubertus Heil (A) fen. Hier gibt es, um das klar zu sagen, auf beiden Seiten die Debatten, die wir in den nächsten Tagen führen wer- (C) gute und schlechte Argumente. den. Wir werden zügig, aber sorgfältig beraten. So wird es uns hoffentlich gelingen, ein Vermittlungsverfahren Für mich sind es zwei bzw. drei Argumente, die es mit dem Bundesrat zu vermeiden. Deshalb spare ich mir notwendig machen, hier eine Öffnung vorzunehmen. Die heute auch die eine oder andere Bemerkung zu den Posi- Zivilgerichte haben zukünftig auch über die staatlichen tionen der Länder. Regulierungsentscheidungen auf dem Energiesektor zu urteilen, wo sich ganz ähnliche Fragestellungen ergeben. Ich komme zum Schluss. Ich freue mich auf eine kon- Deshalb stellt sich die Frage, ob es zweckmäßig ist, dies struktive Zusammenarbeit. Wir verfolgen das Ziel, der dort anzusiedeln, und ob wir langfristig die Perspektive deutschen Wirtschaft einen Schub zu geben. Außerdem in Richtung GWB eröffnen wollen. Dies sind gute Argu- wollen wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern in mente dafür. Deutschland diese neuen Kommunikationsmittel zur Verfügung stellen. Aber es gibt auch ein paar Argumente dagegen. Die Verwaltungsgerichte haben Kompetenzen aufgebaut. Ich Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. biete Ihnen an, dass wir uns das in einem Verfahren – zu zweit, zu dritt oder zu viert – in Ruhe miteinander an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schauen und die besten Argumente abwägen. Aus der DIE GRÜNEN) Branche wissen auch Sie, dass es, je nachdem, mit wel- chem Unternehmensvertreter man redet und welcher Ju- Präsident Wolfgang Thierse: rist gerade eingestellt wurde, unterschiedliche Signale Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Günter Krings, gibt. Aber wir werden darüber sehr sorgfältig diskutie- CDU/CSU-Fraktion. ren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Wichtiger ist, dass wir den Rechtsweg verkürzen, dass Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- wir Regulierungen durchschlagskräftiger machen und ren Kollegen! Es ist mir ein besonderes Vergnügen, in dass wir verhindern, dass Regulierungsentscheidungen der ersten Debatte über ein Gesetz im Jahr eins der Ent- über den Rechtsweg obstruiert werden, wie das in der deckung der Innovation durch die amtierende Bundesre- Vergangenheit an der einen oder anderen Stelle der Fall gierung reden zu dürfen. Man kann sich leicht vorstellen, war. wie die Mitarbeiter und Referenten der SPD nach der Vorstandsklausur in Weimar die anstehenden parlamen- (B) Durch die vielen Zwischenfragen ist mir die Zeit ein tarischen Themen fieberhaft durchforsten mussten, um(D) bisschen davongelaufen. herauszufinden, was man noch alles unter der Über- (Lachen der Abg. Dr. Martina Krogmann schrift Innovation der staunenden Öffentlichkeit präsen- [CDU/CSU]) tieren könne. Laut den Weimarer Leitlinien gilt sogar die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe als Daher möchte ich meine Ausführungen zum Schluss auf Ausweis von Innovation in Deutschland. folgenden Nenner bringen: Die eigentlichen Entschei- dungen, die für die Marktregulierung sehr wichtig sind, Es verwundert daher nicht, dass Sie auch auf das neue haben mit dem Resale, der Regulierung von Vorleistun- Telekommunikationsgesetz gestoßen sind und dieses gen und der Entgeltregulierung zu tun. Diese PunkteProjekt, das allerdings schon seit einem Jahr läuft, umge- werden wir sehr sorgfältig betrachten. widmet haben und nun in den Dienst Ihrer Innovations- kampagne stellen. Dabei hat die Telekommunikations- Lassen Sie mich noch eine Schlussbemerkung zum branche in der Tat viel mit Innovation und Zukunft in Thema Billing und Inkasso machen, weil ich auch hier, unserem Land zu tun. Herr Kollege Singhammer, die Unionsposition für eine Puddingposition halte. Auf der einen Seite sagen Sie, (Ute Kumpf [SPD]: Na also! – Dr. Rainer dass alles aus einer Hand kommen soll, auf der anderen Wend [SPD]: Hört! Hört!) Seite wollen Sie alternative Inkasso- und Billingsysteme Das Ergebnis der Liberalisierung der Telekommuni- fördern. Was denn nun? Ich sage Ihnen, dass wir uns in kationsmärkte, die die unionsgeführte Bundesregierung Ruhe damit beschäftigen werden. Warum kann man1996 vorgenommen hat, nicht darüber sprechen, den Marktbeherrscher jetzt auf absehbare Zeit dazu zu verpflichten, diesen Aspekt mit (Hubertus Heil [SPD]: Mit Unterstützung der einer Sonnenuntergangsklausel zu versehen und dadurch SPD!) den Aufbau von alternativenInfrastrukturen zu betrei- waren niedrigere Preise und die Schaffung von Hundert- ben? Das halte ich für einen Weg, über den wir diskutie- tausenden von Arbeitsplätzen in Deutschland. ren können. Ich sehe, dass hier bei der FDP mehr Offen- heit als bei der Union gibt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wenn wir über den Tele- Dieser Erfolg fußt zu einem ganz erheblichen Teil auf kommunikationssektor reden, geht es tatsächlich umder Entwicklung und der Anwendung neuer Techniken. nicht mehr und nicht weniger als Wachstum, Innovation Er basiert darauf, dass sich Ingenieure und Techniker und Beschäftigung in Deutschland. Ich freue mich auf Gedanken darüber machen, wie das Telefonieren, wie 7526 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Günter Krings (A) die Datenkommunikation, ja wie mobiles Leben und Ar- Wenn die gerichtlichen Verfahren mitunter mehr als (C) beiten in Deutschland besser und nutzerfreundlicherfünf Jahre dauern, dann ist das rechtskräftige Urteil oft- werden kann. mals praktisch wertlos. Eine innovative Geschäftsidee im Jahre 2004 kann 2009 schon ein Ladenhüter sein. Die Entwicklung der letzten Jahre verlief allerdings – das ist eben schon angesprochen worden – weitaus we- Über die Wachstumsfähigkeit unserer Telekommunika- niger erfreulich. Es hat keinen Zweck, das von Ihrer Seite tionsunternehmen wird nicht nur in den Labors der Fir- schönzureden. Im Gegensatz zum weltweit weiterhin ex- men, sondern auch in den Gerichtssälen unseres Landes pandierenden Telekommunikationsmarkt schrumpfte entschieden. der deutsche Markt im Jahr 2002 um 1,3 Prozent. In den Die Bundesregierung schlägt in ihrem Gesetzentwurf letzten Jahren gingen 40 000 Arbeitsplätze in der Tele- vor, eine Rechtsmittelinstanz zu streichen. Das ist gut kommunikationswirtschaft verloren. gemeint. Wir alle kennen aber das Gegenteil von gut ge- Dass unsere Volkswirtschaft die Telekommunika-meint, nämlich schlecht gemacht. Wenn wir den Rechts- tionsbranche dringend als Wachstumslokomotive braucht, weg wirklich kürzer, schneller und effektiver gestalten zeigt die jüngste Meldung von heute Morgen. In einer wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die gerichtli- Verlautbarung des Statistischen Bundesamtes wird fest- chen Entscheidungen dort getroffen werden, wo seit je- gestellt, dass im vergangenen Jahr das Bruttoinlandspro- her wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten ausgetragen dukt wieder gesunken ist, und zwar um 0,1 Prozent. Es werden. Das sind die Kartellgerichte. In diesen Senaten ist höchste Zeit, dass Sie mehr unternehmen als bisher, der Zivilgerichtsbarkeit sitzt seit Jahrzehnten der ökono- um die Lokomotive wieder in Gang zu setzen. Die Zah- mische Sachverstand, der gebraucht wird, um Entschei- len, die wir aus Wiesbaden bekommen haben, sind alar- dungen in den Fällen zu treffen, die im TK-Recht anfal- mierend. len. Dazu zählen etwa die Abgrenzung von Märkten, die (Beifall bei der CDU/CSU) Feststellung eines effektiven Wettbewerbs und eine Reihe ähnlicher Fragen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wirtschaft- liches Wachstum braucht Innovation. Für Innovation be- Wir wissen, dass der Kartellrechtsweg ohnehin nur darf es vernünftiger rechtlicher Rahmenbedingungen, über zwei Instanzen verfügt, nämlich das Oberlandesge- die es erlauben, dass neue Märkte erschlossen und neue richt und den Bundesgerichtshof. Durch Zuweisung an Geschäftsideen umgesetzt werden können. Wer sich von diese Gerichte würde zugleich ein Sonderverwaltungs- der nun vorgelegten Novellierung des Telekommunika- rechtsweg für die Regulierungsbehörde verhindert. Ich tionsgesetzes allerdings diese dringend benötigten Im- frage: Warum sollen wir einen neuen Instanzenweg er- (B) pulse für neues Wachstum der Telekommunikations-finden, obwohl es im Kartellrecht einen solchen bereits (D) branche erhofft hat, wird leider bitter enttäuscht. gibt, der schneller und effektiver beschritten werden Herr Heil, Sie haben dankenswerterweise dargestellt, kann? Wir als Unionsfraktion wollen die gerichtlichen in welchen Punkten Sie gesprächsbereit und offen sind. Verfahren in Deutschland einfacher und überschaubarer Das finde ich sehr gut. Nur stimmt das leider nicht mit machen und nicht durch neue Varianten und Sonderfälle dem Entwurf überein, den Herr Clement und das Bun- anreichern und damit rechtlich verkomplizieren. deskabinett vorgelegt haben. Es wäre schön gewesen, (Beifall bei der CDU/CSU) wenn Sie diese Offenheit schon in den Beratungen zum Arbeitsentwurf, zum Referentenentwurf und zum Regie- Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur Mobilte- rungsentwurf gezeigt hätten. Sie hoffen, dass wir nun ge- lefonie. Ich glaube, die Lage ist hier ganz eindeutig, und meinsam nachbessern. Es wäre schöner gewesen, wenn ich verstehe gar nicht, warum Sie mit diesem Pingpong- bis jetzt mehr gekommen wäre. spiel versuchen, eine Kritik aufzubauen, die nicht haltbar (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil ist. Wir haben klare Vorgaben aus dem EU-Recht und [SPD]: Wollen Sie durchwinken oder als Ab- fünf Richtlinien umzusetzen. Wir setzen also europäi- geordneter arbeiten?) sches Recht um. Es sollte auch Ihnen als Nichtjuristen bekannt sein, dass wir hier bestimmte Vorgaben einzu- Angesichts meiner überschaubaren Redezeit will ich halten haben. Gemäß diesen Vorgaben müssen wir uns ein einziges Beispiel anführen, das deutlich macht, an jeden Markt anschauen und prüfen, ob dort Regulierung welcher Stelle dieser Gesetzentwurf eine große Chance notwendig ist oder nicht und ob dort bereits ein ausrei- vergibt, Impulse zu setzen; meine Vorredner haben auf chender Wettbewerb besteht oder nicht. Im Bereich der einige andere Punkte schon deutlich hingewiesen. Mobiltelefonie spricht vieles dafür, dass der Wettbewerb Einer der größten Standortvorteile, die wir in Deutsch- im Großen und Ganzen funktioniert. land auch nach fünf Jahren Rot-Grün noch besitzen, ist unser Rechtssystem. Was bringt aber die beste Rechts- Unsere Aufgabe als Politiker ist es, Rahmenbedin- pflege, wenn die Verfahren zu lange dauern? Das rasche gungen zu schaffen und ein ordentliches ordnungspoliti- Tempo auf dem Telekommunikationsmarkt verlangtsches Konzept in dieses Gesetz hineinzuschreiben, und schnelle Entscheidungen, damit Unternehmen mit neuen nicht, Einzelfallentscheidungen darüber zu treffen, ob Produktideen die Leitungen der Deutschen Telekom zu Wettbewerb vorliegt oder nicht. Sie sollten sich an dieser angemessenen Bedingungen und in angemessener Zeit Stelle von Ihren politischen Allmachtsfantasien verab- nutzen können. schieden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7527

Dr. Günter Krings (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil – zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf(C) [SPD]: Jetzt werden Sie ein bisschen ober- eines … Strafrechtsänderungsgesetzes – flächlich, Herr Kollege!) Graffiti-Bekämpfungsgesetz – (... StrÄndG) Wer innovativ sein will, muss seinen Kopf in der Tat (Erste Beratung 28. Sitzung) ein bisschen mehr anstrengen und den Mut fassen – zum – Drucksachen 15/302, 15/63, 15/404, 15/2325 – Beispiel bezogen auf den Rechtsweg –, auch einmal aus- getretene Pfade zu verlassen. Innovationen kann man Berichterstattung: nicht einfach beschließen. Hochleistungen kann man Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) weder im Sport noch bei den Hochschulen noch in der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Telekommunikation verordnen. Ein Minister oder einAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Abgeordneter, der in der Lage ist, ein Handy zu bedie- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. nen, garantiert damit leider noch nicht, dass er auch die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Telekommunikations- Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin branche erkennt. Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Hubertus Heil [SPD]: Ein Jurastudium (Beifall bei der CDU/CSU) auch nicht!) Daniela Raab (CDU/CSU): Durch den Entwurf zum Telekommunikationsgesetz Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wird gezeigt: Nicht überall da, wo Innovation draufsteht, Herren! Zunächst möchte ich Ihnen allen ein gesundes ist auch Innovation drin. Wer von Innovation nicht nur und vor allem erfolgreiches neues Jahr wünschen, in reden, sondern sie tatsächlich auch fördern will, der dem wir gemeinsam nützliche und gute Entscheidungen muss sich eben leider auch mit so profanen Dingen wie treffen. Wir können gleich heute damit beginnen, denn dem Prozessrecht und dem Rechtsweg beschäftigen. es geht um eine Entscheidung zum Graffiti-Bekämp- Meine Damen und Herren Kollegen auf der linkenfungsgesetz. Das Thema hatte eine lange Vorlaufzeit, Seite dieses Hauses, nutzen Sie die Gesetzesberatungen eine so lange, dass wir uns von der Union nun genötigt dazu, das zu tun! Wir werden Sie dabei gerne unterstüt- sahen, nach § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bun- zen. destages einen Bericht des Rechtsausschusses anzufor- dern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Hubertus Heil [SPD]: Unter- Was das bedeutet, möchte ich vor allem den Zuhörern stützung ist immer gut!) auf den Tribünen und auch Ihnen gern erklären. Das bedeu- (B) tet, dass ganze zehn Sitzungswochen vergangen sind – das (D) ist umgerechnet fast ein halbes Jahr –, ohne dass von Ih- Präsident Wolfgang Thierse: rer Seite eine Reaktion auf unsere Initiative zur Graffiti- Ich schließe die Aussprache. bekämpfung kam. Es hat sich nichts getan. Sie haben uns hingehalten, Sie haben sich nicht bewegt und Sie haben Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen verzögert. auf den Drucksachen 15/2316, 15/2345 und 15/2329 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Nein, wir lehnen ab!) Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Berichterstattergespräche wurden angesetzt, verschoben Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: und dann mit vagen Begründungen überhaupt nicht mehr abgehalten. Da muss ich Sie natürlich fragen: Wie soll Beratung des Berichts des Rechtsausschussesich unter solchen Bedingungen hier eigentlich ordentlich (6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts- arbeiten? ordnung Bereits Ende letzten Jahres hat unsere Fraktion einen – zu dem von den Abgeordneten Dr. NorbertGesetzentwurf eingebracht, der die Strafbarkeit sämtli- Röttgen, Cajus Caesar, Dr. Wolfgang Götzer, cher Graffitischmierereien durch eineErgänzung des weiteren Abgeordneten und der Fraktion der Strafgesetzbuches normieren wollte. CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Geset- (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: zes zur Änderung des Strafgesetzbuches Wird dann weniger gesprayt?) – Graffiti-Bekämpfungsgesetz – Die Behebung dieser Schmierereien verursacht bei (Erste Beratung 22. Sitzung) Bund, Ländern und Gemeinden, bei Privatleuten und in – zu dem von den Abgeordneten Jörg van Essen, der Wirtschaft jedes Jahr Schäden in Höhe von circa Rainer Funke, , weiteren Abgeord- 200 bis 250 Millionen Euro. neten und der Fraktion der FDP eingebrachten (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Entwurf eines Gesetzes zum verbesserten GRÜNEN]: Das können Sie verhindern?) Schutz des Eigentums Bislang können derartige Schmierereien nur dann als (Erste Beratung 17. Sitzung) Straftat geahndet werden, wenn die Substanz der 7528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Daniela Raab (A) besprühten Sache verletzt wird. Das Besprühen vonVielmehr entwickelt sich gerade in Großstädten wie in(C) Glasflächen zum Beispiel, die man unter größerem Auf- Berlin – der Kollege Gewalt wird nachher dazu Stellung wand reinigen kann, ist demnach nicht strafbar. Diesen nehmen – eine regelrechte Bandenkriminalität. Missstand wollen wir beheben und wir wissen da auch die FDP an unserer Seite. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ist aus anderen Gründen straf- (Jörg van Essen [FDP]: Wir sind die Initiato- bar!) ren gewesen! Wir waren die Ersten! – Gegen- ruf des Abg. Christoph Strässer [SPD]: Das Immer häufiger bleibt es nicht beim Sprühen. Das wissen macht es nicht besser!) Sie auch. Zwischen den Banden entwickeln sich Revier- kämpfe darum, wer wo sprühen darf, und diese Revier- Eine vergleichbare Bundesratsinitiative läuft ebenfalls kämpfe gipfeln nicht selten in massiver Gewaltanwen- seit 2000. dung. Heute haben wir in der Kernzeit dieser Plenardebatte In den vergangenen Monaten sind wir fast alle aufei- zum wiederholten Male – das muss man zugeben – die nander zugegangen. Auch in der SPD hat sich nach an- Möglichkeit, unsere Argumente dazu auszutauschen.fänglichem Widerstand die Einsicht durchgesetzt, dass Bisher haben unsere Bemühungen, gerade Sie, HerrHandlungsbedarf besteht, Ströbele, zu überzeugen, nicht gefruchtet. Dabei hat so- gar Ihre eigene Ministerin die Notwendigkeit einer Ge- (Jörg van Essen [FDP]: Sehr erfreulich, ja!) setzesänderung eingesehen. vor allem vor dem Hintergrund, dass aus diesem ver- (Jörg van Essen [FDP]: Sehr gut!) meintlich rechtspolitisch kleinen Thema nun schon ein mittelgroßer Aufreger geworden ist, nicht nur in der Ihre Argumentation, Herr Ströbele, eine Gesetzesände- Presse. In dem einzigen Berichterstattergespräch, das rung bringe nichts, weil man ja vorher nicht wisse, wie nach längerem Hängen und Würgen stattgefunden hat, sie auf die potenziellen Sprayer wirke, hätten wir uns sogar – mit „uns“ meine ich FDP, CDU/ (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE CSU und SPD – auf eine konsensfähige Formulierung GRÜNEN]: Nein, weil Sie keinen einzigen da- einigen können, nämlich auf die des Bundesratsent- mit mehr erwischen!) wurfs. Wir waren bereit, nicht auf unserer Formulierung des Verunstaltens zu beharren. Wir haben uns aufeinan- überzeugt mich überhaupt nicht. der zubewegt. Entscheidend sollte nach unserer Auffas- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sung sein, dass die Schmierereien gegen den Willen des Berechtigten stattfinden. Dieses objektive Kriterium er- (B) Wenn es niemanden interessiert, werden wir das ja se- spart uns juristisch gesehen die Auslegung und in der(D) hen. Aber wenn es niemanden interessiert, was im Straf- Praxis den Gutachterstreit, wann eine Substanzverlet- gesetzbuch steht, frage ich Sie ganz ehrlich: Wozu brau- zung vorliegt. chen wir dann eines? Das ist doch Unsinn. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mich interessiert sehr, was im Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben Strafgesetzbuch steht!) jetzt genau zwei Möglichkeiten: Sie überzeugen Ihren kleinen Koalitionspartner Dass Strafrecht nicht nur präventiv, sondern auch repres- siv wirken kann, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen. (Jörg van Essen [FDP]: Nein, mit Vernunft ist Ströbele nicht beizukommen!) In der öffentlichen Expertenanhörung im Mai 2003 haben wir unter anderem von Vertretern der Polizei und von der Richtigkeit des Vorhabens, die Sie längst er- der Staatsanwaltschaft erfahren, dass auch Sprayer sehr kannt haben. Oder Sie trauen sich endlich und stimmen wohl wissen, was sie bei einer Festnahme erwartenohne die Grünen im Dienste der guten Sache unserem könnte. Sie wissen, dass sie, wie schon angedeutet, nach Gesetzentwurf zu. Alles andere verursacht nur noch dem Besprühen von Glasflächen, Telefonzellen oderKopfschütteln, nicht nur bei uns, sondern auch bei den Wartehäuschen mangels Substanzverletzung nicht straf- Bürgern. rechtlich verfolgt werden können. In diesem Sinne wünsche ich mir eine baldige Eini- (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: gung bei diesem Thema. An uns scheitert es nicht. Und zivilrechtlich? – Hans-Christian Ströbele Vielen Dank. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Fälle haben Sie denn?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Waren Sie nicht da? Schade. Präsident Wolfgang Thierse: Wir haben in dieser Anhörung auch erfahren, dass wir Ich erteile das Wort Kollegen Christoph Strässer, hier beileibe nicht nur über Bagatelldelikte reden, dieSPD-Fraktion. von irgendwelchen unreifen Jugendlichen begangen werden. Christoph Strässer (SPD): (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und GRÜNEN]: Sondern?) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7529

Christoph Strässer (A) Raab, neben den zwei Möglichkeiten gibt es noch eine (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto (C) dritte Möglichkeit. Die dritte Möglichkeit, von der wir Solms) Gebrauch machen, ist ganz einfach. Wir sind der Auffas- sung, dass das, was Sie vorschlagen, eine weit gehende Wenn die Täter gefasst werden – auch darüber können Veränderung des Strafrechtes darstellt. Wir können uns Sie lachen, das lässt sich statistisch nachweisen –, dann nicht damit zufrieden geben, strafrechtliche Veränderun- können und werden sie schon heute in der Regel straf- gen, die, so wie Sie es vorsc hlagen, aus unserer Sicht rei- und zivilrechtlich belangt. Ich jedenfalls kenne keine nen Placebocharakter haben, zu akzeptieren. DeshalbStatistik, wonach in solchen Fällen signifikant viele Ver- werden wir diesen Weg nicht mitgehen. fahren eingestellt werden müssen, weil etwa die Tatbe- standsvoraussetzungen nach § § 303 und 304 StGB nicht (Beifall bei der SPD) erfüllt sind. Eine solche Statistik können Sie nicht lie- fern. Wie dem auch sei: Wir alle sind uns einig – ich denke, das sollte man herausstellen –, dass Graffitischmiere- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ reien die Innenstädte verschandeln. Sie sind wie das DIE GRÜNEN) Wegwerfen von Zigaretten – ich nenne das immer Lama- Ich kenne aber sehr wohl Statistiken, die belegen, dass verhalten – nicht nur durchJugendliche, sondern auch die Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Täter liegen. zunehmend durch Erwachsene, aber auch wie die Verun- reinigungen durch Hunde und sonstige Haustiere sowie Auch an eine gesteigerteAbschreckungswirkung wie die übrige Vermüllung unserer Städte, unserer Um- bei einer Ausdehnung des Straftatbestandes, wie Sie es welt und unseres gesamten Lebensumfeldes von unsvorschlagen, vermag ich nicht zu glauben. Wenn Sie sich nicht zu tolerieren. wirklich mit der Szene befassen, dann werden Sie fest- stellen können – diese Erfahrung haben Jugendpsycholo- Niemand von uns will ein solches Verhalten tolerie- gen und -soziologen gemacht –, dass der Kick, um den ren; denn wir wissen – diese Zahlen sind korrekt –, dass es dabei geht, nicht dadurch minimiert wird, dass Sank- allein durch diese Aktionen Schäden von 200 tionen bis erhöht werden. Im Gegenteil: Bei vielen dieser 250 Millionen Euro im Jahr entstehen. Allein die Deut- Gruppen ist genau das ausschlaggebend. Je höher die sche Bahn hat diesen Schaden – in diesem Fall war sie Sanktion, desto stärker ist der Reiz, gegen die Regelung korrekt und dies ist pünktlich in die Beratungen einge- zu verstoßen. gangen – im Jahre 2002 auf 35 Millionen Euro beziffert. Es ist völlig klar, dass dieses Verhalten nicht hinnehmbar (Daniela Raab [CDU/CSU]: Das halte ich für ist. Aber – das ist unsere erste Feststellung –: Es stellt ein Gerücht!) nach jetzigem Recht in der Regel fast immer die Erfül- Es soll also nicht der Eindruck entstehen, eine Geset- (B) lung des Straftatbestandes der Sachbeschädigung dar. (D) zesänderung sei notwendig, weil Farbschmierereien Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. nicht bereits heute vom Tatbestand derSachbeschädi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gung erfasst würden. Dem ist nicht so. Ich interpretiere DIE GRÜNEN) auch beim Nachlesen sämtlicher Protokolle der Anhö- rung, die wir im letzten Jahr durchgeführt haben, die Mir ist völlig klar: Die Debatte zu diesem Thema in Mehrheit der Sachverständigen so, dass auch sie der der Kernzeit hat etwas mit dem 29. Februar dieses Jahres Auffassung sind, dass es nicht wirklich um Auffüllung zu tun. einer Strafbarkeitslücke geht, sondern dass in der Tat (Ute Kumpf [SPD]: Was ist denn da?) – das sagt auch die neueste BGH-Rechtsprechung – Gerade deshalb will ich all denjenigen, die es betrifft, (Daniela Raab [CDU/CSU]: Das ist absolut noch einmal vorhalten: Das Hauptproblem bei der Be- richtig!) kämpfung von Graffitistraftaten ist nicht die gegenwär- der Tatbestand der Sachbeschädigung auch dann erfüllt tige Rechtslage. Hauptproblem ist und bleibt ist, die wenn beim Entfernen Schaden entsteht. Schwierigkeit, die Täter zu fassen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. : DIE GRÜNEN) Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bergner? Die simple Regel lautet: Wenn die Täter nicht gefasst werden, können sie nicht bestraft werden. Christoph Strässer (SPD): (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn sie gefasst Ich habe sehr sorgfältig die Protokolle der letzten De- werden, auch nicht! – Lachen bei der CDU/ batten zu diesem Thema gelesen. Der Kollege CSU) Bachmaier, der das bisher getan hat, hat gesagt: Das müssen wir nicht machen. Ich schließe mich ihm in die- – Sie können ruhig weiter lachen. Wenn die Täter nicht ser Frage völlig an. gefasst werden, wird eine Ausdehnung und eine Verän- derung des Strafrechts an diesem Problem überhaupt Wir haben festgestellt, dass an bestimmten Stellen, in nichts ändern. Nichts wird dadurch besser, dass wir die Großstädten und anderswo, die Strafermittlungsbehör- strafrechtlichen Sanktionen in ihrem materiellen Gehalt den Schwierigkeiten haben. Dem ist so. Ich habe aller- ändern. dings – das kann jeder in seinem Bereich tun – in 7530 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Christoph Strässer (A) meinem Wahlkreis in Münster mit den zuständigen Er- Wir haben – das ist auch unstreitig – einen Dissens in(C) mittlungsbehörden geredet. unserer Koalition. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Jörg van Essen [FDP]: Genau das ist der NEN]: Ich in München!) Grund!) Münster ist auch eine Stadt, in der das erhebliche Aus- Ich bin aber davon überzeugt, dass wir auch an dieser wirkungen hat. Der dortige Staatsanwalt, der die Ermitt- Stelle einen Konsens finden, der besser ist als das, was lungen koordiniert, hat eine ganz eindeutige Position. bisher vorliegt. Das gültige Strafrecht und seine effektive Anwendung Zu den vorliegenden Gesetzesvorschlägen in aller ist in der Regel völlig ausreichend. Das Hauptproblem Kürze: Wir werden den Entwürfen der CDU/CSU-Frak- ist nicht eine angeblich defizitäreRechtslage, sondern tion und der FDP-Fraktion in der vorliegenden Form die Hauptprobleme liegen in der Prävention und in der nicht zustimmen. Wir bleiben der Meinung, dass das Tat- Strafverfolgung. Neben der konsequenten Verfolgung bestandsmerkmal des Verunstaltens kein tauglicher An- der Straftäter, der repressiven Arbeit, haben wir deshalb satzpunkt für eine Strafverfolgung ist. Ich schließe mich in unserer Stadt eine Ordnungspartnerschaft zwischen nicht nur an dieser Stelle, sondern insgesamt der Posi- der Polizei, der Staatsanwaltschaft, der Stadt und Orga- tion der Bundesministerin der Justiz an, die in einem nisationen und Verbänden, die dort arbeiten, gegründet. umfangreichen Vortrag vor dem Verband der Haus- und Die haben das getan, was ich an dieser Stelle für das Grundeigentümer Deutschlands zu diesem Tatbestand Richtige halte, nämlich aufklären, präventiv arbeiten und des Verunstaltens gesagt hat: Wir wollen nicht das insbesondere den Jugendlichen Alternativen aufzeigen. Kunstgutachten im Amtsgerichtsprozess einführen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN) NEN]: Genau!) Gerade in diesem Bereich geht es um Möglichkeiten, das Ich kann mich an eine Diskussion hier erinnern, in der zu verbessern. gerade Sie gesagt haben, man solle doch das Strafgesetz- Wir sehen aber auch – das will ich Ihnen gar nicht ab- buch nicht ständig mit neuen unbestimmten Rechtsbe- sprechen –, dass bei vielen Menschen gerade in Bal-griffen anfüllen. lungszentren angesichts der vielfältigen Schmierereien (Zuruf von der SPD: So ist das!) eine erhebliche Verunsicherung und ein Gefühl ent- steht, dass dort Sicherheitsdefizite vorhanden sind. Das Genau dies tun Sie mit dem Begriff des Verunstaltens. kann niemand in Abrede stellen. All diese Dinge wollen wir nicht haben. (B) (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Wie beheben Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das jetzt?) DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU – Jörg van Essen [FDP]: Wir sind schon Deshalb ist es richtig und vernünftig, dass wir uns auch längst weiter in der Diskussion!) in unserer Fraktion mit einer Gesetzesänderung beschäf- tigen und darüber nachdenken, welche Möglichkeiten es Wir wollen gerade das Gegenteil von dem erreichen. gibt (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist ein al- (Daniela Raab [CDU/CSU]: Sie hatten ja auch ter Text! Sie halten rechtshistorische Vorträge, Zeit! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Da- das heißt, Sie lesen sie ab!) bei kommt nichts heraus!) – Es ähnelt sich, Herr Kollege Gehb. Ihre Zwischenrufe – warten Sie doch mal ab –, in den Fällen, in denen keine ähneln auch denjenigen, die ich gelesen habe. Aber das Substanzverletzung entsteht, eine etwa vorhandenemacht nichts. Das ist das Problem bei dem Tatbestand, Strafbarkeitslücke in den Bereichen der Sachbeschädi- um den es geht. Ich rede über Ihren Gesetzentwurf und gung und gemeinschaftlichen Sachbeschädigung zuden der FDP. schließen. Wir sind dabei, daran zu arbeiten, aber wir (Zuruf von der CDU/CSU: Sie kennen ja den können es uns nicht einfach so leicht machen. Das ist Text gar nicht!) eine strafrechtliche Sanktion. Wir wollen eher Klarheit als Unklarheit. Sie verun- (Daniela Raab [CDU/CSU]: Es macht sich sichern die Justiz und alle diejenigen, die in diesem keiner leicht!) Bereich arbeiten. Ich sage ganz deutlich: An diesem Eine strafrechtliche Sanktion macht man nicht mal eben Punkt – darüber wird man sicherlich reden können – for- so, weil Wahlkampf ist und weil man damit auf populis- muliert der Entwurf des Bundesrates deutlich schärfer. tische Art und Weise Stimmen fangen will. Das geht (Jörg van Essen [FDP]: So weit sind wir doch nicht. schon längst!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Wir reden über drei Anträge, Herr Kollege van Essen. DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Drei Anträge liegen zur Diskussion vor. Die Kollegin CSU) Raab hat sich deutlich auf Ihren Antrag bezogen. Ziehen Ich sage Ihnen – das ist kein Geheimnis –: Wir diskutie- Sie Ihre Gesetzentwürfe zurück! Dann ist es für uns ein- ren und wir werden Ihnen in Zukunft etwas vorlegen.facher. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7531

Christoph Strässer (A) Die Gesetzentwürfe werfen zudemAuslegungs- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C) schwierigkeiten auf. Diese ergeben sich zum einen aus Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dem Merkmal „nicht nur unerheblich“. Zum anderen GRÜNEN]: Aber deshalb haben Sie es jetzt muss ein Verstoß gegen den Willen des Eigentümers aufgesetzt!) vorliegen. Das aber ist doch völlig klar. Bei vorliegen- dem Willen des Eigentümers kann schließlich nichtAber was wir schon damals wussten und auch heute wis- irgendeine strafbare Handlung unterstellt werden. Die sen, ist, dass es in unseren StädtenSchmierereien gibt, Frage, wie der erklärte Wille des Eigentümers nach au- die erhebliche Schäden verursachen und die Städte in ei- ßen dringen muss, wird aber in Ihrem Gesetzentwurf und ner Weise verunstalten, die den Bürgern nicht zuzumu- auch in dem des Bundesrates nicht klar beantwortet. ten ist. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Widerspruch des Abg. Dr. Jürgen Gehb GRÜNEN]: Das ist scheinheilig!) [CDU/CSU]) Wir wussten auch schon damals, dass jährlich Millio- Das zeigt schlicht und ergreifend, dass Auslegungspro- nenbeträge aus Steuermitteln – aus den Kassen der Bür- bleme bestehen. Wir wollen,dass diese Fragen geklärt ger – aufgewandt werden müssen, um die Schäden wie- werden. der in Ordnung zu bringen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie Jurist?) (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Wir stellen fest, dass die vorliegenden Gesetzent- Und daran ändert Ihr Gesetzesvorschlag et- würfe nicht unsere Zustimmung finden. Ich kann, will was?) und werde nicht ausschließen, dass sich in Zukunft eine – Ja, unser Gesetzesvorschlag ändert etwas daran. Auch Lösung finden lässt. Das würde ich sogar begrüßen. das hat die Debatte gezeigt. Die Koalition wird ihre Regierungsfähigkeit auch in (Jörg Tauss [SPD]: Ist ja Unfug!) dieser Frage beweisen. Es macht aber keinen Sinn, dass die Oppositionsfraktionen ihre Gesetzentwürfe in schö- Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Anhörungen zu ner Regelmäßigkeit unverändert einbringen. Diesen Ent- diesem Thema stattgefunden haben. Die Anhörungen würfen werden wir nicht zustimmen. haben ein klares Ergebnis gebracht: Es besteht ein straf- rechtliches Defizit, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) CSU]: Der macht noch beim Zuhören Fehler!) (B) und zwar deswegen, weil die Rechtsprechung eine Sub- (D) stanzverletzung erfordert. Nur dann, wenn die Farbe in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Substanz, auf die sie aufgetragen wird, eingedrungen Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen ist, liegt eine Sachbeschädigung vor. von der FDP-Fraktion das Wort. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Verurteilungen sind Jörg van Essen (FDP): deshalb gescheitert?) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Als jemandem, der aus der Justiz kommt – übrigens bin über die Rede des Kollegen Strässer außerordentlich vertritt der Behördenleiter offensichtlich eine andere überrascht. Meinung als der Dezernent, mit dem Sie wohl gespro- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir nicht!) chen haben; ich habe ihn nämlich in der vergangenen Woche beim Dämmerschoppen getroffen; das war intere- Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, bin ich sogar eherssant –, fassungslos über das, was uns der Kollege Strässer vor- getragen hat. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) GRÜNEN]: Da waren Drogen im Spiel!) Zunächst einmal hat er den Eindruck erweckt, als ob ist mir völlig klar, dass viele meiner Staatsanwaltskolle- die Debatte etwas mit dem 29. Februar dieses Jahres zu gen aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheit nicht tun hat. noch zusätzliche Kosten für die Steuerzahler verursa- chen wollen, indem sie teure Gutachten anfordern; viel- (Christoph Strässer [SPD]: Ja sicher! – Hans- mehr stellen sie das Verfahren wegenGeringfügigkeit Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein. NEN]: Zufällig ist der Hamburger Senator hier!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie bei der CDU/CSU) Ich darf darauf hinweisen, dass die FDP-Bundestags- fraktion schon vor fünf Jahren einen Gesetzentwurf zur Dadurch ergeht an die Täter das Signal, dass ihr Verge- besseren Bekämpfung von Graffiti eingebracht hat. Wir hen nicht so schlimm ist. Das aber darf in Zukunft nicht wussten damals noch nicht, dass am 29. Februar 2004 in mehr geschehen. Diejenigen, die beispielsweise eine Hamburg Wahlen stattfinden würden. Hauswand besprühen, die eine alte Dame, die lange 7532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Jörg van Essen (A) dafür gespart hat, wieder einmal hat streichen lassen, Ich hoffe, dass die SPD mitmacht und dass es ihr ge- (C) müssen wissen, dass das Konsequenzen hat. lingen wird, die Grünen zu überzeugen, dass dieses Land ein Rechtsstaat ist und dass auch die Grundrechte in die- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- sem Staat durchgesetzt werden müssen. Wir jedenfalls ruf von der SPD: Die müssen erst einmal er- werden dafür kämpfen. wischt werden!) Herzlichen Dank. – Ich habe Ihnen doch gerade deutlich gemacht, dass das Erwischtwerden häufig zur Folge hat, dass das Verfahren (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wegen Geringfügigkeit eingestellt wird. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass die Bundesjustizministerin of- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fensichtlich inzwischen weiter ist als der eine oder an- Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian dere Kollege in der SPD-Bundestagsfraktion. Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Das Allerschlimmste ist allerdings, dass es in diesem Bundestag eine Fraktion gibt, der der Rechtsstaat nichts Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE bedeutet. GRÜNEN): (Dr. [CDU/CSU]: Leider Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! wahr!) Herr Kollege van Essen, das war scheinheilig; Denn das, was wir wollen, ist ein klarerEigentums- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schutz. Insbesondere der Kollege Ströbele ist all den Ar- und bei der SPD) gumenten, die uns in der Anhörung vorgetragen worden denn Sie wissen ganz genau, dass diese Debatte am heu- sind, offenbar nicht zugänglich. tigen Vormittag nur deshalb angesetzt worden ist, weil am 29. Februar Wahlen in Hamburg stattfinden wer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den. Man hofft zwar immer auf Altersweisheit, aber davon (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: profitiert leider nicht jeder. Sehr richtig! – Widerspruch bei der CDU/CSU Das, was mir ebenfalls große Sorgen bereitet, ist: und der FDP) Wenn wir kein entsprechendes Signal geben, dann wird Oder warum hat sich der Hamburger Justizsenator ge- (B) das eventuell zu dem führen, was uns die Staatsanwälte rade am heutigen Tage hierher verirrt? Können Sie mir (D) aus Berlin, die übrigens die Sachverständigen der SPD einen anderen Grund dafür nennen? waren, vorgetragen haben, nämlich in den kriminellen Szenen zu einer weiteren Zunahme der Gewaltkrimina- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE lität. GRÜNEN]: Das wird er selber gleich versu- chen!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wenn das richtig ist – Sie wissen das eigentlich; aber Sie GRÜNEN]: Die sind aus anderen Gründen stellen es anders dar –, dann sind alle Ihre Argumente als strafbar! Waffenbesitz! Das wissen Sie alles!) scheinheilig entlarvt. Wenn wir kein entsprechendes Gesetz verabschieden, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie wissen we- dann ist das Signal: Im Bundestag geschieht nichts; es der was heilig noch was scheinheilig ist!) wird hingenommen. Dadurch werden die Probleme nicht geringer, sondern größer. Wir Grüne stehen dazu, dass wir eine Verschärfung von Vorschriften des Strafgesetzbuches im Hinblick auf Wir, die FDP, haben vor fünf Jahren die erste Initia- Graffiti für falsch halten. Deshalb haben wir im Innen- tive ergriffen. Wir werden bei diesem Thema nicht lo- ausschuss gemeinsam mit den Sozialdemokraten die drei cker lassen, bis wir zu einer vernünftigen Regelung ge- vorliegenden Gesetzentwürfe abgelehnt. kommen sind. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) SES 90/DIE GRÜNEN) Dass es uns um eine vernünftige Regelung geht, können Das haben wir nicht deshalb getan, weil wir meinen, Sie daran sehen, dass wir in den Berichterstattergesprä- dass jedes Graffito ein Kunstwerk ist, das geschützt wer- chen – genauso wie die CDU/CSU – deutlich gemacht den muss, oder weil wir nicht darüber empört und ärger- haben, dass wir aufgrund von Einwänden der Sachver- lich sind, wenn in U- und S-Bahnen die Fenster zerkratzt ständigen nicht mehr auf der Durchsetzung unserer Ent- sind oder wenn auf gerade neu gestrichene Wände von würfe bestehen, sondern bereit sind, auf den Vorschlag Privathäusern Graffiti gesprüht werden. Auch wir finden des Bundesrates einzugehen. Das ist eine wunderbare das ärgerlich und wollen etwas dagegen tun. Aber Ihre Möglichkeit – warum nutzen Sie sie nicht? –, zu einem Gesetzesvorschläge sind ungeeignet, unnötig und falsch. fraktionsübergreifenden Kompromiss zu kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der SPD: Dann ziehen Sie doch und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ Ihre Anträge zurück!) CSU]: Aber die Putzfrauen kriminalisieren!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7533

Hans-Christian Ströbele (A) Sie sind ungeeignet, weil Sie mit dem Begriff „Verun- Es ist also ganz einfach nicht richtig, dass dort eine Tat- (C) staltung“ den Gerichten Steine statt Brot geben. Denn bestandslücke besteht und dass Verurteilungen deshalb wie soll der Richter im Einzelfall entscheiden, ob es sich scheitern. um eine Verunstaltung oder um eine Verschönerung han- Wir müssen zu anderen Überlegungen kommen. In delt? der Anhörung – ich habe das bereits im Rechtsausschuss (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie sind nicht gesagt – hat uns eine Frau über die Praxis informiert. Sie auf dem Stand der Dinge! – Weiterer Zuruf nahm an einem Senatsprojekt in meinem Wahlkreis, in von der CDU/CSU: Es ist nicht zu fassen!) Berlin-Friedrichshain, mit dem Namen „BÖ 9“ teil. Sie können sich das gern vor Ort anschauen. Ich bin auch Denken Sie nur an die Diskussion über die Verhüllung bereit, die Teilnehmer dieses Projekts hierher zu holen. des deutschen Reichstags in diesem Hohen Haus. Die Im Rahmen dieses Projekts werden einige Dutzend Verhüllung wurde zuerst von vielen als Verunstaltung junge Männer zwischen 11 und 25 Jahren betreut, nach- angesehen. Nachher wurde sie weltweit als großes dem sie einmal wegen Graffitisprayens, wegen Ha- Kunstwerk gefeiert. Nach Ihren Vorstellungen sollen die schischkonsums oder wegen anderer Delikte in Erschei- Gerichte mithilfe von Sachverständigen zum Beispiel nung getreten sind. Ich habe diesen jungen Männern von die Frage beantworten, ob es sich bei dem Anbringen ei- diesen Gesetzesvorhaben erzählt. Sie fanden dies nicht nes Kopftuchs, eines Bartes oder einer Pappnase an einer nur nicht cool, sondern sie haben klar gesagt: Das wird Statue im öffentlichen Raum um eine Verunstaltung han- keinen von uns oder von denen, die wir in all den Szenen delt oder nicht. Aber das führt nicht zu besseren Ergeb- kennen, davon abhalten, Graffiti-Tags an eine Wand zu nissen und nicht zu mehr Rechtsklarheit, sondern zu Un- sprayen. klarheit. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Jörg Herr Kollege van Essen, verehrte Kolleginnen und van Essen [FDP]: Zuhälter finden die Gesetze Kollegen von der CDU/CSU, sehr geehrter Herr Justiz- gegen die Zuhälterei auch nicht gut! – senator aus Hamburg, ich behaupte, dass Sie die Eigen- Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Geben Sie Ihre tümer von Häusern und die Kommunalpolitiker, die sich Blockade auf, Herr Ströbele!) in ihrer Not auch an uns wenden und darauf hinweisen, Diese jungen Männer haben mir klar gemacht, dass es dass ihnen das alles über den Kopf wachse, dass das zu eine ganze Reihe von Graffitisprayern gibt, die wirkliche teuer werde und dass es sich hier um ein Riesenproblem Kunstwerke oder Kunsthandwerksprodukte erstellen. handle, in die Irre führen und täuschen wollen. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber auf fremden (B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D) Wänden!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Beispiele dafür waren in Büchern und Kalendern zu fin- Sie wollen nämlich diesen Menschen wider besseres den, die sie mir gegeben haben. Sie haben gesagt: Wenn Wissen – das ist viel schlimmer – klar machen, dass ihr uns in Berlin öffentliche Flächen zur Verfügung durch die von Ihnen vorgeschlagene Gesetzesänderung stellt, wo wir das präsentieren können, wo wir uns selbst mehr Täter gefasst und dassmehr Straftaten verhindert verwirklichen können, dann würden diejenigen, die werden können. Das ist aber nicht richtig. Hier sind Sie wirklich künstlerisch tätig werden wollen, nicht an ande- auf dem Holzweg. ren Stellen sprayen, wo sie diese Ärgernisse erregen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist ein ganz wichtiger Punkt, wo wir etwas machen können. Herr Kollege Bergner hat hier am 30. Januar vergan- genen Jahres eine Rede gehalten, in der er behauptet hat, Gegen die anderen, also gegen diejenigen, die sich die Polizei habe auf einer Anhörung in Halle erklärt, sie dadurch selbst verwirklichen wollen, dass sie in der könne 70 Prozent der Taten aufklären, aber es komme zu U-Bahn, in der S-Bahn oder an Häuserwänden ihre Graf- nur drei Verurteilungen. Wir haben uns die Unterlagen fiti-Tags setzen, kommen Sie mit Ihren Gesetzesvorha- von der Staatsanwaltschaft in Halle kommen lassen. Es ben nicht an. ist genau umgekehrt: Im Jahre 2000 wurden gegen (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Geben Sie Ihre 490 Personen Strafverfahren wegen Graffitisprayens Blockade auf, Herr Ströbele!) eingeleitet. Drei dieser Verfahren wurden eingestellt, weil man der Meinung war, der Tatbestand sei nicht er- Da müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen. Wir füllt. Im Jahr 2001 wurden gegen 1 100 und im Jahrsind dabei. 2002 gegen 1 500 Personen Strafverfahren eingeleitet. In Hierbei handelt es sich nicht um ein Strafbarkeitsdefi- keinem dieser Fälle ist das Verfahren eingestellt worden zit im Strafgesetzbuch, das ausgeglichen werden soll, und keiner dieser Fälle hat mit einem Freispruch geen- sondern ganz einfach um ein Vollzugsdefizit, weil man det, weil die Voraussetzungen des heutigen Tatbestandes die entsprechenden Personen nicht erwischt. Das ist das der Sachbeschädigung nicht gegeben waren. Problem. Das sollten Sie den Hauseigentümern, den (Jörg van Essen [FDP]: Die Einstellung erfolgt Kommunalpolitikern und all denjenigen, die sich da- doch wegen Geringfügigkeit! Weil man kein rüber zu Recht beschweren, sa gen. Man sollte gemeinsam Gutachten machen kann! Ich habe es doch ge- darüber nachdenken, wie man mehr derer habhaft werden rade erklärt!) kann, die wirkliche Sachbeschädigungen anrichten, etwa 7534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Hans-Christian Ströbele (A) weil sie die Scheiben ganzer U-Bahnen so zerkratzen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) dass man nicht mehr hindurchschauen kann. In dieser Herr Ströbele zur Erwiderung. Hinsicht sollten wir uns gemeinsam etwas einfallen las- sen. Aber eine Gesetzesänderung, so wie Sie sie vorge- schlagen haben, ist ungeeignet und falsch. Deshalb wer- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE den wir unsere Stimme dafür nicht hergeben. GRÜNEN): Herr Kollege Bergner, können Sie mir erstens sagen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Zurufe von der CDU/CSU: Keine Fragen! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber es nützt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nichts, wenn er Ihnen was sagt!) Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen was diese Ihre Vorhalte mit den hier zu diskutierenden Dr. Christoph Bergner von der CDU/CSU-Fraktion das Gesetzesvorschlägen zu tun haben? Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): CSU]: Mit Ihren Ausführungen hat das etwas Herr Präsident! Herr Kollege Ströbele, Sie haben auf zu tun!) meinen Redebeitrag vom letzten Jahr verwiesen. Sie ha- ben Zahlen infrage gestellt, die ich von der Polizeidirek- Wo in den Gesetzentwürfen der CDU/CSU oder der FDP tion Halle erhalten habe und die mir der zuständigeoder des Bundesrates ist die Rede von Schallschützern Oberstaatsanwalt bestätigt hat. für Spraydosen? Zum Ersten möchte ich feststellen: Diese Zahlen sind (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ richtig. DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie machen sich ja lächer- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE lich!) GRÜNEN]: Welche?) Wo ist darin die Rede von Nachtsichtgeräten? Wo ist da- Ich kann Ihnen nur raten, diese Zahlen auch ernst zu rin die Rede von Firmen, die so etwas im Internet anbie- nehmen. ten? Sagen Sie mir, was das mit dem Thema der Erweite- Zweitens. Was die Interpretation der Einstellung der rung der Strafvorschrift über die Sachbeschädigung zu (B) Verfahren betrifft, verweise ich auf die Ausführungen tun hat! Was Sie hier betreiben, ist reiner Populismus.(D) des Kollegen van Essen: Die Einstellung eines Verfah- Das mag ja alles so sein, aber dann müssen Sie andere rens wegen Geringfügigkeit hat mit genau der Rechts- Gesetzentwürfe vorlegen oder in anderer Weise vorge- lage zu tun, die wir ändern wollen. hen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr ruf von der SPD: Das ist nicht wahr!) richtig!) Drittens möchte ich Sie auf einen Umstand aufmerk- Die zweite Frage. Verehrter Kollege Bergner, kennen sam machen. Ich bin mit dem Phänomen seit längerem Sie die Statistiken Ihrer Staatsanwaltschaft in Halle, die beschäftigt. Mir sind Internetseiten bekannt geworden, mir durch den Leitenden Oberstaatsanwalt von Halle am in denen Spraydosen mit Geräuschschutz angeboten11. Februar 2003, also kurz nach Ihrer Rede hier, über- werden, damit die Täter nachts nicht gefasst werdensandt wurden? Es handelt sich um die Statistiken für die können. Jahre 1999, 2000, 2001 und 2002. Sagen Sie mir bitte, welche der Zahlen, die ich vorhin in meiner Rede ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nannt habe, unrichtig sind und welche richtig sind! GRÜNEN]: Was hat das mit dem Gesetz zu Wenn Sie sich damit beschäftigen, müssen Sie zu dem tun?) Ergebnis kommen, dass beim rapiden Anstieg der Zah- Mir sind Internetseiten bekannt geworden, in denen ne- len auch bei der Staatsanwaltschaft in Halle keines der ben diesen Spraydosen mit Geräuschschutz Nachtsicht- Verfahren in den Jahren 2001 und 2002 eingestellt wor- geräte für Sprayer angeboten werden. Ich muss Sie fra- den ist oder mit einem Freispruch geendet hat, weil der gen: Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass wir esStraftatbestand der Sachbeschädigung nicht gegeben ge- dann, wenn das Strafgesetzbuch nicht eine eindeutigewesen ist. Antwort auf solches Verhalten gibt, irgendwann einmal (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Er will es nicht mit dem Tatbestand der organisierten Kriminalität zu kapieren! – Jörg van Essen [FDP]: Ich habe es tun haben werden? doch erläutert! Es geht um die Einstellung we- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen Geringfügigkeit! Darauf kommt es an!) neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Ich bitte Sie, dem Hohen Hause gegenüber dieses Zuge- [SPD]: Das steht doch längst unter Strafe! Hier ständnis zu machen. wird ein Popanz aufgebaut! – Joachim Stünker [SPD]: So was von verrückt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7535

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der! Dazu brauchten Sie nicht von Hamburg (C) Das Wort hat jetzt der Senator für Justiz der Freien hierher zu kommen!) und Hansestadt Hamburg, Dr. Roger Kusch. Mieter können nicht einfach eine Reinigungsfirma be- (Beifall bei der CDU/CSU) auftragen, sondern müssen vorher sehr unerfreuliche Ge- spräche mit ihrem Vermieter führen, denn auch dieser hat Probleme damit, alle paar Wochen Geld dafür aufzu- Senator (Hamburg): Dr. Roger Kusch, bringen, dass sein Mietshaus wieder schön aussieht. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ströbele, erlauben Sie mir zunächst eine kleine Korrek- Die Beseitigung von Graffiti entpuppt sich bei der tur. Ich habe mich nicht hierher verirrt. Ich bin ganz be- gegenwärtigen Rechtslage als Sisyphusarbeit: Kaum ist wusst hierher gekommen. ein Graffito beseitigt, da wird es schon durch mindestens ein neues ersetzt. Dies führt nicht nur bei den Opfern zu (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Resignation und Frustration, der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch schlimmer!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auch das wussten wir schon! Kommen Sie einmal Ich fühle mich in diesem Hohen Haus außerordentlich auf das Gesetz zu sprechen!) wohl, auch die Beamten des Bundesgrenzschutzes und der Po- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE lizei müssen oft erleben, dass trotz ihrer mühsamen Ar- GRÜNEN]: Der letzte Senator aus Hamburg beit ständig neue Graffiti entstehen. hier war aber nicht so!) Die Strafverfolgung läuft bereits deswegen in vielen weil uns in diesem wunderschönen Plenarsaal Graffiti Fällen leer, erspart bleiben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE In Hamburg wie in anderen Großstädten ist das Er- GRÜNEN]: In wie vielen Fällen in Hamburg? scheinungsbild leider nicht ganz so schön wie hier im In- Nennen Sie mal eine Zahl!) neren des Reichstages. Hamburg wird wie andere Groß- weil nach der Rechtsprechung – das wurde hier schon städte in erheblichem Maß von Schmierereien und mehrfach angesprochen – die Substanzverletzungein Verunstaltungen geprägt. Was für viele Jugendliche ein Tatbestandsmerkmal ist. Die Substanzverletzung nach- Zeitvertreib mit besonderem Kick ist, wird von der Be- zuweisen ist bei dem einzelnen Graffito, bei der einzel- völkerung überwiegend als Ausdruck von Zerstörungs- nen Tat oftmals so aufwendig, dass in Bezug auf die ein- lust und mangelndem Respekt vor fremdem Eigentum (B) zelne Tat kein Gutachten eingeholt wird (D) angesehen. (Jörg van Essen [FDP]: Und das Strafverfah- (Daniela Raab [CDU/CSU]: Richtig!) ren eingestellt wird!) Die Verschmutzungen werden oft als Symbol des Ver- und deshalb die Strafverfolgung bezüglich dieser einzel- falls der Ordnung gewertet, von wo aus der Weg zu wei- nen Tat – darauf haben Sie schon mehrfach hingewiesen, terer Zerstörung und Vandalismus geebnet ist. Graffiti Herr van Essen – eingestellt wird. führen bei vielen Bürgern zur Beeinträchtigung ihres persönlichen Sicherheitsgefühls, vor allem dann, wenn (Jörg van Essen [FDP]: Richtig! Genau das sie gehäuft auftreten, wie es an vielen Stellen in den ist es!) Großstädten mittlerweile üblich ist. Welche Dimension Die Einstellung der Verfolgung einer einzelnen, mögli- das Problem angenommen hat, kann ich an der Hambur- cherweise unbedeutenden Tat führt in der Masse zu dem ger Zahl zeigen. Wir haben derzeit jährlich 4 000 Ermitt- Aussehen der deutschen Großstädte, wie wir es kennen. lungsverfahren in Sachen Graffiti. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk Graffiti verursachen neben der Beeinträchtigung des Manzewski [SPD]: Wie viele Fälle konkret? – Sicherheitsgefühls der Bevölkerung auch erhebliche Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Kosten; denn die Beseitigung der Schmierereien ist zu- GRÜNEN]: Herr Senator, das stimmt nicht! meist mit hohem Aufwand verbunden. Diese Kosten be- Das wissen Sie!) lasten sowohl private Eigentümer als auch die öffentli- chen Haushalte. Meine Damen und Herren, die Problematik ist nicht neu; auch darauf wurde schon hingewiesen. Seit 1999 (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum laufen die Bemühungen, und zwar, wie der heutige Tag lesen Sie uns das nun vor?) zeigt, bislang ohne Erfolg. Trotz zahlreicher Gesetzes- Dabei trifft es die besonders hart, die es ohnehin schon initiativen ist bisher im Deutschen Bundestag kein Ge- schwer haben. Schmierereien finden sich viel häufiger setz zustande gekommen, das die Rechtslage verbessert. an Wohnblocks des sozialen Wohnungsbaus als an weit- Im Übrigen ist der Umgang mit Graffiti kein Einzel- läufigen Heckenanlagen in wohlhabenden Gegenden. fall, sondern symptomatisch für den politischen Stellen- wert der inneren Sicherheit in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- ruf von der SPD: Na sowas! – Wilhelm (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: So Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das weiß doch je- ein Unsinn!) 7536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Senator Dr. Roger Kusch (Hamburg) (A) Unser Graffiti-Antrag ist nicht der einzige, der in der (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: (C) letzten Zeit von der rot-grünen Bundestagsmehrheit boy- Keine Wahlkampfrede!) kottiert wurde. das ist die Maxime grüner Innen- und Rechtspolitik. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da wird schon wieder die „Bild“-Schlagzeile von mor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen für Hamburg produziert!) Es ist ja nicht ganz ungewöhnlich, dass kleine Koali- Denken Sie etwa an die Bundesratsinitiative zur verbes- tionspartner manchmal ein Vetorecht haben. Die Grünen serten Bekämpfung der Jugenddelinquenz, die bereits im nehmen es in Sachen innerer Sicherheit immer für sich August 2003 in den Bundestag eingebracht wurde, oder in Anspruch. die Gesetzesinitiative Baden-Württembergs zur Erweite- Mag die SPD Graffiti als kriminelle Taten ansehen – rung des Einsatzes der DNA-Analyse bei Sexualstrafta- entscheidend ist die grüne Sicht: Graffiti als harmlos- ten. Sie teilt ein ähnliches Schicksal, denn sie wurde be- bunte Entfaltung jugendlichen Übermuts. Diese Sicht, reits im Juli 2003 in die Ausschüsse überwiesen, wo sie der die SPD zwar nicht in Worten, aber in Taten folgt, noch heute schmort. macht der Polizei unendlich viel überflüssige Arbeit und (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kostet Staat und Gesellschaft viel Geld, das dringend an NEN]: Steht schon im Bundesgesetzblatt! – anderer Stelle gebraucht würde. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht ganz auf dem Laufenden! Ihre Reden- schreiber haben da irgendetwas falsch mitbe- Ich fordere die Koalitionsfraktionen daher auf, ihren kommen!) Widerstand gegen den vom Bundesrat eingebrachten Ich frage mich immer wieder, warum SPD und Grüne Gesetzentwurf aufzugeben. das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht ernst (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nehmen. Eine denkbare Erklärung wäre, dass die früher Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dafür für Rot-Grün undenkbaren Auslandseinsätze der Bun- hätten Sie nicht unbedingt hierher kommen deswehr derart viel Kraft und Überwindung gekostet ha- müssen! – Weitere Zurufe von der SPD und ben bzw. immer noch kosten, dass es nicht auch noch zur dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Überwindung innenpolitischer Tabus reicht. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: [Salzgitter] [SPD]: Kommen Sie doch zum Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hartmann von (B) Thema!) der SPD-Fraktion. (D) Nach meiner Beobachtung rot-grüner Regierungsarbeit im Bund und in den Ländern muss die Antwort aller- Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): dings differenzierter ausfallen. Nicht nur Bundesinnen- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- minister Schily verdient in mancherlei Hinsicht Aner- ren! Herr van Essen, ich weiß, dass Sie bei dem Thema kennung, aus hamburgischer Sicht insbesondere für die Graffiti schon lange und ernsthaft engagiert sind. Des- hervorragende Arbeit, die der Bundesgrenzschutz für die halb habe ich es mir vorhin zu Herzen genommen, als Sicherheit in unserer Stadt leistet. Sie sagten: Mit Wahlkampf hat das heute nichts zu tun. (Joachim Stünker [SPD]: Wird Zeit, dass Ham- Aber nachdem ich die Rede von Herrn Kusch gehört burg eine andere Regierung bekommt!) habe, der zum Sachverhalt überhaupt nichts beigetragen hat, muss ich sagen: Da wurden Sie durch Ihren Vorred- Auch in der Justizministerkonferenz gibt es vielfachener leider Lügen gestraft. Übereinstimmung zwischen CDU, CSU, SPD und FDP. Der schleswig-holsteinische Innenminister schließlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erhebt Forderungen zur DNA-Analyse, die in jedem DIE GRÜNEN) CDU-Wahlprogramm stehen könnten. Es wäre ja auch möglich gewesen, dass ein Justizsenator, Aber was nützt diese – gegenüber früheren Positionen der die Praxis kennt oder kennen müsste, einiges aussagt durchaus gewandelte – Einstellung im politischen All- dazu, wie man nun in Hamburg gegen Sprayer vorgeht, tag? Jedenfalls dort überhaupt nichts, wo die SPD in ei- was man nun im Einzelnen ermittelt. – Nichts davon, nur ner rot-grünen Koalition regiert. ein allgemeines Referat über rechtspolitische Grundsatz- fragen! Das bringt uns nicht weiter, meine Damen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Herren. Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sind Sie Innen- oder Justizsenator?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Für die Grünen im Bund und in den Ländern ist alleiniger Maßstab ihres innenpolitischen Handelns, das verschro- Damit wir uns nicht missverstehen: Wenn eine Haus- bene Geborgenheitsgefühl ihrer kleinen, aber politisch wand beschmiert wird, wenn Bahnen beschmutzt wer- relevanten Klientel zu bedienen. Generelles Misstrauen, den, Scheiben zerkratzt werden, Sitze aufgeschlitzt wer- ja sogar Widerwille gegen staatliche Autorität, gegen Po- den, dann hat das nichts mit jugendlichem Übermut zu lizei, Staatsanwaltschaft, geschlossenen Strafvollzug, tun, sondern das ist eine Straftat, die zu ahnden ist. Da Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7537

Michael Hartmann (Wackernheim) (A) sind wir uns völlig einig, da liegen wir nicht auseinan- gleich viele Fälle geklärt. Der Punkt, warum viele Ver- (C) der: Das ist Vandalismus; dem muss begegnet werden. fahren eingestellt werden, ist doch nicht der, dass die Richter nonchalant darüber hinweggehen – ob der § 303 Worüber wir streiten – deshalb sollten wir die Gräben des Strafgesetzbuches geändert wird oder nicht. Der nicht mehr vertiefen, als es unbedingt notwendig ist –, Punkt ist der, dass sie niemanden erwischen, dass sie die ist doch die Frage – und so verstehe ich Sie auch, Herr Leute nicht kriegen. Wir haben eine bundesdurchschnitt- van Essen –: Wie bekämpft man das, wie macht man das liche Aufklärungsquote von etwa 30 Prozent; das zeigt gescheit, klug und effizient? Da sagen wir: Wir brauchen doch, wo das wahre Defizit liegt. ein entschlossenes Vorgehen; das ist vor allen Dingen mit polizeilichen Mitteln zu erreichen. Nicht gedient ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ uns mit einer bloßen symbolischen Politik, DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Im Übrigen glaube ich, dass es sinnvoller ist, bei- spielsweise im Sinne einesTäter-Opfer-Ausgleiches, die einen Paragraphen verändert und im Übrigen mit Be- die Lümmel, die eine Bahnunterführung beschmutzen, grifflichkeiten, die unbestimmt sind, arbeitet. Es hilftda hinzustellen und das abschrubben zu lassen, als ein- nicht, mit unbestimmten Rechtsbegriffen, mit quasi- fach nur einen Paragraphen zu verändern. ästhetischen Begriffen wie dem der Verunstaltung zu ar- beiten, wenn es darum geht, eine millimetergroße Rege- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lungslücke zu schließen. DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Ganz richtig!) Deshalb bitte ich, dass wir vielleicht einen Moment lang nicht nur die rein strafrechtliche Seite sehen – die Um das noch einmal zu sagen: Wir bewegen uns im ist nur ein Aspekt und sie ist bei weitem nicht der wich- Bereich eines nur millimeterweit ungeregelten Sachver- tigste in der Fragestellung –, sondern auch einmalhalts – einverstanden. Es ist weder geheim noch verbo- schauen: Wie sieht das denn nun aus mit den Möglich- ten, hier auszusprechen: Auch wir hätten uns gewünscht, keiten, die der Polizei zur Verfügung stehen – Ländersa- dass wir einen Schritt weiterkommen. Allerdings ist das che im Übrigen –, und mit den Mitteln, die den Kommu- mit Ihrem Verunstaltungsbegriff nicht möglich. nen zur Verfügung stehen? (Jörg van Essen [FDP]: Nein!) Es gibt zwei klassische Begriffe in der Polizeiarbeit, – Herr van Essen, da Sie gerade dazwischenrufen, muss und zwar den der Prävention und den der Repression. ich Ihnen sagen: Ich sehe nicht, dass der Gesetzentwurf Wenn man sich umschaut und schlau macht, was ge-zurückgezogen wurde. Wir reden also über drei Gesetz- schieht – insbesondere in den Ballungszentren, wo das entwürfe: einen der Union, einen der FDP und einen des (B) Problem am drängendsten ist –, findet man doch guteBundesrates, (D) Ansätze: bei der Prävention beispielsweise, dass die Kommunen Flächen zur Verfügung stellen, dass Jugend- (Jörg van Essen [FDP]: Ist doch betreuer in die Schulen gehen und da versuchen, die jun- für erledigt erklärt!) gen Menschen zu betreuen, sich um sie zu kümmern und den wir als diskussionswürdig betrachten. zu verhindern, dass sie illegal sprayen, im Übrigen auch dadurch, dass Eltern eingebunden werden; denn das Pro- Versuchen Sie doch bitte nicht, mit symbolischer Po- blem, über das wir reden, ist auch ein Problem der Erzie- litik diesen Bereich zu regeln, hung, weniger aber eines des Strafrechtes. (Jörg van Essen [FDP]: Ist doch Zum anderen gibt es die Mittel der Repression, die für erledigt erklärt!) klassischen polizeilichen Mittel. Wo das gemacht wird, sondern helfen Sie mit, dass wir über polizeiliche Arbeit funktioniert das auch und erhöht sich auch deutlich die und über Prävention auf kommunaler Ebene effektiv in Aufklärungsquote, Herr Bergner. Denn der alte Satz gilt der Sache vorankommen! Denn: Nicht das Strafmaß, – da können Sie Gesetze verändern, wie Sie wollen –: sondern das Risiko der Überführung schreckt ab. Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn! Angesichts dieses drängenden Problems wünsche ich (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE uns ernsthaftes Bemühen, wenig Schaufenster und we- GRÜNEN]: Auch die Hamburger!) nig Wahlkampf. Wir müssen versuchen, die Aufklärungsquote zu he- Vielen Dank. ben. Das geht beispielsweise, indem man anlassbezo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gene Observationen durchführt. DIE GRÜNEN) (Markus Grübel [CDU/CSU]: Es wird einer er- fasst und dann muss man ihn laufen lassen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wo das gemacht wird, steigt die Aufklärungsquote, und Das Wort hat jetzt der Kollege Roland Gewalt von der die Kriminalitätsrate nimmt ab. Es geht, indem man ei- CDU/CSU-Fraktion. nen schnappt und damit zugleich viele Fälle löst: erstens, weil das auch organisiert geschieht – kein Zweifel –, Roland Gewalt (CDU/CSU): zweitens, weil die Sprayerinnen und Sprayer sich ver- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- ewigen, mit ihren Tags, mit ihren Unterschriften. Daslege Hartmann, Sie haben eben den Täter-Opfer-Aus- heißt, wenn man einen Sprayer ermittelt hat, hat man zu- gleich angesprochen: Die Täter sollen das Graffiti selbst 7538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Roland Gewalt (A) beseitigen. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass Noch im November letzten Jahres hat der Kollege(C) man in einem Rechtsstaat das Vorliegen eines Straftatbe- Wiefelspütz dem Berliner Verein mit dem schönen Na- standes braucht, ehe dieser Täter-Opfer-Ausgleichmen „Noffiti“ versprochen, dass bis Weihnachten ein durchgeführt werden kann. Gesetzentwurf von Rot-Grün in denBundestag einge- bracht wird. Wir müssen heute feststellen: wieder Fehl- (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Hartmann anzeige. [Wackernheim] [SPD]: Es gibt auch das Zivil- recht! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- DIE GRÜNEN]: Zivilrecht! § 823 BGB!) neten der FDP) Bereits zum dritten Mal hat derBundesrat den Ver- Dabei scheinen selbst die Grünen Herrn Ströbele in sei- such unternommen, eine dringend notwendige Verände- ner Fundamentalopposition gegen ein Graffiti-Bekämp- rung der §§ 303 und 304 des Strafgesetzbuches zu errei- fungsgesetz zumindest nicht mehr in Gänze zu folgen. chen. Wir brauchen endlich eine Vorschrift, die für die Herr Kollege Beck, Nordrhein-Westfalen, das ja be- Polizei und die Staatsanwaltschaft kein Hindernis, son- kanntlich von Ihnen mitregiert wird, hat nämlich im dern eine Hilfestellung bei der Strafverfolgung vonBundesrat zugestimmt. Graffitischmierern ist. Deshalb ist auch von Mal zu Mal die Mehrheit im Bundesrat für eine Gesetzesänderung (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja!) größer geworden. Ich darf darauf verweisen, dass es die Man kann doch niemandem in diesem Land mehr er- Justiz- und Innenminister der SPD sind, die mittlerweile klären, dass eine dringend notwendige Strafrechtsno- gemeinsam mit der CDU und der CSU immer drängen- velle, die mit Ausnahme von Schleswig-Holstein von al- der eine Gesetzesänderung einfordern. Am Sonntag ti- len Bundesländern in dieser Republik gewollt wird, an telte eine Berliner Tageszeitung: Innensenator Körting einer Handvoll – mehr sind es wirklich nicht – grüner (SPD): Sprayer in den Knast. – Ich will darauf verwei- Bundestagsabgeordneten immer wieder scheitert. sen, dass es sich bei dem Senator um einen Ihrer Landes- politiker handelt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Dieter Thomae [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das Gesetz sieht ein Graffiti ist weit mehr als nur ein Ärgernis, Herr Strafmaß von bis zu zwei Jahren vor!) Ströbele. Es hat sich in Deutschland zu einer hochge- fährlichen Kriminalitätsform entwickelt. Herr Hartmann, ich gestehe es als Christdemokrat nur ungern ein, dass es Ihr Parteifreund, der ehemalige Jus- (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des (B) tizsenator und heutige Innensenator von Berlin Ehrhart BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) Körting, war, der den ersten Entwurf eines Graffiti-Be- kämpfungsgesetzes in den Bundesrat eingebracht hat. – Ihr Lachen kann ich überhaupt nicht verstehen. Sie haben ihn damals wie heute aus Rücksicht auf Herrn (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ströbele im Regen stehen lassen. Das ist die Wahrheit. GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung, Herr (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Kollege! Reden Sie doch mal mit den Jungs!) Jürgen Koppelin [FDP]) – Sie haben offensichtlich die Fakten noch nicht zur Frau Schubert, die Nachfolgerin von Herrn Senator Kenntnis genommen, Herr Ströbele. Denn allein in Ber- Körting als Justizsenator – ebenfalls von der SPD –, hat lin gibt es nach Schätzungen der Berliner Polizei 3 000 deshalb im letzten Jahr im Bundesrat eindringlich an den bis 4 000 Sprayer, die nicht nur am Wochenende spora- Bundestag appelliert, endlich eine Gesetzesänderungdisch zur Spraydose greifen, sondern ganze Wohnviertel herbeizuführen. Ich darf aus dieser Rede zitieren: der Stadt in mehrere Hundert Gruppen aufgeteilt haben, also organisiert auftreten. Das ist die Wahrheit. Der – auch strafrechtlich – wirksame Schutz öffent- lichen und privaten Eigentums sowie das Erschei- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian nungsbild unserer Städte und Gemeinden gebieten, Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie dass der Gesetzgeber unverzüglich handelt. haben Gewaltfantasien! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das sind die Wähler von Wo Frau Schubert Recht hat, hat sie Recht. Von „unver- Ströbele!) züglich“ kann im Bundestag wirklich keine Rede sein, nachdem bereits zwei Versuche des Bundesrates sowie Die Gewalttätigkeit unter diesen rivalisierenden mehrere Versuche der CDU/CSU-Fraktion und der FDP- Sprayergruppen, auch die Waffengewalt – Herr Ströbele, Fraktion immer wieder an der rot-grünen Mehrheit im das ist wahrlich nicht komisch –, nimmt ständig zu. Bundestag gescheitert sind. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Es sieht so aus – ich muss hinzufügen: leider –, dass GRÜNEN]: Das ist Quatsch! – Jerzy Montag sich die SPD-Fraktion wiederum dem Druck von Herrn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Ströbele und seiner Fraktion beugen will. reine Unsinn! Nicht von einem Fall können Sie berichten! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: [SPD]: Sie tun so, als stünde das nicht im Wo er Recht hat, hat er Recht!) Strafrecht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7539

Roland Gewalt (A) Es gibt ein hohes Maß an Beschaffungskriminalität und regelung für die Umsatzbesteuerung von Alt- (C) eine zunehmende Vernetzung mit der Drogenszene. Das sportanlagen sind die Erkenntnisse der Berliner Polizei und des rot-ro- ten Berliner Senates. Deshalb will auch der Senat, dem – Drucksache 15/2132 – ja die SPD angehört, eine Gesetzesänderung. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Der Berliner SPD-Landesvorsitzende Peter Strieder Sportausschuss – Sie sehen, ich versuche immer wieder, Brücken zu Ih- d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten nen zu bauen – hat sich im letzten Jahr endlich der For- Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des derung der Berliner Verkehrsbetriebe, der Haus- und Grundgesetzes Grundbesitzervereine und der CDU angeschlossen und will nun im rot-roten Senat erreichen, dass Polizei und – Drucksache 15/2136 – Ordnungsämter nach skandinavischem Vorbild Graffiti- Überweisungsvorschlag: bekämpfungsgruppen bilden. Dies ist ohne Frage ein Finanzausschuss (f) Schritt in die richtige Richtung. Innenausschuss Rechtsausschuss (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Tun Sie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und doch nicht so, als wenn wir dagegen wären!) Technikfolgenabschätzung Aber Sie sollten solchen Ermittlungsgruppen endlich Haushaltsausschuss eine handhabbare Strafvorschrift geben, die nicht aus e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Angst vor hohen Gutachterkosten immer wieder zur Ein- gebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem stellung von Verfahren führt! Internationalen Maasübereinkommen vom 3. Dezember 2002 Es ist allerhöchste Zeit. Oder um es mit den Worten Ihrer Parteifreundin Frau Schubert zu sagen: Handeln – Drucksache 15/2147 – Sie unverzüglich! Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Vielen Dank. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine un- nötige gewalttätige Rede!) f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- (B) rung des Fleischhygienegesetzes, des Geflügel- (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fleischhygienegesetzes und des Lebensmittel- Ich schließe die Aussprache. und Bedarfsgegenständegesetzes und sonstiger Da zu diesem Tagesordnungspunkt keine Abstim- Vorschriften mungen erfolgen, gehen wir gleich zum nächsten Tages- – Drucksache 15/2293 – ordnungspunkt über. Ich rufe die Tagesordnungspunkte Überweisungsvorschlag: 22 a bis 22 f sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 22 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Er- ZP 3a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- richtung des Bundesamtes für Bevölkerungs- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- schutz und Katastrophenhilfe rung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von – Drucksache 15/2286 – Bezugspersonen des Kindes Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) – Drucksache 15/2253 – Verteidigungsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem See- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- verkehrsabkommen vom 10. Dezember 2002 gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- zwischen der Europäischen Gemeinschaft und trag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesre- ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Re- publik Deutschland und der Republik Polen gierung der Volksrepublik China andererseits über die Ergänzung des Europäischen Über- einkommens vom 20. April 1959 über die – Drucksache 15/2284 – Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichte- Überweisungsvorschlag: rung seiner Anwendung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – Drucksache 15/2254 – c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Überweisungsvorschlag: Entwurfs eines … Gesetzes zur Ergänzung des Rechtsausschuss (f) Gesetzes zur Sicherstellung einer Übergangs- Innenausschuss 7540 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Berichterstattung: (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Abgeordnete Jörg-Otto Spiller trag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesre- publik Deutschland und der Republik Polen Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- über die Ergänzung des Europäischen Auslie- tung durch die Bundesregierung eine Entschließung an- ferungsübereinkommens vom 13. Dezember zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- – Drucksache 15/2255 – lung ist einstimmig angenommen. Überweisungsvorschlag: Zusatzpunkt 4 a: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Verfahren ohne Debatte. zu der Streitsache vor dem Bundesverfas- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an sungsgericht 2 BvK 1/03 die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu – Drucksache 15/2348 – überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b so- wie Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt sich um die Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-empfehlung, im Verfassungsstreitverfahren eine Stel- sprache vorgesehen ist. lungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, ei- nen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt Tagesordnungspunkt 23 a: dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Zweite Beratung und Schlussabstimmung desBeschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Zusatzpunkt 4 b: eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. April 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- land und der Französischen Republik über die ausschusses (6. Ausschuss) Festlegung der Grenze auf den ausgebauten Übersicht 5 Strecken des Rheins über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- (B) – Drucksache 15/1650 – ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- (D) gericht (Erste Beratung 69. Sitzung) – Drucksache 15/2347 – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- gen Ausschusses (3. Ausschuss) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- – Drucksache 15/2196 – empfehlung ist einstimmig angenommen. Berichterstattung: Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Abgeordnete Monika Griefahn Dr. Aktuelle Stunde Dr. Ludger Volmer auf Verlangen der Fraktion der FDP Harald Leibrecht Haltung der Bundesregierung zu den bereits Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache jetzt erkennbaren Auswirkungen der Gesund- 15/2196, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer dem Ge- heitsreform setzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für ist einstimmig angenommen. den Antragsteller, die FDP-Fraktion, der Kollege Dr. Dieter Thomae das Wort. Tagesordnungspunkt 23 b: (Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salz- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gitter] [SPD]: Die Lobbyisten an die Front! – richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Peter Dreßen [SPD]: Was macht die Pharma- der Unterrichtung durch die Bundesregierung industrie?) Vorschlag für einen Beschluss des Europäi- schen Parlaments und des Rates zur Auflage Dr. Dieter Thomae (FDP): eines Aktionsprogramms der Gemeinschaft Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- zur Förderung von Maßnahmen auf dem Ge- ren! Dieses Gesetz wurde von der SPD, von den Grünen biet des Schutzes der finanziellen Interessen und leider auch von der CDU/CSU verabschiedet. Wir der Gemeinschaft sind ausgestiegen, weil es ganz entscheidende Gründe KOM (2003) 278 endg.; Ratsdok. 11237/03 dafür gab, dem Gesetz nicht zuzustimmen. – Drucksachen 15/1547 Nr. 2.83, 15/2048 – (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7541

Dr. Dieter Thomae (A) Der erste Grund war, dass das Finanztableau nichtWir können aber der Art und Weise, wie die Gebühr in (C) stimmte. Das beweist sich heute. den Praxen erhoben wird, nicht zustimmen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Der zweite Grund war, dass wir wichtige Forderungen Hier wird ein Verwaltungsaufwand betrieben, der über- wie die Festschreibung des Arbeitgeberanteils nichthaupt nicht zu akzeptieren ist. durchsetzen konnten. (Beifall bei der FDP) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Gott sei Wir haben Ihnen genug Vorschläge gemacht. Ich Dank!) weiß, Sie werden jetzt wieder sagen, dass Sie die Kos- Der dritte Grund war, dass in diesem Gesetz keine Kapi- tenerstattung ablehnen. Ich sage Ihnen aber voraus: talbildung zur Finanzierung der anstehenden Alterspyra- Letztlich werden Sie dieses System nur mit einer ver- mide vorgesehen war. nünftigen Selbstbeteiligung im Rahmen einer Kostener- stattung in den Griff bekommen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Hildegard Das sind für uns drei entscheidende Gründe gewesen. Müller [CDU/CSU]) Wir stellen jetzt fest, dass unsere Überlegungen und Die Ministerin lässt alles schleifen. Im September unsere Argumente stimmen; wurde das Gesetz verabschiedet. Ich kann leider nur (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein!) Stichworte nennen, zum Beispiel die Problematik der chronisch Kranken. Natürlich sind auch wir dafür, dass denn die Zusage der Ministerin, dass die Beitragssätze es für chronisch Kranke Begrenzungen gibt; das ist über- ab 1. Januar nennenswert gesenkt werden und damit eine haupt kein Thema. Aber wenn Sie ein solches Gesetz auf Kompensation für die Patienten erfolgen wird, trifft den Weg bringen, Frau Ministerin, dann müssen Sie in- nicht zu. Sie ist unglaubwürdig. nerhalb von drei Monaten in der Lage sein, zusammen (Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salz- mit der Selbstverwaltung zu definieren, wer unter diese gitter] [SPD]: Es ist falsch, was Sie gerade ge- Regelung fällt und wer nicht. sagt haben!) (Beifall bei der FDP) Die Fakten zeigen vielmehr, dass die Krankenkassen Das schüfe Vertrauen bei den Patienten. Hier ist ein Feh- stark verschuldet sind und die Verschuldungsgrenze hö- ler gemacht worden. her ist, als sie angegeben wurde. Sie werden feststellen: (B) Aufgrund von Basel II werden die Krankenkassen in Zu- Sie argumentieren, der alte Bundesausschuss habe an- (D) kunft bei der Kreditlinie noch enger begrenzt werdengefangen; der neue beginne jetzt seine Arbeit. – Vor und die Haftungsthematik für den Vorstand der einzel- Ende Januar werden Sie nicht entscheiden können, wer nen Krankenkassen wird eine exorbitante Rolle spielen. unter die Chronikerregelung fällt und wer nicht. Ich schätze sogar, dass es erst im Februar so weit sein wird. Von daher sage ich Ihnen voraus: Es wird nicht dazu kommen – so lautete das Versprechen der Ministerin, das Bei rezeptfreien Arzneimitteln haben wir Liberale nicht eingelöst wurde –, dass die Beiträge in diesem Jahr völlig andere Vorstellungen. Dass Arzneimittel, die nur deutlich gesenkt werden. eine geringe Wirkung haben, von gesetzlichen Kranken- kassen nicht mehr ersetzt werden, finde ich völlig schi- (Peter Dreßen [SPD]: Warten Sie es doch ab! zophren. Jetzt haben Sie aber diese Entscheidung getrof- Immer diese Schwarzseherei!) fen und eine Sonderregelung versprochen. Wie sieht sie – Sie werden aufgrund der Fakten kaum gesenkt werden aus? Kein Mensch weiß heute, wie diese Sonderregelung können. aussieht. Ärzte und Patienten sind verunsichert. Ich komme jetzt zu den handwerklichen Fehlern. Ich Meine Damen und Herren, wie wollen Sie dies be- höre immer wieder, dass die Ministerin davon spricht, werkstelligen? Diese schwierige Thematik werden Sie sie sei unschuldig, die Selbstverwaltung würde falsch nicht innerhalb von zwei Monaten aufarbeiten können. handeln. Aber die Ministerin trägt die volle Verantwor- Sie wissen, wie schwer das ist. Wer in dieser Thematik tung. steckt, weiß, dass es eine irre schwere Aufgabe ist, hier eine vernünftige Abgrenzung zu finden. Von daher ha- (Beifall bei der FDP) ben wir Liberale immer gesagt: Wir wollen diese Ab- Fangen wir mit der Praxisgebühr an. Die FDP hat in grenzung nicht. Wir wollen eine generelle Selbstbeteili- allen gesundheitspolitischen Diskussionen gesagt, dass gung bei Arzneimitteln. Dies käme den Patienten, die es nicht ohne Zuzahlung geht. Für die Zuzahlung muss diese OTC-Präparate und andere Arzneimittel wollen, es allerdings eine Härtefall- und eine Überforderungsre- zugute. gelung geben. Dazu stehen wir und das bleibt auch so. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Zur Thematik „Betriebsrente und Direktversiche- Ohne eine vernünftige Selbstbeteiligung, die einerung“ kann ich nur sagen: Die Aussagen gestern im Ge- steuernde und eine Finanzierungswirkung hat, werden sundheitsausschuss waren für mich völlig verwirrend. wir die Gesundheitskosten nicht in den Griff bekommen. Ich habe das Gefühl, dass das Ministerium überhaupt 7542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Dieter Thomae (A) nicht weiß, wie es diesesThema anpacken und lösen Ich sage hier sehr klar: Bei diesem Gesetz sehe ich an(C) soll; keiner Stelle Änderungsbedarf. (Beifall bei der FDP) (Jürgen Koppelin [FDP]: Hört! Hört!) denn nach den Aussagen der Staatssekretärin war ges- Ich bin der festen Überzeugung, dass wir seine Wir- tern Chaos. Da wurde eineFormulierung in das Gesetz kungsweise sehr genau beobachten müssen. Das haben eingefügt und man weiß nicht, wie man sie handeln soll. wir aber miteinander besprochen. Das Ministerium wird Das ist eine Katastrophe. ein Auge darauf haben. Wenn Sie nicht in der Lage sind, mit den Fachleuten (Jürgen Koppelin [FDP]: Nur eines?) im Ministerium darüber zu entscheiden, wie ein verab- schiedetes Gesetz zu handhaben ist, wird es Zeit, abzu- Wir brauchen jetzt den festen Willen aller Beteiligten danken. zur Umsetzung. Wir haben daher kein Verständnis für Blockaden, wie sie sich im Augenblick an der einen oder Herzlichen Dank. anderen Stelle auftun. (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – Dieses Gesetz ist nicht in einer Nacht-und-Nebel-Ak- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Für eine tion über uns gekommen, bestätigt in einem KBV- solche unsinnige Rede hätten Sie sich nicht zu Schriftstück, im Gegensatz zum Lahnstein-Gesetz. Viel- bedanken brauchen!) mehr hatten wir den ganzen Sommer über einen offenen Diskussionsprozess. Am Ende des Sommers stand für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Selbstverwaltung, für die Ärzte und für die Kranken- Das Wort hat nun die Kollegin Gudrun Schaich-kassen klar fest, was sie inhaltlich auszufüllen haben. Walch von der SPD-Fraktion. Es ist richtig und gut, dass die Ärzte und die Kranken- (Beifall bei der SPD) kassen auszufüllen haben, wie die einzelnen Leistungen auszugestalten sind. An diesem Punkt müssen wir als Gudrun Schaich-Walch (SPD): Parlament sie mit Unterstützung des Ministeriums pa- Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wenn hier cken und ihnen deutlich machen: Wir brauchen so jemand abdanken muss, dann ist es die FDP mit ihren schnell wie möglich die Festlegung, wer als Chroniker Vorstellungen zur Gesundheitspolitik. gilt und wie es mit der Kostenübernahme der Transporte aussieht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der FDP) Wenn man kein staatliches Gesundheitssystem (B) möchte – es bestand Konsens, dass dies gewollt ist –,(D) Sie bejammern hier ernsthaft dann muss man als Parlamentarier klar dazu stehen, dass (Zuruf von der FDP: Sie haben die Selbstverwaltung das, was sie zu tun hat, auch ein- Murks gemacht!) löst. Das ist ihre letzte Chance. eine überzogene Inanspruchnahme durch Versicherte (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der und Patienten. Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das habe GRÜNEN]) ich überhaupt nicht gesagt!) Die Selbstverwaltung kann jetzt deutlich machen, dass Was glauben Sie, wie es mit Ihrer Kostenerstattung aus- sie willens ist, dazu beizutragen, dass sich die Qualität sehen würde? Dann müsste jeder in der Praxis erst ein- im Gesundheitswesen verbessert, dass wir bei den Leis- mal das Geld hinlegen, bevor der Arzt loslegt. tungen ein vernünftiges Preis-Leistungs-Verhältnis be- kommen und dass die Beiträge gesenkt und langfristig Wer hat denn bei den Verhandlungen permanent er- stabilisiert werden können. Das sind die wesentlichen klärt, wir brauchten die Selbstverwaltung, sie könne es Punkte, die sie umzusetzen hat. Wenn sie diese Chance am besten? Wir teilen die Einschätzung, dass sie es am nicht nutzt, dann müssen wir darüber diskutieren, ob besten können müsste. Im Moment zeigt sie das aberman in der Zukunft andere politische Wege einschlägt nicht. Sie waren bis zum Toresschluss bei den Gesprä- und die Selbstverwaltung nicht mehr in dem Maße, wie chen dabei. Ich möchte hier daran erinnern, dass allees jetzt der Fall ist, beteiligt. FDP-mitregierten Länder im Bundesrat zugestimmt ha- ben. Da gab es keine Ausnahme. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lassen Sie mich jetzt noch sagen, worauf ich eine ge- Jürgen Koppelin [FDP]: Doch! – Dr. Dieter wisse Hoffnung setze. Ich setze meine Hoffnung auf den Thomae [FDP]: Hamburg!) neu zusammengesetzten Bundesausschuss, und zwar deshalb, weil ihm Patientenvertreterinnen und Patienten- Was Sie jetzt hier abliefern, ist eine Form von purem vertreter angehören. Ich gehe davon aus, dass die Minis- Populismus. Sie sagen: Zwölf Tage nach In-Kraft-Treten terin bestimmte Vorschläge zu Recht beanstandet hat, der Gesundheitsreform stellen wir fest, dass es nicht weil sich die Belange der Patienten in ihnen nicht genü- funktioniert. gend widergespiegelt haben. In dieser Frage müssen wir (Zuruf von der FDP: Praxisgebühr!) zu besseren Entscheidungen kommen. Ich gehe aber Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7543

Gudrun Schaich-Walch (A) auch davon aus, dass wir keine Zeit haben, darauf bissondern um Fragen, die die Selbstverwaltung im Ge-(C) Ende Januar dieses Jahres zu warten. sundheitswesen klären muss. Zum Abschluss noch etwas zu der Härtefalllösung: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich bin der Überzeugung, dass die Härtefallregelung, die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine Zuzahlung von 2 Prozent und für Chroniker eineDazu gehören beispielsweise folgende Fragen: Wer ist Zuzahlung von 1 Prozent des gesamten Bruttoeinkom- als chronisch Kranker anerkannt? Wer finanziert in Zu- mens vorsieht, gerecht ist, weil sie alle entsprechend ih- kunft notwendige Taxifahrten? – Natürlich werden die rer Wirtschaftskraft einbezieht und niemanden überfor- notwendigen Taxifahrten auch in Zukunft von der Kran- dert. kenkasse bezahlt; aber hier muss der entsprechende Per- (Zuruf von der FDP: Das macht sie!) sonenkreis festgelegt werden. – Wie sieht es mit Zuzah- lungen für Heimbewohner aus? Ich erwarte, dass wir gemeinsam, wie wir auch den Kon- sens beschlossen haben, für die Umsetzung eintreten und Wenn das zuständige Gremium aber bis kurz vor Weih- in diesem Lande deutlich machen, welche Ziele wir ha- nachten wartet und erst dann eine Entscheidung trifft – sie ben. Dabei sollten wir auch stark für die Selbstverwal- ist an dieser Stelle von der Ministerin zu Recht blockiert tung eintreten. worden –, dann muss man sich nicht wundern, dass am 1. Januar zu vielen Punkten Unklarheit herrscht. Ich danke Ihnen. Aber an dieser Stelle beginnt nun Ihre Verantwortung, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Ministerin. Der Gemeinsame Ausschuss hat in die- DIE GRÜNEN) ser Woche verkündet, er wolle erst Ende Januar über diese zentralen Fragen entscheiden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Am 26. Januar!) Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Storm von der CDU/CSU-Fraktion. Das ist inakzeptabel; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Andreas Storm (CDU/CSU): denn diese Fragen brennen den Betroffenen tagtäglich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist un- unter den Nägeln. Hier ist Gefahr im Verzug; rasches übersehbar, dass wenige Tage nach dem In-Kraft-Treten Handeln ist gefordert. Ich fordere Sie deshalb nach- der Gesundheitsreform erhebliche Anlaufschwierigkei- drücklich auf, Frau Ministerin: Sorgen Sie dafür, dass ten zu verzeichnen sind. Man muss aber auch feststellen, diese noch offenen zentralen Fragen unverzüglich ge- (B) (D) dass wesentliche Teile der Reform überhaupt noch nicht klärt werden! Wir können auf die Klärung dieser Fragen, wirken konnten. die entscheidend für die Akzeptanz der Reform ist, nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des bis Ende Januar oder Anfang Februar warten. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist in den letzten Tagen immer wieder gefordert Das betrifft beispielsweise die neuen Regelungen für die worden, man müsse das Gesetz nachbessern und novel- Qualitätssicherung und die neuen Versorgungsformen lieren. Das ist Unsinn. Erst muss die Reform so anlau- wie die integrierte Versorgung, all das, was in den nächs- fen, wie es vorgesehen ist. ten Monaten anlaufen wird. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Trotzdem führt kein Weg daran vorbei: Wenn ein Dia- Richtig!) lysepatient – das ist kein Einzelfall –, der zu 100 Prozent Es macht jetzt beispielsweise keinen Sinn, gesetzliche gehbehindert ist und in dieser Woche eine Taxifahrt für Ausnahmen bei der Praxisgebühr zu beschließen. Das eine Entfernung von 50 Kilometern braucht, von seiner gilt auch für die Antibabypille. Bei einer begrenzten Krankenkasse keine Aussage bekommt, ob seine Fahr- Zahl von Leistungen, für die Rezepte über einen länge- kosten auch in Zukunft übernommen werden – so wird ren Zeitraum hinweg ausgestellt werden, muss man es sein; das wird ihm nicht mitgeteilt –, dann macht das überlegen, ob für einen begrenzten Kreis von Leistungen deutlich, dass diese Reform handwerklich schlampigbeispielsweise Wiederholungsrezepte eingeführt werden umgesetzt wurde. Darin liegt das Problem. könnten. Dafür müsste man aber keine Änderung dieser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Reform vornehmen. Das ist eine Frage der praktischen neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Umsetzung, die pragmatisch geklärt werden kann. Das [SPD]: Quatsch!) geht aber nicht, indem man jeden Tag neue Ausnahmen von dieser Reform verkündet. Meine Damen und Herren, die Reform ist rechtzeitig (Beifall bei der CDU/CSU) verabschiedet worden: im September letzten Jahres im Bundestag und nahezu unverändert im Oktober letzten Zur Zuzahlung von Heimbewohnern. Das Taschen- Jahres im Bundesrat. Es war also genug Zeit, alle Vor- geld dieser Menschen beträgt mindestens 85 Euro. Na- kehrungen zu treffen, damit die Regelungen dieser Re- türlich können sie keine hohe Zuzahlung leisten. Eine form zum Jahreswechsel klar sind. Aber bis zum heuti- pragmatische Lösung hierzuist vorbereitet, sie liegt gen Tag sind zentrale Fragen ungeklärt. Dabei handelt es griffbereit in der Schublade. Sie sieht eine Zuzahlung sich nicht um Fragen, die der Gesetzgeber zu lösen hat, von 3 Euro für chronisch Kranke und von maximal 7544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Andreas Storm (A) 6 Euro für alle anderen Personen vor. Eine rasche Um- Bei der FDP läuft das letztlich doch nach dem Motto:(C) setzung ist notwendig, Frau Ministerin. Nur deswegen Sozialstaat – nein, danke. Das ist glücklicherweise nicht herrscht in Heimen noch Unklarheit, weil die Umset-der Weg, den wir in der Gesundheitsreform beschritten zung dieser praktikablen Lösung, die vorliegt, noch im- haben. mer nicht auf den Weg gebracht worden ist. Trotzdem will ich sagen: Wäre dies eine grüne Ge- Diese Beispiele zeigen: Wir haben in erster Linie ein sundheitsreform, dann sähe sie anders aus. Sie würde Umsetzungsproblem. Es tut Not, dass die Selbstverwal- nämlich weniger Belastungen für die Patienten und mehr tung nun unverzüglich darangeht, die offenen Fragen, Wettbewerb für die Leistungserbringer mit sich bringen. deren Klärung der Gesetzgeber in ihre Hände gelegt hat, (Peter Dreßen [SPD]: Hört! Hört!) unverzüglich zu regeln und dafür zu sorgen, dass die Re- form so anlaufen kann, wie sie im September im Bun- Ich erinnere auch daran, dass unsere Idee für die Reform destag verabschiedet worden ist. Wenn das geschehen der Krankenversicherung in der Zukunft die Bürgerver- ist, muss man nach einigen Monaten prüfen, wo es Pro- sicherung ist, in der alle, Beamte, Abgeordnete und bleme gibt, und kann dann in Ruhe überlegen, ob eine sonstige Bürgerinnen und Bürger, den gleichen Spielre- Notwendigkeit für die eine oder andere Korrektur be- geln unterliegen. steht. Ein Schnellschuss zu dieser Zeit wäre ein falsches (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Herr Fischer Signal, das nicht gegeben werden darf. hat gestern was anderes gesagt!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Herr Kollege Zöller, wir haben – dazu stehen wir auch – diese Gesundheitsreform letztlich im Konsens verab- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schiedet. Herr Seehofer, einen schönen Gruß an Herrn Das Wort hat die Kollegin Birgitt Rüttgers. Bender, Auch Herrn Kauder dürfen Sie einmal ins Ge- Bündnis 90/Die Grünen. bet nehmen. Davonlaufen gilt auch für die Union nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es wurde schon zu Recht gesagt, gegenwärtig gehe es Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP um Umsetzungsfragen. beklagt die Auswirkungen der Gesundheitsreform, an deren Ausarbeitung sie sich bewusst nicht beteiligt hat. (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Drunter und drüber!) (Detlef Parr [FDP]: Tausende von Menschen beklagen sich!) Dass es um die Umsetzung geht, sollte man nicht kriti- (B) sieren. Ich kann nämlich nur sagen: Wer fordert, (D) es Aber wie sähe eine Gesundheitsreform à la FDP aus? – Wir müsse alles klar sein unddie Politik habe doch schon haben es von Ihnen gehört: Die Zahnbehandlung insge- längst zu entscheiden gehabt, der fordert eine wesentlich samt und nicht nur der Zahnersatz wäre nicht mehr Teil höhere Regelungsdichte. Hätten wir in unseren Konsens- des Leistungskataloges, sondern müsste von den Men- verhandlungen und nachfolgend im Bundestag wirklich schen privat versichert werden. alles bis ins kleinste Detail regeln sollen? Ich meine: Nein. Deswegen war es richtig, dass wir der Selbstver- (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Eine echte waltung Aufträge erteilt haben. Man kann sagen: Die Beitragssatzsenkung!) Selbstverwaltung hat sich hier nicht unbedingt mit Ruhm Das würde auch für die Behandlung von Unfällen gelten, bekleckert. die ebenfalls nicht mehr Teil des Leistungskataloges Andererseits ist aber auch Folgendes richtig: Wir ha- wäre und privat versichert werden müsste. Auch dasben gemeinsam beschlossen, dass der Gemeinsame Bun- Krankengeld gehörte nicht mehr zum Leistungsspektrum desausschuss ab dem 1. Januar 2004 nicht mehr nur eine und müsste von den Arbeitgebern privat versichert wer- Versammlung alter Herren der Kassen und Ärztevereini- den. gungen ist, Beim Restbestand der Leistungen der gesetzlichen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sondern auch Krankenversicherung könnten nach dem FDP-Modell junger Frauen?) die Ärzte nach Privattarif, also mit dem 2,3-fachen Ge- bührensatz, abrechnen und würden ihren Patienten eine sondern dass auch die Patienten beteiligt werden. Rechnung darüber ausstellen. Diese müssten die Patien- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach so!) ten bezahlen und müssten sich darum kümmern, von ih- rer Krankenkasse das Geld wiederzubekommen. Diese Im letzten Jahr hat der Bundesausschuss in alter Zusam- würden aber nicht den gesamten Betrag erstatten. – Sie mensetzung eine Chronikerregelung verabschiedet, die wollen uns erzählen, dass das die bessere Lösung wäre? absolut inakzeptabel war, weil es im Wesentlichen da- Darüber kann ich nur lachen! Wenn diese Vorstellungen rauf ankam, wie oft man im Krankenhaus gewesen ist. Realität würden, bekämen wir ganz andere Auseinander- Vom Bundesausschuss in neuer Zusammensetzung er- setzungen als die über die Praxisgebühr. hoffe ich mir eine sozial intelligentere Lösung. Ich gehe davon aus, dass er das in nächster Zeit hinbekommt und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN somit diese Frage genauso wie die Frage der Taxifahrten und bei der SPD) beantwortet wird. Selbstverständlich ist auch eine Rege- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7545

Birgitt Bender (A) lung zwischen den Kassen, den Heimen und den Sozial- aus den Fugen geraten. In der Schule würde es heißen:(C) hilfeträgern überfällig, damit klar ist, was die Menschen Setzen – Sechs! im Heim auf welche Weise zuzuzahlen haben. (Beifall bei der FDP – Volker Kauder [CDU/ Eines aber muss klar sein: Da wir diesen Weg nun CSU]: Sie sitzen schon!) einmal gegangen sind, darf man das alles nicht wieder zurücknehmen und sagen, dass es nicht ernst gemeint Ich weiß nicht, ob Sie sich heute auch die Augen ge- gewesen sei, nur weil sich die Ärzte über die Praxisge- rieben haben – ich glaube, ich war nicht der Einzige –, bühr, diese über jenes und andere über anderes beschwe- als Sie den Blick in die Zeitung „Die Welt“ geworfen ren. Das geht deswegen nicht, weil das Finanztableau und den Artikel mit dem Titel „Das Chaos war vermeid- dann nicht mehr aufgehen würde. Der Verzicht auf Zu- bar“ – das ist ein Zitat des Kollegen Seehofer – gelesen zahlungen, wie wir sie nun einmal vorgesehen haben, haben. hieße höhere Ausgaben für die Kassen und höhere Bei- Es war die FDP, die nicht nur einmal, leider verge- träge. Das kann nicht unser Weg sein. bens, ein Gesamtkonzept eingeklagt und die Forderung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhoben hat, dass die Belastung der Rentner vor Einzel- sowie bei Abgeordneten der SPD) entscheidungen in der Gesundheitsreform zu prüfen sei. Wir haben vor vorschnellen, nicht zusammenpassenden Einzelentscheidungen und damit verbundenen Überfor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: derungen rechtzeitig gewarnt. Wenn Sie heute in der Öf- Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDP- fentlichkeit diskutieren oder am Telefon Fragen beant- Fraktion. worten, dann werden Sie feststellen, dass sich vor allen Dingen die Rentner beklagen und im Stich gelassen füh- Detlef Parr (FDP): len, und das zu Recht. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bender, nicht die FDP bejammert die Gesundheitsre- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der FDP: form, Auch von Seehofer!) (Peter Dreßen [SPD]: Die Ärzte!) Es war die CDU/CSU-Fraktion, die der Einrichtung eines neuen Gemeinsamen Bundesausschusses zuge- Millionen Menschen draußen sind empört über diese Ge- stimmt hat, den auch wir für richtig halten. Beginn seiner sundheitsreform. Das nehmen Sie bitte endlich einmal Arbeit: 1. Januar 2004. Jeder musste wissen, dass dieser zur Kenntnis! Ausschuss Detailregelungen zum Beispiel für die Ein- (B) (Beifall bei der FDP – Gudrun Schaich-Walch stufung chronischer Krankheiten oder für die Über-(D) [SPD]: „Bild“-Zeitungs-Gejammer!) nahme von Fahrkosten erst noch erarbeiten musste. Die- ser Teil des Gesetzes hätte also gar nicht zum selben Als wir uns im Sommer des vergangenen Jahres ge- Zeitpunkt in Kraft treten dürfen. Die Selbstverwaltung meinsam an einen Tisch gesetzt haben, waren wir uns jetzt in die Haftung zu nehmen ist nicht in Ordnung. So einig, dass für eine Gesundheitsreform vier Kriterienbillig darf sich niemand aus der Verantwortung stehlen. maßgeblich sein sollten. (Beifall bei der FDP) Das erste Kriterium. Jede beabsichtigte Maßnahme muss vor der Entscheidung daraufhin überprüft werden, Viertes und letztes Kriterium: die Öffentlichkeitsar- wie viel Bürokratie durch sie in Gang gesetzt wird oder beit. Ich glaube, wir sind uns alle darin einig, dass Geset- ob sie zu einem Abbau unserer Überregulierungen führt. zesänderungen rechtzeitig vor In-Kraft-Treten verständ- Ein Ergebnis ist die Praxis- oder, besser gesagt, Kran- lich kommuniziert werden müssen. Wir sitzen zwar kenkassengebühr. Das Ziel wurde erkennbar nicht er-unter einer Glaskuppel, nicht aber unter einer Käseglo- reicht. cke oder in einem Elfenbeinturm. Die Bevölkerung muss mitgenommen werden auf dem Reformkurs. Ihr muss er- (Beifall bei der FDP) klärt werden, welche mittel- und langfristigen Vorteile Zweites Kriterium. Ein solides und seriöses Finanz- sich aus Änderungen ergeben, warum sie notwendig sind tableau muss erstellt werden. Ein Ergebnis: Versiche-und was bei Nichtstun alternativ gedroht hätte. Ergebnis: rungsfremde Leistungen sind endlich ausgegliedert wor- 1,9 Millionen Euro wurden zusätzlich zur Information den. Die Gegenfinanzierung sollte durch eine Erhöhung bereitgestellt und verpulvert für ganzseitige nichtssa- der Tabaksteuer sichergestellt werden. Das ist eine durch gende Anzeigen. Die Menschen haben zu Recht das Ge- den Vermittlungsausschuss noch verschärfte Fehlkalku- fühl, klammheimlich über den Tisch gezogen worden zu lation. Das Ziel wurde meilenweit verfehlt. sein. Auch dieses Ziel wurde nicht erreicht. (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Sie haben (Beifall bei der FDP) auch mitgemacht!) Was bleibt, ist Empörung, ist Verunsicherung, ist Re- Das dritte Kriterium – Horst Seehofer lässt grüßen – signation. Die Bereitschaft der Menschen, sich Refor- ist die soziale Balance. Sie ist durch die besonderen Be- men zuzumuten – sie ist ja vorhanden –, weicht dem lastungen zum Beispiel für Rentner und für die bis heute Misstrauen und der Furcht vor der Willkür staatlichen nicht definierten chronisch Kranken sowie durch dasHandelns. Jedem Menschen in unserem Land wird im- Ausbleiben versprochener Beitragssenkungen erheblich mer klarer, dass er besser damit fährt, zukünftig sein 7546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Detlef Parr (A) Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen, wenn er der Bevölkerung wäre, wenn dieses Gesetz mit der von (C) dazu in der Lage ist. Ihnen gewollten Kostenerstattung beschlossen worden wäre? Jetzt ist eigentlich der Zeitpunkt für mehr Selbstbe- stimmung und mehr Eigenverantwortung gekommen, (Beifall bei der SPD – Detlef Parr [FDP]: Sie wie sie die FDP seit langem fordert. Aber was die große haben es immer noch nicht verstanden!) Koalition aus SPD, Union und Grünen von Entschei- Ein Blick in die jüngere Geschichte wird die Erre- dungsfreiheiten hält, beweist ein Zitat aus „vigo extra“, gung über unsere Gesundheitsreform, aber auch die einer Beilage zur AOK-Verbandszeitschrift. Dieter künstliche Erregung der FDP relativieren. Thomae hat auf die Bedeutung von Rechnungen und Kostenerstattung hingewiesen. Laut Gesetz erhalten alle In der heutigen Ausgabe der „Frankfurter Rund- Versicherten künftig die Möglichkeit zur Wahl der Kos- schau“ wurden die Überschriften der Artikel zu den Ge- tenerstattung – sehr großzügig. Zitat aus „vigo“, an die sundheitsreformen aus den Jahren 1989, 1993 und 1997 Versicherten gerichtet: zusammengetragen. Damals wurde getitelt: „Reform sorgt für kräftige Konfusion“, „Höhere Zuzahlungen Diese Rechnung begleichen Sie selbst. Anschlie- skandalös“, „75,8 Prozent finden sie krank“. Damals ßend bekommen Sie die Kosten auf der Grundlage hießen die Minister Norbert Blüm und Horst Seehofer. der geltenden Vertragssätze zum Teil erstattet. Deren Bemühungen um eine Stabilisierung des Gesund- Kommen Sie nämlich als „Privatpatient“ zum Arzt, heitswesens brachten ihnen ähnlich viel Ärger ein. Auch was bei der gewählten Kostenerstattung quasi der die FDP war damals daran beteiligt. Fall ist, räumt der Gesetzgeber den Ärzten die Möglichkeit ein, höhere Gebühren für die Behand- Ich sehe es heute als großen Fortschritt an, dass Re- lung abzurechnen. Die Differenz müssen Sie selbst gierung und Opposition für die zusammen beschlossene bezahlen, wenn Sie dafür nicht wiederum eine pri- Reform bei allem Gegenwind gemeinsam einstehen vate Zusatzversicherung abgeschlossen haben. müssen. Ich appelliere noch einmal eindringlich an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, dies zu tun Daher sollten Sie diesen Schritt gut überlegen und und sich jetzt nicht vor der Verantwortung zu drücken. sich unbedingt vor einer Entscheidung für die Kos- tenerstattung von Ihrer AOK Rheinland beraten las- Herr Storm, wenn Sie Kritik an der Gesundheitsmi- sen. Denn Sie sind an Ihre Entscheidung dann min- nisterin üben, will ich Ihnen dazu Folgendes sagen: Das destens ein Jahr lang gebunden. BMGS begleitet die ganzen Bemühungen. Heute haben Meine Damen und Herren, das ist keine Wahlfreiheit,die Krankenkassen in einem auf Bitten der Patientenbe- das ist ein blankes Kostenerstattungsabschreckungsge- auftragten geführten Gespräch im BMGS zugestanden, (D) (B) setz. dass man bei der Frage derDialyse – um Ihr Beispiel aufzugreifen – beweglich sein wird und dieses Problem (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD) im Sinne der Patienten lösen wird. Ich komme zum Schluss. In diesem Gesetz ist man- Lassen Sie mich auch sagen: Das Gesetz beinhaltet ches gut gewollt, aber vieles schlecht gemacht. Nehmen natürlich nicht die reine Lehre dessen, was wir gewollt Sie erst einmal die Sorgen der Menschen ernst, die inhaben. Wir hatten andere Vorstellungen. Wir wollten Leserbriefen, in Telefonaktionen und in Briefen an uns mehr Wettbewerb und Einzelverträge mit Ärzten. Abgeordnete deutlich werden! Schaffen Sie die Praxis- gebühr ab und ersetzen Sie sie durch die Regelung, die (Peter Dreßen [SPD]: Und die Positivliste!) wir heute vorgeschlagen haben! Setzen Sie die Teile des Auch die Praxisgebühr in diesem Umfang war nicht un- Gesetzes aus, die noch im Detail geregelt werden müs- ser Baby. Jetzt den Zorn der Betroffenen allein bei der sen! Schaffen Sie wieder Vertrauen in die Politik! Gesundheitsministerin abzuladen, Herr Storm, finde ich (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ausge- nicht redlich. Das ist nicht in Ordnung. rechnet Sie! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN: Vertrauen in die FDP?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir alle leiden unter dieser Gesundheitsreform. Sie ist Bei Reformen dieses Ausmaßes sind nachträgliche ein Riesenmurks. Korrekturen nicht ungewöhnlich. Die meisten Patienten (Beifall bei der FDP) wissen, dass sie für eine nach wie vor gute Versorgung tiefer in die eigene Tasche greifen müssen. Sie wissen, dass die Lohnnebenkosten gesenkt werden müssen, um Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Be- Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz von der SPD- schäftigung zu verbessern. Richtig ist sicher, dass das Fraktion. Praxispersonal des einen oder anderen Arztes mit den (Beifall bei der SPD) neuen Regelungen nicht auf Anhieb klarkommt. Das ist aber kein Grund, das Gesetz in Bausch und Bogen zu verdammen. Erika Lotz (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn Sie von der FDP beklagen, dass die Kranken- Mein lieber Herr Parr, was meinen Sie, was es an Leser- kassenbeiträge noch nicht gesenkt worden sind, dann briefen und Schreiben gegeben hätte, welcher Unmut in muss ich Ihnen sagen: Heute ist der 15. Januar. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7547

Erika Lotz (A) (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Zum 1. Januar gen. Ich wünsche uns allen, dass wir letztendlich ge-(C) wolltet ihr die Beiträge senken! Das habt ihr meinsam für das, was wir zusammen beschlossen haben, versprochen!) (Jürgen Koppelin [FDP]: Wir nicht!) Die Beiträge senken kann man nur, wenn Einsparungen erzielt worden sind. Diese Einsparungen werden nuneinstehen. möglich sein. Einzelne Kassen haben ihre Beiträge (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schon gesenkt. DIE GRÜNEN) (Dr. Dieter Thomae [FDP]: 13! Wie viele er- höht?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das verschweigen Sie natürlich gerne. Der Erfolg des Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von Gesetzes wird anhand von Beitragssenkungen deutlich der CDU/CSU-Fraktion. werden. Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sorgen machen mir natürlich die Chroniker- und Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Fahrkostenrichtlinien. Kollegen! Die Ursache dieser Aktuellen Stunde ist in der (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Aha!) totalen Verunsicherung der Patienten zu sehen. Man muss sich die Frage stellen: Warum entstand diese Ver- Die Patienten hatten aus meiner Sicht einen Anspruch unsicherung darauf, zu wissen, was mit Jahresbeginn 2004 für sie als chronisch Kranke gilt und wann die einkommensabhän- ( [FDP]: Weil Sie es vermurkst ha- gigen Belastungsgrenzen erreicht werden. Darüber hi- ben!) naus hätten sie darüber informiert werden müssen, ob die Krankenkassen weiterhin die Kosten für Fahrten zur und wer ist für was verantwortlich? Gleichzeitig will ich ambulanten Behandlung übernehmen und welche Krite- aber auch notwendige Maßnahmen zur Behebung dieser rien dafür gelten. Das muss die Selbstverwaltung vonMissstände aufzeigen. Ärzten und Krankenversicherungen definieren. Eine po- Wie entstand die Verunsicherung? Wenn am 1. Januar litische Entscheidung stünde zu Recht im Verdacht der ein Gesetz in Kraft tritt, dann müssen die erforderlichen Staatsmedizin. Das ist doch etwas, was Sie ganz und gar Regelungen, die der Bundesausschuss der Ärzte und nicht wollen. Krankenkassen zu treffen hat, ebenfalls zu diesem Zeit- In beiden Punkten hat die gemeinsame Selbstverwal- punkt in Kraft treten bzw. vorliegen. (B) (D) tung sowohl die Patienten als auch die Ärzte als auch die (Dirk Niebel [FDP]: Warum haben Sie denn Politik hängen lassen. Der Bundesausschuss der Ärzte zugestimmt?) und Krankenkassen war nicht in der Lage, bis zum 31. Dezember 2003 sach- und problemgerechte Chroni- Hier hätte man zum Beispiel mit etwas mehr Nachdruck ker- und Fahrkostenrichtlinien zu verabschieden. Dieund vielleicht auch Verhandlungsgeschick für die Ein- Richtlinien, die der Bundesausschuss beschlossen hatte, haltung dieses Zeitplans sorgen müssen. waren einseitig auf Zuzahlungsmaximierung und Ausga- (Jürgen Koppelin [FDP]: Wer hat denn bei benminimierung ausgerichtet. Überdies hat der Bundes- euch verhandelt?) ausschuss den Irrweg eingeschlagen, chronisch Kranke primär unter dem Blickwinkel der stationären Versor- Ich glaube, die zur Verfügung stehenden drei Monate gung zu definieren. Deshalb war es richtig, dass die Mi- wurden nicht optimal genutzt. nisterin ein Veto eingelegt und eine Änderung gefordert hat. (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eine weitere Ursache der Verunsicherung waren und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sind die zum Teil widersprüchlichen Äußerungen. Es sind da zu nennen: die Hotline des Ministeriums, die Dies muss man einmal lobend erwähnen; man darf nicht Ärzte, die Kassen, das Ministerium und seit gestern so- immer nur Kritik üben. gar der Kanzler höchstpersönlich. Ich will das an dem Beispiel der Praxisgebühr bei einem Folgerezept klar Das Ministerium für Gesundheit und Soziale Siche- machen. Die Auskunft der Hotline war: Da fällt eine rung hat die Richtlinien zu Recht beanstandet. Der Aus- Praxisgebühr an. Die Auskunft des Ministeriums: Die schuss wird in Bälde neue Regelungen mit klaren Defi- Praxisgebühr gilt generell, aber bei der Pille könnte es nitionen vorlegen. Ich bin froh, dass dies auch unter eine Ausnahme geben. Gestern der Kanzler: Bei Folge- Mitwirkung der Patientenbeauftragten geschieht. Die rezepten fällt überhaupt keine Gebühr an. – Wenn dem Patientenbeauftragte ist von der SPD gewollt worden. nämlich so wäre, dann brauchte man auch keine Ausnah- Ich denke, dass Frau Kühn-Mengel eine glückliche Hand meregelung für die Pille. haben wird. Wir wünschen ihr auf jeden Fall viel Erfolg. (Beifall bei der SPD) Ein Stück Verunsicherung ist hausgemacht. Heute habe ich eine ganzseitige Anzeige in der Zeitung gele- Wir denken, dass es unter ihrer Mitwirkung gelingensen. Sie trägt den Titel: Die Wahrheit über die Praxisge- wird, die noch vorhandenen Ungereimtheiten zu beseiti- bühr. – Ich habe mir die Anzeige angeschaut. Sie sieht 7548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Wolfgang Zöller (A) gut und übersichtlich aus. Aber im Gesetz steht etwas Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) anderes. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Angesichts der Umfrageergebnisse kann ich gut (Lachen bei der FDP) verstehen, dass die FDP – wie schon vor Weihnachten – In der Anzeige steht, dass die Praxisgebühr für den Be- jede Möglichkeit einer Aktuellen Stunde nutzt, um Auf- such beim Arzt und Zahnarzt zu entrichten ist; im Gesetz merksamkeit zu erzielen. Auch Homestorys über Hanf- werden auch noch die Psychotherapeuten genannt. Wer pflänzchen oder Noppensocken tragende Fraktionsvor- über die Wahrheit berichtet, darf nicht für weitere Verun- sitzende helfen nicht mehr weiter. Daher glaube ich sicherung sorgen. Wir haben also auch hier ein hausge- nicht, dass es Ihnen bei dem Thema dieser Aktuellen machtes Problem. Stunde ernsthaft darum geht, etwas zur Versachlichung dieses Themas beizutragen. Ich bin ganz offen. Mich hat persönlich geärgert, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie, Frau Ministerin, für das so genannte Pillenproblem innerhalb von zwei Tagen eine Lösung vorgeschlagen Ihnen geht es nur darum, zwei Wochen nach der Ein- haben, obwohl dieses Problem frühestens im zweitenführung eines so umfassenden Gesetzes weiterhin zur Quartal 2004 ansteht. Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger beizutra- gen, wie es auch bei der Kampagne in der Zeitung mit (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den vier großen Buchstaben der Fall war. NEN]: Darüber hätten wir schon vor einem Jahr sprechen müssen!) (Lachen bei der FDP – Detlef Parr [FDP]: Wo leben Sie, Frau Kollegin?) Es wäre wesentlich wichtiger gewesen, die Fragen der Praxisgebühr, der Fahrkosten, der Regelung für chro-– Ich lebe in derselben Welt wie Sie, Herr Parr. Auf Sie nisch Kranke und der nicht verschreibungspflichtigen komme ich noch zurück. Arzneimittel vordringlich zu lösen. (Zurufe von der FDP: Oh!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihre Fraktion war an der Konsensfindung beteiligt. Sie haben das Gesetz abgelehnt und versuchen jetzt, es Mit gegenseitigen Schuldzuweisungen aller Beteilig- an den Pranger zu stellen. ten am Gesundheitswesen können wir dem Patienten nicht helfen. Daher appelliere ich an alle Beteiligten im (Jürgen Koppelin [FDP]: Wo es schon steht!) Gesundheitswesen, die für die Patienten unerträgliche Dennoch, lieber Herr Parr, nicht Millionen von Men- Situation schnellstmöglich zu beenden. (B) schen lehnen es ab, sondern haben Fragen und Sie betäti- (D) Erstens. Ich appelliere an das Ministerium, endlich gen sich gerade in der Zeitung mit den vier großen dafür zu sorgen, dass klare, nachvollziehbare Festlegun- Buchstaben als Aufklärer über diese Reform. Dafür gen auf den Tisch kommen. Zweitens. Ich appelliere an möchte ich mich herzlich bedanken. die Selbstverwaltung von Kassen und Ärzten, dass die (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Richtlinien, deren Erarbeitung ihr im Gesetz zugewiesen ist, schnellstmöglich festgelegt werden. Drittens. In der Wir haben mit dem Gesetz den politischen Rahmen Übergangszeit – das halte ich für ganz wichtig – müssen vorgegeben und in vielen Bereichen große, weit rei- Ärzte und Kassen entsprechend dem Sinn des Gesetzes chende Strukturreformen vorangebracht. Ich erinnere an den Bedürfnissen der Patienten gerecht werden. die vielen Maßnahmen, zum Beispiel solche zur inte- grierten Versorgung, die Einführung der Gesundheits- Ich will das an einem Beispiel klar machen. Laut Ge- zentren und die Öffnung der Krankenhäuser für hoch setz heißt es betreffend die Fahrkosten, wenn es zwin- spezialisierte Leistungen. gende medizinische Gründe gebe, könne die Kasse in besonderen Fällen eine Genehmigung erteilen und die Manche Regelungen im Zusammenhang mit den Ge- Fahrkosten übernehmen. Es sollte sich niemand – weder bühren oder den Medikamenten waren in unserem Ge- eine Kasse noch ein Arzt – auf die Position zurückzie- setzentwurf anders vorgesehen, Herr Storm, als sie in der hen, in der ersten Festlegung seien nur Dialyse, Chemo- Konsensrunde zustande kamen. Dennoch trage ich die- und Strahlentherapie genannt worden. Es gibt noch mehr sen Konsens mit und in einem waren wir uns einig, dass Patientengruppen, für die diese Sonderregelung gelten wir mit dem Gesetz vor allem zum Bürokratieabbau bei- muss. Ich denke hierbei besonders an Patienten mit be- tragen wollten und dass diePolitiker nicht alles bis ins stimmten Behinderungen. Kleinste regeln sollten. Deshalb haben wir der Selbstver- waltung drei Monate Zeit gegeben, um bestimmte Fra- Meine sehr geehrten Damen und Herren, Menschlich- gen, die heute mit Sicherheit nicht ausreichend geklärt keit muss vor Formalismus gehen! sind, zu regeln. Gerade aber was die Chronikerregelung angeht, die uns die Selbstverwaltung vorgeschlagen hat, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kann ich mich erinnern, dass Sie mit dem Vorschlag der Selbstverwaltung nicht einverstanden waren, Herr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zöller. Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Selg vom Bünd- Was die Praxisgebühr oder auch die anderen Regelun- nis 90/Die Grünen. gen betrifft, möchte ich die FDP erinnern, dass Sie bei Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7549

Petra Selg (A) den Beratungen immer nur einen Begriff wiederholt ha- verunsichert und entsetzt über das sind, was finanziell(C) ben – das hatte schon fast autistische Züge –, nämlich: auf sie zukommt. Die Gesundheitsreform der ganz gro- Kostenerstattungsprinzip. ßen Koalition aus SPD, CDU, CSU und Grünen ist schon in der ersten Woche nach der Einführung ein De- (Zuruf von der FDP: Das ist auch richtig!) saster. Rot-Grün verhöhnt mit der Argumentation, man Das wäre aber meiner Ansicht nach für viele Patientin- solle abwarten, wie sich die Umsetzung des Gesetzes nen und Patienten völlig unsozial. Deswegen lehne ich weiter entwickle, die Menschen, die jetzt das Geld auf es nach wie vor ab. den Tisch legen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) und bei der SPD – Detlef Parr [FDP]: Ja, weil Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Voraussetzungen Sie es nicht kapiert haben!) für die Umsetzung eines Gesetzes zu schaffen, dann ist Sie haben noch ein weiteres Ziel verfolgt – das wur- doch die einzige logische Schlussfolgerung, dass ein sol- de von manchen Ihrer großen Ehrenvorsitzenden bemän- ches Gesetz später in Kraft treten muss. gelt –: Sie wollten Schutzzäune um Ihre Lobbygruppen ziehen, die nicht hoch genug sein konnten: Die Apothe- Für das Chaos, das Sie angerichtet haben, ist aber ker und Ärzte sollten möglichst geschont werden. nicht Ministerin Schmidt allein verantwortlich, sondern auch Bundeskanzler Schröder, Frau Merkel, Herr Stoiber Aber gerade Ärztinnen und Ärzte aus meinem Wahl- und die Parteiführung der Grünen. Liebe Kolleginnen kreis haben mir bei Neujahrsempfängen gesagt – das hat und Kollegen von der CSU, ich darf Sie daran erinnern, auch der KBV-Vorsitzende Richter-Reichhelm heutedass Herr Seehofer noch im April letzten Jahres erklärt Morgen, 14 Tage nach In-Kraft-Treten des Gesetzes, in hat, dass die Praxisgebühr „sehr problematisch“ sei. einer Nachrichtensendung festgestellt –: Bitte lasst das Herr von der CDU erklärte, die Praxis- Gesetz so, wie es ist! Regelt nicht wieder alles bis ins gebühren seien „eine reine Schröpfmaßnahme für Pa- letzte Klein-Klein! Lasst uns erst einmal schauen, wie tienten, die keinerlei Steuerungsfunktion hat“. Alles sich dieses umfassende Gesetzesreformwerk in der Pra- schon vergessen, meine Herren? xis bewährt! Alle Fraktionen dieses Hauses haben gekniffen, als es Ich bin mir absolut sicher, dass der kürzlich neu zu- darum ging, die Lobbymacht von Pharmaindustrie und sammengetretene Bundesausschuss, an dem – das istÄrzteverbänden einzuschränken. Sie sind den einfa- meines Erachtens sensationell und stellt einen riesigen chen und bequemen Weg gegangen. Für Ihre Feigheit Reformfortschritt dar – zum ersten Mal Patientinnen und müssen jetzt die Ärmsten der Armen bluten. Sie ziehen Patienten mit beteiligt sind, in all diesen Fragen eine ge- den alten Menschen, die in Heimen wohnen, die Praxis- (B) (D) rechte und gute Lösung erarbeiten wird. gebühren vom Taschengeld ab. Das Kuratorium Deut- sche Altershilfe hat mitgeteilt, dass bereits in der ersten Ich komme zum Schluss. Kalenderwoche – ich betone: in der ersten Kalenderwo- (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) che – zahlreiche Heimbewohner die 2-Prozent-Zuzah- lungsgrenze überschritten haben.Freistellungsbe- Ich denke, dieses Reformwerk war ein wirklich großes scheide können noch nicht erteilt werden, weil es noch Vorhaben, das den allergrößten Respekt verdient. Des- keine entsprechenden Regelungen gibt und folglich nie- halb fordere ich Sie auf: Hören Sie auf, ständig irgend- mand weiß, wie das geht. Ergebnis des Gesetzes ist, dass welche Themen populistisch anzugehen! Arbeiten Sie von schwer krebskranken Menschen für eine Behand- lieber konstruktiv mit! Wir wissen genau, was wir für die lung über 300 Euro gefordert werden und dass mit tod- Patientinnen und Patienten in diesem Land tun wollen, kranken Menschen darüber gestritten wird, ob ihre Herr Thomae. Krankheit chronisch ist oder nicht. Ich finde, es ist ein- (Jürgen Koppelin [FDP]: Wir auch!) fach würdelos, wie infolge des Gesetzes mit den Men- schen umgegangen wird. Sie wissen das nicht. Sie erzeugen mit solchen Debatten nur Chaos. Lassen Sie das bitte sein! (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kaum ist die so genannte Gesundheitsreform ange- und bei der SPD) laufen, müssen Sie nachbessern. Da Sie die Wirtschaft so gerne als Vorbild nehmen, sage ich Ihnen: Jedes Un- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ternehmen wäre in einem solchen Fall zu einer Rück- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. rufaktion gezwungen. Aber anstatt ihre Fehler einzuge- stehen, zeigt die Bundesregierung mit dem Finger auf andere. Eine Vorrednerin von der SPD machte sogar (fraktionslos): Dr. Gesine Lötzsch Sprechstundenhilfen dafür verantwortlich, dass das Ge- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- setz die Menschen in Bedrängnis bringt. Das Problem ist ren! Chaos und Wut in vielen Arztpraxen und Apothe- nur: Der kranke Mensch, der alte Mensch und der So- ken lächelt Frau Ministerin Schmidt einfach weg. In den zialhilfeempfänger müssen jetzt das Geld hinlegen, wäh- Medien – so haben wir das in dieser Woche erlebt – redet rend Sie über die Schuldfrage streiten. die Ministerin lieber über ihr eigenes Wohlbefinden als über das der Patienten. Wir, die PDS im Bundestag, be- Ich kann Sie nur dringend auffordern: Nehmen Sie die kommen jeden Tag Anrufe von Menschen, die völligPraxisgebühren und die erhöhten Zuzahlungen zu den 7550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Gesine Lötzsch (A) Medikamenten zurück, und zwar besser heute als mor- Ich gebe zu: Auch unter Sozialdemokraten herrscht(C) gen. Diese Reform macht Deutschland nicht gesund,noch Unverständnis darüber – Kollegin Lötzsch hat das sondern krank. Ändern Sie das Gesetz! gerade angesprochen –, warumSozialhilfeempfänger und insbesondere Heimbewohner, bei denen die Kosten (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) für ihre Unterbringung in einem Heim und für ihre Ge- sundheitsleistungen von der Sozialhilfe getragen werden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: müssen, mit einer Eigenbeteiligung belastet werden. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion. Christoph Lütgert hat in einem Kommentar in den „Tagesthemen“ über erschütternde Fälle aus dem sozia- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) len Alltag berichtet. Ich möchte die Fakten hier darstel- len: Sozialhilfeempfänger leisten Zuzahlungen; chro- Rolf Stöckel (SPD): nisch Kranke zahlen 1 Prozent und nicht chronisch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle wa- Kranke zahlen 2 Prozent vom Regelsatz des Haushalts- ren sich einig: Unser Gesundheitssystem muss effizien- vorstandes, der im Durchschnitt bei 295 Euro liegt. Das ter, finanzierbarer und istungsfähiger le werden. Die heißt: Wer 1 Prozent Zuzahlungen leisten muss, zahlt Lohnnebenkosten sollen zurückgeführt werden. Dieetwa 3 Euro pro Monat; wer 2 Prozent Zuzahlungen leis- FDP-Position dazu war bekannt: stärkere Privatisierung ten muss, zahlt etwa 6 Euro pro Monat. Wer kein eigenes der Risiken, Kostenerstattungsprinzip – meine persönli- Einkommen hat, bekommt ein durchschnittliches Ta- che Meinung ist, dass einiges dafür spricht; aber dasschengeld von ungefähr 88 Euro. Diese Zuzahlung ist hätte bei der Umsetzung einen nicht minder bürokrati- sozial verträglich. schen Aufwand besonders von den sozial Schwachen er- fordert –, mehr Eigenverantwortung und -beteiligung. Frau Kollegin Lötzsch, das gilt vor allen Dingen Nur eines sollte es nicht geben: mehr Wettbewerb für die dann, wenn man berücksichtigt, dass alle Sozialhilfe- Klientel, die Sie vertreten, wie Freiberufler und Apothe- empfänger durch die Neuregelungen im Sozialhilferecht ker. Diesen Gruppen sollten nicht mehr Leistung undkrankenversichert sind. Wer hier aus Eigeninteresse die Konkurrenz abverlangt werden. Ärmsten und die sozial Schwächsten missbraucht, weil er ganz andere Ziele verfolgt, dem kann ich nur Heuche- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lei und Unmoral vorwerfen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Sie haben sich dem Kompromiss entzogen, damit Sie sich jetzt sozusagen das Mäntelchen der Unschuld um- Ich fordere die Parteivorsitzende der CDU, Frau (B) hängen und den Robin Hood der Patienten spielen kön- Merkel, hier auf, den Kollegen Rüttgers zurechtzuwei-(D) nen. Ich habe angesichts der Flut der Neuregelungensen, der sich genau wie die FDP einen „weißen Fuß“ ma- Verständnis dafür, dass Patienten noch keinen Überblick chen will. Er weist die Praxisgebühren zurück und macht haben. Kein Wunder, dass sie angesichts der vielenallein Ulla Schmidt für die Probleme mit dem Gesund- Detailinformationen, aber auch der gezielten Desinfor- heitsmodernisierungsgesetz verantwortlich. Wir erinnern mationen und Halbwahrheiten von Medien und Interes- daran, dass die CDU/CSU höhere Praxisgebühren wollte senverbänden verunsichert sind. und dass sie auch höhere Zuzahlungen wollte, nämlich 10 Prozent. Wir waren diejenigen, die diese Begrenzung Die Art und Weise aber, wie die Gesundheitsreform vorgenommen haben. Unser Gesetzentwurf sah Praxis- hier in den 14 Tagen, nachdem sie in Kraft getreten ist, gebühren lediglich für diejenigen Facharztbesuche vor, von einigen in Grund und Boden geredet wird, finde ich die nicht durch Überweisungen von Hausärzten, Kinder- schlicht – Herr Präsident, verzeihen Sie den unparlamen- ärzten und Frauenärzten gedeckt worden sind. tarischen Ausdruck – zum Kotzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ DIE GRÜNEN) CSU und der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Wo er Recht hat, hat er Recht!) Die SPD bleibt dabei: Unser Gesundheitssystem muss den Versicherten weiterhin – unabhängig vom Geldbeu- Wenn der Ruck, der durch Deutschland gehen soll, tel – alle notwendigen medizinischen Leistungen auf auch in anderen Reformbereichen so aussieht, dann gute neuestem Stand gewährleisten. Unser Gesundheitssys- Nacht. Natürlich gibt es praktischeUmsetzungspro- tem muss mehr Gesundheit produzieren, auch durch bleme, egal ob das Ministerium, die Selbstverwaltung, mehr Eigenverantwortung und mehr Vorsorge der Patien- die Ärztekartelle oder die Krankenkassen dafür Verant- ten. Es muss aber auch durch Strukturreformen und mehr wortung tragen. Ein Arzt sagte am Montag in den „Ta- Wettbewerb, vor allen Dingen bei den Leistungserbrin- gesthemen“, Krankheiten würden nicht behandelt und es gern, effizienter werden. Liebe Kolleginnen und Kolle- entstehe eine Abwärtsspirale von Armut, Krankheit und gen von der FDP, unterstützen Sie uns, anstatt sich hier Sozialhilfe wegen nicht erfolgter Behandlung. Demparteitaktisch zu verhalten und sich an den ohne Frage kann ich nur entgegnen: Ein Arzt, der erst nach dervorhandenen Problemen bei der Umsetzung zu weiden! Kohle fragt und dann einen Kranken behandelt, der ge- hört nicht in dieses Gesundheitssystem. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7551

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bis zum Frühjahr sollen die Betroffenen endlich Klarheit (C) Herr Kollege Stöckel, wenn Sie selbst einen Begriff haben. Aber das ist viel zuspät. Ähnliches gilt bei den für unparlamentarisch halten, dann sollten Sie ihn hier Fahrkosten. nicht gebrauchen. Wir wollten mit dem GMG mehr Transparenz für den (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Versicherten im Gesundheitswesen. Davon kann zurzeit CDU/CSU und der FDP – Dr. Uwe Küster leider keine Rede sein. Wenn empfohlen wird, Kosten- [SPD]: Wo der Abgeordnete Recht hat, hat er belege aufzubewahren, um nach einer Klärung der offe- Recht!) nen Fragen nachträglich bei der Kasse die Kostenerstat- Als nächste Rednerin hat die Kollegin Monikatung zu beantragen, setzt sich leider das fort, was wir Brüning von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. schon in der letzten Phase der Verhandlungen zur Ge- sundheitsreform erleben mussten: Verwirrung. Monika Brüning (CDU/CSU): Lassen Sie mich zu einer zweiten Personengruppe Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!kommen, die besonders verunsichert ist: die sozialhilfe- Meine Damen und Herren! Am 26. September 2003 hat bedürftigen Heimpatienten. Die Zeitung „Die Welt“ dieses Haus die Gesundheitsreform verabschiedet. Der schrieb am 5. Januar dieses Jahres „Heimbewohnern Bundesrat hat am 17. Oktober zugestimmt und amdroht Versorgungsnotstand“. Für die Berechnung der 1. Januar 2004 ist dieses Gesetz in Kraft getreten. Man normalen Belastungsgrenze von 2 Prozent wird zurzeit möchte glauben, dass das Ministerium für Gesundheit der volle Regelsatz der Sozialhilfe zugrunde gelegt, der und Soziale Sicherung die letzten zweieinhalb Monate durchschnittlich 285 Euro beträgt. des vergangenen Jahres genutzt hat, um noch offene Ein- zelfragen rechtzeitig und ausreichend vor In-Kraft-Tre- (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Alles falsch!) ten des Gesetzes zu klären. Wir von der CDU/CSU woll- Damit liegt die Belastungsgrenze bei circa 70 Euro. Erst ten mit diesem Gesetz Transparenz und Verlässlichkeit wenn sie erreicht ist, kann ein Sozialhilfeempfänger eine für alle Beteiligten. Aber was passiert stattdessen?Befreiung beantragen. Bei einem Taschengeld der Heim- – Chaos bricht aus und – wen verwundert es? – Verunsi- bewohner von circa 85 Euro pro Monat kann man sich cherung bei den Menschen macht sich breit! ausrechnen, dass der Betroffene schnell in Geldnöte ge- Wir von der CDU/CSU haben uns angesichts der Fi- rät. CDU und CSU hatten bei den Verhandlungen gefor- nanzkrise der gesetzlichen Krankenversicherung imdert, dass die Befreiungsbescheide unverzüglich ausge- Sommer entschieden, an den Verhandlungen zur Ge-stellt werden müssen. Wenn der Betroffene nun zu hören sundheitsreform teilzunehmen, weil wir wollten, dass bekommt, eine Befreiung könne sich bis zum Sommer (B) die Menschen auch zukünftig unabhängig vom Alterhinziehen, ist das nicht akzeptabel. Wir brauchen schnell (D) oder Einkommen eine qualitativ hochwertige medizini- eine unbürokratische Regelung. sche Versorgung erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Angesichts der demographischen Entwicklung, des neten der FDP) medizinischen Fortschritts, der wirtschaftlichen Schwä- che und der vielen Veränderungen in der Arbeitswelt war Bei der Umsetzung darf aber nicht die Genauigkeit es unausweichlich, dass sich die Patientinnen und Pa- auf der Strecke bleiben. Wenn die Schuld allein der tienten an den Kosten ihrer Behandlung beteiligen. Wir Selbstverwaltung in die Schuhe geschoben wird, wollten, dass dies in einem sozialverträglichen Maß ge- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie machen sich schieht. Deswegen haben wir uns für eineBelastungs- weiße Füße!) obergrenze eingesetzt. Daher wurde für Menschen, die aufgrund chronischer Erkrankungen besonders hohe fi- entspricht das nicht der Wahrheit, Frau Schmidt. So ist nanzielle Belastungen haben, die Zuzahlung auf 1 Pro- Politik nicht glaubwürdig. Ich fordere Sie auf, Ihre Auf- zent des versicherungspflichtigen Bruttoeinkommenssichtspflicht ernst zu nehmen. Sorgen Sie endlich dafür, begrenzt. dass die Patientinnen und Patienten wissen, woran sie sind! Sofortiges zielgerichtetes Handeln ist erforderlich. Was bei der Umsetzung herausgekommen ist, belastet Das fordere ich hiermit ein. aber gerade die Menschen, die wir vor einer Überforde- rung bewahren wollten. Das darf nicht sein. Der vorge- (Beifall bei der CDU/CSU) legte Entwurf einerDefinition einer chronischen Krankheit stellt zu sehr auf stationäre Aspekte ab. Es Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: macht betroffen, zu lesen, dass es hierdurch zu Jahresbe- Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ulla ginn bereits Fälle gegeben haben soll, in denen chro-Schmidt. nisch kranke Patienten ausschließlich wegen der engen Definition dessen, was „chronisch krank“ bedeutet, ins (Beifall bei der SPD) Krankenhaus eingeliefert wurden. Chronisch kranke Menschen wissen zurzeit nicht, Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und welche Kosten sie selbst tragen müssen, sie wissen noch Soziale Sicherung: nicht einmal, ob sie überhaupt chronisch Kranke im Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sinne des Gesetzes sind. Das ist absurd. Man kann ja eine solche Debatte führen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Jürgen Koppelin [FDP]: Das muss man!) 7552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) und man muss sie auch führen, aber ein bisschen Red- Regelungen wie zum Beispiel zur Praxisgebühr – Ge-(C) lichkeit sollte es wirklich geben. setze, die im Übrigen, mit Verlaub, Kollegen Thomae und Parr, mit den Stimmen der FDP aus den vier Län- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dern, wo sie Regierungsverantwortung trägt, verabschie- DIE GRÜNEN) det wurden; Sie haben sich hier einen schlanken Fuß ma- Mit Verlaub gesagt, ich finde es nicht in Ordnung, chen wollen und sonst überhaupt nichts –, Krankheitsschicksale schamlos für Politikkampa- (Volker Kauder [CDU/CSU]: gnen auszunutzen. Ich bitte sehr herzlich, nicht so Haben Sie einen dicken?) zu verfahren. Ich leugne nicht, dass es Detailprob- leme gibt. Die meisten sind übrigens durch dieverhindert werden können, weil sie so etwas nicht will, Selbstverwaltung lösbar und werden auch gelöst. und so lange wartet, bis Schiedssprüche gefällt werden, dann kann unter diesen Umständen nur schwer dafür ge- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Birgitt sorgt werden, dass selbst dort, wo der Bundesmantel- Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tarifvertrag fristgerecht fertig gestellt und gedruckt war, Dies ist nicht von mir, sondern – ich spreche auch den bei In-Kraft-Treten des Gesetzes keine Probleme auftre- Kollegen Thomae an, weil er damals schon gesundheits- ten. Dies bedauere ich natürlich genauso wie jeder, der politische Verantwortung trug – das hat der Kollegean der Reform mitgearbeitet hat. Wir wissen, dass es Cronenberg, FDP, am 31. Mai 1989, fünf Monate nach sich um ein sehr großes Reformwerk handelt und dass In-Kraft-Treten der damaligen Reform, gesagt. Ichwir alles tun müssen, damit Konflikte schon im Vorfeld könnte Ihnen ähnliche Beispiele aus den Jahren 1993, vermieden werden können. Es sollte aber doch niemand 1996 und 1997 nennen. so tun, als hätte er nicht bei anderen Gesetzen in frühe- ren Jahren schon ähnliche Erfahrungen machen müssen. Ich halte also fest: Man kann über vieles reden, aber auch diejenigen, die früher Regierungsverantwortung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ getragen haben, sollten sich daran erinnern, wie es da- DIE GRÜNEN) mals war, und nicht einfach fordern, dass es heute,All die Redner, die in den Debatten immer die Forde- 14 Tage nach In-Kraft-Treten eines Gesetzes, keine Pro- rung nach Freiheit erheben, staatliche Reglementierung bleme mehr geben dürfe. so weit wie möglich reduzieren und der Selbstverwal- (Dr. Dieter Thomae [FDP]: tung so viele Aufgabe wie möglich übertragen wollen Macht doch keiner!) – das wollen auch wir –, bitte ich, die Verantwortlichen in der Selbstverwaltung, die an den Beratungen zum Ge- Ich bitte Sie, in diesem Punkt redlich zu sein; dann kön- setz beteiligt waren und uns gesagt haben, dass sie in der (B) (D) nen wir über alles reden. Lage seien, die ausstehenden Fragen zu regeln, und der Nun sage ich Ihnen, was das Ministerium getan hat: Es Gesetzgeber so wenig wie möglich machen solle, daran hat vom Tag der Verabschiedung des Gesetzes über Weih- zu erinnern, dass zur Freiheit auchVerantwortung ge- nachten hinweg bis heute gearbeitet. Wir haben auch nie hört. aufgehört, auf die Verantwortung der Selbstverwaltung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hinzuweisen. Diese wird aber durch Beschlüsse wie den DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ulrich folgenden einfach ignoriert: Heinrich [FDP]) Die Vertreterversammlung der KZV Bayern fordert Verantwortung bedeutet auch, dafür zu sorgen, dass den Vorstand auf, in allen Bereichen, in denen das nicht bei Millionen Menschen in diesem Land Angst und Gesundheitsmodernisierungsgesetz Ersatzvornah- Verunsicherung hervorgerufen werden. Dass eine Politik men vorgesehen hat, keinerlei Vereinbarungen von gemacht wird, die dazu führt, dass Menschen Angst be- sich aus zu schließen oder mit den Krankenkassen kommen, berührt mich als Einziges wirklich; nicht so zu vereinbaren, sondern die Umsetzung des Geset- sehr dagegen der Ärger mit den Funktionären. Mein zes durch Ersatzvornahmen des BMG wirksamKreuz ist breit genug, um das zu tragen. werden zu lassen. (Ulrich Heinrich [FDP]: Das ist ja eure Poli- Dies ist ein Beispiel dafür, wie in den Monaten nach Ver- tik! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Nein, das war abschiedung des GMG die sehr klaren gesetzlichen Re- die Dame mit dem blanken Fuß!) gelungen – ich bleibe dabei, das Gesetz regelt diese Fra- gen alle eindeutig – von der Selbstverwaltung nicht Die Frage derHeimbewohner, Frau Kollegin umgesetzt wurden. Brüning, möchte ich nun auch einmal ansprechen. Wir haben sehr intensiv darüber geredet, ob wir für Heimbe- Wir haben noch im Oktober diejenigen eingeladen, wohner, die Taschengeld beziehen, eine Ausnahme ma- die in der Selbstverwaltung die Umsetzung partner-chen sollen. schaftlich hätten organisieren sollen. Ich habe die Einla- dungen und die Protokolle über die Gespräche, die statt- Wir haben lange darüber diskutiert, denn das war uns ein gefunden haben, mitgebracht. wichtiges Anliegen. Wir haben uns gemeinsam, auch auf Wunsch der CDU/CSU, entschieden, das nicht zu ma- Wenn aber in Deutschland die organisierte Ärzte-chen; denn jede Ausnahme in einem Bereich führt zu schaft – ich meine nicht den einzelnen Arzt, sondern die Ausnahmen auch in anderen Bereichen. Wir haben sehr Ärztefunktionäre – lange darüber redet, wie gesetzliche bewusst nicht das gesamte Einkommen der Taschengeld- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7553

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) bezieherinnen und -bezieher, sondern nur den Regelsatz Das Gleiche gilt für dieFahrkosten: Die Regelung (C) der Sozialhilfe zugrunde gelegt. Das bedeutet – ich bitte gilt bei allgemein schlechtem Gesundheitszustand, etwa Sie, das überall, wo Sie darauf angesprochen werden, zu bei Behandlung durch Dialyse, Strahlenbehandlung, sagen –, dass ein chronisch kranker Mensch im HeimChemotherapie. Ich habe mich darüber hinaus dafür aus- nicht mehr als 3 Euro pro Monat zahlt, denn der Regel- gesprochen, dass die Regelung auf in ihrer Mobilität ein- satz liegt unter 300 Euro, und ein nicht chronisch kran- geschränkte Menschen, die zum Arzt müssen, ausgewei- ker Mensch nicht mehr als 6 Euro pro Monat zahlt. Da tet wird. Auch dem hat der zuständige Unterausschuss lobe ich mir die Initiativen zum Beispiel der Arbeiter- des Bundesausschusses jetzt zugestimmt. wohlfahrt und vieler guterHeime, die zu Beginn des Liebe Kolleginnen und Kollegen, die noch offenen Jahres für ihre Pflegebedürftigen in Vorleistung getreten Einzelfragen können geregelt werden, aber wir sollten sind. Ich sage noch einmal ganz klar: Ein Mensch, der in vor allem gemeinsam dafür sorgen, dass den Menschen die Pflegestufe II oder III eingestuft ist, in einem Pflege- die Angst genommen wird. Denn nichts ist schlimmer, heim untergebracht ist und regelmäßig ärztlich behandelt als wenn kranke oder behinderte Menschen oder Men- wird, ist auch nach den bisher verabschiedeten Definitio- schen mit kranken Kindern Angst davor haben, morgen nen chronisch krank. In der Regel werden nun bis zu keine Behandlung mehr zu bekommen. Wir haben dafür 3 Euro pro Monat vom Taschengeld abgezogen. gesorgt, dass sie sie bekommen; wir haben dafür gesorgt, Man kann in diesem Zusammenhang über die Frage dass das Gesundheitswesen bezahlbar bleibt. Jetzt soll- der sozialen Gerechtigkeit diskutieren, auch mit den ten wir dafür sorgen, dass auch die anderen, die der Ge- Kolleginnen von der PDS. Ich bin nach all den Diskussi- setzgeber dazu verpflichtet hat, Beschlüsse fassen: Das onen, die wir geführt haben – auch im Rahmen der Ver- bin nicht ich, das ist nicht der Bundestag, sondern das ist handlungen zu diesem Gesetz –, zu der Auffassung ge- die Selbstverwaltung. kommen: Jede andere Regelung ist wesentlichDanke schön. ungerechter. Zu dieser Auffassung stehe ich. Darüber zu reden, ob 3 Euro bei einem Taschengeld von 90 Euro zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mutbar sind – ich würde mir wünschen, dass wir diese DIE GRÜNEN) Debatte offensiv führen –, ist mir immer noch lieber als eine Debatte darüber, ob Menschen, die mit Pflegestufe II Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: oder III in einem Pflegeheim liegen, überhaupt noch die Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von notwendige medizinische Behandlung bekommen. der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Horst Seehofer (D) [CDU/CSU]) Maria Michalk (CDU/CSU): Diesen Aspekt sollten wir in den Vordergrund stellen. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Deshalb sind wir mit dem GKV-Modernisierungsgesetz ren! Die Reform des Gesundheitswesens ist ein ständiger den Weg gegangen, die medizinische Versorgung sicher- Prozess. Je nach Inhalt und Umfang nimmt man sie in zustellen. der Öffentlichkeit unterschiedlich stark wahr. Dieses Mal aber sind die Veränderungen so komplex, dass ich Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zu den noch offenen bisher niemandem begegnet bin, der sich nicht für die Fragen, die geklärt werden müssen: Ich habe bewusst die Gesundheitsreform interessiert. Ob durch Berichte in „Chronikerrichtlinie“ nicht abgelehnt. Aber ich habe den Medien oder durch eigenes Erleben in den letzten die dort festgelegte Definition, den Bezug auf den statio- Tagen: Alle haben schon Erfahrungen und halten ihre nären Bereich, die Pflegestufen II und III und eineKommentare bereit – positive, aber auch negative; wir Schwerbehinderung von 70 Prozent, nur mit der Auflage haben sie in dieser Debatte schon Revue passieren las- genehmigt, dass diese Definition ergänzt wird und auch sen. die dauerhafte Behandlung in der ambulanten Versor- gung einschließt. In diesem Moment, da wir hier sitzen, Das ist auch gut so. Denn die Kommentare zeigen, sitzen die entscheidenden Vertreter der Kassen und der dass sich mehr Menschen als gedacht an einem Prozess Ärzteschaft zusammen. Sie haben zugesagt, sich auf er- beteiligen, der zwar in vielen Einzelfällen sehr schmerz- weiterte Regelungen zu einigen, dass es beispielsweise lich, aber für das Fortbestehen unseres leistungsfähigen eine Liste mit Erkrankungen geben wird, weil es selbst- Gesundheitswesens unabdingbar ist. Reformen sind für verständlich ist, dass ein insulinpflichtiger Diabetikermich notwendige Regelungen, um Bewährtes in einem ein chronisch kranker Mensch ist, ebenso wie Krebs-veränderten Umfeld zu erhalten. Das liegt im Interesse kranke, Aidskranke und andere. aller. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es wäre deshalb ein Passivposten, wenn das wich- tigste Ziel, nämlich dieLohnnebenkosten durch Bei- Ergänzungen müssen immer wieder erfolgen, auch intragssatzsenkungen zu verringern, nicht eintritt. Gerade Zusammenarbeit mit den Patientenverbänden. Es muss hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung in Ost- klargestellt sein, dass die Ärzte und Krankenkassen ent- deutschland will ich das besonders betonen; denn in we- sprechende Definitionen – angelehnt an die Regelungen nigen Monaten stehen wir mit dem Beitritt unserer für Erkrankungen, die eine dauerhafte Behandlung erfor- Nachbarländer zur Europäischen Union im direkten und dern – auch für seltene Erkrankungen vornehmen. schonungslosen Vergleich der Löhne. Wir haben die 7554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Maria Michalk (A) Pflicht, alles zu tun, damit Arbeitsplätze entstehen und Dass der real existierende Verdienstunterschied auch (C) bestehen bleiben können. Dass unser Gesundheitswesen nicht gerade ein Stimulus für junge Ärzte ist, sich in die- eine Wachstumsbranche ist, ist nichts Negatives. Im Ge- sen Regionen niederzulassen, musste oft gesagt und ge- genteil: In dieser Branche sind sehr viele effiziente Ar- schrieben werden. beitsplätze entstanden, die Lebensperspektiven bieten. Dankenswerterweise ist dies aber nun in den Kon- (Beifall bei der CDU/CSU) sensverhandlungen berücksichtigt und eine Angleichung im Gesetz beschlossen worden, allerdings auf der Basis Weil wir immer älter werden, weil sich Medizin und von 95,7 Prozent des Westeinkommens. Technik immer weiter entwickeln und weil wir daher im- mer mehr Geld im Gesundheitsbereich ausgeben kön- Es blieb dabei unberücksichtigt, dass die Fallzahl pro nen, haben wir mit unserem Verhalten für das Bestehen Arzt in den neuen Ländern im Durchschnitt um 28 Pro- unseres Gesundheitssystems zu sorgen und dürfen nicht zent höher liegt. Das wirkt sich selbstverständlich beim zulassen, dass ihm ein Kollaps droht. Wir kommen ohne Aufwand für die Praxisgebühr aus. Für weniger Lohn stärkere, aber sozial ausgewogene Eigenbeteiligungbei 28 Prozent mehr Patienten mit entsprechend mehr nicht mehr aus. Das ist der Grundgedanke dieses Re-Aufwand für die Praxisgebühr und bei hoher medizini- formgesetzes. scher Versorgung – das ist schon eine Leistung. Ich will an dieser Stelle den Ärzten einmal Dank da- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. für aussprechen, dass die meisten ihre Aufgabe sehr Dr. Dieter Thomae [FDP] – Horst Seehofer ernst nehmen, sich ihr stellen und eine ordnungsgemäße [CDU/CSU]: Genau so ist es!) und ruhige Versorgung – zwar mit langen Wartezeiten – Dass es aber zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens noch sichern. viele offene Einzelfragen gibt, ist schon fatal. Dazu ge- (Beifall bei der CDU/CSU) hört die Regelung der Fahrkostenerstattung. Verbindli- che Auskünfte sind wichtig, insbesondere – das will ich herausstellen – in ländlichen und strukturschwachen Re- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gionen. Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten. Da sich in meinem Wahlkreis solche Regionen befin- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des den, habe ich viele Fragen zu der Regelung der Fahrkos- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker tenerstattung bekommen. Ich habe bereits im November Kauder [CDU/CSU]: Aber die Frau Schmidt bei der Bundesregierung schriftlich angefragt, wie sie si- hat auch überzogen! Zwei Minuten!) (B) cherstellt, dass entsprechende Regelungen fristgerecht (D) zum In-Kraft-Treten des Gesetzes vorliegen. Die Bun- desregierung hat in ihrer Antwort bekräftigt, dass alles Maria Michalk (CDU/CSU): getan wird, damit diese Regelungen fristgerecht vorlie- Ich bin gleich am Ende. – Die Politik hat die Selbst- gen. Warum nun das Gesundheitsministerium nichtverwaltung zu Recht mit einbezogen. Der Gemeinsame rechtzeitig vor dem 1. Januar 2004 die Umsetzung im Bundesausschuss hat sich unter dem Motto „Einer für Rahmen seiner Aufsichtspflicht eingefordert hat, bleibt alle“ konstituiert. Ich erwarte, dass der Gemeinsame mir ein Rätsel. Den Patienten bleibt jetzt nur das Rätsel- Bundesausschuss auch einen Blick auf die besondere Si- raten, was denn gilt. Das ist schade. tuation in den neuen Bundesländern richtet. Ansonsten gelingt die Reform nicht. Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen, der sehr Ich danke Ihnen. ernst zu nehmen ist und den ich immer wieder betone. Seit Jahren – besonders im letzten Jahr – weise ich im- (Beifall bei der CDU/CSU) mer wieder darauf hin, dass die ambulante Versorgung in den neuen Bundesländern aufgrund von immer weniger Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ärzten in Gefahr ist. In ihrer Antwort auf die Kleine An- Nächster Redner ist der Kollege Karl Hermann frage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom Juli letz- Haack, SPD-Fraktion. ten Jahres hat die Bundesregierung diesen drohenden Arztmangel negiert und festgestellt, dass es keine Unter- Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesre- versorgung, eher eine Überversorgung gibt. Die unter- gierung für die Belange der Behinderten: schiedliche Altersstruktur der Bevölkerung in struktur- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau schwachen Gebieten im Vergleich zu Ballungsräumen Michalk, zu Ihrem Lamento über die Praxisgebühr sage und die damit verbundene Mehrbelastung der dort täti- ich Ihnen Folgendes: Ich bin Apotheker und kassiere gen Ärzte wollte man nicht zur Kenntnis nehmen. täglich in meiner Apotheke Bargeld von meinen Patien- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne tinnen und Patienten. Wenn Sie zum Physiotherapeuten Kastner) gehen, erleben Sie das Gleiche. Auch die Ärzte werden das lernen. Da bleibt die Frage, die nur die Ärzte selber In der Antwort auf eine Anfrage der FDP korrigiert die zusammen mit ihren Funktionären beantworten können: Bundesregierung ihre Position ein wenig. Sind sie entweder zu blöd, mit Bargeld umzugehen, oder sind sie zu vornehm? (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Nächste Woche sieht das anders aus!) (Zurufe von der FDP: Oh!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7555

Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten (A) Mit Bürokratie hat das alles überhaupt nichts zu tun. wir bis heute folgende Tabubrüche nicht organisiert ha- (C) ben: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Rolf Stöckel [SPD]: Das ist der Punkt! Jeder Trottel Das ist zum Ersten die Entflechtung der sozialpoliti- in Deutschland kann 10 Euro einziehen und schen Verantwortung zwischen Bund, Ländern und kassieren!) Kommunen. Als Beauftragter für Menschen mit Behin- derungen kann ich in der Umsetzung des SGB IX, also Das Ganze wird hochgekocht, um eine Verweigerungin der Frage der Frühförderung, eine Menge zu der drin- und ein Scheitern im Hinblick auf das Gesundheitsmo- gend notwendigen Entflechtung beitragen. dernisierungsgesetz zu organisieren, an dem Sie mitgear- beitet und das Sie mitbeschlossen haben. Zum Zweiten sollten wir über folgenden Tabubruch diskutieren: Wie ist die Verantwortung in der subsidi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ären Struktur der Verbändeorganisation? Frau Schmidt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hat zu Recht vorgetragen, dass einige, zum Beispiel die Das Gleiche gilt für Sie, Frau Brüning; Sie haben in Arbeiterwohlfahrt – ich nenne das Beispiel 3 Euro und Ihrer Arbeitsgruppe darüber gesprochen. Warum haben 6 Euro –, positiv vorgehen. Sie tritt in Vorleistung, bis wir keine Eigenbeteiligung in Höhe von 10 Prozent, son- eine endgültige Regelung vorhanden ist. Andere tun es dern eine Ein- bzw. Zwei-Prozent-Regelung beschlos- nicht, sondern schreiben Briefe an die „Bild“-Zeitung. sen? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Das hat sie doch BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht kritisiert!) Es besteht also Handlungsbedarf. Wenn man subsidiäre Verantwortung übernehmen will, muss man dies auch Das haben doch Sie von der CDU/CSU entschieden. Sa- tun und sollte nicht herummeckern. gen Sie also nicht: „Wir möchten die Menschen vor Überforderung schützen“! So geht es doch nun wirklich Ich komme jetzt zum nächsten Punkt und finde es gut, nicht! dass wir hier Schützenhilfe erhalten. In der „Süddeut- schen Zeitung“ von heute steht auf Seite 4: „Selbstver- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schreien Sie Ihre waltung – klingt nur gut“. Darin wird das ganze Di- Kunden auch so an?) lemma beschrieben. Jeder von den Verbänden und Herr Dr. Thomae, damit komme ich zu Ihnen. Sie ha- Organisationen war eingeladen, an den Runden teilzu- ben auf Ihrem Dreikönigstreffen bzw. auf Ihrem Partei- nehmen. Es ging doch bei der Beratung dieses GKV-Mo- tag eine Rückkehr zur Realität und eine Abkehr von dem dernisierungsgesetzes nicht wie bei der Papstwahl zu: (B) Ziel, 18 Prozent der Wählerstimmen zu erhalten, be-Alle in ein Zimmer, Türen zu, weißer Rauch steigt auf(D) schlossen. Sie sind also wieder in der alten Situation, bei und wir haben ein GKV-Modernisierungsgesetz. Es hat 5 Prozent herumzukrebsen. Sie müssen wahrnehmbar vielmehr immer Rückkopplung zu den Verbänden und gegenüber zwei großen Volksparteien und der innovati- Organisationen gegeben. Es war also bekannt, dass es ven Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sein. zwei Probleme der Selbstverwaltung zu regeln gab, nämlich die Regelung für die chronisch Kranken und die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Fahrkostenregelung. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Thomae [FDP]: Was? Ich denke an die Maut! Spätestens seit Oktober hatte man Zeit, darüber zu re- Ich denke an die Steuergesetze! Ich denke an den. Struck! – Weitere Zurufe von der FDP) (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Und?) Darum verhalten Sie sich heute so. Sie sind nicht auf der Ich weiß aus dem Haus, dass die Ministerin zu Gesprä- Seite der kleinen Leute, für die wir zusammen mit der chen eingeladen hat und die Selbstverwaltung abwarten CDU/CSU versuchen in den nächsten Jahren eine ge- wollte, bis das Gesetz im Bundesgesetzblatt veröffent- sundheitliche Versorgung zu garantieren. Das ist dielicht wurde. Danach wollte die Selbstverwaltung weiter- Wahrheit. sehen. Dann wurde eine Regelung auf den Tisch gelegt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von der Sie wussten, dass sie der informellen Verabre- DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Thomae [FDP]: dung nicht entsprach. Das Konstrukt, das die Ministerin Chaospolitik! Denken Sie doch mal an Stolpe! heute vorgetragen hat, war bereits Ende Oktober infor- – Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Haack, mell verabredet und die Selbstverwaltung hat nichts ge- schreien Sie Ihre Kunden auch so an?) tan. – Ich schreie nicht. Ich rede immer so laut. Wir werden über einen weiteren Punkt diskutieren müssen. Hierbei bin ich gespannt, wie viel Zivilcourage Kommen wir einmal zum nächsten Punkt. Diese Ge- insbesondere Sie von der FDP dazu aufbringen werden. sundheitsreform ist in meiner politischen Biografie die Wir werden eine Arbeitsgruppe „Institutionelle Refor- neunte Gesundheitsreform, die ich durchführe. Manmen sozialer Sicherungssysteme“ einrichten, um die sollte einmal ehrlich sein: Wenn diese Legislaturperiode Verantwortlichkeiten endgültig neu zu definieren. Wir zu Ende ist, bin ich 20 Jahre im Deutschen Bundestag. werden damit die eigene Geschichte und das eigene Ver- Ich habe erlebt, dass der Umbau des Sozialstaates mehr ständnis hinterfragen und in eine große gesellschaftliche oder weniger immer wieder gescheitert ist. Warum? Weil Debatte eintreten. 7556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten (A) Wir müssen dazu kommen, dass die Selbstverwaltung Deshalb möchte ich uns alle auffordern, diesen Fehler (C) ihrer Verantwortung nachkommt und die notwendige Ar- jetzt nicht zu wiederholen. Stattdessen müssen wir zu beit erledigt. Es kann nicht so bleiben wie bei der Chro- dem, was wir entschieden haben und was richtig ist, ste- niker- und der Fahrkostenregelung, bei der die Selbstver- hen. waltung ihre Verantwortung nicht wahrgenommen und anschließend den Politikern in einer riesigen Medien- Dieter Thomae, ich bin dir sehr dankbar, dass du hier kampagne Vorwürfe gemacht hat. So etwas möchte ich klipp und klar gesagt hast, dass die FDP zur Zuzahlung nicht noch einmal erleben. steht. Denn das In-Kraft-Treten von Gesundheitsrefor- men ist immer die Stunde der Heuchler, der Feiglinge, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Charakterlosen und auch der Bösartigen. Das habe DIE GRÜNEN) ich oft genug erlebt. Deshalb bin ich dankbar, dass du hier heute nicht geheuchelt hast. Du hast das Gesetz Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zwar kritisiert, dich aber zur Zuzahlung bekannt. Allzu viele tun nämlich jetzt so, als seien sie der soziale An- Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kol- walt der Menschen. Wenn sie mir gegenübersitzen, und lege Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion. zwar seit Jahren, sind sie aber die größten Verfechter der Zuzahlung. Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herren! Dem Kollegen Haack wünsche ich, dass er ge- Meine Damen und Herren, diese Heuchelei mancher nauso gut hören wie er laut reden kann; denn er hat die Funktionäre im deutschen Gesundheitswesen müssen Union und die Frau KolleginBrüning völlig falsch zi- wir zerstören. tiert. Herr Kollege Haack, die CDU/CSU steht uneinge- schränkt zu den Kernentscheidungen dieser Gesund- (Beifall im ganzen Hause) heitsreform. Es dient niemandem in der Politik – darüber Wenn sich die FDP gegen diesen Kompromiss stellt, soll sich niemand täuschen –, wenn er zunächst gemein- dann darf man aber schon darauf hinweisen, dass die sam beschließt und anschließend nicht zu dem gemein- Landesregierungen, an denen sie beteiligt ist – in Sach- sam Entschiedenen steht. sen-Anhalt, in Baden-Württemberg und in Rheinland- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Pfalz –, im Bundesrat zugestimmt haben. Ich erlebe das jetzt zum fünften Mal nach einer Ge- (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Leider!) sundheitsreform. Die Kommentare, die ich in den letzten Hier wird die Kostenerstattung als Alternative zur (B) Tagen und Wochen gelesen habe, könnten genauso aus Praxisgebühr genannt. (D) den Jahren 1997, 1993 oder 1989 stammen. Es ist immer der gleiche Ablauf. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Unglaublich! Welche Heuchelei!) Der größte Fehler ist 1997 passiert. Seinerzeit fand die gleiche Diskussion statt. Übrigens haben wir damals Ich sage es ganz sachlich, Dieter Thomae, du kennst die Selbstbeteiligung ebenso wie die Erhöhung der Zu- meine Meinung; ich habe viel Verständnis für die Idee zahlung und die Ausgrenzung des Zahnersatzes für Ju- der Kostenerstattung. Nur zahlt man dann nicht jedes gendliche gemeinsam beschlossen. Damals gab es eine Quartal 10 Euro Praxisgebühr, sondern bei jedem Arzt- andere Opposition, sie ist nicht ganz so verantwortungs- besuch eine Selbstbeteiligung. Jeder Arztbesuch ist dann voll mit der Notlage im Gesundheitswesen umgegangen teurer als diese 10 Euro Praxisgebühr. Das gehört zur wie heute die CDU/CSU. Wahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter 1997 wurde den Bürgern versprochen: Wenn ihr uns Thomae [FDP]: Pro Quartal!) wählt, dann schaffen wir das wieder ab. Zweiter Punkt. Warum haben wir das gemacht – Frau (Dr. Dieter Thomae [FDP]: So ist es!) Michalk hat eben noch einmal darauf hingewiesen –: Die Damit sich der gleiche Fehler nicht wiederholt, sage ich Grundentscheidung dieser Gesundheitsreform war un- hier bewusst: Damals hat man die Selbstbeteiligung re- ausweichlich. Wir wären besser beraten gewesen, wenn duziert, den Zahnersatz wieder aufgenommen und das wir diese Grundentscheidung aus den Jahren 1997 und Krankenhausnotopfer abgeschafft. Das war einer der1998 damals beibehalten hätten. Hintergrund dieser größten Fehler in der jüngeren deutschen Sozialge-Grundentscheidung ist, dass die gesetzliche Krankenver- schichte; denn es war der Anfang des finanziellen Nie- sicherung in der größten Finanzkrise ihrer Geschichte dergangs der gesetzlichen Krankenkassen. steckt: höchste Beiträge, höchste Schulden, keine Rück- lagen mehr. Wir haben keine Versorgungskrise, sondern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – eine Finanzkrise. Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- Übrigens ist das in allen hoch entwickelten Ländern frage) so, nicht nur bei uns in Deutschland. Das ist die Konse- quenz aus Arbeitslosigkeit, medizinischem Fortschritt – Es gibt keine Zwischenfragen in der Aktuellen Stunde. und steigender Lebenserwartung. Im Sorgenbarometer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7557

Horst Seehofer (A) des so oft zitierten Vorbildes Schweiz stehen an vorders- Frau Ministerin, mir persönlich genügt es nicht, wenn (C) ter Stelle Arbeitslosigkeit und Gesundheitskosten. man sagt, das werde bald entschieden. Vielmehr müssen diese Fragen sofort entschieden werden. (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Holland!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb mussten wir eine Antwort auf die Finanzie- rungskrise geben. Hier ging es um eine Weichenstellung. Sie müssen heute und morgen entschieden werden, da- mit Klarheit herrscht. Die Erhöhung der Arbeitskosten ist wirklich nicht möglich. Der bequeme Weg der letzten 30 Jahre, die Ich bin dankbar dafür, dass man jetzt, wie Sie gesagt Beiträge und damit die Arbeitskosten zu erhöhen, steht haben, zusammensitzt. Es stellt sich nur die Frage, wa- uns nicht zur Verfügung. Da besteht Konsens. Im letzten rum es jetzt in wenigen Stunden geht, wenn es vor Weih- Jahr sind 400 000 Arbeitsplätze aus Deutschland abge- nachten nicht ging. wandert. Es kann niemand mehr ernsthaft vorschlagen, (Zustimmung von der SPD) die Finanzlücke in der Krankenversicherung durch stei- gende Beiträge zu schließen. Letzte Bemerkung. Wenn man die Arbeitskosten nicht erhöhen will, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bleibt nur die Wahl, entweder die Kernleistungen zusam- Herr Kollege, Sie haben aber die Redezeit schon weit menzustreichen oder die Menschen in sozial verträgli- überschritten. In der Aktuellen Stunde beträgt sie fünf cher Form an den Gesundheitskosten zu beteiligen. Es Minuten. gibt keine andere Möglichkeit.

1993 habe ich als Gesundheitsminister die gesetzliche Horst Seehofer (CDU/CSU): Budgetierung eingeführt. Ich habe aus diesen Jahren ge- Ich dachte, wenn eine Ministerin überzieht, ist es lernt, dass man vorübergehend budgetieren kann. Bud- auch das Recht der Opposition, die Redezeit leicht zu getieren bedeutet aber immer Leistungseinschränkung. überziehen. Wenn man auf Dauer budgetiert, geht es zulasten der chronisch Kranken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dr. Dieter Thomae [FDP]: So ist es!) Die Opposition überzieht zum zweiten Mal. Auch in diesen aufgeregten Tagen bin ich klipp und klar dafür, bei der Grundentscheidung zu bleiben, nicht (CDU/CSU): (B) Horst Seehofer (D) die Kernleistungen zusammenzustreichen, sondern die Ich komme zum Schluss. – Das ist ein wichtiges Menschen in verträglicher Form an den Gesundheitskos- Thema, das die Leute bewegt. ten zu beteiligen. Eine Beteiligung an den Kosten ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) besser als ein Ausschluss von der medizinischen Versor- gung. Sie wäre die Alternative. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall im ganzen Hause – Birgitt Bender Trotzdem haben wir in der Aktuellen Stunde fünf Mi- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es fehlt nur nuten Redezeit, Herr Kollege. noch der Wettbewerb der Leistungsanbieter!) Die Probleme liegen nicht im Gesetz. Vielmehr wären Horst Seehofer (CDU/CSU): manche Dinge besser im alten Jahr geklärt worden. Okay. Seien Sie tolerant. Wenn man sagt, der chronisch Kranke zahlt nur 1 Prozent, dann muss zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tre- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tens klar sein, wer als chronisch krank gilt. Wenn Gehbe- Sie sind lange genug im Parlament, um das zu wissen. hinderte und schwer Kranke weiterhin Krankentrans- porte zulasten der Krankenversicherung bekommen Horst Seehofer (CDU/CSU): sollen, dann verstehe ich nicht, warum manche Kassen Meine Damen und Herren, ich schließe mit einer Be- wieder auf irgendein Ministerium verweisen, anstatt die merkung dazu, wie es jetzt weitergeht. Diese Zweifels- vom Gesetz eingeräumten Möglichkeiten zu nutzen. Im fragen müssen schnell geklärt werden. All denen, die Gesetz steht, dass sie das bei schweren Krankheiten so jetzt über Gesetzesänderungen nachdenken, rate ich aus entscheiden können. der Erfahrung der Jahre 1997 und 1998, die nächsten (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Monate in Ruhe zu beobachten, Mitte des Jahres Bilanz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu ziehen und dann zu entscheiden, ob da oder dort viel- leicht Veränderungsbedarf besteht. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Kollege, Ihre Redezeit ist um. Für Veränderungen gibt es nur zwei Maßstäbe: Ers- tens. Wird die Versorgung der kranken Bevölkerung Horst Seehofer (CDU/CSU): weiterhin auf hohem Niveau gewährleistet? Das funktio- Gleich. – Das ist ein Schwarzer-Peter-Spiel. niert im Moment. Zweitens. Wie verhält es sich bei all 7558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Horst Seehofer (A) den Maßnahmen, die wir beschlossen haben, mit der so- Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch(C) zialen Betroffenheit? Die Antworten auf diese zwei Fra- die Bundesregierung gen müssen die Maßstäbe sein, nicht die Stärke irgend- welcher Lobbyistenorganisationen. Fünfter Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einten Nationen zur Beseitigung jeder Form der SPD) von Diskriminierung der Frau (CEDAW) Ich möchte schließen mit einem Auszug aus dem – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Kommentar von Rolf Kleine aus der heutigen „Bild“- Eichhorn, Hannelore Roedel, Dr. Maria Zeitung – das ist die Losung des heutigen Tages –: Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Natürlich gibt es in Deutschland Probleme – auch ein paar gravierende … Benachteiligung von Frauen wirksam be- kämpfen – Konsequenzen ziehen aus dem CEDAW-Bericht der Bundesregierung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege! – Drucksachen 15/105, 15/599, 15/601, 15/740, 15/1171 –

Horst Seehofer (CDU/CSU): Berichterstattung: Und die „deutsche Krankheit“? Sie besteht am ehes- Abgeordnete Renate Gradistanac ten im Miesmachen, Klagen und Jammern – und das auf Irmingard Schewe-Gerigk allerhöchstem Niveau. Die Therapie? Selbstbewusst die Hannelore Roedel Mundwinkel nach oben – und in die Hände spucken! Ina Lenke Ich finde, das, was uns die „Bild“-Zeitung heute emp- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die fiehlt, ist die Losung des Tages. Nur, sie sollte sich auch Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen selbst daran halten. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla- (Beifall bei der CDU/CSU) mentarische Staatssekretärin Christel Riemann- Hanewinckel. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Unruhe) Die Aktuelle Stunde ist beendet. (B) (D) – Ich habe die Aussprache über einen neuen Tagesord- Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: nungspunkt eröffnet und bitte die Kolleginnen und Kol- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- legen, die bei diesem Tagesordnungspunkt nicht anwe- richts des Ausschusses für Familie, Senioren,send sein wollen, den Saal zu verlassen. – Bitte schön, Frauen und Jugend Frau Staatssekretärin. (12. Ausschuss) Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekre- – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- tärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, rung Frauen und Jugend: Fünfter Bericht der BundesrepublikFrau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Deutschland zum Übereinkommen der Ver- legen! Liebe Gäste! Anlass und Grundlage dieser De- einten Nationen zur Beseitigung jeder Form batte ist der Fünfte Staatenbericht der Bundesrepublik von Diskriminierung der Frau (CEDAW) Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Natio- nen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der – zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne- Frau. Nach den Vorgaben des Übereinkommens ist die ten Renate Gradistanac, Sabine Bätzing, Ute Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, alle vier Jahre Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion über dessen Umsetzung zu berichten. der SPD sowie der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Ekin Deligöz, Josef Philip Den Fünften Bericht werde ich in der kommenden Wo- Winkler, weiterer Abgeordneter und der Frak- che vor dem dafür zuständigen Expertinnenausschuss tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu der Vereinten Nationen in New York vorstellen. Die der Unterrichtung durch die Bundesregierung Expertinnen ziehen für die Bewertung der Staatenbe- richte auch die Meinung der Nichtregierungsorganisatio- Fünfter Bericht der Bundesrepubliknen heran. Die Frauen- und Menschenrechtsorganisatio- Deutschland zum Übereinkommen der Ver- nen haben von der Möglichkeit der Erstellung eines so einten Nationen zur Beseitigung jeder Form genannten Schattenberichtes auch diesmal in Deutsch- von Diskriminierung der Frau (CEDAW) land Gebrauch gemacht. Dafür sage ich an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön. –zudem Entschließungsantrag der Abgeordne- ten Ina Lenke, Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7559

Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel (A) Am 15. Dezember letzten Jahres habe ich den Schatten- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) bericht entgegennehmen können. Wir werden uns sehr DIE GRÜNEN) eingehend damit auseinander setzen und den begonne- nen Dialog mit den Verbänden fortsetzen. Das Zusammenwirken aller Ebenen ist notwendig. Es geht um strukturelle Veränderungen in unserer Gesell- Ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass schaft. In diesem Sinne werden wir den Aktionsplan, der es gelungen ist, noch vor der Präsentation in New York eine sehr hohe Priorität für die Bundesregierung hat, in heute hier im Deutschen Bundestag die Aussprache zum dieser Legislaturperiode fortschreiben. Bericht durchzuführen. Die Debatte eines Staatenberich- tes im Deutschen Bundestag ist hier in Deutschland ein Die Bundesregierung hat 1997 die bundesweite Novum in der Geschichte der Staatenberichte und zu- Arbeitsgruppe „Frauenhandel“ eingerichtet. Vertrete- gleich ein wichtiges Signal an den UN-Ausschuss. Das rinnen und Vertreter von sieben Bundesministerien ge- zeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland, die Bundes- hören dieser Arbeitsgruppe ebenso an wie die Beauf- regierung und die im Deutschen Bundestag vertretenen tragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, politischen Parteien den völkerrechtlichen Vorgaben des Vertreter des Bundeskriminalamtes, der Länderfachkon- Übereinkommens eine große politische Bedeutung bei- ferenzen und Beratungsstellen. In der Arbeitsgruppe messen. werden umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung des Frauenhandels erarbeitet. Der Fünfte Staatenbericht zum CEDAW-Überein- kommen zeichnet nicht nur die Entwicklung der Gleich- Zurzeit wird im Europarat ein Übereinkommen zur stellungspolitik seit dem vorangegangenen Vierten Be- Bekämpfung des Menschenhandels erstellt. In dem für richt nach, sondern er ist zugleich eine Bilanz die der Erarbeitung dieses Übereinkommens zuständigen gleichstellungspolitischen Initiativen der rot-grünen Ausschuss hat Deutschland, namentlich unser Ministe- Bundesregierung seit 1998. Diese Bilanz, meine Da- rium, im September 2003 den Vizevorsitz übernommen. men und Herren, kann sich sehen lassen. Mit dem Pro- – Das sind nur zwei Beispiele von vielen Aktivitäten auf gramm „Frau und Beruf“ und dem nationalen Aktions- internationaler Ebene gegen Menschenhandel. plan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen haben Meine Damen und Herren, 1999 hat die Bundesregie- wir Maßstäbe gesetzt. Im Gegensatz zum Vierten Staa- rung Gender Mainstreaming zum Leitprinzip ihres po- tenbericht können wir in diesen beiden zentralen Berei- litischen Handelns gemacht. Die Ergebnisse, die wir chen der Gleichstellungspolitik erstmals eine Gesamt- seither unter Führung einer interministeriellen Arbeits- strategie vorlegen. Dieser Bundesregierung ist gruppe es in nahezu allen Ressorts vorweisen können, sind gelungen, erfolgreiche Maßnahmen zur Bekämpfungbeachtlich. Ein wichtiges Vorhaben für diese Legislatur- von Gewalt gegen Frauen einzuleiten. (B) periode war die Einrichtung des Genderkompetenzzen- (D) Ein wesentlicher Teil der erfolgreichen Umsetzung trums. Ende Oktober des vergangenen Jahres haben wir des Aktionsplans ist das Gewaltschutzgesetz des Bun- es an der Humboldt-Universität in Berlin eröffnet. des. Durch dieses Gesetz kommen von Gewalt betrof- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fene Opfer schneller und einfacher zu ihrem Recht und DIE GRÜNEN) können Schutzanordnungen gegen den Gewalttäter, auch gegen den gewalttätigen Beziehungspartner erreichen. In – Ja, an dieser Stelle muss es Beifall geben. – Dieses Zusammenhang mit diesem Gesetz haben inzwischen Kompetenzzentrum soll die Einführung und die Umset- mehrere Bundesländer ihre Polizeigesetze angepasst. zung von Gender Mainstreaming in allen Bereichen der Gesellschaft, der Verwaltung, der Politik und der Wirt- Die gesetzlichen Verbesserungen beginnen zu wirken. schaft unterstützen. Das Zentrum wird beraten, For- Immer mehr betroffene Frauen fühlen sich gestärkt und schung initiieren und koordinieren, Wissen bündeln und setzen sich gegen den gewalttätigen Partner zur Wehr. Expertinnen und Experten ausbilden. Dass sich die Bun- Einrichtungen wie Frauenhäuser, Beratungsstellen und desregierung in Zeiten von Sparzwängen am Aufbau ei- Zufluchtswohnungen sowie die Notrufe sind stärkernes solchen Kompetenzzentrums beteiligt, zeigt die Be- denn je gefragt. Erste Trends aus der repräsentativendeutung, die Gender Mainstreaming als Strategie und Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Methode zur Erlangung on v mehr Chancengerechtig- Frauen in Deutschland“, die im Sommer abgeschlossen keit zwischen den Geschlechtern bekommen hat. Gen- sein wird, zeigen, dass die betroffenen Frauen niedrig- der Mainstreaming hat eine neue, qualitativ erweiterte schwellige Unterstützung brauchen, weil sie häufig die Phase der Gleichstellungspolitik eingeleitet. Gender belastenden rechtlichen Verfahren alleine nicht durchste- Mainstreaming führt vor allem zu strukturellen Verände- hen. rungen. Aufbau und Finanzierung der Infrastruktur zur Unter- Der Bekämpfung noch vorhandener Diskriminie- stützung von von Gewalt betroffenen Frauen und Mäd- rungstatbestände vor allem im Erwerbsleben dient die chen liegt in der Verantwortung der Bundesländer. An- Umsetzung der europäischen Gleichbehandlungsrichtli- gesichts der sich dort abzeichnenden Sparmaßnahmen nien in nationales Recht, an der wir mit Hochdruck ar- appelliere ich von dieser Stelle eindrücklich an die Ver- beiten. antwortlichen in den Ländern, Kommunen und Verbän- den, aber auch an private Unterstützerinnen und Unter- Meine Damen und Herren, wir werden dem Deut- stützer, weiterhin ihr Möglichstes zu tun, um Frauen und schen Bundestag, wie im Entschließungsantrag der Frak- Kindern aus Gewaltsituationen herauszuhelfen. tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefordert, 7560 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel (A) erstmals in dieser Legislaturperiode einen Bericht zur Dass wir in Deutschland ohne Not Humankapital(C) Lage der Gleichstellung von Frauen und Männern in brachliegen lassen, sehen wir an dem Anteil von Frauen Deutschland vorlegen. Grundlage dieses Berichtes wird in Führungspositionen. In der Wirtschaft beträgt der An- ein Datenreport sein, in dem zu zentralen Fragestellun- teil der Frauen in diesem Bereich gerade einmal knapp gen wie Bildung, Erwerbstätigkeit, soziale Sicherung11 Prozent. und gesellschaftliche Partizipation die jeweiligen Le- benslagen von Frauen und Männern gegenübergestellt (Nicolette Kressl [SPD]: In der werden. Damit wird im Sinne des Gender Main- Wissenschaft auch!) streaming der politische Handlungsbedarf in den unter- Wir liegen damit deutlich hinter vergleichbaren Industrie- schiedlichen Themenbereichen sichtbar gemacht. Uns nationen. werden erstmals wirklich verlässliche Daten vorliegen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie ist das denn in Frauen haben von der Arbeitsmarktpolitik der rot- Finnland?) grünen Bundesregierung in den vergangenen fünf Jahren in nicht unerheblichem Maße profitiert. Wir sehen aber auch, dass die Teilzeitbeschäftigungin Deutschland mit einer Frauenquote von 86 Prozent nach (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie vor eine absolute Frauendomäne ist. Auch das muss DIE GRÜNEN) sich ändern. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an dasGleich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellungsgesetz für den öffentlichen Dienst, DIE GRÜNEN) (Ina Lenke [FDP]: Kontraproduktiv!) Der soziale Schutz der Teilzeitbeschäftigten hat sich seit die Einführung der Elternzeit, den Rechtsanspruch auf dem letzten Staatenbericht allerdings verbessert. Hier einen Teilzeitarbeitsplatz, die Reform des Betriebsver- sind vor allen Dingen die Männer und Väter gefragt. fassungsgesetzes, die damit verbundene Einführung ei- Der Weg zu mehr Chancengerechtigkeit in der Wirt- ner Quote zur Steigerung des Frauenanteils in den Be- schaft führt immer noch über die Auflösung des Zielkon- triebsräten und nicht zuletzt an das Job-AQTIV-Gesetz, flikts von Familie und Beruf. Viele Unternehmen in durch das vorgegeben wird, Frauen an allen Maßnahmen Deutschland – bei den Großbetrieben sind es fast 50 Pro- der aktiven Arbeitsmarktförderung zu beteiligen. zent – bieten ihren Beschäftigten heute die Möglichkeit Mit der Agenda 2010 haben wir in den vergangenen einer besseren Balance von Familie und Beruf an. Bei Wochen und Monaten weitreichende Reformen in den diesem Thema gibt es inzwischen also eine gewisse Auf- (B) Bereichen Wirtschaft, Arbeit, Gesundheit, Finanzen und geschlossenheit. Das hat auch eine Betriebsbefragung im (D) Bildung auf den Weg gebracht. Ziel ist es, allen Bürge- Auftrag des DGB ergeben. Es muss aber endlich integra- rinnen und Bürgern einen gleichberechtigten Zugang zu ler Bestandteil der Unternehmenspolitik werden, dass allen Erwerbstätigkeiten zu eröffnen. Wir werden dieauch Familien- und Gleichstellungspolitik für die Unter- Wirkungen des Reformpaketes mit besonderem Blick nehmen notwendig und wichtig sind. auf die Wirkung auf Frauen sehr genau überprüfen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, in Deutschland hatten wir DIE GRÜNEN) noch nie eine so gut ausgebildete Frauengeneration wie Im letzten Jahr haben wir den betriebswirtschaftli- heute. chen Nutzen von familienfreundlichen Maßnahmen prü- (Renate Gradistanac [SPD]: Ja!) fen lassen und festgestellt, dass die Unternehmen gleich- zeitig ihren Beitrag für eine bessere Balance von Familie Dennoch: Wenn wir uns die Karriereverläufe von Frauen und Arbeitswelt leisten unddie Wirtschaftlichkeit ver- und Männern ansehen, dann stellen wir fest, dass sie bis bessern können. Diese Strategie der Kooperation liegt zum 30. Lebensjahr nahezu identisch sind. Danach öff- auch der Vereinbarung der Bundesregierung mit den net sich allerdings eine Schere in den Erwerbs- und Ein- Spitzenverbänden der Wirtschaft zur Durchsetzung der kommensverläufen, die sich im gesamten Erwerbsleben Chancengleichheit zugrunde. nicht mehr schließt, wenn Frauen wegen der Kinderer- ziehung ihre berufliche Laufbahn unterbrechen. Spätes- (Ina Lenke [FDP]: Ist 2003 aber ausgelaufen!) tens in dieser Lebensphase machen Frauen die Erfah- Uns ist es in der Vergangenheit mit der Reformgesetz- rung, dass sie nicht gleich behandelt werden. gebung gelungen, vor allen Dingen für die Kinder etwas Die Lohn- und Einkommensunterschiede zwischen zu tun, die an der Armutsgrenze leben. Wir haben einen den Geschlechtern haben sich seit der Veröffentlichung Kinderzuschlag eingeführt, des Vierten Staatenberichts nicht verringert. Allerdings (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Irmingard haben wir als Bundesregierung hier nur begrenzte Ein- Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wirkungsmöglichkeiten. Diese wollen wir aber nutzen. NEN]) Im bereits erwähnten Gleichstellungsbericht wird der Lohn- und Einkommenssituation von Frauen und Män- der 150 000 Kinder und deren Eltern – vor allen Dingen nern ein eigenes Kapitel gewidmet werden. Wenn uns die Alleinerziehenden – aus der Sozialhilfe holen wird. diese Ergebnisse vorliegen, werden die Tarifparteien am Daneben haben wir einen Steuerfreibetrag für Alleiner- Zuge sein. ziehende eingeführt. Wir kommen damit auch einer For- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7561

Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel (A) derung des CEDAW-Ausschusses und der Nichtregie- Im Mittelpunkt des fünften Berichts steht die Wei- (C) rungsorganisationen nach. terentwicklung der Gleichstellung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen in Die materiellen Leistungen für Familien in Deutsch- Deutschland. Diese konnte in den vergangenen vier land können sich sehen lassen, aber bei derKinderbe- Jahren mit vielfältigen Maßnahmen vorangebracht treuung bilden wir europaweit nach wie vor das werden. Schlusslicht. Deshalb wollen wir für Kinder aller Alters- gruppen bis zum Jahr 2010 eine bedarfsgerechte Ange- Das sind vollmundige Aussagen und ich frage: Wel- botsstruktur schaffen. Die finanziellen Voraussetzungen che konkreten Erfolge kann die Bundesregierung denn haben wir geschaffen; jetzt sind die Kommunen amvorweisen? Frauen leiden immer noch in allen Lebens- Zuge. Denn die Balance von Familien- und Erwerbsar- bereichen unter erheblichen Benachteiligungen: auf dem beit ist nach wie vor der Schlüssel zur Chancengerech- Arbeitsmarkt, bei der Vereinbarkeit von Familie und Be- tigkeit für Frauen in Arbeitswelt und Gesellschaft. ruf und in den sozialen Sicherungssystemen. Ich will nur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einige davon herausgreifen, die vor allem Arbeitsmarkt DIE GRÜNEN) und Beruf betreffen. Sie ist auch der Schlüssel für wirtschaftliches Wachstum Beispiel Arbeitsmarkt. Die Chancen für Frauen, eine und gesellschaftlichen Fortschritt in diesem Land. Wir unbefristete Stelle zu finden, sind gegenwärtig denkbar werden mit Sicherheit daran weiterarbeiten. schlecht. Dafür trägt die Bundesregierung zu einem ge- hörigen Teil die Verantwortung; Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) DIE GRÜNEN) nicht nur, weil es ihr nicht gelingt, unsere Wirtschaft aus dem Tief herauszumanövrieren, sondern auch, weil sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: darüber hinaus noch vermeintlich frauenfördernde Maß- Nächste Rednerin ist die Kollegin Hannelore Roedel, nahmen ergreift, die wirkungslos oder kontraproduktiv CDU/CSU-Fraktion. sind. Die schlechte Lage auf dem Arbeitsmarkt gefähr- det die Gleichberechtigung mehr als alles andere und die (Beifall bei der CDU/CSU) Zahlen der vergangenen Monate und die Ausblicke sind wenig ermutigend. Hannelore Roedel (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen Es kann uns auch nicht beruhigen, wenn die Bundes- (B) und Kollegen! regierung in ihrem Bericht frohlockt, dass die Frauener- (D) werbsquote im Jahr 2000 in den neuen Bundesländern Pflegerin und Trösterin sollte die Frau sein; Sinn- zum ersten Mal unter der der alten Bundesländer lag. bild bescheidener Harmonie, Ordnungsfaktor in der Denn diesem Erfolg muss man die stille Reserve hinzu- einzig verlässlichen Welt des Privaten; Erwerbstä- rechnen; das sind die Frauen, die sich entmutigt vom Ar- tigkeit und gesellschaftliches Engagement sollte die beitsmarkt verabschiedet haben. Frau nur eingehen, wenn es die familiären Anforde- rungen zulassen. Beispiel Teilzeit. Wie erwartet und von allen Fachleu- Ein Zitat, meine Damen und Herren, aus dem Bericht der ten vorhergesagt, hat das neue Gesetz über Teilzeit und Bundesregierung über die Situation der Frau in Beruf, befristete Arbeitsverträge, das seit 1. Januar 2001 in Familie und Gesellschaft aus dem Jahr 1966. Kraft ist, keine positive Wirkung erzielt. Im Gegenteil, dieses Gesetz wirkt sich beschäftigungshemmend aus, Inzwischen ist das 20. Jahrhundert vergangen und ein weil Unternehmen im Rechtsanspruch auf Teilzeit ein Umdenken ist erreicht. Die Situation der Frauen in Poli- Einstellungshindernis und eben keine Chance für Frauen tik und Gesellschaft hat sich deutlich verbessert. Aber sehen. Diese Konsequenzen und Auswirkungen treffen die tatsächliche Gleichberechtigung von Frau undin erster Linie Frauen, denn sie sind es, die in Teilzeit ar- Mann haben wir in Deutschland noch immer nicht er- beiten. 86 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten sind reicht. Darüber kann auch der Fünfte Bericht der Bun- Frauen. desregierung zu CEDAW nicht hinwegtäuschen, denn er stellt die frauenpolitischen Defizite in Deutschland nicht (Ina Lenke [FDP]: Warum? – Weil es keine im gegebenen Maß dar, sondern er beschönigt. Kinderbetreuung gibt!) Wir von der Union teilen nicht Ihre Meinung, sehr Teilzeit bedeutet aber nicht nur weniger Gesamtein- verehrte Damen und Herren von der Koalition, die Sie in kommen, sondern auch eine schlechtere soziale Absi- Ihrem Entschließungsantrag kundtun. Sie schreiben dort cherung und schlechtere Aufstiegschancen. Deshalb ist – ich zitiere –: der im Bericht der Bundesregierung erwähnte Anstieg der Teilzeitquote, der auf der anderen Seite mit einem Vieles von dem, was der CEDAW-Ausschuss bei Sinken der Vollzeitquote verbunden ist, unter frauenpoli- der Prüfung des vierten CEDAW-Berichts ... noch tischem Blickwinkel als äußerst bedenklich einzuschät- anmahnte, hat die Bundesregierung seit 1998 um- zen. Der Grund für Teilzeitarbeit liegt in den westlichen gesetzt. Bundesländern zu 80 Prozent in Familienverpflichtun- Weiter heißt es in Ihrem Antrag: gen, wobei jedoch bei 30 Prozent der Frauen der 7562 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Hannelore Roedel (A) gewünschte Wechsel in die Vollzeittätigkeit an fehlender senschaft und Forschung sowie in technikorientierten(C) Kinderbetreuung scheitert. Berufs- und Studiengängen sind Frauen nach wie vor ganz besonders unterrepräsentiert. Mittlerweile ist zwar (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- jede fünfte Habilitation von einer Frau geschrieben, aber NEN]: Siehe Bayern! – Irmingard Schewe- nur etwas mehr als jede zehnte Professur von einer Frau Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: besetzt. An den außeruniversitären Forschungseinrich- 1,4 Prozent Ganztagsbetreuung für unter Drei- tungen liegt sogar nur jede 20. Führungsposition in jährige in Bayern!) weiblicher Hand. Damit liegt Deutschland auch im euro- Im Osten dagegen ist der Mangel an Vollzeitbeschäf- päischen Vergleich weit zurück. tigungen zu über 50 Prozent der Grund für die Teilzeitar- Mit pseudofortschrittlichen Initiativen vonseiten der beit der Frauen. Mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeit, Regierung wie der Juniorprofessur lassen sich diese verehrte Damen und Herren von der Regierungsbank Missstände nicht beheben. Sie zeugen nur vom wilden – wie ich sehe, befindet sich zurzeit nur eine Dame auf Aktionismus dieser Regierung. „Innovaktionismus“ hat der Regierungsbank –, bringen Sie also die Frauen einer die „Rheinische Post“ vom 5. Januar 2004 dieses Geba- besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, deren Sie ren anlässlich der jüngsten Kanzlerpläne zur Eliteuniver- sich im Entschließungsantrag rühmen, keinen Deut nä- sität nicht umsonst getauft. Hier gilt: vom Fortschritt re- her, sondern das Gegenteil ist der Fall. den, ohne viel dafür zu tun. Beispiel Einkommensunterschiede. Nach wie vor Statt mit der Frauenförderung erst im Alter von gibt es große Unterschiede beim Verdienst von Frauen 30 Jahren zu beginnen, müssen die Weichen schon frü- und Männern. Am gravierendsten sind diese Abstände her gestellt werden. Das Interesse an Naturwissenschaft im Handel und im produzierenden Gewerbe. Vollzeitbe- und Technik muss bei Mädchen schon in der Grund- schäftigte Arbeiterinnen und Angestellte verdienen in schule gefördert werden. Nur so kann verhindert werden, diesen Branchen durchschnittlich ein Viertel weniger als dass Mädchen ein spezifisch weibliches Selbstkonzept ihre männlichen Kollegen. Wie so oft outen sich damit entwickeln, das unter Umständen später die Entschei- auch hier die groß angekündigten Maßnahmen der Bun- dung bei der Berufswahl zum Nachteil einer Laufbahn desregierung als für die Medien inszenierte Schnell- im naturwissenschaftlich-technischen Bereich beein- schüsse. An den Fakten hat sich – Sie haben es zugege- flusst. Gerade Forscherinnen vermissen familienfreund- ben – seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün bislang liche Arbeitszeiten und Kinderbetreuungseinrichtungen. nichts geändert. Wir brauchen eine Politik für Frauen, die bei den Ursachen der Lohndiskriminierung ansetzt, Als letztes BeispielAltersarmut. Altersarmut wie beispielsweise bei der herkömmlichen Aufteilung des Armut überhaupt wird im Bericht der Bundesregierung (B) Arbeitsmarktes in Frauen- und Männerberufe oder beim komplett vernachlässigt, als ob es sie in Deutschland gar (D) Berufswahlverhalten von Frauen. nicht gebe. Dabei sind gerade Frauen viel stärker als (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Männer von Altersarmut betroffen, was auch aus den ho- neten der FDP) hen Langzeitarbeitslosenzahlen bei Frauen resultiert. Beispiel beruflicher Wiedereinstieg. Wir beklagen Ich fasse zusammen: Frauenförderung hat keine gute überall den Mangel an Frauen in Führungspositionen. Konjunktur. Der Weg aus der Flaute ist vordringlich. Wir Einer der Hauptgründe dafür ist in den wechselndenmüssen uns aber alle dessen bewusst werden, dass Frau- Phasen von Erwerbs- und Familientätigkeit bei Frauen enförderung kein Gnadenakt und kein karitativer zu sehen. Bei einem Wiedereinstieg in den Beruf nach Schnickschnack ist, auf den in schwierigen Zeiten ver- einer Familienpause müssen viele Frauen in einer niedri- zichtet werden kann. geren Position beginnen als der, die sie verlassen haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie wenn denn der Wiedereinstieg überhaupt möglich ist. der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- Frauen werden dadurch in niedriger bezahlte Erwerbsbe- NIS 90/DIE GRÜNEN] reiche abgedrängt und ein kontinuierlicher Karriereweg wird verhindert. Weder Elternzeitgesetz noch Sie der dient der Gesamtgesellschaft. Wissenschaftliche Un- Rechtsanspruch auf Teilzeit bringen hier Erleichterung tersuchungen weisen immer wieder auf einen wichtigen für Frauen. Zusammenhang hin: Wenn Frauen ihre Kinder gut be- treut wissen, wenn Frauen eine ausreichend bezahlte Ar- Wir sind der Meinung, dass zu einem erfolgreichen beit haben und wenn sie wegen ihrer Kinder nicht be- Wiedereinstieg Folgendes nötig ist: erstens freiwillige nachteiligt werden, dann ist die Geburtenrate hoch. Vereinbarungen zwischen Unternehmen und ihren Mit- arbeitern für Teilzeit, zweitens gemeinsam mit der Wirt- Der Bericht der Bundesregierung wird dieser Situa- schaft ausgearbeitete Konzepte für den Wiedereinstieg tion nicht gerecht. Anspruch und Wirklichkeit werden und drittens eine effiziente Beratung und Vorbereitung wie immer auf Kosten der Frauen vermischt. der Frauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das kön- nen Sie alles machen!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Beispiel Frauen in Wissenschaft und Technik. In Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard Schewe- den Entscheidungs- und Führungspositionen von Wis- Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7563

(A) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Ich konzentriere mich auf zwei Punkte: auf die Frau- (C) GRÜNEN): enerwerbsarbeit und auf die Situation von Migrantinnen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die auch in Ihrem Bericht besonders beleuchtet wurde. Frau Kollegin Roedel, ich war mir nicht ganz im Klaren, Gerade was den Arbeitsmarkt angeht – da gebe ich Ih- ob Sie Ihre Rede zum Vierten oder den Fünften Bericht nen, Frau Roedel, Recht – sind wir von einer wirklichen der Bundesregierung gehalten haben. Der Vierte Bericht Gleichstellung von Frauen und Männern weit entfernt. ging nämlich bis zum Jahr 1998 und ich entnehme dem Da wäre zunächst die fortbestehende Lohnungleichheit. Bericht ganz andere Informationen. Die Bundesregierung hat im Jahr 2002 einen Bericht zur Wenn die Bundesregierung in der nächsten WocheBerufs- und Einkommenssituation vorgelegt, der die dis- vor dem UN-Frauenrechtsausschuss in New York ihren kriminierende Praxis bei der Arbeitsbewertung deutlich Fünften Bericht zur Lage der Gleichberechtigung von macht. Nach wie vor werden Kompetenzen, die zur Frauen und Männern abgibt, Übernahme von Verantwortung für Kinder, Kranke und alte Menschen befähigen, niedriger bewertet als solche, ( [CDU/CSU]: Die Grünen die für technische Tätigkeiten notwendig sind. Wir kön- verbiegen sich immer!) nen es nicht länger hinnehmen, dass Frauen im Durch- dann kann sie in der Tat über eine rot-grüne Erfolgsge- schnitt immer noch annähernd 30 Prozent weniger ver- schichte in der Frauenpolitik berichten. dienen als Männer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ina Lenke [FDP]: Na, na! – und bei der SPD) Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Es wäre schön, wenn es so wäre!) Hier sind die Tarifparteien gefordert. Wir fangen auch bei uns an. Der BAT wird zurzeit überarbeitet. In unse- Dieser Fünfte Bericht bezieht sich nämlich auf die Jahre rem direkten Zuständigkeitsbereich sind wir also schon 1998 – das war das Jahr des Regierungsantritts – bisaktiv. 2001. Seitdem haben wir viel für Frauen auf den Weg gebracht. Ich will es gerne konkret machen: das Teilzeit- Dass gerade Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in ihren gesetz, Wirkungen auf Männer und Frauen sehr unterschiedlich (Ina Lenke [FDP]: Schlecht!) sein können, ist bekannt. Das Prinzip des Gender Main- streaming jedoch ist leider noch nicht überall angekom- das Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst, men. Darum freue ich mich, dass das Ministerium einen (Ina Lenke [FDP]: Das ist besser!) Auftrag vergeben wird, um die Auswirkungen der (B) Agenda 2010 sehr genau auf ihre Geschlechtergerechtig- (D) die Elternzeit, das Lebenspartnerschaftsgesetz, keit zu untersuchen. Eine Sache ist allerdings schon jetzt (Beifall der Abg. Renate Gradistanac [SPD]) klar: Die um 15 Prozent höheren Beiträge für Frauen bei der Riester-Rente sind nicht hinnehmbar. Eine staatliche das Prostitutionsgesetz, Förderung darf es nur geben, wenn gleiche Tarife bei (Ina Lenke [FDP]: Das bringt auch nichts!) gleichen Leistungen gelten. das Gewaltschutzgesetz, das eigenständige Aufenthalts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN recht für ausländische Ehefrauen und der finanzielle An- und bei der SPD sowie der Abg. Ina Lenke schub für Kinderbetreuung und Ganztagsschulen; und [FDP]) das, obwohl der Bund dafür überhaupt nicht zuständig ist, Frau Kollegin Lenke. – Da könnte eigentlich auch die CDU/CSU klatschen, denn Frau Böhmer ist in dieser Frage mit uns einer Mei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nung. Ich bitte auch ausdrücklich um Ihre Unterstützung und bei der SPD – Ina Lenke [FDP]: Wo sind in dieser Angelegenheit. die denn? – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Erfolgsstory!) Auch bei der Gleichstellung in derPrivatwirtschaft liegt noch manches im Argen. Ende des Monats wird im Aber natürlich bleibt auf dem Weg zu einer geschlech- Blick auf die Vereinbarung zwischen Arbeitgeberver- tergerechten Gesellschaft noch viel zu tun. bänden und Bundesregierung aus dem Jahre 2001 Bilanz Wo viel Licht ist, kann natürlich auch Schatten sein. gezogen. Aber sowohl die Ergebnisse des Instituts für Darum freue ich mich, einige der Autorinnen des Schat- Arbeitsmarkt- und Berufsforschung als auch die Studie, tenberichtes heute auf der Tribüne begrüßen zu können. die der Deutsche Gewerkschaftsbund erstellt hat, zeigen, Ich möchte Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich dafürdass noch viel zu tun ist. Das Bild ist ein düsteres. danken, dass Sie der Aufforderung des CEDAW-Über- einkommens gefolgt sind und in ehrenamtlicher Arbeit Sollte sich bestätigen, dass sich bei der Gleichstellung einen sehr detaillierten Bericht, der 250 Seiten umfasst, von Männern und Frauen in der Privatwirtschaft tatsäch- verfasst haben, der die Regierungsarbeit aus der Sicht lich nichts oder nur wenig getan hat, sind konkrete der NGOs kommentiert. Im Wesentlichen zeigt Ihr Be- – auch gesetzliche – Schritte erforderlich. Die Umset- richt Probleme auf, bei denen auch wir Handlungsbedarf zung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien ist nur ein sehen, wie unser Entschließungsantrag zeigt. erster Schritt. 7564 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aber um wieder ernst zu werden: Sie erinnern sich si- (C) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der cherlich, Frau Schewe-Gerigk, dass Sie im letzten Bun- Kollegin Lenke? destagswahlkampf ein Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft gefordert haben. Was ist aus diesem Gleich- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE stellungsgesetz geworden? GRÜNEN): Selbstverständlich. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie haben die Koalitionsvereinbarung offensichtlich Bitte schön. doch nicht so gründlich gelesen. ( [FDP]: Es gibt Spannende- Ina Lenke (FDP): res!) Frau Schewe-Gerigk, wenn Sie konkrete Schritte für den Fall ankündigen, dass die Vereinbarung aus demDarin war von gesetzlichen Regelungen in einzelnen Jahre 2003 nicht die gewünschten Ergebnisse bringen Punkten die Rede. Ich habe gerade schon einige Vor- sollte, werde ich neugierig. Können Sie mir erläutern, schläge genannt, was zu tun wäre. Dazu gehört die syste- welche Schritte Sie sich vorstellen? matische Untersuchung der Situation der Frauen in den Betrieben. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE schung hat die Unternehmen aufgesucht und dort im GRÜNEN): Rahmen des Betriebspanels Fragen gestellt. Es geht zu- Die Umsetzung der EU-Richtlinien ist, wie gesagt, nächst einmal darum, herauszufinden, warum so wenig ein erster Schritt. Wir müssen die Diskriminierung auf- Frauen in der Privatwirtschaft und vor allen Dingen in grund des Geschlechtes neu regeln. Wir wollen auch ein Führungspositionen tätig sind. – Ich danke für die Fra- Verbandsklagerecht einrichten, sodass Frauenver-gen. bände zum Beispiel gegen Lohnungleichheit und Diskri- Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich minierung bei der Einstellung oder Beförderung klagen komme jetzt zu der unerfreulichenZuwanderungsde- können. batte. Für uns Grüne gilt: Geschlechtsspezifische und Wir haben aber noch viele andere Ideen. Die EU-nicht staatliche Verfolgung muss im Sinne der Genfer Richtlinien sehen zum Beispiel vor, dass Unternehmen Flüchtlingskonvention anerkannt werden. angeregt werden sollen, die Situation der Frauen in ihren (B) Betrieben systematisch zu erfassen. Das würde eine gute (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (D) Datengrundlage bieten, um zu prüfen, wie Frauen der bei der SPD und der FDP – Jerzy Montag Zugang zu Führungspositionen ermöglicht werden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch für die kann. Denn in diesem Bereich ergibt sich ein düsteres SPD!) Bild. In den Vorständen der über 100 an der Börse ver- – Genau. – Mit der Nichtanerkennung verstößt Deutsch- tretenen Aktiengesellschaften ist nicht eine Frau vertre- land gegen die Empfehlungen der UN-Menschenrechts- ten. Sie sind sicherlich mit mir der Meinung, dass wir kommission und des UN-Flüchtlingskommissars. das ändern müssen. Ich bitte Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU: Nehmen Sie Ihren Einfluss wahr, damit im und bei der SPD) Zuwanderungsgesetz die geschlechtsspezifische und nicht staatliche Verfolgung endlich so geregelt wird, wie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: es von einem weltoffenen Land wie Deutschland erwar- Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle- tet wird! Wir müssen dort nicht immer das Schlusslicht gin Lenke? sein, nur weil Sie uns bremsen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE und bei der SPD) GRÜNEN): Wenn sie mich so charmant ansieht. Mit Menschenhandel wird mehr Gewinn gemacht als mit illegalen Drogen- und Waffengeschäften. Das Ina Lenke (FDP): deutsche Strafrecht bezieht bisher den Handel zum Danke schön. Das gibt esauch unter Frauen. Man Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, den Heiratshan- kann auch freundlich zueinander sein. del und die Zwangsheirat nicht mit ein. Entsprechende Änderungen nehmen wir derzeit auf der Grundlage des (Dr. Uwe Küster [SPD]: Kann ich den Satz VN-Abkommens und des EU-Rahmenbeschlusses von noch einmal hören?) 2002 vor. – Opposition und Regierung müssen sich nicht immer Im kürzlich verabschiedeten Opferrechtsreformgesetz fetzen, Herr Küster, wie wir beide das tun. haben wir bereits einige Verbesserungen zumSchutz (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das war ein sehr ko- der Opfer vorgesehen. Der EU-Rahmenbeschluss ver- mischer Touch in Ihrem Satz!) langt allerdings weitere Änderungen. So ist der aufent- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7565

Irmingard Schewe-Gerigk (A) halts- und sozialrechtliche Status für Opferzeuginnen bei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) weitem nicht ausreichend. Nächste Rednerin ist dieKollegin Ina Lenke, FDP- Fraktion. Wer Frauenhandel wirksam bekämpfen will, muss die Opfer besser schützen. Ina Lenke (FDP): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen von SPD und CDU/CSU und der FDP) Grünen loben den CEDAW-Bericht der Bundesregie- Meist können die Täter doch nur durch die Aussagen der rung; das ist sicherlich richtig. Opfer ermittelt werden. Unter Abschöpfung der Ge- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist berechtigt und winne aus diesem menschenverachtenden Geschäft wol- richtig!) len wir Opferfonds einrichten und die notwendige Arbeit der Beratungsstellen finanzieren. Aber die Aufgabe der FDP in der Opposition ist natür- lich, die Arbeit der Bundesregierung auf den Prüfstand Es gibt aber nicht nur die sexuelle Ausbeutung von zu stellen. Frauen. Gerade Migrantinnen finden oft nur eine Tätig- keit im informellen Sektor. Dazu gehört vor allen Dingen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie haben doch gar die Arbeit in privaten Haushalten. Das sind Bereiche, in keine Aufgaben mehr!) denen sie arbeitsrechtlich weitgehend ungeschützt sowie – Mit solchen lockeren Sprüchen wäre ich an Ihrer Stelle der Willkür der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen aus- sehr vorsichtig. Das bekommen Sie bei Gelegenheit von gesetzt sind. Ein unklarer oder illegaler Status kann Aus- mir zurück. beutung und Gewalt verstärken, und zwar in allen gesell- schaftlichen Schichten. (Beifall bei der FDP) Die Nichtregierungsorganisation Ban Ying hat im Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Auftrag von zehn weiblichen Angestellten in Diploma- Es gibt sicherlich positive Maßnahmen der Bundesre- tenhaushalten in Deutschland die Einleitung eines Unter- gierung. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Ge- suchungsverfahrens vor dem CEDAW-Ausschuss bean- waltschutzgesetz, wonach der Täter, der schlägt, aus der tragt. Das ist die erste konkrete Handlung aufgrund der gemeinsamen Wohnung verbannt werden kann. Das ist bestehenden gesetzlichen Regelung. Es werden sklave- richtig. Sie wissen, dass auch die FDP diesem Gesetz zu- reiähnliche Arbeitsbedingungen und Freiheitsentzug be- gestimmt hat. Aber andere rot-grüne Gesetze sind kon- klagt. Nach unseren Informationen hat sich der VN-Aus- traproduktiv. (B) schuss zur Einleitung des Verfahrens entschlossen, da in (D) Deutschland auf dem Rechtsweg nichts gegenüber Di- Unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten – ich plomaten und Diplomatinnen erreicht werden kann. Es möchte in diesem Zusammenhang auf die Forderungen ist zwar bitter, aber die Immunität steht über den Men- der CDU/CSU-Fraktion zu sprechen kommen – muss ich schenrechten. sagen: Das Gesetz, wonach Männer und Frauen einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit haben, ist ein Bu- Ich komme zu dem Antrag der CDU/CSU. Frau meranggesetz. Eichhorn, Ihr Antrag ist in den meisten Punkten gut: mehr Kinderbetreuungsangebote, Verbesserung der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gleichstellung gerade in den Bereichen Wissenschaft Wir alle wissen, dass viele Frauen Teilzeit arbeiten wol- und Forschung sowie familienfreundliche Gestaltung der len. Aber sie werden wegen dieses Rechtsanspruchs von Arbeitszeit. Aber er hat einen Schönheitsfehler: Das, skeptischen Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen erst gar was Sie in Ihrem Antrag fordern, machen wir schon. nicht eingestellt. Deshalb ist das ein schlechtes Gesetz; 1,5 Milliarden Euro für die Betreuung von Kindern unter denn es verstellt den Frauen jedenfalls in der Praxis den drei Jahren sowie Bündnisse für die Familie sind nur ei- Zugang zum Arbeitsmarkt. In der Theorie mag das ja an- nige Stichworte. Was wir aber nicht machen werden, ist ders sein. eine Rücknahme des Rechts auf Teilzeitarbeit, wie es auch die FPD fordert. In den Niederlanden ist daraus im Wir alle wissen, dass die Integration der Frauen auf Übrigen ein Jobwunder entstanden. Bei uns dauert es of- dem Arbeitsmarkt der zentrale Schlüssel zu einer tat- fensichtlich etwas länger. Aber die pessimistische Ein- sächlichen Gleichberechtigung der Geschlechter in allen stellung von Frau Roedel kann ich nicht teilen. AuchBerufen und auf allen Ebenen, bis in die höchsten Füh- Ihre Forderungen nach Änderung der Arbeitsvermittlung rungs- und Entscheidungspositionen hinein, ist. Unsere und des Kündigungsschutzes wurden bereits umgesetzt. Gesellschaft ist natürlich auch grundsätzlich gefordert, die enormen Leistungen, die Frauen heute noch in Fami- Sie sehen: Die rot-grüne Regierung tut etwas. Aber lien und Ehrenämtern erbringen, endlich angemessen an- sie weiß auch, dass in frauenpolitischer Hinsicht noch zuerkennen. Auch das wäre ein wichtiges Thema für un- viel zu tun ist. Nachhilfeunterricht brauchen wir jeden- sere Ausschussberatungen. falls nicht. Die überwiegende Mehrzahl der Frauen jedenfalls Vielen Dank. will heute auf eine berufliche Karriere nicht mehr ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zichten. In unserem Entschließungsantrag zum Bericht und bei der SPD) der Bundesregierung haben wir aufgezeigt, welche 7566 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Ina Lenke (A) Barrieren beseitigt werden müssen, damit die gleichbe- nicht parteipolitisch agiert wird. Die FDP hat gehandelt. (C) rechtigte Integration der Frauen auf dem Arbeitsmarkt Wir werden sehen, wie Sie sich dazu stellen. endlich besser gelingt. Ich möchte noch auf ein wichtiges Thema, das Ehe- Wir haben unsere Forderungen im Hinblick auf zwei gattensplitting, zu sprechen kommen. Bis heute hat Bereiche konkretisiert und dem Bundestag vorgelegt.keine Fraktion im Deutschen Bundestag ein Konzept Was unseren Antrag zu Tagesmüttern und -vätern an-vorgelegt, das eine Weiterentwicklung des Ehegatten- geht, will ich hier einmal klarstellen, dass die Verab-splittings hin zu einem Familienrealsplitting vorsieht. schiedung unseres Antrages zur Tagespflege die mit der Sie von Rot-Grün beteuern in jeder Podiumsdiskussion, von der Bundesregierung jahrelang ignoriertenBetreu- dass auch Sie den bisherigen Zustand ungerecht finden ungsmisere verbundenen Probleme nicht allein lösen und das Ehegattensplitting ändern wollen. Frau Schewe- kann. Das ist ganz klar. Meine Damen von der SPD und Gerigk, ich persönlich finde es ausgesprochen diskrimi- vom Bündnis 90/Die Grünen, angesichts dessen, was Sie nierend, dass ein Ehepaar, bei dem nur ein Ehepartner zu unserem Antrag in Bezug auf Tagesmütter gesagt ha- arbeitet und das – wohlgemerkt – keine Kinder hat, auf ben, bin ich wirklich schwer enttäuscht, weil Ihre starke der Grundlage des Ehegattensplittings im Jahr circa Kritik total unberechtigt ist. 9 000 Euro Steuern spart, während eine Ehefrau, die ge- nauso viel wie ihr Mann verdient und Kinder erzieht, mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten keinem Cent vom Ehegattensplitting profitiert. Ist das der CDU/CSU) gerecht? Sie hätten diesen Antrag, auch wenn er von der FDP (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ kommt, vorurteilsfrei prüfen und sich wirklich überlegen DIE GRÜNEN]: Nein!) sollen, ob es nicht besser gewesen wäre, eine andere Stellungnahme abzugeben. Selbst die Ministerin hat im Weder das SPD-geführte Familienministerium noch Ausschuss gesagt, dass dieser Antrag gut ist und dass ei- die Mehrheit in diesem Hause noch die Mehrheit in einer nige Teile dieses Antrags übernommen werden. Ihnen der Fraktionen wollen etwas ändern. bleibt auch gar nichts anderes übrig, weil Sie die Hälfte (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ der Betreuung von Kindern unter drei Jahren den Tages- DIE GRÜNEN]: Und die Mehrheit in der müttern zuschieben; denn die Krippenplätze sind zu FDP?) teuer. Also: Ich finde Ihre Kritik sehr unberechtigt. Es hat mich als Frau in diesem Ausschuss sehr geschmerzt, – Frau Schewe-Gerigk, fassen Sie sich erst einmal an wie parteipolitisch Sie mit diesem Thema umgehen. Ihre eigene Nase und setzen Sie diese Sache in Ihrer ei- genen Fraktion und in dieser Koalition durch! Ich habe (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sehr deutlich gesagt, dass das meine persönliche Mei-(D) der CDU/CSU) nung ist. Ich sage auch sehr deutlich, dass es hier, im Deutschen Bundestag, derzeit keine Mehrheit dafür gibt. Ich will Ihnen zu diesem Thema noch eines sagen:Es würde mich freuen, wenn wir Frauen an diesem Die Zuschriften, die ich von Verbänden, Bürgern undPunkt einmal zusammenarbeiten würden. von unserem Tagesmütterverein bekommen habe, ent- halten auf der ganzen Linie Zustimmung. Ich komme jetzt zum Schluss. Die schlechte Wirt- schafts- und Arbeitsmarktpolitik verursacht eine hohe Außerdem fordern wir alle, die Frauen aus Arbeitslosigkeit. der Frauen sind davon ganz besonders be- Schwarzarbeit herauszuholen. Auch dazu hat die FDP troffen. Meine Damen und Herren von der Koalition, ein Konzept mit ihren neuen Steuerplänen vorgelegt.nicht neue Gesetze mit hoher politischer Lenkungswir- Dieses Konzept hat Sie wahrscheinlich noch nicht er- kung schaffen mehr Gleichberechtigung, sondern ein li- reicht. Ich will in dieser frauenpolitischen Debatte deut- beraler Staat, der seinen Bürgern und Bürgerinnen ver- lich sagen: Unser Konzept, das so genannte Solms-Kon- traut, viel Spielraum für Eigenverantwortung und zept – die FDP hat diese Woche eine entsprechendeEigeninitiative lässt und die Bürger und Bürgerinnen da Vorlage in den Bundestag eingebracht –, sieht die Ab- unterstützt, wo sie nicht allein tätig werden können, zum schaffung der Steuerklasse V vor. Wirtschaftsexperten Beispiel bei der Organisation der Kinderbetreuung. Das sagen, dass die „Frauensteuerklasse“ eindeutig einen ne- ist ein liberaler Weg und nicht der von Rot-Grün. gativen Anreiz zur Beschäftigungsaufnahme bedeutet. Dass das so ist, wissen wir alle. Das brauche ich Ihnen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten heute nicht mehr zu erklären. der CDU/CSU) Mit dem CEDAW-Bericht haben die Fraktionen von SPD und Grünen im Frühjahr 2003 Forderungen an die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bundesregierung gestellt, die Steuerklasse V abzuschaf- Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf, fen, und zwar mit dem Ziel, Diskriminierung abzubauen. SPD-Fraktion. Das war am 12. März 2003. Trotz Ihrer Ankündigungen ist bis heute nichts passiert. Wir haben das umgesetzt. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Ich gehe davon aus, dass einige Frauen von Ihnen sehr Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! deutlich sagen werden: Die in dem neuen Steuerkonzept Sehr geehrte Damen und Herren auf den Besuchertribü- der FDP enthaltene Forderung übernehmen wir viel-nen! Herr Seehofer hat uns in der Aktuellen Stunde ge- leicht in unser Steuerkonzept. Ich erwarte, dass hierrade dazu aufgefordert, Optimismus zu zeigen. Die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7567

Angelika Graf (Rosenheim) (A) Staatssekretärin hat in ihren Ausführungen gezeigt, dass Das hat übrigens auch etwas mit der Diskussion über(C) wir mit der Bundesregierung eine gute frauenfreundliche Menschenrechte und Frauenrechte im schulischen Be- Politik machen. Sie hat damit alles widerlegt, was von reich und in der Bildung sowie darüber hinaus mit der Ihnen, Frau Roedel und Frau Lenke, vorgetragen worden Sprache zu tun, die wir benutzen. Sie können sich viel- ist. Ich meine, dass die Chancen, im Berufsleben zu blei- leicht erinnern, dass wir uns in der letzten Sitzung unse- ben, insbesondere mit der Teilzeitregelung und der Mög- res Ausschusses über das Thema Sprache unterhalten ha- lichkeit, nach einer Unterbrechung wieder Teilzeit arbei- ben. ten zu können, durchaus gegeben sind. Die Arbeit in diesem Bereich trägt durchaus Früchte. (Ina Lenke [FDP]: Aber nicht Von Gewalt betroffene Frauen haben durch die fort- bei Einstellungen!) schreitende bundesweite Vernetzung von Hilfsprojekten und Hilfsorganisationen zunehmend eine Lobby. Das Die Frauenrechte sind entgegen allen Unkenrufen auf zeigt der heute schon oft zitierte so genannte Schattenbe- einem relativ guten Weg. Das zeigt sich schon an der Ta- richt. Er beleuchtet den Staatenbericht der Bundesregie- geszeit, zu der wir hier diskutieren. Früher gab es solche rung. Ich empfehle diesen Schattenbericht jedem, der an Debatten immer erst nachmittags oder in den frühendiesem Themenkreis interessiert ist. Er gibt viele Anre- Abendstunden. gungen und viel Grund zum Nachdenken. Ich danke den Wir reden heute über den Fünften Bericht der Bun- Verfassern ganz ausdrücklich. desrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Ver- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Irmingard einten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskri- Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- minierung der Frau – ein schwieriger Titel. Deswegen NEN]) hilft uns die Abkürzung CEDAW da weiter. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass mehr Kolleginnen, insbeson- Einer der Schwerpunkte des Schattenberichts ist die dere auch mehr Kollegen – das gilt für alle Fraktionen –, Situation von Migrantinnen, welche oft Opfer von dieser Debatte folgen. Gewalt sind. Der Kampf gegen Genitalverstümmelung, Schandemorde, Zwangsverheiratung und andere Formen (Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind der geschlechtsspezifischen Verfolgung auf dieser Welt proportional gut vertreten!) ist nicht gewonnen. Ich appelliere deshalb genauso wie die Kollegin Schewe-Gerigk an Sie, verehrte Kollegin- Die Staatenberichte zeigen deutlich, dass wir etwas nen und Kollegen von der Union: Es wird Zeit, dass wir gegen die komplexen und ineinander greifenden Diskri- im neuen Zuwanderungsgesetz den frauenspezifischen minierungen von Frauen in der Lebensrealität tun müs- Fluchtgründen Rechnung tragen! (B) sen. CEDAW fordert die Staaten zu konkreten Maßnah- (D) men zur Abschaffung dieser Diskriminierungen auf und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist seit 1979 von 160 Staaten auf dieser Welt unterzeich- DIE GRÜNEN) net worden. Es gibt allerdings zu keiner anderen völker- Ebenso müssen die Vorbehalte gegen die Kinderrechts- rechtlichen Konvention soviele Vorbehalte wie zu konventionen endlich zurückgenommen werden. CEDAW. Das zeigt, wie schwierig der Umgang mit The- men dieser Art ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Erstaunlicherweise beschäftigt sich CEDAW erst seit der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 mit Überdenken Sie Ihre diesbezüglichen Ressentiments und dem Komplex „Gewalt gegen Frauen und Kinder“ wirken Sie auch auf die von Ihnen getragenen Landesre- und enttabuisiert damit dieses Thema. Es gewinnt so-gierungen entsprechend ein! wohl national – Stichwort „häusliche Gewalt“ – als auch Ein besonders hässliches Kapitel im Bereich der im Zuge der Globalisierung immer mehr an Aktualität. Menschenrechtsverletzungen an Frauen – die Kollegin Das ist übrigens ein Aspekt, den ich in dem Antrag der Schewe-Gerigk hat das auch schon angesprochen – ist CDU/CSU nur wenig und in dem Entschließungsantrag der Menschenhandel. Frauen werden von Banden der der FDP überhaupt nicht gefunden habe. Deswegen wer- organisierten Kriminalität nach Westeuropa verschleppt den wir beide ablehnen. und hier sexuell ausgebeutet und missbraucht. Aber auch (Beifall der Abg. Christel Humme [SPD]) moderne Sklaverei in Haushalten nimmt anscheinend immer mehr zu. Deutschland ist Ziel- und Transitland in Das kriminologische Institut Hannover stellt fest, dass einem. Es ist deshalb zu begrüßen, dass das Bundesmi- jede siebte Frau in Deutschland mindestens einmal in ih- nisterium der Justiz zur Umsetzung des EU-Rahmenbe- rem Leben Opfer einer Vergewaltigung oder sexuellen schlusses zur Bekämpfung des Menschenhandels dem- Nötigung wird. Die Bundesregierung – die Staatssekre- nächst einen Referentenentwurf vorlegen wird. tärin hat das geschildert – unternimmt große Anstren- gungen, sexistischer Gewalt nicht nur mit gesetzlichen Im Jahr 2002 wurden laut Bundeskriminalamt Regelungen entgegenzutreten. Wichtig ist die Förderung 811 Opfer von Menschenhandel registriert, davon waren der Kooperation zwischen den verschiedenen beteiligten mindestens 800 weiblich. Die Zahl der Ermittlungsver- Behörden und den nicht staatlichen Hilfsangeboten. fahren wegen Menschenhandels stagniert seit Jahren bei etwa 300. Schätzungen sprechen auf der anderen Seite (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten jedoch von 500 000 Zwangsprostituierten, die jährlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nach Europa gebracht werden. Mit Frauenhandel wird in 7568 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Angelika Graf (Rosenheim) (A) Europa mehr Geld gemacht – die Kollegin Schewe-– Diesen Bericht, verehrte Frau Kollegin, nicht den letz- (C) Gerigk hat das schon gesagt – als im Drogengeschäft. ten. – In der Zusammenfassung lesen wir Artikel für Ar- Deshalb ist es gut, dass die bundesweite Arbeitsgruppe tikel, dass der Ausschuss mit großer Sorge den mangel- Frauenhandel seit 1997 die Arbeit der Bundes- und Lan- haften Fortschritt bei der Gleichstellung von Frauen in desregierungen, des BKA und der Nichtregierungsorga- Deutschland beobachtet. nisationen koordiniert. Polizei und Fachberatungsstellen (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Sie müs- im In- und Ausland ziehen inzwischen an einem Strang, sen etwas anderes gelesen haben!) wobei ich den dringenden Appell an die Landesregierun- gen richte, dafür zu sorgen, dass in ihren Ländern die Fi- – Lesen Sie es bitte, bevor Sie darüber reden. – Fast je- nanzierung der bestehenden Beratungsstellen sicherge- der Absatz fängt mit negativen Feststellungen an: der stellt wird und mehr Beratungsstellen eingerichtetAusschuss sorgt sich, der Ausschuss mahnt an, der Aus- werden. schuss äußert seine Bedenken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN) NEN]: Das zeigt doch, wie die Lage ist!) Die Beratungsstellen sind der Schlüssel dafür, dass das Die Familienministerin hat sich die Durchsetzung der Krebsübel Frauenhandel eingedämmt werden kann. Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz groß auf die Fahne geschrieben. Bislang wird aber nur geredet, wer- Ich hoffe, dass es uns zukünftig gelingt, mehr Opfer den nur runde Tische ins Leben gerufen. Das mag sehr zu Aussagen zu bewegen und damit mehr Täter vor Ge- hilfreich sein, aber die Frauen und die Familien brau- richt zu bringen. Damit würden wir uns ganz im Sinne chen Taten. Sonntagsreden gehen denen langsam auf die von CEDAW entwickeln, nämlich Menschenrechtsver- Nerven. Sie hören gar nicht mehr zu, wenn über diesen letzungen an Frauen nicht zu tolerieren, sondern sie zu Politikbereich geredet wird. Darum haben immer mehr erschweren. Frauen in unserem Lande ihre ganz persönlichen Rück- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. schlüsse aus Ihrer Politik gezogen. Weil sie wissen, dass es kaum möglich ist, Familie und Beruf zu verbinden, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verabschieden sie sich zunehmend von der Mutterrolle. DIE GRÜNEN) Von den 1964 geborenen Frauen haben 36 Prozent keine Kinder. Bei den Akademikerinnen ist das Verhältnis Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: noch gravierender: 44 Prozent sind kinderlos. In einem Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita Pawelski,Vergleich von 190 Staaten durch die Weltbank belegte CDU/CSU-Fraktion. Deutschland mit einer Geburtenrate von 1,35 den 185. (B) (D) Platz. Rita Pawelski (CDU/CSU): Die Folgen dieser Entwicklung für unser Land sind Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! verheerend; das wissen wir alle. Trotzdem wird nicht Ich stelle mit großer Freude fest, dass die SPD-Fraktion richtig oder nur zu zögerlich gehandelt. seit einigen Minuten den Status der männerfreien Zone verloren hat. Ich begrüße die Kollegen der SPD-Frak- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ tion, die, wie gesagt, jetzt seit wenigen Minuten hier DIE GRÜNEN]: Wir haben die Kinderbetreu- sind. Aber man merkt doch, wie unwichtig das Thema in ung initiiert! Das machen wir alles!) Ihrer Fraktion genommen wird. Wir brauchen mehr Kindergärten, mehr Tagesmütter und Ich bedauere auch sehr, dass die zuständige Ministe- -väter, mehr Hortplätze, mehr Ganztagsschulen. rin nicht hier ist. Kurzum: Wir brauchen mehr Betreuung. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ ( [SPD]: So ist es! Und DIE GRÜNEN]: Aber zwei Staatssekretärin- wer kümmert sich darum? – Irmingard nen sind hier!) Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir sind hier nicht im Niedersächsi- Es gibt weiß Gott nicht viele Anträge, bei deren Bera- schen Landtag!) tung das Frauen- und Familienministerium federführend tätig ist. Sie hätte sich wirklich einmal Zeit für diese De- Auch hier hat der Ausschuss in seinem Bericht Män- batte nehmen sollen. gel festgestellt. Er nahm mit Sorge zur Kenntnis, dass das Betreuungsangebot für Kinder bis drei Jahre sowie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das Ganztagsangebot für Schulkinder bei weitem nicht ausreicht. Fakt ist: Für unter Dreijährige gibt es einen Meine Damen und Herren, der Bericht, über den wir Versorgungsgrad von nur 8,5 Prozent. reden und den der CEDAW-Ausschuss den einzelnen Nationen, also auch Deutschland, ausgestellt hat, ist ver- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wie sieht es in gleichbar mit einem Zeugnis. Dieses Zeugnis ist für un- Bayern und in Baden-Württemberg aus? – Ge- ser Land miserabel ausgefallen. In der Schule würde genruf der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU]: man sagen: Nicht versetzt, Klasse wiederholen! Besser als hier auf alle Fälle!) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Dabei gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den DIE GRÜNEN]: Welchen meinen Sie?) alten und den neuen Bundesländern. Spätestens bis Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7569

Rita Pawelski (A) 2006, so hat die Familienministerin versprochen, soll es (Nicolette Kressl [SPD]: Falsche Zahlen! (C) für 20 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Betreu- Alte Zahlen!) ungsplatz geben – ein schönes Versprechen. – Richtige, ganz aktuelle Zahlen. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist doch was!) Das Ergebnis dieser Politik ist: In Deutschland gibt es pro 100 Kinder nur 9,6 Ganztagsplätze. Aber wie so oft hat die Bundesregierung die Musik be- stellt, ein anderer jedoch soll sie bezahlen. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Reden Sie doch einmal zum CEDAW-Bericht! – Weitere Zu- (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht richtig!) rufe von der SPD) Sie sollen zwar, so die Bundesregierung, 1,5 Milliarden – Ist es nicht schön, dieses Herumschreien? – Diese Bi- Euro aus den Einsparungen lanz spricht nicht dafür, dass Sie es mit der Vereinbarkeit (Nicolette Kressl [SPD]: Sollen wir Ihnen mal von Familie und Beruf ernst meinen. das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zu- (Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard Schewe- schicken?) Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben – ich erkläre doch gerade, wie das bezahlt werden soll, Sie denn schon einmal etwas von Föderalismus hören Sie doch einfach einmal zu! – gehört? – Renate Gradistanac [SPD]: Denken Sie zum Beispiel an Bayern! – Gegenruf des Abg. (Nicolette Kressl [SPD]: Aber wenn Sie was Markus Grübel [CDU/CSU]: Da ist die Beschäf- Falsches erzählen, kann ich doch nicht zuhö- tigungsquote der Frauen höher als in jedem ande- ren!) ren Land!) durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und So- Meine Damen und Herren, Deutschland ist in Sachen zialhilfe zum Ausbau der Betreuung für Kinder unterKinderbetreuung ein Entwicklungsland. Im europäischen drei Jahren erhalten; ob diese Mittel allerdings wirklich Vergleich nimmt Deutschland eine Schlusslichtposition ausreichen und ob diese Einsparungen wirklich zustande ein. In Dänemark sind 64 Prozent der unter Dreijährigen kommen, ist mehr als fraglich. in öffentlichen Betreuungseinrichtungen. In Frankreich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – besuchen 50 Prozent der Kinder unter drei Jahren eine Nicolette Kressl [SPD]: Haben Sie das Ver- Krippe; 99 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen gehen mittlungsausschussergebnis nicht zur Kenntnis von früh bis spät in die Vorschule. Das Ergebnis: In genommen?) Frankreich sind 72,3 Prozent aller Mütter mit zwei Kin- (B) dern und 51 Prozent der Mütter mit drei Kindern berufs- (D) Nach Berechnungen der kommunalen Spitzenverbände tätig. Frankreich hat eine Geburtenrate von 1,9. werden die tatsächlichen Kosten deutlich höher ausfal- len; sie haben 2,5 Milliarden Euro ausgerechnet, also Wir wollen den jungen Eltern die Freiheit geben, sel- 1 Milliarde Euro mehr. ber zu entscheiden, ob sie ihr Kind selbst betreuen oder ob sie es stundenweise in die Obhut von Erziehern geben Weiterhin will die Bundesregierung 10 000 zusätzli- wollen. Diese Freiheit ist jedoch nicht gegeben, wenn che Ganztagsschulen aufbauen und dafür den Kommu- nicht genügend Betreuungsangebote zur Verfügung ste- nen insgesamt 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen hen, wie es zurzeit der Fall ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Nicolette Bei aller Kritik an den handelnden Akteuren: Die Ver- Kressl [SPD]: Was haben Sie gemacht in Ihrer einbarkeit von Familie und Beruf, die Unterstützung von Regierungszeit? Gar nichts!) Familien ist nicht nur Angelegenheit der Politik. Um Fa- – ja, da klatschen Sie mal ordentlich! –, allerdings nur milien wieder mehr Akzeptanz zu sichern, müssen alle für die Investitionen. gesellschaftlichen Gruppen mithelfen. (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Föderalismus!) In diesem Zusammenhang spreche ich eine Bitte an un- – Immer wenn Sie schreien, weiß ich, dass ich etwassere Unternehmen aus: Ohne ihr Zutun gibt es keine Richtiges gesagt habe. Vereinbarkeit von Familie und Beruf und ohne diese Vereinbarkeit gibt es – leider – immer weniger Kinder. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Mit den Personalkosten werden die Länder und Kom- munen alleine gelassen. Aber aufgrund ihrer katastro- Es gibt erfreulich viele Unternehmen, die ihren Mitar- phalen Finanzsituation, verursacht von Rot-Grün, beitern dieses ermöglichen. Sie haben erkannt, dass ge- rade die Mitarbeiter, die bereit sind, Verantwortung für (Beifall der Abg. Maria Eichhorn [CDU/CSU]) zwei Bereiche, nämlich für Beruf und Familie, zu über- sind sie nicht in der Lage, diese zu bewältigen. Dienehmen, besonders wertvolle Leistungsträger sind. Die Kommunen sind finanziell am Ende; sie können nicht Beschäftigten sind zufriedener, leistungsstärker und krea- mehr. Aus diesem Grund wurden 2003 aus dem Pro-tiver, wenn sie Beruf und Familie in Balance bringen gramm statt der zur Verfügung gestellten 300 Millionen können. Außerdem brauchen Unternehmen die gut aus- Euro gerade einmal 35 Millionen Euro abgerufen. gebildeten Frauen, in einigen Jahren noch mehr als 7570 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Rita Pawelski (A) heute. Aber man muss den Unternehmen auch die finan- Das Übereinkommen der Vereinten Nationen hat das (C) ziellen Möglichkeiten geben, familienfreundlich zu han- Ziel, jede Form der Diskriminierung von Frauen zu be- deln. Sie belasten die Unternehmen finanziell so stark, seitigen. Mit Interesse habe ich auch den Schattenbericht dass sie dazu kaum in der Lage sind. der Nichtregierungsorganisationen gelesen. Mein herzli- cher Dank gilt den Verfasserinnen, die die Bundesregie- Im CEDAW-Bericht wird auch die Diskriminierung rung in vielen Bereichen loben, aber auch Handlungsbe- unserer ausländischen Mitbürgerinnen angesprochen. darf aufzeigen. Diesen Handlungsbedarf haben wir in Zur Beseitigung jeglicher Diskriminierung der Frau ge- dem SPD-Entschließungsantrag zum Teil berücksichtigt. hört auch, dass wir in Deutschland keine frauendiskrimi- nierenden Umstände zulassen. Wir wollen durchsetzen, (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ dass auch Migrantinnen eine Chance auf ein gleichbe- DIE GRÜNEN]: Hat die SPD einen eigenen rechtigtes Leben bei uns haben. Antrag?) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wir werden Sie – Das ist natürlich ein gemeinsamer Antrag mit den Grü- beim Wort nehmen!) nen. Bei der Erwerbstätigkeit von Frauen wurden erfreu- Aber oft hört die Gleichberechtigung dieser Frauen liche Fortschritte erzielt. Ausschlaggebend war meiner dort auf, wo Religion, Tradition und Herkunft einen star- Meinung nach das ressortübergreifende Programm „Frau ken Einfluss ausüben. Wollen wir es zulassen, dass Mäd- und Beruf“ von 1999. Es hat der Gleichstellung von chen zum Beispiel nicht am Sportunterricht und an Klas- Frauen in der Arbeitswelt neue Schubkraft verliehen und senfahrten teilnehmen dürfen, weil die Religion es es wurde weitgehend umgesetzt. Beispielhaft ist die fle- angeblich verbietet und weil es Mädchen sind? xible Elternzeit und der Rechtsanspruch auf Teilzeit, den (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Nein!) wir positiv bewerten. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Irmingard Das erzwungene Tragen eines Kopftuches ist mit der Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gleichberechtigten Rolle der Frau in Deutschland nicht NEN]) vereinbar. Wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen soll, muss der Schwerpunkt konsequent und von Her- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE zen gewollt auf der Betreuung von Kindern liegen. Das GRÜNEN) heißt mehr Krippenplätze für Kinder bis zu drei Jahren, (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Richtig!) (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D) Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr. sich am Bedarf orientierende Kindergartenöffnungszei- ten und deutlich mehr Ganztagsangebote. Rita Pawelski (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Irmingard Ja. – Noch eine letzte Bemerkung. Das Kopftuch wird Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- selbst von vielen gläubigen Musliminnen als politisches NEN] – Rita Pawelski [CDU/CSU]: Bravo!) Kampfinstrument angesehen. Einen rein religiösenDafür hat meine Bundesregierung Grund kann es dafür kaum geben. Vor 15 Jahren trugen die Türkinnen in Berlin kaum Kopftücher. Heute beherr- (Nicolette Kressl [SPD]: Unsere!) schen sie in manchen Stadtteilen das Straßenbild. – wenn es um das Loben geht, ist es „meine“ Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Uwe gierung – 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dies ist besonders lobenswert, da es sich nicht um eine origi- Benneter [SPD]: Woher wollen Sie das denn näre Zuständigkeit des Bundes handelt. wissen?) Es gibt keine geschlechtsneutrale Politik. Gender – Das hat Herr Sorgec gesagt, der für die Migranteninte- Mainstreaming ist die Umschreibung dafür, dass so- gration in Berlin zuständig ist. wohl die Belange von Frauen als auch die von Männern (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina berücksichtigt werden müssen. Lenke [FDP]) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) In Schweden wird diese Strategie schon seit langem an- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gewandt. Will dort eine Kommune einen neuen Sport- Nächste Rednerin ist die Kollegin platz Renate bauen, wird eine Analyse erstellt, die aufzeigt, wel- Gradistanac, SPD-Fraktion. che Sportarten von der männlichen und von der weiblichen Bevölkerung bevorzugt werden. Je nach Er- Renate Gradistanac (SPD): gebnis wird der Sportplatz dann so gestaltet, dass darauf nicht nur Fußball gespielt werden kann, sondern auch Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und andere Sportarten ihren Platz bekommen. Davon profi- Herren! Frauenorganisationen begrüßen, dass der tiert die ganze Bevölkerung. CEDAW-Bericht zum ersten Mal im Deutschen Bundes- tag diskutiert wird. Immerhin ist es der fünfte Bericht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dieser Art. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7571

Renate Gradistanac (A) Wir erhoffen uns, dass in Deutschland durch die Ein- Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): (C) richtung des Gender-Kompetenz-Zentrums langfristige Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Veränderungen und ein gesellschaftlicher Bewusstseins- Herren! Verehrte liebe Kolleginnen und Kollegen! Das wandel erzielt werden. Das Zentrum hat die Aufgabe, zu Unterkapitel „Frauen im Alter“ im vorliegenden Fünften beraten sowie Forschung zu initiieren und zu koordinie- Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Überein- ren. Es soll das Wissen zum Thema Gender Mainstrea- kommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder ming bündeln. Form von Diskriminierungder Frau steht unter der Um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen sowie Kinder Überschrift „Frauen in besonderen Lebenslagen“. Als und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch zu schützen, das Thema in der letzten Woche anstand, sind die Kolle- hat die Bundesregierung zwei vorbildliche Aktionspläne ginnen meiner Fraktion zu mir gekommen und haben ge- entwickelt. Mit dem Gewaltschutzgesetz wird sagt: der Wenn es hier um die Rechte der Frauen geht, kann Schutz von Frauen im sozialen Nahraum deutlich ver- es nicht sein, dass wir die Männer nicht mitnehmen. – bessert. Wichtig ist mir an dieser Stelle, dass für die Po- Sie haben mich aufgefordert, heute aus der Sicht der De- lizei, die Staatsanwaltschaft und aus meiner Sicht beson- mographie etwas zu diesem Thema zu sagen. ders für die Gerichte – da fehlt es an allen Ecken und (Zuruf der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk Enden – verstärkt Fortbildungsveranstaltungen angebo- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ten werden. Im Hinblick auf die Problematik „männli- cher Täter“ und den Umgang mit Tätern und Gewaltop- – Wie leicht mir das gefallen ist, weißt du doch. fern müssen Schulungen durchgeführt werden. Schon seit vielen Jahren liegen die demographischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Fakten klar auf dem Tisch. Die Altersstruktur der Be- völkerung unseres Landes hat sich immer mehr in Rich- Ich teile die Einschätzung von Terres des Femmes im Schattenbericht, dass sexistische Werbung einem Ge- tung der älteren Menschen verschoben. Im Jahr 2030, sellschaftswandel im Wege steht. Ein Beispiel aus dem also dann, wenn die jüngeren Kolleginnen und Kollegen, Jahrbuch 2003 des Deutschen Werberats: Eine bundes- die hier sitzen, im Rentenalter sind, werden die Zustände weit erscheinende Tageszeitung warb in einer Plakatse- nicht anders sein als heute, wenn wir jetzt nicht damit rie mit Bildern von jungen Frauen, die nur knapp beklei- beginnen, etwas zu verändern. det waren. Darunter standen Sprüche wie „Mittags krieg Verlässliche Prognosen besagen, dass in Deutschland ich Hunger. Auf Sex.“ Die Kritik der Beschwerdeführer, bis zum Jahr 2050 die Lebenserwartung um vier Jahre dass Frauen auf eine sexuelle Funktion reduziert und so- steigen wird. Frauen werden ein statistisches Durch- mit zum Objekt degradiert werden, wurde vom Werberat schnittsalter von 86 Jahren und Männer von 81 Jahren (B) nicht geteilt, auch nicht, dass sie kinder- und jugendge- erreichen. (D) fährdend sei. Der Deutsche Werberat – übrigens ein männerdominiertes Gremium; da gibt es überhaupt keine Ich habe im CEDAW-Bericht gelesen, was Rot-Grün Frau – berief sich auf die grundgesetzlich garantiertefür die soziale Absicherung der Frauen im Alter getan Pressefreiheit und stufte die Werbung nicht als frauen- hat. Ich sage dazu nicht, dass Rot-Grün nichts getan hat, diskriminierend ein. aber ich stelle fest, dass das, was bisher getan wurde, bei weitem nicht ausreichen wird. Hier zeigt sich exemplarisch die mangelnde gesell- schaftliche Sensibilität. Eine Chance, dies zu ändern und (Beifall bei der CDU/CSU) eine umfassende Antidiskriminierungskultur in Deutsch- land durchzusetzen, bietet die Umsetzung der drei EU- Bundeskanzler Schröder – ich spreche jetzt eine ganz Richtlinien. Gemeint sind die so genannte Antirassis-wichtige Sache an – hat 1998 in seiner ersten Regie- musrichtlinie, die allgemeine Rahmenrichtlinie und die rungserklärung gesagt, dass Frauen nicht dafür bestraft Genderrichtlinie. werden dürfen, dass sich bei ihnen Phasen der Kinderer- ziehung und der Erwerbsarbeit abwechseln. Sehr wahr! Als ein Ziel für den Sechsten CEDAW-Bericht wün- sche ich mir, dass die Diskussion um gleichen Lohn für (Christel Humme [SPD]: Deshalb haben wir gleichwertige Arbeit der Vergangenheit angehört. Dieses die Rentenreform gemacht!) Ziel mag zwar ehrgeizig sein; aber es finden sich immer mehr Verbündete dafür. – Aber was habt ihr bis jetzt getan? Das reicht doch bei weitem nicht aus. Vielen Dank. In der Rentenversicherung werden Frauen, die keine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lückenlose Erwerbsbiografie aufweisen, weiterhin stark des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf benachteiligt. Kürzere Erwerbszeiten von Frauen, näm- von der CDU/CSU: Bei der Wirtschaftspolitik lich 26,2 Jahre statt 40,1 Jahre bei Männern, führen zu der Bundesregierung wird das so schnell nicht geringeren Renten. passieren!) Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben gerade ge- sagt, dass Frauen immer noch 30 Prozent weniger ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dienen. Ich sage Ihnen: Wenn wir nichts ändern, werden Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege die Frauen im Jahre 2030 nur die Hälfte der Renten der Walter Link, CDU/CSU-Fraktion. Männer haben. Von daher müssen wir in dieser Sache (Beifall bei der CDU/CSU) besonders ran. 7572 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Walter Link (Diepholz) (A) Die größte Diskriminierung für Frauen ist aber die Sie können Frau Ministerin Schmidt sagen, dass wir (C) hohe Arbeitslosigkeit, weil Frauen – junge wie ältere – als Union bereit sind, mitzuarbeiten, wenn jetzt die Wei- noch viel weniger Chancen haben, eine unbefristetechen neu gestellt werden. Da es in Zukunft mehr Ältere existenzsichernde Vollzeitstelle zu finden. Auch derund weniger Junge und somit weniger Beitragszahler ge- CEDAW-Ausschuss der UN hat den Finger in dieseben wird, brauchen wir eine Rentenreform, die nicht nur Wunde gelegt und gerügt, dass die hohe Arbeitslosigkeit zwischen Alt und Jung, sondern auch innerhalb einer von Frauen in Deutschland, insbesondere in den neuen Generation eine faire Lastenverteilung zugunsten derer Bundesländern, eine Katastrophe ist. Frauen sind deut- vornimmt, die Kinder erziehen. lich mehr als Männer von Langzeitarbeitslosigkeit be- troffen und somit stärker von Altersarmut bedroht. Wa- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rum sagen Sie das nicht? Deshalb führt für die Union kein Weg daran vorbei, Wir warten seit fünf Jahren auf eine Rentenreform, dass Familien und Frauen, die Kinder erziehen, bei der die sich insbesondere der unzureichenden eigenständi- Rente gestärkt werden müssen. gen Alterssicherung von Frauen annimmt, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Es sollen nicht die Kinderlosen bestraft werden, sondern besonders jener Frauen, die Kinder großgezogen oder diejenigen, die Kinder erziehen, gestärkt werden. ihre Eltern gepflegt haben oder heute noch pflegen. Eine Rentenreform sollte mutig sein, um Altersarmut (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ für Frauen zu verhindern, wie es der UN-Bericht fordert. DIE GRÜNEN]: Bis zum zehnten Lebensjahr Bedenken Sie, welche Pflegeleistungen ohne Entgelt eines Kindes bekommen die Frauen den von Rentnerinnen erbracht werden! Von allen pflegen- durchschnittlichen Beitrag angerechnet!) den Angehörigen sind 34 Prozent Frauen über 65 Jahre. – Frau Kollegin, jetzt keine Belehrungen. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Auch die Riester-Rente hat sich als kraftlose, büro- – nun zum Positiven – hat es großartige Frauen gegeben, kratische und frauenfeindliche private Zusatzrente er- die sich all dieser Fragen angenommen haben und die wiesen. Das wissen Sie auch. Gleichstellung der Frau durch ganz konkrete Maßnah- men gefordert haben. Ich denke hier an die Frau unseres (Beifall bei der CDU/CSU) ersten Bundespräsidenten, Frau Elly Heuss-Knapp, die Wenn ein 30-jähriger Mann und eine 30-jährige Frau die mit der Gründung des Müttergenesungswerkes eine bis gleiche Summe in die riestersche Rentenvorsorge ein- heute segensreiche Arbeit begonnen hat. (B) (D) zahlen, erhält der Mann bei einem Versicherungsbeispiel 784 Euro und die Frau mit 679 Euro 105 Euro weniger, (Beifall bei Abgeordneten der und das jetzt, wo wir die Zukunft sichern wollen. CDU/CSU und der FDP) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Frau Elly Heuss-Knapp hat gerade nach dem letzten DIE GRÜNEN]: Das ist ein Skandal! Da gebe Krieg gewusst, was Frauen leisten, vor allem solche, die ich Ihnen Recht!) Kinder erziehen. Das ist eine Ungleichbehandlung sondergleichen. Ich denke an die langjährige Präsidentin des Deut- schen Bundestages Frau Annemarie Renger, die die (Beifall bei der CDU/CSU) Frauen in Deutschland immer wieder ermutigt hat, sich Diese muss als Erstes abgeschafft werden. Dazubei Ungleichbehandlungen am Arbeitsplatz zu informie- wollte ich eigentlich Frau Ministerin Schmidt anspre- ren und Musterprozesse zu führen. Das waren konkrete chen. Sie ist aber nicht hier. Ich weiß, dass sie an einer Angebote. anderen Veranstaltung teilnimmt, in der es um die Zivil- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE gesellschaft geht und die von Phoenix übertragen wird. GRÜNEN]: Was ist mit Rita Süssmuth?) Vielleicht hätte sie wie Sie, Frau Staatssekretärin, doch bis zum Ende der Debatte über diesen Tagesordnungs- Ich denke an die Alternsforscherin und ehemalige punkt hier im Plenum sein können. Ihnen, Frau Staatsse- Bundesministerin Frau Professor Ursula Lehr, die schon kretärin Beck, danke ich sehr, dass Sie die Ministerinvor vielen Jahren Betreuung von zweijährigen Kindern hier vertreten. gefordert hat, um Frauen zu ermutigen, den Gleichklang Die von der Bundesregierung vorgenommene Absen- von Partnerschaft, Kindererziehung und Beruf zu erzie- kung des Rentenniveaus trifft Frauen übrigens in doppel- len. ter Weise: bei ihrer eigenen und bei der Witwenrente. Ich denke an meine eigene Mutter, die als Trümmer- Die Absenkung der Witwenrente von 60 Prozent auf frau unser Haus nach dem Krieg wieder aufgebaut hat 55 Prozent entspricht einer realen Kürzung und um die Zeit fand, uns Kinder auch noch zu Sozialkom- 8,3 Prozent. So wird es nach Berechnungen von Exper- petenz zu erziehen, so wie es Millionen von Frauen nach ten auch in 30 Jahren so sein, dass Frauen, Frau Kollegin dem Krieg getan haben – eine vorbildliche Leistung. Schewe-Gerigk, im Durchschnitt nur etwa die Hälfte der Rente der Männer erhalten werden, wenn wir heute nicht (Beifall bei Abgeordneten der die entsprechenden Schritte einleiten. CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7573

Walter Link (Diepholz) (A) Wenn es um konkrete Maßnahmen der Gleichberech- gung von Frauen wirksam bekämpfen – Konsequenzen (C) tigung – auch bei der sozialen Absicherung der Frauen ziehen aus dem CEDAW-Bericht der Bundesregierung“. im Alter – geht, dürfen wir diese Leistungen nicht ver- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- gessen. probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Wir, die CDU/CSU, fordern Generationengerechtigkeit, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: erwarten aber auch Geschlechtergerechtigkeit. Beratung des Antrags der Abgeordneten (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Was haben Sie Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut denn 16 Jahre lang gemacht?) Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Frak- Sehr verehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich tion der CDU/CSU fordere Sie auf, nach dieser Debatte nicht weiter die Un- Verbrechen wirksam bekämpfen – Geneti- terschiede zwischen Frauen und Männern, zwischen schen Fingerabdruck konsequent nutzen Jung und Alt und zwischen den Parteien herauszustellen, sondern sich gemeinsam an die Arbeit zu machen und – Drucksache 15/2159 – das zu tun, was Sie und wir wollen. Wer denn sonst, Überweisungsvorschlag: wenn nicht der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen Rechtsausschuss (f) und Jugend muss sich dieser Themen annehmen? Innenausschuss (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Und diese Bun- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die desregierung!) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. – Und diese Bundesregierung natürlich genauso. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ich erkenne durchaus an, dass die Frau Bundesminis- Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion. terin Schmidt sagt: Ich habe eine Kommission berufen, wir haben einen Ausschuss gebildet, wir haben alles in (Beifall bei der CDU/CSU) der Pipeline. – Nur muss irgendwann einmal etwas aus der Pipeline herauskommen. Der Worte sind genug ge- Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): wechselt. Wir müssen jetzt Taten sehen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Si- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- cherheitslage in Deutschland ist ernst und besorgniserre- (B) neten der FDP) gend. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Bedrohungen (D) durch den internationalen Terrorismus als auch ange- sichts der steigenden Kriminalitätsrate. Sowohl im Jahre Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 2001 als auch im vorvergangenen Jahr ist die Zahl der Ich schließe die Aussprache. Straftaten gegenüber den Vorjahren deutlich gestiegen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Es ist zu befürchten, dass sich dieser Trend im vergange- ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksa- nen Jahr fortgesetzt hat. che 15/1171. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Wenn der moderne Rechtsstaat aus guten Gründen Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Fünften Berichts das Gewaltmonopol für sichin Anspruch nimmt, dann der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der ist es nicht nur sein Recht, sondern auch seine Pflicht, Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Dis- zum Schutze der Bevölkerung vor Kriminalität und Ter- kriminierung der Frau – Drucksache 15/105 – den Ent-rorismus all diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die schließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bünd- notwendig sind, um Gefahren abzuwehren und Straftaten nisses 90/Die Grünen – Drucksache 15/599 – anzunehmen. aufzuklären. Ich hoffe, dass wir darüber ebenso wenig Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-streiten müssen wie über die Feststellung, dass die Maß- probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist nahmen zur Verbrechensbekämpfung geeignet und ver- mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der hältnismäßig sein müssen, dass sie aber selbstverständ- CDU/CSU und der FDP angenommen. lich auch rechtsstaatlichen Anforderungen genügen Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt müssen. der Ausschuss, in Kenntnis des genannten Berichts den (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksa- NEN]: So ist es!) che 15/601 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- Die DNA-Analyse, also der genetische Fingerab- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition druck, ist nach Ansicht aller Fachleute ein effektives, gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ange- verlässliches und in der Praxis bewährtes Mittel zur Auf- nommen. klärung von Straftaten, zur Identifizierung und Überfüh- rung von Straftätern, aber auch zur Entlastung von Un- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- schuldigen. ner Beschlussempfehlung in Kenntnis des genannten Be- richts die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/ (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: CSU auf Drucksache 15/740 mit dem Titel „Benachteili- So ist es!) 7574 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Wolfgang Bosbach (A) In den USA sind schon Menschen, die mehrere Jahre in kennen ihren Stammkunden genau. Sie sind sich sicher, (C) den Todeszellen gesessen haben, entlassen worden, weil dass er erneut rückfällig wird. Dieser Beschuldigte hatte sich ihre Unschuld nur durch eine DNA-Analyse heraus- im Rahmen des Ermittlungsverfahrens freiwillig eine stellen konnte. Für die moderne Kriminalistik und für Speichelprobe abgegeben. Das erkennende Gericht be- eine wirksame Strafverfolgung ist die DNA-Analyse da- schließt jedoch in der Hauptverhandlung, dass diese her unverzichtbar. Speichelprobe zu vernichten ist; denn – ich zitiere –: „Die bloße Möglichkeit, dass er erneut straffällig werden Trotzdem kann sie nach geltendem Recht nur dann er- könnte, rechtfertigt nicht die Aufnahme der Proben in folgen, wenn bereits schwere Straftaten begangen wur- die DNA-Kartei.“ den und wenn darüber hinaus prognostiziert werden kann, dass gegen den Betroffenen auch zukünftig wegen Angesichts einer solchen Entscheidung muss nicht ebenfalls schwerer Straftaten Ermittlungsverfahren an- nur jeder Polizist verzweifeln, sie ist auch für jedes Op- hängig sein werden. fer eines solchen Täters bitter. Was spricht denn dage- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gen, eine Speichelprobe von einem solchen Serientäter Das ist falsch!) zu nehmen? Das ist doch nur die geltende Rechtslage. Gerade angesichts der überaus positiven Erfahrungen, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur durch Gerichtsentscheidung!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!) Aus diesem Grunde wollen wir sie ändern. die wir – genauer gesagt: die Strafverfolgungsbehörden – in (Beifall bei der CDU/CSU) den letzten Jahren mit dem Instrument der DNA-Ana- lyse gemacht haben, ist es dringend geboten, dieses ef- Natürlich gibt es auch Ängste hinsichtlich des Instru- fektive Mittel der Strafverfolgung verstärkt einzusetzen. ments der DNA-Analyse im Allgemeinen und hinsichtlich einer Ausweitung des Anwendungsbereiches im Besonde- (Beifall bei der CDU/CSU) ren. Solche Besorgnisse muss man sogar dann ernst neh- Wir sollten die DNA-Analyse zu einer Standardmaß- men, wenn sie sachlich unbegründet sind. Ich bestreite nahme der strafprozessualen erkennungsdienstlichen Be- keineswegs, dass die Entnahme einer Speichelprobe und handlung machen, wenn sie zur Aufklärung einer Straf- deren Analyse ein Eingriff in dasPersönlichkeitsrecht tat geboten ist und wenn aufgrund der Tatumständeeines Täters oder eines Verdächtigen ist. Aber ist die An- damit zu rechnen ist, dass der Täter auch zukünftigfertigung des berühmten dreigeteilten Lichtbildes und Straftaten begehen wird. Der jetzige Rechtsrahmen ist zu die Aufnahme dieses Bildes in die so genannte Verbre- (B) eng. Er schränkt die Ermittlungsmöglichkeiten der Poli- cherkartei kein Eingriff von ähnlicher Schwere? Das(D) zei zu stark ein und verursacht bei anonymen Spuren ei- kann für den Betroffenen sogar viel belastender sein als nen bürokratischen Aufwand, der zur Wahrung rechts- eine DNA-Analyse. Meines Wissens hat noch niemand staatlicher Grundsätze nun wirklich nicht notwendig ist. gefordert, dass die Polizei zukünftig nur noch bei schwe- ren Verbrechen Bilder anfertigen darf und dass der Foto- (Beifall bei der CDU/CSU) apparat nur dann in Aktion treten darf, wenn zuvor ein In den letzten Wochen ist im Zusammenhang mit un- Richter zugestimmt hat. serem Antrag oft behauptet worden, die Union wolle zu- Die molekulargenetische Untersuchung einer Körper- künftig offenbar auch von jedem Ladendieb und spur dient ausschließlich der Identitätsfeststellung, also Schwarzfahrer eine Speichelprobe nehmen. der eindeutigen Zuordnung der Spur zu einer Person (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Völliger oder dem eindeutigen Ausschluss einer verdächtigen Quatsch!) Person, da ihr die Spur nicht zugeordnet werden kann. Die immer wieder gerne vorgetragene Behauptung, man Diese Falschbehauptung wird auch durch ständige Wie- könne bei dieser Gelegenheit auch Erbanlagen und derholung nicht richtig. Krankheiten feststellen oder ein Persönlichkeitsprofil (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) des Verdächtigen erstellen, ist schlichtweg falsch und wird auch durch ständige Wiederholung nicht wahr. Sie wäre nur dann plausibel, wenn schon heute nach gel- tender Rechtslage von jedem Ladendieb und Schwarz- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fahrer ein klassischer Fingerabdruck genommen werden NEN]: Schlichtweg richtig!) würde. Dem ist nicht so. Jeder, der von der polizeilichen Arbeit auch nur ein bisschen Ahnung hat, würde einen Wer wie Herr Montag diese falsche Behauptung auf- solchen Blödsinn nie behaupten. Aber was soll dagegen stellt, möge von dieser Stelle aus bitte einen einzigen sprechen, dass zukünftig auch von solchen Kriminellen Fall nennen – es werden in Deutschland mehrere Hun- eine Speichelprobe genommen werden kann, die zwar derttausend DNA-Feststellungen durchgeführt –, bei keine besonders schweren Verbrechen begehen, aberdem ein Institut neben der Zuordnung der Spur zu einer banden- bzw. gewerbsmäßig handeln oder immer wieder Person auch deren Erbanlagen oder Krankheitsbilder rückfällig werden? festgestellt hat. Ein Fall aus der Praxis: Ein x-facher Einbrecher wird (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zum x-ten Mal auf Bewährung verurteilt. Die Polizisten Warten Sie noch zehn Minuten ab!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7575

Wolfgang Bosbach (A) Das ist im Übrigen auch ziemlich sinnlos, weil derje- Bleiben wir einmal bei dem Beispiel Kippe und Ziga- (C) nige, der die Spur untersucht, nicht weiß und nicht wis- rettenpackung. Wenn am Tatort beides vorgefunden sen kann, von wem diese Spur eigentlich stammt. Eine wird, dann dürfen die Fingerabdrücke von der Zigaret- solche Feststellung ist mit einer DNA-Analyse ebenso tenpackung sofort genommen und analysiert werden, wenig möglich wie mit dem herkömmlichen Fingerab- während eine DNA-Analyse der Speichelreste an der Zi- druck. garettenkippe zunächst von einem Richter genehmigt werden müsste, obwohl die Person gar nicht bekannt ist. Demjenigen, der die Sorge hat, dass Missbräuche bei Welche Persönlichkeitsrechte können dann eigentlich der DNA-Analyse vorkommen könnten, möchte ich an- verletzt werden? bieten: Nichts spricht dagegen, eine rechtsmissbräuchli- che Anwendung ausdrücklich unter Strafe zu stellen. (Christine Lambrecht [SPD]: Was für ein Ver- Darüber können wir sofort einig werden. ständnis ist das! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr selt- Übrigens wäre ein Missbrauch auch bei der Untersu- sam!) chung einer Blutprobe möglich, die ein Autofahrer abge- ben muss, der betrunken Auto gefahren ist. Was glauben Es ist zwar richtig, dass wir uns bei den Debatten, die Sie, wie viele Informationen man aus einer frischenwir führen, immer auf die Wahrung der Rechte der Be- Blutprobe gewinnen kann! Es ist aber noch niemand auf schuldigten, Angeschuldigten bzw. Angeklagten kon- die Idee gekommen, die Untersuchung einer Blutprobe zentrieren. Wir sollten uns aber mindestens ebenso in- zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration deswegen tensiv einmal damit beschäftigen, wie wir die zu verbieten, weil dabei möglicherweise ein Persönlich- Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Land besser keitsprofil des Täters erstellt werden könnte. vor Verbrechen und Verbrechern schützen können. Diese Debatte kommt hier regelmäßig zu kurz. (Gisela Piltz [FDP]: Das ist doch etwas anderes! Sie sollen doch nicht gespeichert werden!) (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich kostet eine DNA-Analyse auch Geld. Das Da ich sehe, dass sich zumindest Teile der Koalition Kostenargument ist aber vor dem Hintergrund nichtwieder in künstliche Erregungszustände versetzen, ernst zu nehmen, dass mit der Durchführung einer DNA- (Christine Lambrecht [SPD]: Was?) Analyse ein großer Ermittlungsaufwand vermieden wer- den könnte. Man muss nur einmal ausrechnen, was es möchte ich Ihnen einmal etwas aus der „Mitteldeutschen kostet, wenn Ermittlungsbehörden und Sonderkommis- Zeitung“ vorlesen. Der innenpolitische Sprecher der sionen über Monate oder Jahre hinweg arbeiten und der SPD-Bundestagsfraktion, Wiefelspütz, (B) gesamte Aufwand möglicherweise zu keinem Ergebnis (Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist er denn?) (D) führt und die Untersuchung im Sande verläuft. wird wörtlich zitiert: Darüber hinaus ist noch das Argument zu hören, dass man durch eine DNA-Analyse zu Unrecht verdächtigt „Bei der DNA-Analyse handelt es sich um eine ge- werden könnte. Das stimmt. Wenn jemand am Tatort niale Methode, bei der es keine Missbrauchsmög- zum Beispiel eine Zigarettenkippe mit Speichelresten lichkeiten gibt.“ deponiert, die von einem anderen stammt, um die Er- (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Guter Mann!) mittlungsbehörden in die Irre zu führen, dann kann das tatsächlich passieren. Das spricht aber nicht gegen die Er plädierte dafür, sie künftig ohne richterliche Ge- Ausweitung der Anwendung der DNA-Analyse. Denn nehmigung wie einen normalen Fingerabdruck an- auch beim Nehmen des klassischen Fingerabdrucks kann zuwenden... so etwas geschehen, und zwar dann, wenn jemand die (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Recht hat der Zigarettenpackung eines anderen zur Irreführung der Mann!) Strafverfolgungsbehörden in der Nähe des Tatortes de- poniert. Mit der gleichen Logik müsste man also die An- – Guter Mann. – wendungsbereiche des klassischen Fingerabdrucks ein- grenzen. Wiefelspütz zufolge sollte die DNA-Analyse nicht auf Schwerverbrechen beschränkt bleiben, sondern Auch eine Ausweitung der Anwendung der DNA- auf jede andere Tat – wie etwa Diebstahl – ausge- Analyse kann nicht die Arbeit von Kriminalisten erset- weitet werden können. zen; sie macht die Ermittlungsarbeit nicht überflüssig. Die DNA-Analyse ist aber ein äußerst wirksames Instru- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Bravo!) ment zur Aufklärung von Straftaten. Deshalb sollten wir Die Methode sei in allen Fällen geeignet. „Wir soll- der Polizei erlauben, dieses Instrument intensiver als bis- ten das Instrument viel intensiver nutzen als bis- her einzusetzen. her“, sagte der SPD-Politiker. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Guter Mann!) Wir sollten außerdem den Richtervorbehalt streichen, wenn es um anonyme Spuren geht. Selbst der ehemalige Auf unserer Seite steht auch der schleswig-holsteini- Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Dr. Jacob, hatte sche Innenminister Buß, der designierte Vorsitzende der hiergegen keine Bedenken. Innenministerkonferenz, der vor wenigen Tagen genau 7576 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Wolfgang Bosbach (A) das gesagt hat, was ich heute vorgetragen habe und wo- Das heißt, selbst bei Bagatelldelikten, beispielsweise bei (C) rüber Sie sich, Kollege Montag, erregen. So sehr wir uns beleidigenden Briefen, kann angeordnet werden, dass über diese Unterstützung freuen: Sie ist allerdingsvon einem konkret Verdächtigten eine DNA-Analyse ge- zwecklos, solange Sie mit beiden Füßen auf der Bremse nommen wird. Die Frage ist nur: Dürfen sie die hinterher stehen und dadurch verhindern, dass Straftaten aufge- auch speichern? Das ist eine andere Frage, aber nicht für klärt und neue Straftaten verhindert werden können.die Ermittlung. Deswegen fordern wir Sie eindringlich auf, unserem An- trag zuzustimmen. (Joachim Stünker [SPD]: Richtig! Das ist so!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn es um die Speicherung geht, ist es in der Tat so – da haben Sie Recht –, dass das geltende Recht diese nur dann erlaubt, wenn der Täter Straftaten von erhebli- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: cher Bedeutung begangen hat und wenn das eintritt, was Das Wort hat die Bundesministerin Brigitte Zypries. wir mit Prognose umschreiben, wenn also damit zu rech- nen ist, dass er sie auch in Zukunft begehen wird. Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Zuruf von der CDU/CSU: Deshalb muss man Herren! Ohne Frage ist die DNA-Analyse inzwischen zu es ändern!) einer sehr wichtigen undeffektiven Ermittlungsmaß- Aufgrund dieser Prognoseentscheidung sind heute nahme bei der Aufklärung von Straftaten geworden.rund 300 000 Personen in einer Gendatei erfasst. Das ist Deswegen kann man natürlich die Frage stellen, ob wir eine nicht ganz kleine Zahl. Der Vergewaltiger, der nach sie nicht noch umfassender einsetzen wollen, um eventu- der Einschätzung auch in Zukunft wieder vergleichbare ell noch bessere Fahndungserfolge zu erzielen. Straftaten begehen wird, ist dort also gespeichert. Aber Die Antwort auf diese Frage ist aber nicht ganz sonicht nur er kann in die Gendatei kommen. Es gibt Straf- einfach, wie man meinen könnte, wenn man Ihren An- taten von erheblicher Bedeutung – nicht nur Mord und trag liest, meine sehr geehrten Damen und Herren von Vergewaltigung, sondern wir haben einen Straftatenkata- der CDU/CSU. Zum einen, so glaube ich, sollte manlog mit 41 Straftatbeständen –, bei denen gespeichert sich sinnvollerweise einmal klar machen, was nach den werden kann. Einbruchdiebstahl, Körperverletzung, ge- geltenden Gesetzen inzwischen rechtlich möglich, also fährliche Körperverletzung, Misshandlung von Schutz- erlaubt ist und was der Bundestag bereits beschlossen befohlenen oder Vollrausch sind dort beispielsweise hat und in Kürze in Kraft treten wird. Die andere Frage, auch genannt. Die Daten können also bei praktisch allen die Sie, Herr Bosbach, ebenfalls schon angesprochen ha- Straftaten ab dem mittleren Kriminalitätsbereich auf- wärts gespeichert werden. (B) ben, lautet, was kriminalpolitisch sinnvoll und verfas- (D) sungsrechtlich möglich ist. Die Tatsache, dass wir ge- Diesen Katalog haben wir gerade erst erweitert. Am rade bei diesen Eingriffen sehr enge Vorgaben 1. der April dieses Jahres wird das novellierte Sexualstraf- Verhältnismäßigkeit der Verfassung haben, haben Sie in recht in Kraft treten. Danach kann jede Straftat gegen die Ihrer Rede eben auch zugestanden. sexuelle Selbstbestimmung, völlig unabhängig von der Die Antworten auf diese Fragen sind nicht ganz ein- Erheblichkeit der Straftat, zur Speicherung des DNA- fach. Das wird auch durch den Antrag deutlich, über den Identifizierungsmusters führen. Erfasst sind ab 1. April wir hier heute diskutieren. Sie schreiben dort zum Bei- also bereits die in Ihrem Antrag aufgeführten Exhibitio- spiel – das, was ich nun zitiere, haben Sie im Übrigen nisten; das ist völlig unproblematisch. Wenigstens inso- eben wiederholt –: weit ist das, was Sie mit Ihrem Antrag fordern, schon längst erfüllt. Ganz nebenbei bemerkt: Diese Änderun- Der genetische Fingerabdruck kann gegenwärtig gen wären längst in Kraft, hätten Sie nicht den Vermitt- nur genommen werden, wenn bereits schwere Straf- lungsausschuss angerufen. taten geschehen sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist schlicht falsch; DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn Sie nun mit dem Antrag eine weitere Ausdeh- DIE GRÜNEN) nung fordern, dann geht es ganz konkret um die Frage, denn Sie müssen natürlich zwischen der DNA-Analyse ob die Speicherung eben auch bei jedem noch so gerin- auf der einen Seite und der Zulässigkeit derSpeiche- gen Bagatelldelikt ermöglicht werden soll. Übrigens rung auf der anderen Seite unterscheiden. Das verfas- sind gewerbs- oder bandenmäßig begangene Straftaten sungsrechtliche Problem, mit dem wir es zu tun haben, oder Drogendelikte, deren Einbeziehung Sie auch ange- ist die Speicherung. sprochen haben, vom geltenden Recht umfasst. Gucken Sie einmal in die Anlage mit den 41 Straftaten. Bei der Analyse geht es zunächst einmal nur um den Abgleich einer Spur am Tatort mit der DNA eines Ver- (Joachim Stünker [SPD]: Genau!) dächtigten. Im Rahmen dieses konkreten Ermittlungsver- Was also bleibt übrig? – Nicht sehr viel. Bei Taten im fahrens darf die DNA-Analyse natürlich auch schon heute unteren Bereich der Kriminalität, wie etwa bei wieder- zur Aufklärung einer Straftat eingesetzt werden, soweit holtem Ladendiebstahl, wäre nach geltendem Recht die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall gewahrt bleibt. nicht zu speichern. Das ist richtig. Aber gerade bei sol- (Joachim Stünker [SPD]: So ist es!) chen Taten wird natürlich die Voraussetzung der Prüfung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7577

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) der Verhältnismäßigkeit besonders bedeutsam. Das man nämlich so argumentiert, dann müsste man von je- (C) Bundesverfassungsgericht hat eine Entscheidung gefällt dem den genetischen Fingerabdruck nehmen, um so ein – sie stammt aus dem Jahr 2001 –, in der ganz klipp und Höchstmaß an Sicherheit zu erreichen. Das tut keiner klar steht, dass die Feststellung und die Speicherung in und das will auch keiner. Das heißt aber nicht, dass die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein-Ausweitung der Nutzung der DNA-Analyse für die Zu- greift, dass die Verbürgung dieses Rechts auf informatio- kunft kategorisch ausgeschlossen wird. Das kann nie- nelle Selbstbestimmung nur im überwiegenden Interesse mand machen, wenn er die Voraussetzungen für eine sol- der Allgemeinheit und unter Wahrung des Grundsatzes che Erweiterung ernsthaft an dem Grundsatz der der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden darf und Verhältnismäßigkeit ausrichtet. Eine Gesetzesänderung dass die Einschränkung nicht weiter gehen darf, als es kann und wird von der Bundesregierung nur dann auf zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist. den Weg gebracht werden, wenn sie erforderlich ist und Das heißt also: Der Gesetzgeber muss eine Abwägung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wirklich einge- vornehmen. halten wird. Die entsprechenden Anforderungen habe ich genannt. Insofern ist es nach meiner Meinung richtig, dass wir in der Bewertung den genetischen Fingerabdruck nicht Ohne den Nachweis der Erforderlichkeit, der für mit dem konventionellen Fingerabdruck gleichsetzenmeine Begriffe außer der pauschalen Behauptung, dass dürfen. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob wir von die Aufklärung dadurch leichter wird, noch nicht er- dem Fingerabdruck der Fingerkuppe reden oder ob es bracht wurde, kann es nicht gehen. Der Hinweis, dass in darum geht, dass Körperzellen molekulargenetisch un- der Vergangenheit Erfolge bei der Verbrechensbekämp- tersucht werden und der daraus gewonnene genetische fung erzielt wurden, rechtfertigt keine Ausweitung, son- Fingerabdruck gespeichert wird. dern zeigt nur, dass das geltende Recht funktioniert. Of- fensichtlich ist es so, dass die Daten, die bisher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gespeichert wurden, ausreichen, um bestimmte Strafta- DIE GRÜNEN) ten aufzuklären. Dieser Hinweis reicht also nicht aus. Es Zum einen ist natürlich das Geschlecht zu bestimmen müssen vielmehr neue Argumente genannt werden, die und zum anderen wird von vielen Wissenschaftlern die zumindest ich von den Innenpolitikern bisher noch nicht Tatsache bestätigt – die Sie negiert haben –, dass man gehört habe. auch Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Zugehörig- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und Herr keit zu bestimmten Ethnien machen kann. Das gilt für Wiefelspütz?) den Satz, der ermittelt wurde, nicht für den, der nicht er- mittelt wurde, aber der natürlich ermittelt werden kann. – Wenn ich das richtig verstanden habe, hat Herr (B) Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob wir dies wollen Wiefelspütz in diesem Interview kein neues Argument(D) oder nicht – wir sind uns ja einig, dass wir das alles nicht angeführt. Er hat einfach darauf hingewiesen, dass es wollen –, sondern es geht um die Frage: Welche Ent-besser ist, wenn mehr Daten zur Verfügung stehen. Eine wicklungsmöglichkeiten ergeben sich in der Zukunft bei größere Menge an Daten ist immer besser; das habe ich bereits festgestellten Identifizierungsmustern, gerade gesagt. Das hat aber nichts mit den verfassungs- rechtlichen Anforderungen zu tun. Als Juristen fühlen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE wir uns dem Recht natürlich besonders verbunden. GRÜNEN]: Genau!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die wir noch gar nicht in dem Maße überblicken? Das DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜND- muss man einfach im Blick haben, wenn man über die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herrn Wiefelspütz er- Frage redet, welche Daten man heute speichert. klären wir es auch!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich meine, dass in diesem sensiblen Bereich der Rechts- DIE GRÜNEN) staat eine Bringschuld hat, wenn er eine Erweiterung der Diese Möglichkeiten, die heute wenigstens teilweise Daten anstrebt. Deshalb müssen wir belegen, was wir schon erkannt sind, realisieren Sie nicht in dem erforder- mit dieser Änderung anstreben. lichen Maße. Deswegen meine ich, dass im Grundsatz die Anordnung einer Entnahme oder auch die Untersu- Der Zeitpunkt, zu dem die Union diesen Antrag ein- chung von DNA-Spuren dem Richter vorbehalten wer- gebracht hat, ist nicht ganz glücklich gewählt. Ich habe den kann. Allerdings – das habe ich schon gesagt – kön- schon einmal darauf hingewiesen, dass die Änderungen nen wir bei den DNA-Spuren, bei denen es sich amim Sexualstrafrecht Änderungen bei der Möglichkeit der Tatort um so genannte anonyme Spuren handelt, überle- Speicherung des genetischen Fingerabdrucks mit sich gen, ob wir hier von der richterlichen Anordnung Ab- gebracht haben. Sie treten am 1. April dieses Jahres in schied nehmen. Ich weiß, es ist noch nicht allzu lange Kraft. Dies bedeutet zum einen eine Erweiterung der her, dass diese Anordnung ins Gesetz aufgenommenSpeicherungsmöglichkeiten und zum anderen eine Auf- wurde, aber es gibt immer wieder neue Erkenntnisse.nahme des Geschlechts als zu speicherndes Merkmal. Daher sollten wir hierüber in Zukunft durchaus diskutie- Diese Forderung von Ihnen ist damit inzwischen über- ren. holt. Welche anderen Gründe gibt es noch für eine Erweite- Der zweite Punkt, warum ich es nicht für glücklich rung des Katalogs der Anlasstaten? Die reine Sorge um halte, jetzt schon wieder in Aktionismus zu verfallen, ist die Sicherheit der Bevölkerung kann es nicht sein. Wenn die Tatsache, dass die Justizministerkonferenz, wie Sie 7578 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) wissen, eine Expertengruppe eingesetzt hat, die die Gisela Piltz (FDP): (C) Möglichkeiten zur Effektivierung der DNA-Analyse un- Nein, ich möchte das eigentlich, weil ich eine dunkle ter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten prüfen soll. Ahnung habe, was er fragen möchte, gerne im Zusam- Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, zu welchem menhang vortragen. Vielen Dank. Ergebnis diese Gruppe kommt und was auch die Länder für Vorstellungen haben. Ganz nebenbei ist dies auch (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: eine Frage der Kosten, die die Länder dann tragen müs- Das war sehr liberal!) sen; denn die Untersuchung und Speicherung ist nicht Dem Kollegen Bosbach und allen Kolleginnen und gerade kostengünstig. Kollegen, die das alles gleichsetzen, würde ich gerne die Wenn wir uns über dieses wichtige Thema der Erwei- Lektüre des Bundesverfassungsgerichtsentscheides emp- terung der Gendatei Gedanken machen, dann müssenfehlen. Dort heißt es nämlich, dass in der Analyse des wir das gründlich und ausgewogen tun. Wir müssen die Genmaterials eines Menschen immer ein ungleich berechtigten Interessen der Strafverfolgung auf der einen schwererer Eingriff in dessen Persönlichkeitsrecht Seite und die grundrechtlichen und rechtsstaatlichen An- liegt. Daher darf die Genanalyse gerade nicht zu einer forderungen auf der anderen Seite berücksichtigen, die Routinemaßnahme bei der Bagatellkriminalität werden. solch sensible Maßnahmen erfordern. Nicht alles, was technisch machbar ist und vielleicht auf den ersten Blick (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans- gut ankommt, ist tatsächlich und vor allem auch rechts- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- staatlich geboten. NEN]) Mich stört ein wenig die Neigung zu Allmachtsfanta- Natürlich ist die DNA-Analyse heute aus den Ermitt- sien bei der Kriminalitätsbekämpfung: Wenn uns nurlungsverfahren nicht mehr wegzudenken. Die Erfolge spre- alle Daten zur Verfügung stehen, dann können wir alle chen für sich. Das ist gar keine Frage. Aber die Vorteile der Straftaten aufklären. Technik dürfen uns nicht für die Gefahren blind machen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist ein (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das hat Grundrecht und ein hohes Verfassungsgut. Jeder Eingriff doch keiner gesagt!) muss den strengen Anforderungen genügen. Die pau- Dass das nicht stimmt, wissen ja auch Sie. Deswegenschale Ausweitung der Gendatei, wie sie von Ihnen ge- sollten wir solchen Allmachtsfantasien keinen Vorschub fordert wird, kann der Abwägung der Rechtsgüter nicht dadurch leisten, dass wir Forderungen nach einer Aus- standhalten. weitung der Gendateien aufstellen. Prognosen abzugeben, wer durch welche Vortat auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in Zukunft Straftäter sein wird, sind kaum mit hinrei- (B) (D) DIE GRÜNEN) chender Sicherheit zu treffen. Daher darf eben nur dort, wo wirklich mit einer schweren Tat zu rechnen ist, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Speicherung des DNA-Musters erfolgen. Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz, FDP- (Beifall bei der FDP) Fraktion. Dies ist im Bereich der Sexualdelikte der Fall. Daher hat die FDP diese Ausweitung, die von der Frau Ministerin Gisela Piltz (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hier vorgetragen worden ist, auch begrüßt. Die Gene eines Menschen identifizieren diesen nicht Was Sie wollen, nämlich die Ausweitung auf Strafta- nur, sondern bestimmen auch in nicht unerheblicherten mit sexuellem Hintergrund, ist zu unbestimmt, aus Weise sein Aussehen, seine Persönlichkeit und seineunserer Sicht nicht praxistauglich und überhaupt nicht Handlungen. Der genetische Code ist gerade mehr als sauber einzugrenzen. ein Fingerabdruck und damit auch mehr als ein Foto. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) SPD) Es verbietet sich deshalb, DNA-Analysen mit der Ab- Auch in anderen Bereichen stehen Ihre Prognosen auf nahme von Fingerabdrücken gleichzustellen. Das muss dem schwankenden Boden einer vagen Vermutung und auch einmal an die SPD gerichtet werden. Ihr Innenmi- populistischer Effekthascherei. Wo wollen Sie denn die nister, immerhin jetzt Vorsitzender der Innenminister- Grenze ziehen? Bei einem 15-Jährigen, der dreimal Kau- konferenz, sieht es so, dass der genetische Fingerab- gummi geklaut hat und diesen auf dem Schulhof ver- druck dem Fingerabdruck gleich ist. kauft, während sein 16-jähriger Kollege Schmiere steht? (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Das ist praktisch auch so!) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr sachlich!) Da macht man sich als FDP-Politikerin schon Sorgen. – Das ist die logische Konsequenz Ihres Antrags. So sachlich sind Sie. Das müssen Sie zugeben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Kollegen Bosbach? Das ist Gequatsche!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7579

Gisela Piltz (A) Im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität verzichten (Zuruf von der CDU/CSU: (C) Sie direkt auf die Prognose weiterer Straftaten. Der Rot-grün und rot-rot! kleine Dealer wird bei Ihnen zur Genmaus, Beseitigen Sie dieses Defizit. Das ist meine Aufforde- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) rung an die rot-rote und die rot-grüne Landesregierung. deren Spur anhand bestimmter Markergene verfolgt wer- Schließlich fordern Sie, die Kollegen von der CDU/CSU, den kann. sozusagen als Feigenblatt für die Verschärfung, den Miss- brauch unter Strafe zu stellen. Auch wenn diese Forderung (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und Sie sind sinnvoll ist, so ist ihr der Grundsatz des Datenschutzes ent- die Antigenmaus!) gegenzuhalten. Vermeiden und begrenzen Sie die Erhe- bung und Speicherung von personenbezogenen Daten Das ist mit unserer Verfassung nicht zu vereinbaren. – dort, wo es möglich ist! Je weniger Daten erhoben wer- Wenn Sie mich hier als Maus bezeichnen, Herr Kollege, den, desto weniger Daten können missbraucht werden. dann glaube ich nicht, dass das zur sachlichen Auseinan- dersetzung beiträgt. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP, der SPD und dem DIE GRÜNEN – Joseph Philip Winkler BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ma- chismo!) Vizepräsident Dr. : Auch die Erfassung zusätzlicher Merkmale in der Ich erteile dem Kollegen Jerzy Montag, Bündnis 90/ Gendatei muss mit Vorsicht betrachtet werden. So dür- Die Grünen, das Wort. fen Merkmale wie beispielsweise Krankheiten, die mit (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt die den Ermittlungen in keinem Zusammenhang stehen, auf Wahrheit!) gar keinen Fall gespeichert werden, auch wenn diese be- reits im nicht kodierenden Bereich der DNA ausgelesen Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werden könnten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) geehrter Herr Kollege Bosbach, in der Bundesrepublik Deutschland dürfen jedem Beschuldigten gegen seinen Sinnvoll wäre nach unserer Ansicht die gesetzliche Kon- Willen Körperzellen entnommen werden. Selbstverständ- kretisierung für die so genanntenMassen-DNA-Tests. lich können in allen diesen Fällen die entnommenen Kör- Derzeit wird nur durch dengesellschaftlichen und psy- perzellen auch einer DNA-Analyse unterzogen werden. (B) (D) chologischen Druck eine Teilnahme erreicht. Das reicht Das ist in den §§ 81 a und 81 e der Strafprozessordnung nach unserer Auffassung nicht für einen erheblichengeregelt. Eingriff in diese Grundrechte aus. Diese gesetzliche Regelung vergleiche ich mit folgen- Der Effizienzgedanke darf nicht im Vordergrund ste- der Formulierung in Ihrem Antrag: hen, wenn es um Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht geht. Den Richtervorbehalt als unnötigen bürokrati- Die DNA-Analyse ist gegenwärtig nur aus Anlass schen Aufwand zu bezeichnen, so wie Sie es tun, zeugt einer Straftat von erheblicher Bedeutung vorgese- von einer beschämenden Geringschätzung rechtsstaatli- hen und nur dann, wenn prognostiziert werden cher Institutionen. kann, dass gegen den Betroffenen künftig Strafver- fahren wegen Straftaten ebenfalls von erheblicher (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Bedeutung geführt werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich finde es richtiggehend peinlich, dass Ihre Anträge so Der Rechtsstaat ist nicht ohne Kontrollinstanzen zu ha- handwerklich schlechte Formulierungen enthalten. ben. Kontrolle ist immer aufwendig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dennoch, in einem Punkt gebe ich Ihnen Recht. Bei sowie bei Abgeordneten der SPD – Joachim der Bewertung, ob die Untersuchung anonymer Spuren Stünker [SPD]: Die können das nicht besser!) am Tatort einen schwer wiegenden Eingriff in Persön- Wenn ich dann noch berücksichtige, dass sich die lichkeitsrechte darstellt, kann man Ihrer Forderung im meisten Ihrer konkreten Forderungen auf Vorhaben be- Ergebnis folgen. ziehen, die längst im Bundesgesetzblatt verkündet wur- (Zuruf von der CDU/CSU: Aha! Immerhin!) den und auch schon in die Praxis umgesetzt worden wä- ren, wenn Sie uns nicht aufhalten würden, dann könnte Das kann man aber nur dann, wenn auf der anderen Seite ich meine Bewertung Ihres Antrags schon abschließen. die Hürde hoch bleibt. Dann würden wir Ihnen gerne fol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen. Wie immer empfiehlt es sich aus unserer Sicht auch sowie bei Abgeordneten der SPD) in diesem Bereich, das bestehendeVollzugsdefizit zu beseitigen. Die rechtzeitige Übermittlung der Datensätze Ich will aber etwas grundsätzlicher auf das Problem von den Ländern würde zu einer effizienteren Anwen- der DNA-Analyse und der Speicherung des DNA-Iden- dung und sicherlich zu schnellerer Aufklärung führen. tifizierungsmusters eingehen. Wann ist eine solche Ana- Die rote Laterne haben hier NRW und Berlin. lyse überhaupt möglich? Die DNA-Analyse greift in ein 7580 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Jerzy Montag (A) absolut geschütztes Grundrecht ein, nämlich in den Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) Kernbereich der Persönlichkeit. Die durch die Analyse Herr Kollege Montag, darf der Kollege Bosbach eine zu gewinnenden Informationen sind durch das Grund- Zwischenfrage stellen? recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt. Dieses Grundrecht gewährt jedem Menschen Schutz vor Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einer unbegrenzten Erhebung, Speicherung und Verwen- Nein, heute nicht. dung oder Weitergabe der auf die betreffende Person be- zogenen individualisierten Daten. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh!) Professor Eisenmenger hat in der Anhörung gesagt, Das Bundesverfassungsgericht hat in den Jahren 2000 aus dem nicht kodierenden Bereich könnten schon jetzt und 2001 in zwei grundlegenden Entscheidungen zu die- Hinweise auf Krankheiten wie Mongolismus oder auf sem Thema festgehalten, dass nur dann – das Wörtchen Erbanlagen herausgelesen werden. „Numerische Ano- „nur“ bitte ich zu unterstreichen; es enthält nämlich die malien fallen einfach auf“, so Professor Eisenmenger in Kernaussage –, wenn sich die Untersuchung der DNA der Anhörung. Deswegen müssen wir uns in der Diskus- auf den nicht kodierenden Bereich beschränkt, ein staat- sion über die Frage, was man mit der DNA-Analyse ma- licher Eingriff in das Grundrecht verfassungsrechtlich chen kann und darf, auch mit dem Problem beschäftigen, hinnehmbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat inwie in Zukunft im nicht kodierenden Bereich sicherge- diesem Zusammenhang festgestellt, dass der nicht ko- stellt werden kann, dass nur das, was zur Identitätsfest- dierende Bereich eben keine Rückschlüsse auf persön- stellung notwendig ist, staatlicherseits zur Verwendung lichkeitsrelevante Merkmale und Charaktereigenschaf- kommt. ten ermöglicht. Dass solche Informationen nicht aus dem nicht kodierenden Bereich gewonnen werden können, Auch bei den Straftaten, die einen Anlass für eine war die inhaltliche Begründung für die Entscheidung des Speicherung geben, gibt es eine Grundrechtsschranke. Bundesverfassungsgerichts, wonach dieser Bereich in Frau Justizministerin Zypries hat bereits in ihrer Rede der DNA-Analyse von staatlicher Seite untersucht und deutlich gemacht, dass eine Speicherung nur dann erfol- die gewonnenen Erkenntnisse des Identifizierungsmus- gen dürfe, wenn das Interesse der Allgemeinheit über- ters gespeichert werden können. wiege und wenn es sich um Straftaten von erheblicher Bedeutung handle. Den Begriff „Straftaten von erhebli- (Zuruf von der CDU/CSU: Das bestreite ja cher Bedeutung“ hat das Bundesverfassungsgericht in keiner! seinen Urteilen als verfassungsrechtlich gebotene Unter- grenze für einen Eingriff festgelegt. Die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungs- (B) gerichts stammen, wie gesagt, aus den Jahren 2000 und Da Sie aber mehr wollen, habe ich mir die Unterlagen (D) 2001. Aber die Erkenntnisse der Wissenschaft schreiten der DNA-Analysedatei des Bundeskriminalamtes be- sorgt, um festzustellen, im Zusammenhang mit welchen schnell voran. Auf Antrag der CDU im nordrhein-west- Straftaten keine Speicherungen vorgenommen werden, fälischen Landtag wurde im vergangenen Jahr eine An- die aber Ihrer Meinung nach Anlass für eine Speiche- hörung zu diesem Thema durchgeführt. Ich beantworte rung geben sollen. An erster und zweiter Stelle dieser Ihnen jetzt die Frage, die Sie mir gestellt haben, Herr Datei stehen Diebstahlsdelikte mit 100 000 Eintragun- Bosbach. Professor Brinkmann, Rechtsmediziner aus gen und Sexualdelikte. Dann folgen Körperverletzungen Münster, und Betäubungsmitteldelikte, auch in erheblichen Men- ( [CDU/CSU]: Den kann gen. man doch nicht ernsthaft zitieren!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hat in der Anhörung ausgeführt, er wundere sich über die Herr Kollege Montag, ich fürchte, dass sich diese verharmlosenden Ausführungen der CDU. Es sei falsch, Aufzählung nach Überschreiten der Redezeit nicht mehr zu behaupten, mit den derzeit durchgeführten DNS-Ana- vervollständigen lässt. lysen sei ein Rückschluss auf das Erscheinungsbild des Menschen nicht möglich. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn Sie diesen Professor nicht mögen, Ich komme zum Schluss. – Selbstverständlich wird die DNA-Analyse ein Mittel der normalen Polizeiarbeit (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Doch!) werden; denn mit dieser Analyse können exzellente Er- gebnisse erzielt werden. Aber die Speicherung der mit- kann ich auch den Rechtsmediziner Professor Schneider hilfe dieser Analyse gewonnenen Daten – das ist etwas zitieren, der in der Anhörung ausgeführt hat, es würden völlig anderes – werden wir nach strengen rechtsstaatli- im nicht kodierenden Bereich sehr wohl Hinweise auf chen und verfassungsmäßigen Grundsätzen regeln müs- ethnische Zugehörigkeiten gefunden sen. (Zuruf von der CDU/CSU: Die werden aber Da ich in meiner Rede nicht mehr darauf eingehen nicht gespeichert!) kann, werde ich Ihnen noch einige schriftliche Ausfüh- rungen zu den Kosten übermitteln, die entstehen würden, und im Einzelfall an die Polizei weitergegeben, was ein wenn man Ihrem Antrag folgen würde. Vorab nur so glatter Rechtsbruch ist. viel: Mindestens 100 Millionen bis 200 Millionen Euro Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7581

Jerzy Montag (A) pro Jahr kämen an zusätzlichen Belastungen auf die Län- von Amerika. Sie hat geantwortet, dies könne man in der (C) derhaushalte zu. Tat feststellen, allerdings liege die Fehlerquote mit 30 bis 40 Prozent so hoch, dass es dafür gar keinen An- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wendungsbereich gebe. Herr Kollege, legen Sie das bitte, wie angekündigt, Ich sage noch einmal: Alle, die sich das Argument des schriftlich dar. möglichen Missbrauchs zu Eigen machen, unterstellen denjenigen, die die DNA-Spuren untersuchen, dass sie Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rechtsmissbräuchlich handeln und gegen das Gesetz ver- Ich bitte, auch das zu überdenken. stoßen. Wer so argumentiert, darf auch keine einzige Blutprobe eines Autofahrers untersuchen lassen; Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) denn selbstverständlich können die zuständigen Mitar- beiter am Institut für Rechtsmedizin – unterstellt man ih- nen rechtsmissbräuchliches Handeln – an der Blutprobe Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: eines Autofahrers sehr viel mehr als an einer Speichel- Nun hat der Kollege Bosbach um eine Kurzinterven- probe, einem Haar, an Schweiß und Sperma – also an al- tion gebeten. len Spuren, die insbesondere nach einer Sexualstraftat gefunden werden können – erkennen. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Kollege Montag, Sie waren so „kollegial“, mir das Unterstellen Sie denen doch nicht, dass sie rechts- Recht auf eine Zwischenfrage zu verweigern. Deswegen missbräuchlich ihrer Arbeit nachgehen; es sei denn, Ih- muss ich mich jetzt im Rahmen einer Kurzintervention nen ist ein einziger Fall bekannt, nur ein einziger, in dem äußern. jemand an einem Institut für Rechtsmedizin jemals et- was anderes als die Identität, die Zuordnung oder den (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausschluss einer Spur erforscht hat. Wenn das so gewe- Das ist kein Recht!) sen ist, dann sollten Sie diesen Fall benennen, damit wir – Selbstverständlich hat man das Recht, eine Zwischen- darüber sprechen können. Aber wenn Sie selbst keinen frage anzumelden. Der Redner hat natürlich auch dasentsprechenden Fall kennen, dann sollten Sie eine solche Recht, die Zwischenfrage abzulehnen. Deswegen habe Behauptung hier, im Deutschen Bundestag, nicht auf- ich jetzt das Recht auf eine Kurzintervention wahrge-stellen. (B) nommen. (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Es ist und bleibt falsch – auch wenn es hier mehrfach wiederholt wird –, dass es bei jeder Straftat, auch bei ei- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ner Bagatellstraftat, nur auf die Frage ankommt, ob eine Zur Erwiderung erteile ich dem Kollegen Montag das Entnahme oder auch eine Speicherung vorgenommenWort. werden soll. In § 81 g der Strafprozessordnung – schla- gen Sie bitte nach – geht es um die Untersuchung zur Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Identitätsfeststellung. Um eine solche Untersuchung Danke, Herr Präsident. vornehmen zu können – nur damit beschäftigen wir uns in unserem Antrag –, muss eine schwere Straftat vorlie- Erstens. Herr Kollege Bosbach, ich habe gegen Poli- gen. Lesen Sie diesen Paragraphen genau! Wenn Sie der zeibehörden oder gegen Institute und Labore nicht den Meinung sind, dass das, was ich sage, nicht stimmt, dann Vorwurf erhoben, dass sie massenhaft oder in welchem können Sie ja entsprechend erwidern. Wir müssen auf je- Maße auch immer das DNA-Material rechtsmissbräuch- den Fall zwischen der Entnahme und der molekulargene- lich zu anderen als den im Gesetz vorgesehenen Zwe- tischen Untersuchung von Körperzellen zur Identitäts- cken benutzt haben. Das habe ich nicht getan! Es war feststellung und der Aufnahme der Daten in die DNA- auch nicht meine Absicht. Aber ich weise Sie darauf hin, Datei unterscheiden. Das, was gerade gesagt wurde, ist dass bei der Anhörung, die ich bereits zitiert habe, Herr schlichtweg falsch. Wenn Sie gute Argumente gegen un- Professor Schneider selbst erklärt hat, dass in Einzelfäl- seren Antrag hätten, dann brauchten Sie keine schlech- len Ergebnisse aus der Analyse des nicht kodierenden ten. DNA-Bereichs, die über den Identifizierungscode hi- nausgehen, auf Wunsch der Polizei an die Ermittler wei- Herr Kollege Montag, wir haben Frau Dr. Anslinger – sie tergegeben werden. Das muss nicht massenhaft gesche- ist Diplom-Biologin am Institut für Rechtsmedizin der hen. Das kann im Einzelfall passiert sein. Aber solche Uni München – mit dem, was Sie vertreten, konfrontiert. Fälle hat es gegeben. Das war jedoch nicht mein Argu- Sie sagt, es gebe keine einzige wissenschaftliche Unter- ment. suchung, die das bestätigt, was Professor Brinkmann be- hauptet. Wir haben sie außerdem gefragt, ob man bei der Herr Kollege, Sie haben dazu aufgerufen, die Straf- Untersuchung des nicht kodierenden Teils der DNAprozessordnung aufzuschlagen. Dafür brauche ich nicht überhaupt feststellen könne, ob ein Tatverdächtiger Wei- den Gesetzestext; denn ich habe mich damit so genau be- ßer oder Schwarzer ist. Das spielt bei uns nicht so eine schäftigt, dass ich es aus dem Gedächtnis sagen kann: große Rolle wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten Die DNA-Analyse und -Identifizierung nach § 81 g 7582 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Jerzy Montag (A) StPO dient dem Vergleichsverfahren. Deswegen sind die (Lachen der Abg. Christine Lambrecht [SPD]) (C) Entnahme und die Analyse für sich genommen völlig be- deutungslos. Erst durch den Vergleich mit anderen vor- und klar zu machen, um was es bei dem Thema „geneti- liegenden Daten erschließt sich die Bedeutung desscher Fingerabdruck und DNA-Analyse“ tatsächlich § 81 g StPO. Deswegen ist auch eine Speicherung in der geht und welche Potenziale vor allem darin stecken. Datei des Bundeskriminalamtes notwendig. Wir sagen Ich darf Ihnen einmal einen konkreten Fall aus mei- deshalb – nicht ich, sondern Sie haben es nicht verstan- nem Wahlkreis schildern. In der Nacht vom 10. auf den den –: § 81 g StPO normiert ausschließlich das Speiche- 11. August 2002 ereignete sich ein brutaler Mord an rungsproblem. Die in § 81 g StPO geregelte AnalyseFrau Gudrun Wudy in Poing vor den Toren Münchens. dient lediglich der Vorbereitung der Speicherung. Die Die Ermittlungsbehörden tappten monatelang im Dun- Speicherung geschieht zu völlig anderen Zwecken. keln. Im September letzten Jahres konnte der Täter Gott Sie hingegen sprechen in Ihrem Antrag – lesen Sie sei Dank gefasst werden, zur Strecke gebracht werden. ihn sich selbst noch einmal durch! – von der DNA-Ana- Ausschlaggebend dafür war zunächst einmal, dass er lyse allgemein. Die ist nach § 81 a und § 81 e StPO nicht sich in einem Gespräch mit einem Bekannten selbst ver- an die Voraussetzungen des § 81 g StPO gebunden. Herr raten hatte. Letztlich entscheidend zur Überführung trug Kollege Bosbach, Sie kommen also nicht daran vorbei: dann aber der Umstand bei, dass das am Tatort gefun- Der von Ihnen eingebrachte Antrag wurde schludrig ge- dene Spurenmaterial mit seiner DNA übereinstimmte. schrieben. Sie könnten natürlich sagen: Wir haben etwas Die Bevölkerung in Poing und Umgebung, die über ein anderes gemeint. – Sie haben dann aber das, was SieJahr in Schrecken und in dem Wissen lebte, dass der Tä- meinten, nicht in den Antrag geschrieben. ter noch auf freiem Fuß ist und möglicherweise noch einmal zuschlägt, kann seitdem wieder ruhig schlafen. Es ist bezeichnend, dass Sie auch in Ihrer Kurzinter- vention nicht Stellung dazu nehmen, dass das Bundes- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verfassungsgericht mit seinen Entscheidungen vom De- Was wollen Sie damit sagen?) zember 2000 und März 2001 ein Korsett vorgegeben hat: In vielen anderen Fällen hätten Tötungsdelikte oder Es geht bei diesen Verfahren nicht um Täter, auch wenn Vergewaltigungen verhindert werden können, wenn vom Sie, Herr Kollege Bosbach, es immer wieder sagen, son- Täter zu einem früheren Zeitpunkt eineDNA-Analyse dern es geht um Beschuldigte. Das Gericht muss erstvorgelegen hätte und wenn er bereits früher, als er seine feststellen, ob sie Täter sind. Es geht um den Schutz der kriminelle Karriere begann, hätte aus dem Verkehr gezo- Grundrechte aller Betroffenen. Deswegen ist es richtig, gen werden können. dass wir die Vorgaben der beiden Bundesverfassungsge- richtsurteile auch heute beachten und nicht missachten, (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Vor (B) wie Sie es uns empfehlen. der kriminellen Karriere!) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die strafprozessualen Vorschriften, nach denen eine Ent- und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: nahme und molekulargenetische Untersuchung von Kör- Das ist ja wohl unglaublich!) perzellen zulässig ist, sind bei weitem zu eng. Es kommt letztlich wirklich auf die Speicherung an. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Montag, ich darf Ihnen jetzt noch einmal Nun kehren wir zur gemeldeten Rednerreihenfolge die entscheidende Passage des § 81 g StPO vorlesen. zurück. Als Nächster hat der Kollege Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne ihn!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie kennen vielleicht das Stilmittel oder auch das päda- gogische Mittel der Wiederholung. Vielleicht hilft es bei Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Ihnen ja etwas. Ich zitiere: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Wenn es um das Thema „genetischer Zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Fingerabdruck“ oder „DNA-Analyse“ geht, werden von Strafverfahren dürfen dem Beschuldigten, der einer interessierter Seite häufig vorschnell Horrorszenarien an Straftat von erheblicher Bedeutung, insbesondere die Wand gemalt. Die Reden meiner beiden Vorredner, eines Verbrechens, eines Vergehens gegen die sexu- des Kollegen Montag und der Kollegin Piltz, haben dies elle Selbstbestimmung … untersucht werden, wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Da ist die Das heißt, schon für die Untersuchung und nicht erst für Rede vom gläsernen Menschen. Da wird uns prophezeit, die Speicherung ist Voraussetzung, dass eine Straftat von dass wir auf dem besten Wege sind, in einer Welt zu le- erheblicher Bedeutung begangen wurde. ben, wie sie uns George Orwell in dem Bestsellerroman „1984“ darstellt, in der Big Brother jeden auf Schritt und (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tritt beobachtet und verfolgt. Zum Zweck der Speicherung!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf die Speicherung kommt es aber letztlich an. Davon reden Sie, nicht wir!) Ich kann der Rede der Kollegin Piltz leider Gottes Deswegen ist es umso wichtiger, die Debatte zu versach- nicht zustimmen. Aber in einem Punkt kann ich der Kol- lichen legin durchaus beipflichten, nämlich in der Forderung, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7583

Stephan Mayer (Altötting) (A) dass der Pool, sprich: die DNA-Datei, insgesamt größer dienstlich behandelt. Daraus ergibt sich, dass Staatsan-(C) werden muss. waltschaft und Polizei tatsächlich sehr sorgfältig mit den strafprozessualen Mitteln umgehen, die ihnen an die (Gisela Piltz [FDP]: Das habe ich nicht gesagt!) Hand gegeben werden. Wir haben in Deutschland momentan etwas über 300 000 Datensätze. Großbritannien hat über 2 Millio- Die Strafprozessordnung muss deshalb dringend da- nen Datensätze. Je größer der Pool ist, desto größer ist hin gehend geändert werden, dass die DNA-Analyse bei die Wahrscheinlichkeit, dass ich einen Straftäter dann sämtlichen Straftaten, die man im Allgemeinen zur Ein- auch zur Strecke bringe, wenn ich nämlich das Glückstiegskriminalität rechnet, wie auch bei Straftaten im Be- habe, Spurenmaterial von ihm am Tatort zu finden. Da- reich der Drogenkriminalität, bei Straftaten gegen die se- rauf kommt es letztlich an. xuelle Selbstbestimmung, mit sexuellem Hintergrund und bei Straftaten, die gewerbs- oder bandenmäßig be- Frau Bundesministerin, wir hängen keinen All-gangen werden, ermöglicht wird. machtsfantasien nach, sondern wir sind für eine effi- ziente Politik der inneren Sicherheit. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist schon!) (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider Gottes ist es so, dass jeder schwere Junge irgend- Dann bringt man aber niemanden zur Strecke, wann einmal klein angefangen hat. sondern, wenn überhaupt, in den Knast!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Sie sind es in diesem Bereich offensichtlich nicht. Für GRÜNEN]: Da sind sogar Leute mit kleinen uns geht tatsächlich Opferschutz vor Täterschutz. Beleidigungen gespeichert!) Das Bundeskriminalamt hat einmal, als es noch Zeit Es muss auch damit aufgehört werden, in der Bevöl- hatte, sich um seine eigentlichen Aufgaben zu kümmern, kerung falsche Ängste zu schüren. Der überwiegende und nicht damit beschäftigt war, die Pläne zum Umzug Teil der Bevölkerung ist doch rechtschaffen und geset- nach Berlin zu verfolgen, ein Gutachten erstellen lassen, zestreu. Ich spreche Gott sei Dank zwar nicht im Sinne in dem die Vortaten von 400 Vergewaltigern und Sexu- von Vertretern von Rot-Grün oder der FDP-Fraktion, almördern untersucht worden sind. Danach hat jeder der wenn ich eine Ausweitung und Vereinfachung der DNA- untersuchten Täter zuvor im Durchschnitt ungefährAnalyse fordere, bin mir aber sicher, dass ich im Sinne 20 Straftaten begangen, meist im kleinkriminellen Be- der gesamten deutschen Bevölkerung spreche, wenn ich reich. Ferner kam das Bundeskriminalamt zu dem Er- dies fordere. (B) gebnis, dass 75 Prozent aller ermittelten Vergewaltiger (D) vorher nicht einschlägig, das heißt im gleichen Delikts- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch des bereich aufgefallen sind, sondern sich sozusagen quer- Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE beet durch das Strafgesetzbuch schuldig gemacht haben. GRÜNEN] – Lachen bei Abgeordneten der Durch eine effiziente und wirkungsvolle Nutzung der SPD) Ermittlungsmethode der DNA-Analyse könnten also im Es muss noch eines klargestellt werden: Die moleku- Vorfeld schwere und schwerste Verbrechen und vor al- largenetische Untersuchung von Körperzellen, wie sie lem größtes Unheil der Opfer vermieden werden. derzeit in der StPO vorgesehen ist – nichts anderes for- Deshalb fordere ich Sie, sehr geehrte Damen und Her- dern ja auch wir –, umfasst lediglich den nicht kodieren- ren von Rot-Grün und auch von der FDP-Fraktion, auf, den Teil des Genoms; das heißt, die Strafverfolgungsbe- dieses wichtige Thema der Erweiterung der strafprozes- hörden können keine Rückschlüsse auf Erbanlagen, sualen Anwendungsmöglichkeiten der DNA-AnalyseCharaktereigenschaften, Krankheiten oder Krankheits- nicht länger durch die Ideologiebrille zu betrachten, anlagen ziehen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: NEN]: Sie beleidigen das Bundesverfassungs- Sie hören nicht zu!) gericht!) Umso wichtiger ist es, dass ihnen durchaus die Möglich- sondern wirklich sachgerecht sowie orientiert an moder- keit gegeben wird, Aussagen über das Geschlecht zu lie- nen und zeitgemäßen Anforderungen an eine effiziente fern. Wer würde denn ernsthaft auf die Idee kommen, es Strafverfolgung und wirkungsvolle Verbrechensprä- einer Strafverfolgungsbehörde zu verwehren, einen Zeu- vention zu diskutieren. gen, der genauso ein Beweismittel wie eine DNA-Ana- In diesem Zusammenhang muss auch einmal mit der lyse ist, Mär aufgeräumt werden, dass die Strafverfolgungsbe- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hörden mit allen strafprozessualen Mitteln, die ihnen an NEN]: Es steht schon im Gesetz! – Zurufe von die Hand gegeben werden, unsachgemäß und unverant- der SPD) wortlich umgehen. Dem ist nicht so. Das besagte Bun- deskriminalamt hat in einem Gutachten aus dem Jahre danach zu fragen, welches Geschlecht der Täter hatte 1999 festgestellt, dass nur 14,6 Prozent aller Täter tat- oder welche Haut-, Augen- bzw. Haarfarbe er hatte. Das sächlich erkennungsdienstlich behandelt wurden. Das ist in diesem Bereich selbstverständlich. Genauso selbst- heißt, der überwiegende Teil wird gar nicht erkennungs- verständlich sollte das auch bei der DNA-Analyse sein. 7584 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Stephan Mayer (Altötting) (A) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich appel- weitung der Anwendung der DNA-Analyse auch bei (C) liere deshalb an jeden, dem wirklich an einer effizienten Sexualstraftaten vorsieht, umgesetzt werde. Ich frage und wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbe-mich, was dieser Justizsenator macht, außer in Wahl- kämpfung gelegen ist und der den Grundsatz, dass Op- kampfsachen zu tingeln. ferschutz vor Täterschutz geht, wirklich ernst nimmt, un- seren Antrag anzunehmen. (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Reden Sie doch mal zur Sache!) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Denn er hat offensichtlich nicht mitbekommen, dass ge- (Beifall bei der CDU/CSU) nau dieser Punkt bereits im letzten Jahr ins Gesetzblatt gekommen ist und zum 1. April 2004 – die Frau Minis- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: terin hat schon darauf hingewiesen, aber das wird hier Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist offenbar nicht zur Kenntnis genommen; auch mein Vor- die Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion. redner hat das noch immer nicht verstanden – in Kraft treten wird. Christine Lambrecht (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit schö- DIE GRÜNEN) ner Regelmäßigkeit und vorzugsweise vor Wahlen – so auch jetzt kurz vor den Wahlen in Hamburg – beschäftigt Meine Damen und Herren von der Union, ich rate Ihnen sich die Union mit Schaufensteranträgen zur inneren Si- wirklich, manchmal nicht nur ins Gesetz, sondern auch cherheit. ins Gesetzblatt zu schauen; auch dort steht einiges. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Damit holen (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ihre Stimme wir die absolute Mehrheit! Das ist eine Ge- zittert so!) heimwaffe!) Aber daran zeigt sich, dass es um Wahlkampf geht. Dazu gehören Anträge zum Schutz vor Graffiti, worüber Man ignoriert völlig all das, was längst geregelt ist, und wir ja heute Morgen beraten haben, oder zur Ausweitung fordert weiter munter drauflos. Die gesamtdeutsche Be- der DNA-Analyse, worüber wir jetzt sprechen. Ich wun- völkerung wird das schon nicht merken, weil sie wahr- dere mich, dass nicht noch ein Antrag zur Terrorismus- scheinlich nicht ins Gesetzblatt schaut. bekämpfung Ich möchte jetzt ganz konkret einige Punkte aus Ih- (Zuruf von der CDU/CSU: Kommt noch!) rem Antrag, der so sinnlos und überflüssig wie ein Kropf ist, ansprechen. Das, was Sie fordern, wird bereits in (B) oder zum Umgang mit ausländischen Mitbürgerinnendem Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die(D) und Mitbürgern in der Pipeline ist. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gere- Was für ein Ausmaß Ihre Wahlkampfbemühungengelt. mittlerweile angenommen haben, möchte ich Ihnen ein- (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das mal anhand der Rede eines Redners von heute Vormittag stimmt doch nicht!) (Zuruf von der CDU/CSU: Zum Thema!) Der Katalog der Anlassstraftaten in §81g StPO ist – leider waren Sie, werte Zwischenruferin, nicht dabei – schon erheblich erweitert worden. Dieser Punkt kann hier im Parlament deutlich machen. also als erledigt erklärt und abgehakt werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Macht der Wiefelspütz Nach dem neuen Gesetz – ich kann es nur immer wie- auch Wahlkampf für uns?) der zum Nachlesen empfehlen – können auch DNA- Analysen zum Zweck künftiger Strafverfahren zu Straf- Heute Morgen hat der Justizsenator aus Hamburg zum taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zur Hilfe ge- Thema Graffitibekämpfung, einem sehr wichtigennommen werden, ohne dass die Anlassstraftat von er- Thema, gesprochen. Er hat es tatsächlich geschafft, völ- heblicher Bedeutung sein muss. Endlich werden also lig losgelöst von dem Verdacht, eine Wahlkampfrede zu auch die Exhibitionisten, die Ihnen offensichtlich schlaf- halten, den Bogen von Graffitibekämpfung bis hin zur lose Nächte bereitet haben, von dieser Regelung er- DNA-Analyse bei Sexualstraftaten zu spannen. fasst – erledigt, abgehakt. Doch auch das fordern Sie mit (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Alles hängt Ihrem Antrag; Sie ignorieren die bestehende Rechtslage. mit allem zusammen!) Ebenso ist bereits jetzt in § 81 e und g eindeutig gere- Wer dieses Parlament so missbraucht, um Wahlkampf in gelt, dass im Rahmen einer zulässigen molekulargeneti- eigener Sache zu machen, der entlarvt sich selbst. schen Untersuchung zum Zweck anhängiger Verfahren oder der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfah- (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) ren – Herr Mayer, vielleicht hören Sie jetzt einmal zu – Sie mit Ihrem Antrag haben das unterstützt. auch das Geschlecht der betroffenen Person festgestellt werden darf. Das steht alles bereits im Gesetz und ist da- Der Herr Kusch hat aber in seiner Rede auch in pein- mit erledigt. lichster Weise seine Unkenntnis dokumentiert. Er hat nämlich gesagt, dass es endlich Zeit werde, dass der An- Zu welchem anderen Zweck also ist dieser Antrag trag aus dem Land Baden-Württemberg, der eine Aus- eingebracht worden als zu Wahlkampfzwecken? Ich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7585

Christine Lambrecht (A) denke, dieses Thema ist zu wichtig und diese Maßnahme Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) ist zu bedeutend, als dass man sie so missbrauchen Darf der Kollege Bosbach eine Zwischenfrage stel- sollte. len? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Christine Lambrecht (SPD): Sie versuchen hier offensichtlich, sich mit Ihrem Partner Ich möchte nicht aus der Reihe tanzen. Außerdem in Hamburg, dem Senatskollegen von der Schill-Partei, habe ich heute seine Ignoranz kennen gelernt. Ich glaube ein Wettrennen um die schärfere Innenpolitik zu liefern. daher nicht, dass seine Frage zur Aufklärung beitragen Ich weiß nicht, ob das wirklich angebracht ist. würde. Die DNA-Analyse ist in jüngster Zeit zu Recht gera- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Oh!) dezu als Wundermittel einer effizienten Verbrechensauf- klärung gefeiert worden. Der Kollege von der CDU/ Teilweise wurde kritisiert, dass die Richter zu selten CSU hat anschaulich ein ganz bedeutendes Beispiel ge- DNA-Analysen anordnen. Dazu muss ich sagen: offen- liefert. Aber diese Ermittlungsergebnisse konnten auf- sichtlich zu Recht; denn sie werden den Sachverhalt ge- grund der bestehenden Rechtslage erreicht werden und nau geprüft und einen sachlichen Grund für ihre Ent- nicht aufgrund irgendwelcher Luftschlösser oder Forde- scheidung haben. Man kann ihnen dieses Verhalten nicht rungen, die man hier in den Raum stellt. Das heißt, so vorwerfen. Deswegen sage ich: Finger weg! schlecht kann die Rechtslage gar nicht sein, wenn sie zu Die Debatte über diesen Antrag – in diesem Zusam- solch richtigen und wichtigen Fahndungserfolgen führt. menhang einen sehr herzlichen Dank für Ihre sehr sach- Das muss man hier einmal deutlich sagen. liche und informative Rede, Frau Ministerin – hätte dazu Deswegen möchte ich hier feststellen, dass die Forde- führen können, dass wenigstens bei einigen Kolleginnen rung einer Ausweitung dergesetzlichen Möglichkeiten und Kollegen Informationsdefizite behoben werden. nur aus populistischen Gründen erhoben worden seinAber man muss sagen, Sie nd si beratungsresistent. Sie kann. Denn bereits jetzt ist im DNA-Identitätsfeststel- bringen immer wieder die gleichen Anträge ein und wie- lungsgesetz – die Frau Ministerin hat schon darauf hin- derholen Ihre Forderungen gebetsmühlenartig, wenn es gewiesen; auch dieses Gesetz empfehle ich zur Lektüre, irgendein Wahlkampf erforderlich macht. Sie glauben bevor man sich hier hinstellt und Forderungen erhebt – doch nicht, dass die Menschen Ihnen abkaufen, dass Ihre ein Katalog mit 41 Straftaten festgeschrieben. Die im- Anträge aus Sorge um die innere Sicherheit und nicht zu mer wieder angesprochenenBetäubungsmitteldelikte Wahlkampfzwecken gestellt werden. sind doch nicht losgelöst von anderen Delikten, sondern (B) (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Haben Sie (D) in der Regel in der organisierten Kriminalität zu finden, solch eine Angst vor der Wahrheit?) und da haben Sie bereits jetzt die entsprechenden Mög- lichkeiten. Vielleicht aber haben Sie im Sinn, dass jeder, Damit werden Sie nicht durchkommen. der einmal mit einem Joint angetroffen wird, in Zukunft ebenfalls erfasst wird. Da haben wir natürlich eine an- Vielen Dank. dere Vorstellung. Wir glauben nicht, dass es geboten ist, diese „Täter“ sofort zu erfassen. Jemand, der einen Joint (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bei sich hat, ist für mich nicht gleich ein Täter; DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gisela Piltz [FDP]) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber ein potenzieller Verbrecher!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: das möchte ich Ihnen, Herr Bosbach, gleich sagen. Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Göbel Wir brauchen keine Ausweitung; denn die Rechtslage das Wort. ist so gut, dass mit ihr gute Fahndungserfolge erreicht (Christine Lambrecht [SPD]: Den habe ich werden können. nicht angesprochen!) Ich möchte mich auch sehr deutlich gegen die Aufhe- bung des Richtervorbehalts aussprechen. Ralf Göbel (CDU/CSU): (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Auch bei Frau Kollegin Lambrecht, zunächst einmal bitte ich anonymen Tatspuren?) Sie, einfach zur Kenntnis zu nehmen, dass wir keinen Richtervorbehalt bei anonymen Tatspuren wollen. Die Prüfung durch einen Richter als bürokratisches Hemmnis darzustellen und es entsprechend in dem An- Sie haben darauf hingewiesen, der Antrag sei sinnlos trag zu formulieren halte ich für eine Unverfrorenheit und überflüssig wie ein Kropf. und eine Unverschämtheit gegenüber diesem Berufs- stand. Ich glaube, es ist nicht angebracht, die Angehöri- (Christine Lambrecht [SPD]: Ja!) gen dieses Berufsstandes so zu verunglimpfen. Eine Delegation des Innenausschusses war bei Interpol (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in Lyon. Dort ist das Thema DNA-Analyse ausführlich DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gisela Piltz erörtert worden. Herr Kollege Hofmann, der neben Ih- [FDP]) nen sitzt, hat an dieser Reise teilgenommen. 7586 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Ralf Göbel (A) Es ist von Interpol ausdrücklich darauf hingewiesen der Abgeordneten Werner Schulz (Berlin),(C) worden, wie wichtig das Instrument der DNA-Analyse Volker Beck (Köln), Anja Hajduk, weiterer Ab- bei der weltweiten Aufklärung von Verbrechen ist. geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN (Christine Lambrecht [SPD]: Da gehen wir ja d’accord!) Sicherung von Standort und Know-how des deutschen Seeschiffbaus Es ist ebenfalls darauf hingewiesen worden, dass von 181 Ländern, die Interpol angehören, 127 Länder dieses – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Instrument nutzen und es ständig ausbauen, Börnsen (Bönstrup), Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Wie wir!) Fraktion der CDU/CSU was zu einem sehr großen Erfolg bei der Verbrechensbe- Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwet- kämpfung führt. terlage in sicheres Fahrwasser leiten Die Experten von Interpol haben auch den Antrag der – Drucksachen 15/1575, 15/1101, 15/1930 – CDU/CSU zum Gegenstand einer ausführlichen Erörte- rung gemacht. Es wurde darauf hingewiesen, dass dieser Berichterstattung: Antrag sehr sinnvoll ist, dass die in ihm aufgestellten Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Forderungen der Aufklärung von Verbrechen weltweit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die dienen und dass Interpol diesen Antrag ausdrücklich un- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu terstützt. Das ist nachzulesen im Reisebericht, der im Se- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos- kretariat des Innenausschusses ausliegt. sen. Es ist also sehr verwunderlich, Frau Kollegin, dass Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Sie sich dieser Bewertung der internationalen Experten Kollegin Margrit Wetzel das Wort für die SPD-Fraktion. nicht anschließen können und unseren Antrag ablehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Margrit Wetzel (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: „Kreuzfahrtmarkt wieder im Aufschwung“, „LNG- Zur Erwiderung, Frau Lambrecht. Schifffahrtsmarkt wird noch bis 2010 boomen“ wird im „Täglichen Hafenbericht“ getitelt. „Positive Entwick- lung des europäischen Schiffbaus“, „verbesserte Aus- (B) Christine Lambrecht (SPD): (D) gangslage für deutsche Werften“, „optimistische Zu- Mich verwundert Ihre Einschätzung, die Sie gerade kunftsperspektiven für den Schiffbau“ heißt es in den vorgetragen haben, überhaupt nicht. Sie bezieht sich si- Medien. Die Entwicklung der Auftragslage im letzten cherlich auf die Teile des Antrags, die in dem Gesetz, Quartal 2003 zeigt, dass das neue Konzept „Leader Ship das am 1. April 2004 in Kraft tritt, schon enthalten sind. 2015“ der europäischen Werften genau richtig ist. Denn Diese Punkte haben auch wir als richtig erkannt und in darin wird nicht nur auf den technischen, hochkomple- dem Gesetzentwurf berücksichtigt. Deswegen kann ich xen und innovativen Spezialschiffbau gesetzt, der die nur sagen: Richtige Einschätzung in Bezug auf diese Entwickler, Techniker und Ingenieure weit mehr fordert Punkte. als die Stahlbauer. Darin wurde auch rechtzeitig die ak- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tuelle Lage auf dem Schifffahrtsmarkt vorausgesehen. DIE GRÜNEN – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die Kapazitäten der asiatischen Werften sind zur- Sie hätten die neueste Ausgabe nach Lyon mit- zeit voll ausgelastet. Leider sind auch die Aufträge für nehmen müssen!) die richtig großen, interessanten Post-Panamax- und Af- ramax-Schiffe in Asien gelandet. Die Frachtraten haben Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sich erholt. Das anhaltende chinesische Wirtschafts- Ich schließe die Aussprache. wachstum sorgt für ein deutlich erhöhtes Ladungsauf- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufkommen, von dem auch deutsche Reeder und deutsche Drucksache 15/2159 an die in der Tagesordnung aufge- Häfen, allen voran Hamburg, profitieren. Die Verschär- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damitfung der EU-Sicherheitsbestimmungen sorgt für eine einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist deutliche Verstärkung der Nachfrage im Tankerneubau. die Überweisung so beschlossen. Die Kehrseite der Auslastung asiatischer Großwerften Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: ist, dass deutlich mehr Aufträge selbst für einfachere Containerschiffe nach Deutschland gehen. Korea wird Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- durchaus zum Wettbewerber im Spezialschiffbau. Aber richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit wir sind insofern auf der sicheren Seite, als derContai- (9. Ausschuss) nerschiffbau in Deutschland noch immerhin etwa 50 Prozent der gesamten Neubaukapazitäten ausmacht. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Klaus Brandner, , weiterer Für die nächsten zwei bis drei Jahre scheint die Be- Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie schäftigung bei vielen deutschen Werften gesichert. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7587

Dr. Margrit Wetzel (A) Kurzarbeit wurde zurückgenommen; stillgelegte Helgen chen Kommissaren, sodass wir uns darauf verlassen(C) werden reaktiviert. Unsere Werften können auf vorhan- können, dass diese Frage geklärt ist. dene Baupläne zurückgreifen; reine Beschäftigung ist angesagt. Das begeistert die Werften und die dort Be- Auch der Streit um dieLandesbürgschaften für die schäftigten nicht unbedingt. Aber Beschäftigung ist un- Bauzeit und die Endfinanzierung der Schiffe, der sehr heftig getobt hat, ist seit Ende Dezember beendet. Sie verzichtbar und macht zumindest zufrieden. Zur Erhal- wurden von der EU-Kommission – übrigens mit deutli- tung einer angemessenen Zahl von Arbeitsplätzen auf chem und ausdrücklichem Lob der Kommission für die den deutschen Werften ist das, auch wenn es erhebliche Zusammenarbeit zwischen den deutschen Behörden und Zugeständnisse der Werftarbeiter verlangt, unverzicht- den Dienststellen der Kommission; das sollte man sich bar. gut merken – anerkannt. Die Regelungen wurden leicht Gewerkschaften und Werftarbeiter haben wieder ein- modifiziert, und zwar so, dass unterschiedliche Risiken mal geradezu vorbildlich bewiesen, wie flexibel sie, aber jetzt auch mit unterschiedlichen Prämien gesichert wer- auch das Tarifrecht sind. den. Das muss kostendeckend sein; das ist völlig klar. Ich denke, dass ist für uns mit Blick auf Basel II selbst- (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen verständlich auch akzeptabel. Die Befristung bis Ende [Bönstrup] [CDU/CSU]) 2006 ist ebenfalls legitim; denn es ist völlig okay, dass wir nachweisen, dass diese Regelung keinen Beihil- – An dieser Stelle würde ich nicht unbedingt klatschen, fecharakter hat, dass sie wirkt und dass sie unverzichtbar Herr Börnsen. ist. Diese klaren Rahmenbedingungen für die Schiffsfi- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: nanzierung stärken die maritime Wirtschaft. Bei dem Thema Arbeitnehmer klatsche ich im- Ein anderer Punkt ist die anwendungsorientierte In- mer!) novationsförderung, die schon seit langem von der In- – Ja, ja. – Haustarife und Ergänzungsvereinbarungendustrie gefordert wurde. Auch sie ist endlich EU-gesi- werden schon einmal zu bitteren Pillen. Die richtige Do- chert; das Wirtschaftsministerium legt gerade das sierung wirkt heilend, manchmal sogar lebensrettend. entsprechende Förderprogramm auf. Ich gehe davon aus, Aber ein Zuviel – das wird der Grund dafür sein, warum dass damit die ostdeutschen Werften deutlich gestärkt werden; sie haben ja in Bezug auf den Weltschiffbau- Sie geklatscht haben; ich kann da die IG Metall nur war- markt immer noch geradezu abstruse Kapazitätsbe- nend unterstützen – kann auch lebensbedrohend werden. schränkungen, auch wenn wir da schon etliches erreicht „Wir können zufrieden sein“, das kann mit Fug und haben. Auch gehe ich davon aus, dass gerade diejenigen Recht aber auch die Bundesregierung sagen. Herrunserer Werften davon profitieren werden, die in den (B) Börnsen hat in seinem Antrag im Juni 2003 noch nahezu letzten Jahren – in unglaublich widrigen Zeiten – alles(D) den Weltuntergang beschworen. Im September habendaran gesetzt haben, wirklich innovativ Fortschritt zu Sie uns dahin gehend beschimpft, wir hätten die Regie- machen. Wir haben Werften, die Forschung und Ent- rung in unserem Antrag über den grünen Klee gelobt. wicklung, Umweltschutz, Effizienz und Sicherheit ganz Heute können wir feststellen, dass das absolut richtiggroß geschrieben haben, Werften, die im Weltschiffbau und gut war. Denn die Bundesregierung ist ausgespro- wirklich Vorreiter sind, die aber nicht von den Möglich- chen erfolgreich gewesen. Unsere Einschätzung derkeiten, Beihilfen zu bekommen, profitieren, weil es für Situation war richtig; da beißt nun einmal die Maus kei- diese innovativen Schiffbausegmente eben keine Beihil- nen Faden ab. fen gibt. Für diese Werften muss man meines Erachtens ganz klar etwas tun. Insofern haben wir mit dem, was Die Beihilfefrage auf EU-Ebene ist praktisch ge- wir erreicht haben, eigentlich rundherum gute Aussich- klärt. Die Regierung hat rechtzeitig deutlich mehr Mittel ten. für Nothilfen gegen koreanische Kampfpreise zugesagt, und zwar so rechtzeitig, dass die Aufträge noch ange- Für die maritime Wirtschaft hat die Bundesregierung nommen werden konnten. Wir haben diese erhöhtensich ausgesprochen energisch und sehr erfolgreich ein- Mittel in den Haushalt eingestellt. gesetzt. Das Maritime Bündnis – die enge Abstimmung zwischen Wirtschaft und Politik, in einem ständigen Dia- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Na! Wo log – zeigt, wie wichtig diese enge Abstimmung ist, denn?) wenn man in der Praxis Erfolg haben will. Es ist gut, dass sich die deutschen Werften, wenn sie von Eine andere Frage ist, ob man sich auf diesem Ergeb- Bundesrat und Opposition verlassen werden, an dieser nis ausruhen kann. Da sage ich ganz klar: Nein, das kön- Stelle auf die Koalitionsfraktionen verlassen können. Da nen wir auf gar keinen Fall. Die Situation in Korea, die wir den Haushalt mit unserer Mehrheit beschließen wer- wir hier im Deutschen Bundestag immer wieder disku- den, können diese Mittel dann auch fließen. tiert haben, ist im Prinzip unverändert dramatisch: Auch der Siebte Schiffbaubericht der EU-Kommission vom Über die Verlängerung der befristeten Schutzmaß- Sommer des letzten Jahres hält erneut fest, dass Korea nahmen über den 31. März 2004 hinaus, und zwar für Schiffe inzwischen durchschnittlich um mehr als die gesamte Laufzeit der WTO-Klage, die ja bedauerli- 20 Prozent unter dem normalen Preis anbietet. Korea cherweise noch etwas Zeit in Anspruch nimmt, gibt es verkauft seine Schiffe immer noch, trotz der ständigen zumindest – wenn auch keine Kollegialentscheidung der Interventionen, zu Preisen, die nicht einmal die Produk- Kommission – eine Verständigung unter den wesentli- tionskosten decken. Koreanische Werften kalkulieren 7588 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Margrit Wetzel (A) immer noch nur mit direkten Betriebskosten und berück- Die Bedingungen für China könnten nicht besser sein. (C) sichtigen zum Beispiel keine Inflations- oder Finanzie- Es ist ein Riesenland mit einem robusten Wirtschafts- rungskosten. Das ist ein Zustand, der einfach nicht halt- wachstum, das ein hohes Ladungsaufkommen garantiert. bar ist. China ist im Einfachschiffbau erfahren, auch wenn die Standards noch relativ gering sind. Das Streitbeilegungsverfahren vor der WTO muss deshalb zügig vorangetrieben werden. Wir wissen, dass Schiffbau ist eine Schlüsselindustrie für diverse an- Verzögerungen eintreten, weil Korea eine Gegenklage dere technische Bereiche. Die Chinesen setzten ganz ge- erhoben hat. Wir gehen aber davon aus, dass mit Nach- zielt auf Modernisierung und Ausbildung. Sie suchen die druck an diesem Verfahren gearbeitet wird und die Ent- Kooperation mit den ausländischen Handelspartnern. Sie scheidung hoffentlich bald kommt, insbesondere weil haben zum Beispiel in Shanghai eine riesige, moderne der Ausgang der WTO-Klage natürlich auch Einfluss auf Werft gebaut. Wer wollte denn ernsthaft die Kooperation das neue OECD- bzw. – besser – das neue Weltschiff- mit China verweigern? Handel, wirtschaftliche Entwick- bauabkommen haben wird. lung und die Angleichung der rechtlichen Rahmenbedin- gungen führen doch automatisch auch zu Veränderungen Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, dass in der Menschenrechtsfrage in China. Wer von uns kann dieses Weltschiffbauabkommen seit etwa zwei Jahren sich da einer fairen Kooperation verweigern? ganz intensiv beraten wird. Wir brauchen es dringend für die europäischen Werften. Wichtig ist aber, dass daran Auf der anderen Seite drückt bei uns derMangel an eben nicht nur die OECD-Länder beteiligt sind, sondern Ingenieuren in vielen Betrieben auf die Wettbewerbsfä- auch China und Korea – um nur die größten Wettbewer- higkeit. Wir sehen, dass wir hier verstärkt etwas tun ber zu nennen; beide Länder sperren sich noch. In die- müssen. Deshalb ist eine der wichtigsten Absichten im sem Abkommen sollen ja weltweite Rahmenbedingun- Konzept „Leader Ship 2015“, nicht nur auf Forschung gen für einen fairen Wettbewerb ausgehandelt werden; und Entwicklung und den Spezialschiffbau zu setzen, dazu gehören natürlich eine allgemein verbindlichesondern in jedem Fall auch Beschäftigung zu sichern. Preiskalkulation, dazu gehören auch ganz eindeutigDas heißt: das eine tun und das andere nicht lassen, da- Antidumpingvorschriften und Sanktionsmechanismen. mit wir China eine europäische Position entgegensetzen Dass die beiden letzten Punkte gerade bei Korea nicht können. auf Begeisterung stoßen, ist klar; auch China haben wir Lassen Sie mich zusammenfassen: Regierung und noch nicht komplett im Boot. Ich finde es aber wichtig, Koalitionsfraktionen tun sehr einvernehmlich alles, was dass sich beide Länder an den Verhandlungen beteiligen, machbar ist, um unsere Schiffbauindustrie kurz-, mittel- und wir sind sicher einig darin, dass diese Verhandlun- und langfristig zu stützen. Das wird auch von den Be- gen und Gespräche auch dazu genutzt werden müssen, (B) troffenen so gesehen und anerkannt. Das Lob der mariti- (D) auf diese Länder Druck auszuüben und ihnen nicht die men Industrie, das hier meines Erachtens durchaus auf- Chance zu eröffnen, den Abschluss dieses Weltschiff- richtig und ehrlich ist, tut gut und ist auch wichtig. bauabkommens zu verzögern. Arbeitgeber und Arbeitnehmer ziehen an einem Ich gehe davon aus, dass bis spätestens Ende 2005 so- Strang. Kooperationen und Verbünde in der Industrie wohl das Ergebnis der Klage als auch das OECD-Ab- sorgen für mehr Wirtschaftlichkeit. Auftragspakete wer- kommen vorliegen werden. Aber selbst wenn wir dieses den untereinander verschoben, um die Beschäftigung in Abkommen haben, können wir uns darauf nicht ausru- möglichst vielen Betrieben zu sichern. Das ist unheim- hen. Es wäre schön, wenn es so wäre. Das Problem ist lich wichtig. Vom ständig expandierenden Welthandel die chinesische Konkurrenz, vor der wir seit langem profitieren die Zulieferindustrie, die gesamte vielfältige gewarnt werden. Ich zitiere hier nur Frank Teichmüller Hafenwirtschaft, die Reeder und nicht zuletzt auch die von der IG Metall, der meines Erachtens völlig Recht Schiffsfinanzierer. hat, wenn er sagt, dass sich der europäische Schiffbau letztlich in China entscheidet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, 35 Prozent des Weltschiffbaus werden mit deutschem Geld finanziert. In Korea verbessert sich zwar langsam das Lohnni- 35 Prozent der Welthandelsflotte werden von deutschen veau. In China sind die Löhne aber immer noch um Reedern beherrscht; das sorgt für Wertschöpfung. Aber 30 Prozent niedriger als bei den asiatischen Nachbarn. der Anteil des deutschen Schiffbaus am Weltmarkt liegt China hat seinen Marktanteil im Schiffbau innerhalb gerade einmal bei 5 Prozent. Das, denke ich, ist beschä- kürzester Zeit verdoppelt und sich für 2005 das Ziel ge- mend. setzt, einen Anteil von 20 Prozent am Weltmarkt im Schiffbau zu erreichen. Für 2030 strebt es 40 Prozent Ich meine, wir sollten von den Asiaten lernen, all die und damit die Weltmarktführerschaft an. positiven Kräfte, die bei uns sind, zusammen wirken zu lassen, unseren wirtschaftlichen und politischen Einfluss Wer sich an das japanische Industrial Targeting erin- mit Nachdruck geltend zu machen und Verbündete für nert, der glaubt nicht nur, dass die Chinesen das errei- einen fairen Weltschiffbaumarkt zu finden, auf dem jede chen werden, worauf sie abzielen, sondern weiß, dass es Schiffbaunation einen angemessenen Anteil am Kuchen so kommen wird. Chinesische Banken sind schon heute bekommt. die Nummer eins in der Schiffsfinanzierung. China gibt aktuell finanzielle Anreize für den Tankerneubau. Wir Das Maritime Bündnis ist keine Spielwiese, auf der wissen am Beispiel Japan, was das für chinesische Werf- die Bundesregierung stets unter Beweis stellt, dass sie ten bedeutet. alles tut, um die maritime Wirtschaft und den Standort Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7589

Dr. Margrit Wetzel (A) Küste in Deutschland zu sichern. Sie tut das und das ist der des Bezirkes Küste, eine Bilanzpressekonferenz mit (C) gut so. Aber Vernetzung und Kooperation müssen mei- den Worten: Noch nie ging es den deutschen Werften so nes Erachtens auch Selbstbindungen bei den Schiffsfi- schlecht wie in diesem Jahr. Mit 20 681 Direktmitarbei- nanzierern und den Reedern bewirken. Unsere Schiff- tern wurde der niedrigsteBeschäftigungsstand seit bauer brauchen keine Subventionen. Unsere Schiffbauer 50 Jahren ermittelt. Allein zwischen 2002 und 2003 kam brauchen Aufträge auf einem fairen Weltmarkt. es zu einem Arbeitsplatzabbau von über 5 Prozent. 1996, vor sieben Jahren, waren noch 28 250 Frauen und Män- Japanische Reeder bestellen mit japanischem Geld in ner im Schiffbau tätig. Japan gebaute Schiffe. Chinesische Reeder bestellen mit chinesischem Geld in China gebaute Schiffe. Deshalb (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das sa- appelliere ich mit Nachdruck an unsere Finanziers und gen Sie jetzt schon im Beisein eines Vertreters Bereederer, sich mit den von ihnen gehaltenen 35 Pro- des Wirtschaftsministeriums!) zent an diesem Gesamtkuchen ein Beispiel daran zu neh- men. Diese 35 Prozent müssen zu einem politischen Ein- Das heißt, in sieben Jahren haben 8 000 Menschen ih- fluss werden. Wir dürfen die Ressourcen ren nicht Arbeitsplatz verloren. In keiner vergleichbaren Bran- multifokal verteilen, sondern wir müssen sie bündeln che ging es so dramatisch bergab. und unsere Kräfte gezielt einsetzen. Eine starke Wirt- Es geht hier nicht um eine Momentaufnahme. Wir schaft muss auch dafür sorgen, dass die Politik in ihrer müssen uns um die Struktur eines ganzen Industriezwei- Unterstützung stark ist. ges kümmern. Von Politikern – lassen Sie mich das zum Abschluss (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sagen – wird immer wieder erwartet, Visionen zu haben. der FDP) Kann man in diesem Bereich und bei einer so starken Konkurrenz mit Recht Visionen haben? Ich glaube, ja. In Aus Sorge um die Existenz eines ganzen Industriezwei- Wilhelmshaven planen wir im Moment den Weser-ges hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Juni 2003 Jade-Port. Das wird ein Hafen, in dem Megaschiffe ab- einen entsprechenden Antrag gestellt. Wir sind der Auf- gefertigt werden können. Wir setzen darauf, dass dasfassung, dass der deutsche Schiffbau faire Rahmenbe- einen richtigen Aufschwung auslöst. Warum wird ei-dingungen und eine sichere Perspektive braucht. Er gentlich bei uns nicht wie in China und in Korea von den muss raus aus der Schlechtwetterlage! entsprechenden Werften geplant, gemeinsam eine Mega- Auch wenn sich die Auftragsbestände im zweiten werft zu bauen? Ich finde, das wäre eine Vision. Insofern Halbjahr wieder stabilisiert haben, hängt die Zukunft un- sage ich: Packen wir es an! serer Werften an einer brüchigen Trosse. Die Bauorder (B) Ich bedanke mich für Ihr Zuhören. der 32 Seeschiffswerften reichen nur zwischen zwölf (D) und 22 Monate, Anschlussaufträge fehlen. „Wat is mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uns Tokunft?“, frogn de Werftarbeiter von de Küst. Wat des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schall werrn in Tokunft? (Renate Blank [CDU/CSU]: Das verstehen wir Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gerade noch!) Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Börnsen, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. Weitgehend zu ihren Lasten geht zurzeit die Atempause in der Werftenkrise. So verzichten in Kiel HDW-Be- (Beifall bei der CDU/CSU) schäftigte in einer Betriebsvereinbarung auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld und verlängern ihre Arbeitszeit weit Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): über die im Tarifvertrag vorgesehene hinaus. Denn nur Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! unter diesen Bedingungen konnten sie einen Auftrag ei- Unsere Bundesregierung betreibt, was das Wirtschafts- ner Hamburger Reederei für Containerschiffe bekom- ministerium angeht, zurzeit eine U-Boot-Strategie. Alle men. sind abgetaucht, keiner ist mehr da: weder der Wirt- Was für das Kieler Ostufer gilt, hat bereits auch von schaftsminister selbst noch seine Staatssekretäre. Das ist Flensburg über Hamburg bis Warnemünde Platz gegrif- bei einer so entscheidenden Rede eigentlich schade. fen. Den Werftarbeitern gebührt Dank für ihr Handeln (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie mein- und für das, was sie im Augenblick leisten. ten jetzt die Rede von Frau Wetzel!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Das ist vor allen Dingen für diejenigen, die sich mit der bei Abgeordneten der FDP) maritimen Wirtschaft beschäftigen, schade. Warum sind Doch unvertretbar ist es, dass auf ihrem Rücken der die zuständigen Regierungsvertreter nicht da? Das ist im Streit über politische Fehler und Versäumnisse ausgetra- Grunde genommen eine Missachtung der Branche. Sie gen wird. Das halten wir für falsch. gehören hierhin. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Trotz der Aufgeschlossenheit von Betriebsräten und ruf von der CDU/CSU: Herbeirufung!) der IG Metall mussten im vergangenen Jahr vier tradi- tionsreiche Werften in Bremen, Lübeck und Emden ihre Vor genau neun Monaten, im Mai 2003, begann der Tore schließen. Sie scheiterten an dem unfairen Wettbe- schon zitierte Frank Teichmüller, IG-Metall-Vorsitzen- werb im Schiffsbau. Sie scheiterten vielleicht aber auch 7590 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) deshalb, weil unsere Werften noch immer nicht ausrei- lage. Diese wird immer stärker. Korea verkauft seine (C) chend kooperieren. Ein nationaler Werftenverbund fehlt. Schiffe nach Angaben der EU bis zu 20 Prozent unter Es stirbt noch immer jede Werft für sich allein. den Herstellungskosten. Auch die chinesischen Staats- werften rechnen nicht zu Vollkosten ab und führen ihren Wie stellt sich die Lage in dieser HightechbrancheWettbewerb über den Preis. Sie unterbieten teilweise so- zurzeit dar? DerWeltschiffbau boomt, Europa aber gar noch Korea. Ein Reeder, der heute einen 3 000-TEU- dümpelt hinterher. Der Marktanteil der europäischenContainerdampfer ordern will, muss dafür in Korea Schiffbauer ist von 7 Prozent auf 5 Prozent zurückge- 40 Millionen Dollar, in Deutschland zwischen 46 und 47 gangen. Hauptgewinner der weltweiten Expansion sind Millionen Dollar bezahlen. Südkorea und China – das ist bereits gesagt worden –, die ihre Kapazitäten in den letzten Jahren dramatisch er- Bei diesem schonungslosen Verdrängungswettbewerb höht haben. Während Südkorea vor fünf Jahren noch ei- können die marktwirtschaftlich arbeitenden deutschen nen Marktanteil von 30 Prozent verzeichnete, liegt erWerften nicht mithalten. Die Einleitung einer WTO- heute nach VSM-Angaben bei fast 40 Prozent. China hat Klage gegen Korea durch die Europäische Kommission seinen Marktanteil auf fast 10 Prozent erhöht – auch das war lange überfällig. Sie hätte bereits vor fünf Jahren, als wurde bereits gesagt –, will im nächsten Jahr einenman die ersten Dumpingbeweise fand, eingereicht wer- Marktanteil von 20 Prozent erreichen und will Schiff- den müssen. bauer Nummer eins werden. In China ist Schiffbau eine nationale Angelegenheit, eine Prestigesache. Bei uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rangiert der Schiffbau dagegen unter ferner liefen. Wenn Mit Rücksicht auf andere Exportbranchen streckt sich China auch bei der Einhaltung der Menschenrechte so der europäische Stier zwar, aber er rührt sich nicht. Man aktiv wäre, dann könnte man die Fortschritte seinerweicht einem Handelskrieg aus und verhängt keine Werften anerkennen. Angesichts der momentanen Situa- Sanktionen. Dem Stier hat man die Hörner gezogen. tion geht das aber in keiner Weise. Auch der Bundesregierung kann man den Vorwurf Insgesamt dominieren die drei asiatischen Länder Ko- nicht ersparen, nur halbherzig zum Nachteil des Schiff- rea, Japan und China den Weltschiffbau zurzeit mitbaulandes Deutschland gehandelt zu haben. Dadurch, 80 Prozent. Europa folgt erst an vierter Stelle, wobeidass jetzt, während der Klagezeit, befristete Beihilfen für Deutschland mit fast 4 Prozent aller Aufträge noch im- europäische Werften möglich sind, wird zwar die Bran- mer die Nummer eins unter denEU-Ländern ist. Der che gestützt, doch es fehlen mittel- und langfristige Per- Abstieg der klassischen Schiffbaunationen in Europaspektiven. Im April läuft das Programm aus. Eine An- scheint unaufhaltsam voranzuschreiten, allen voran lei- schlussförderung ist noch nicht gesichert. Sie wird hof- der der von Deutschland. Viele Jahrzehnte waren wir die (B) fentlich kommen. Nach unserer Auffassung muss diese (D) drittstärkste Schiffbaunation mit einem Anteil von fast Wettbewerbshilfe nicht nur bis zum Ende des Klagever- 20 Prozent. Seit Jahren verlieren wir aber Marktanteile. fahrens aufrechterhalten werden, sondern so lange, bis Darüber kann auch der leichte Aufwärtstrend im Jahrdie Konkurrenz die Dumpingpreise aufgegeben hat. 2003 nicht hinwegtäuschen. Zur Planungssicherheit dieser Branche, die inklusive Dabei sind die deutschen und die europäischen Werf- ihrer Zulieferer über 100 000 Menschen beschäftigt, ge- ten international wettbewerbsfähig. Hier wird Spitzen- hört auch, dass die Küstenländer einschließlich der Wa- technologie produziert. Die Werften waren jedoch zuckelkandidaten Schleswig-Holstein und Hamburg ihre lange Stiefkinder der EU-Politik und wurden in der Ver- volle Förderung für den gesamten Zeitraum garantieren. gangenheit zu häufig politischen Eskapaden ausgesetzt. Wenn wir in unserem Land nicht zu einem wirklichen So hat sich die Landesregierung von Schleswig-Holstein Pakt der Vernunft für die maritime Wirtschaft kommen, über Jahre hinweg geweigert, ihren Anteil an der Wett- dann setzen wir die Existenz einer ganzen Branche aufs bewerbshilfe voll zu bezahlen. Der Konkurs der Lübe- Spiel. cker Flender-Werft war eine Folge dieser sprunghaften Politik. Allerdings können die temporären Schutzmaßnahmen nicht allein Aufgabe der Küstenländer sein. Über 70 Pro- Die Ursachen für den dramatischen Rückgang imzent der Wertschöpfung eines Schiffes findet bei der deutschen und im europäischen Schiffbau sind nicht bei Zulieferindustrie statt. Diese befindet sich zu einem den Unternehmen alleine zu suchen. Unsere Werften be- überwiegenden Teil in Bayern, Baden-Württemberg und treiben hochmodernen Hightech-Schiffbau. Hier arbei- Nordrhein-Westfalen. Vom Schiffbau profitiert der ge- ten fleißige, motivierte und qualifizierte Frauen undsamte Wirtschaftsstandort Deutschland. Die Finanzie- Männer. Sie sind durchaus bereit, für die Zukunftsfähig- rung der Mittel zu einem Drittel durch den Bund und zu keit ihrer Arbeitsplätze Opfer zu bringen. zwei Dritteln durch die Länder ist nicht mehr gerechtfer- Nach einer Hamburger Studie werden auf deutschen tigt. Wir brauchen einen neuen Beteiligungsschlüssel. Werften 35 Wochenstunden, in Korea 42 Wochenstun- Im Sinne einer gerechten Verteilung muss er 50 zu 50 den und in der Volksrepublik China 44 Wochenstunden betragen. gearbeitet. Doch die eigentliche Ursache für den Ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bruch in dieser Branche liegt nicht in den unterschiedli- chen Arbeitszeiten, sondern in den unfairenpolitischen Eine weitere Wettbewerbseinschränkung konnte Rahmenbedingungen. Der Wettbewerb auf dem Welt- durch den Einsatz des maritimen Koordinators verhin- schiffbaumarkt befindet sich seit Jahren in einer Schief- dert werden. Die Landesbürgschaften werden durch die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7591

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) EU genehmigt. Das ist ein guter Erfolg. Wir erwarten, Wir alle kennen die schwierige Situation, in der sich (C) dass aufgrund dessen die Kapazitätsbeschränkungen für die deutsche Schiffbauindustrie befindet. Das ist seit vie- die Ostwerften aufgehoben werden. Ich danke meinen len Jahren ein Thema. Die Auftragslage in Deutschland Kollegen Ulrich Adam und Werner Kuhn für ihre enga- ist schwierig, wenngleich wir im Winter während der gierten Einlassungen, dass die Aufhebung dieser Kapa- Beratungen im Haushaltsausschuss zur Kenntnis genom- zitätsbeschränkungen wirklich Ende 2005 erfolgenmen haben, dass sie sich im letzten halben Jahr deutlich muss. Wir sollten diese Bemühungen insgesamt unter- aufgehellt und verbesserthat. Deswegen war es eine stützen. richtige und gute Entscheidung des Haushaltsausschus- ses des Deutschen Bundestages, sehr schnell und flexi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bel zu reagieren und die Möglichkeiten, auftragsbezo- gene Beihilfen zu nutzen, deutlich zu erhöhen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Diese Entscheidung war in Zeiten von Haushaltsknapp- Ich komme zum Schluss. – Man darf nicht vergessen, heit sicherlich nicht einfach. Wir haben sehr schnell rea- dass neben dem Handelsschiffbau natürlich auch dergiert und die Entscheidung einvernehmlich getroffen. Es Marineschiffbau eine große Rolle spielt. Bis 2008 gibt war sinnvoll, weil der entsprechende Wirtschaftssektor es noch Aufträge im Marineschiffbau. Dann ist das Ende dadurch in einem ganz anderen Ausmaß Möglichkeiten der Fahnenstange erreicht. Danach gibt es ein großeshatte, Aufträge wirklich abzuschließen. Das musste vor schwarzes Loch. Ich erwarte sehr wohl, dass der Bun- dem 31. Dezember passieren. Das ist uns politisch ge- desverteidigungsminister bereit ist, Anschlussaufträge glückt und es war eine richtige Entscheidung. an den Marineschiffbau zu erteilen und dem Parlament Aber grundsätzlich müssen wir eine ganz besondere einen entsprechenden konkreten Vorschlag vorzulegen. Sorgfalt walten lassen, wenn wir überSubventionstat- Wir brauchen Zukunftssicherheit, ein weltweites An- bestände reden. Ich finde es wichtig und gut, in der Ar- tisubventionsabkommen und volle Kraft voraus für den gumentation natürlich auch auf die Dumpingbedingun- deutschen Seeschiffbau. gen hinzuweisen, die uns Korea schon seit Jahren beschert. Trotzdem müssen wir uns überlegen, wie wir Danke schön. damit auf Dauer umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Börnsen, ich plädiere für einen sanften, aber neten der FDP) deutlichen Wechsel weg von dem rein auftragsbezoge- (B) (D) nen Instrument der Beihilfe hin zu einem Hilfenpro- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gramm unter der Überschrift „Innovation“. Letztlich Herr Kollege Börnsen, ich erlaube mir den Hinweis, müssen wir die Schiffbauindustrie in eine Situation brin- dass der Gebrauch des Plattdeutschen in den Ausspra- gen, in der die politischen Rahmenbedingungen nachhal- chen des Deutschen Bundestages selbstverständlich min- tig die Wettbewerbsfähigkeit dieser Branche verbessern. destens genauso willkommen ist wie die Anglizismen, Deswegen hat die Regierung den richtigen Weg einge- die jeder für selbstverständlich hält. schlagen. Wir haben im letzten Mai angekündigt, im (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herbst des letzten Jahres beraten und auch im Haushalt Sehr gut!) beschlossen, ein neues Innovationsbeihilfeprogramm mit dem großen Volumen von 60 Millionen Euro für die Im Interesse der gewohnten perfekten Protokollfüh- Jahre 2004 bis 2007 aufzulegen. rung wäre es nur im Falle längerer Passagen wünschens- wert, wenn es einen rechtzeitigen Hinweis gäbe, damit Kollege Börnsen, ich möchte Sie darauf hinweisen, wir aus unserer hoch kompetenten Stenografenschar die dass wir bei diesem Innovationsbeihilfeprogramm gänz- entsprechenden Experten um die Protokollführung bitten lich ohne Kofinanzierungspflicht der Länder auskom- könnten. men. Was wir hier verabredet haben, ist ein erheblicher Beitrag aus dem Bundeshaushalt mit dem richtigen Im- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: puls für Innovation. Es ist, glaube ich, von der betroffe- Dat find ik ok, Herr Präsident!) nen Industrie auch positiv aufgenommen worden. – Das hatte ich erhofft, Herr Kollege Schmidt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich stelle auch in diesem Punkt eine überfraktionelle und bei der SPD) Übereinstimmung fest und erteile nun der Kollegin Anja Ich warne davor, dieses neue Beihilfeprogramm zu Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. sehr mit dem alten Programm in Konkurrenz zu setzen. Wir haben jetzt eine Deckungsfähigkeit hergestellt. Das Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bedeutet, dass es, falls die traditionellen auftragsbezoge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht nen Beihilfen noch erforderlich sind, auch über den März wäre es wirklich gut, wenn Sie einen solchen Kollegen 2004 hinaus die Möglichkeit geben soll, aus diesem bestellen würden, da ich dem Herrn Börnsen eventuell neuen Topf dafür Mittel in Anspruch zu nehmen, weil auf Plattdeutsch antworten möchte. – Nein, das hätte ich wir die Werften unterstützen wollen. Aber wir müssen jetzt spontan gemacht; also, ich will es nicht tun. zukünftig wirklich darauf setzen, den Innovations- und 7592 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Anja Hajduk (A) Modernisierungsimpuls zu verstärken. Es ist mir wichtig, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) darauf hinzuweisen. Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion. Sie haben sich sehr kritisch zur Entscheidung der schleswig-holsteinischen Landesregierung geäußert. Nach meiner Kenntnis hat Hamburg – ich bin Hambur- Hans-Michael Goldmann (FDP): gerin und habe während der Regierungszeit von Rot- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Grün in Hamburg von 1997 bis 2001 im Haushaltsaus- Kollegen! Ich kann nahtlos an das anknüpfen, was Sie, schuss dort mit entschieden – immer den vollen Zwei- Frau Hajduk, gesagt haben. Im Protokoll der Ausschuss- drittelbetrag gezahlt. Schleswig-Holstein hatte Haus-beratung steht: Einigkeit bestand zwischen den Fraktionen haltsprobleme und konnte das zeitweise nicht. dahin gehend, dass der deutsche Schiffbau grundsätzlich bis zur Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen und (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Überwindung der Preisdumpingpolitik einiger Staaten Mecklenburg-Vorpommern auch!) weiterhin Wettbewerbshilfe bekommt. Mit dieser Wett- Der Hamburger Wirtschaftssenator Uldall, Ihr ehemali- bewerbshilfe wird bei der Forschungs- und Innovations- ger Kollege aus der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, förderung eine Neuausrichtung angestrebt. hat in diesem Winter lange Zeit gezaudert, und zwar Das ist eine alte, richtige und sehr berechtigte Forde- nicht aus haushälterischen Gründen, rung der FDP. Frau Hajduk, Sie müssen aber genau hin- (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Genau!) sehen. Eines der innovativsten Unternehmen in diesem Bereich ist in meiner Heimatstadt Papenburg. Es nutzt sondern weil er Einfluss nehmen wollte auf die Bezah- durchaus die Förderprogramme der EU. Trotzdem hat lung und die Tarife der Werftindustrie. Er hat sich lange dieses Unternehmen auf dem Markt enorme Schwierig- geweigert, diesen Beitrag Hamburgs zu zahlen. keiten. Frau Dr. Wetzel, es tut mir schon ein bisschen (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: weh, wenn Sie erzählen, wie toll alles in diesem Bereich Aber Hamburg zahlt jetzt!) ist. Dazu sage ich Ihnen, dass allein bei der Meyer Werft in Papenburg im letzten Jahr Hunderte von Leuten ihre – Jetzt zahlt Hamburg, weil ordentlich Druck gemacht Arbeit verloren haben. Ich finde, man sollte sich hier wurde. Ich wollte nur einmal die Gemengelage aufzei- nicht so unreflektiert äußern und all das, was die Bun- gen und deutlich machen, wie auf der Länderseite ent- desregierung macht, als super und klasse bezeichnen. Es schieden wird. ist eben nicht so, dass die von der Bundesregierung be- Ich glaube, es ist wichtig und richtig, wie ich schon schlossenen Maßnahmen uns wirklich voranbringen. ausgeführt habe, dass wir ein Innovationsbeihilfepro-Das muss man hier einmal kritisch anmerken. (B) (D) gramm auflegen. Ich will nicht verhehlen, dass wir Grü- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen natürlich darauf setzen, dass dabei auch umwelt- der CDU/CSU) freundliche Antriebstechnologien wie Biotreibstoffe und andere Antriebe erforscht und eingesetzt werden. Frau Dr. Wetzel, ich habe mir hier einiges aufge- schrieben. Ich bin über Ihre Ausführungen ein wenig ir- Man kann durchaus sagen, dass der deutsche Schiff- ritiert. Ich habe mich während Ihrer Rede die ganze Zeit bau unter dem Aspekt der Schiffsicherheit und der Um- gefragt: Was hat das mit Ihrem Antrag zu tun? In Ihrem weltstandards sehr wettbewerbsfähig ist. Antrag steht von den Dingen, die Sie angesprochen ha- Wir wünschen uns, dass dieser Wirtschaftszweig dau- ben, im Grunde genommen gar nichts. erhaft wettbewerbsfähig wird. Wir unterstützen alle An- (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Doch, lesen Sie strengungen, die Dumpingpraxis Südkoreas auf dem ihn einmal!) Verhandlungswege zu bekämpfen. Ich werbe in dieser Debatte dafür, weiterhin zu berücksichtigen, dass wirNicht an einer einzigen Stelle Ihres Antrages werden Sie von staatlicher Seite nicht mit Regelungen und Steuer- konkret. In Ihrem Antrag heißt es immer nur: Der Deut- geldern alle Probleme eines weltweiten Wettbewerbs lö- sche Bundestag begrüßt, unterstützt, kennt, weiß und sen können. will helfen. Ich nenne Ihnen einige Bereiche, wo Sie hät- ten konkret werden können, nämlich die in dem Antrag (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ der FDP genannten Punkte. Einer ist die Forderung nach DIE GRÜNEN und der SPD) einer veränderten Verteilung der Kosten von einem und Ich bitte bei diesem Thema um Ehrlichkeit. Wenn wir zwei Drittel zwischen Berlin und den Küstenländern, die über Subventionsabbau reden, den als abstrakten Begriff ungerecht ist. alle unterstützen, dann müssen wir auch traditionelle (Zuruf der Abg. Dr. Margrit Wetzel [SPD]) Subventionstatbestände kritisch unter die Lupe nehmen. Diese Debatte war in diesem Sinne bisher sehr sachlich. – Wenn Sie etwas fragen wollen, dann seien Sie so Ich hoffe, dass wir bei diesem innovationsorientierten freundlich und melden sich. Unsere Forderung nach ei- Beihilfeprogramm, mit dem wir die zukünftig traditio- ner Neugestaltung der Schiffbauhilfen im Verhältnis von nellen Subventionen ablösen wollen, Ihre Unterstützung 50 zu 50 zwischen Berlin und den Ländern haben Sie ab- finden. Das wäre in der Sache angemessen. gelehnt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Man muss das, was Sie angesprochen haben, vernetzt und bei der SPD) betrachten. Es geht hier nicht nur um die Seeschifffahrt, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7593

Hans-Michael Goldmann (A) sondern hier spielen mehrere Faktoren zusammen. Es der Basis der alten steuerlichen Gesetzgebung bestan-(C) geht um die Binnenschifffahrt, die Häfen und die See- den, auf den Prüfstand gestellt und sicherlich wegfallen. schifffahrt. Auch hierzu haben wir einen sicherlich nicht Darüber brauchen wir uns überhaupt nicht zu unterhal- uninteressanten Antrag gestellt, der von allen, die in der ten. Binnenschifffahrt tätig sind, unterstützt wird, nämlich § 6 b des Einkommensteuergesetzes so zu gestalten, (Beifall bei der FDP) dass der Erlös beim Verkauf von Schiffen steuerfrei ge- Aber in der ganz konkreten Situation war es beson- stellt wird, wenn er reinvestiert wird. Die technischeders unverständlich, dass unser Antrag, der in die bes- Ausstattung und Leistungsfähigkeit gerade der Binnen- sere Richtung ging, keine Mehrheit im Ausschuss, vor schiffe sind eben nicht mehr so, wie man sich allen das Dingen nicht bei den Sozialdemokraten und bei Ih- wünscht. Auch diese Forderung haben Sie abgelehnt. ren Fraktionskollegen, gefunden hat. – Sie können sich Insofern muss man leider feststellen, dass zwischen jetzt bitte wieder setzen. den Worten, die in Ihrem Antrag stehen, und den Taten, (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Sie dann folgen lassen, Lücken klaffen. Deshalb ist Die Antwort war gut!) es auch richtig, dass wir Ihren Antrag ablehnen, weil wir ihn einfach als Worthülse betrachten. Ich bleibe noch bei § 6 b des Einkommensteuergeset- zes. Denn im Planco-Gutachten, das Sie in Auftrag gege- Lassen Sie mich etwas zu dem maritimen Bündnis sa- ben haben, steht als eine zentrale Forderung eine gen. Ich finde das maritime Bündnis gut. Das ist über- entsprechende Änderung des § 6 b des Einkommensteu- haupt keine Frage. Nur, die eigentliche Leistung des ma- ergesetzes. Wenn wir die Dinge für die Binnenschiffer in ritimen Bündnisses und auch des maritimen diesem Punkt nicht voranbringen, dann werden wir in Koordinators hält sich doch sehr in Grenzen. Frau diesem Bereich nicht weiterkommen. Wetzel, lesen Sie einmal nach, wie Sie über ihn in Ihrem eigenen Antrag sprechen. Ich meine, das ist nicht der Lassen Sie mich noch etwas sagen, was mich wirklich richtige Weg. mit Sorge erfüllt. Frau Dr. Wetzel, unter uns gesagt: Dat (Beifall bei Abgeordneten der FDP) is doch Tüttel, wenn Sie von japanischem Geld für japa- nische Werften sprechen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Dat is kein Getüt- Herr Kollege Goldmann, Frau Kollegin Hajduk tel, dat is so!) möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Fragen Sie einmal Bernd Meyer, wann er das letzte deut- (B) sche Geld für ein Passagierschiff bekommen hat! Das ist (D) Hans-Michael Goldmann (FDP): endlos lange her. Wir wollen doch nicht in diesem inter- Bitte schön. nationalen Markt kleinkariert agieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Goldmann, da Sie auf Ihre InitiativeWir müssen die Besten sein und dann werden wir die Er- hinweisen, mit der Sie eine Änderung im Einkommen- folgreichsten sein. Innovation ist gut in diesem Bereich. steuerbereich beantragt haben, möchte ich Sie fragen: Aber verabschieden Sie sich bitte von dem Vorwurf, Passt dieser weitere Ausnahmetatbestand, den Sie schaf- dass deutsche Bürgerinnen und Bürger sehr viel Schiff- fen wollten, zu dem von Ihrer Fraktion sonst vorgetrage- bau finanzieren, die Schiffe aber nicht in Deutschland nen Steuervereinfachungskonzept wirklich? Wieso grei- gebaut werden und das deshalb schlimm ist. Nein, das ist fen Sie uns an, die wir doch letztlich ein ein neues Verbund, eine Kette, und diese Kette muss erhalten Programm im Volumen von 60 Millionen Euro für die bleiben. Werften aufgelegt haben? Das ist die Initiative der rot- grünen Regierung. Jetzt kommen Sie mit einem Gegen- Lassen Sie mich auch noch Folgendes sagen. Denken vorschlag, der einen Steuervergünstigungstatbestand Sie noch einmal darüber nach, ob man die Forderung er- schafft. Ist das nicht vielleicht das falsche Instrument, heben soll, in Verbindung mit dem Jade-Weser-Port eine ein Instrument, das nicht zu der von Ihnen ansonstenMegawerft in Wilhelmshaven aufzubauen! propagierten Politik passt? (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Ja, eine Vision!)

Hans-Michael Goldmann (FDP): Wir haben doch Schwierigkeiten genug, die vorhande- Frau Hajduk, ich bin Ihnen dankbar für die Zwischen- nen Werften zu einer Kooperation zu veranlassen oder frage. Dieser Tatbestand ist der einzige in unseremsie auszulasten. Die Werften sind im Moment nur ausge- neuen Steuerkonzept 15-25-35. Dabei handelt es sichlastet, weil die Chinesen, die Japaner und die Südkorea- nämlich nicht um einen Subventionstatbestand, sondern ner überhaupt keine Kapazitäten mehr haben. um eine Renvestition desjenigen, der ein Schiff veräu- (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Visionen müssen ßert hat. Wir sollten fair sein. Die Anträge haben wir ge- Sie haben! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] stellt, als es noch nicht die allgemeine Steuerreformdis- [SPD]: Die FDP ohne Visionen!) kussion gab. Ich sage ganz ehrlich: Selbstverständlich werden bei einer großen Steuerreform, wie wir sie uns – Nein, Herr Schmidt, das ist keine Vision, das wäre eine vorstellen, alle diese Vergünstigungstatbestände, die auf Katastrophe für die Werften in Deutschland. 7594 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zur Auswirkung der Kapazitätsbeschränkung möchte (C) Herr Kollege Goldmann, Sie dürfen sich jetzt nicht ich Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Die Peene- durch den Kollegen Schmidt in eine Fortsetzung desWerft in Wolgast – in meinem Wahlkreis – hat seit Sep- Beitrags verwickeln lassen, für die Sie keine Redezeit tember 2003 das Schadstoffunfallbegrenzungsschiff mehr haben. „Ostsee“ im Bau. Die Auslieferung an das Verkehrsmi- nisterium wird im August dieses Jahres erfolgen. Aller- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das dings steht bis heute nicht fest, ob weitere Aufträge, die wäre auch das Wenigste, was ich hätte herbei- von der Werft angenommen wurden, mit der cgt des führen wollen! – Ernst Burgbacher [FDP]: Wir Schadstoffunfallbegrenzungsschiffs „Ostsee“ zusam- hören gerne zu!) mengerechnet werden müssen. Die Beantwortung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit steht Hans-Michael Goldmann (FDP): seit April 2003 aus. Ich glaube, in diesem Punkt können wir uns sehr schnell einigen. Herr Kollege Schmidt, überdenken Sie Jeder Tag, den die Werft auf die Antwort wartet, ge- bitte die Forderung nach zusätzlicher Werftkapazität vor fährdet die Arbeitsplätze, weil das Damoklesschwert dem Hintergrund der Forderung Ihres Verteidigungsmi- möglicher Strafzahlungen bei einer cgt-Überschreitung nisters, die Mittel für den Marineschiffbau in Deutsch- über der Werft hängt. Es wäre erfreulich, wenn Sie, Herr land erheblich zu reduzieren. Begehen Sie bitte in die- Staatssekretär, diese Debatte zum Anlass nehmen wür- sem Bereich keine Todsünde! Laufen Sie nicht derden, um endlich für Klarheit zu sorgen. Illusion hinterher, dass zusätzliche Werftkapazitäten un- (Beifall bei der CDU/CSU) ser Problem lösen werden. Das ist sicherlich nicht der Fall. Die cgt-Beschränkung bis 2006 ist eine Produktiv- bremse für die Werften und zugleich eine Arbeitsplatz- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bremse für die Werftstandorte in Mecklenburg-Vorpom- der CDU/CSU) mern. Hier werden sich im Umfeld nur dann Betriebe der Zulieferindustrie ansiedeln, wenn diese Standorte Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Chancen haben, dauerhaft im Markt zu bestehen, und Das Wort hat der Kollege Ulrich Adam, CDU/CSU- keinen Beschränkungen unterworfen werden. Fraktion. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das besonders Dra- matische an dieser Situation ist die deutlich über (CDU/CSU): Ulrich Adam 20 Prozent liegende Arbeitslosigkeit in meinem Heimat- (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- bundesland. Daher müssen wir alle Möglichkeiten nut- (D) nen und Kollegen! Um die derzeitige Situation der Werf- zen, um die Werftindustrie zu fördern. Die Begrenzung ten insbesondere in den neuen Bundesländern und damit muss aufgehoben werden. in Mecklenburg-Vorpommern zu verstehen, müssen wir zwölf Jahre zurückblicken. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: 1992 wurde durch den Ministerrat der EU für die Genau richtig!) Werften in Mecklenburg-Vorpommern eine Beschrän- Auch durch den Marineschiffbau kann die Bundes- kung auf 327 000 cgt als Kompensation für Moderni-regierung den Werften helfen, da dieser von der cgt-Be- sierungserwartungen beschlossen. Da es der Bundesre- schränkung befreit ist. In Übereinstimmung mit den gierung Ende der 90er-Jahre nicht gelungen ist, dieseWerften und der Zulieferindustrie wird festgestellt, dass Begrenzung aufzuheben, war die geforderte Flexibilität sich der dramatische Rückgang nationaler Aufträge im in der Reaktion auf den Wettbewerb im Weltschiffbau Marineschiffbau bis zum Jahr 2008 bereits erheblich frü- für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern nicht ge- her durch Beschäftigungseinbrüche auf zahlreichen geben. Dadurch haben die Werften in Mecklenburg-Kernfeldern der Unternehmen auswirkt. Ein Ausgleich Vorpommern neben der schon bestehenden weltweiten durch den Export ist derzeit kaum möglich. Wettbewerbssituation den zusätzlichen Nachteil der cgt- Begrenzung. Wenn beispielsweise der Bau der Fregatte 125 nicht alsbald auf den Weg gebracht wird, führt das aufgrund Gerade der Containerschiffbau war und ist das we- der bereits bestehenden Kurzarbeit bei Blohm + Voss sentliche Marktsegment des Schiffbaus in Mecklenburg- demnächst zuerst zu Entlassungen im Konstruktionsbe- Vorpommern. Die Werften in Mecklenburg-Vorpom-reich und nach dem Bau der letzten Fregatte 124 im mern sind technologisch führend und gehören in Europa Jahr 2007 auch zu Entlassungen von Werftarbeitern. zu den letzten noch verbliebenen Anbietern. Solange jedoch dieKapazitätsbeschränkung be- Daher ist es unumgänglich, dass die 19 Millionen steht, können die Werften in Mecklenburg-Vorpommern Euro für Forschung und Entwicklung im Etat des Vertei- nicht fair im Markt agieren. Das hat zur Folge: Jedesdigungsministeriums auch tatsächlich bereitgestellt wer- Containerschiff, das nicht in Mecklenburg-Vorpommern den. Die Werften in Mecklenburg-Vorpommern können gebaut wird, wird in Korea oder China gebaut. ihre Auslastung zum Beispiel nur durch die Wartung und Reparatur von Marineschiffen sichern und damit Durst- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: strecken bei der Abwicklung ziviler Aufträge überbrü- So ist es leider!) cken. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7595

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie (C) Herr Kollege Adam, denken Sie bitte an die Redezeit. haben Frau Hajduk nicht zugehört!) Wir haben eine ganz wichtige Aufgabe zu erfüllen; Ulrich Adam (CDU/CSU): denn die in Deutschland gebauten Schiffe sind 9 bis 16 Ja. – Deswegen ist es notwendig, dass die Peene auf Prozent teurer als die der ausländischen Wettbewerber. 7,50 Meter vertieft wird, um auch der Peenewerft dieTrotzdem haben die deutschen Werften und Schiffbaube- Chance zu geben, bei der Vergabe von Aufträgen zurtriebe noch Aufträge, weil die Kunden, insbesondere die Wartung von Fregatten mitzubieten. Reeder, Vertrauen in die deutsche Wertarbeit und den Ich schließe, Herr Präsident: Mecklenburg-Vorpom- exzellenten Service haben. Deshalb können die Kunden mern bietet mit dem Marineamt, der Marinetechnik-noch gehalten werden. Man darf aber die Entwicklung schule, seinen Hochschulen und Universitäten sowie sei- der Nachfrage nach Transportkapazität auf dem Welt- nen hochmodernen Werften ideale Voraussetzungen für markt nicht außer Acht lassen. Tatsache ist, dass die den Schiffbau. Ein deutliches Signal an die Werftindus- neue Containergeneration mit 8 000 TEU nicht mehr in trie zum Erhalt unserer Fähigkeiten und Kompetenzen Deutschland, sondern nur noch auf asiatischen Schiff- im Schiffbau und insbesondere im Marineschiffbau ist bauplätzen gefertigt und verkauft wird. Die asiatischen dringend notwendig. Lassen Sie uns am heutigen Tag ein Schiffbauer haben bereits 80 Aufträge für den Bau dieser solches aussenden. Containerschiffe. Auch deutsche Reeder geben ihr Geld dorthin. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Leider!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – Sie sagen „leider“. – Angesichts dessen ist es notwen- Den Kollegen Werner Kuhn, dem ich gleich das Wort dig, dass wir unseren Universitäten und außeruniversitä- erteilen werde, müsste ich bei strenger Auslegung des ren Einrichtungen Forschungsaufträge geben, und Zeitbudgets eigentlich darauf hinweisen, dass er bereits zwar nicht nur, wenn es um die Grundlagenforschung auf dem Weg zum Rednerpult seine Redezeit ausge-geht. schöpft hat. Selbstverständlich gehe ich mit ihm genauso Die EU-Kommission hat uns einen hervorragenden großzügig um wie mit den Vorrednern. Ich bitte aber um Handlungsspielraum gegeben. Diesen müssen wir nut- einen disziplinierten Umgang mit der verbleibenden zen. Zeit. Bitte, Herr Kuhn. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Wir dürfen jetzt nämlich nicht 10 Prozent, sondern bis zu (D) Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): 20 Prozent der Gesamtumsätze für Forschung und Ent- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wicklung einsetzen. Hier ist die Bundesregierung ge- bin mir natürlich der großen Ehre bewusst, doch noch fragt. Ein entsprechendes Programm muss her! meine vier Minuten Redezeit ausschöpfen zu dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch wenn Herr Staatssekretär Schlauch schon etwas Nicht nur in der Grundlagenforschung, sondern auch bei gelangweilt dreinschaut, ist es meiner Meinung nach Pilotprojekten, Produktentwicklungen und Markteinfüh- wichtig, hier einen entscheidenden Punkt anzusprechen, rungen können wir den Schiffbauplatz Deutschland wie- der sich aus der Rede von Herrn Goldmann herauskristal- der fit machen. Mit der heutigen Debatte muss ein wich- lisiert hat und den auch Frau Hajduk angesprochen hat. tiges Signal an die Schiffbaubetriebe und die Werften in Meine Kollegen Börnsen und Adam haben ebenfalls da- Norddeutschland gehen. rauf hingewiesen, über welch großesIngenieurtechnik- und Forschungspotenzial die deutschen Küstenländer Es ist wichtig, dass Akzente gesetzt werden. Es gibt verfügen. Das müssen wir in Zukunft besser nutzen.beispielsweise ein sehr interessantes Projekt des Fraun- Frau Wetzel, Sie haben eine sehr konkrete und sicherlich hofer-Instituts in Teltow, bei dem es um die Einhül- auch korrekte Istzustandsanalyse hinsichtlich des Welt- lentanker geht, die noch bis zum Jahr 2015 zugelassen marktes gegeben. Aber Sie haben den zweiten Schrittsind. Das Fraunhofer-Institut erforscht, ob sich in diesen nicht gemacht. Sie haben nicht darauf hingewiesen, dass Tankern zusätzlich eine Polyethylenhülle einbauen lässt. für die Innovationsoffensive für Forschung und Ent-Mit dieser Produktentwicklung ließe sich die Sicherheit wicklung auch entsprechende Mittel eingestellt werden dieser Tanker erhöhen. Das ist ein ganz interessantes müssen. Das fehlt mir in dieser Debatte. Projekt. So etwas muss gefördert werden. Was wir nicht (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das habe brauchen, ist eine vom Bund angestoßene Entflechtungs- ich doch gesagt!) debatte, in der es darum geht, die außeruniversitäre For- schung erst einmal dahin gehend zu überprüfen, ob der Eine Offensive ist zwar angekündigt worden. Aber mich Bund die entsprechenden Mittel für die Fraunhofer-Insti- interessiert sehr, in welcher Größenordnung Mittel be- tute und für die Leibniz-Institute überhaupt zur Verfü- reitgestellt werden sollen. Mich interessiert ebenfalls, ob gung stellen kann. Der Bund will sämtliche Lasten den die hierfür vorgesehenen Forschungs- und Entwick-Ländern aufbürden. Gerade wir in den neuen Bundeslän- lungsgelder der Koch/Steinbrück-Streichliste zum Op- dern sind finanziell überhaupt nicht in der Lage, das zu fer fallen werden. schultern. 7596 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Werner Kuhn (Zingst) (A) Ich kann nur sagen: Die heute vorliegenden Anträge Hans-Michael Goldmann (FDP): (C) von allen Fraktionen sind hochinteressant, sie weisen in Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und die richtige Richtung; aber sie müssen umgesetzt wer- Kollegen! In diesen Tagen, in denen die Grüne Woche in den. Es muss einenFinanzrahmen für die nächsten Berlin stattfindet und in der die Bauern wirklich wissen zehn Jahre geben; sonst werden wir Deutschen unsere wollen, wie es auf den Höfen weitergeht, müssen wir Know-how- und unsere Technologieführerschaft imhier diese Debatte führen, auch wenn der zeitliche Rah- Schiffbau an die Asiaten abgeben. Das kann nicht immen eng ist. Sinne der deutschen Industrie und unseres Heimatlandes sein. (Beifall bei der FDP) Heute Morgen habe ich in der Zeitung gelesen – darü- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ber habe ich mich richtig gefreut –, dass der Export von Agrarprodukten ein Plus von 4 Prozent zu verzeichnen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hat. Das ist endlich einmal eine gute Nachricht für die Ich schließe die Aussprache. Agrarwirtschaft und für die Lebensmittelwirtschaft in Deutschland. Im Export sind wir bärenstark, weil wir un- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- ternehmerische Landwirte haben, die zupacken und die empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit sich am Markt behaupten. Eine solche Botschaft ist für auf Drucksache 15/1930. uns alle wirklich einmal ein erfreuliches Zeichen; denn Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinersie zeigt, dass sich die Dinge in bestimmten Bereichen Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages derpositiv entwickeln. Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen (Beifall bei der FDP) auf Drucksache 15/1575 mit dem Titel „Sicherung von Standort und Know-how des deutschen Seeschiffbaus“. Außerdem zeigt sie, dass die Kritik an den Landwirten Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werzum Teil überzogen und dass die geäußerte Sorge stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Ich stelle fest,manchmal etwas übertrieben ist. Das entspricht nicht im- dass die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenom- mer der Realität. men ist. Wie geht es nun weiter? Die FDP, vor allen Dingen Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seinerUlrich Heinrich, hat schon vor Jahren ein Konzept ent- Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der wickelt, wie man von der Subvention von Produkten zu Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1101 miteiner flächengebundenen Finanzhilfe übergeht. Die so genannte Kulturlandschaftsprämie ist, wie der Name (B) dem Titel „Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwetter- (D) lage in sicheres Fahrwasser leiten“. Wer stimmt für diese sagt, eine Anerkennung des Landwirtes und eine Aner- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer kennung der Kulturlandschaft insgesamt. Ich denke da- enthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit bei an eine Situation wie die in Ostfriesland, wo die Mehrheit angenommen. Schwarzbunten grasen und wo es Wallhecken gibt. Ich denke dabei auch an die Situation im Bayerischen Wald, Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: wo Natur, Landwirtschaft und Umweltschutz miteinan- der in Einklang stehen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Es geht um die Frage, wie wir diese Sache WTO- Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) kompatibel machen. Es geht darum, wie wir es zustande zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael bringen, dass den Landwirten Geld dafür gegeben wird, Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Gudrun dass sie Flächen in guter fachlicher Praxis bewirtschaf- Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ten, und zwar unter Einhaltung hoher Standards. Diese der FDP Standards können bei uns leicht erfüllt werden, weil un- sere Cross-Compliance-Kriterien im Grunde genommen Agrarpolitische Herausforderungen der WTO schon von jedem Bauern erfüllt werden. Wir haben ein und EU-Osterweiterung mit der Kulturland- Modell der Umschichtung entwickelt. schaftsprämie meistern (Ulrich Heinrich [FDP]: Kein – Drucksachen 15/1232, 15/1841 – zusätzliches Geld!) Berichterstattung: – Dass kein zusätzliches Geld fließen soll, habe ich ja Abgeordnete Ulrike Höfken gesagt. Hans-Michael Goldmann (Zuruf des Abg. Albert Deß [CDU/CSU]) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die – Albert Deß, hast du gemeint, es handele sich um zu- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die sätzliches Geld? – Nein! FDP fünf Minuten erhalten soll. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen. (Matthias Weisheit [SPD]: Das hat der Kollege Heinrich nicht begriffen!) Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion das Das ist das Geld, das die Europäische Union jetzt da- Wort. für ausgibt, dass Produkte in den Markt gehen, manch- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7597

Hans-Michael Goldmann (A) mal auch Produkte, die eigentlich niemand so richtig ha- vor Herausforderungen stehen. Lassen Sie uns gemein- (C) ben will. Das ist Geld, das dafür sorgt, dass das, was der sam marschieren! Lassen Sie uns gemeinsam für eine Landwirt tut, mit der Natur, mit dem Umweltschutz, mit einheitliche Flächenprämie streiten und arbeiten! Lassen dem Tierschutz und mit dem Kulturraum in Einklang ist. Sie uns für Perspektiven streiten! Dazu gehört zum Bei- spiel der Bereich der grünen Gentechnik. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Das ist der alles entscheidende Punkt, der dazu beitragen kann, dass dieses Konzept dann auch dauerhaft gesell- Lassen Sie uns besondere Belastungen vermeiden, etwa schaftliche Akzeptanz findet. Deswegen ist es der rich- die infolge der „idiotischen“ Vorstellungen aus dem tige Weg. Hause Trittin, dass Ackerflächen 10 Kilometer rechts Lieber Kollege Weisheit, ich habe darauf bestanden, und links von Flüssen aus dem Markt genommen werden dass ich hier noch reden darf, weil wir unheimlich stolz müssen. Das ist in meinen Augen Enteignung. Das wol- sind und weil wir froh darüber sind, dass dieses Modell len wir nicht. Wir wollen starke Bauern in einem starken die Grundlage für das ist, was jetzt europaweit und be- europäischen Markt. Mit der Prämie haben wir eine gute sonders in der Bundesrepublik Deutschland auf den Weg Antwort auf die WTO-Herausforderungen. Das Ganze gebracht wird. ist dann auch noch Green-Box-fähig. Damit kommen wir klar. (Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Matthias Weisheit [SPD]) Herzlichen Dank. – Herr Kollege Weisheit, ich weiß, dass Sie da mit uns (Beifall bei der FDP) übereinstimmen. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass dieses Modell Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: umgesetzt wird und dass wir dabei die Brüche, die mit Der Parlamentarische Staatssekretär Gerald Thalheim ihm verbunden sind – die gibt es; das ist überhaupt keine gibt seine Rede zu Protokoll.1) Dann erteile ich der Kol- Frage –, für die abfedern, die im Markt bleiben wollen. legin Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion das Wort. Es gibt einen speziellen Bereich, in dem das ein Riesen- problem ist, nämlich den Bereich der Milchwirtschaft; Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): zu nennen ist aber auch der Bereich der Bullenhaltung. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Wir müssen am Ende – darauf können wir uns, denke Kollegen! Diese Debatte ist zum jetzigen Zeitpunkt, wie ich, einigen – zu einer Flächenprämie kommen, undich finde, nicht notwendig. Für viel wichtiger halte ich (B) zwar zu einer einheitlichen Flächenprämie. Das müssen es, dass wir als Fachausschuss rechtzeitig zur Eröffnung (D) wir uns als Zielmarke vornehmen. Wir können sicherlich der Grünen Woche im ICC sind. Übergänge dahin schaffen. Wir können uns sicherlich darüber unterhalten, ob wir noch eine Zeit lang in be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf stimmten Bereichen beim Betriebsmodell bleiben, aber von der CDU/CSU: Es ist gerade Viertel vor wir müssen ehrlich sein und den Bauern ehrlich sagen: fünf!) Am Ende des Prozesses steht eine einheitliche Flächen- prämie. – Dieses Modell ist deshalb so besonders attrak- Die FDP läuft mit ihrem Antrag vom 25. Juni letzten tiv für den Bauern, weil es nur ganz wenig Bürokratie er- Jahres wieder einmal der Zeit hinterher. fordert (Lachen bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP], zur Es ist absolut schade – das möchte ich ganz deutlich sa- SPD gewandt: Da sollten Sie auch einmal klat- gen –, dass Sie sich nicht davon haben abbringen lassen, schen!) diesen Antrag zum jetzigen Zeitpunkt noch zu diskutie- und weil von dem Geld, das bereitgestellt wird, wirklich ren. Wir haben in den Diskussionen so viele Gemein- viel bei den Bauern ankommt. samkeiten festgestellt – das haben Sie selbst gesagt, Herr Goldmann –, dass es derFDP absolut gut angestanden Liebe Freunde, ich freue mich darüber, dass wir inhätte, die Bundesregierung in ihren Bemühungen end- dieser Frage in vielen Bereichen Gemeinsamkeiten ha- lich einmal zu unterstützen. ben. (Beifall bei der SPD – Hans-Michael (Albert Deß [CDU/CSU]: So groß sind sie Goldmann [FDP]: Nein, nein! Sie ist unseren auch wieder nicht!) Bemühungen gefolgt!) Wir sollten uns nicht vom Weg abbringen lassen. Einige Ihrer Forderungen haben sich zum Teil schon Ich war gestern Abend, lieber Albert Deß, auf einer durch den erfolgreichen Abschluss der Halbzeitbewer- Veranstaltung in einem sehr kleinen Ort. 250 bis 300tung der EU-Agrarpolitik erledigt. Bauern haben sich für dieses Thema interessiert. Wir (Albert Deß [CDU/CSU]: Besonders erfolg- müssen in dem Sinne Antwort geben, wie wir das eben reich war der nicht, Frau Kollegin!) getan haben. Wenn wir diese positive Antwort geben, dann können wir auch eher mit den Dingen umgehen, die im Moment Schwierigkeiten bereiten, bei denen wir 1) Anlage 2 7598 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) Was wurde im Sommer des vergangenen Jahres er- Nach einem Übergang, dem so genannten Gleitflug, er- (C) reicht? halten dann beispielsweise ab 2012 – ich stelle jetzt ein- mal eine Zahl in den Raum – alle Betriebe der Region Wichtigster und entscheidender Punkt ist dieEnt- eine einheitliche Prämie. Somit besteht auch genügend kopplung der Direktzahlungen von der Produktion. Zeit für die Umstellung des Betriebskonzeptes. Sie wird dazu führen, dass sich die Landwirte bei wei- tem stärker am Markt orientieren können. Das war auch Durch die Stärkung des ländlichen Raumes und auch eine ganz explizite Forderung des Berufsstandes selber. durch die Mittelumschichtungen im Rahmen der Modu- Nun werden die Bauern nämlich auch sehr viel freier un- lation werden auch Agrarumweltmaßnahmen geför- ternehmerisch tätig sein können. dert. Durch die Bindung der Direktzahlungen an die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutz- und Qualitätsvor- Ein praktisches Beispiel: Gerade im Osten der Repu- schriften helfen wir der Landwirtschaft, noch umwelt- blik wird, vor allen Dingen auf den leichten Böden, noch gerechter zu produzieren, ganz nach dem Motto: nicht sehr viel Roggen angebaut. Mit der Menge an Roggen, nur sauber, sondern rein. Ich bin der festen Überzeu- die in den zukünftigen EU-Mitgliedstaaten angebaut gung, dass dies der richtige Weg ist, um auch die Ak- wird, würde die Produktionsmenge in der EU weiter in zeptanz der deutschen Landwirtschaft bei der Bevölke- die Höhe getrieben. Insgesamt wäre dann logischerweise rung weiter zu erhöhen. das Angebot weit höher als die Nachfrage. Durch die Einführung einer einheitlichen Hektarprämie wird der Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Deutschland Anreiz, eine spezielle Kultur anzubauen, verringert. sind gut aufgestellt. Mit dem zentralen Mittel der Ent- kopplung der Prämienzahlungen von der Produktion mi- Die Landwirte müssen sich also neue Strategien über- nimieren wir auch die Risiken der EU-Osterweiterung. legen und müssen sehen, wie sie neben ihrer Grundsi- Für die WTO-Runde, bei der die Agrarpolitik wieder cherung eine rentable Einkommensalternative bei ein- eine zentrale Rolle spielen wird, bieten wir mit unserer heitlich geltenden Flächenprämien aufbauen können. Vorarbeit eine solide Verhandlungsgrundlage. Die gibt es auch. Beispielsweise hat Deutschland seine Quoten bei der Produktion von Faserhanf noch lange nicht ausgeschöpft. Seit Jahren versuche ich bei meinen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Besuchen vor Ort, Werbung für Hanf zu machen. Doch Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des vergeblich, solange die Prämien für Roggen weitaus hö- Abgeordneten Goldmann? her sind. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Kommen Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Sie einmal zu uns ins Emsland!) Nein, es tut mir Leid, ich gestatte sie nicht. Wir als (B) Fachausschuss wollen zur Grünen Woche. Deshalb ist(D) Wenn man mit den Bauern spricht, sagen die einem das das jetzt nicht möglich. auch unter vier Augen. Die weiterverarbeitende Indus- trie braucht aber hierzulande mehr Hanfproduzenten, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr dürft nicht in China. Von daher bin ich sicher, dass wir mit der hier aber auch nichts Falsches behaupten!) Entkopplung der Direktzahlungen von der Produktion Ich kann die FDP von dieser Stelle aus nur noch ein- den richtigen Weg gehen. mal auffordern, den Antrag zurückzuziehen und die Po- Anders als die FDP sind wir der Auffassung, dass ein litik der Regierung zu unterstützen. abrupter Systemwechsel eine Überforderung der Land- Schönen Dank. wirtschaft darstellt, gerade im Milch- und im Bullen- mastbereich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich habe ausdrücklich gesagt, dass wir das nicht wol- len!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun Kollegin Marlene Mortler, CDU/ – Ich beziehe mich ausdrücklich, Herr Goldmann, auf CSU-Fraktion. Ihren Antrag vom 25. Juni 2003. Sie hätten ihn vielleicht noch einmal überarbeiten sollen. In ihm steht dazu nichts Marlene Mortler (CDU/CSU): drin. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Selbstver- Damen und Herren! Wenn Frau Wolff nicht soeben ge- ständlich steht das da drin! Ich finde es nicht sprochen hätte, hätte ich gar keine Brücke zu den Aus- richtig, was Sie da machen!) führungen von Herrn Goldmann bauen können. Jetzt kann ich es. Ich denke, seine Ausführungen waren Daher ist nach der Auffassung von Rot-Grün der Weg schlichtweg ein Märchen. über das Kombinationsmodell der richtige; das heißt, die Gesamtprämie besteht zum einen aus einer regiona- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist len Flächenprämie und zum anderen aus einer be- es!) triebsindividuellen Prämie. Dabei sind die internationalen Herausforderungen für (Albert Deß [CDU/CSU]: Das Betriebsmodell unsere deutsche Landwirtschaft, für unsere Wirtschaft wäre besser gewesen!) und für unsere Gesellschaft insgesamt gewaltig. Die Ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7599

Marlene Mortler (A) handlungen in der Welthandelsrunde, aber auch die end- bunden, sondern in jedem Fall, in jedem Modell,(C) gültigen Beschlüsse, die die bisherigen und die zukünfti- handelbar. gen EU-Staaten im Dezember 2002 gefasst haben, haben Meine Damen und Herren, der FDP-Antrag läuft nach die EU-Osterweiterung auf den Weg gebracht. den EU-Rechtstexten auf einRegionalmodell als Um- Dabei wurde auch die Übertragung der EU-Agrarpoli- setzungsvariante der Entkopplung hinaus. Das Modell tik bis zum Jahr 2013 festgelegt. Ich persönlich bedaure, soll mit einem einheitlichen Zahlungsanspruch für alle dass die laufende Doha-Runde, dass die Ministerkonfe- landwirtschaftlichen Flächen verbunden sein, was im renz im September 2003 in Cancun ohne Ergebnis abge- Schnitt 320 Euro pro Hektar Grün- oder Ackerland be- brochen worden ist, und dies, obwohl die EU bereits im deuten würde. Ich frage mich schon: Wollen Sie von der März 1999 erste Reformbeschlüsse zur EU-Agrarpolitik FDP so den aktiven Unternehmer stärken, den Sie bisher gefasst hat und obwohl im Juni 2003 weitere schmerz- immer im Auge hatten? Hat der aktive landwirtschaftli- hafte Einschnitte für unsere deutschen Landwirte be-che Unternehmer hier wirklich einen Nutzen? Die Aus- schlossen worden sind. DieVerhandlungsposition der wirkungen wären aus meiner Sicht fatal. EU war wegen dieser erheblichen Vorleistungen gut; Eu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ropa hatte – im Gegensatz zu seinen WTO-Partnern – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]) seine Hausaufgaben gemacht. Denn einheitliche Zahlungsansprüche je Hektar würden Auch für eine neue WTO-Runde müssen wir faire Re- vor allem leistungsfähige Rinder haltende Betriebe ein- geln als Ziel haben. Faire Regeln heißt für mich als Eu- schließlich der Milchbetriebe zum Verlierer machen, so ropäerin, immer wieder mehr Tierschutz, mehr Umwelt- Professor Werner Kleinhanß von der FAL. schutz und Naturschutz einzufordern. Es ist für mich selbstverständlich, dass wir neueste wissenschaftliche (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie müssen Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Praxis auf unse- aber zugeben, dass er der Einzige in der Anhö- ren Bauernhöfen aus Verantwortung für Tier und Natur rung war, der diesen Standpunkt hatte!) umsetzen. Leider lehnen viele WTO-Mitglieder dieses Gerade sie haben stark in die Zukunft investiert, gerade Thema als Verhandlungspunkt kategorisch ab. Deshalb sie brauchen Planungssicherheit. Es träfe aber auch Fa- habe ich die klare Position nach Cancun, auch vonseiten milienbetriebe mit Mutterkuhhaltung, zum Beispiel im der Bundesregierung, begrüßt. Sie lautet: Die Minister- Bayerischen Wald. Jeder Betrieb würde 10 000 bis konferenz ist nicht am Thema Landwirtschaft gescheitert 20 000 Euro verlieren. und sie ist auch nicht an Europa gescheitert. Deutschland darf bei der nationalen Umsetzung der Entkopplung nicht die EU-Staaten aus dem Blick verlie- (B) Ich gebe zur Kenntnis, dass 73 Prozent der landwirt- (D) schaftlichen Exporte aus den ärmsten Entwicklungslän- ren; denn die deutliche Mehrheit will das Individualmo- dern in die EU kommen und nur ein Anteil von 10 Pro- dell umsetzen. Unser gemeinsamer EU-Binnenmarkt zent von den USA aufgenommen wird. Ebenfalls gebe schreit geradezu nach einer intelligenten Vorgehens- ich zur Kenntnis, dass es uns zum Nachdenken bringen weise im Wettbewerb mit unseren wichtigsten Mitkon- muss, wenn 70 Prozent der hungernden Menschen auf kurrenten. Kein anderer Staat erwägt zur Stunde eine der Welt Bauern sind, also Menschen, die Nahrungsmit- Umsetzung der Entkopplung im Sinne eines einheitli- tel produzieren. chen Zahlungsanspruches je Hektar, wie Sie das tun. Das wäre ein nationaler Alleingang. Meine Damen und Herren, die Position in den laufen- den WTO-Verhandlungen wurde von der EU mit dem (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt bekannten Systemwechsel in der Politik begründet. Das überhaupt nicht!) Kernelement, nämlich die Entkopplung, ist angespro- Ich sage Ihnen noch eines: Unsere Bäuerinnen und Bau- chen worden. In der reinen Theorie heißt das: Es gibtern in Deutschland haben die Nase voll von nationalen weiterhin Direktzahlungen für unsere Bauern; aber die Alleingängen. Bauern müssen Landwirtschaft nicht mehr im klassi- schen Sinne betreiben. Das ist nicht zu revidieren. Aller- (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Deß dings gibt es noch umfangreiche und wichtige nationale [CDU/CSU]: Genau!) Gestaltungsspielräume; meine Vorredner haben sie ange- Bundeseinheitliche Zahlungsansprüche würden be- sprochen. deuten: Der leistungsstarke deutsche Milchviehbetrieb verliert und der leistungsstarke französische Milchvieh- Eines steht aus meiner Sicht aber fest: Egal welches betrieb profitiert. Ich warne davor; denn die Folge würde Umsetzungsmodell bei der Entkopplung gewählt wird, sein, dass der Ruf nach EU-einheitlichen Zahlungsan- der häufig verwendete Begriff einer Flächenprämie ist sprüchen je Hektar lauter werden wird – nach den vorliegenden EU-Verordnungen nicht korrekt; er ist irreführend. Dies gilt auch für das FDP-Modell; denn die Kulturlandschaftsprämie wird so begründet. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Egal welches Modell nach einer totalen Entkopplung Frau Kollegin, auch Sie denken bitte an die Redezeit. umgesetzt wird, es bleibt festzuhalten: Es gibt immer nur eine Betriebsprämie und so genannteZahlungsan- Marlene Mortler (CDU/CSU): sprüche auf die Flächeneinheit Hektar. Diese Zahlungs- – ja –, dass Länder wie Polen, die neu in die EU kom- ansprüche sind aber nicht mit bestimmten Flächen ver- men, natürlich Vergleiche anstellen und befürchten, 7600 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Marlene Mortler (A) schlechter abzuschneiden, und dass es eine gewaltige [SPD]: Rechnen Sie Ihren Blödsinn einmal (C) Umverteilung zwischen den EU-Staaten geben würde, durch!) die einen enormen Schaden für unsere deutsche Land- wirtschaft bedeuten würde. Eine weitere Folge würde Ich komme nun zum Inhalt unserer heutigen Diskus- sein, dass die Nettozahlerposition Deutschlands ver-sion. Frau Mortler, ich fand Ihren Beitrag teilweise wi- schlechtert werden würde. dersprüchlich. Zunächst einmal ist es nicht richtig, zu sa- gen, dass Deutschland einen Alleingang in Richtung Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss einer so genannten flächenbezogenen Regionalprämie und zu dem Ergebnis: Sie von der FDP wären gut bera- – der Name ist, das stimmt, irreführend – unternimmt. ten, Ihren Antrag einzustampfen. Es gibt letztendlich einen parteiübergreifenden Kon- Ich bedanke mich sehr herzlich. sens – auch wenn es sich um ein Konzept handelt, das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von der grünen Ministerin mit Nachdruck vorgebracht neten der SPD – Hans-Michael Goldmann wurde –, dass das Betriebsmodell nicht das Modell der [FDP]: Euer Geschenk an den Bauernver- Zukunft sein kann. Die Landtagsabgeordneten der CDU band!) aus Rheinland-Pfalz sind ebenfalls der Meinung, dass ein zukunftsorientierter Landwirt nicht für die Betriebs- prämie sein kann. Das ist auch die Haltung der CDU/ Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: CSU und ihres Vorsitzenden im Agrarausschuss. Wir ha- Ich erteile der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/ ben also viele Gemeinsamkeiten. Die Grünen, das Wort. Eine ähnliche Position nehmen viele Nordländer und Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch die Beitrittsländer ein. Es besteht also die Hoffnung Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir – das werden wir wohl oder übel tun müssen, um im sind unter uns und brauchen uns also nichts vorzuma- Sinne der Landwirtschaft voranzukommen –, dass wir chen: Wir diskutieren heute hier nur, weil die FDP wie- gemeinsam mit allen Akteuren und über alle Parteigren- der einmal ein Forum für ihre Selbstdarstellung sucht. zen hinweg ein vernünftiges Modell erarbeiten. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Komm doch Zum Auftakt der Grünen Woche habe ich den endlich zur Sache!) Wunsch, dass wir zu einerguten Lösung kommen. Das heißt, dass wir die Unterstützung für die gesellschaftli- Wir wissen alle: Klappern gehört zum Handwerk. Das ist chen Leistungen der Landwirtschaft von der Kulturland- in Ordnung. Aber in dieser Woche haben wir Ihnen, Herr schaftspflege über die Herstellung von Produkten mit Goldmann, echt übel genommen, dass Sie uns eine BSE- (B) guter Qualität bis hin zur Schaffung von Lebensmittelsi- (D) Diskussion aufgedrückt haben. cherheit verbessern. (Dr. [CDU/CSU]: Die habt Auch die Förderung der Grünlandstandorte gehört ihr selbst inszeniert! – Hans-Michaeldazu. Die Ungleichgewichte, die bisher in der Förderung Goldmann [FDP]: Ich lache mich tot!) bestanden, sind ebenso zu verringern. Sie haben der grünen Ministerin Schlamperei vorgewor- Wir müssen sehen: Wir können doch, was die einheit- fen, obwohl nachweislich feststeht, dass diese Vorwürfe liche Flächenprämie angeht, von der ja auch im FDP- überhaupt nicht zutreffen. Dazu sage ich ganz klar: Auch Antrag die Rede ist, folgende Situation nicht ernsthaft in der Politik gibt es eine gute fachliche Praxis. Dazu ge- akzeptieren: hört Ihr Vorgehen bei weitem nicht. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Warum re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Sie eigentlich so lange, wenn unser Antrag und bei der SPD) überflüssig ist?) Man hat sich zu erkundigen und die Sachverhalte zu klä- Es wäre doch verrückt, im Allgäu an der Grenze zwi- ren. Herr Goldmann, es gibt leider die Tendenz in Ihrer schen Bayern und Baden-Württemberg unterschiedliche Partei, das nicht zu tun. Modelle aufzulegen. Das kann es wirklich nicht sein. In- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber Frau sofern ist es, wie es von den Ländern geplant ist, richtig, Höfken!) ein Stufen- bzw. Übergangsmodell zu entwickeln, mit dem wir zu einer einheitlichen Lösung kommen. Wir konnten das beim Thema Geflügelpest oder bei den Haushaltsberatungen beobachten. Ich fand es affen- Aber es ist natürlich unser – hoffentlich gemein- scharf: Die FDP und einige CDU-Kollegen haben die sames – Ansinnen, Bürokratie abzubauen. Denn das ist Bauern sozusagen gerettet, aber gleichzeitig haben sie die Last, die die Bauern am stärksten drückt, wie sie in ein Steuerkonzept vorgelegt, das den Bundeshaushaltden entsprechenden Versammlungen immer wieder zum mit Mindereinnahmen in Höhe von etwa 30 Milliarden Ausdruck bringen. Euro so unter Druck setzt, dass für keinen Einzelplan ein Wir wollen gleichzeitig eine Stärkung der ländlichen Cent übrig geblieben wäre. Das wissen wir alle. Räume erreichen. Das ist, wenn man die Ziele der Ar- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch beitsmarkt- und der Wirtschaftspolitik vor Augen hat, kompletter Blödsinn, den Sie da reden! – Ge- ein äußerst wichtiges Anliegen in Deutschland, aber genruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] selbstverständlich auch im Hinblick auf die Beitrittslän- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7601

Ulrike Höfken (A) der. Auch da bietet die Agrarreform über die Modulation In der aktuellen Diskussion geht es jetzt darum, wie(C) die Möglichkeit, Maßnahmen für die ländlichen Räume die praktische nationale Umsetzung erfolgt. Ich möchte und deren Entwicklungsfähigkeit zu stärken und Maß- hinzufügen, dass es um etwas mehr geht: Bei dieser na- nahmen in den Bereichen Lebensmittelqualität, Stan-tionalen Diskussion dürfen der europäische und der glo- dards der Lebensmittelsicherheit, Tier- und Umwelt-bale Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden. schutz sowie lokale Partnerschaften zur FörderungAuch die Orientierung am Verhalten unserer europäi- integrierter Entwicklungsstrategien als Fördergrundsätze schen Nachbarn – das klang gerade bei Frau Mortler an – neu aufzunehmen. Im Übrigen zeigt sich gerade in Kri- ist bei der nationalen Ausgestaltung notwendig. Denn sensituationen, wie wichtig die Aktivität in diesen Berei- die Zielsetzung – das möchte ich aus meiner Sicht chen ist; ich brauche BSE nicht noch einmal zu erwäh- sagen – ist klar: Das ist eine Flächenprämie,eine ein- nen. heitliche Flächenprämie. Aber der Umsetzungsweg ist von großer Bedeutung; denn die Wahl des Weges ent- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) scheidet darüber, wer den Weg mitgehen kann und wie Zu dem Modell gehört auch die Bindung der Direkt- viele auf der Strecke bleiben. Die Wahl des Weges, der zahlungen an die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutz- jetzt gefunden wird, bestimmt die Agrarstruktur von und Qualitätsstandards. Auch hier diskutieren wir noch morgen. Dabei möchte ich darauf hinweisen, dass ein über die Ausgestaltung. Letztendlich verbinden wir mit wirklich abgestimmtes und einheitliches Vorgehen – so- dem neuen System die Erwartung, dass die Unterstüt- fern das möglich ist – auch der Bundesländer wün- zung der Landwirtschaft gesellschaftlich abgesichert ist, schenswert ist. dass die Verbraucher für die Leistungen, die sie erwarten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dürfen, eine solche Unterstützung gewähren wollen und dass wir hiermit einen für die Landwirtschaft guten,Denn die Umsetzung bestimmt die Leistungsfähigkeit aber, wie wir wissen, auch schweren Weg in die Zukunft und Konkurrenzfähigkeit der Landwirtschaft. Sie be- gehen. Dafür brauchen wir die Verbraucher. Wir müssen stimmt das Aussehen und e di Gestalt der Kulturland- zur Grünen Woche auch deshalb gehen, um die Verbin- schaften, die ja bei der FDP im Vordergrund stehen. dung zwischen Landwirtschaft und Verbrauchern herzu- stellen und die Wertigkeit der Produktion in diesem Be- Ich möchte auch zur WTO etwas sagen. Die WTO- reich wieder in das Bewusstsein zu rücken. Verhandlungen in Cancun sind zwar gescheitert, aber trotz der Verzögerungen, die eingetreten sind, hat nie- Danke. mand das Interesse an der Doha-Runde verloren. Es soll weitergehen. Es geht auch darum, dass künftig das euro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN päische Landwirtschaftsmodell mit seinen hohen Stan- und bei der SPD) (B) dards im Tierschutz, im Natur- und Umweltschutz in den (D) weiteren WTO-Verhandlungen verteidigt wird. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Schulte- (Beifall bei der CDU/CSU) Drüggelte. Gerade die Staaten der Dritten Welt haben erkannt, dass (Beifall bei der CDU/CSU) der Fehlschlag für sie kein Sieg war, sondern dass alle verlieren, wenn das multilaterale Handelssystem beschä- digt wird. Die Europäische Union hat im Vorfeld von Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): Cancun viele Vorleistungen erbracht. Auch die anderen Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- WTO-Mitglieder müssen Farbe bekennen, auch sie müs- legen! Viele Schlagworte sind gefallen. Ich will ein paar sen zu Zugeständnissen bereit sein, wenn die Entwick- nennen: Betriebsmodell, Regionalmodell, Kombimodell, lungsrunde zu einem Erfolg werden soll. Flächenprämie. Im Antrag der FDP heißt es nun Kultur- landschaftsprämie. Dies sind die aktuellen Schlagworte In der „FAZ“ konnte man vor einigen Wochen lesen, der agrarpolitischen Diskussion. dass der Schweizer WTO-Botschafter die Handelsver- handlungen mit der Fruchtsaftgewinnung verglichen hat: Ich möchte kurz auf die Vorgeschichte eingehen. Die Auch in Handelsrunden dürfe man den Druck erst erhö- Luxemburger Beschlüsse vom Juni 2003 haben die Rah- hen und die Früchte erst pressen, wenn sie wirklich reif menbedingungen der Landwirtschaft verändert. Diesind. Grundsatzentscheidung zur Entkoppelung der Direkt- zahlungen ist gefallen. Ich möchte noch einmal in Erin- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) nerung rufen: 1992 wurden die Direktzahlungen einge- führt, um die Preise in der LandwirtschaftDeshalb auf ist es umso wichtiger, für das europäische Land- Weltmarktniveau zu senken. Im November haben diewirtschaftsmodell zu werben, bis die Zeit reif ist, um es Agrarminister von Bund und Ländern mehrheitlich ent- in den Verhandlungen abzusichern. schieden, das bisherige System zu einer einheitlichen (Beifall bei der CDU/CSU) Flächenprämie vornehmlich zur – das will ich deutlich sagen – Entlohnung für die Gemeinwohlleistungen der Im letzten Frühjahr wurde diesemeuropäischen Landwirtschaft weiterzuentwickeln. Ab 2005 soll die Landwirtschaftsmodell in dem Harbinson-Papier zu Entkoppelung angewandt werden. – Das ist die Situa- wenig Beachtung geschenkt. Ich möchte noch einmal er- tion. wähnen, dass Deutschland ein zusätzliches Problem hat: 7602 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Bernhard Schulte-Drüggelte (A) die unzureichende Vertretung der deutschen Interessen men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist(C) durch die Ministerin. mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen (Beifall bei der CDU/CSU) worden. Das war in den Verhandlungen vor der Konferenz in Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Cancun auch erkennbar, als die Landwirtschaft als eine Art Wechselgeld für andere Ressorts genutzt werden Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- sollte. gierung eingebrachten Entwurfs einesErsten Gesetzes zur Änderung des MAD-Gesetzes (Zuruf von der SPD: Schauen Sie doch einmal (1. MADGÄndG) Ihre eigenen Anträge an!) – Drucksache 15/1959 – – Ich schaue auch einmal zu Ihnen! (Erste Beratung 75. Sitzung) In der jetzigen Situation der Landwirtschaft – global wie europäisch – wird durch Rot-Grün – fast hätte ich Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi- gesagt: Grün – in keiner Weise Rücksicht auf die gungsausschusses (11. Ausschuss) schwierige Lage der Landwirtschaft genommen. Denken – Drucksache 15/2274 – Sie doch an das merkwürdige Schlagwort vom „Steuer- vergünstigungsabbaugesetz“, das Sie eingebracht haben: Berichterstattung: Modulation im nationalen Alleingang. Auch im Haus- Abgeordnete Thomas Kossendey haltsbegleitgesetz wurde keine Rücksicht auf die Rainer Arnold schwierige Lage der Landwirtschaft in Deutschland ge- nommen. Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch (Beifall bei der CDU/CSU) gibt es nicht. Dann ist es so beschlossen. Die wichtige, künftig zu lösende Frage ist doch: Wie Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst sollen die Leistungen der Landwirtschaft für die Allge- der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow. meinheit in einem internationalen Handelsvertrag Be- rücksichtigung finden? Es geht in der derzeitigen Dis- Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- kussion nicht einfach nur darum, wie die FDP schreibt, nister der Verteidigung: die Herausforderungen der WTO und der EU-Osterwei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! terung mit der Kulturlandschaftsprämie zu meistern. Unsere langjährigen Erfahrungen aus den Auslandsein- (B) (D) Ich meine, das ist zu wenig: Wir wollen die künftigen sätzen der Bundeswehr haben für den Bereich des Mili- Herausforderungen mit dem europäischen Agrarmodell tärischen Abschirmdienstes gesetzgeberischen Hand- meistern; Freihandel allein ist keine Lösung. Deshalblungsbedarf aufgezeigt. Das MAD-Gesetz vom werden wir den FDP-Antrag nicht unterstützen. 20. Dezember 1990 bedurfte wegen des im vergangenen Jahrzehnt grundlegend gewandelten Aufgabenspektrums Es geht darum, sich zur Fortsetzung der Verhandlun- unserer Bundeswehr dringend einer Anpassung. gen zu bekennen und die Absicherung des europäischen Agrarmodells zu fordern und auch durchzusetzen. Wir Bislang war eine Verwendung des Militärischen Ab- wollen dieses europäische Modell einer umweltfreundli- schirmdienstes zum Schutz eines deutschen Bundes- chen, nachhaltigen und multifunktionalen Land-wehrkontingents im Auslandseinsatz nicht zweifelsfrei wirtschaft. Wir wollen eine leistungsfähige, wettbe- möglich. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eine werbsfähige Landwirtschaft in Deutschland, eineLücke geschlossen und die Rechtslage klargestellt. flächendeckende Landwirtschaft, die neben der Nah- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Risiken für die rungsmittel- und Rohstoffproduktion auch die Gestal- militärische Sicherheit und für die Sicherheit des einzel- tung und Pflege der Kulturlandschaft übernimmt undnen Soldaten im Rahmen eines Auslandseinsatzes der auch in Zukunft übernehmen kann. Bundeswehr erfordern spezifische Regelungen. Das Danke schön. Spektrum der Risiken im Auslandseinsatz reicht von den allgemeinen Gefahren, die von Kampfhandlungen regu- (Beifall bei der CDU/CSU) lärer oder irregulärer Kräfte der Konfliktparteien ausge- hen, über die klassischen Szenarien nachrichtendienstli- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: cher Tätigkeiten, der Spionage und der Sabotage durch Ich schließe damit die Aussprache. sicherheitsgefährdende Kräfte bis hin zur Bedrohung durch terroristische und sonstige kriminelle Kräfte. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Zusätzliche Gefahren können sich aus einem weitge- wirtschaft auf Drucksache 15/1841 zu dem Antrag der hend unbekannten kulturellen und sozialen Umfeld, in- Fraktion der FDP mit dem Titel „Agrarpolitische He-stabilen politischen Verhältnissen und Netzwerken von rausforderungen der WTO und EU-Osterweiterung mit Kriminalität und im Untergrund tätigen, an Instabilität der Kulturlandschaftsprämie meistern“. Der Ausschuss interessierten Kräften ergeben. Gerade auch die Gefahr empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese von Gewaltaktionen terroristischer bzw. ideologisch mo- Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstim- tivierter Täter erfordert gezielte Maßnahmen des Schut- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7603

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) zes und der Absicherung, um die Einsatzbereitschaft der Auslandsverwendung zum Schutze deutscher Bundes-(C) Truppe im Rahmen des Möglichen zu gewährleisten. wehrangehöriger im Einsatzgebiet Rechnung getragen. So stellen wir sicher, dassfür die Truppe und die Bun- Somit wäre es weder akzeptabel noch vermittelbar, deswehrkontingente auch bei Auslandseinsätzen ein dem dass Soldatinnen und Soldaten während der generell we- Inland vergleichbares Schutzniveau erreicht und auf eine sentlich bedrohlicheren Lage in einem Auslandseinsatz gesicherte rechtliche Grundlage gestellt wird. ein geringerer Schutz durch den MAD zukommen würde als während des alltäglichen Dienstes im Inland. Deshalb bitte ich Sie ausdrücklich um Ihre Zustim- mung zu dem für die Angehörigen der Bundeswehr, die Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf reagiert diesich im Auslandseinsatz befinden, wichtigen Gesetzent- Bundesregierung auf diese Bedrohungen. Der Gesetz- wurf. Ich nutze auch die Gelegenheit, um den Mitarbei- entwurf weist dem MAD ausdrücklich die Aufgabe zu, terinnen und Mitarbeitern des Militärischen Abschirm- im Rahmen besonderer Auslandsverwendungen derdienstes für ihre gute Arbeit zu danken. Bundeswehr auch im Ausland tätig zu werden. Dazu wird dem MAD die Aufgabe übertragen, bei Einsätzen Auch Ihnen danke ich für das Zuhören. der Bundeswehr Informationen, sach- und personenbe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zogene Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen zu sam- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der meln und auszuwerten und so zur Einsatzbereitschaft FDP) und zum Schutz des jeweiligen Bundeswehrkontingents im Ausland wesentlich beizutragen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Diese Aufgabe wird räumlich auf die Liegenschaften Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Raidel. begrenzt, in denen sich die Dienststellen und Einrichtun- gen der Truppe befinden. Damit ist zum einen eine klare (CDU/CSU): Abgrenzung der Kompetenzen zwischen MAD und Bun- Hans Raidel desnachrichtendienst garantiert, zum anderen wird so die Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und selbstverständlich erforderliche Zusammenarbeit mitHerren! Auf die Terroranschläge vom 11. September dem BND im Gesetzentwurf auch für besondere Aus- 2001 hat die Bundesregierung mit so genannten Sicher- landsverwendungen ausdrücklich festgeschrieben. heitspaketen reagiert. Darin wurde auch die Ausweitung der Kompetenzen des MAD bei Auslandseinsätzen an- Künftig dürfen in den Einsatzgebieten Informationen geregt. Bisher waren Angehörige des MAD mangels ge- über Personen und Personengruppen, die nicht zum Ge- setzlicher Regelungen bei Auslandseinsätzen der Bun- schäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung deswehr offiziell nicht präsent. Dennoch wurden sie (B) gehören, ausgewertet werden. Dies gilt aber nur dann, unter der Legende „Sicherheitspersonal“ eingesetzt, was (D) wenn sich deren Bestrebungen oder Tätigkeiten gegen bei den betroffenen Soldaten dieForderung nach die eingesetzten Personen, Dienststellen oder Einrich- Rechtssicherheit laut werden ließ – ein berechtigtes An- tungen der Bundeswehr richten. Die Aufgaben und Be- liegen. fugnisse werden in zeitlicher und räumlicher Hinsicht ausdrücklich auf die konkrete Auslandsverwendung der Wichtig ist, dass der MAD die Bundeswehr unter an- Bundeswehr begrenzt. Zugleich verpflichtet sich diederem vor dem Eindringen von Terroristen schützt, da Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, die Bundeswehr durch den Umgang mit Waffen und das Parlamentarische Kontrollgremium vor Beginn über Sprengstoffen ein verlockendes Ziel für Terrorangriffe Art und Umfang des geplanten Einsatzes des Militäri- sein kann. Es gab ja schon einmal einen Gesetzentwurf, schen Abschirmdienstes zu unterrichten. Damit ist auch nämlich den vom 11. Februar 2002. In ihm stand ge- die parlamentarische Kontrolle eines Auslandseinsat- schrieben: Das Aufgabenspektrum soll ausgeweitet wer- zes des MAD umfassend gewährleistet. den. Der MAD wird ermächtigt. Für diesen tauglichen Entwurf hatten wir von der Darüber hinaus wird mit dem Gesetzentwurf einer CDU/CSU durchaus Sympathien, da er unserem Antrag Forderung des Bundesbeauftragten für Datenschutz ent- „Sicherheit 21“ entsprach, in dem wir gefordert hatten, sprochen, da die automatisierte Übermittlung personen- den MAD zu stärken. Dieser Entwurf wurde nie im Par- bezogener Daten aus dem Personalführungs- und Infor- lament beraten, weil die Grünen dagegen waren. Die Be- mationssystem der Bundeswehr an den MAD auf eine fugnisse des MAD gingen ihnen damals unbegreiflicher- gesicherte Rechtsgrundlage gestellt wird. Da der MAD weise zu weit. in erster Linie verfassungsfeindliche und sicherheitsge- fährdende Bestrebungen von Bundeswehrangehörigen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE abzuwehren hat, muss er die Bundeswehrzugehörigkeit GRÜNEN]: Tja!) von Betroffenen durch den Zugriff auf diese Daten über- prüfen können, um seine Zuständigkeit und damit die Im neuen Entwurf vom 10. November 2003 heißt es rechtliche Zulässigkeit seines Tätigwerdens festzustel- jetzt: „ … soll ergänzt werden, um bei Auslandsverwen- len. dungen … ein vergleichbares Schutzniveau … wie im Inland zu erreichen.“ Um diese Einschränkung zu ka- Mit diesem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Ände- schieren, heißt es jetzt weiter: „Der MAD wird aus- rung des MAD-Gesetzes wird also den wesentlich ge- drücklich beauftragt“. Auf Drängen der Grünen soll der wandelten Aufgaben der Bundeswehr auch auf dem sen- Einsatz im Ausland auf Liegenschaften der Truppe be- siblen Gebiet des Einsatzes des MAD bei besondererschränkt sein. Das heißt unter anderem, dass der MAD 7604 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Hans Raidel (A) Arbeitskräfte, die für die Bundeswehr im Ausland arbei- Der Bundesnachrichtendienst hat extra dafür ausgebil-(C) ten, überprüfen darf. Allerdings ist ihm die Möglichkeit dete Leute. Das wollen wir hier aber nicht im Einzelnen verwehrt, Aufklärungsnetze im Einsatzland aufzubauen. ausführen. Diese Lücke soll durch Kooperation mit dem BND ge- (Hans Raidel [CDU/CSU]: Sie tun es aber! Sie schlossen werden. Es ist aber sehr fraglich, ob der BND haben nicht zugehört, das ist das Problem!) diese Lücke schließen kann. Das heißt, Ihre Kritik liegt völlig neben der Sache. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie ihn doch mal!) Auch wir haben zur Kenntnis genommen – ich sehr leidvoll –, dass die Bundeswehr im Ausland in vielen – Ich habe ja gefragt! Bereichen tätig ist. Wir haben auch zur Kenntnis genom- Nach unserer Auffassung sind die Vorbehalte dermen, dass der Militärische Abschirmdienst, der Sicher- Grünen praxisfremd und stellen möglicherweise ein Si- heit für die Soldaten und den Schutz der Soldaten vor In- cherheitsrisiko für die gesamte Bundeswehr im Einsatz filtration, vor Spionage, vor möglichen terroristischen dar. Angriffen und Ähnlichem gewährleisten soll, dies in der Vergangenheit auf halb legaler Basis gemacht hat. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) sind uns ja einig, dass das nicht ganz in Ordnung gewe- Sie sind in der Sache ungerechtfertigt, da Aufklärungsen ist. auch außerhalb von militärischen Liegenschaften erfor- Deshalb hat das Bundesverteidigungsministerium nun derlich ist. Die Grünen gehen offensichtlich von deut- diesen Vorschlag vorgelegt. Sie haben Recht, es gab vor- schen Inlandsverhältnissen aus, die im Ausland so aber her einen anderen Vorschlag. Wir haben gesagt: Aus gu- nie anzutreffen sind. tem Grund ist in der Bundesrepublik Deutschland, ganz Zwar ist es zu begrüßen, dass endlich ein Gesetzent- anders als in vielen anderen Ländern, die Tätigkeit der wurf vorgelegt wird, doch wird die bisherige Gesetzes- Nachrichtendienste, der Geheimdienste, ganz besonders lücke nur teilweise geschlossen. Da die Bundesregierung geregelt. Eine der ganz wichtigen Regelungen, die wir hinter ihrem ersten Entwurf zurückbleibt – Feigheit vor auch nicht ändern wollen und nicht ändern dürfen, ist, dem Freund, könnte man hier sagen – und damit die Ar- dass die auslandsgeheimdienstliche Tätigkeit und die in- beit des MAD nicht wirklich praxisgerecht fördert, leh- landsgeheimdienstliche Tätigkeit streng getrennt sind. nen wir diesen Gesetzentwurf ab. Ein praxisfernes und Das sind ganz unterschiedliche Organisationen mit ganz damit schlechtes Gesetz hilft niemandem. unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans Raidel [CDU/CSU]: Alles bekannt!) (B) (D) Wir haben gesagt: Wir wollen diesen Grundsatz nicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: deshalb, weil nun die Bundeswehr im Ausland tätig ist, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Christian durchbrechen. Vielmehr wollen wir diesen Grundsatz Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. möglichst aufrechterhalten. Deshalb haben wir – Vertre- ter unserer Fraktion, Vertreter des Bundesverteidigungs- ministeriums und andere – uns zusammengesetzt, nach- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE dem der neue Vorschlag vorlag, und haben diesen GRÜNEN): Gesetzentwurf geboren. Ich finde, das ist genau der rich- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- tige Weg, wie man die Arbeit dieser Dienste nach wie gen! Herr Raidel, ich kann überhaupt nicht verstehen, vor ganz sauber trennen kann. wie Sie dieses Gesetz und vor allen Dingen den Bundes- nachrichtendienst so schlecht machen können. Ich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- komme ja in eine ganz verzwickte Rolle, wenn ich hier SES 90/DIE GRÜNEN) nun den Bundesnachrichtendienst in seiner Arbeit ver- Soweit die Bundeswehr im Ausland tätig ist und sich teidigen soll. dort in Unterkünften und in anderen Einrichtungen tum- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- melt, wird auch der MAD tätig. NEN und bei der SPD) (Hans Raidel [CDU/CSU]: Soldaten tummeln Sie sollten sich etwas mehr informieren, bevor Sie so sich nicht!) eine Rede halten. Es gab ja in der Zeitung den Vorwurf bzw. das Gerücht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – oder wie auch immer ich das bezeichnen soll –, dass und bei der SPD) ein Koch, der aus dem einheimischen Bereich gekom- men ist, die Bundeswehr irgendwie unterwandern Dann wüssten Sie nämlich, dass es sehr wohl auch Auf- wollte. Um dem vorzubeugen, haben wir gesagt: Der gabe des Bundesnachrichtendienstes ist, sich im Ausland Sachverstand des MAD muss in die dortige Kaserne mit militärischen Verhältnissen, mit militärischen Gefah- bzw. Einrichtung hinein, um das zu verhindern, um zu ren – auch für die Bundeswehr – und mit militärischen kontrollieren, Gespräche zu führen und die Leute zu Aktivitäten zu befassen. überprüfen. So weit sind wir mitgegangen. (Hans Raidel [CDU/CSU]: Habe ich ja gesagt! Wir haben aber nicht eingesehen, warum der MAD in – Rainer Funke [FDP]: Tut er ja auch!) Afghanistan oder anderen Ländern, im Kosovo oder wo Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7605

Hans-Christian Ströbele (A) auch immer, ein eigenes Informationsnetzaufbauen Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE(C) soll. Das ist Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes. Der GRÜNEN): Bundesnachrichtendienst hat immer wieder betont – Herr Ich denke, wir haben hier ein Gesetz geschaffen, Hanning hat das auch in der Öffentlichkeit getan –, dass durch das sowohl den bürgerrechtlichen Vorstellungen er sich durchaus in der Lage sieht, diese Aufgabe wahr- und Kriterien der Grünen als auch den Notwendigkeiten zunehmen. Wenn gefährdende Erkenntnisse vorliegen, der Praxis Rechnung getragen wird. dann kann der Bundesnachrichtendienst sie an den MAD Danke. oder die dortigen Mitarbeiter weitergeben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für uns war es ganz entscheidend, dass die Regelun- und bei der SPD – Hans Raidel [CDU/CSU]: gen bezüglich der Liegenschaften keinesfalls zur Folge Der erste Entwurf wäre richtig gewesen! Den haben dürfen, dass der MAD dort im Land ein Zelt oder zweiten haben Sie verstümmelt! Deswegen eine konspirative Wohnung einrichtet, von der aus er mit reicht es eben nicht!) nachrichtendienstlichen Mitteln selbst Informationen aus dem Land einholt. Seine Tätigkeit – soweit sie mit nach- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: richtendienstlichen Mitteln betrieben wird – muss sich Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke. auf die Einrichtungen oder Liegenschaften – diesen Be- griff haben wir gewählt – reduzieren. Der MAD kann Rainer Funke (FDP): darüber hinaus natürlich Informationen von anderen öf- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um das fentlichen Stellen – aus dem Land, von Partnerdiensten Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Die FDP wird dem oder wem auch immer – einholen, um seine Aufgaben MAD-Änderungsgesetz zustimmen. wahrzunehmen. Hierbei handelt es sich um eine saubere Trennung, die sich, so hoffe ich, bewähren wird. Wenn (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günther daran festgehalten wird, dann wird auch weiterhin Friedrich Nolting [FDP]: So sind wir! – Carl- auseinander gehalten werden können, dass wir Inlands- Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – Wilhelm geheimdienste, den MAD, das Bundesamt für Verfas- Schmidt [Salzgitter] [SPD], zu Abg. Carl- sungsschutz, und einen Auslandsgeheimdienst, den Bun- Ludwig Thiele [FDP] gewandt: Selbstver- desnachrichtendienst, haben. ständlichkeiten muss man nicht noch betonen! – Hans Raidel [CDU/CSU]: Die Neben der Tatsache, dass wir grundsätzliche politi- Kleinen müssen mit wenig zufrieden sein! Das sche Bedenken hätten, das zusammenzuführen, gibt es ja ist schon immer so gewesen!) (B) auch ganz pragmatische Überlegungen. Wenn es meh- Seit der Verabschiedung des MAD-Gesetzes (D) im rere Auslandsgeheimdienste gibt, die nebeneinanderJahre 1990 hat sich die weltpolitische Situation grundle- Netze und Konkurrenzen entwickeln, führt das gend zu geändert. Niemand hat sich im Jahre 1990 vorstel- Schwierigkeiten. Ein schlechtes Vorbild sind beispiels- len können, dass die Bundeswehr immer häufiger zu weise die USA. Ich glaube, sie haben 17 solcher Ge-Auslandseinsätzen entsandt werden muss. Deswegen heimdienste. Sie benötigen inzwischen eine eigene Be- war das MAD-Gesetz in der alten Fassung nicht auf hörde, um die Tätigkeiten der GeheimdiensteAuslandseinsätze zugeschnitten. Gerade wegen der be- untereinander zu koordinieren, da es ansonsten unüber- sonderen Bedrohung der militärischen Sicherheit und schaubar wäre. Davor wollen wir bewahrt sein. der Sicherheit der Bundeswehrangehörigen im Ausland muss eine Anpassung an diese spezielle Gefährdungssi- Wir wollen auch nicht, dass die Geheimdienste sich tuation vorgenommen werden. gegenseitig Konkurrenz machen. Deshalb sind die Auf- gabenbereiche sehr sauber getrennt. Ich hoffe, das reicht. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) In Liegenschaften wird der MAD tätig. Darüber hinaus Die Streitkräfte werden durch das MAD-Gesetz im kann er bei öffentlichen Stellen nachfragen. Ein ganzInland besonders geschützt. Dies muss umso mehr bei wichtiger Punkt ist, dass das von uns zur Kontrolle auch den gefährlichen Auslandseinsätzen gelten. Deswegen des MAD geschaffene Parlamentarische Kontrollgre-begrüßen wir es, dass die deutschen Bundeswehrkontin- mium vor dem Einsatz des MAD unterrichtet werdengente bei besonderer Verwendung der Bundeswehr im muss. Ausland durch den MAD abgeschirmt werden. Ich hoffe, dass sich alle Betroffenen an diese Rege- (Beifall bei der FDP) lung halten. Ich bin mir sicher, dass dann all die Gefah- Dabei legen wir besonderen Wert auf eine enge Koope- ren, die sonst mit einer Vermengung der Aufgaben der ration mit dem Bundesnachrichtendienst. Ich bin auch verschiedenen Geheimdienste verbunden wären, nicht sicher, dass die Zusammenarbeit gut klappen wird. entstehen. Die Novellierung des MAD-Gesetzes ist auch not- wendig, um die automatisierte Übermittlung personen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bezogener Daten aus PERFIS auf eine gesicherte Herr Kollege! Rechtsgrundlage zu stellen. Das sind im Übrigen alte Forderungen des Bundesdatenschutzbeauftragten, de- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Es reicht!) nen wir durch diese Novellierung gerecht werden. 7606 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Rainer Funke (A) Ich bin froh, dass wir dieses Gesetz heute verabschie- dazu nur Ihr außenpolitisches Konzept auf strikt friedli- (C) den können, da bereits in der letzten Legislaturperiode che und zivile Optionen umstellen. ein entsprechender Anlauf genommen wurde, der dann aber an einem Koalitionspartner gescheitert ist. Herr Ich erinnere daran, dass die Befugnisse aller deut- Ströbele hat dazu Ausführungen gemacht. Die Streit-schen Geheimdienste bereits im Rahmen der Terrorbe- kräfte haben nämlich Anspruch darauf, dass ihre Sicher- kämpfung erheblich erweitert wurden. Die PDS hat da- heit von innen heraus durch den Militärischen Abschirm- vor gewarnt, zumal Geheimdienste von ihrem Wesen her dienst gewährleistet wird und damit Hilfskonstruktionen, unkontrollierbar sind. Auch aus diesem Grunde lehnen die gelegentlich gewählt worden sind, obsolet werden. wir es ab, dem MAD weitere Vollmachten einzuräumen. Dieses Gesetz kommt im Hinblick auf die Auslandsein- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- sätze der Bundeswehr spät, aber, wie ich hoffe, nicht zu tionslos] – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] spät. [SPD]: Das wissen Sie ja besonders gut!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. – Ganz recht, wir wissen das und sind aus Erfahrung klü- (Beifall bei der FDP) ger geworden. Das scheint bei anderen nicht so zu sein, Herr Kollege. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. onslos]) Schließlich will ich nicht spekulieren, man braucht es Petra Pau (fraktionslos): aber auch nicht. Wer glaubt, der MAD beschränke sich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! am Hindukusch oder wo auch immer auf das Innere von Der Militärische Abschirmdienst soll künftig problemlos Kasernenmauern oder Zeltplanen, der muss schon ober- im Ausland agieren können. Das ist der Sinn des vorlie- naiv sein, Kollege Ströbele. genden Gesetzentwurfes. Damit wird legalisiert, was auch bisher schon Usus war; denn der MAD war auch (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- vordem schon im Ausland tätig – illegal und damit ge- tionslos] – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] setzlos. [SPD]: Das wissen Sie offensichtlich ganz ge- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Quatsch!) nau! Wann waren Sie denn zuletzt am Hindu- kusch?) Insofern ist die Formulierung, das Gesetz habe in erster Linie eine klarstellende Funktion, eine sehr nette Um- Unter dem Strich etablieren Sie einen weiteren Aus- (B) schreibung des Zustandes. landsgeheimdienst mit unbeschränkten Befugnissen und (D) Vernetzungen. Dazu sagt die PDS im Bundestag Nein. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Keine Ah- nung!) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos] – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Sie ist schlicht irreführend. [SPD]: Gott sei Dank! Auf die Zustimmung (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak haben wir auch keinen Wert gelegt!) -tionslos]) Bisher hat der MAD kein Recht, im Ausland tätig zu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: werden. Er tat es dennoch. Die PDS im Bundestag hat Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaas Hübner. das mehrfach scharf kritisiert. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Es gibt Klaas Hübner (SPD): keine PDS im Bundestag!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der von Bundesminister Struck und General Allerdings unterscheiden wir uns auch bezüglich des Schneiderhan initiierte Transformationsprozess der Bun- vorliegenden Gesetzentwurfes von den einreichenden deswehr gibt der Bundeswehr die endgültige Struktur Fraktionen, denn wir wollen keineMilitarisierung der zur Bewältigung ihrer zunehmend neuen Aufgaben, Außenpolitik und somit auch keine Bundeswehr imnämlich der Durchführung friedensschaffender und frie- Ausland, die weltweit agiert. denssichernder Maßnahmen. Die Aufteilung der Bun- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- deswehr in Eingreifkräfte mit speziellen Fähigkeiten für tionslos]) friedensschaffende Operationen, Stabilisierungskräfte für friedensbewahrende Operationen und Unterstüt- Die PDS will eine verkleinerte Bundeswehr, die sich auf zungskräfte zur logistischen Begleitung der beiden erst- die Landesverteidigung beschränkt und daher abgerüs- genannten Kräfte und zur klassischen Landesverteidi- tet werden kann. Eine Landesverteidigung, die bei ihren gung wird die Bundeswehr in die Lage versetzen, ihren Leisten bleibt, braucht natürlich auch keinen militäri-internationalen Verpflichtungen noch besser nachzu- schen Geheimdienst, der durch die Welt schwadroniert. kommen. Wir unterstützen den Bundesminister bei die- Insofern ist unser Nein zu diesem Gesetzentwurf nur lo- sen Bemühungen ausdrücklich. gisch. Unlogisch ist hingegen, wenn Sie behaupten, zu Ihrem Gesetzentwurf gäbe es überhaupt keine Alternati- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried ven. Es gibt selbstverständlich Alternativen. Sie müssten Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7607

Klaas Hübner (A) Schon heute sind unsereim Ausland eingesetzten eine Parallelkompetenz aufbauen, zumal Parallelkompe- (C) Soldatinnen und Soldaten vor Ort hoch angesehen, re- tenzen häufig zu Kompetenzüberschneidungen führen? spektiert und zum Teil – man kann es fast so sagen – be- (Hans Raidel [CDU/CSU]: Warum haben Sie liebt. Sie gehören damit zu den herausragenden Bot- dann Ihren ersten Entwurf zurückgezogen? – schaftern unseres Landes und tragen deutlich zu dem Weil Sie ihn nicht durchsetzen konnten!) guten Ansehen Deutschlands im internationalen Raum bei. Dabei setzt sich die Truppe allerdings erheblichen – Ich komme gleich zu Ihnen, Herr Raidel. – Insofern ist Risiken aus, wie wir in der Vergangenheit immer wieder es sinnvoll, die bestehenden Strukturen zu überprüfen schmerzhaft haben erfahren müssen. Diese Rolle werden und sie so zu nutzen, dass unsere Soldatinnen und Solda- sie in der Zukunft wahrscheinlich noch verstärkt wahr- ten optimal geschützt sind. nehmen. Gerade deswegen ist es unsere zwingende Ver- Nun sind wir, Herr Kollege Ströbele, auf der einen pflichtung, unseren Soldatinnen und Soldaten auch au- Seite von solchen Kompetenzüberschneidungen bei Ge- ßerhalb der deutschen Grenzen den bestmöglichen heimdiensten, wie wir dies aus den Vereinigten Staaten Schutz zu gewähren. Das heute zur Beratung vorlie- kennen, zum Glück weit entfernt. gende MAD-Gesetz ist hierfür ein wichtiger Bestandteil. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Die Bundesregierung hat diesen Gesetzentwurf am GRÜNEN]: Wehret den Anfängen!) 17. September 2003 eingebracht. Die vorgesehene Än- derung ist notwendig, weil nach der jetzt gültigen Fas- Auf der anderen Seite kann man eine kritische Prüfung sung des MAD-Gesetzes eine Verwendung des MADunter dem Motto „Wehret den Anfängen“ durchaus zum Schutz eines deutschen Bundeswehrkontingentes rechtfertigen. im Ausland nicht eindeutig geregelt ist. Durch den Ge- Ich will aber deutlich sagen: Damit dieser Weg gang- setzentwurf wird nun ausdrücklich klargestellt, dass der bar ist, ist es zwingend notwendig, dass die beiden MAD für die Zukunft beauftragt ist, bei Auslandseinsät- Dienste BND und MAD vor Ort reibungslos zusammen- zen der Bundeswehr vor Ort tätig zu werden, um diearbeiten. Wenn dies nicht klappt, dann wäre unser An- Einsatzbereitschaft und insbesondere die Sicherheit der satz nicht zufriedenstellend. Ich gehe fest davon aus, Angehörigen des deutschen Kontingents zu gewährleis- dass die Bundesregierung diese Zusammenarbeit beglei- ten. Dabei – Herr Raidel hat es angesprochen – darf der ten und uns rechtzeitig unterrichten wird. Dieser Prozess MAD im Ausland räumlich nur innerhalb der Liegen- kann nach einem Jahr bewertet werden. Dann wird man schaften der Bundeswehr tätig werden – ich komme sehen, ob sich diese Idee in der Praxis bewährt hat. darauf gleich noch zurück –, in denen sich Einrichtungen Wenn dies der Fall ist, istdies wunderbar. Wenn nicht, der Truppe befinden. Außerhalb der Liegenschaften ist werden wir mit Sicherheit neu zusammenkommen. Ich (B) (D) er auf die Hilfe des BND angewiesen. habe den Kollegen Nachtwei im Ausschuss so verstan- Dafür gibt es gute Gründe; Kollege Ströbele hat eben den, dass wir einer Bewertung mit Interesse entgegense- darauf hingewiesen. Die Aufgabenteilung ergibt sichhen. vordergründig daraus, dass der MAD ein Inlandsnach- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE richtendienst, der BND aber ein Auslandsnachrichten- GRÜNEN]: Das tun wir bei allen Gesetzespro- dienst ist. Die Aufgabe des BND ist die Beschaffung und jekten!) Auswertung von Informationen über das Ausland, sofern diese von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung Der vorliegende Gesetzentwurf stellt daher im Ver- für die Bundesrepublik Deutschland sind. Die Hauptauf- gleich zu der jetzt gültigen Regelung eine deutliche Ver- gabe des MAD besteht dagegen in der Sammlung von besserung dar. Er schafft die längst fällige Rechtssicher- Erkenntnissen über verfassungsfeindliche Bestrebungen heit für die Tätigkeit des MAD im Ausland und trägt innerhalb der Bundeswehr und Bestrebungen gegen die dem zwingenden Erfordernis einer spürbaren Anhebung Bundeswehr von außen sowie der Gewährleistung der des Schutzniveaus unserer Soldatinnen und Soldaten Sicherheit der Bundeswehrliegenschaften. Rechnung. Man sollte sich daher diesem Gesetz nicht verweigern. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes Herr Kollege Raidel, dies ist in meinen Augen ein ak- erwarten mit Recht von uns, dass wir alles tun, was zum zeptabler und guter Ansatz. Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten insbesondere im Ausland beiträgt. Daher bitte ich alle Fraktionen die- (Hans Raidel [CDU/CSU]: Nein, er geht nicht ses Hauses um Zustimmung. weit genug!) Danke schön. – Ich komme gleich noch darauf zurück. Man kann sa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen: Der BND hat sich eine herausragende Kompetenz DIE GRÜNEN) erworben. Er ist aufgrund seiner Professionalität im Ausland sehr geschätzt. Daran, dass die Amerikaner zur Vorbereitung ihrer Intervention im Irak zum Großteil auf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ursprünglich durch den BND erhobene Informationen Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Herrmann. zurückgegriffen haben, erkennt man, wie stark der BND mittlerweile verankert ist und welche herausragende Be- Jürgen Herrmann (CDU/CSU): deutung er hat. Warum soll man also auf diese Kompe- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen tenz nicht zurückgreifen? Warum soll man zwingendund Kollegen! Vielleicht ist der große Unbekannte schon 7608 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Jürgen Herrmann (A) dabei, ein Lager im fernen Afghanistan auszuspionieren, es nicht darum, dem BND irgendwelche Fähigkeiten(C) in dem Soldaten aus Deutschland ihren Dienst verrich- oder Kompetenzen abzusprechen, Herr Ströbele. ten. Vielleicht ist auch schon ein Netz von undurchsich- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE tigen Helfershelfern an der Arbeit, um mit terroristi- GRÜNEN]: Doch!) schen Mitteln großen Schaden anzurichten und die Friedensmission zu gefährden. Das ist kein Horrorszena- Im Gegenteil: Ein umfassendes Sicherheitssystem rio aus dem letzten „Matrix“-Streifen, sondern daskann erst dann optimal funktionieren, wenn alle Stellen könnte heute schon Realität sein und ist bei der jetzigen gut miteinander vernetzt sind und über kurze Kommuni- Sicherheitslage sicherlich nicht auszuschließen. kationswege verfügen. Aber ein umfassender Schutz un- serer Soldaten im Auslandseinsatz ist nur dann erreicht, Deshalb – Hans Raidel hat das eben auch schon er- wenn der MAD die Befugnis hat, Aufklärungsnetze im wähnt – hatte die CDU/CSU-Fraktion schon kurz nach Einsatzland aufzubauen. Hier klafft eine Sicherheitslü- dem Terrorangriff auf das World Trade Center cke, am die Sie hätten einfach schließen können. 11. September 2001 in ihrem Antrag „Sicherheit 21“ ge- fordert, den Militärischen Abschirmdienst zu stärken. Aber selbst Sie, verehrter Herr Minister Struck, haben Das ist auch geschehen, zumindest für die Tätigkeit des kein Hehl daraus gemacht, dass diese Beschränkung, die MAD im Inland, aber leider nicht in dem Umfang, wie wir übrigens den Kolleginnen und Kollegen der grünen wir es gewünscht und wie wir es für sinnvoll gehalten Fraktion zu verdanken haben, „nicht vernünftig“ sei. So haben. Ihre Ausführung in der „Frankfurter Rundschau“ vom 18. September 2003. Schon Ihr Vorgänger Minister Heute gilt daher mehr denn je: Verantwortlich ist man Scharping hatte sich an dieser Frage die Zähne bei den nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was Grünen ausgebissen. man nicht tut. Wir sind dafür verantwortlich – unsere Dass der BND diese Lücke schließen soll, reicht we- Fraktion stellt sich dieser Aufgabe mit großer Überzeu- der Ihnen, sehr geehrter Herr Minister, noch Ihrem Vor- gung –, die Soldatinnen und Soldaten, die im Auftrag gänger. Ich teile daher die Auffassung, dass der Bundes- unseres Landes vor Ort sind,zu schützen. Es ist aber nachrichtendienst für die strategische Erkundung nicht einfach so hinzunehmen, dass die Soldaten im In- zuständig sein muss, der MAD seine Informationssamm- land besser geschützt werden sollen als ihre Kameraden lung abwehrorientiert auszurichten hat. im Ausland. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Es stellt sich daher die Frage: Finden Sie es nicht Deshalb ist es dringend notwendig, die Arbeit des MAD auch unverantwortlich, wenn den Männern und Frauen, (B) zum Schutz der Bundeswehr im Ausland auf eine so- die sich ihrerseits für den bestmöglichen Schutz der zivi- (D) lide rechtliche Grundlage zu stellen, die es ermöglicht, len Bevölkerung einsetzen, selbst der Schutz und die einen umfassenden Schutz zu gewährleisten und diegrößte Sicherheit für ihre Arbeit vorenthalten wird? gleichen Arbeitsbedingungen wie im Inland zu schaffen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch!) Dies gilt unter anderem aus zwei Gründen. Erstens. Zunächst haben die Männer und Frauen, die Dies für gilt umso mehr, als Ihre neue und verstärkt auf Aus- Deutschland im Ernstfall ihr Leben aufs Spiel setzen,landseinsätze abgestimmte Einsatzkonzeption der Bun- den größtmöglichen Schutz verdient. Zweitens. Wir ga- deswehr gerade hier ein hohes Gefährdungspotenzial für rantieren mit diesem Schutz auch ihre Einsatzfähigkeit unsere Soldatinnen und Soldaten mit sich bringt. und Einsatzbereitschaft. Der hier von der Bundesregie- Wie leichtfertig teilweise aufgrund von Koalitions- rung vorgelegte Gesetzentwurf bleibt meines Erachtens streitigkeiten mit dem Schutz unserer Soldaten umge- auf halbem Wege stecken. Es grenzt an unterlassene Hil- gangen wird, ist offensichtlich. feleistung, die Arbeit des MAD lediglich auf die Liegen- schaften der Bundeswehr zu beschränken. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch Unsinn! Bauen Sie doch keinen Popanz (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE auf!) GRÜNEN]: Steht doch gar nicht da!) Ich erinnere insbesondere an die Aussage Ihres verteidi- Erst die Möglichkeit, außerhalb zu recherchieren undgungspolitischen Sprechers, Kollege Arnold, der auch einheimische Quellen zu nutzen, erlaubt es, das Sicher- gerade anwesend ist und der in der Sitzung des Verteidi- heitspuzzle zu vervollständigen und gezielte operative gungsausschusses, in der wir über den Gesetzentwurf Maßnahmen bereits im Vorfeld eines Anschlags zu ge- diskutiert haben, währleisten. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte meine Bedenken in einen Sachverhalt des NEN]: Das ist eine vertrauliche Sitzung! Pas- täglichen Lebens kleiden. Würden Sie sich eine Alarm- sen Sie auf! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] anlage einbauen, die erst dann zum Einsatz kommt, [SPD]: Dafür können Sie rausfliegen!) wenn die Einbrecher bereits in Ihr Haus eingestiegenauch mehr Flexibilität beim Einsatz des MAD im Aus- sind? Ich glaube, nicht. Genau deshalb hält es unsereland für gut befunden hat. Diese sehr lobenswerte Äuße- Fraktion auch für zu kurz gesprungen, wenn der MAD in rung relativierte er aber gleich. Er opferte seine Auffas- seiner Arbeit im Ausland so beschränkt wird. Mir geht sung auf Kosten der Sicherheit der Soldatinnen und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7609

Jürgen Herrmann (A) Soldaten mit der Aussage: Das Leben in einer Koalition nationalen Klimaschutzes und eines Erfolges(C) ist immer ein Kompromiss! des Emissionshandels (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE – Drucksache 15/2163 – GRÜNEN]: Das werden Sie nie lernen!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Wir haben die politische Verantwortung dafür, den Auswärtiger Ausschuss Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MAD, dessen ur- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit eigenste Aufgabe es ist, Bundeswehrangehörige vor Ge- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und fahren und terroristischen Angriffen zu schützen, den Entwicklung besten Handlungsspielraum zu bieten. Sie müssen in die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Lage versetzt werden, ihre Aufgaben zum Schutz der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Soldaten umfassend wahrnehmen zu können, ohne in ei- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider- ner rechtlichen Grauzone arbeiten zu müssen. spruch gibt es nicht. Dann ist das so beschlossen. Dabei – das dürfte jedem klar sein – spielt das Zeit- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst fenster eine nicht unwesentliche Rolle. Das haben die der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill. Terrorangriffe der vergangenen Monate gezeigt. Machen wir uns nichts vor: Reibungsverluste und Verzögerungen Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): zwischen MAD und BND können nicht ausgeschlossen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und werden. Je schneller die Informationen an der richtigen Herren! Der Rio-Prozess und damit auch der Kioto-Pro- Stelle eingehen, desto eher können präventive bzw. res- zess sind das Ergebnis einer Phase der Weltpolitik, in der triktive Maßnahmen veranlasst werden. Umwelt- und Entwicklungspolitik im Mittelpunkt der Meine Fraktion wird dem Gesetzentwurf in dieserAgenda der G-7-Treffen bis hin zu vielen anderen Tref- Form nicht zustimmen, da hier fahrlässig darauf verzich- fen der Staats- und Regierungschefs, aber auch der Par- lamentarier gestanden haben. Das Kioto-Protokoll steht tet wird, dem MAD alle erforderlichen rechtlichen sozusagen am Ende dieses Prozesses und stellt den Ver- Grundlagen zu geben, die dringend erforderlich wären, such dar, die Vereinbarungen von Rio in ein auf einzelne um den optimalen Schutz unserer Soldatinnen und Sol- Ziele gerichtetes Handeln umzusetzen. daten im Ausland zu gewährleisten. Mir ist bei der Vorbereitung dieser Debatte durch den (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Kopf gegangen, dass es eigentlich symptomatisch ist, [Salzgitter] [SPD]: Das war ziemlich dane- dass – wie wir gerade in dieser Woche erleben – die mi- ben!) (B) litärische Komponente der Außenpolitik stark an Be- (D) deutung gewonnen hat. Klaus Töpfer hat vor wenigen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Tagen festgestellt, dass heute eher von militärischer Ich schließe damit die Aussprache. Intervention die Rede ist als von der Intervention bzw. der Konfliktvermeidung oder Konfliktdämpfung durch Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Grünhelme. desregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Geset- zes zur Änderung des MAD-Gesetzes. Der Verteidi- Das ist nicht als Vorwurf gemeint; es kennzeichnet gungsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2274, den vielmehr einen Wandel bezüglich der Bedeutung der Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, dieThemen. Deswegen ist es wichtig, dass hinsichtlich der dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- internationalen Umwelt- und Entwicklungspolitik, die chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- zugleich in erheblichen Maße auch Wirtschaftspolitik entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen ist, eine nüchterne Bilanz der Fakten zur Emissionsmin- der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stim- derung sowohl in Europa als auch bei uns in Deutsch- men der CDU/CSU und zwei weiterer fraktionsloser Ab- land gezogen wird. geordneter angenommen. Wenn man die Statistiken und Untersuchungen zu- grunde legt, in denen es um den europäischen und den Dritte Beratung globalen Maßstab geht, dann stellt man fest, dass wir uns und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem von den Zielen des Kioto-Protokolls eher entfernen, als Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –dass wir sie erreichen. Dies muss uns große Sorgen ma- Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz- chen. entwurf ist damit bei dem eben festgestellten Stimmen- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wohl wahr! verhältnis angenommen. Leider!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Für eine positive Entwicklung der Klimapolitik, so wie Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-sie vereinbart ist, ist die Ratifizierung des Kioto-Proto- Dieter Grill, Dr. Peter Paziorek, Dr. Friedbertkolls durch Russland, über die wir heute reden, von Be- Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion deutung; denn die völkerrechtliche Verbindlichkeit des der CDU/CSU Kioto-Protokolls steht sozusagen vor dem Scheitern. Deswegen haben wir uns in den letzten Wochen nach der Russland für eine Ratifizierung des Kioto-Debatte über unseren Antrag zum nationalen Alloka- Protokolls gewinnen – Im Interesse des inter- tionsplan entschlossen, einen entsprechenden Antrag 7610 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Kurt-Dieter Grill (A) vorzulegen. Ich sage ganz deutlich: Wir würden unsbislang zu wissen, woher es dieses Kapital bekommen(C) freuen, wenn wir diesen gemeinsam verabschiedensoll. könnten. Bei der Betrachtung der strategischen Partnerschaft (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. mit Russland muss noch ein weiterer Punkt berücksich- Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tigt werden. Warum unterzeichnet Russland nicht die NEN]) Europäische Energiecharta? Ich möchte mich hierbei auf den simplen, aber bedeutenden Punkt der Rechtssi- Ich habe in diesem Hause schon darauf hingewiesen, cherheit ausländischer Investionen in Russland konzen- dass es einen politischen Aufschrei gegeben hat, als klar trieren. Dass das nach den Vorgängen der letzten Monate war, dass die USA das Kioto-Protokoll nicht ratifizieren ein Thema für ausländische nvestoren I ist, kann nicht werden. Deshalb macht mich die jetzt herrschende Stille ernsthaft bestritten werden. Darüber hinaus ist Russland stutzig, wenn es darum geht, dass Russland auf dem glei- sicherlich auch ein Partner in der globalen und insbeson- chen Wege ist. Ich glaube, jetzt lässt sich erkennen, dass dere in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. sich der eine oder andere Staat in der Weltgemeinschaft Wenn man aber einmal betrachtet, was Vertreter der Re- hinter der Weigerung der USA, das Kioto-Protokoll zu gierung in den Ausschüssen und Gespräche mit Kolle- ratifizieren, versteckt hat, um nicht selber schwören zu gen aus der Duma, mit russischen Politikern, zutage för- müssen; das war bequem. Aber nun treten die offensicht- dern, dann erkenne ich, dass es nicht um die Frage geht, lichen Defizite zutage. ob wir möglicherweise die Fakten gleich beurteilen. Die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Probst hat Vielmehr berührt es mich zutiefst, dass wir aufgrund am 29. Oktober letzten Jahres auf einer Tagung in Mos- mentaler Unterschiede anders an die Frage herangehen, kau aus Anlass der deutsch-russischen Umweltgespräche ob das, worüber wir diskutieren, eigentlich ein Problem gesagt: Der Unterschrift Russlands kommt entschei-darstellt und was uns hinsichtlich der Zukunftsgestaltung dende Bedeutung zu; denn sie ist ausschlaggebend für bewegen muss. das In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls. Recht hat sie! Ich erlaube mir deswegen trotz aller gebotenen Vor- sicht, zu sagen: Russische Politiker ordnen die Charta Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass es in diesem und das Kioto-Protokoll eher in die Kategorie alter kolo- Hause eine gute Basis für Gemeinsamkeiten in dieser nialistischer Strukturen ein und empfinden sie weniger Sache gibt, auch wenn ich aus Sicht der Union sicherlich als eine zukunftsgerichtete Politik der gemeinsamen Ver- beklagen muss, dass etwa auf demdeutsch-russischen antwortung für Europa und die Welt. Der Schlüssel zur Gipfel in Jekaterinburg das Thema Kioto-Protokoll gar Lösung der Probleme liegt in der Beantwortung der nicht angesprochen worden ist, und wenn ich deutlich Frage, ob wir in der Lage sind, unsere russischen Parla- machen muss, dass wir es für ein schweres Versäumnis (D) (B) mentskollegen und die russische Regierung davon zu halten, dass Herr Berlusconi das Wort „Kioto“ nicht in überzeugen, dass es dem Westen bei der Ratifizierung das Protokoll über den letzten deutsch-russischen Gipfel, des Kioto-Protokolls nicht darum geht, kolonialistische an dem auch Herr Putin teilnahm, hat aufnehmen lassen. Strukturen aufzubauen, sondern darum, dass wir ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. meinsam um eine Zukunft für unsere Kinder ringen, was Ulrike Mehl [SPD]) dringend notwendig ist. Das, was jetzt geschieht, wird der strategischen Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. deutung Russlands für das Gesamtkonzept überhaupt Birgit Homburger [FDP]) nicht gerecht. Nun mag man darüber streiten, ob man in Das Thema ist auch für uns von erheblicher Bedeu- einer öffentlichen Debatte auch sensible außenpolitische tung: Was passiert, wenn die Ratifizierung des Kioto- Dinge ansprechen sollte. Aber wir können nicht überProtokolls scheitert, das Protokoll somit nicht völker- westlich-demokratische Partner offen diskutieren und in rechtlich verbindlich wird und die gesamten Mechanis- Richtung Osten – möglicherweise – schweigen. Dasmen nicht zur Geltung kommen? Frau Probst hat dazu in finde ich nicht akzeptabel, Moskau einen richtigen Satz geäußert. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Birgit Homburger [FDP]: Nur einen?) Birgit Homburger [FDP]) – Der Satz stammt aus der Presseerklärung. Ob sie sonst auch wenn ich deutlich unterstreichen möchte, dass die noch Kluges gesagt hat, Frau Homburger, kann ich nicht Bedeutung Russlands weit über die Frage der Ratifizie- nachprüfen. Ich formuliere es einmal so: Ich habe keinen rung des Kioto-Protokolls hinausgeht. MAD. Die strategische Partnerschaft Russlands bei den (Zuruf des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) Energiereserven ist für Europa und insbesondere für – Auch das gebe ich zu, Herr Kubatschka. Deutschland ganz unbestritten wichtig. Deutschland sollte diese strategische Partnerschaft nicht gefährden. Erst wenn das Protokoll in Kraft ist, können seine Dabei darf aber auch nicht vergessen werden, dass Russ- ökonomischen Vorteile genutzt werden. Das heißt umge- land für den Umbau seiner Kraftwerkskapazitäten auf kehrt: Klimapolitik wird teuer, möglicherweise zu teuer, das Effizienzniveau, das wir im Auge haben – das be- und wir verlieren strategische Vorteile, wenn Russland deutet eine Verdoppelung der Effizienz des russischen das Kioto-Protokoll nicht unterzeichnet. Deswegen stellt Kraftwerksparks –, 400 Milliarden Dollar braucht, ohne sich nicht nur für Russland, sondern auch uns die Frage: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7611

Kurt-Dieter Grill (A) Welche Konsequenzen ziehen Europa und Deutschland Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Ame- (C) im Falle des Scheiterns? rikaner großen Druck auf Russland ausüben, das Proto- koll nicht zu ratifizieren. Wenn es nicht den Gegendruck Wir diskutieren an dieser Stelle – ich sage es nochaus Europa gäbe – er existiert ja bereits –, dann wäre das einmal – nicht nur über Umweltpolitik, sondern auchKioto-Protokoll vielleicht schon längst wirklich tot. Ge- über Fragen vonWirtschaft und globalem Wettbe- genwärtig haben wir immer noch eine gewisse Hoff- werb. Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns gemein- nung, dass es irgendwann doch in Kraft tritt. sam versuchen, im Dialog mit allen Fraktionen der Duma und mit der Regierung Russlands wie auch mit Ich habe in Washington vor etwas über einem Jahr an Amerika Überzeugungsarbeit für die Ratifizierung des einer deutsch-amerikanischen Klimatagung mit Parla- Kioto-Protokolls zu leisten. mentariern teilgenommen. Da hat ein Vertreter des Herzlichen Dank. Außenministeriums, des State Departments, behauptet, es werde keinerlei Druckauf Russland ausgeübt. Am (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nächsten Morgen wurde über dieses Gespräch berichtet. Dabei hat der Berichterstatter gesagt: Der Vertreter des Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: State Departments hat gesagt, es werde keinerlei Druck Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Ulrich von auf Russland ausgeübt. Dann habe ich ein bisschen frech Weizsäcker. dazwischengerufen: Und wiralle haben es geglaubt! – Da gab es ein tosendes Gelächter auf allen Seiten, ins- besondere bei den Amerikanern, weil sie wussten, dass Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD): der Mann aus dem State Department frech gelogen hatte. Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Her- ren! Lieber Herr Grill, ich bedanke mich sehr herzlich Natürlich ist da ein gewaltiger Druck ausgeübt wor- für das Angebot zur Zusammenarbeit. Das ist in diesem den! Nur: Was machen wir in dieser Lage? Zusammenhang in der Tat sehr angebracht. Wir sind uns in der Zielsetzung weitestgehend einig. Es wäre für uns Wir haben die klimapolitisch interessierten Vertreter alle gut, wenn Russland das Kioto-Protokoll ratifizierte. der Duma vor einem Jahr nach Deutschland eingeladen. Sie haben in Ihrem Antrag vollkommen richtig beschrie- Protokollarisch korrekt habe ich sie eingeladen. Die Idee ben: Nach der amerikanischen Weigerung, das Protokoll kam aber zweifellos von Herrn Minister Trittin und ich zu ratifizieren, liegt der Schlüssel ganz eindeutig beibin ihm sehr dankbar dafür. Damals war die psychologi- Russland. sche Lage noch gar nicht so schlecht. Die hierher Gereis- ten waren im Großen und Ganzen der Meinung: Ja, wir Das war übrigens seitens der Amerikaner von vorn- (B) sollten das Kioto-Protokoll ratifizieren. – Aber schon(D) herein so geplant. Ich war selbst in Kioto und habe mit damals hat man uns gesagt: Solange Putin das nicht an Vertretern der amerikanischen Delegation gesprochen, die Duma weiterleitet, können wir natürlich überhaupt die noch schwer unter dem Eindruck eines nahezu ein- nichts machen. – Schon damals war also klar, dass es an stimmigen Votums des amerikanischen Senats standen, Putin hängt. keinerlei Klimaschutzabkommen zu unterschreiben, wenn die Entwicklungsländer an diesem Klimaschutz In der Zwischenzeit hat Ende September die wissen- nicht in einem nennenswerten Umfang beteiligt würden. schaftlich orientierte Klimakonferenz in Moskau stattge- Die ganze Konferenz in Kioto ist nur knapp einem De- funden, auf der auch Putin das Wort ergriffen hat. Er hat saster entgangen. ganz ausdrücklich gesagt, gegenwärtig könne man das Protokoll noch nicht ratifizieren. Diese Konferenz war Wir Europäer und die Japaner haben die Amerikaner insbesondere von Jurij Israel inspiriert worden, der in gewissermaßen auf Knien gebeten, mitzumachen, und sind dabei auf Granit gestoßen. der ganzen Welt als einer von denen bekannt ist, die seit Jahrzehnten behaupten, es gebe überhaupt keinen Treib- Schließlich ist der damalige Vizepräsident der USA, hauseffekt; wenn es ihn gäbe, wäre es gut für Russland. Al Gore, eingeflogen und hat seine Delegation gewisser- Das heißt, die ganze Konferenz ist als eine Anti-Kioto- maßen zur Räson gebracht. Aber sie hat ihm dann die Konferenz aufgebaut worden. Ausgerechnet auf dieser Formel von 55 Prozent abgetrotzt, die genau zu dem Ziel Konferenz hat der russische Präsident Putin das Wort er- führen sollte, dass die USA, die nach Meinung des Se- griffen und gesagt: Wir werden im Moment gar nicht ra- nats oder des Kongresses insgesamt überhaupt nicht da- tifizieren können. bei sein wollten, plus Russland das Zustandekommen ei- nes rechtsgültigen Protokolls verhindern können. Das ist Die Kreml-Astrologen haben Putins Rede im Vorfeld insofern überhaupt keine Überraschung gewesen. der russischen Parlamentswahl natürlich als böses Omen gedeutet – und das war sie ja auch. Die Duma-Wahl im Herr Bundeskanzler Schröder und Herr Umweltmi- Dezember hat dann Mehrheitsverhältnisse geschaffen, nister Trittin wissen selbstverständlich, dass genau das durch die noch viel mehr am Präsidenten hängt. die Sachlage ist, und setzen sich, wo sie nur können, da- für ein, dass Russland ratifiziert. Die Frage ist natürlich Was wir seitens der SPD nicht akzeptieren können, ist nur: Mit welchen Mitteln? Wie sinnvoll ist es, auf Russ- die Behauptung, dass sich die Bundesregierung in dieser land zum Beispiel wirtschaftlichen Druck auszuüben? Sache passiv verhält. Es kommt einer Beleidigung be- Wir wissen, dass es nicht furchtbar viel Sinn machendenklich nahe, wenn die Antragsteller von CDU und würde, auf Amerika wirtschaftlichen Druck auszuüben. CSU den Satz schreiben: 7612 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (A) Die Bundesregierung muss endlich damit beginnen, aber nun einmal die bereits genannte Schwäche, die aus (C) aktiv bei der russischen Regierung für eine Ratifi- russischer Sicht ein Pluspunkt für dieses Protokoll ist. zierung des Kioto-Protokolls zu werben. Denn durch die Wahl des Basisjahrs 1990 erhält Russ- land einen ungeheuren geldwerten ökonomischen Vor- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Beleidigend teil. Für das Gastgeberland Japan war dagegen die Fest- ist das ganz bestimmt nicht! – Weitere Zurufe legung auf das Basisjahr 1990 eine Art Ohrfeige; denn von der CDU/CSU) Japan hatte einen Großteil seiner klimapolitischen Haus- Es gab zweifellos Events, bei denen dieses Engagement aufgaben schon vor 1990 gemacht, sodass die neuen nicht im Zentrum stand, aber wir sind für das Handeln Aufgaben Japan ganz besonders teuer zu stehen kom- von Herrn Berlusconi auchnicht so ganz unmittelbar men. Bei In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls hätten verantwortlich. aber die Japaner Veranlassung gehabt, mit begierigen Blicken auf die so genannte heiße Luft aus Russland zu Wir verstehen das Problem jedenfalls einigermaßen schauen; denn auf diese Weise wären sie verhältnismä- gleichsinnig. Das kommt ja auch in den vernünftigen ßig kostengünstig an CO2-Emissionslizenzen gekom- Passagen Ihres Antrages zum Ausdruck. Es geht jetzt da- men. In der Bewertung dieses Umstandes gibt es sicher- rum, dass wir an die konstruktiven Passagen Ihres Antra- lich zwischen Opposition und Regierung gar keinen ges anknüpfen und wieder vernünftige Klimapolitik ma- Unterschied. chen. Die Frage ist: Wie? Erstens muss man zur völkerrechtlichen Lage festhal- Weiterhin fordern Sie die Regierung auf, dem Bun- ten: Die Klimarahmenkonvention ist in Kraft. Sie gebie- destag denkbare Alternativen aufzuzeigen, wenn es vor- tet in Art. 2, dass eine gefährliche Interaktion des Men- läufig nicht zu einer Ratifizierung kommt. Dazu kann schen mit dem Klima verhindert werden muss. Das ist ich nur sagen: Richtig, genau das ist jetzt unsere akuteste natürlich noch keine rechtsverbindliche Aussage darü- Hausaufgabe. Wir müssen analysieren: Welche Spiel- ber, wie dieses im Einzelnen erreicht werden kann, aber räume haben wir in einer Phase, in der – zu unser aller immerhin ein starker Baustein internationaler Klimapoli- Bedauern – das Kioto-Protokoll völkerrechtlich noch tik. nicht in Kraft ist? Das istübrigens nicht nur eine Auf- gabe für die Regierung, sondern auch für den Bundestag. Zweitens, rechtlich sehr viel deutlicher, hat die EU mit ihrer Emissionshandelsrichtlinie EU-Recht ge- Lassen Sie mich dazu ein paar Gedanken ausbreiten, schaffen, an welches wir Deutsche uns selbstverständ- die von dem breiten Einverständnis ausgehen, dass das lich halten. Das heißt, unsere Klimapolitik schwebt nicht Kioto-Protokoll ratifiziert werden sollte. im rechtsfreien Raum. Der Erfolg versprechende Ansatz, den ich einmal als (B) (D) (Dr. [CDU/CSU]: Aber wir Plan B bezeichnen möchte – das ist eine heute ganz übli- müssen doch die globalen Auswirkungen se- che Vokabel –, geht davon aus, dass die CO2-Emissions- hen!) minderungen bei uns in Deutschland, aber auch in ande- ren Ländern mit einerModernisierung der – Selbstverständlich, Frau Flachsbarth, müssen wir über Technologie und der Wirtschaft einhergehen. Man Europa hinaus internationale Klimapolitik machen. Da- kann seit Mitte der 1970er-Jahre beobachten, dass die für wäre das Kioto-Protokoll außerordentlich hilfreich. Energieintensität der Wirtschaft der technisch fortschritt- Aber wir müssen schon heute handeln und können nicht lichsten Länder fortlaufend abgenommen hat. Umge- einen möglicherweise erst in ferner Zukunft liegenden kehrt ist natürlich die Energieproduktivität entsprechend Tag abwarten. gewachsen. Dieser Trend hat sich weltweit durchgesetzt, Wir sind in Bezug auf das Handeln der deutschenauch wenn er in Ländern mit extrem niedrigen Energie- Bundesregierung vielleicht unterschiedlicher Meinung, kosten spürbar langsamer abläuft. Russland hat noch im- aber auf der Basis einiger Ihrer Aussagen können wirmer sehr niedrige Energiekosten. Das hat eine Tradition, zweifellos zusammenkommen, insbesondere bezüglich die auf Lenin zurückgeht – seinerzeit eine politische Ent- Ihrer Forderung, dass die Bundesregierung umfassend scheidung, die zu Beginn der Industrialisierung dem da- und detailliert aufzeigt, welche konkreten Vorteile Russ- mals sehr armen russischen Volk einen Zugang zu Elek- land von einer Ratifizierung des Kioto-Protokolls hätte. trizität verschaffen sollte. Aber es war auch eine Diese Forderung ist absolut richtig. Dieser vernünftige Einladung zu einer Energieverschwendung, letzten En- Ansatz ist aber wiederum nicht ganz neu. Genau genom- des zu einer sagenhaften Energieverschwendung, die der men haben die Verhandlungsführer in Kioto – Fraurussischen Volkswirtschaft sehr geschadet hat. Nach der Dr. Merkel war ja damals Leiterin der deutschen Delega- Wende sind die Energiekosten auch in Russland den tion – allein schon durch dieWahl des Basisjahres für Weltmarktkosten etwas angeglichen worden; aber sie die Reduktionsverpflichtungen Rücksicht auf Russland sind noch immer sehr niedrig. Diese niedrigen Energie- genommen. kosten halten noch heute manche technisch völlig veral- teten Grundstoffindustrien am Leben. Das ist nicht gut Frau Dr. Merkel hatte einige in ihrer Umgebung, da- für die Entwicklung neuer Technologien, auf die Russ- runter auch mich, gefragt, ob sie denn das Protokoll in land aber um seiner weltweiten Konkurrenzfähigkeit der Form, wie es damals formuliert war, akzeptierenwillen dringend angewiesen wäre. könne. Ich habe ausdrücklich Ja gesagt; denn die Alter- native wäre gewesen, dass wir auf Jahre hinaus über- Das wäre also der Grundtenor von Plan B: zu beto- haupt kein Protokoll gehabt hätten. Dieses Protokoll hat nen, dass die eigentliche Fortschrittsrichtung Verminde- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7613

Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (A) rung der Energieintensität heißt. Technisch ist es sogar Europa, auch in der Bundesrepublik Deutschland, stehen (C) möglich, die Energieproduktivität noch wesentlich wei- wir kurz vor der Einführung eines Emissionshandelssys- ter zu steigern, als in den letzten 30 Jahren geschehen. tems. Dieses Emissionshandelssystem ist mit dem Kioto- Ein Faktor vier bei ihrer Erhöhung gilt als nachgewie- Protokoll eng verknüpft. sen. Wenn nun aber Länder wie Japan und Deutschland einigermaßen entschlossen in die Ausschöpfung dieses Die Tatsache, dass das Kioto-Protokoll von mindes- Potenzials eintreten, kann sehr bald der Moment kom- tens 55 Staaten ratifiziert werden muss, die zusammen men, in dem die Länder, die den neuen Trend verpassen, für mindestens 55 Prozent des weltweiten CO2-Aussto- hoffnungslos abgehängt werden. Wo stünde etwa De-ßes verantwortlich sind, führt zu erheblichen Problemen. troit, wenn Deutschland oder Japan mit Massenfertigun- Inzwischen haben zwar 120 Staaten – das entspricht dem gen von Autos begännen, die nur noch 2 bis 3 Liter pro Stand vom Ende des letzten Jahres – das Protokoll ratifi- 100 Kilometer brauchen? Oder wo bleiben die Entwick- ziert; gemeinsam sind diese Staaten allerdings nur für lungsländer, die einen wachsenden Teil ihrer teuren44,3 Prozent der Emissionen verantwortlich. Das heißt, Stromversorgung damit verschwenden, dass sie völlig trotz aller Anstrengungen ist das Kioto-Protokoll nicht in ineffiziente Klimaanlagen in ihren Hochhäusern instal- Kraft. lieren, während bei uns inzwischen Geräte hergestellt Wenn man sich die Annex-I-Staaten – sie sind in die- werden, die nur noch ein Drittel des Stroms brauchen? sem Zusammenhang maßgeblich – anschaut, stellt man Ein weiteres Element der Plan-B-Strategie kann der fest, dass drei dieser Staaten das Protokoll noch nicht ra- Ausbau von klimapolitisch motivierten Geschäften zwi- tifiziert haben: Der Anteil Australiens an den Emissio- schen Nord und Süd sein. Das bezeichnen Sie auch in Ih- nen beträgt 2,1 Prozent, der Anteil Russlands rem Antrag als attraktiv. 17,4 Prozent und der Anteil der USA 36,1 Prozent. Eine vorbehaltlose Betrachtung zeigt definitiv, dass es eigent- Das stärkste Argument für Russland wie für Amerika lich nur zwei Möglichkeiten gibt, um das Kioto-Proto- wäre es, wenn es an der Wall Street hieße, die Firmen koll in Kraft zu setzen: Entweder wir bringen Russland und Länder, die mit Verschwendungstechnologien ope- oder die USA zu einer Ratifizierung. rieren, würden abgehängt. Das wäre auch ein Motiv für Russland, sich sehr rasch zu besinnen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Man braucht bei der Analyse der ökologischen Fol- Und wen wollen Sie überzeugen? – Gegenruf gen nicht so weit zu gehen wie der führende britische des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ihr Wissenschaftsberater David King, der angesichts neuer habt doch einen so guten Außenminister! Der Studien zu der Aussage kommt, dass das Klimaproblem kriegt das alles hin!) (B) noch ernster als die Terrorgefahr sei, womit er schwere (D) Vorwürfe gegen die Regierung Bush verbindet. – Dazu werde ich gleich noch etwas sagen. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns darum küm- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: mern und in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit? und zwar speziell mit Blick aufRussland. Ich finde aber, man darf nicht nur über dieses eine Land reden. Ich Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD): bin kein Fantast. Trotzdem: Unter internationalen Ge- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir sind sichtspunkten müssen wir ein großes Interesse daran ha- es der Modernität unserer Wirtschaft und unseren Kin- ben, dass sich irgendwann auch in den USA etwas be- dern und Enkeln schuldig, den Klimaschutz unter jedwe- wegt. In einer solchen Debatte sollten wir gemeinsam der diplomatischen Bedingung ernsthaft voranzutreiben. ins Auge fassen, die Anstrengungen mit Blick auf die Lassen Sie uns das, soweit es irgend geht, gemeinsam USA als einem befreundeten Land fortzuführen. tun! (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Ernst Vielen Dank. Ulrich von Weizsäcker [SPD] und des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NEN]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Man muss für das Kioto-Protokoll werben. Die Bezie- hungen zwischen Russland und der Bundesrepublik Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Deutschland – um nicht zu sagen: zwischen Bundes- Danke schön. – Das Wort hat jetzt die Abgeordnete kanzler Schröder und Präsident Putin – sind doch angeb- Birgit Homburger. lich so gut. (Dirk Niebel [FDP]: Also eine Männerfreund- Birgit Homburger (FDP): schaft!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Eine Männerfreundschaft, wie es Herr Niebel aus- Wir diskutieren heute nicht zum ersten Mal über die Ra- drückt. Jetzt hat er sein Ziel, im Protokoll zu stehen, er- tifizierung des Kioto-Protokolls und die Frage, welche reicht. Konsequenzen sich ergeben, wenn es nicht in Kraft tritt. Man muss feststellen, dass die Situation immer prekärer (Heiterkeit – Dirk Niebel [FDP]: Einmal mehr und die Sache immer wichtiger und dringlicher wird. In als der Kollege Kolb!) 7614 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Birgit Homburger (A) Es gibt also eine enge Verbindung. Trotzdem muss ses Protokoll zu ratifizieren. Das ist jetzt nötig und dies (C) ich sagen – hier unterstütze ich die Aussagen des Kolle- fordert die FDP. gen Grill –: Ich bin enttäuscht darüber, wie wenig ernst der Bundeskanzler die Sache bisher nimmt. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Oppositionsgetöse!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Lieber Herr von Weizsäcker, ich glaube zwar, dass der Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske. Umweltminister weiß, es ihm aber egal ist, welche Kon- sequenzen sich für den Emissionshandel in Deutschland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und für die deutsche Wirtschaft ergeben, wenn dasDr. Reinhard Loske NEN): Kioto-Protokoll nicht in Kraft tritt. Ich habe aber lang- sam große Zweifel daran, dass der Bundeskanzler das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! weiß. Frau Homburger, in der Logik dessen, was Sie gesagt ha- ben, wäre Bundeskanzler Kohl dafür verantwortlich ge- (Beifall bei der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Der wesen, dass der US-Senat 1997 mit 98 : 2 Stimmen be- Bundeskanzler weiß alles, Frau Kollegin!) schlossen hat, nicht mehr in Sachen Klimaschutz zu kooperieren. Das kann irgendwie nicht stimmen; das Ohne ein In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls und werden Sie selber gemerkt haben. ohne flexible Instrumente wird derEmissionshandel kaum funktionieren. Das wissen auch Sie. Zumindest (Lachen der Abg. Birgit Homburger [FDP]) wird er viel teurer werden. Dadurch werden große Chan- Zum Thema. Das Kioto-Protokoll ist, anders als Prä- cen für den Klimaschutz und für die Exportchancensident Bush behauptet hat, keineswegs tot. Es lebt. Aber deutscher regenerativer Energietechnik vergeben. Das das Protokoll befindet sich – das muss man ohne weite- sind die Konsequenzen. res sagen – in einem kritischen Zustand. Deswegen erlaube ich mir an dieser Stelle einen klei- Wenn man sich einfach einmal die formalen Ergeb- nen Hinweis an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/ nisse ansieht, kann man sagen: Die Klimadiplomatie hat CSU-Fraktion: Wir teilen Ihren Antrag zwar in derin den letzten zehn Jahren eine ganze Menge erreicht. Grundrichtung; wir brauchen aber keinen neuen Bericht Die Situation ist gar nichtso schlecht. Die Klimarah- der Bundesregierung. Mir wäre es viel lieber, die Bun- menkonvention ist seit 1994 in Kraft. Sie wurde mittler- desregierung würde uns einmal darüber berichten, wel- weile von 187 Staaten, das heißt von fast allen, unter- (B) che Anstrengungen sie international unternommen hat, zeichnet. Sie ist damit universelles Recht geworden. Das (D) um Russland dazu zu bringen, das Kioto-Protokoll zu ra- ist ein großer Schritt nach vorn. Der Tochtervertrag, das tifizieren. Kioto-Protokoll, wurde mittlerweile von 120 Staaten un- (Beifall bei der FDP) terzeichnet. Auch damit gehört er schon fast – aber eben nur fast – zum universellen Recht. Es wäre mir viel lieber, die Bundesregierung würde uns einmal berichten, welche Strategie sie verfolgt. Dann Damit das Kioto-Protokoll in Kraft treten kann, muss könnte man gemeinsam darüber nachdenken, wie man es – das wurde bereits gesagt – von mindestens das Protokoll zu einem Erfolg führen kann. 55 Staaten ratifiziert werden, die gleichzeitig für min- destens 55 Prozent der Emissionen der Industrieländer Wenn wir nicht zu einer Ratifizierung kommen, ha- verantwortlich sind. Das erste Ziel ist erreicht: Es haben ben wir ein Problem. Ich will dies an einem Beispielmehr als 55 Staaten ratifiziert. Das zweite Ziel ist noch deutlich machen und damit nichts gegeneinander ausspie- nicht erreicht: Es fehlen zwei Schwergewichte. Die Ver- len, sondern nur einmal die Chancen, die im Emissions- einigten Staaten bringen 36 Prozent der Emissionen der handel liegen, deutlich machen: Die Kosten für jede ver- Industrieländer auf die Waage, Russland 17 Prozent. miedene Tonne CO2 liegen bei Nutzung der Photovoltaik Während die US-Regierung dem Kioto-Protokoll feind- in den Entwicklungsländern bei 5 Euro und in Deutsch- lich gesonnen ist und das auch deutlich zum Ausdruck land bei 500 Euro. Wenn man das weiß, dann weiß man gebracht hat, befindet es sich in Russland im Grunde ge- auch, welche wirtschaftlichen Potenziale vergeben wer- nommen in einem Schwebezustand. Man muss sagen: den, wenn es nicht zu einer Ratifizierung kommt. Wenn sich mit den USA und Russland eine Koalition der Unwilligen bilden würde, wäre das Kioto-Protokoll tot. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ganz nüchtern sagen: Wir sollten nicht gemeinsam im Plenum des Die Frage, vor der wir als Parlament, aber auch die Deutschen Bundestages Krokodilstränen darüber vergie- Regierung steht, ist: Wie sollen wir mit dieser Hängepar- ßen, dass dieses Protokoll nicht in Kraft tritt, dass es von tie umgehen? Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Russland nicht ratifiziert worden ist. Ich erwarte viel- Ich will im Wesentlichen drei Schlüsse benennen und mehr von der Bundesregierung, vom Bundesumweltmi- kurz ausführen, was gemeint ist. nister und vom Bundeskanzler, dass sie uns im Plenum Erstens. Wir müssen Russlands Eigeninteresse an der des Deutschen Bundestages eine Strategie vortragen, wie Ratifizierung des Kioto-Protokolls noch stärker wecken. sie in Verhandlungen mit anderen Ländern bzw. Partnern darauf hinwirken wollen, wie sie Russland, aber viel- Zweitens. Die Freunde des Kioto-Protokolls – immer- leicht auch die USA auf Dauer dazu bringen wollen, die- hin 120 Staaten – sollten sich keineswegs durch die Ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7615

Dr. Reinhard Loske (A) zögerungstaktik aus dem Konzept bringen und ihren kli- Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Wer diese al-(C) mapolitischen Handlungswillen dadurch beeinträchtigen ten, zentralistischen und ineffizienten Strukturen aus der lassen. Sowjetzeit modernisieren will, der braucht Technologie und der braucht Kapital; das kam schon zur Sprache. Drittens. Außerhalb des Kioto-Protokolls sind alle in- Das zentrale Instrument dafür ist Joint Implementation; ternationalen Kooperationsmöglichkeiten im Sinne des das muss man der russischen Regierung klarmachen. Er- Klimaschutzes zu nutzen. Ich nenne hier als Paradebei- freulich ist, finde ich, dass die Feinde des Kioto-Proto- spiel die Weltkonferenz für erneuerbare Energien imkolls in Russland – die Kommunisten und die Nationa- Juni nächsten Jahres in Bonn. Es geht – das ist mir sehr listen – bei der Duma-Wahl keinen Stich bekommen wichtig; dies sage ich etwas in Abgrenzung zu dem, was haben: Im Parlament gibt es eine Mehrheit für das Kioto- Ernst von Weizsäcker gesagt hat – nicht um einen Plan B Protokoll; auch die Industrie ist dafür. Man muss hoffen, zum Kioto-Protokoll, sondern um Kioto plus; so ver-dass Präsident Putin im April, nachdem die Wahlen statt- stehe jedenfalls ich das. Beides gehört zusammen. gefunden haben, zu einem positiven Ergebnis kommt. Wenn das nicht der Fall wäre – auch das darf man viel- Jetzt zu den Punkten im Einzelnen. Die russische Re- leicht einmal sagen –, würde das wirklich ernsthafte Fra- gierung hat – das wurde schon angesprochen – im Rah- gen hinsichtlich der internationalen Zuverlässigkeit men des Kioto-Protokolls enorm viele Zugeständnisse Russlands und der Handlungsfähigkeit seiner parlamen- bekommen. Das für Russland geltende Basisjahr 1990 tarischen und staatlichen Institutionen aufwerfen und bedeutet faktisch, dass man heute etwa ein Drittel unter auch die Attraktivität Russlands als Investitionsstandort dem Niveau von 1990 liegt und bis 2012 nichts tunerheblich beeinflussen. Es geht hier also um ein Eigenin- muss. Das heißt, die Russen können auf dem Emissions- teresse. markt als Verkäufer auftreten – wenn sie denn auftreten. Das Argument der Russen, die Nachfrageseite sei da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durch geschwächt worden, dass die Vereinigten Staaten und bei der SPD) ausgestiegen sind, trägt – leider, möchte ich fast sagen – nicht wirklich: Natürlich gibt es auch in Europa und in Wir bitten die Bundesregierung, diesen Druck auch Japan eine enorme Nachfrage, das heißt, es gibt vieleweiterhin aufrechtzuerhalten, der – davon kann ich Ih- Mitgliedstaaten, die Emissionsrechte zukaufen müssen. nen ein Lied singen; ich bin selbst daran beteiligt gewe- Die Nachfrageseite ist also keineswegs verschwunden, sen – natürlich schon existiert. sie ist noch da. Außerdem haben die Russen im Rahmen Jetzt komme ich zu meinem zweiten Punkt. Unabhän- der Senken-Thematik sehr viele großzügige Zuschrei- gig davon, ob Russland ratifiziert, sollten die Kioto-Mit- bungen bekommen. Es geht hier nichts mehr: Wenn man (B) gliedstaaten ihre Klimaschutzpolitik fortsetzen – aus (D) den Russen im Rahmen des Kioto-Protokolls noch wei- Gründen ihrer Vorbildfunktion, aber auch aus Gründen tere Zugeständnisse machen würde, führte das faktisch des wirtschaftlichen Eigeninteresses, wie Ernst von dazu, dass die ökologische Integrität des Protokolls aus- Weizsäcker schon beschrieben hat. Das ist auch der gehöhlt würde; das ist nicht wünschenswert. Grund, warum wir gegen den CDU-Antrag stimmen; das muss ich ganz klar sagen. Er hat nämlich einen Unterton, Geradezu abenteuerlich sind die Aussagen des so ge- der ungefähr so lautet: Wenn Russland ratifiziert, dann nannten Wirtschaftsberaters von Präsident Putin, Andrej bricht der ganze Klimaschutzprozess zusammen. Illarionow heißt er. Seine These war vor wenigen Wo- chen nachzulesen: Russland kann das Protokoll deshalb (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist nicht ratifizieren, weil jedes Prozent Wirtschaftswachs- doch Quatsch!) tum im Ergebnis einen Anstieg der CO2-Emissionen um 2 Prozent mit sich bringen würde. Man darf sagen – ich Das ist aber keineswegs der Fall, das ist unzutreffend. Es glaube, das ist auch diplomatisch gesehen nicht un-ist eben eine Grundsatzfrage: Sieht man Klimaschutz vor freundlich –: Einen größeren Unfug hat man selten ge- allen Dingen als Chance oder sieht man ihn vor allem als hört! Bürde? Da unterscheiden wir uns in der Tat erheblich: Wir sehen ihn auch als Chance zum Strukturwandel. Bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Homburger war gerade ganz deutlich zu hören, wie und bei der SPD) eine Argumentation vorbereitet werden soll – ich inter- pretiere das einmal so –, die da lautet: Weil Russland Fakt ist, dass die Einspar- und Effizienzpotenziale innicht ratifiziert, sollten wir auch den innereuropäischen Russland wirklich sehr groß sind; Herr KollegeEmissionshandel aussetzen. Da müssen Sie ganz sicher Paziorek, Sie wissen das. Am 9. Januar erschien als Ant- mit unserem entschiedenen Widerstand rechnen. Der wort auf diese Position von Illarionow ein Artikel in der Emissionshandel, die Umsetzung in nationales Recht, „Moscow Times“, in dem es hieß: Wenn Russland die ist ein Ergebnis des EU-Burden-Sharing-Agreements, Effizienzstandards der USA hätte, könnte es sein Brutto- aber nicht des Kioto-Protokolls; das sollten Sie wissen. inlandsprodukt verdoppeln, ohne dass die Emissionen Für uns ist der Emissionshandel ein ganz wichtiger Inno- – gegenüber heute – ansteigen würden. Wenn es das Ef- vationsmotor. Wenn Sie den zum Stottern bringen wol- fizienzniveau von Westeuropa oder gar Japan hätte,len, dann geht das nicht mit uns – ganz klar. könnte es sein Bruttoinlandsprodukt verdoppeln und gleichzeitig noch die Emissionen senken. – Das heißt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Argument ist überhaupt nicht tragfähig. sowie bei Abgeordneten der SPD) 7616 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Reinhard Loske (A) Wenn Russland das Kioto-Protokoll nicht ratifiziert, Die EU hat sich verpflichtet, von 1990 bis 2012 die(C) dann schadet das am ehesten Russland, aber nicht der Treibhausemissionen in wesentlichen Bereichen um Europäischen Union. 8 Prozent zu reduzieren, Deutschland um 21 Prozent. Angela Merkel war an diesen grundlegenden Vereinba- Zu meinem letzten Punkt. Unabhängig von Russlands rungen wesentlich beteiligt. Das sollten wir an dieser Ratifizierung müssen wir über das Kioto-Protokoll hi- Stelle noch einmal mit Stolz herausstellen. nausgehen und auch andere Kooperationsformen für den Klimaschutz nutzen; von der Weltkonferenz für er- (Beifall bei der CDU/CSU) neuerbare Energien habe ich bereits gesprochen. Andere Die Union will CO2-Reduzierung. Sie dient der Luft- Kooperationsprojekte in Sachen Technologieentwick- reinhaltung, der Gesundheit des Menschen und dem Kli- lung sind möglich, übrigens auch mit den Vereinigten maschutz, aber auch unserer Wirtschaft, unseren Interes- Staaten. Sie sind auch notwendig; da stimme ich mit Ih- sen. Auch das muss man an dieser Stelle im Sinne des nen hundertprozentig überein. Es wäre irrsinnig, zu sa- Immissionsschutzes deutlich zum Ausdruck bringen, gen: Wir brechen den Dialog mit einem Staat, der fürüber den wir in den letzten Tagen intensiv diskutiert mehr als ein Drittel der Industrieländeremissionen ver- haben. Kein Wohlstand auf Kosten künftiger Generatio- antwortlich ist, ab. nen – das ist unsere Devise, an der wir festhalten. Wir Diesen Dialog sollten wir im Bereich Wasserstoff-wollen verantwortliche Politik. Dazu sollte auch diese technologie und vielleichtauch – das wird die SPDBundesregierung beitragen. freuen – im Bereich CO 2-Rückhaltung in Kohlekraftwer- Herr Loske hat in seinen Ausführungen leider zum ken fortsetzen. Da gibt es viele technologische Koopera- Ausdruck gebracht, dass Sie gegen unseren Antrag stim- tionsmöglichkeiten. men werden. Das bedrückt uns schon ein bisschen. (Cajus Caesar [CDU/CSU]: Tun Sie endlich (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mal was! Die Regierung ist weit zurück!) DIE GRÜNEN – Dr. Reinhard Loske [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt übertreiben Sie Wichtig ist – das möchte ich abschließend sagen, Frau aber!) Präsidentin –, dass solche dringend erforderlichen Akti- vitäten nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum Denn wir hatten gehofft, dass diese Regierung zu besse- Kioto-Protokoll gedacht werden. Es geht eben nicht um ren Einsichten kommt – im Sinne von Umweltschutz einen Plan B – jedenfalls aus meiner Sicht nicht –, son- und Wirtschaftspolitik. dern um Kioto plus. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Ich fasse zusammen: Das Kioto-Protokoll ist wirklich Diese von der SPD und den Grünen geführte Bundes- (D) kein schönes Baby. Jeder, der sich damit befasst hat,regierung ist gefordert. Es genügen nicht allein medien- weiß das. Aber wir haben kein anderes. Deswegen soll- wirksame Auftritte ten wir es füttern und pflegen, zum Wachsen bringen und weiter entwickeln. Das ist der entscheidende Ge- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE danke. GRÜNEN]: Hier guckt sowieso keiner mehr zu!) Danke schön. des Umweltministers oder des Bundeskanzlers. Der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundeskanzler ist von Klimaschutzpolitik ohnehin weit und bei der SPD – Dr. Peter Paziorek [CDU/ entfernt. Er spricht ab und zu einmal von Wirtschaftspo- CSU]: Ja, super! Dann machen wir das!) litik, hat aber auch dabei seine Hausaufgaben kaum ge- macht. In der Umweltpolitik habe ich konkrete, zu- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kunftsweisende Äußerungen von ihm an kaum einer Stelle hören können. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Cajus Julius Caesar. (Beifall des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/ CSU]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Viel versprochen, wenig gehalten hat diese Bundesre- gierung im Bereich der Forschungspolitik und der Um- (CDU/CSU): Cajus Caesar weltpolitik insgesamt. Das gilt auch für die Innovation Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- beispielsweise im Zusammenhang mit Wasserstoff und gen! Kioto ist richtig und wichtig. Deshalb setzt sichBiomasse. Gerade bei der Biomasse machen Sie jetzt ei- auch die Union weiterhin für die Ratifizierung des Kioto- nen Schritt zurück. Ein Blick ins EEG lässt erkennen, Protokolls ein, egal um welches Land es geht. dass Sie die Biomasse ganz offensichtlich weniger för- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. dern wollen. Sie verschlechtern die Bedingungen für Birgit Homburger [FDP]) eine Zukunftsenergie. (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir werben bei allen. Wir wollen Amerika und Russland NEN]: Ein Schritt zurück, zwei vor!) zur Ratifizierung bewegen. Wir wollen keine einseitige Politik betreiben, sondern im Sinne des Klimaschutzes Diese Bundesregierung muss erst die Hausaufgaben vorankommen. machen und damit im Sinne einer Vorbildfunktion die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7617

Cajus Caesar

(A) Grundlagen für Umwelt- und Klimaschutzpolitik legen. matik sollten wir dort CO2-Reduzierungen vornehmen, (C) Dann kann sie diese Dinge auch international voranbrin- wo sie effektiv und kostengünstig sind. Deshalb sollten gen und sich für sie einsetzen. Dazu gehören nicht nur wir die Senkenproblematik in der Tat auch mit Russland Presseerklärungen und Presseauftritte, sondern auchangehen und nicht so zurückhaltend sein, wie sich ge- ganz konkrete Verhandlungsergebnisse. Diese brauchen rade erst wieder der Minister aus der Bundesrepublik wir und fordern wir als Opposition ganz klar von Ihnen Deutschland im Ministerrat zu dieser Thematik geäußert ein. hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen etwas anderes: Aufforstung und Wieder- In unserem heutigen Antrag geht es uns darum, ge- aufforstung von entwaldeten Partien in Russland. Zudem meinsam dafür zu kämpfen, dass es zu einer Ratifizie- ist ja gestern in der Diskussion über den Tropenwald rung des Kioto-Protokolls kommt. Das ist uns ganzdeutlich geworden, Herr von Weizsäcker, dass auch in wichtig. Wir sehen da dringenden Handlungsbedarf. Russland bestimmte Maßnahmen erforderlich sind. Diese Maßnahmen könnte man sehr gut miteinander ver- Der Bundesumweltminister hat am 10. Dezember er- binden. Deshalb sollten wir uns gemeinsam mit dieser klärt, die Bundesregierung gehe davon aus, dassRuss- Thematik beschäftigen und für eine Lösung eintreten. land Kioto ratifizieren werde. Ich sehe, wir sind davon Das würde uns neben dem Klimaschutz auch bei der noch weit entfernt. Ich weiß nicht, auf welcher Grund- Walderhaltung und mit Blick auf wirtschaftliche Ge- lage er diese Äußerung getan hat. Vielleicht kann ermeinsamkeiten nutzen. selbst oder die Staatssekretärin das zum Ausdruck brin- gen. (Beifall des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) Nach der Wahl der Duma sind mit den Mehrheitsver- Dazu sind Investitionen erforderlich. Das ist sicher hältnissen gute Voraussetzungen dafür entstanden, dass richtig. In Russland werden in diesem Punkt bei den In- man mit Russland noch einmal ins Gespräch kommt und vestitionen und insbesondere in der Pflege und Verwal- die Verhandlungen voranbringt. Russland hat die Türtung solcher Gebiete Probleme gesehen. In Russland keineswegs zugeschlagen. Ich sehe eine Chance. Wenn wird damit gerechnet, dass hierdurch Kosten in Höhe wir gemeinsam erfolgreich sein wollen, müssen wir die von 2 bis 2,5 Milliarden Dollar verursacht würden. Ich russischen Anliegen sehr ernst nehmen. denke, auch über solche Themen muss man reden. Wenn man das Gesamtgeflecht der wirtschaftlichen Interessen Wir alle wissen, dass Russland sein Inlandsprodukt in betrachtet, dann kann man nicht nur Eigeninteressen ver- den nächsten zehn Jahren verdoppeln will. Gerade hier folgen. Dann ist es sicherlich wichtig, auch über die glo- werden in Russland Probleme gesehen. Denn beim CO2- balen Zusammenhänge im Hinblick auf die Klima-, Um- (B) Ausstoß ist die Energieeffektivität und -effizienz, wie welt- und Wirtschaftspolitik nachzudenken. (D) hier im Haus schon gesagt worden ist, nicht auf dem Ni- veau, das wir in den westlichen Ländern, in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und anderswo, kennen. In diesem Bereich müssen wir auch durch Technologietransfer hilfreich zur Seite ste- Meine sehr geehrten Damen und Herren, wichtig ist hen. Ich glaube, das ist wichtig, wenn wir gemeinsam er- auch, dass wir bei den Emissionsgutschriften an projekt- folgreich sein wollen. Auch Russland will ein Mehr an basierten Maßnahmen Interesse zeigen und sie positiv Anerkennung von Senken. Auf diesen Punkt komme ich bewerten. Denn CO2-Reduzierung muss dort vorgenom- gleich noch im Detail zu sprechen. Wir müssen daranmen werden, wo sie effektiv und kostengünstig ist. Des- denken, dass hier im Sinne von Energiepartnerschaft ei- halb, glaube ich, müssen wir auch hier mehr tun, als das niges weiterentwickelt werden muss. bisher der Fall war. Dringender Handlungsbedarf beim Klimaschutz be- UN-Generalsekretär Kofi Annan verweist auf die dro- deutet für uns, auch im Emissionshandel erfolgreich zu henden Schäden, falls die Ratifizierung des Kioto-Proto- sein. Denn ohne die Ratifizierung des Kioto-Protokolls kolls an Russland scheitert und das Kioto-Protokoll ins- wird es, wenn wir die gesamte Verflechtung betrachten, gesamt nicht ratifiziert werden kann. Zudem sagt er: für unsere Unternehmen und Betriebe sehr schwer. Da- „Unsere Kinder und Enkel würden nicht verstehen, dass für müssen wir und dafür muss insbesondere die Regie- wir so etwas zugelassen haben.“ Er meint damit die rung etwas tun. Hier erwarten wir in der Tat etwas mehr Nichtratifizierung. von Ihnen, um auch erfolgreich zu sein. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal denEmis- Ich glaube, dass dieSenkenproblematik ein ganz sionshandel ansprechen. Hier ist es ganz wichtig, dass wichtiger Bereich ist, den wir heute noch nicht im Detail wir vorankommen. Wir können den von der EU beschlos- besprochen haben; das heißt CO2-Reduzierung durch senen Emissionshandel mit Sicherheit nur dann – auch Aufwuchs, also durch Biomasse. Hier bestehen große im Sinne unseres Landes – voranbringen, wenn damit tat- Chancen für Russland. Diese Chancen werden in Russ- sächlich die Ratifizierung verbunden ist. Ansonsten wä- land auch gesehen. 1 200 Millionen, also 1,2 Milliarden ren die Klimaschutzverpflichtungen der EU für unsere Hektar Russlands sind waldfähige Ressource. Nurund für alle europäischen Betriebe mit höheren Kosten 760 Millionen Hektar sind tatsächlich bestockt. Im euro- und wesentlich höheren Risiken verbunden. Denken Sie päischen Teil Russlands beträgt der Anteil nur runddeshalb auch an die Wettbewerbsnachteile, die uns dann 21 Prozent. Hier werden in Russland Kapazitäten er-– auch in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik – re- kannt, die frei liegen. Im Hinblick auf die Senkenproble- lativ schnell einholen würden. 7618 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Cajus Caesar (A) Die Bundesregierung muss ihrer Verantwortung Der Bundesrechnungshof hatte in seinen Bemerkun- (C) durch ernsthafte Gespräche und durch Verhandlungen gen 2001 zur Haushalts- und Wirtschaftsprüfung festge- gerecht werden. Wir alle wollen die Ratifizierung desstellt, dass die Leistungsseite des Lastenausgleichs weit- Kioto-Protokolls. In diesem Sinne wollen wir uns ge-gehend abgeschlossen sei. Er hat daher gefordert, bis meinsam für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Umwelt- Ende 2004 den Ausgleichsfonds aufzulösen und die Ver- politik einsetzen. treter der Interessen des Ausgleichsfonds aus Gründen der Haushaltsklarheit und Verwaltungsvereinfachung ab- Herzlichen Dank. zuschaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Das Vorhaben trägt zur Rechtsvereinfachung und zum Bürokratieabbau bei und führt zu Kosteneinsparungen im sächlichen, aber auch im personellen Bereich. Durch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die folgenden Veränderungen werden etwa zehn Stellen Ich schließe die Aussprache. wegfallen, teils im gehobenen, teils im höheren Dienst. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/2163 zur federführenden Beratung an Die fachliche Berechtigung des Vorhabens steht unse- den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- rer Meinung nach außer Frage. Auch die Länder befür- cherheit und zur Mitberatung an den Auswärtigen Aus- worten es der Sache nach. Die Ministerpräsidenten der schuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, denLänder haben schon vor einiger Zeit die Abschaffung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- der Vertreter der Interessen des Ausgleichsfonds gefor- wicklung sowie an den Ausschuss für die Angelegenhei- dert. Umso weniger nachvollziehbar ist es, dass der Bun- ten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es an- desrat den Gesetzentwurf auf bayerisches Betreiben hin derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist im ersten Durchgang abgelehnt hat. Die von Ihnen auf- die Überweisung so beschlossen. gebrachte Argumentation beruhte auf, so meine ich, sachfremden Gründen. Die geplanten lastenausgleichs- Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: rechtlichen Änderungen stehen in keinem inhaltlichen Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zusammenhang mit politisch umstrittenen Entschädi- gierung eingebrachten Entwurfs eines Vierund- gungsregelungen für weitere Kriegsopfergruppen wie dreißigsten Gesetzes zur Änderung des Las- denen der DDR-Kriegsheimkehrer und der deutschen tenausgleichsgesetzes (34. ÄndGLAG) Zwangsarbeiter. Nach Ansicht der Bundesregierung sind neue Entschädigungsleistungen für Sachverhalte, die der – Drucksache 15/1854 – Gesetzgeber jahrzehntelang als allgemeines Kriegsfol- (B) (Erste Beratung 75. Sitzung) genschicksal bewertet hat, weder sachlich gerechtfertigt, (D) noch können sie fiskalisch bewältigt werden. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- schusses Wie Sie wissen, hat der Rechnungsprüfungsausschuss (4. Ausschuss) die Bundesregierung unabhängig von seinem Auftrag zur Auflösung des Ausgleichsfonds aufgefordert, eine – Drucksache 15/2230 – kritische Bestandsaufnahme des Kriegsfolgenrechts in Berichterstattung: die Wege zu leiten und auf deren Grundlage in absehba- Abgeordnete Marga Elser rer Zukunft eine umfassende Schlussgesetzgebung zur Erwin Marschewski (Recklinghausen) Kriegsfolgenbeseitigung vorzubereiten. Das Bundesmi- Silke Stokar von Neuforn nisterium der Finanzen hat diesen Bericht kurz vor Dr. Max Stadler Weihnachten vorgelegt. Erst wenn wir diesen Bericht ausgewertet haben, kann die Schlussgesetzgebung auf Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die seriöser Grundlage diskutiert werden. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider- spruch gibt es nicht. Dann ist auch so beschlossen. Wie verabredet hat das Bundesministerium des Innern den Teilnehmern eines interfraktionellen Gesprächs, das Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Anfang November 2003 stattgefunden hat, speziell zum Fritz Rudolf Körper. Komplex Vertreibungs- und SED-Unrecht soeben einen umfassenden Bericht zur gegenwärtigen und zukünfti- gen Situation der Häftlingshilfestiftung und der Heim- Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- kehrerstiftung zugeleitet. desminister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Ebenfalls zur SED-Unrechtsbereinigung hat der Bun- Vierunddreißigsten Gesetz zur Änderung des Lastenaus- destag mit den Stimmen aller Fraktionen am 27. Novem- gleichsgesetzes soll der Ausgleichsfonds aufgelöst und ber 2003 ein weiteres Gesetz zur Änderung rehabilitati- sollen die Vertreter der Interessen des Ausgleichsfonds onsrechtlicher Vorschriften beschlossen, mit dem die abgeschafft werden. Damit setzen wir einen Auftrag des Antragsfristen nach dem Strafrechtlichen, dem Verwal- Rechnungsprüfungsausschusses des Haushaltsausschus- tungsrechtlichen und dem Beruflichen Rehabilitierungs- ses des Deutschen Bundestages vom 25. Januar 2002gesetz zugunsten der Betroffenen verlängert und die um, dem eine entsprechende Empfehlung des Bundes- Ausgleichsleistungen nach dem Beruflichen Rehabilitie- rechnungshofes zugrunde liegt. rungsgesetz angehoben werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7619

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) Hinsichtlich weiterer Änderungen im Lastenaus-Noch schlimmer ist es, dass Sie sagen, die noch offenen (C) gleichsrecht hat die Bundesregierung ihre Gesprächsbe- Fragen gehörten der Vergangenheit an. Nein, so nicht! reitschaft gegenüber den Ländern bereits ausdrücklich Erinnerungen politisch still stellen zu wollen ist nicht erklärt. Demgegenüber beschränken wir uns bei demnur sinnlos, es ist sogar kontraproduktiv. heute vorliegenden Gesetzentwurf bewusst auf die Erfül- lung des Auftrages des Rechnungsprüfungsausschusses. Frau Kollegin Elser, wir kennen uns und ich weiß, Angesichts des fortgeschrittenen Verfahrensstandes darf auch Sie wollen dies nicht. Deswegen sollten Sie unse- dieses Vorhaben nicht mit weiteren Inhalten überfrachtet rem Vorschlag zustimmen. Wir meinen, dass die noch werden. Ich denke, dies gilt insbesondere für solche, die offenen Fragen des Vertreibungs- und SED-Unrechts hier nicht ganz unumstritten sind. Dies verbieten auch durch eine einheitliche Schlussgesetzgebung unter Be- die klare Terminvorgabe für die Auflösung des Aus-rücksichtigung der Grundsätze der sozialen Gerechtig- gleichsfonds und die Abschaffung der Vertreter der Inte- keit und natürlich auch der volkswirtschaftlichen Mög- ressen des Ausgleichsfonds bis Ende dieses Jahres. lichkeiten abschließend geregelt werden, so wie es der Bundesrat – auch mit Stimmen von SPD-regierten Län- Meine Damen und Herren, ich bitte um Zustimmung. dern – beschlossen hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Max Stadler [FDP]) Meine Damen und Herren, weil Ihr Gesetzentwurf kein Gesamtkonzept vorsieht, greift er zu kurz. Er ist, Herr Staatssekretär, auch nicht praxisdienlich, weil er Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nur die Auflösung des Ausgleichsfonds, nicht aber die Das Wort hat jetzt der Abgeordnete dringend Erwin notwendigen weiteren Verwaltungsvereinfa- Marschewski. chungen zum Abschluss des Lastenausgleichs vorsieht.

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ich habe in Ihren Ausführungen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und keinerlei Begründung dafür gehört, warum Sie nicht un- Herren! Zu ist der Vorhang nicht – deswegen nur Berei- serem Vorschlag folgen, nigung. Ich glaube, ich habe dies 1992 bei der Verab- (Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär: Ich schiedung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes zu habe nur zur Sache geredet!) Recht gesagt; denn es war allen klar: Der Versuch, un- sägliches Leid von Kriegsgefangenen, Heimkehrern, aus nach einer kritischen Bestandsaufnahme nun wirklich zu der Heimat Vertriebenen und Aussiedlern zu mildern, einer Schlussgesetzgebung zu kommen. Ihr jetzt einfach (B) bedeutete keineswegs einen gesetzgeberischen Ab-so gesagtes Wort, Sie seien bereit, darüber zu reden,(D) schluss. reicht doch nicht aus. Es reicht deswegen nicht aus, weil hier Notwendiges und Gerechtes geregelt werden muss, Es war nur ein wichtiges Glied in der Kette, die beim zum Beispiel das Schicksal deutscherZwangsarbeiter. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz anfing und über das Es geht um Menschen, die bisher keine Leistungen im Entschädigungsgesetz sowie die Leistungen an dieRahmen der Kriegsfolgengesetzgebung erhalten haben Claimsconference bis hin zur deutsch-polnischen und und die, als der Krieg zu Ende ging, in Ost- oder in Süd- deutsch-tschechischen Aussöhnung verlief. Soweit dies osteuropa oder in der Sowjetischen Besatzungszone für überhaupt möglich erschien, waren bei dem damals be- die Verwüstungen und Gräuel büßen mussten, die die kannten Unrecht Heilung und Versöhnung die Ziele. Nazis angerichtet hatten. Dass darüber hinaus offene Fragen des Vertreibungs- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE unrechts und des SED-Unrechts neue Lösungen von uns GRÜNEN]: Auch in Frankreich!) verlangten, zeigten die nachfolgenden 15 Jahre. Herr Staatssekretär, ich nenne die Zwangsarbeiter, die DDR- Ich kenne solche Fälle aus meiner Heimatstadt Reck- Heimkehrer, die Opfer der SED-Diktatur und den Be- linghausen. Die Menschen mussten 16 Stunden und reich von Vertriebenenzuwendungs- und Lastenaus-mehr Zwangsarbeit unter härtesten Bedingungen leisten, gleichsgesetzen. zum Beispiel in unter Wasser gesetzten Zechen ir- gendwo im Ural. Besonders betroffen waren Frauen. Sie (Beifall bei der CDU/CSU) wurden nach Massenvergewaltigungen in Viehwaggons Auch die hier betroffenen Menschen wurden entrechtet, gesperrt, mussten vom zwölften bis zum 22. Lebensjahr misshandelt und ausgebeutet. Deswegen haben auch sie arbeiten. Viele kehrten nicht zurück und wer die Lager das Recht, zumindest mit einer humanitären Geste zur überlebte, war für immer gezeichnet oder wurde oft auch Würdigung ihres Schicksals bedacht zu werden. ausgestoßen. Diese Fragen bedürfen nun wirklich einer Antwort dieses Parlaments, einer humanitären Geste. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir meinen, dass dies im Rahmen einer Schlussgesetz- Herr Staatssekretär Körper, es ist überhaupt nicht zu gebung erfolgen sollte. akzeptieren, dass die Bundesregierung und die sie tra- (Beifall bei der CDU/CSU) gende Koalition sagen, es gebe im Bereich des Kriegs- folgenbereinigungsrechtes keinen Regelungsbedarf Gleiches gilt für einen zweiten Bereich, für die DDR- mehr. Sie haben vorhin gesagt, es sei sachlich nicht ge- Heimkehrer und für die Opfer der SED-Diktatur. 1992 rechtfertigt. Nein, Herr Staatssekretär, das ist schlimm! haben wir die Ausdehnung der bestehenden Stiftungen 7620 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) auf die neuen Bundesländer beschlossen. Wir haben de- politischen Vorteils tun. Genauso wenig wollen wir Ur- (C) nen, die in Kriegsgefangenschaft waren, die verschleppt sachen vergessen, Leid mit Leid oder Schuld mit Schuld wurden oder die in Gefängnissen der ehemaligen DDR verrechnen. Auch wollen wir nicht vergleichen oder ana- leiden mussten, entsprechend ihrer Bedürftigkeit helfen logisieren, weil dies Irrtümer, unrühmliche, verworfene können. Wie meine Freunde Hartmut Büttner und Christa Traditionen waren und sind. Reichard fordere ich, die finanzielle Ausstattung der Stif- Eines werden wir tun müssen, wie es Ute Frevert in tung für politische Häftlinge und die der Heimkehrerstif- der Beilage zum „Parlament“ ausdrückt: tung sicherzustellen. Denn nur dies ist gerecht, so meine ich. An das Leid zu erinnern, das der Krieg im eigenen Land und seine Folgen über die deutsche Zivilbe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. völkerung gebracht haben, ist legitim und wichtig. Dr. Max Stadler [FDP]) Ich denke, dies ist insbesondere eine Aufgabe von Poli- Gerecht wäre es auch, Lücken im Vertriebenenzuwen- tik und Politikern. dungsgesetz in einer Schlussgesetzgebung zu schließen. Ich nenne die Fristen für die Antragstellung oder den Herzlichen Dank. Ausschluss von Leistungen für diejenigen, die nach dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. 3. Oktober 1990 die DDR in Richtung Bundesrepublik Dr. Max Stadler [FDP]) verlassen mussten. Alle diese Fälle müssen wir anpa- cken. Wir schlagen vor, zur Finanzierung auch die Rück- flüsse in den Lastenausgleichsfonds zu verwenden, die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bei Vermögensrückgaben in den Vertreibungsgebieten Dies ist eine schöne Debatte, in der einige Redner so- anfallen. gar ihre Redezeit nicht voll ausnutzen. Dies gilt auch für das Innenministerium. Meine Damen und Herren, es drängt sich auf – wir sa- (Heiterkeit) gen: es ist zwingend –, sich der Lösung dieser Probleme zu stellen, weil die Menschen darauf warten, weil sie zu Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silke Stokar. lange gewartet haben und weil sie gerecht behandelt werden wollen. Deswegen ist es eben falsch, HerrSilke Stokar von Neuforn(BÜNDNIS 90/DIE Staatssekretär, in der Öffentlichkeit gewissermaßen eine GRÜNEN): Schlussakte anzubieten, die diese Probleme nicht regelt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Für uns ist ein weiteres Problem, dass wir diese Fra- weiß, ehrlich gesagt, nicht so genau, zu welchem Thema der Kollege Marschewski eben gesprochen hat. Ich habe (B) gen nicht im Konsens behandeln. Es gibt ein schönes (D) Beispiel in der neueren Geschichte: Beim Lastenaus-vor, zur 34. Änderung des Lastenausgleichsgesetzes zu gleichsrecht haben wir damals gemeinsam einen Kon- reden, weil dies das Thema der Tagesordnung ist. sens gefunden. Die Lastenausgleichsregelungen haben Herr Staatssekretär Körper hat dargestellt, worum es die verheerenden materiellen Folgen von Flucht undin diesem Gesetzentwurf geht. Da seine Darstellung Vertreibung gemildert. Durch die Leistungen wurde der richtig war, habe ich nicht vor, das Ganze zu wiederho- Neuanfang von Millionen unterstützt, die kaum mehr als len. ihr nacktes Leben hatten retten können. Eigentlich hätten wir diese Vorlagen ohne Aussprache Was besonders wichtig ist: Der Lastenausgleich hat im Plenum verabschieden können. Ich möchte aber nach die Integration von 10 Millionen Flüchtlingen und Ver- der Rede von Herrn Marschewski zu einigen Punkten, triebenen gefördert. Heute würde man diese Integration die vom Bundesrat gefordert worden sind, weniger mo- der Flüchtlinge in die westdeutschen Länder auf Neu- ralisch und dafür mehr inhaltlich Stellung nehmen, weil deutsch eine Erfolgsstory für unser Land, aber, wie ich das meiner Meinung nach die Kernstreitpunkte sind. Der meine, auch für Gesamteuropa nennen. Dies haben Re- Bundesrat fordert die Zusammenlegung der Stiftung für gierung und Opposition gemeinsam gemacht und ge-ehemalige politische Häftlinge mit der Heimkehrerstif- meinsam getragen. tung. Die Fraktion der Grünen lehnt diese Forderung Deswegen halte ich es nicht für richtig, Herr Staatsse- entschieden ab. Wir sind uns darin mit den Stiftungen ei- kretär, dass Sie sich im Namen der Bundesregierung von nig. dieser Gemeinsamkeit lösen. Sie wissen doch selbst: Ihr Genau in dieser Frage kann es eben nicht um Verwal- Gesetzentwurf regelt einen ganz begrenzten Teil. Wenn tungsvereinfachung und Effizienz gehen; denn die Stif- Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, dass dieser tungen haben nicht nur den Auftrag, Anträge zu bear- Gesetzentwurf alles andere als vernünftig ist. Das müss- beiten. Für die sehr unterschiedlichen Opfergruppen sind ten Sie auch angesichts Ihrer Kenntnisse von der Verwal- diese Stiftungen nicht nur ein Ort der Beratung über An- tung wissen. Er enthält bis hin zu dem Streit über dieträge, sondern diese Stiftungen sind für die Opfer auch Frage, ob der Bundesrat zustimmen muss, eine ganzeein sozialer und kultureller Halt. Sie sind Stätten der Be- Reihe von Widersprüchen. Auch eine solche Frage sollte gegnung. Die Stiftungen haben auch die Aufgabe, das man im Konsens lösen. Erlebte, die Erinnerung an Opferschicksale an andere Generationen weiterzugeben. Da dies nicht so ist, bleibt es der Union vorbehalten, Richtiges und Gerechtes zu verlangen. Dabei will dies (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne niemand und ich schon gar nicht wegen des möglichen Kastner) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7621

Silke Stokar von Neuforn (A) Ich habe überhaupt nicht nachvollziehen können, wie Dr. Max Stadler (FDP): (C) die CDU/CSU auf die Idee kam, jetzt sei der richtige Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Zeitpunkt, hier eine Verwaltungsvereinfachung vorzu- Herren! Die FDP stimmt dem Gesetzentwurf zu. Der nehmen und diese Stiftungen mit völlig unterschiedli- Bundesrechnungshof und der Rechnungsprüfungsaus- chen Menschen und Lebensschicksalen zusammenzule- schuss des Bundestages haben die Empfehlung gegeben, gen. den Sondervermögenausgleichsfonds aufzulösen. Diese Anregung beruht darauf, dass der Lastenausgleich Das ist mit meiner Fraktion nicht zu machen. Wir ha- mehr als 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ben in dem Antrag, den wir im nächsten Plenum behan- weitestgehend abgeschlossen ist, sodass es ausreicht, die deln werden, deutlich gemacht, dass wir den Zeitpunkt verbliebenen Einnahmen und Ausgaben unmittelbar für eine Schlussstrichdebatte jetzt in keiner Weise ge- über den Bund abzuwickeln. So die Empfehlung der bei- geben sehen. Denn wir haben gerade beantragt, die An- den Gremien Bundesrechnungshof und Rechnungsprü- tragsfristen für die Stiftung zu verlängern. Dieses ist eine fungsausschuss. ganz konkrete Politik im Sinne der Opfer. Diese Argumentation überzeugt. Folglich ist auch die Ich möchte nun zu dem zweiten Punkt, die Vorschläge Vertretung der Interessen des Ausgleichsfonds abzu- aus Bayern betreffend, kommen. Die grüne Fraktion gab schaffen. Nur darum geht es bei dem Beschluss, der es damals noch gar nicht – sogar mich gab es damalsheute zu fassen ist. noch nicht –, (Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär: So (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ ist es!) CSU]: Im Bundestag nicht, aber sonst schon! So jung sind Sie nicht!) Daher ist die Argumentation der CDU/CSU-Fraktion an anderer Stelle wieder aufzugreifen. Der Kollege als Konrad Adenauer 1952 – ich bin 1953 geboren – die Marschewski hat gerade ausgeführt, dieser Gesetzent- Entscheidung getroffen hat, die von Deutschen geleistete wurf greife zu kurz, denn es sei ein Gesamtkonzept für Zwangsarbeit als nicht entschädigungsfähiges Kriegs- eine umfassende Schlussgesetzgebung zur Kriegsfolgen- folgenschicksal zu bewerten. Ich kann nicht nachvoll- beseitigung notwendig. ziehen – ich halte das auch für eine innen- und außenpo- litisch schädliche Debatte –, dass die Bewertung von Als ich diese Argumentation in den Ausschüssen das Konrad Adenauer aus dem Jahre 1952 von Ihnen über- erste Mal gehört habe, war ich zunächst ein wenig über- haupt nicht aufgenommen wird. Die Gründe, warum Sie rascht. Denn bei der Debatte über die Zwangsarbeiter- 60 Jahre nach Kriegsende eine Debatte über die Auf-entschädigung vor gut drei Jahren war es doch immer (B) nahme neuer Opfergruppen in die Kriegsentschädi-wieder die Union, die gesagt hat, das sei ein Ausnahme- (D) gungsleistung eröffnen, sind für mich unverständlich. fall mit ganz speziellen Implikationen, aber es dürfe auf keinen Fall dazu kommen, dass jetzt noch neue und wei- (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler tere Forderungen im Zusammenhang mit der Aufarbei- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tung der Nazidiktatur und den Folgen des Zweiten Welt- krieges erhoben würden. Ich halte für richtig, was in dem Lastenausgleichsge- setz geregelt wird. Das ist eine vernünftige Entschei- Diese Position hat seinerzeit auch die CDU/CSU- dung. Ihr Gang durch die Geschichte ist an dieser Stelle FDP-Bundesregierung vertreten. Insofern war zwar die völlig verfehlt. Wir sollten zu jedem einzelnen Punkt erst Argumentation der Union überraschend, aber ich be- dann reden, wenn er aufgerufen wird. Es ist zugesagt, grüße es, dass die CDU/CSU ihre damals vertretene Po- dass das Bundesfinanzministerium eine Bilanz über die sition inzwischen nicht mehr aufrechterhält. Denn auch bisher geleisteten Entschädigungen im Rahmen deswir von der FDP sind der Auffassung, dass es noch un- Kriegsfolgenrechts vorlegt. Warten wir doch die Be-gelöste Fragen gibt. Kollege Marschewski hat das Bei- richte ab. Der Bericht des Innenministeriums liegt erst spiel einer symbolischen Entschädigung als Anerken- seit heute auf dem Tisch. Meine Damen und Herren von nung für erlittenes Unrecht von Kriegsheimkehrern der CDU/CSU, ich verstehe daher die Rede Ihres Kolle- erwähnt, die ihren Wohnsitz in der damaligen DDR ge- gen nicht. Das war eine Rede zum falschen Antrag. nommen haben und daher an den Entschädigungsleistun- gen der Bundesrepublik Deutschland keinen Anteil hat- (Zuruf von der CDU/CSU: Die war ein biss- ten. Die FDP hat in diesem Hohen Hause erklärt, dass chen zu hoch für Sie!) wir diese Forderung für berechtigt halten. Bestimmte Ansätze aus Bayern sind mit meiner Frak- Ich darf die Kollegin Stokar von den Grünen darauf tion in dieser Form nicht zu verwirklichen. Ihre Umset- hinweisen, dass die Grünen wohl kaum die Position ver- zung ist schon gar nicht im Interesse der SED-Opfer, die treten können, dass alles aufgearbeitet und erledigt ist. zu vertreten Sie vorgeben. Das war hoffentlich nicht der Tenor Ihrer Aussagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE und bei der SPD) GRÜNEN]: Nein! Das habe ich auch nicht ge- sagt!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Denn gerade die Grünen haben doch immer wieder an Das Wort hat der Kollege Dr. Max Stadler. die so genanntenvergessenen Opfer erinnert. Ich 7622 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Max Stadler (A) glaube, Sie haben sogar im Koalitionsvertrag die Verein- Wertpapierbereinigungen und Zahlungen der Länder und (C) barung getroffen, diesen Aspekt zu prüfen. der Defizithaftung des Bundes. Für meine Fraktion stelle ich fest: Es gibt verschie- Es ist also eine Verwaltungsvereinfachung, wie sie dene Schicksale, über die noch zu reden ist. Sofern der – das sage ich an die Adresse der Opposition gewandt – Begriff noch nicht abgenutzt ist, Herr Staatssekretär,im Bundesrat immer wieder gefordert worden ist. Aus sage ich für die FDP eine ergebnisoffene Prüfung zu. Gründen der Kostenersparnis und wegen der Haushalts- klarheit beschließen wir heute den Gesetzentwurf der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bundesregierung und können damit den Ausgleichs- der CDU/CSU – Dr. Dieter Wiefelspütz fonds auflösen. [SPD]: Wo haben Sie denn das her, Herr Stadler? Was meinen Sie denn damit?) Die verbliebenen Einnahmen und Ausgaben des Fonds werden unmittelbar über den Bund abgewickelt. Diese soll aber an anderer Stelle erfolgen. Was heute zu Damit halten wir uns strikt an die Empfehlung nicht nur beschließen ist, ist eher echtstechnischer r Natur. Über des Bundesrechnungshofes, sondern auch an die der Mi- die Probleme, die der Kollege Marschewski angespro- nisterpräsidenten der Länder. Schon der Zeitrahmen chen hat, werden wir hier zu einem späteren Zeitpunkt 2004 verbietet die geforderte Verknüpfung mit einem noch einmal beraten. Gesamtkonzept für die Schlussgesetzgebung zur Kriegs- (Beifall bei der FDP) folgenbereinigung. Nun streiten wir heute vor allem über den Vorschlag Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der CDU/CSU, mit der Verabschiedung des Vierunddrei- Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin ßigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsge- Marga Elser, SPD-Fraktion. setzes noch weitere Dinge zu beschließen, die schon rein formal nichts mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu tun haben. Sie fordern nicht nur eine Schlussgesetzge- Marga Elser (SPD): bung, sondern auch neue Leistungsgesetze sowie eine Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- Entschädigungsregelung für Heimkehrer im Gebiet der ginnen und Kollegen! Ich kann mich noch sehr gut daran ehemaligen DDR. Ich erinnere daran, dass wir den ent- erinnern, wie sich meine Mutter früher immer über die sprechenden Gesetzentwurf der CDU/CSU am 16. Okto- Lastenausgleichszahlungen mokiert hat. Wir warenber letzten Jahres nach sorgfältiger Beratung im Bundes- selbst nicht reich, aber wir hatten ein Haus und waren tag abgelehnt haben. nicht ausgebombt. Ich denke, heute können wir alle sehr (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: (B) stolz darauf sein, dass es uns gelungen ist, nach dem (D) Krieg vielen Menschen – vor allem den Heimatvertrie- Das war schlimm genug!) benen – zu helfen. Wir haben unter recht schwierigenDiese Forderung ist zu Zeiten der Kohl-Regierung nicht Bedingungen vielen geholfen, wieder Fuß zu fassen und erhoben worden, sondern erst jetzt. eine neue Existenz aufzubauen. Darauf können wir alle sehr stolz sein. (Beifall bei der SPD – Hartmut Büttner [Schö- nebeck] [CDU/CSU]: Auch Ihre Leute haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das genauso gefordert!) DIE GRÜNEN) Außerdem fordern Sie eine Entschädigungsregelung Deshalb – damit komme ich zum eigentlichenin Form einer so genannten Opferpension für die Opfer Thema – können wir auch mit gutem Gewissen an die der SED-Diktatur. Es gibt noch weitere Forderungen Auflösung des Ausgleichfonds des Lastenausgleichsge- – ich möchte jetzt nicht alle aufzählen –, die ebenfalls setzes herangehen. Die Leistungsseite des Lastenaus-keinen sachlichen Zusammenhang mit dem jetzt zu bera- gleichsgesetzes hat ihre Schlussphase erreicht. Mit dem tenden Entwurf eines Vierunddreißigsten Gesetzes zur vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung istÄnderung des Lastenausgleichsgesetzes aufweisen. demnach das einzige Ziel verbunden – ich betone das ausdrücklich, auch wenn meine Vorredner das schon Das Lastenausgleichsgesetz muss und wird bis auf festgestellt haben –, den Ausgleichsfonds aufzulösen. weiteres fortbestehen; denn es sind noch nicht sämtliche Dann kann auch die Vertretung der Interessen des Aus- Ansprüche abgewickelt. Deshalb brauchen wir auch gleichsfonds abgeschafft werden. keine Verfahrensvereinfachungen zum Abschluss des gesamten Lastenausgleichs, wie dies der Bundesrat Mehr als 55 Jahre nach Kriegsende können wir heute gefordert hat. Ich sage es noch einmal: Die geplanten das Sondervermögen im „Ausgleichsfonds für zweck- Änderungen stehen in keinem Zusammenhang mit gebundene Ausgleichsabgaben“ auflösen, weil es seine Entschädigungsregelungen für weitere Kriegsopfer- originären Aufgaben erfüllt hat. Das wollen auch dergruppen. Bundesrechnungshof und der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages. Ich habe außerdem den Eindruck – diesen haben Sie heute wieder bestätigt –, dass Sie das gleiche Geld für Zu den Aufgaben des Ausgleichsfonds zählen vor al- ganz verschiedene Bereiche ausgeben wollen. Aber das lem die Zahlung von Kriegsschadenrenten und Unter- ist haushaltstechnisch nicht möglich. Wir werden – Herr haltshilfen. Finanziert wurde der Fonds durch Einnah- Marschewski, bitte hören Sie mir zu; das ist ganz wich- men aus der Tilgung von Darlehen, Einnahmen austig – auf der Grundlage des zugeleiteten Berichts zusam- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7623

Marga Elser (A) men mit dem Bundesinnenministerium zügig feststellen, ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin(C) wie es um eine Heimkehrerstiftung und um eine Stiftung Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund für politische Häftlinge bestellt ist. Auf dieser Basis kön- Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- nen wir im Deutschen Bundestag ganz seriös über eine tion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Schlussgesetzgebung zur Kriegsfolgenbereinigung re- Hoppe, Volker Beck (Köln), Antje Hermenau, den. weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Herzlichen Dank. Die Entwicklungszusammenarbeit der EU (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ konstruktiv weiterentwickeln – Effizienz und DIE GRÜNEN) Nachhaltigkeit verbessern

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Drucksache 15/2338 – Ich schließe die Aussprache. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Entwicklung (f) desregierung eingebrachten Entwurf eines Vierunddrei- Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ßigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsge- setzes, Drucksache 15/1854. Der InnenausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die empfiehlt auf Drucksache 15/2230, den Gesetzentwurf Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Ralf stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion. ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koa- lition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Dritte Beratung gen! „Brüssel lässt hungern“, so lautete vor Monaten die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Überschrift eines Wochenzeitungsartikels über die euro- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –päische Entwicklungszusammenarbeit. Hinter diesem Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- – fraglos provokanten und überspitzten – Titel stand eine wurf ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP ge- sorgfältige Recherche zu den Problemen der europäi- schen EZ. Der Geschäftsführer der Deutschen Welthun- gen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. (D) (B) gerhilfe sprach in diesem Zusammenhang von einer Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b so- „kafkaesken Veranstaltung“. Die britische Entwick- wie Zusatzpunkt 6 auf: lungsministerin Claire Short, eigentlich nicht als konser- 13 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petervative Parteigängerin bekannt, erklärte, die europäische Weiß (Emmendingen), Dr. Christian Ruck,Entwicklungspolitik sei eine Schande. Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und Sicherlich muss man sich nicht jede dieser Formulie- der Fraktion der CDU/CSU rungen zu Eigen machen. Aber sie beschreiben gleich- wohl die unbestreitbaren Missstände europäischer Ent- Stabilisierung der Lage in Bolivien wicklungszusammenarbeit, die sich unter anderem in – Drucksache 15/1980 – Ineffizienz und Überbürokratisierung ausdrücken. Eines Überweisungsvorschlag: der hervorstechendsten Merkmale dieser Missstände ist Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der völlig unzureichende Mittelabfluss. Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Diese Probleme – auch das wird schon bei einer ober- Innenausschuss flächlichen Beschäftigung mit der europäischen EZ Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit schnell deutlich – durchziehen alle und nicht nur ein- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zelne Bereiche dieses Politikfeldes. Das heißt, sie betref- Haushaltsausschuss fen selbstverständlich das Kernstück der europäischen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ralf EZ, sprich: die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten. Brauksiepe, Dr. Christian Ruck, ,Die nicht abgerufenen Mittel haben sich dort inzwischen weiterer Abgeordneter und der Fraktion derauf 29 Milliarden Euro summiert. CDU/CSU Sie betreffen aber auch andere Ländergruppen und Mehr Mut zur Reform der EU-Entwicklungs- Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit. So ist etwa zusammenarbeit der Mittelabfluss beim MEDA-Programm für die Mit- telmeeranrainerstaaten noch schlechter. Auch bei der – Drucksache 15/1215 – Zusammenarbeit mit den Staaten Asiens und Latein- Überweisungsvorschlag: amerikas tun sich geradezu Abgründe auf. So war fünf Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Jahre nach dem verheerenden Wirbelsturm „Mitch“ in Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Mittelamerika im Jahr 1998 noch kein einziger der zu- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gesagten mehreren 100 Millionen Euro abgeflossen und 7624 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Ralf Brauksiepe (A) die EU- Kommission hat sich inzwischen entschlossen, Trennung das Hauptanliegen unseres Antrages. Wir for- (C) rückwirkend mehrere Milliarden Euro zu streichen, die dern die Bundesregierung auf, in enger Abstimmung mit bereits vor 1995, also vor fast zehn Jahren, für Latein- den anderen EU-Staaten darauf hinzuwirken, dass die amerika zugesagt waren und noch immer nicht abgeflos- Europäische Union ein einheitliches und WTO-konfor- sen sind. mes handels- und entwicklungspolitisches System für sämtliche Entwicklungspartnerstaaten der EU schafft. Vor dem Hintergrund solcher erschreckenden Fakten Das wäre eine angemessene Antwort auf Probleme von ist immerhin anzuerkennen, dass das Problembewusst- Ineffizienz und Überbürokratisierung, die allseits beklagt sein in Brüssel in diesen Fragen zumindest in Ansätzen werden. Das schließt natürlich auch ein, dass die ent- vorhanden zu sein scheint. Der gemeinsame Standpunkt wicklungspolitischen Kompetenzen bei einem EU-Kom- von Rat und Kommission zur Entwicklungszusammen- missar – nicht unbedingt beim jetzigen Kommissar – arbeit vom November 2000, in dem unter anderem die bzw. einer entwicklungspolitischen Generaldirektion zu- Armutsbekämpfung als Hauptziel der europäischen sammengeführt werden. Entwicklungszusammenarbeit festgeschrieben wurde, war zweifellos ein Meilenstein auf dem Weg zum Besse- (Beifall bei der CDU/CSU) ren. Wir halten die damit verbundenen Fortschritte nicht Weil ich finde, dass da manchmal ein falscher Zun- für ausreichend; wir wollen sie aber sehr wohl ausdrück- genschlag hineinkommt, will ich in diesem Zusammen- lich anerkennen. hang betonen, dass der Abfluss von Geldern als solcher Neben den vielen kritischen Stimmen zur europäi-natürlich kein Selbstzweck sein kann. Deswegen sind schen Entwicklungszusammenarbeit gibt es vereinzelt wir auch dagegen, jetzt verstärkt auf die Förderung von auch sehr unkritische Stimmen. Eine davon ist die von Großprojekten zu setzen oder gleich direkte Budgethilfe Rot-Grün in Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kolle- zu geben, wie es sich die Europäische Kommission lei- gen, Sie haben sieben Monate gebraucht, um in diesen der auf die Fahnen geschrieben hat. Das ist der falsche Tagen, kurz vor Toresschluss, einen Gegenantrag zu un- Weg. Wenn sich Ineffizienzen nicht nachhaltig bekämp- serem Antrag zur Reform der europäischen Entwick-fen lassen, dann sind wir genauso wie die britische Ent- lungszusammenarbeit vorzulegen. wicklungsministerin dafür, ernsthaft eine Rückführung dieser Gelder in die nationalen Haushalte zu prüfen. (Karin Kortmann [SPD]: Wir haben uns erst einmal in Brüssel sachkundig gemacht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Herausgekommen ist ein erschreckend konzeptionsloses Rot-Grün setzt sich im vorliegenden Antrag leider „Weiter so“. So heißt es beispielsweise in dem rot-grü- nicht im Geringsten mit dieser Problematik auseinander, nen Antrag zum EU-AKP-Abkommen, auf dessen Re- die in Brüssel genauso diskutiert wird wie hier. Ihr An- (B) (D) kordstau beim Mittelabfluss ich bereits hingewiesentrag steckt stattdessen voller Allgemeinplätze. Insoweit habe, es sei – ich zitiere wörtlich – „sinnbildlich für eine wäre es noch zu ertragen, aber es wird natürlich beson- moderne Entwicklungspolitik“. Liebe Kolleginnen und ders peinlich, wenn ausgerechnet Sie von der EU einfor- Kollegen von den Regierungsfraktionen, das glaubt doch dern, dass Maßnahmen im Kampf gegen den Terroris- nicht einmal die Europäische Kommission selbst. Einen mus oder dassbewaffnete Friedenseinsätze nicht Antrag, in dem Sie so etwas formulieren, hätten Sie sich zulasten der für die nachhaltige Bekämpfung von Hun- und uns besser erspart. ger und Armut bereitgestellten Ressourcen verwendet werden sollten, und wenn Sie fordern, dass Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lungsgelder der EU nicht für sicherheitspolitische und neten der FDP) militärische Einsätze zweckentfremdet werden dürfen. Die Mitglieder unserer Fraktion im AwZ haben sich Das ist wirklich peinlich; denn genau das tun Sie doch vor Monaten in Brüssel mit der Situation der europäi- im nationalen Rahmen und im Hinblick auf den Bundes- schen Entwicklungszusammenarbeit ausführlich ausein- haushalt. Der jüngst beschlossene Kunduz-Einsatz ist ander gesetzt. Ich will Ihnen dafür nur zwei wichtige In- ein beredtes Beispiel dafür. Die Mittel für die begleiten- dizien nennen: Unsere eigene Ständige Vertretung in den entwicklungspolitischen Maßnahmen dieses militä- Brüssel kritisiert die Strukturen der europäischen EZ als rischen Einsatzes müssen doch aus dem ohnehin knap- schwer durchschaubar. Die Generaldirektion Entwick- pen BMZ-Etat erwirtschaftet werden, das heißt, sie lung selbst hält die regionale Aufteilung der EZ in AKP- müssen an anderer Stelle eingespart werden. Entwick- Länder, ALA-Länder, Mittelmeeranrainer und die Re- lungspolitische Leistungen müssen gekürzt werden, da- formstaaten Mittel- und Osteuropas inzwischen für über- mit diese militärischen Notwendigkeiten erfüllt werden holt. Beispiele für eine völlig unsachgerechte Länder- können. Sie verlangen von der EU, etwas nicht zu tun, einteilung nach regionaler Zuordnung wie im Falle von was Sie im nationalen Kontext selbst tun. Das ist nun Mauretanien und Jemen würde die Generaldirektion si- wirklich heuchlerisch. cherlich auch den rot-grünen Kolleginnen und Kollegen gern nennen und erläutern, wenn da Erläuterungsbedarf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- besteht. neten der FDP) Diese regionale Aufteilung ist im Übrigen auch im Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs- Hinblick auf ihre WTO-Konformität zunehmend pro- koalition, machen Sie national Ihre Hausaufgaben und blematisch. Deshalb ist die Aufhebung dieser künstli- unterstützen Sie uns bei der dringend notwendigen Re- chen, auf überholten kolonialen Traditionen beruhenden form der europäischen Entwicklungszusammenarbeit! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7625

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Ich sage ganz deutlich: Natürlich sind die Missstände in Meine Damen und Herren, eine Tatsache kommt viel (C) der europäischen EZ und die Kritik daran nicht völlig zu kurz: Es ist offensichtlich viel zu wenig bekannt, dass neu. Das erste EU-AKP-Abkommen stammt noch aus die EU und ihre Mitgliedstaaten über 50 Prozent aller der Zeit der sozialliberalen Koalition. Missstände gab es ODA-Mittel aufbringen. Die EU ist damit weltweit ei- in der europäischen EZ natürlich auch zu unserer Regie- ner der größten Geldgeber für Entwicklungshilfeleistun- rungszeit. Sie werden allerdings leider immer schlim- gen. Zugleich ist überhaupt nicht wegzudiskutieren mer, was zum Beispiel den Mittelabfluss angeht. Aber – deshalb verstehe ich nicht, warum der Kollege weil das so ist, müsste es Ihnen doch eigentlich relativ Brauksiepe hier eine Zuspitzung vorgenommen hat –, leicht fallen, hier einmal über Ihren eigenen parteipoliti- dass eine Reform dieses Politikbereichs, also unseres ur- schen Schatten zu springen und in einem parteiübergrei- eigenen Bereichs, auf EU-Ebene notwendig ist. Es ist fenden Ruck an der Verbesserung der europäischen Ent- bekannt, dass dieser Reformprozess im Jahr 2000 durch wicklungszusammenarbeit mitzuwirken. Dazu fordern Kommission, den Rat und das Europaparlament in Gang wir Sie auf. gesetzt wurde. Ebenfalls bekannt ist, dass dieser Re- formprozess noch nicht abgeschlossen ist. Trotzdem dür- Herzlichen Dank. fen wir aber nicht übersehen, dass in manchen Bereichen ermutigende und bemerkenswerte Fortschritte zu erken- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen sind. neten der FDP – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wir haben immer schon gesagt: (Markus Löning [FDP]: Wo denn?) Im Ruck liegt die Zukunft! – Karin Kortmann [SPD]: Was kriegen Sie dafür?) Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, Herr Löning, dass Verwaltungsabläufe und Umsetzungsprozesse ver- einfacht wurden. Ich will gar nicht bestreiten, dass dieser Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Weg weiter gegangen werden muss; aber es wäre unfair, Nächster Redner ist der Kollege Detlef Dzembritzki, wenn wir nicht zur Kenntnis nehmen würden, dass auf SPD-Fraktion. europäischer Ebene schon erste Schritte gemacht worden sind. Ich weiß, dass die Schaffung von Europe Aid von vielen kritisch gesehen wird. Hiermit wird aber durch Detlef Dzembritzki (SPD): Steigerung der Effizienz eine Antwort auf die adminis- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! trative Situation der Europäischen Union gegeben. Wie man hier schon mit einem kleinen Ruck Freude be- reiten kann, ist bezeichnend, Herr Brauksiepe; aber ich Seit Beginn dieser Reformbemühungen sind von der gönne Ihnen diese Freude. Europäischen Union gemeinsam mit den Partnern des (B) Südens 60 Länderstrategiepapiere erarbeitet worden,(D) Ich will darauf hinweisen, dass Ihre Argumentation über 40 davon wurden bereits verhandelt. Sie bieten ge- zu der Antragseinbringung ein bisschen merkwürdig ist, rade für ein arbeitsteiliges Agieren der Europäischen lieber Herr Kollege. Sie wissen genau, dass sich die ent- Union und ihrer Mitgliedstaaten eine wichtige Grund- sprechende Arbeitsgruppe der SPD-Fraktion in Brüssel lage. sachkundig gemacht hat und sich sehr intensiv mit die- Ich selbst habe mich in den zurückliegenden Jahren sem Thema auseinander gesetzt hat. Wir haben das sehr stark und intensiv immer wieder mit ECHO beschäf- Thema dann in unserem Fachausschuss behandelt. Wir tigt, einer Institution, die dazu geschaffen wurde, um bei haben Experten in den Ausschuss gebeten, um uns nicht Katastrophen zu helfen. Wenn man sich die letzten Be- nur ein Bild von der Situation des europäischen Ent- richte anschaut, wird man feststellen, dass hier erhebliche wicklungsfonds, sondern ein generelles Bild zu machen. Veränderungen stattgefunden haben. Die Forderung – ich Ich verstehe deswegen auch nicht so recht – jedenfalls will das hier bewusst noch einmal einbringen –, die zum was die grundsätzliche Auseinandersetzung angeht – die Beispiel unser Kollege Werner Schuster immer wieder merkwürdige Schaufensterrede, die Sie hier gehalten ha- formuliert hat, nämlich dass Katastrophenhilfe in nach- ben. haltige Konzepte münden muss, wird zum Beispiel von Wir alle wissen, dass die EU in wenigen Monaten um ECHO berücksichtigt. zehn Länder erweitert wird, die – ich sage das sehr vor- Sie, Herr Kollege Brauksiepe, haben ganz locker das sichtig – über wenig Erfahrung in der Entwicklungszu- Zitat gebracht, die EU ließe die Welt verhungern. Hinter sammenarbeit verfügen. Sie sind in den vergangenensolch gewaltigen Behauptungen kann man sich sehr Jahren im WesentlichenEmpfängerländer gewesen schön verstecken. Aber wenn Sie sich mit ECHO ausei- und verfügen mit Sicherheit nicht über die Instrumente nander gesetzt hätten, wüssten Sie, dass sich diese euro- und Strukturen, die uns und der EU zur Verfügung ste- päi-sche Institution gerade um die vergessenen Krisen hen. Es wird also gerade in den nächsten Monaten ent- kümmert, die nicht mehr weltweite Aufmerksamkeit in scheidend darauf ankommen, wie wir den Prozess der den Medien erfahren. Es ist meiner Meinung nach ein Integration dieser Länder gestalten. Wir müssen allesZeichen von Anstand, dass man all diese Anstrengungen, tun, um sie in die europäische Entwicklungszusammen- die es gegeben hat, auch erwähnt und berücksichtigt. arbeit einzubeziehen. Dabei können diese Länder ihre eigenen Erfahrungen als Transformationsländer ein- Von deutscher Seite wird dieser Reformprozess unter- bringen. Ich denke, dass die europäische Entwicklungs- stützt. Wir haben das hier auch mehrfach festgestellt: politik hier über eine starke institutionelle Basis verfügt. Bundesregierung und BMZ begleiten diesen Prozess und 7626 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Detlef Dzembritzki (A) setzen sich intensiv mit den entsprechenden Fragen aus- Ich will noch ein Wort zumCotonou-Abkommen (C) einander. In Ihrem Antrag wird völlig versäumt, auf die und der Zusammenarbeit der EU mit den AKP-Staaten Chancen und Potenziale hinzuweisen, die die europäi- sagen. Ich finde es ein wenig makaber, wenn hier von sche Ebene bietet. Die EU ist doch der geborene An-der CDU/CSU-Fraktion zum Ausdruck gebracht wird, sprechpartner für Institutionen wie die UN oder diewir würden Länder privilegieren. Meine Damen und Weltbank. Gestern im Ausschuss haben wir mit Mon- Herren, von den AKP-Staaten, die mit der EU einen Ver- sieur Rischard darüber gesprochen, welche Chancen er trag haben, gehören 40 zu den weltärmsten. Wir werden für die Zusammenarbeit sieht. All das lassen Sie unbe- sie weiterhin bewusst privilegieren müssen, um sie aus rücksichtigt. diesem Status herauszuholen. Die Entwicklungspolitik der EU – ich will das hier Schauen Sie sich einmal den „AKP-EG-Kurier“ an. ebenfalls mit einbringen – braucht eine Standortbestim- Wenn man sieht, wie die Dialoge, gesicherte Dialoge, mung. auch auf Parlamentarierebene, zwischen den AKP-Staa- ten und der EU funktionieren,stellt man fest, dass ge- Diese sollte analog zu dem von Solana vorgelegten rade diese Zusammenarbeit eher beispielhaft ist, als dass Strategiepapier zur Gemeinsamen Außen- und Sicher- sie in der Weise kritisiert werden dürfte, wie Sie es ge- heitspolitik Ziele, Kernkompetenzen und Fragen der Ar- macht haben, lieber Herr Kollege Brauksiepe. beitsteilung thematisieren. Wenn wir in diesem Zusam- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Schauen menhang den Zeigefinger ein wenig kritisch gehoben Sie sich doch einmal an, wie es in den Ländern haben, weil die bis zu 250 Millionen Euro für Friedens- aussieht!) fazilitäten nicht unbedingt aus diesem Entwicklungs- fonds hätten genommen werden müssen, sondern man Ich denke, dass das Reformpapier mit dem Titel „Glo- sich hätte umschauen können, wo an anderer Stelle im bale Armut – Europas Verantwortung“, das von der europäischen Haushalt, zum Beispiel bei der Landwirt- Kommission als Reaktion vorgelegt worden ist, deutli- schaft, Mittel zur Verfügung stehen, halte ich das für be- che Wege für eine Reform aufzeigt. Wir haben diesen rechtigt; dieses Anliegen wird von uns auch weiterhin konstruktiven Weg mit unserem Antrag unterstützt. Ich verfolgt werden. denke, dass Effektivität und Nachhaltigkeit damit ihren Weg finden werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Die Stärke des Solana-Papieres ist gerade, dass damit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Ressortdenken zu überwinden versucht wird, dass DIE GRÜNEN) (B) damit eine Kohärenz zu den benachbarten Politikfel- (D) dern hergestellt werden soll. Ich denke, dass hier gerade Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die entwicklungspolitischen Vorstellungen einfließen Nächster Redner ist der Kollege Markus Löning, müssen und dass Kohärenz – ich wiederhole das – zwi- FDP-Fraktion. schen Agrar- und Handelspolitik von uns und von der EU immer wieder eingefordert werden muss. Es sind Markus Löning (FDP): doch nicht die europäischen Bürokraten, die zum Bei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen spiel die Agrarsubvention fordern, es sind doch unsere Sie mich zunächst einmal kurz auf den Bolivien-Antrag eigenen Landwirte, es sind die europäischen Landwirte, der Union eingehen. Die FDP wird diesem Antrag zu- die Subventionen für Tabak, Oliven, Milch usw. haben stimmen, und zwar vor allem weil er sehr dezidiert und wollen. Es sind nicht die Bürokraten, die eine anderesehr klar die Frage der tschuldung En anspricht, eine Struktur verhindern. Wir müssen hier politische Ent-Frage, der sich die Bundesregierung in diesem Zusam- scheidungen treffen. menhang nicht stellt, der sie sich aber seit langem hätte stellen müssen. Ich denke, dass das Scheitern der WTO-Konferenz, die vollmundig als Entwicklungsrunde angekündigt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wurde, die Spaltung zwischen Industrie- und Ent- Im Wesentlichen möchte ich auf die Anträge zur Re- wicklungsländern aufgezeigt hat. Auch am Beispiel des form der EU-Entwicklungspolitik eingehen. Wir sind Weltgipfels zur Informationsgesellschaft wird deutlich, uns alle einig, dass da viel am Hängen ist und dass eine dass die Kluft zwischen den Ländern des Nordens und bittere Reform nötig ist. Ich will zunächst ein paar Ein- des Südens nicht nur aufgrund von Handelsschranken zelpunkte herausgreifen und am Ende zwei grundsätzli- und Subventionen besteht, sondern auch, weil zum Bei- che Bemerkungen machen. spiel die Wirtschaft die Chance verschläft, ihre Interes- sen wahrzunehmen. Es ist doch makaber, dass inWir werden dem Unionsantrag zur Reform der EU- Deutschland einerseits Milliarden für UMTS-Lizenzen Entwicklungspolitik in der jetzigen Form wohl nicht zu- ausgegeben werden – jeder muss den Sinn darin selber stimmen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Er ent- suchen –, dass es aber andererseits zwischen Europa und hält einige Aspekte, die sehr gut sind und die wir auch Afrika nach wie vor keine Breitbandinternetzugängeunterstützen. Zum Beispiel das, was Sie über dieAKP- gibt. Das sind Dinge, die aufgearbeitet werden müssen. Staaten sagen, finden wir sehr richtig und unterstützen Dabei muss sich auch die Wirtschaft angesprochen füh- das auch. Wir hätten uns allerdings gewünscht, dass der len und zu Verbesserungen beitragen. Antrag ein paar Kriterien enthält, nach denen die Zusam- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7627

Markus Löning (A) menarbeit strukturiert werden soll. Soll die Strukturie- Wir wünschen uns bürgerschaftliches Engagement in der (C) rung nach bestimmten Interessenlagen erfolgen? Soll Entwicklungspolitik, finden NGOs prima; aber auf EU- sich die Zusammenarbeit, wie Herr Dzembritzki es vor- Ebene wollen wir nun unbedingt staatliche Organisatio- schlägt, an der Armutsbekämpfung orientieren? nen durchsetzen, obwohl es solche Organisationen in vielleicht gerade einmal sechs Ländern gibt. Es gibt (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Effizienter viele Länder, die solche Organisationen überhaupt nicht Einsatz!) haben. Diese Länder fühlen sich zu Recht benachteiligt. Soll die Zusammenarbeit migrationspolitische Aspekte – zum Beispiel Hinweise darauf, wie wir mit den Län- Zum Antrag der SPD mache ich auch noch ein paar dern des südlichen Mittelmeerraumes umgehen – enthal- kurze Bemerkungen. Ihre Bemerkung zumEntwick- ten? Solche Hinweise, die ich mir gewünscht hätte, feh- lungskommissar ist ähnlich scherzhaft wie die der len in Ihrem Antrag. Union. Sie meinen, dass sich mit der Neuwahl der Kom- missare neue Perspektiven auftun würden. Speziell beim Zum EEF muss man, glaube ich, nicht viel sagen. Die für die Entwicklungszusammenarbeit zuständigen Kom- Union hat sich erlaubt, einen netten Scherz in ihren An- missar müssen sich neue Perspektiven auftun: Dieser trag einzubauen. Im Antrag steht unter anderem – ich zi- Kommissar muss weg. tiere –: „ohne dabei eine Abnahme von Qualität und Ef- fizienz … zu riskieren.“ Ich glaube, an dieser Stelle gibt Nach unserer Meinung ist die EU gut beraten – darauf es nicht viel zu riskieren. Noch ineffizienter kann diescheint es auch hinauszulaufen –, die EU-Entwicklungs- EU-Entwicklungszusammenarbeit kaum werden. zusammenarbeit der Zuständigkeit des Außenkommis- sars zuzuordnen. Um eine integrierte Politik zu gewähr- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der leisten – das wird auch hier, auf nationaler Ebene, SPD) gefordert –, muss dieses Thema der Außenpolitik zuge- Wir sind uns darüber einig, dass die Mittel schneller ordnet werden. Ihre Forderung nach einer Abgrenzung abfließen müssen. Was den Rückfluss angeht, sind wir zur Sicherheitspolitik und Ihre anderen Forderungen in allerdings anderer Meinung. Wir sind nicht der Meinung diesem Zusammenhang verstehe ich nicht. Sonst sagen – das haben wir hier schon öfter gesagt –, dass die Mittel wir doch immer: Entwicklungspolitik ist auch Sicher- in die nationalen Haushalte zurückfließen sollten. Wir heitspolitik. Ich finde, man muss das nicht so scharf von- sind auch nicht der Meinung, dass sie in Militärprojekte einander abgrenzen. fließen sollten. Wir sind der Meinung, dass die Mittel in Sie werden mir nachsehen, dass ich nicht darauf ver- die Aidsbekämpfung fließen sollten. Sie sollten bei-zichten kann, auf China zu sprechen zu kommen. Alle spielsweise einem globalen Fonds zur Verfügung gestellt schönen Texte zur Entwicklungspolitik nutzen nichts, (B) werden. In dieser Richtung ist ein bisschen passiert; aus wenn der Bundeskanzler in China sagt: Die Menschen- (D) unserer Sicht könnte allerdings mehr passieren. rechte spielen für uns keine Rolle; wir verkaufen euch Herr Dzembritzki, Sie haben den Sachverhalt sehraber gerne eine Plutoniumfabrik – oder sollen es lieber nett umschrieben. Als Regierungspolitiker müssen Sie ein paar Waffen sein; die könnt ihr auch gerne von uns das vielleicht. Schönreden hilft aber leider nichts. Man haben. Wenn so etwas geschieht, brauchen wir auch muss den Finger schon in die Wunde legen und sagen: keine Texte zur Sicherheitspolitik mehr. Die können wir Das funktioniert nicht. Es ist gut, dass Sie reformieren; uns dann sparen. aber es reicht noch nicht. Abschließend möchte ich zwei grundsätzliche Punkte (Detlef Dzembritzki [SPD]: Man muss aber ansprechen, die aus meiner Sicht beiden Anträgen feh- auch anerkennen, dass der Reformprozess an- len. Sie sind hauptsächlich der Grund, warum wir beiden gegangen worden ist und dass tatsächlich Ver- Anträgen nicht zustimmen werden. Zum einen fehlt eine besserungen erkennbar sind!) Antwort auf die Frage, wie wir die Entwicklungspolitik – Kleine Verbesserungen reichen aber noch nicht. in die Außenpolitik einsortieren. Welche Kriterien sind dabei wichtig? Wo verzahnen wir die außenpolitischen (Detlef Dzembritzki [SPD]: Sie sind Wirt- Interessen mit sicherheitspolitischen Interessen und un- schaftler, ich bin Pädagoge!) ter Umständen auch mit wirtschaftlichen Interessen? Herr Richard hat gestern sehr eindrucksvoll dargestellt, Man muss gerade beim EEF mehr Druck ausüben. Das dass die EU in der Entwicklungspolitik vor allem eines werden wir weiterhin tun. tun kann – das ist das Allerwichtigste; das fehlt in Ihren (Beifall bei der FDP) Anträgen –, nämlich endlich die Märkte zu öffnen. Ich weiß, dass der Union eine Aussage zur Landwirt- (Zuruf von der SPD: So ist es!) schaft sehr schwer fällt. In Ihrem Antrag fehlt aber eine klare Aussage zur Landwirtschaft, obwohl die EU ge- Wir können so viel Geld für Entwicklungszusammenar- rade auf diesem Gebiet tätig werden kann und muss. beit bezahlen, wie wir wollen; wir können damit aber niemals das erreichen, was wir mit einem freien Handel Eine Sache können wir absolut nicht mittragen: das erreichen können. Diese Forderung fehlt in beiden An- Lobbying für EUNIDA. Es tut mir wirklich Leid, aber trägen. Deutschland, das staatliche Organisationen hat, kann nicht staatliche Organisationen durchsetzen, wo wir (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: WTO-Kon- doch sonst immer der Zivilgesellschaft das Wort reden. formität!) 7628 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Markus Löning (A) – Herr Brauksiepe, leider fehlt die richtige Prioritäten- wichtigen entwicklungspolitischen Ausschuss zu erhal- (C) setzung. ten, und zwar einen, der nicht nur für das Contonou- Abkommen zuständig ist. Überhaupt sollten die Kompe- Vielen Dank. tenzen des EU-Parlaments – auch im Hinblick auf die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Entwicklungspolitik – gestärkt werden. der SPD) Ich habe bereits erwähnt, dass sich der Mittelabfluss aus dem EEF verbessert hat. Allerdings ist der Weg von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Projektplanung bis zur Durchführung noch immer Nächster Redner ist der Kollege Thilo Hoppe,viel zu langwierig und zu bürokratisch. Da gilt es, Bündnis 90/Die Grünen. Hemmnisse zu überwinden. Dies ist auch möglich, ohne dass die Qualität darunter leiden muss. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bezüglich des EEF hat schon Kollege Dzembritzki Herr Löning, Hinweise auf die WTO, auf eine Marktöff- auf ein ganz zentrales Problem hingewiesen: Durch par- nung und auf den Abbau von Agrarsubventionen können lamentarische Kontrolle ist zu gewährleisten, dass die Sie im Antrag der Koalition finden. Diesen Schuh ziehen Mittel wirklich zur Erreichung entwicklungspolitischer wir uns nicht an. Ziele eingesetzt und nicht für sicherheitspolitische und militärische Einsätze zweckentfremdet werden. Herr Dr. Brauksiepe, Sie haben den Unionsantrag ein- gebracht. Er ist inzwischen in vielen Bereichen nicht Ich möchte diesen Teil meiner Rede mit der Anmer- mehr aktuell. Es ist schade, dass Sie die Anhörung im kung beenden, dass nicht jede entwicklungspolitische AwZ nicht abgewartet haben. Da gab es durchaus neue Anstrengung zusätzliches Geld kosten muss. Ganz im Erkenntnisse. Gegenteil: Im EU-Haushalt können durch den Abbau handelsverzerrender Agrarsubventionen Milliarden ein- Im Koalitionsantrag wird die Situation präziser be- gespart werden. Das hätte obendrein kräftige positive schrieben. Auch in ihm werden Veränderungen und Re- entwicklungspolitische Effekte. Mehr Kohärenz ist nö- formen in der europäischen Entwicklungszusammenar- tig. Die EU-Agrar- und -Handelspolitik sollte nicht den beit angemahnt. In ihm wird aber auch gewürdigt, dass Zielen der Entwicklungspolitik widersprechen. Auch im es in letzter Zeit bereits erste Reformansätze gegebenvorliegenden Antrag mahnen die Koalitionsfraktionen hat, die man zumindest als Schritte in die richtige Rich- wie schon in vielen anderen Anträgen zuvor ganz aus- tung bezeichnen kann. Die Dezentralisierung zeigt erste drücklich eine Veränderung bzw. Kurskorrektur der Eu- Früchte. Auch der Mittelabfluss aus dem EEF hat sich ropäischen Union innerhalb der WTO-Verhandlungen (B) verbessert. Die Zahlen in Ihrem Antrag stimmen nicht (D) an. mehr. Erinnern wir uns: Die Bundesregierung hatte sich Jetzt komme ich zu Bolivien; denn ich muss ja in ei- während der EU-Ratspräsidentschaft 1999 erfolgreich ner Rede die beiden unterschiedlichen Themen der vor- dafür stark gemacht, dass dieser Reformprozess auf die liegenden Anträge abdecken. Um es vorweg zu sagen: Schiene kam. Die EU-Entwicklungspolitik wurde aufDeutschland sollte weiterhin mit Bolivien in vollem Um- das Oberziel Armutsbekämpfung ausgerichtet. fang zusammenarbeiten. Trotz aller Reformen, die nur aus dem Land selbst kommen können, hat Bolivien ohne Wir dürfen uns nun allerdings nicht mit den ersteninternationale Unterstützung kaum eine Chance, die kleinen Reformschritten zufrieden geben; das ist völlig wirtschaftliche und politische Krise zu überwinden. klar. Wer die Situation verstehenwill, sollte in die Ge- (Beifall des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) schichte blicken. Die politischenProteste in Bolivien Im Hinblick auf die Armutsbekämpfung reicht es nicht entzündeten sich an dem Plan der Regierung, die Gas- aus, sich dieses Ziel auf die Fahnen zu schreiben. Esvorkommen des Landes zu nutzen, um sie über einen muss vielmehr ganz konkret umgesetzt werden. Daschilenischen Hafen nach Mexiko und dann in die USA heißt: verstärkter und vor allen Dingen effizienterer Ein- zu exportieren. Dieses Gasgeschäft, welches vordergrün- satz der Mittel für die Grundversorgung, die Hungerbe- dig sinnvoll erscheint, wirft aber die alte Frage auf: Wer kämpfung, die Stärkung des ländlichen Raumes, dieprofitiert eigentlich von der Nutzung der Bodenschätze? Grundbildung, die Gesundheitsversorgung und natürlich auch für die Aidsbekämpfung. Für den angesehenen Historiker Eduardo Galeano ist die Antwort klar: Seit Jahrhunderten, so Galeano, er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weist sich der Reichtum an Bodenschätzen als Fluch für und bei der SPD) das Land, allen voran für die indianische Bevölkerungs- mehrheit. Die weltbekannten Silberminen von Potosi, Im Hinblick auf die politischen Strukturen der euro- die Ausbeutung der Kupfervorkommen, all das hat eine päischen Entwicklungszusammenarbeit setzen wir kleine Gruppe von Bolivianern reich werden lassen – uns für die Erhaltung der Generaldirektion Entwicklung und ihre Handelspartner in Europa und in den USA. Wer und für den Posten eines Kommissars ein. nicht davon profitiert hat, war die bolivianische Bevöl- Die Kollegen im EU-Parlament haben meine aus-kerung. Wer diese harte Erfahrung ignoriert, der wird drückliche Unterstützung in ihrer Forderung, einen ge- auch nicht verstehen, warum ein Referendum über den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7629

Thilo Hoppe (A) geplanten Gasexport eine überaus wichtige demokrati- hat –; anschließend sind in kürzester Zeit neue Schulden (C) sche Frage ist. angehäuft worden, sodass heute die Überschuldungs- grenze bereits wieder überschritten ist. Präsident Mesa hat sich für den Gasexport ausgespro- chen, aber er hat auch klargemacht, dass er das Ergebnis Auch nach dem Wechsel im Präsidentenamt und der des Referendums in jedem Fall respektieren wird. Der Regierungsumbildung gibt es lokale Straßenblockaden, Aufstand gegen den Gasexport war Auslöser, nicht je- Massenaufmärsche, Landbesetzungen. Die radikalen doch Ursache für den massiven politischen Protest. Es Protestgruppen fordern die Auflösung des Kongresses, geht auch um eine verstärkte Förderung von Kleinbauern den Sturz der Regierung und drohen zum Teil ganz offen und um die Umkehrung eines Teiles der Privatisierun- mit Bürgerkrieg. Ganz offenbar haben einige Akteure in gen, kurz gesagt: Die materielle Verbesserung für dieBolivien eine Lehre aus dem so genannten Gaskrieg ge- große Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung ist das, zogen, eine Lehre, die uns aufs Äußerste beunruhigen was auf der Straße gefordert wird. muss: Protestgruppen und radikale Gewerkschaften scheinen zu glauben, die Politik könne auch in Zukunft Das Hauptproblem der Entschuldung wurde bereits auf der Straße gemacht werden. ganz kurz von Herrn Löning angesprochen; es ist in bei- den Anträgen mit aufgearbeitet. Aber eines der Haupt- Genau dieser Auffassung müssen wir zusammen mit probleme fehlt in dem CDU/CSU-Antrag, und zwar dass der neuen Regierung in aller Entschiedenheit entgegen- die Weltbank bei ihren Berechnungen viel zu optimisti- treten. sche Wachstumsprognosen zugrunde gelegt hat. Diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haben sich in den letzten Jahren nicht erfüllt. Sie hat zu- neten der FDP – Hans-Christian Ströbele dem zukünftige Einnahmen schon vorweg mit einge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es ja rechnet, Einnahmen aus dem noch keineswegs gesicher- noch nicht so lange!) ten Gasgeschäft. Um es mit knappen Worten zu sagen: Die Entschuldung war schlicht nicht hoch genug. Natür- Wenn wir wollen, dass sich das Land wieder fängt, dass lich gab es auch Fehlverhalten der Regierung – Stich- der reform- und konsolidierungsorientierte Kurs der Re- wort Korruption –, aber es gab auch Konstruktionsfeh- gierung Mesa – bei allen Schwierigkeiten – Erfolg hat, ler, die der IWF und die Weltbank zu verantwortenmüssen wir ihn von Deutschland und von Europa aus haben. Diese Bereiche fehlen in dem Unionsantrag, aber klar unterstützen. Diese Unterstützung kann es aller- wir müssen ja heute nicht abstimmen, sodass wir ihndings nicht ohne Bedingungen geben; diese haben wir noch intensiv im Ausschuss diskutieren können. zu Recht in unserem Antrag genannt: die Umsetzung der Ziele der Armutsbekämpfungsstrategie, die Fortsetzung Ich danke Ihnen. des nationalen Dialogs, die Stärkung der Zivilgesell- (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaft und eine Mäßigung des politischen Konflikts. und bei der SPD) Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, der bo- livianischen Regierung auf der Bolivien-Konferenz, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: morgen in Washington beginnt, die Unterstützung Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/ Deutschlands zu versichern, zugleich aber auch klar die CSU-Fraktion. Bedingungen zu benennen, unter denen deutsche und in- ternationale Hilfe auch in Zukunft gewährt werden kann. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Hoppe, Sie haben zu Recht auf den historischen Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Hintergrund der Auseinandersetzungen um denGasex- gen! Kollege Hoppe hat ja schon zu Bolivien übergelei- port hingewiesen. Trotzdem sollten wir mit Klarheit tet: Bolivien ist so etwas wie ein Musterland für die in- feststellen: Angesichts der hohen Überschuldung Boli- ternationale Entwicklungszusammenarbeit, Liebling der viens, angesichts der grassierenden Armut ist der Gasex- internationalen Geber, Pilotland der UN, auch für dieport ein Ansatzpunkt für dieses Land, sich eine neue, deutsche EZ eines von vier Musterländern, in denen man verlässliche Einkommensquelle zu erschließen. Es ist sich besonders bei der Bekämpfung der Armut engagie- gut, dass Präsident Mesa dazu ein Referendum angesetzt ren will. Bolivien sollte also die „Probe aufs Exempel“ hat und dass er die Bevölkerung in seinem Land davon für den Erfolg deutscher und internationaler Entwick- überzeugen will, dass der Gasexport eine richtige Maß- lungszusammenarbeit sein. nahme ist. Die moderate und vernünftige Politik von Mesa auch hinsichtlich desGasexports sollten wir mit Aber leider droht angesichts der politischen und wirt- Klarheit und Deutlichkeit unterstützen. schaftlichen Dauerkrise das Gegenteil, nämlich dass die hohen internationalen und bilateralen – deutschen – In- Unabhängig davon, ob es zum Gasexport kommt oder vestitionen in den Sand gesetzt werden. Der Fall Boli- nicht, bleibt Bolivien auf Hilfe, Unterstützung und Ko- vien stellt daher sehr grundsätzliche Fragen an die Ent- operation angewiesen. Wir Deutschen können durch eine wicklungszusammenarbeit und ebenso grundsätzliche engagierte Entwicklungszusammenarbeit einen Beitrag Fragen an die Umsetzung der Entschuldungsinitiative, zur Stabilisierung leisten. Dazu muss die Bundesregie- deren Zielsetzung – zumindest in Bolivien – mittlerweile rung natürlich handlungsfähig bleiben. Zumindest mit Makulatur ist. Bolivien ist nämlich nicht nur nicht hoch dem BMZ-Haushalt für 2004 und der Entwicklung, die genug entschuldet worden – es ist in dem Maße ent-wir erlebt haben, ist diese Handlungsfähigkeit nur noch schuldet worden, wie es die HIPC-Initiative vorgesehen eingeschränkt gegeben. 7630 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Frau Ministerin, wenn ich eine Zwischenbemerkung verknüpft mit Frauen als Haushaltsvorständen und vor(C) machen darf: Ich war etwas verwundert über die Home- allem mit einem geringen Bildungsniveau. page Ihres Hauses. Mittlerweile ist Ihnen der Haushalt anscheinend so peinlich, dass Sie dieglobale Minder- Boliviens Wirtschaft befindet sich seit einigen Jah- ausgabe im BMZ-Haushalt 2004 schlichtweg ver-ren in einer Krise. Bolivien ist wirtschaftlich einseitig schweigen. Ich finde es interessant, dass Sie nicht einmal von Rohstoffexporten und stark schwankenden Welt- mehr die Wahrheit der Haushaltsbeschlüsse in den offi- marktpreisen zum Beispiel für Energie, Soja, Zink oder ziellen Dokumenten Ihres Hauses mitteilen, weil Sie sie Gold abhängig. Die schlechte Infrastruktur und Ver- peinlich finden. kehrsanbindung, die schwach ausgeprägte Unterneh- menskultur, aber auch ungünstige klimatische und geo- (Karin Kortmann [SPD]: Aber das Problem graphische Bedingungen behindern eine produktive Bolivien ist nicht das der mangelnden Haus- Entwicklung. haltsmittel!) Als ich vor einigen Jahren gemeinsam mit Peter Weiß Verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil Bolivien so an einem Dialog- und Exposure-Programm in Bolivien etwas wie ein Musterland für das ganze Spektrum der in- teilgenommen habe, waren wir auf der Hochebene des ternationalen wie auch der bilateralen Entwicklungspoli- Altiplano. Dort wurden wir von einer Bäuerinnenkol- tik ist, wäre ein Scheitern der Entwicklungspolitik ge- chose aufgefordert: Sorgen Sie doch dafür, dass die Kin- rade in diesem Land nicht nur eine Katastrophe fürder in Deutschland Joghurt zu essen bekommen! Das Bolivien, sondern auch eine schwere Krise für das In- hilft unserer Wirtschaft. – Das zeigt, wie prekär die Si- strumentarium der Entwicklungszusammenarbeit insge- tuation in Bolivien ist und dass die Menschen selbst samt. Deswegen sollten wir alles unternehmen, um diese keine Ideen haben, mit welchen Mitteln sie zur Erwerbs- „Probe aufs Exempel“ für die Wirksamkeit einer durch wirtschaft beitragen können. klare Bedingungen, aber auch durch offene Unterstüt- zung ausgezeichneten Entwicklungszusammenarbeit zu Ein großer Teil der Bevölkerung versteht nicht, was bestehen. Dazu fordern wir Sie auf. ihnen die Entschuldung eigentlich gebracht hat. Sie alle sind davon ausgegangen, dass frisches Geld die Wirt- Danke schön. schaft beflügeln wird. Keiner wusste, dass es sich nur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) um eine Entschuldung handelte, die kein frisches Geld in das Land brachte, sondern nur den Schuldendienst redu- zierte. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Karin Kortmann, SPD- Politisch wurde in den vergangenen Monaten ange- (B) Fraktion. sichts der Unruhen und Proteste und des Rücktritts des(D) Präsidenten die Frage gestellt, ob Bolivien, das Beispiel- land internationaler Hilfe und zivilgesellschaftlicher Par- Karin Kortmann (SPD): tizipation, das Ende eines Modells eingeleitet hat. Der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle- Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada war es nicht gen! Kaum ein anderes Land genießt so große internatio- gelungen, der Bevölkerung zur notwendigen, kurzfristi- nale Zuwendung, Loyalität und Sympathie wie Bolivien. gen Verbesserung ihrer materiellen Lebensverhältnisse Dass ich mich heute entwicklungspolitisch engagiere, zu verhelfen und vor allem eine Entwicklung neuer Be- hängt auch damit zusammen, dass ich mit zwölf Jahren wältigungsstrategien für die grundlegenden und langfris- als Pfadfinderin Altpapier gesammelt habe, das wir zu- tig wirksamen Probleme einzuleiten. gunsten Boliviens verkauft haben. Damals gingen wir noch von der irrigen Hoffnung aus, dass sich die Ent- Der Streit über die Gasexporte über Chile und Me- wicklung dieses Landes relativ schnell vollziehenxiko nach Nordamerika hat dann zu extremen Auseinan- würde. Keiner hat damit gerechnet, dass es dort nachdersetzungen und zu einem außerparlamentarischen Re- 30 Jahren immer noch große Probleme geben würde, die gierungssturz geführt. Die Probleme des Landes, die nicht, Herr Weiß, mit Haushaltsmitteln im BMZ, son- weit verbreitete Armut, die soziale Exklusion, die feh- dern nur durch wirtschaftliche und soziale Perspektiven lende Wirtschaftskraft und das hohe Haushaltsdefizit, zu lösen sind. Ich gebe Ihnen Recht: Die internationale müssen nun dringend von dem neu gewählten Präsiden- Hilfe muss so konditioniert werden, dass die Entschei- ten gelöst werden. Ihm stehen nicht nur diese großen dungen entsprechend getroffen werden. Probleme gegenüber, sondern auch das mangelnde Ver- trauen der Bevölkerung in die Regierung, den Kongress, Ich möchte noch ein paar Punkte zum Hintergrundund damit auch in die staatlichen Institutionen. nennen. Bolivien ist ein südamerikanisches Binnenland, flächenmäßig äußerst groß, mit circa 8 Millionen Ein- Im Juni des vergangenen Jahres wurde in Bolivien wohnern. Es ist reich an Bodenschätzen und kann Nah- eine Umfrage durchgeführt, deren Ergebnisse schon fast rungsmittel aus allen Klimazonen bereitstellen. Auf der erschreckend sind: 49 Prozent der Bevölkerung sagen, anderen Seite ist es das ärmste Land Südamerikas.dass es Demokratie auch ohne politische Parteien geben 63 Prozent der Bevölkerung gelten als arm, 37 Prozent kann. 43 Prozent meinen, man könnte auch ohne Parla- werden sogar als extrem arm eingestuft. Wir wissen,mente zurechtkommen. 60 Prozent dagegen wollen eine dass die Armut eng mit Kinderreichtum und der ethni- starke regionale Autonomie. 67 Prozent sagen, dass sie schen Zugehörigkeit verknüpft ist. Zwei Drittel der Be- keinen nationalen Haushalt mehr wollen, sondern einen völkerung bezeichnen sich selbst als Indigene. Armut ist regionalen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7631

Karin Kortmann (A) Carlos Mesa gilt als integerer Mann, der mehr als ein tel- bis langfristig das Ziel verfolgt, unter Beachtung der (C) Übergangskandidat ist. Aber auch er ist bei der Umset- Schuldentragfähigkeitsgrenzen eine nachhaltige Ent- zung seines Aufgabenkataloges in hohem Maße von der wicklung des Landes mitzugestalten. Bereitschaft der großen internationalen Geber abhängig. Aber auch im Rahmen der deutsch-bolivianischen Bolivien ist, war und bleibt Schwerpunktland der deut- Entwicklungszusammenarbeit wurden Anstrengun- schen Entwicklungszusammenarbeit und, wie Peter gen unternommen, unmittelbar auf die Krisensituation Weiß zu Recht sagt, auch Pilotland für das Aktionspro- des Landes zu reagieren und die verfassungsgemäß an gramm 2015 der deutschen Bundesregierung, in dem es die Macht gekommene Regierung durch sichtbare Maß- um die Halbierung der Armut geht, wobei auf unter- nahmen zur schnellen Umsetzung der EZ zu unterstüt- schiedlichen Politikfeldern dafür Sorge getragen wird, zen. Im Dezember vergangenen Jahres wurden in La Paz dass dieses Ziel erreicht wird. von der KfW und dem bolivianischen Partner unter An- Nach Vorlage einer partizipativ erarbeiteten Armuts- wesenheit von Staatspräsident Mesa drei Verträge der FZ bekämpfungsstrategie im Jahr 2001 erreichte Bolivien im Wert von insgesamt 25 Millionen Euro unterzeichnet. als eines der ersten Länder weltweit den so genannten Die Abkommen betreffen vor allem die Vorhaben bezüg- Completion Point. Durch die erweiterte internationale lich mittlerer Bewässerungsanlagen und erneuerbarer Entschuldungsinitiative HIPC II wurde es dann um bi- Energien sowie die Unterstützung der nationalen Kom- laterale und multilaterale Schulden in Höhe von insge- pensationspolitik. Besonders letzteres Vorhaben ist her- samt rund 2 Milliarden US-Dollar entlastet. Zeitgleich vorzuheben, da es hier kurzfristig gelungen ist, durch erließ Deutschland in diesem Zusammenhang sämtliche eine Flexibilisierung derAuszahlungsvoraussetzungen bilateralen Schulden in Höhe von 379 Millionen Euro. und durch eine Ausdehnungdes Projektgebietes einen Die politische und wirtschaftliche Stabilisierung Boli- schnelleren Abfluss der Mittel zu ermöglichen. Hiermit viens und zu diesem Zweck die Unterstützung von Präsi- geht von der deutschen EZ ein nachdrückliches Signal dent Mesa sind gegenwärtig die wichtigsten Herausfor- zur Stärkung der Regierung Mesa und zur demokrati- derungen unserer Politik gegenüber Bolivien, sowohlschen Stabilisierung des Landes aus. Mit gleicher Ziel- allgemein als auch im Rahmen der deutsch-boliviani-setzung wurde für das Jahr 2003 ausnahmsweise auf die schen Entwicklungszusammenarbeit. Rückerstattung der Mehrwertsteuer, die grundsätzlich von den bolivianischen Projektpartnern an die GTZ zu Ich möchte gerne noch auf die Probleme desHaus- leisten wäre, verzichtet. Es handelt sich hierbei um Mit- haltsdefizits in Bolivien eingehen, da dies das herausra- tel in Höhe von rund 120 000 US-Dollar. Auch das gende Merkmal ist, an dem sich zeigt, ob sich dieseswurde am 19. Dezember beschlossen. Land stabilisieren kann. Für das Jahr 2003 ist mit einem Wir werden zusätzlich zu dem, was die CDU/CSU (B) Defizit von rund 8 Prozent des Bruttoinlandproduktes zu (D) rechnen. Die Zahlungsfähigkeit der bolivianischen Re- vorgelegt hat, noch einen eigenen Antrag in die parla- gierung konnte auch zum Jahresende 2003 nur mit kurz- mentarische Beratung einbringen, weil es nicht sein fristigen Sonderzusagen der multilateralen Geber wiekann, Herr Weiß, dass wir an den alten Forderungen fest- der Weltbank, der Regionalen Entwicklungsbank, derhalten und sagen: Das Wundermittel der Zivilgesell- Andenländer, aber auch der Interamerikanischen Ent-schaft reicht aus, um zu einer wirtschaftlich tragfähigen wicklungsbank sichergestellt werden. Struktur zu kommen. – Sie vergessen immer wieder die Rolle von demokratisch gewählten Parlamenten und de- Für dieses Jahr rechnet der IWF schon jetzt mit einem ren Aufgabenkatalog. Ich glaube, auch der Bedingung, von außen zu finanzierenden Defizit in Höhe die von Sie nennen, nämlich dass eine Fortführung der deut- 105 Millionen US-Dollar, wobei er als Ziel die Reduzie- schen, europäischen und internationalen Hilfe für Boli- rung des Defizits auf 6,8 Prozent des Bruttoinlandpro- vien eine verstärkte und striktere Bekämpfung des Dro- dukts zugrunde gelegt und bestimmte Eigenanstrengun- genanbaus und Drogenhandels erfordert, können wir so gen der bolivianischen Regierung zur Erhöhung ihrereinfach nicht zustimmen. Eigeneinnahmen bereits in Rechnung gestellt hat. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das hätte Besonders dramatisch wird sich die Situation im ers- uns auch gewundert, Frau Kortmann!) ten Quartal darstellen. Um die Regierung unter Präsident Das würde auch nicht den Notwendigkeiten Rechnung Mesa zu stützen und mit dazu beizutragen, das Land de- tragen, die Sie in Ihrem Antrag benannt haben. mokratisch, aber auch wirtschaftlich und finanziell zu stabilisieren, werden jetzt und in Zukunft zwischen der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bolivianischen Regierung und den Gebern abzustim- DIE GRÜNEN) mende Maßnahmen erforderlich sein. Der deutschen bi- lateralen Entwicklungszusammenarbeit stehen weder Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Mittel noch Instrumente zur Verfügung, die hierzu erfor- Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin derliche kurzfristige Budgethilfe zu leisten. Als stimm- Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion. berechtigtes Mitglied in den Direktorien der internatio- nalen Finanz- und Entwicklungsorganisationen hat die (Beifall bei der CDU/CSU) Bundesregierung jedoch ganz schnell mit dazu beigetra- gen, verschiedene Notprogramme zu verabschieden, mit Claudia Nolte (CDU/CSU): denen die internationale Gemeinschaft kurzfristig die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Zahlungsfähigkeit Boliviens sicherstellen will und mit- Kollegen! Ich denke, dass ich auch in Ihrem Namen 7632 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Claudia Nolte (A) herzlich den Botschafter von Bolivien in dieser Debatte Eine solche Situation in einem Land gibt der organi- (C) begrüßen kann. Es freut uns, dass Sie Ihr Interesse an un- sierten Kriminalität, die international agiert und um Eu- serer Diskussion deutlich machen. ropa natürlich keinen Bogen machen wird, immer einen freien Raum. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir (Beifall) uns mit all unseren Kräften einbringen und uns engagie- Es ist, glaube ich, ausreichend beschrieben worden, ren. wie stark wir in der Entwicklungshilfe für Bolivien Wir müssen gegenwärtig erleben, dass der alte Kon- engagiert sind. Ich glaube, das ist ein Grund mehr, in flikt mit Chile wieder aufbricht. Ich muss sagen: Ich dieser Situation die Augen nicht zu verschließen, zumal finde es wenig hilfreich, wenn Präsidenten wie Hugo solche Konfliktherde immer die Gefahr mit sich bringen, Chavez aus Venezuela Öl ins Feuer gießen und zur Pola- sich zu radikalisieren und auch auf die Region auszu- risierung beitragen. Ich denke, insbesondere ein solcher strahlen. Konflikt kann nur in Freundschaft und durch die Ver- Seitdem der neue Präsident Mesa an der Regierung ständigung miteinander gelöst werden. Alles, was polari- ist, hat sich die Lage in Bolivien – zumindest rein äußer- sierend wirkt, schadet hier. lich – einigermaßen stabilisiert. Er und sein Kabinett ge- nießen einen guten Ruf im Land, auch weil sie sich um (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einen neuen, um einen guten Politikstil bemühen. Präsi- Was kann denn eigentlich getan werden? Sicherlich dent Mesa wie auch seine Kabinettsmitglieder, die alle muss der Hauptteil der Arbeit im Land selbst geleistet mehr oder weniger Experten und nicht parteigebunden werden. Ich denke, das machen wir mit unserem Antrag sind, gelten als nicht korrupt. Es ist in der jetzigen Situa- deutlich. Wir verweisen nämlich darauf, welche Erwar- tion Boliviens sehr wertvoll, die Unterstützung der Be- tungen wir im Zusammenhang mit der Entschuldungs- völkerung zu genießen. initiative an die Regierung stellen. Ich denke, der Damit sind die Ursachen für die Probleme und dieenorme Rückhalt, den Präsident Mesa hat, gibt ihm die Krise aber natürlich noch nicht beseitigt. Vor allen Din- Chance, mehr als nur eine Symbolpolitik durchzusetzen. gen die schwierige wirtschaftliche Situation, die hohe Es muss ihm zum Beispiel gelingen, seiner Bevölkerung Armut und die ethnischen Konfliktlinien in der Bevölke- zu vermitteln, dass es wichtig ist, die eigenen Potenziale rung bedrohen die friedliche Entwicklung und die Stabi- für die Entwicklung zu nutzen und dies nicht einfach ei- lisierung des demokratischen Systems. Letztendlichner ideologischen Debatte anheim zu stellen. können wir auch nicht mit Sicherheit sagen, wie sich die Meines Erachtens geht es nämlich eben nicht um die Opposition in den nächsten Monaten verhalten wird. Frage, ob man Gas exportieren darf oder nicht und ob Morales’ Partei hat zugesichert, bis Ende Februar stillzu- (B) das richtig oder falsch ist. Es geht stattdessen darum, zu (D) halten. Die anderen Oppositionsgruppen und -parteien überlegen, wie wir erreichen, dass die Einkommen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlaments sind durch einen solchen Export erzielt werden können, für von uns aber nicht berechenbar. Ich denke, Peter Weiß die Armutsbekämpfung verwendet werden und somit hat das ausdrücklich und ausführlich genug beschrieben. den Menschen im Land helfen. Leider hat diese kritische Situation auch Auswirkun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gen auf die Region insgesamt. In Lateinamerika haben bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- wir es mit vielen Ländern zu tun, die mit großen wirt- NISSES 90/DIE GRÜNEN) schaftlichen Schwierigkeiten und mit einer hohen Armut zu kämpfen haben, sodass gegenseitige Hilfe und Unter- Herr Kollege Hoppe, ich denke, Sie haben das genau stützung innerhalb dieser Region nur schwer möglichrichtig beschrieben. sind. Wir müssen uns fragen, wie die Entwicklung in La- Eine Hilfestellung ist ebenfalls in der anstehenden teinamerika weitergehen wird und ob die Gefahr besteht, Verfassungsrevision denkbar. Auch diese Verhandlung dass dieser Kontinent kippt, da sich Bevölkerungsteile wird nicht einfach werden, weil bis heute nicht einmal zunehmend nicht mehr integrieren lassen und unterei- klar ist, wer in der verfassunggebenden Versammlung nander so verfeindet sind, dass eine Befriedung kaum sitzen soll. Wir haben Erfahrungen mit solchen Prozes- möglich ist. Hinzu kommt, dass dieser Prozess mit einer sen. Diese sollten wir zur Verfügung stellen, zumal die wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung einhergeht. Gefahr besteht, dass sehr hohe Erwartungen an eine neue Man kann die Tendenz wahrnehmen, dass sich Oppo- Verfassung gestellt werden. Durch eine solche, den ho- sitionsgruppen radikalisieren und internationalisieren, hen Erwartungen gerecht werdende Verfassung würden also über die Grenzen in dieser Region hinweg zusam- die Probleme am Ende vielleicht nicht gelöst werden. menarbeiten. Das gilt vor allen Dingen für die Gruppen, Diese müssen anders angegangen werden. die im Drogengeschäft sind. Ich denke, spätestens bei Schließlich bleibt zu hoffen, dass die Regierung Mesa diesem Aspekt wird uns allen klar, dass es sich nicht ein- eine ausreichende Unterstützung vom Parlament be- fach nur um Probleme auf einem fernen Kontinent han- kommt. Gerade weil diese Regierung parteiunabhängig delt, sondern dass es durchaus auch in unserem Interesse ist, hat sie keine eigene Hausmacht im Parlament und ist liegt, hier Befriedung und Stabilisierung möglich zu ma- immer darauf angewiesen, sich bei den Parlamentariern, chen, da wir von eventuellen Folgen ebenfalls betroffen wenn es um die Entscheidung über Sachfragen geht, sein würden. Mehrheiten zu beschaffen. Vielleicht können wir hier ei- (Beifall bei der CDU/CSU) nen kleinen Beitrag leisten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7633

Claudia Nolte (A) Ich habe gehört, dass der eine oder andere Kollege Das Recht der räumlichen Planung bildet seit jeher (C) vielleicht nach Bolivien reisen wird. Ich denke, dabeieine der wichtigen Grundlagen für eine funktionsfähige wird es genügend Spielräume, Möglichkeiten und Gele- und nachhaltige Stadtentwicklung und Stadtentwick- genheiten geben, um mit den Parlamentariern dort ins lungspolitik. Es schafft die Basis für Investitionssicher- Gespräch zu kommen. Ich wünsche mir für unsere De- heit und für solide Wirtschaftsbedingungen ebenso wie batte im Ausschuss, dass wir nicht sehr weit auseinander für Wohnen und eine sozial gerechte Infrastruktur, aber liegen und gemeinsam einen kleinen Beitrag beisteuern. auch für eine lebenswerte Umwelt. Es ist also für Private wie für die Wirtschaft gleichermaßen von großer Bedeu- Vielen Dank. tung, dass ein zeitgemäßes Planungssystem transparente (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und anwendungsfreundliche Regelungen zur Verfügung stellt. Auf kommunaler Ebene soll zügig und sicher den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: komplexen Anforderungen an die räumliche und gesell- Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wirdschaftliche Entwicklung Rechnung getragen werden. Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1980, Unmittelbarer Anlass für dieses Gesetzgebungsver- 15/1215 und 15/2338 an die in der Tagesordnung aufge- fahren ist die Umsetzung der EU-Richtlinie über die Prü- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damitfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- Programme, der so genannten Plan-UP-Richtlinie. Wir weisungen so beschlossen. wollen diese Richtlinie bis zum 20. Juli 2004 in deut- Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 7 sches Recht umsetzen. Wir wollen das tun, indem wir auf: aufzeigen, wie Europarecht in die bestehenden Verfah- rensanforderungen integriert werden kann, und wir wol- 14. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- len gleichzeitig versuchen, strukturelle Vereinfachungen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- und Investitionssicherheit miteinander zu verbinden. sung des Baugesetzbuches an EU-Richtlinien (Eu- roparechtsanpassungsgesetz Bau – EAG Bau) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das Prinzip Nachhaltigkeit in der Verantwortung für zukünftige Ge- – Drucksache 15/2250 – nerationen weiter betont werden. Wir zeigen auch, dass Überweisungsvorschlag: sonstige städtebauliche Belange so miteinander verbun- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Innenausschuss den werden können, dass strukturelle Vereinfachungen, Rechtsausschuss eine höhere Planungsqualität und damit eine erhöhte In- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und vestitionssicherheit erzielt werden. Es geht also um Ver- Landwirtschaft (B) einfachungen auf der einen Seite und mehr Sicherheit(D) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf der anderen Seite. Das hört sich an wie die Quadratur ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim des Kreises. Wir werden sicherlich miteinander darüber Günther (Plauen), Eberhard Otto (Godern), Horst diskutieren, wie weit uns das gelungen ist. Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und Wir reagieren zu Beginn des neuen Jahrhunderts aber der Fraktion der FDP auch auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situa- Weitgehende Planungserleichterungen bei An- tion. Es ändert sich einiges in unserem Lande; ich nenne passung des Baugesetzbuchs an EU-Richtli- die Bevölkerungsentwicklung. Wir haben es mit Stadt- nien umbau und mit der Schrumpfung von Städten zu tun. Deshalb geht es im Gesetzentwurf auch um die Veranke- – Drucksache 15/2346 – rung von Stadtumbau und dem Programm „Soziale Überweisungsvorschlag: Stadt“. Auch dafür wollen wir Rahmenbedingungen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Innenausschuss schaffen. Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Landwirtschaft DIE GRÜNEN) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie sehen nun die Eckwerte aus? Erstens wollen wir Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die natürlich die Umsetzung der EU-Richtlinie leisten. Da- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei- bei haben wir uns vorgenommen, die europarechtlich nen Widerspruch; dann ist das so beschlossen. vorgegebenen Umweltprüfungen im Städtebaurecht für Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- grundsätzlich alle Bauleitpläne nutzbar zu machen. Wir mentarische Staatssekretär Achim Großmann. wollen den Verwaltungsvollzug erleichtern, indem sämt- liche gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorgaben vollständig in bestehende Regelungen über die Aufstel- Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- lung von Bauleitplänen integriert werden. desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Umweltprüfung ermöglicht es in Zukunft, ein Der Regierungsentwurf, die Stellungnahme des Bundes- übergeordnetes Trägerverfahren zu schaffen. Damit kön- rates und die Gegenäußerung der Bundesregierung lie- nen wir die verschiedenen, bisher teilweise nebeneinan- gen Ihnen vor. Wir treten ein in die Beratungen des EAG der existierenden umweltbezogenen Einzelverfahren im Bau. Baugesetzbuch zusammenführen, etwa die Prüfung nach 7634 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) der Projekt-UVP-Richtlinie, nach der Fauna-Flora-Habi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) tat-Richtlinie sowie nach der naturschutzrechtlichen Das Wort hat der Kollege Markus Grübel, CDU/CSU- Eingriffsregelung. Doppelprüfungen werden in der vor- Fraktion. geschlagenen Regelung vermieden, die Öffentlichkeits- beteiligung wird gestärkt,die Transparenz und damit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auch die Akzeptanz bei den Bürgern werden erhöht. Ins- der FDP) gesamt bedeutet dies mehr Investitionssicherheit. Markus Grübel (CDU/CSU): Wir haben dazu auch ein Planspiel in den Städten und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gemeinden durchführen lassen, wie es schon fast Tradi- Das vorliegende Europarechtsanpassungsgesetz Bau, tion ist, und wir haben uns gefreut, dass seitens der kom- also die Reform des Baugesetzbuches, geht tendenziell munalen Spitzenverbände und auch im Rahmen desnicht in die ganz falsche Richtung. Anders ausgedrückt: Planspiels keine grundsätzliche Kritik an dem vorgeleg- Es hätte auch schlimmer kommen können, also mit noch ten Konzept geäußert wurde. mehr Verwaltungsaufwand. Zweiter Eckpunkt der Novelle sind Regelungen des Es bleibt aber festzustellen, dass insbesondere durch besonderen Städtebaurechts. Ich habe schon darauf die Einführung der neuen Verfahrensregelungen vor al- hingewiesen, dass wir die Regelungen zum Stadtumbau lem von den Städten und Gemeinden ein höherer Auf- und zur „Sozialen Stadt“ verankern wollen, um die ge- wand bei der Bauleitplanung zu bewältigen sein wird. setzlichen Grundlagen für den Auftrag des Gesetzgebers Das bedeutet mehr Verwaltungsaufwand. Darüber hi- zu schaffen, hier steuernd einzugreifen. Wir alle wissen, naus fehlt teilweise Fachpersonal, das neu eingestellt um die Verwerfungen in unserem Land. Wir legen gro- werden muss. Auch wird die Bauleitplanung länger dau- ßen Wert darauf, die neuen Regelungen so zu gestalten, ern. Dies läuft den Bemühungen und Bestrebungen zur dass ein konzeptionelles und konsensuales Vorgehen der Verwaltungsvereinfachung entgegen. Viele Kommunen Kommunen mit den Investoren möglich ist. Wir haben müssen Personal reduzieren, die Verwaltung verschlan- dabei bewusst auf bürokratisches Handeln und Überre- ken und vereinfachen sowie Bürokratie abbauen. Dies gulierungen mit hoheitlichen Instrumenten verzichtetwird leider auch aufgrund der Vorgaben der EU nicht und wollen den Kommunen möglichst viel Flexibilität möglich sein. geben. Der Gesetzentwurf enthält aber auch positive Ele- (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig mente. Dazu zähle ich unter anderem dasBaurecht auf [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zeit. Es gibt Gebiete, in denen eine zeitliche Beschrän- (B) kung von Baurechten sinnvoll und notwendig ist. Bei(D) Wir wollen schließlich als dritten Eckpunkt die Schaf- manchen Nutzungen werden die Nutzungszeiten für die fung eines modernen Planungsrechts durch eine weitere Investoren immer kürzer. Es entstehen Spezialbauten, Fortentwicklung des geltenden Rechts vervollständigen. die nicht für andere Nutzungen infrage kommen. Zu Dazu kann ich angesichts der fortgeschrittenen Zeit nur nennen sind zum Beispiel großflächiger Einzelhandel, Stichworte nennen: Abschaffung der Teilungsgenehmi- Musicalhallen, Diskos, Multiplexkinos und ähnliche gung, Erleichterung des BodenordnungsverfahrensDinge. Hierbei handelt es sich oft um Einfachbauten mit durch Einführung eines vereinfachten Umlegungsver- kurzer Abschreibungszeit. Es ist nun möglich, die Erst- fahrens. Wir wollen den Schutz des Außenbereichs mit nutzung auflösend bedingt festzusetzen. Die Frage einer einer modernen Fortentwicklung der Landwirtschaft ver- Entschädigung nach Aufgabe der Nutzung stellt sich binden. Auf der einen Seite geht es also um den Schutz dann nicht mehr. Die Kommunen können dann die Flä- des Außenbereiches und auf der anderen Seite um die che entschädigungslos überplanen. Möglichkeit der Landwirtschaft, sich neu aufzustellen. Die Aufnahme von gesetzlichen Regelungen zum Ich nenne hier die erneuerbaren Energien, insbesondere Stadtumbau erscheint ebenfalls sinnvoll; der Staatssek- die Biogasanlagen. retär hat es schon angesprochen. Angesichts der aktuel- Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. len und zukünftigen Entwicklung der Leerstandsproble- matik im Osten und Norden sowie eines ( [CDU/CSU]: Wir auch!) Wohnungsmangels im Süden und Westen sind die Auf- gabenstellungen in Deutschland in Zukunft unterschied- Ich kann Ihnen zusichern, dass wir dem Ausschuss inlich wie nie zuvor. Dazu kommt die demographische den Beratungen die notwendigen Informationen gerne Entwicklung in Deutschland. Die bestehenden gesetzli- zukommen lassen, so wie Sie das von uns gewöhnt sind. chen Möglichkeiten für einen effektiven Stadtumbau Ich hoffe, dass wir in der Zeit bis zum 20. Juli gemein- sind daher ergänzungsbedürftig. Die Praxis wird zeigen, sam ein mustergültiges Gesetz auf die Beine stellen kön- ob die Regelungen zum Stadtumbau dauerhaft Bestand nen. Bis dahin haben wir genug Zeit, dies ausgiebig zu haben können und für die Kommunen eine echte Er- beraten. leichterung bei der Bewältigung der Probleme sind. Vielen Dank. Natürlich sind auch die Aufnahme der Baukultur und deren Belange in das Gesetz zu begrüßen. Aber auch ne- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gative Punkte sind zu nennen, zum Beispiel dieFort- DIE GRÜNEN) schreibung des Flächennutzungsplans alle 15 Jahre. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7635

Markus Grübel (A) Diese neue Pflicht zur Überprüfung des Flächennut-zu einer großen Rechtsunsicherheit, zu sehr viel Verwal- (C) zungsplans spätestens 15 Jahre nach seiner Aufstellung tung, zu Streitfällen und zu Haftungsfällen, auch für die oder Änderung ist nicht akzeptabel. Kommunale Bau- Baubehörden. leitpläne sollten dann überarbeitet bzw. überprüft wer- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) den, wenn die städtebauliche Entwicklung dies erfordert, und zwar unabhängig vom Zeitraum. Die Regierung ist hier also zwei Schritte vor- und an- derthalb Schritte zurückgegangen. Vornehm ausge- Geprüft werden sollte auch die Anregung des Städte- drückt: Es handelt sich um eine Verschlimmbesserung. und Gemeindebundes, durch eine Länderöffnungsklau- Bösartig ausgedrückt: Es ist kompletter Blödsinn, was sel die Möglichkeit zu schaffen, die Genehmigungs- jetzt im Gesetz steht. pflicht für Flächennutzungspläne abzuschaffen. Dies stärkt die kommunale Selbstverwaltung und die Pla- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nungshoheit. Zudem würde dem Leitgedanken der Ver- neten der FDP) waltungsvereinfachung sowie des Bürokratieabbaus ent- Gleichzeitig wird im Sanierungsgebiet die Teilungs- sprochen. genehmigung nach § 144 beibehalten. Hier besteht also Es fehlen im Gesetzentwurf auch weitere Verein-noch weiterer Diskussionsbedarf. fachungsmöglichkeiten. Nach dem Grundsatz derGe- Anzumerken ist, dass wir uns künftig an einen euro- nehmigung aus einer Hand könnten zum Beispiel die patauglichen Sprachgebrauch gewöhnen müssen. Der Baugenehmigung und die Sanierungsgenehmigung zu- gute alte deutsche Bürger hat ausgedient. Aus der Bür- sammengefasst werden. Erklären Sie einmal einem An- gerbeteiligung wird die Beteiligung der Öffentlichkeit, tragsteller, dass er die Baugenehmigung erhält, die Sa- aus der Anregung wird die Stellungnahme und das Pla- nierungsgenehmigung aber versagt wird! – Hier muss nungsrecht kennt künftig keine Träger öffentlicher Be- ein Bürger am Staat verzweifeln. Die Genehmigung aus lange mehr, sondern nur noch Behörden. einer Hand könnte das Verfahren vereinfachen. Wir stehen etwas unter Zugzwang. Die EU-Richtlinie Weiter müsste darüber nachgedacht werden, ob im muss bis zum Sommer umgesetzt werden, ob wir wollen Sanierungsgebiet wirklich alle im Gesetz genannten oder nicht. Darum sollten wir das Gesetz zeitnah bera- Maßnahmen genehmigungspflichtig sind. ten. Wir sind dazu bereit, damit die Kommunen, Baube- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hörden und die fachkundige Bürgerschaft genügend Zeit neten der FDP) haben, sich auf die neuen Regelungen und Aufgaben vorzubereiten. Der Katalog in § 144 sollte etwas abgespeckt werden. (B) Vielen Dank. (D) Diskussionswürdig erscheint mir ganz besonders die geplante halbherzige Abschaffung derTeilungsgeneh- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- migung nach § 19 Baugesetzbuch. neten der FDP – Werner Kuhn [Zingst] [CDU/ CSU] – Ein exzellenter Vortrag!) (Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Darüber müssen wir reden!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Teilungsgenehmigung hat seit der letzten großen Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt- Änderung der Vorschrift nur noch eine geringe Bedeu- Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen. tung. Nur eine kleine Zahl der Gemeinden hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Teilungsgenehmi- Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE gung als örtliches Recht wieder einzuführen. Der Refe- GRÜNEN): rentenentwurf sah – das war völlig richtig – noch die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vollständige Abschaffung der Teilungsgenehmigung vor. Der Beitrag des Kollegen Grübel hat deutlich gemacht, Dies war eine der wenigen Verwaltungserleichterungen wie viel Beratungsbedarf wir im Ausschuss haben. im Gesetzentwurf. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Er war sehr sach- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl!) verständig!) Der Regierungsentwurf bleibt nun auf halbem Weg ste- – Das war völlig okay, das will ich gar nicht kritisieren, hen. Es wird eine Regelung eingeführt, die zur Falle für weil die Abwägung des Pro und Kontra der einzelnen Grundstückskäufer werden kann. Die Zulässigkeit eines Punkte sehr wichtig ist. Ich glaube allerdings, Sie strapa- Bauvorhabens soll sich künftig nach den Grundstücks- zieren das Plenum etwas. verhältnissen vor der Teilung bemessen. Da eine frühere Teilung aber weder aus dem aktuellen Grundbuch noch Ich kann aus Zeitgründen nur ein paar Punkte anrei- aus der aktuellen Flurkarte ersichtlich ist, kann dies dazu ßen. führen, dass an sich bauberechtigte Grundstücke nicht Ich will deutlich sagen, dass aus unserer Sicht die In- bebaut werden können. tegration der UP-Richtlinie sehr gelungen ist. Ich Kurze Zeit nach der Teilung mag dies akzeptabel sein, möchte deutlich die Kritik der FDP zurückweisen, die aber nach zehn, 20 oder 30Jahren, nach mehreren Be- deswegen den Gesetzentwurf im Wesentlichen ablehnt. bauungsplänen, nach mehreren Eigentumswechseln und Ich halte es ferner für sehr gelungen, dass das bisherige nach weiterer Unterteilung des Grundstücks, führt dies Verfahren der Umweltprüfung in der Bauleitplanung 7636 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) jetzt mit der UP-Richtlinie der EU, dem Umweltbericht Einzelhandel entsprechend auszuweiten. Zumindest ha- (C) und dem neuen Instrument des Monitoring zusammen- ben die anderen Gemeinden das Recht, gerichtlich dage- geführt wird. Das bringt vielleicht vorübergehend in den gen vorzugehen. Kommunen einige Anpassungsprobleme mit sich, aber es bewirkt aus unserer Sicht à la longue sogar mehr Klar- Darauf, dass die neuen innovativen Instrumente – der heit, denn letztlich werden dann Projekt-UP Stadtumbau und und das Programm „Soziale Stadt“ – eine Plan-UP im Prinzip nach ähnlichen Verfahren erfolgen. gesetzliche Grundlage erhalten, gleichzeitig aber flexi- Sie werden sicherlich nach einer bestimmten Lernphase bel und unbürokratisch bleiben, hat Staatssekretär zu einem Instrument, das allen Beteiligten zugute kom- Großmann schon hingewiesen. Ich halte das für eine men wird und vor dem man keine Angst haben muss,sehr wichtige Errungenschaft der Gesetzesnovelle. liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Wir sind im Großen und Ganzen mit dem Gesetzent- Der zweite Punkt, auf den ich hinweisen will, betrifft wurf sehr zufrieden. Trotzdem will ich einige Stellen die Änderungen im Außenbereich. Das Instrument der nennen, an denen wir uns gewünscht hätten, dass mehr Außenbereichssatzung wird abgeschafft. Aber auch das erreicht würde, und zwar bei dem Problem, dass die ist kein Grund zur Sorge. Wir sollten darüber noch ein- Siedlungsflächenzunahme nach wie vor nicht in dem mal im Ausschuss diskutieren. Auch an dieser Stelle ist Maße eingedämmt wird, wie es aus ökologischen, aber es hilfreich, eine gewisse Vereinheitlichung zu erreichen. zunehmend auch aus volkswirtschaftlichen Gründen not- wendig ist. Insofern wünschen wir uns, dass an dieser Vorhaben wie die Nutzung der Energie aus von Bio- Stelle noch weiter diskutiert wird, beispielsweise über masse erzeugtem Gas werden im Außenbereich danneine Bindung der Ausweisung von Bauland an die eine besondere Stellung einnehmen, wenn sie im Zusam- ÖPNV-Erschließung. menhang mit einer Hofstelle bzw. einem landwirtschaft- lichen Betrieb stehen. Auch das ist, glaube ich, sehr hilf- Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, der reich, um neue Wirtschaftsinstrumente nach dem Motto mir sehr wichtig ist und für den ich um mehr Unterstüt- „Aus dem Landwirt auch den Energiewirt machen“ ein- zung werbe. Ich möchte, dass das Planungsrecht der Ge- zuführen. Dies muss aber in einer Form erfolgen, diemeinden zum Beispiel im Hinblick auf aufgelassene nicht zu einer Überlastung des Außenbereichs führt. Der Bahn- und Postflächen gestärkt wird. Dem Powerplay Außenbereich sollte nicht zum Gewerbebereich werden. der Bahn, die der Meinung ist, sie könne inzwischen an- stelle der Kommunen Stadtentwicklung betreiben, muss Ich glaube, dass wir auch in solchen kleinen Punkten ein Riegel vorgeschoben werden. Ich hoffe, dass wir die richtige Gewichtung vorgesehen haben. Das giltauch in diesem Zusammenhang noch das erforderliche auch für die Ausweisungvon so genannten Vorrang-, und richtige Rechtsinstrument finden. (B) Eignungs- und Belastungsflächen im Außenbereich. (D) Auch hierbei gilt, dass land- und forstwirtschaftliche Be- Ich hoffe in diesem Sinne auf gute Zusammenarbeit triebe nicht betroffen sind. Ansonsten – beispielsweise und darauf, dass wir es gemeinsam schaffen. bei der gewerblichen Tierhaltung – ist es dann möglich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Belastung des Außenbereichs eindeutig zu be- sowie bei Abgeordneten der SPD) grenzen.

Ich komme jetzt zu einem Punkt, den ich für interes- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sant und innovativ halte. Wir haben zum einen generell Das Wort hat der Kollege Joachim Günther, FDP- das Baurecht auf Zeit vorgesehen, auf das der Kollege Fraktion. Grübel hingewiesen hat. Wir haben aber zum anderen als weitere Innovation für Vorhaben im Außenbereich vor- gesehen, dass die Nutzung zurückgebaut werden kann, Joachim Günther (Plauen) (FDP): wenn sie nicht mehr gebraucht werden sollte. Ich glaube, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch das ist ein innovatives Instrument, das angesichts Grundsätzlich freue ich mich, dass wir nach langer Zeit der derzeitigen Investitionslage zukunftsfähig ist. Ichüber die Novellierung des Baugesetzbuches reden; denn nenne an dieser Stelle das Stichwort Windenergie. Ich jeder weiß, dass Bauen in Deutschland eigentlich zu bü- glaube, das ist sehr hilfreich. rokratisch, zu umständlich und letztendlich zu teuer ist. Aus dieser Sicht ist es gut, dass wir mit der entsprechen- Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen. den Diskussion beginnen. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen im Hinblick auf den großflächigen Einzelhandel haben uns bisher sehr Die europäischen Richtlinien, die die Prüfung von große Sorgen bereitet, weil der Einzelhandel bekanntlich Umweltauswirkungen zum Gegenstand haben, bieten sowohl im Außenbereich als auch auf aufgelassenen so- uns Gelegenheit, dies aufzunehmen und eine umfas- wie auf noch ausgewiesenen Gewerbeflächen zuneh-sende Novellierung der Vorschriften der Raumordnung mend eine massive Konkurrenz für den sonstigen Ein- und der Bauleitplanung vorzunehmen. Leider – hier zelhandel darstellt, der im innerstädtischen Bereich bzw. gebe ich Ihnen Recht, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig – in den Stadtteilen gebraucht wird. Es bedeutet eine große erfüllt die vorliegende Novelle das noch nicht. Mir Hilfe, wenn klar geregelt wird, dass die Kommunen das scheint, dass nicht der für das Baugesetzbuch zuständige Recht haben, den Einzelhandel nach der planrechtlich Minister oder Herr Großmann, sondern dass ein gewis- vorgesehenen Einstufung zu behandeln. Nachbarge-ser Herr Trittin der Hauptpate des Gesetzentwurfs war. meinden dürfen nicht miteinander konkurrieren, um den Letzterer ist ja bekannt dafür, durch die Hintertür ständig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7637

Joachim Günther (Plauen) (A) neue Speerspitzen gegen die Entbürokratisierung in Stel- Gelegenheit, eine erste Gesamtbeurteilung vorzuneh-(C) lung zu bringen. men. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der vor- liegende Gesetzentwurf insgesamt gelungen ist. Mit die- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ser Einschätzung stehen wir nicht allein. Sowohl die Auch wenn es unter anderem Aufgabe war, Regelun- Länder als auch die wichtigen Verbände stimmen mit gen in den Gesetzentwurf aufzunehmen, wonachBau- uns überein. Die kommunalen Spitzenverbände – diese leitverfahren einer Umweltprüfung zu unterziehen sind bei dieser Thematik besonders wichtig – begrüßen sind, muss die Nachfrage gestattet sein, ob das in dieser und unterstützen die Gesamtkonzeption des Gesetzent- rigiden Art erforderlich war. wurfs ausdrücklich. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl, die Es ist im Rahmen der Umsetzung der EU-Richtlinie Handschrift ist restriktiv!) gelungen, das Baugesetzbuch stärker am Leitbild der Nachhaltigkeit zu orientieren. Es ist außerdem gelun- Meine Antwort ist eindeutig: Nein, so musste es nicht gen – hier unterscheiden wir uns in der Einschätzung, sein. Denn die EU hat im Prinzip nur vorgegeben, dass Herr Grübel –, an vielen StellenVereinfachungen erhebliche Umweltauswirkungen einzubeziehen sind. durchzusetzen. Vor allen Dingen die Art und Weise, wie Auch auf europäischer Ebene ist es erklärtes Ziel – das die EU-Richtlinie implementiert wird, sorgt für ein sehr kann man in der Richtlinie nachlesen –, den Kommunen einfaches Verfahren. Es ist des Weiteren gelungen, pla- nicht mehr Belastungen und mehr Prüfverfahren aufzu- nerische Instrumente für den Stadtumbau und insbeson- erlegen, sondern nur dort zu handeln, wo absehbare Um- dere für das Programm „Soziale Stadt“ einzubinden, was weltschäden auftreten. Das wird in der EU-Richtlinie von vielen Kommunen gefordert worden ist. Lob ver- eindeutig ausgedrückt. Die Mitgliedstaaten der EU wol- dient auch, dass die Beteiligungsmöglichkeiten – Be- len flexible Regelungen, wenn – so heißt es wörtlich – grifflichkeit hin, Begrifflichkeit her – verbessert worden keine erheblichen Umweltauswirkungen zu erwarten sind. sind. Diesen gesetzgeberischen Rahmen hat die Bundes- regierung nicht ausgeschöpft. Umweltprüfungen wer- Wie gesagt, auch der Bundesrat schätzt dies so ein. den nämlich ausnahmslos in jedes Bauverfahren einge- Die 52 Vorschläge, die er gemacht hat, sind durchaus führt, und zwar ohne Rücksicht auf die kleinenhilfreich. Viele davon sind Vorschläge für redaktionelle Gemeinden. Die Ausnahmeregelung im geplanten § 13 Änderungen; es sind Klarstellungen, zum Beispiel bei des Baugesetzbuches greift eindeutig zu kurz. der Thematik des befristeten Baurechts, und auch Anre- gungen, die in der Gegenäußerung aufgenommen wor- Ich möchte noch zwei weitere Themen kurz anspre- den sind, zum Beispiel die Erleichterung von Genehmi- chen. Mit den im jetzigen Gesetzentwurf vorgesehenen gungen im nicht beplanten Innenbereich im neuen (B) Regelungen betreffend den Flächennutzungsplan – Frau (D) § 34 Abs. 3 a des Baugesetzbuches. Das ist schon eine Eichstädt-Bohlig hat den großflächigen Einzelhandel an- wichtige Sache, weil so das Genehmigungsverfahren gesprochen – wird in der Praxis jedes Bauen ausgehebelt. zum Beispiel für Erweiterungsgebäude von Handwerks- Des Weiteren gibt es ein„Investitionsverhinderungs- und kleinen Gewerbebetrieben im nicht beplanten Innen- recht“. Ich finde es unglaublich, dass die Kommunen pau- bereich deutlich beschleunigt wird. Ich glaube, das ist im schal ermächtigt werden sollen, Baugesuche ein Jahr lang Hinblick auf Arbeitsplätze und Investitionstätigkeit in zurückstellen zu können, bevor die Bearbeitungszeit be- den Kommunen durchaus eine wichtige Neuerung. Man ginnt. Wer soll angesichts einer solchen Regelung denn kann nur begrüßen, dass dieser Vorschlag des Bundes- vor Ort noch planen können? Welchen Handlungsspiel- rats in der Gegenäußerung aufgegriffen worden ist. raum haben die Unternehmen dann noch? Hier besteht Diskussions- und Handlungsbedarf. Aufgrund der Kürze Es passiert vielleicht selten im Parlament; aber ich meiner Redezeit möchte ich es bei diesen Anmerkungen sage das einfach einmal: In vielen Gesprächen in den belassen. letzten Wochen und Tagen ist mir immer wieder bestä- tigt worden, mit welcher Sorgfalt die Regierung und hier Wir haben einen Antrag eingebracht, über den wir im das federführende Ministerium und seine Mitarbeiter Laufe des Gesetzgebungsverfahrens ausführlich disku- vorgegangen sind. Das habe ich von Ländervertretern tieren werden. Ich bin sicher, dass es noch eine Vielzahl und von Verbandsvertretern erfahren. Von Anfang an ist von Punkten gibt, über die wir uns sachlich austauschen für die Betroffenen das Bemühen erkennbar gewesen, müssen, und dass wir einiges auf den Weg bringen wer- die Zusammenarbeit zu suchen. Deswegen ist erkennbar, den. dass von den ersten Überlegungen bis zum jetzt vorlie- Herzlichen Dank. genden Gesetzentwurf durchaus ein Entwicklungs- und Lernprozess vollzogen worden ist. Ich glaube, dass wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) das natürlich in der parlamentarischen Beratung so fort- setzen können. Das ist richtig und wichtig. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Wolfgang Spanier, SPD- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fraktion. DIE GRÜNEN) Ein wichtiger Aspekt ist für mich, dass man sich von Wolfgang Spanier (SPD): Anfang an um die Anwendungsfreundlichkeit des Bau- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gesetzbuches bemüht hat. Wir reden hier immerhin über gen! Die erste Lesung eines Gesetzentwurfs ist eine gute die planerischen Instrumente von 14 000 Gemeinden in 7638 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Wolfgang Spanier (A) unserem Land. Das ist, selbst wenn wir heute Abend nur hen müssen. Das wäre ein vernünftiges Ziel. Das zweite (C) 30 Minuten lang Ziel ist, den Termin 20. Juli zu erreichen. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Viel zu Es gibt eine Reihe von Diskussionspunkten – das ist wenig!) heute deutlich geworden – und von allen Seiten ist die Bereitschaft bekundet worden, diese in Ruhe und sach- und zu fortgeschrittener Zeit darüber reden, ein wirklich lich zu behandeln. Die Freude darauf hat schon mancher relevantes Thema. heute Abend bekundet; ich schließe mich dieser Freu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ densbekundung an. Es wird eine spannende und interes- DIE GRÜNEN) sante Diskussion werden. Noch einmal: Es geht um die Interessen von 14 000 Gemeinden in unserem Land. In diesem Fall hat es sich nachweislich wirklich be- währt, dass die Arbeit einerExpertenkommission vo- Schönen Dank. rangeschaltet wurde. Ich weiß, dass manche Kommis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sion vielleicht nicht zu Unrecht kritisiert wird und dass DIE GRÜNEN in der Öffentlichkeit mittlerweile geradezu ein Horror vor der Vielzahl von Kommissionen besteht. Hier hat es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sich aber durchaus bewährt. Ganz wichtig war die Zu- Nächster Redner ist der Kollege Thomas Dörflinger, sammensetzung: Natürlich waren dort Wissenschaftler CDU/CSU-Fraktion. sowie Vertreter der Anwaltschaft und der Richterschaft, aber vor allen Dingen von vornherein Praktiker präsent. Ich glaube, das hat schon im Kommissionsbericht deutli- Thomas Dörflinger (CDU/CSU): che Spuren hinterlassen. Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da- men und Herren! Gestatten Sie mir zwei Vorbemerkun- (Beifall der Abg. Gabriele Groneberg [SPD]) gen. Ich glaube, es ist auch eine gute Sache, dass wir hier Erstens. Als wir miteinander über den Entwurf einer die bewährte Praxis des Planspiels wieder aufgegriffen europäischen Verfassung diskutiert haben, hat insbeson- haben. Wir alle miteinander sind gespannt, was die Aus- dere die CDU/CSU-Bundestagsfraktion viel Wert darauf wertung des Planspiels am 1. März bringen wird. Ichgelegt, dass wir darin klar definieren, wer in Europa was vermute, dass von den sechs Kommunen, die daran be- macht. Die Umsetzung der hier zur Diskussion stehen- teiligt waren, ebenfalls eine Reihe von Vorschlägen und den Richtlinie in das nationale Baugesetzbuch ist nach Anregungen – aus der Praxis für die Praxis – gemacht meiner festen Überzeugung ein Beweis dafür, dass wir (B) wird. Darüber werden wir sicherlich intensiv sprechen. diese Debatte zum richtigen Zeitpunkt geführt haben.(D) Die Grenzen der einzelnen Politikbereiche sind fließend Ich möchte heute angesichts der Kürze der Zeit nicht und eigentlich niemand in diesem Hohen Hause kann ein auf Einzelheiten eingehen. Dazu haben wir anderswo Interesse daran haben, dass vieles von dem, was wir mit- Gelegenheit. Jedoch kann ich mir zwei Anmerkungen einander zu besprechen haben, eigentlich federführend zum FDP-Antrag nicht verkneifen: Diese pauschale Ab- in Brüssel entschieden wird. lehnung, die von vornherein mit einer – mit Verlaub – diffusen Begründung einherging, ist ein bisschen zu we- Zweitens. Sie werden mir als einem derjenigen, die nig. Es gibt viele Missverständnisse. Wenn Sie einmal sich in der vergangenen Legislaturperiode in einem an- wirklich überprüfen, ob beispielsweise durch die Vor- deren politischen Fachbereich mit europäischen Angele- schrift zum Umweltprüfungsverfahren bei den Bauleit- genheiten befasst haben, nachsehen, dass bei mir bei ei- verfahren mehr Bürokratie stattfindet, dann stellen Sie nem Gesetzesvorhaben, das aus Brüssel zu uns in den fest: Wenn keine erheblichen Umweltrisiken vorliegen, Deutschen Bundestag gekommen ist und den Anspruch ist eine Genehmigung im vereinfachten Verfahren ohne der Verwaltungsvereinfachung erhebt, leichte Zweifel Umweltprüfung selbstverständlich auch weiterhin mög- geblieben sind. lich. Ich will durchaus anerkennen, Herr Staatssekretär, (Gabriele Groneberg [SPD]: Eben!) dass Sie bei der Umsetzung dieser Richtlinie in nationa- les Recht nicht so sehr dem Wahn verfallen sind, den an- Wir vermeiden mit dem vorgeschlagenen Verfahrensweg dere Häuser der Bundesregierung bei der Umsetzung die sehr komplizierte und umfangreiche Vorprüfung. Ich von EU-Richtlinien in den vergangenen Monaten und erkenne hier nicht mehr, sondern weniger Bürokratie. Jahren an den Tag gelegt haben. Gestatten Sie mir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nichtsdestotrotz, auf einige Dinge im Detail hinzuwei- DIE GRÜNEN) sen, über die ich mich bei der Lektüre des Gesetzent- wurfs – sagen wir es einmal so – ein kleines bisschen ge- Lassen Sie mich zum Schluss ganz offen sagen: Wir wundert habe. haben zwei ehrgeizige Ziele. Richtig ist wohl, dass esvon der Arbeitssystematik Erstens. Wir würden uns freuen, wenn wir dieses Ge- her, beispielsweise für diejenigen, die sich damit in kom- setz hier beschließen. Die anschließende Zustimmung munalen Behörden beruflich befassen, vermutlich ein des Bundesrates müsste gewährleistet sein, sodass wir Fortschritt ist, wenn wir Umweltaspekte in die Bauleit- mit diesem Gesetz nicht ins Vermittlungsverfahren ge- planung integrieren. Wir müssen allerdings ehrlicher- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7639

Thomas Dörflinger (A) weise dazusagen, dass es für die Betreffenden sowohl wenn die Begründung „in unwesentlichen Punkten un-(C) qualitativ als auch quantitativ ein Mehraufwand ist, auch vollständig ist“. Wenn man sich solch eine Formulierung wenn es arbeitssystematisch ein Fortschritt sein mag. überlegt, dann müsste man wenigstens auch die Mühe auf sich nehmen zu definieren, was das Wörtchen „un- Ich greife ein paar dieser Regelungen heraus und be- wesentlich“ in diesem Punkt bedeutet. Ansonsten folgt schäftige mich zunächst mit der Anlage zum neu gefass- bei jedem dieser Verfahren, wenn irgendetwas unklar ist, ten § 2 a des Baugesetzbuches: ein Rechtsstreit. Die beste Lösung wäre, man lässt diese Erstens. Wenn beispielsweise eine Gemeinde einBestimmung einfach weg und belässt § 214 so, wie er Baugebiet ausweisen möchte und ein Verfahren einleitet, bisher war. dann muss sie in derUmweltprüfung, die Gegenstand (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dieses Verfahrens ist, auch untersuchen, was mit der Wiese, auf der das Baugebiet entstehen soll, passiert, Lassen Sie mich mit zwei Bemerkungen schließen: wenn das Baugebiet nicht ausgewiesen wird. Das ist mir nicht ganz einsichtig. Erstens eine Bemerkung zum Außenbereich. Auch vor dem Hintergrund, dass es Diskussionen in den kom- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE munalen Spitzenverbänden darüber gibt, die Unterschei- GRÜNEN]: Da kommen Schmetterlinge hin! – dung von Innen- und Außenbereich ganz zu canceln, Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Das wird sage ich einmal ganz vorsichtig: Der Gesetzgeber muss ein Biotop!) seinen Willen klar und deutlich zum Ausdruck bringen. Was möchte also der Gesetzgeber? Möchte er eine klare Der Sinn und Zweck dieser Übung für die Bürgerinnen Regelung, um Bauen im Außenbereich unter bestimmten und Bürger, für die zukünftigen Nutzer dieses Baugebie- Konditionen – Stichwort Privilegierung – zu ermögli- tes oder für die kommunalen Behörden erschließt sich chen oder möchte er das nicht und dieses eher verhin- für mich nicht. Das ist schlicht unsinnig. Das könnten dern? Jetzt steht von jedem ein bisschen im Gesetzent- wir uns eigentlich sparen, weil es wirklich praxisfern ist. wurf. Sie belassen § 235 des Baugesetzbuches zwar in Zweitens – wir sind immer noch bei der Anlage zum wesentlichen Teilen so, wie er ist, sehen aber gleichzei- neugefassten § 2 a des Baugesetzbuches –: Vorgeschrie- tig einen Planvorbehalt vor, indem Sie in § 15 Abs. 3 des ben ist bei der Umweltprüfung „eine KurzdarstellungBaugesetzbuches der Gemeinde die Möglichkeit einräu- des Inhalts und der wichtigsten Ziele des Bauleitplans“. men, einen Bauantrag für diesen Bereich zurückzustel- Gleichzeitig sind nach Nr.1 des neu gefassten § 2 a len. Eine klare Regelung würde verlangen, dass nur das „Ziele und Zwecke … des Bauleitplans“ in der Begrün- eine oder das andere geht. Wenn Sie sich klar darüber dung des Bauleitplans darzulegen. Da steht es alsosind, was Sie wollen, können wir uns darüber unterhal- (B) schon. Wir brauchen es an anderer Stelle nicht noch ein- ten, ob wir dem zustimmen können oder nicht. (D) mal aufzuführen; sonst machen wir die gleiche Arbeit Zweite Bemerkung. Lassen Sie – das sage ich im Inte- doppelt. Wir könnten uns allerdings darauf einigen, die resse vieler ländlicher Ortsteile, nicht Gemeinden, in beiden Stellen sozusagen zu verlinken, an der einenmeinem Wahlkreis – die Finger von der Außenbereichs- Stelle also auf die andere zu verweisen; das wiederum satzung. In vielen ländlichen Ortsteilen, insbesondere in machte Sinn. Aber wenn wir die gleiche Arbeit im glei- meinem Wahlkreis, ist eine vernünftige Eigenentwick- chen Verfahren zweimal machen müssen, macht es kei- lung dieser Ortsteile, die zum Beispiel darin besteht, nen Sinn. dass jungen Leuten, die gerne in dem Ort wohnen blei- Drittens – wieder die Anlage zu § 2 a –: Vorgeschrie- ben möchten, das Bauen dort erlaubt wird, nur mithilfe ben ist „eine Beschreibung, wie die Umweltprüfung vor- dieser Außenbereichssatzung möglich. Sie schneiden die genommen wurde. Es geht sozusagen – ich sage es mit Eigenentwicklung ländlicher Ortsteile weitgehend ab, meinen Worten – um eine Dokumentation der Methodik. wenn Sie die Außenbereichssatzung aus dem Baugesetz- Die Methodik ergibt sich aber zwingend aus der Art und buch streichen. Weise, in der die Umweltprüfung vorgenommen wurde. Lassen Sie uns vernünftig und sine ira et studio in den Also muss man die Methodik nicht noch einmal extra Ausschussberatungen auch anhand der Ergebnisse des beschreiben. Das macht quasi das Inhaltsverzeichnis.Planspiels darüber beraten, wie das Baugesetzbuch zu- Auch das ist ein unnötiger Aufwand, den wir uns eigent- künftig aussehen soll. lich sparen könnten. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das muss dann ge- strichen werden!) Ich habe einige Beispiele angeführt, bei denen ich den Eindruck hatte – – Ein Wort zum geplanten § 214 des Baugesetzbuches: Es erschließt sich mir nicht ganz, warum er nicht in sei- ner ursprünglichen Form belassen wurde. Bislang war es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: so, dass es in einem Bebauungsplanverfahren für die Herr Kollege, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr. Wirksamkeit des Bebauungsplans unerheblich war, wenn in der Begründung etwas falsch oder fehlerhaft Thomas Dörflinger (CDU/CSU): war. Das halte ich auch für sinnvoll. Jetzt steht im Regie- Gerne, Frau Präsidentin: Es ist fast zehn vor neun. rungsentwurf Folgendes drin: Die Unbeachtlichkeit ei- nes Begründungsfehlers ist nur noch dann anzunehmen, (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) 7640 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) Und Sie haben anderthalb Minuten überzogen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Das ist richtig. Deshalb mein letzter Satz, Frau Präsi- Willi Zylajew. dentin: Lassen Sie uns die Dinge in Ruhe durchdeklinie- (Beifall bei der CDU/CSU) ren und uns schauen, wo wir einen Beitrag zur tatsächli- chen Vereinfachung des Verfahrens leisten können. Willi Zylajew (CDU/CSU): Herzlichen Dank. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auf der Internetseite des Bundesministeriums für Fami- lie, Senioren, Frauen und Jugend finden sich einige inte- ressante Beiträge. In einem Artikel zur Integration jun- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ger Migranten heißt es unter anderem: Ich schließe die Aussprache. Seit etwa Mitte der 90er-Jahre ist die Integration Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf von Spätaussiedlern und ihren Familienangehöri- den Drucksachen 15/2250 und 15/2246 an die in der Ta- gen schwieriger geworden. gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Überweisungen so beschlossen. das ist richtig. Weiterhin heißt es in diesem Beitrag: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Die Integration wird durch zurückgehende Deutschkenntnisse sowie durch Wohngebiete mit Beratung des Berichts des Rechtsausschusses hoher Aussiedlerkonzentration erschwert. (6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts- ordnung zu dem von den AbgeordnetenDas ist die zweite richtige Feststellung auf dieser Inter- Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Dr.netseite. Jürgen Gehb, weiteren Abgeordneten und der Trotz dieser zwei richtigen Feststellungen sind Sie al- Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf lerdings auf die falsche Idee gekommen, in erheblichem eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Umfang Sprachfördermittel zu kürzen. Bei Ihrem Enga- Gesetzbuches (Gesetz zur Beseitigung dergement in der Aussiedlerpolitik habe ich den Eindruck, (B) Rechtsunsicherheit beim Unternehmenskauf) dass die ablehnende Position des Herrn Lafontaine in(D) den 90er-Jahren Ihr Handeln begründet. – Drucksachen 15/1096, 15/2326 – (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wo ist (Erste Beratung 56. Sitzung) er denn?) Berichterstattung: Vielleicht haben Sie aber auch die Notwendigkeit einer Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) guten Integrationsarbeit noch nicht wirklich verstanden. Die Kollegen Christine Lambrecht, Dr. NorbertDer wichtigste Schritt auf dem Weg zur Integration in Röttgen, Jerzy Montag und Rainer Funke haben ihre Re- eine Gesellschaft – das werden Sie sicherlich akzeptie- den zu Protokoll gegeben.1) Deshalb kommt es zu keiner ren, Frau Kollegin – ist das Erlernen einer Sprache. Aussprache und auch zu keiner Abstimmung, da es sich (Rita Streb-Hesse [SPD]: Wohl wahr!) um einen Bericht gemäß § 62 GO-BT handelt. Sie von Rot-Grün aber reduzieren die Dauer von Inten- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: sivsprachkursen von bisher zehn Monaten auf sechs Mo- Beratung des Antrags der Abgeordnetennate. Ohne ausreichende Deutschkenntnisse werden ins- Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Erwinbesondere junge Spätaussiedler kaum noch Kontakte zu Marschewski (Recklinghausen), weiterer Abge- einheimischen Jugendlichen entwickeln, werden weni- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU ger am örtlichen Leben teilnehmen; man bleibt unterei- nander. Es bilden sich weitere Parallelgesellschaften mit Keine Kürzungen von Integrationsmaßnah- allen Problemen, die wir eben nicht wollen. men Hier fangen die Probleme an und sie gehen endlos – Drucksache 15/1691 – weiter. Aufgrund der mangelnden Deutschkenntnisse Überweisungsvorschlag: können viele junge Spätaussiedlerinnen und Spätaus- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) siedler dem Schulunterricht nicht folgen. Die Zahl jun- Innenausschuss ger Aussiedler ohne Schul- und Berufsausbildung steigt Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit kontinuierlich. Dies sagt im Übrigen auch das zustän- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung dige Ministerium. Was tut die Bundesregierung da, Frau Haushaltsausschuss Staatssekretärin, um Abhilfe zu schaffen? – Nichts, zu- mindest nichts Gutes. 1) Anlage 3 (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7641

Willi Zylajew (A) Zwölfmonatige Integrationskurse mit dem Ziel eines Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit. (C) qualifizierten Schulabschlusses werden weitgehend ge- (Beifall bei der CDU/CSU) strichen. Internatsgestützte besondere Einrichtungen, die auf Schulabschlüsse vorbereiten, werden nur noch bis zum Schuljahresende 2004 gefördert. Um es in der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schulsprache zu sagen, verehrte Damen und Herren von Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin der Koalition: Diese Leistungen verdienen ein Ungenü- Marieluise Beck. gend, eine glatte Sechs! Parl. Staatssekretärin bei der Bun- (Beifall bei der CDU/CSU) Marieluise Beck, desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Dadurch werden die Probleme junger Aussiedlerin- Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht- nen und Aussiedler noch größer. Sie können fragen, wen linge und Integration: Sie wollen – Arbeitgeber, Gewerkschaftler, Schwarze, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Rote, Grüne, Gelbe –, jeder wird Ihnen sagen: Ohne aus- Kollegen! Lieber Herr Zylajew, nur zu sagen: „Zurück reichende Deutschkenntnisse und ohne Schulabschluss zu den alten Zeiten“, ist, wenn sich die Realitäten verän- ist kein Ausbildungsplatz zu erhalten. Was tut die Bun- dern, keine besonders kluge Lösung, um mit Schwierig- desregierung in dieser Situation? Da werden zwölfmona- keiten fertig zu werden. Das sage ich vorweg. tige Integrationskurse mit zusätzlichen berufsorientie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des renden Bestandteilen schlichtweg gestrichen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Pfui! – Rita Streb- Sie stellen nur den Antrag, den alten Zustand bitte schön Hesse [SPD]: Auf zehn Monate gekürzt!) wiederherzustellen. – Sie werden gestrichen, Kollegin; Sie haben gleich die (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Weil er Chance zu erwidern. Vielleicht müssen Sie einmal in die gut war oder jedenfalls besser!) richtigen Internetseiten schauen; dann werden Sie das feststellen. – Dazu werde ich jetzt kurz etwas sagen. Stattdessen gibt es nur noch gekürzte Sprachkurse mit Sie greifen eine Förderpolitik auf, die im Rahmen des viermonatigen berufsorientierten Aufbaukursen. Sie kür- Garantiefonds über viele Jahre hinweg für Spätaussied- zen also Maßnahmen, die junge Menschen näher anler gemacht worden ist. Das war ein guter Ansatz, weil Ausbildung und an einen Arbeitsplatz heranbringen. man festgestellt hat, dass Sprache in der Tat die zentrale Voraussetzung ist, um einen Weg in die Gesellschaft hi- (B) Ich frage mich, was diese Kürzungen sollen. Sie sa- nein zu finden. (D) gen ja selbst: Ohne besondere Hilfen können junge Aus- siedlerinnen und Aussiedler in der Schule und in der Be- Herr Zylajew, Sie haben in Ihrer Rede den Sachver- rufsausbildung immer seltener in der Konkurrenz mithalt ausgespart, dass wir während der ganzen Jahre lei- einheimischen Jugendlichen bestehen. der vergessen haben, unseren Blick auf eine zweite Gruppe von Zuwanderern zu werfen, nämlich auf dieje- Diese Widersprüchlichkeit Ihrer Aussagen mag ver- nigen, die nicht Spätaussiedler, sondern Migranten aus stehen, wer will – ich verstehe sie nicht. Sie drückenanderen Herkunftsländern sind. letztlich Zuwanderer in eine Randlage. Randgruppen, das wissen wir, werden gerne zu Sündenböcken ge- (Beifall bei der SPD) macht. So entstehtFremdenfeindlichkeit. Teile von Wir kamen nach den vielen Debatten der letzten Jahre Rot-Grün suchen gerne nach den Ursachen von Frem- und auch dem Streit, den wir miteinander hatten, zu der denfeindlichkeit. Angesichts dieser Politik sage ich Ih- Erkenntnis, dass es im Interesse unserer Gesellschaft nen: Schauen Sie in den Spiegel, dann sehen Sie, wer– wir alle nennen dasIntegrationspolitik – liegt, die Fremdenfeindlichkeit in diesem Land verursacht. Gruppe derjenigen, die als Spätaussiedler zu uns kom- (Beifall bei der CDU/CSU) men, und die Gruppe derjenigen, die als Migranten aus anderen Ländern kommen, zusammenzuführen. Man Wir wollen eine Integrations- und Sprachförderung, könnte die beiden Gruppen auch folgendermaßen auftei- die allen Zuwanderern, Ausländern wie Aussiedlern, ge- len: zum einen das Milieu, das Jochen Welt vertritt, recht wird. Dazu stehen wir. Dazu haben Sie in den ver- gangenen fünf Jahren noch kein Konzept auf den Tisch (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wo ist gelegt. er eigentlich, Frau Staatssekretärin? Ist es ei- gentlich in Ordnung, dass ein Beauftragter bei Für meine Fraktion fordere ich: Bleiben Sie bei den so einem Thema nicht da ist? Der Herr hat es Richtlinien aus dem Jahre 1998. Gewähren Sie weiterhin nicht nötig!) die notwendigen Zuwendungen zur sprachlichen, schuli- zum anderen die Gruppe, die ich als Ausländerbeauf- schen und beruflichen Eingliederung junger Menschen! tragte vertreten habe. Wir sind klug beraten, diese beiden Sichern Sie das erprobte Konzept für 2004! Nehmen Sie Gruppen zusammenzuführen und für sie gemeinsam Ihre einschränkenden Erlasse zurück! Dies wird den jun- Kurse anzubieten, damit wir möglichst viele dieser Zu- gen Aussiedlern, einer Menschengruppe, die durch die gewanderten integrieren können. Geschichte schon sehr gebeutelt wurde, helfen, ebenso wie unserer ganzen Gesellschaft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 7642 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Parl. Staatssekretärin Marieluise Beck (A) Auf der Grundlage dieser Erkenntnis ist zunächst – in Es gibt außerdem nach wie vor im Rahmen des So-(C) der Zeit vor dem Zuwanderungsgesetz – einGesamt- zialgesetzbuches III die Möglichkeit – darauf sollten wir sprachkonzept entstanden. Wir haben die von verschie- achten –, Schulabschlüsse nachzuholen. Das kann über denen Ministerien angebotenen Sprachförderprogramme die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen des Ermessens – auch das damalige Bundesarbeitsministerium hat für gefördert werden. Sprachkurse, die nach dem SGB III gefördert wurden, erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt – zusammenge- Wir sollten ehrlich bleiben, lieber Herr Kollege führt. Man könnte sagen, wir haben damit aufgehört, die Zylajew. alten Häuser auszubessern und stattdessen systematisch (Willi Zylajew [CDU/CSU]: Die ganze Zeit!) ein Haus aufgebaut, in das möglichst viele hineinpassen, also die deutsche Sprache lernen können. Ich weiß, dass Sie sich in dieser Frage sehr engagieren. Als jemand, der aus Nordrhein-Westfalen kommt, ist (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Verpflichtend dies sehr einsichtig. Wenn wir gemeinsam vorgehen, für den Aufenthaltsstatus! Das wäre richtig!) werden Sie sehen, dass der Weg, der jetzt vom Ministe- Die Gelder für denGarantiefonds – das muss man rium eingeschlagen worden ist, unter den finanziellen hier klarstellen – sind im Haushalt nicht gekürzt worden. Rahmenbedingungen, unter denen wir arbeiten müssen, Ich möchte, dass Sie das ehrlicherweise zur Kenntnisund mit der Idee, möglichst viele zu bedenken, ein ver- nehmen. In der Tat sind Veränderungen vorgenommen nünftiger ist. worden. Zum einen wurden bei der Gruppe der Spätaus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN siedler Kürzungen vorgenommen, damit auch andere und bei der SPD) Migranten, für die wir Verantwortung haben, Kursteil- nehmer werden können. Das war nötig, da weder Sie noch wir den Goldesel besitzen, der uns das Geld aus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: spucken kann. Die zweite Änderung war erforderlich, da Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler, der Bundesrechnungshof – er hat sehr deutlich die unter- FDP-Fraktion. schiedlichen Kompetenzen im Föderalismus betont – darauf hingewiesen hat, dass das Bundesjugendministe- (FDP): rium nicht mit Förderangeboten für schulpflichtige junge Dr. Max Stadler Menschen in die Kulturhoheit der Länder eingreifen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kann. Das Anliegen, möglichst viel anSprachförderungs- maßnahmen für jugendliche Ausländer und Spätaus- Wir als Ministerium sind vom Bundesrechnungshof siedler vorzusehen, ist nicht allein ein berechtigter (B) dazu aufgefordert worden, diese Garantiefondsmodelle Wunsch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sondern(D) so umzustricken, dass die Regelaufgabe „Schule undwird selbstverständlich auch von der FDP-Fraktion – ich Sprachförderung“ in die Kulturhoheit der Länder fällt nehme an, vom gesamten Haus – geteilt. und wir uns auf Aufgaben konzentrieren, die darüber hi- naus erfüllt werden müssen. Das sind die Rahmenbedin- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE gungen, die ich Sie bitte, zur Kenntnis zu nehmen. GRÜNEN]: Von uns allen!) Es gibt in dieser Diskussion ein weiteres Problem, das Es besteht allgemeine Einigkeit, dass die Kenntnis der zu sehr viel Aufregung geführt hat: die Frage der Inter- deutschen Sprache sowie das Erreichen qualifizierter nate. Es hat Internate gegeben, in denen Kurse undSchulabschlüsse eine wesentliche Voraussetzung für Schulabschlüsse nachgeholt werden konnten. Ich weiß, eine erfolgreiche Integration sind. dass es für diese Internate unendlich schwierig ist, ihre Existenz zu sichern. Denn wir haben in der Tat beschlos- Ich stimme dem zu, was gesagt worden ist: Die heu- sen – dies mussten wir –, die Internatsaufenthalte auslau- tige Generation der Spätaussiedlerfamilien bereitet mehr fen zu lassen. Probleme bei der Integration, als dies Anfang der 90er- Jahre der Fall war. Ich sage Ihnen auch, warum, Herr Zylajew. Wenn man nicht anders kann, als sich innerhalb bestimmter fi- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) nanzieller Rahmenbedingungen zu bewegen, dann hat Im Gegensatz zu damals verfügt heute bekanntlich die man die Verpflichtung, sehr genau hinzuschauen, anüberwiegende Zahl der mitreisenden Familienangehöri- welcher Stelle man wie viel Geld am effektivsten ausge- gen nicht mehr über die erforderlichen Deutschkennt- ben kann. Eine Internatsausbildung kann für bestimmte nisse. Das führt natürlich zu Problemen. Denn Ausgren- Betroffene gut und wunderbar sein; aber sie ist extrem zung aufgrund fehlenderKommunikation als Folge teuer. Wenn ich viele andere deswegen, weil ich einigen mangelnder Sprachkenntnisse bringt beinahe zwangsläu- das Modell de luxe anbiete, nicht so bedienen und be- fig soziale Probleme mit sich. Infolgedessen stimmen denken kann, wie es eigentlich nötig wäre, dann muss wir den Antragstellern zu; wir sind es den jungen Aus- man, so schwierig und dornigdieser Weg ist, an diese ländern und den Spätaussiedlern schuldig und haben als schwierige Strukturentscheidung herangehen. Wir haben deutsche Gesellschaft ein vitales eigenes Interesse daran, das getan. Wir haben Übergangsfristen eingerichtet, um dass umfängliche Integrationsmaßnahmen fortgeführt den Internaten die Möglichkeit zu geben, umzusteuern werden. und sich in Zusammenarbeit mit den Ländern auf die neue Situation einzustellen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7643

Dr. Max Stadler (A) Wir können diese Diskussion nicht losgelöst führen, bundene öffentliche Verpflichtung einer bedarfsgerech- (C) ohne einen Blick auf das gerade laufende Vermittlungs- ten Sprachförderung ist mittlerweile breit akzeptiert. verfahren zum Zuwanderungsgesetz zu werfen. So überrascht es nicht – da habe ich eine etwas andere (Beifall der Abg. Rita Streb-Hesse [SPD]) Interpretation als der Kollege Stadler –, dass der Integra- tionsteil des Zuwanderungsgesetzes mit seinem gemein- Morgen um 11 Uhr wird ja die Arbeitsgruppe des Ver- samen Sprachfördergesetz für die unterschiedlichen Mi- mittlungsausschusses, der ich anzugehören die Ehre grationsgruppen im Grundsatz nicht streitig ist; streitig habe, über den Fortgang dieses Vermittlungsverfahrens sind allenfalls der Kursumfang und die Bund/Länder-Fi- sprechen. Dort geht es selbstverständlich ganz entschei- nanzierungsanteile. dend auch um die künftige Integrationspolitik, damit auch um die Sprachkurse und um die Kostenverteilung (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Auch die Frage zwischen Bund und Ländern. Ich verrate kein Geheimnis des verpflichtenden Aufenthaltsstatus!) aus den bisherigen Sitzungen, wenn ich sage: Es geht grundsätzlich um die Ausgestaltung der Spätaussiedler- Intention und Kriterien – das ist, denke ich, in den politik, und zwar ausdrücklich und vor allem bisherigen auf Beiträgen zu kurz gekommen – der vorgese- Wunsch der unionsregierten Bundesländer; das musshenen Neustrukturierung waren sehr frühzeitig bekannt: man bei der Gelegenheit auch erwähnen. Sie zielen auf eine aktivierende, nicht nur betreuende Sprachförderung, sie fördern ein bedarfsgerechtes und Über all diese Fragen wird also morgen zu sprechen gemeinsames Lernen, sie schaffen Klarheit und Über- sein. Ich glaube, es ist richtig, diesen Antrag der CDU/ schaubarkeit bei Zuordnung, Leistung und Finanzierung, CSU-Bundestagsfraktion als Petitum des Parlaments in achten auf Effizienz und den Abbau von Verwaltungs- diese Beratungen mit einzubringen und als Material für hierarchie und – das müsste in Ihrem Interesse sein – er- die morgigen und weiteren Gespräche anzusehen. Ichmöglichen die Sicherung eines regionalen Angebots. möchte aber an die Unionsfraktion appellieren, ihre Blo- ckade eines vernünftigen Zuwanderungsgesetzes aufzu- Die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts durch die geben. Bundesregierung zur Verbesserung der sprachlichen In- tegration erfolgte keinesfalls unter Ausschluss der Öf- (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP] und fentlichkeit: Die von Ihnen kritisierte neue Form der der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜND- Sprachförderung über das Ministerium war schon im Ja- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Reinhard Grindel nuar 2001 mit allen Kriterien auf der Homepage des [CDU/CSU]: So ist es doch nicht!) Bundsministeriums für Familie, Senioren, Frauen und – Nein, es ist so. Jugend. (B) (D) Mit einem Gesamtkonzept für Migration und Zu- Wie wir hinreichend wissen, konnte die für den 1. Ja- wanderung lassen sich auch diese Integrationsprobleme nuar 2003 vorgesehene Umsetzung des Gesamtkonzepts besser lösen. aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Zuwanderungsgesetz im Dezember 2002 so noch (Beifall der Abg. Silke Stokar von Neuforn nicht erfolgen. Im Wissen um ein erneutes Gesetzge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bungsverfahren – der Kollege Stadler hat darauf hinge- Dies muss nicht zwingend im Rahmen eines Zuwande- wiesen; Sie haben zum Teil zustimmend genickt – und rungsgesetzes geschehen, aber es ist zweckmäßig, ein die eingeleiteten Vorbereitungs- und Begleitmaßnahmen solches Gesamtkonzept zu verabschieden; darum wird es entschied sich das Ministerium für eine Übergangsrege- morgen gehen. lung, auf die sich Ihr vorliegender Antrag bezieht. Wie gesagt: Die FDP stimmt Ihrem Anliegen zu und (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Da wird es in diesen Beratungen vertreten. mussten wir aber mächtig nachhelfen!) (Beifall bei der FDP) Jetzt kommen wir wirklich zu dem Punkt. Der Kol- lege Zylajew hat von jungen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern gesprochen. Schauen Sie sich Ihren An- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: trag an! Im Antragstext stehen beide Migrantengruppen, Das Wort hat die Kollegin Rita Streb-Hesse, SPD-wie sie heute definiert werden. In Ihrer Begründung geht Fraktion. es dann allerdings nur noch um junge Spätaussiedlerin- nen und Spätaussiedler. Sprachlich wohlfeil verpackt Rita Streb-Hesse (SPD): in ein Ja zu einem umfassenden Integrationskonzept und Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Wir ein Ja zu den sich daraus ergebenden finanziellen Ver- alle sind uns – das haben heute die Beiträge gezeigt – der pflichtungen – ich denke, für alle Migrationsgruppen – Bedeutung von Sprache und Sprachkompetenz bewusst. sowie einen wenn auch versteckten Hinweis auf ein Sie sind der Schlüssel zur Welt: Sprache ist der Schlüssel kommendes Zuwanderungsgesetz, haben Sie die Rück- für eine erfolgreiche individuelle und gesellschaftliche kehr zum alten System gefordert. Der Kollege Zylajew Sozialisation und Integration der Zuwanderinnen undhat das deutlich definiert. Das bedeutet, wie die Staatsse- Zuwanderer. Für Migrantinnen und Migranten ist siekretärin richtig dargestellthat, die Beibehaltung aller darüber hinaus der Schlüssel, der ihnen die Türen in un- Maßnahmen, wohl wissend – das möchte ich noch sere Gesellschaft öffnet. Die an diese Feststellung ge- einmal betonen –, dass diese mehrheitlich für junge 7644 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Rita Streb-Hesse (A) Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler und noch lange bar ist. Dies zeigt auch der Zeitpunkt Ihrer Antragstel-(C) nicht für alle jungen Zuwanderer offen sind. lung. Sie erfolgte erst im Oktober 2003, obwohl Sie schon seit Beginn des Jahres 2003 – nicht zuletzt aufgrund dies- Die veränderte Praxis ist schon dargestellt worden: bezüglicher Fragen Ihrer CDU-Kollegen Marschewski Die Dauer der neuen Sprachkurse, wie im Zuwande-und Koschyk im Januar und Februar 2003 – sehr detail- rungsgesetz vorgesehen, ist auf sechs Monate begrenzt. liert über die Übergangsregelungen informiert wurden. Aber – das wissen Sie sehr gut – der bisherige wöchent- liche Unterrichtsumfang von bis zu 40 Stunden wurde Sie als Antragsteller mussten ebenfalls wissen, dass beibehalten. Mit den weiterhin möglichen viermonatigen die damit verbundene Umstellung bei den Trägern und Aufbaukursen mit Berufsorientierung umfasst die erste durch die Träger bereits erfolgt war und seit Monaten Sprachförderung immerhin zehn Monate. praktiziert wurde. Im Oktober letzten Jahres wussten Sie auch, dass die Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschus- Die bislang geförderten besonderen Hilfen zur Vorbe- ses Ihre Bemühungen um ein Zuwanderungsgesetz ab reitung bzw. zum Nachholen vonSchulabschlüssen November letzten Jahres intensivieren würde. In diesem sind nicht nur mit Blick auf die Kosten bei Öffnung für Sinne verstehe ich auch den sprachlichen Schmackes des alle jungen Zuwanderer, sondern auch angesichts vor- Kollegen Stadler, dies als Petitum umzuformulieren. handener anderer Möglichkeiten nicht haltbar. Schulab- schlüsse sind in vielen Programmen der Arbeitsverwal- Meine Damen und Herren, Sprache ist und bleibt der tung integriert, ebenso in zahlreichen Angeboten unseres Schlüssel zur Integration. Doch eine erfolgreiche Inte- öffentlichen Schulsystems. Bei uns in Frankfurt zumgration braucht mehr. Diesem Anspruch stellt sich die Beispiel gibt es eine Abendhauptschule, eine Abendreal- Regierungskoalition. Sie ermöglicht und unterstützt ein schule, zwei Abendgymnasien und das Hessenkolleg. vielfältiges Spektrum zusätzlicher Integrationswege, das Ich denke, in den anderen Bundesländern wird es ähnli- schon jetzt auf breite Resonanz und Akzeptanz stößt. Als che Programme im öffentlichen Schulsystem geben. Beispiele seien hier nur die Programme „Soziale Stadt“, „Entwicklung und Chancen für benachteiligte Jugendli- Das gilt dann folgerichtig ebenso für das im Begrün- che“ sowie die Modellprojekte in den Bereichen des dungstext monierte Auslaufen der unterstützenden Leis- Sports und der Kriminalprävention genannt. tungen für schulpflichtige junge Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler. Die Frau Staatssekretärin hat zu Recht Wir alle sind gefordert, diesen wichtigen Prozess ei- dargestellt: Das ist Folge eines diesbezüglichen Petitums ner guten und erfolgreichen Integrationsarbeit konstruk- des Bundesrechnungshofs, das auf die Zuständigkeit der tiv zu begleiten und mitzugestalten. Dies, meine Damen Bundesländer verweist und auch schon seit Juni 2002 und Herren von der Opposition, wäre dann Ihr Schlüssel bekannt ist. Nicht wenige Bundesländer haben deshalb für eine gute Zukunft in unserem Land. (B) (D) und nicht zuletzt als Antwort auf die Ergebnisse der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ PISA-Studie bereits mit Maßnahmen zur sprachlichen DIE GRÜNEN) Förderung im Vorschul- und Schulbereich reagiert. In al- len Berliner Zeitungen können Sie heute die Antwort des Senats in Bezug auf Reformen zur sprachlichen Förde- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rung im Schulsystem nachlesen. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion. Der finanzielle Teil IhresAntrags ist ein Schuss ins Leere. Die Finanzierung der laufenden Maßnahmen und Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): von Kursen ist bis zum Schuljahresende 2004 gesichert. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entsprechend ihren Bedarfsmeldungen von 2003 sind ih- Ich bin ein wenig verwundert, dass Sie diesen Tagesord- nen Mittel zugewiesen worden. Für das Jahr 2004 sind nungspunkt zu so später Stunde und bei so schlechter die notwendigen Verpflichtungsermächtigungen erfolgt. Präsenz behandeln, war Ihnen diese Frage doch früher so Ich denke, die Damen und Herren der CDU/CSU wis- wichtig, dass Ihnen das Bundesverfassungsgericht erst sen, dass der Antrag sachlich weder nachvollziehbarwieder auf den Weg der Tugend helfen musste. Jetzt noch angemessen ist. Er stellt sich auch nicht den objek- merkt man bei diesem Thema kaum noch ein Echo. Die tiv feststellbaren Änderungen der Migration und der Integration ist eine der wichtigsten Fragen. Die Nichtin- Notwendigkeit neuer Antworten. Er ist letztendlich nicht tegration wird unsere Gesellschaft möglicherweise mehr glaubwürdig. verändern als alles andere, was wir in diesen Tagen bera- ten. Deswegen finde ich es schon schade, dass dieser Er unterstützt die Erwartungen einer Zielgruppe im Punkt so wenig Aufmerksamkeit genießt. Rahmen der Migrationsgruppen, (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ (Zuruf des Abg. Jochen-Konrad Fromme DIE GRÜNEN]: Das ist euer Antrag! Ihr [CDU/CSU]) konntet die Zeit bestimmen! Ihr konntet die – Herr Fromme, es sei, wie es ist –, Prioritäten setzen!) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist Meine Damen und Herren, natürlich haben wirInte- es!) grationsprobleme. Wer wollte das leugnen? Aber wir haben bei dieser Frage einen unterschiedlichen Blick- obwohl auch in den Reihen der CDU/CSU die Einsicht winkel. Wir wollen uns in erster Linie um diejenigen reift, dass die alte Förderungspraxis so nicht länger halt- kümmern, die Deutsche sind und wieder nach Deutsch- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7645

Jochen-Konrad Fromme (A) land zurückkommen wollen, während Sie die Scheunen- Meine Damen und Herren, wir sollten das lieber ein- (C) tore für alle aufmachen wollen und gleichzeitig die Mit- mal unter dem Gesichtspunkt betrachten, wen man bes- tel kürzen. Dann wundern Sie sich, dass ser keine integrieren kann und wo eigentlich die Probleme lie- Integration stattfindet. Das ist doch der Zirkulus, den Sie gen. Es ist doch eine Gnade der Geburt, dass der eine herbeigeführt haben. Eltern hatte, die in Westdeutschland gewohnt haben, während der andere Eltern hatte, deren Großeltern da- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mals nach Russland ausgewandert sind. Deshalb müssen Wenn man Menschen in unser Land holt, dann aus der wir doch denen, die jetzt in Not geraten sind, helfen und Volksgruppe, die sich am schnellsten und dauerhaftesten müssen sie aufnehmen und integrieren. Darauf müssen integriert. Dies sind nun einmal unsere Spätaussiedler wir unsere Kräfte konzentrieren. und nicht etwa Menschen aus anderen Kulturen. Wir dürfen aber nicht Menschen in unser Land ho- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ len, die in diesozialen Sicherungssysteme zuwan- DIE GRÜNEN]: Na, na!) dern. Schauen wir uns einmal die Bilanz an: Wie viele Der Aussiedlerbeauftragte – ich finde es schon bemer- von denen, die in unser Land gekommen sind, befin- kenswert, dass er heute nicht hier ist – hat Folgendesden sich in sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- ausgeführt: gungsverhältnissen, und wie hat sich diese Bilanz ver- schlechtert? Die Antwort auf diese Frage zeigt uns, dass Integration ist eine der wichtigsten ... Aufgaben und wir mit Zuwanderung überhaupt kein Problem lösen Herausforderungen der kommenden Jahre ... Die können; denn die Zuwanderung hat in die sozialen Si- Bundesregierung hat großes Interesse an einer er- cherungssysteme stattgefunden, nicht etwa in den Ar- folgreich verlaufenden Integration. beitsmarkt. Meine Damen und Herren, er hat Recht. Wenn ich Deswegen sollten wir uns auf die Gruppe konzentrie- aber einmal Anspruch und Wirklichkeit vergleiche, dann ren, der wir wirklich innerlich und moralisch verpflichtet stelle ich fest, dass – wie es bei ihnen immer der Fall ist – sind. Dann ist das auch keine Frage der Finanzierung; diese sehr weit auseinander klaffen. Anstatt die zurück- dann ist es vollkommen eindeutig: Nach dem Grundge- gehenden Zahlen dafür zu nutzen, die Kurse zu intensi- setz ist der Bund verpflichtet, die Kriegsfolgelasten zu vieren und den Integrationsprozess zu verbessern, haben tragen. Es geht hierbei ganz eindeutig um Kriegsfolge- Sie die Bewilligungen erheblich gekürzt. 1998 standen lasten, da waren wir uns bisher einig. Deswegen kann es für Spätaussiedler, deutsche Minderheiten und Vertrie- für den Rechnungshof auch keine Probleme in dieser bene noch 382 Millionen Euro im Haushalt zur Verfü- Frage geben. gung, jetzt sind es noch 118 Millionen Euro. Diese dras- (B) (D) tischen Kürzungen haben Folgen. Die Folgen sind die Wenn wir diese Töpfe jetzt aber für Migranten öffnen, Probleme, die wir jetzt haben. Ich glaube, wenn wir uns wird das natürlich ein Rechtsproblem, weil wir dann tat- mehr um dieses Thema gekümmert hätten und wenn Sie sächlich in die Kompetenz der Länder eingreifen. Des- mehr Mittel dafür zur Verfügung stellen würden, dann wegen treten wir dafür ein, dass die Fördersysteme sau- wären auch die Früchte besser. ber getrennt bleiben. Dann können wir nachvollziehen, (Zuruf von der SPD: Wer hat denn bis 1998 wer was für wen macht. Meine Damen und Herren, wir regiert?) werden damit wesentlich mehr Integration leisten und werden das, was Sie sich auf Ihre Fahnen geschrieben Wenn Sie alle, die zu uns kommen – hier möchte ich haben, aber in der Wirklichkeit leider nicht erfüllen, deutlich zwischen den Spätaussiedlern und den übrigen auch erreichen. Migranten differenzieren –, in einen Topf werfen, dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn sich die Leis- Deshalb darf ich Sie herzlich bitten: Stimmen Sie tungen verschlechtern. Gerade beiSprachkursen dem Antrag zu! Tun Sie etwas Vernünftiges! kommt es doch auf eine möglichst homogene Unter- Dass der Garantiefonds noch besteht, ist im Übrigen richtsgruppe an. Wenn dies gewährleistet ist, wird das nur auf den Druck des Kollegen Marschewski zurückzu- Geld erfolgreich eingesetzt. Wenn aber alle Gruppen führen; denn Sie wollten den Fonds doch damals schon vermischt werden, dann können Sie damit zum einen abschaffen. eher vertuschen, dass Sie die Leistungen für Spätaus- siedler überproportional kürzen, und zum anderen ma- (Beifall bei der CDU/CSU) chen Sie deutlich, dass Sie sie gar nicht mehr hier haben wollen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bis weit in die 90er-Jahre bestand in derAussiedler- Ich schließe die Aussprache. politik großes Einvernehmen. Diesen Weg haben Sie bei der Beratung des Spätaussiedlerstatusgesetzes im Jahre Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 2000 verlassen. Sie wollen offensichtlich überhauptDrucksache 15/1691 an die in der Tagesordnung aufge- keine Spätaussiedler mehr, weil Ihnen diese Gruppeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit nicht willkommen ist und weil sie Ihnen möglicherweise einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- politisch nicht genehm ist. Das ist schade. Sie wollen an- sung so beschlossen. dere Gruppen hereinlassen, die Ihnen politisch genehmer sind. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: 7646 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peterschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-(C) Götz, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, nung einstimmig abgelehnt. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Auch der hilfsweise gestellte Antrag auf CDU/CSU Drucksache 15/884, nach dem Frau Pau und Frau Vorlage eines städtebaulichen Berichts Dr. Lötzsch eine Vielzahl von nur Fraktionen und aner- kannten Gruppen zustehenden Rechten verlangen, – Drucksache 15/2158 – wurde einstimmig abgelehnt. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Lassen Sie mich hier kurz die Gründe für diese Ent- Innenausschuss scheidungen darlegen. Sehr geehrte Frau Kollegin Pau, Rechtsausschuss sehr geehrte Frau Kollegin Dr. Lötzsch, im Kern sind Finanzausschuss Ihre Anträge abgelehnt worden, weil Sie etwas verlan- Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss gen, was Ihnen der Deutsche Bundestag im Interesse der Erhaltung seiner Arbeitsabläufe und seiner Funktionsfä- Die Kollegen Petra Weis, Renate Blank, Wernerhigkeit nicht geben kann und nicht geben darf. Eine An- Kuhn, Franziska Eichstädt-Bohlig und Joachim Günther nahme Ihrer Anträge würde die Funktionsfähigkeit des haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Deshalb ent- Deutschen Bundestages beeinträchtigen. fällt die Debatte. Lassen Sie mich die drei entscheidenden Punkte, die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufzu dieser Bewertung geführt haben, kurz ausführen. Drucksache 15/2158 an die in der Tagesordnung aufge- Ich gehe dazu zuerst von einer scheinbaren Selbstver- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ständlichkeit aus. Wir alle wissen, dass die Arbeitslast einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- eines modernen Parlaments ohne Fraktionen nicht zu be- sung so beschlossen. wältigen wäre. Dies ist im Übrigen auch die unbestrit- Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: tene Auffassung der Wissenschaft und der Parlaments- praxis. Ein modernes Parlament, das nach dem Prinzip Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- voneinander unabhängiger Mitglieder arbeiten wollte, richt des Ausschusses für Wahlprüfung, Immuni- wäre arbeitsunfähig. Es ist daher kein Zufall, dass sich tät und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) gleich gesinnte Abgeordnete in allen freien Parlamenten – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine zu Fraktionen zusammenschließen. Lötzsch und Petra Pau Die Fraktionen dienen der Funktionsfähigkeit des (D) (B) Rechtsstellung der Abgeordneten der PDS Parlaments und steigern gleichzeitig die politische Wirk- im 15. Bundestag samkeit des einzelnen Mandatsträgers. Diese immanent wichtigen Funktionen würden die Fraktionen unwider- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine ruflich einbüßen, wenn Zufalls- oder Zweckbündnisse Lötzsch und Petra Pau einzelner Abgeordneter gleiche oder ähnliche Rechte hätten. Ein solches Parlament mit vielleicht Dutzenden Änderung der Geschäftsordnung des Deut- von Fraktionen wäre nicht arbeitsfähig. Es wäre eine schen Bundestages Aushöhlung der parlamentarischen Funktion der Frakti- – Drucksachen 15/873, 15/874, 15/2114 – onsbildung gegeben. Berichterstattung: Zudem würde die Grundentscheidung des Wahlge- Abgeordnete Dr. Uwe Küster setzgebers, die Arbeitsfähigkeit des Parlaments durch Eckart von Klaeden eine Fünfprozentklausel zu sichern, in ihr Gegenteil ver- Volker Beck (Köln) kehrt. Auch bei großzügigster Handhabung des Frakti- Jörg van Essen ons- bzw. Gruppenstatus ist es zwingend, dass ein Zu- sammenschluss von Abgeordneten zumindest so Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die mitgliederstark ist, dass er nach dem Verteilschlüssel der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörebetreffenden Wahlperiode mindestens einen Ausschuss- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. sitz erlangen könnte. Erst dann könnte man eine Gruppe annehmen, die zumindest einen fraktionsähnlichen Sta- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege tus hätte. Die theoretische Untergrenze läge in dieser Dr. Uwe Küster, SPD-Fraktion. Wahlperiode bei einem Zusammenschluss von acht Ab- geordneten. Zwei Abgeordnete, wie es die Kolleginnen Dr. Uwe Küster (SPD): Frau Pau und Frau Dr. Lötzsch fordern, sind allemal zu Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und wenig, um eine funktionsfähige Gruppe oder Fraktion Herren! Der heute zur Debatte stehende Antrag der frak- bilden zu können. tionslosen Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch, als Gruppe Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang in einem im Sinne des § 10 Abs. 4 der Geschäftsordnung des zweiten Schritt einen kurzen Rückblick. Die Kollegin- Bundestages anerkannt zu werden, wurde vom Aus- nen Pau und Dr. Lötzsch sind am 22. September 2002 als Kandidatinnen der PDS in den Deutschen Bundestag 1) Anlage 4 gewählt worden. Die PDS verfehlte damals die Fünfpro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7647

Dr. Uwe Küster (A) zenthürde und konnte auch keine drei Direktmandate in Hauses mit Ausnahme der fraktionslosen Abgeordneten“ (C) den Wahlkreisen gewinnen. Somit konnten die auf die bekommen? Oder wie kehren wir zu dem Zustand zu- PDS entfallenden Zweitstimmen bei der Vergabe derrück, dass wir zumindest die Rechte, die wir außerhalb Mandate des 15. Deutschen Bundestages nicht berück- unserer Mitgliedschaft in Gremien und Fraktionen ha- sichtigt werden. Die beiden Antrag stellenden Kollegin- ben, auch bitte gleichberechtigt wahrnehmen können? nen sind daher ausschließlich aufgrund ihres persönli- chen Wahlergebnisses Mitglieder des Deutschen (SPD): Bundestages geworden. Sie haben ihren Sitz gerade Dr. Uwe Küster nicht aufgrund des Wahlerfolges ihrer Partei erworben. Vielen Dank für diese Frage, Frau Pau. Selbstver- ständlich haben Sie nach der Geschäftsordnung des Bun- Diese Entscheidung des Wählers muss ihren Aus-destages, die Sie kennen, alle anderen Mitwirkungs- druck selbstverständlich nicht nur in der Zusammenset- rechte im Parlament und in den Ausschüssen. Sie haben zung des Parlaments selbst, sondern auch in seiner Orga- ja auch ausdrücklich darauf Bezug genommen. Sicher- nisation finden. Überdies würde eine Annahme der von lich ist bei manch anderen Austauschprogrammen oder ihnen gestellten Anträge zu einerVerfälschung des Praktikantenprogrammen Ihre Mitwirkung gesichert. Wählerwillens führen. Mir sind die Gründe, warum Sie ausgerechnet bei die- sem Praktikantenaustauschprogramm nicht berück- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sichtigt werden konnten, nicht bekannt. Es kann durch- Herr Kollege Küster, gestatten Sie eine Zwischen-aus sein, dass entsprechend dem Verteilschlüssel der frage der Kollegin Pau? Praktikanten Ihr Anteil, der etwa ein Dreihunderteinstel oder ein Dreihundertzweitel ausmacht, nicht gereicht hat, um entsprechende Berücksichtigung zu finden. Las- Dr. Uwe Küster (SPD): sen Sie es uns also bitte nicht an diesem kleinen Vorgang Gerne, Frau Pau. festmachen.

Petra Pau (fraktionslos): Es gibt viele andere Aufgaben, die Sie hervorragend wahrnehmen können, bei denen Sie die deutliche Unter- Herr Kollege Küster, wenn ich die Argumentation in der Beschlussempfehlung und das, was Sie jetzt ebenstützung der Verwaltung des Bundestages haben – ich komme gern noch darauf zurück – und bei denen Sie ausgeführt haben, richtig verstehe, bezieht sich Ihre Ab- auch alle Rechte wahrnehmen können, die einem Abge- lehnung auf unseren Antrag, als Gruppe anerkannt zu werden und zusätzliche Rechte zu den Rechten des oder ordneten des Deutschen Bundestages zustehen. der einzelnen frei gewählten Abgeordneten zu erhalten, (B) Lassen Sie mich fortfahren, meine Damen und Her-(D) die diese genauso wie Sie, wie der Herr Präsident oder ren. Ich gehe noch einmal auf die Tatsache ein, dass wie ich wahrnehmen können. diese beiden Kolleginnen ja nicht aufgrund des Wahler- In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage. Wie folges ihrer Partei in den Bundestag gewählt worden bewerten Sie folgenden Vorgang? Der Präsident dessind – das war der Gedanke, aus dem Sie mich herausge- Deutschen Bundestages hat sich am 4. November 2003 holt haben –, sondern dasssie aufgrund ihres persönli- an uns alle – die Anschrift lautete „An die Mitglieder des chen Wahlergebnisses Mitglied des Bundestages gewor- Deutschen Bundestages“ – mit dem Wunsch gewandt, den sind. dass wir für das Internationale Praktikums- und Aus- Nun zu der Frage: Welche Folgen hat das? Nach dem tauschprogramm in den Abgeordnetenbüros – ausdrück- herkömmlichen Verständnis der Wählerinnen und Wäh- lich nicht in den Fraktionen, den Parlamentarischen Ge- ler sind Fraktionen und Gruppen der parlamentarische schäftsführungen oder in der Bundestagsverwaltung – Arm einer Partei. Die PDS ist als Partei aber gerade Praktikantenplätze zur Verfügung stellen. Als ange-nicht in den Bundestag gewählt worden. Diese wichtige schriebenes Mitglied des Hauses habe ich meine Bereit- Tatsache muss man berücksichtigen. Diese demokrati- schaft bekundet, ein solches Praktikum während dieses sche Entscheidung der Wahlbevölkerung muss respek- Austauschprogramms zu ermöglichen. Ich habe einige tiert werden. technische Nachfragen gestellt, weil eine fraktionslose Abgeordnete natürlich keine Möglichkeit der Koopera- Zudem tragen Ihre Anträge in der Konsequenz natür- tion mit Pressestellen und anderem hat. Hier ließe sich lich auch eine erhebliche Missbrauchsgefahr in sich. aber ein Erfahrungsaustausch organisieren. Meine sehr verehrten Kolleginnen Frau Pau und Frau Nun liegt mir wiederum ein Schreiben des Präsiden- Dr. Lötzsch, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Wür- ten des Deutschen Bundestages vor, dasden wir am Ihren Wünschen entsprechen, könnten im Deut- 8. Januar 2004 eingegangen ist. Dieses enthält die Mit- schen Bundestag Zweckbündnisse entstehen, deren ein- teilung, dass man sich in der Berichterstattergruppe für ziger Sinn und Zweck es ist, einzelnen Abgeordneten das Internationale Austauschprogramm fraktionsüber- mit politisch völlig unterschiedlicher Grundausrichtung greifend einig geworden ist, dass dieses Anschreibenein Forum zu bieten, ohne dass die für eine Fraktion und diese Bitte ausdrücklich nicht für fraktionslose Ab- kennzeichnende einheitliche politische Meinungsbil- geordnete gelten. dung erzielt werden könnte. Ein solcher Zusammen- schluss wäre eine Karikatur des Fraktions- und Gruppen- Muss ich ab jetzt also damit rechnen, dass wir An-status. Ich bin überzeugt, dass es unsere Pflicht ist, so schreiben mit der Adressierung „An alle Mitglieder des etwas zu verhindern. 7648 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

Dr. Uwe Küster (A) Lassen Sie mich abschließend noch etwas Grundsätz- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ (C) liches zu den Ihnen zur Verfügung stehendenArbeits- DIE GRÜNEN]: Machen Sie keinen Opfer- möglichkeiten sagen, um einen falschen Eindruck in der mythos!) Öffentlichkeit zu vermeiden und entstandenen Eindrü- Sie strafen uns ab, um den Wählern zu zeigen, wie cken entgegenzuwirken. man mit Andersdenkenden zu verfahren gedenkt. Be- Sehr geehrte Frau Pau, sehr geehrte Frau Dr. Lötzsch, dauerlich ist – jetzt kommen schon die Zwischenrufe als fraktionslosen Abgeordneten steht Ihnen nach dervon den Grünen –, dass gerade Abgeordnete von Bünd- Geschäftsordnung des Bundestages selbstverständlich nis 90/Die Grünen, die früher selber im Deutschen Bun- die Teilnahme an jeder Sitzung des Bundestages zu. Sie destag von der Mehrheit ausgegrenzt wurden, bei der haben, wie alle anderen Abgeordneten auch, ein Zutritts- Ausgrenzung ebenfalls mitwirken. und Informationsrecht in allen Ausschüssen des Deut- Ich darf Ihnen zwei konkrete Beispiele nennen, damit schen Bundestages. Sie haben im Vergleich zu fraktions- Sie sich das etwas bildlicher vorstellen können. Erstes angehörigen Abgeordneten deutlich bessere Möglichkei- Beispiel: Die Oppositionsfraktionen bekommen zusätz- ten, im Plenum das Wort zu ergreifen. Davon machen lich zum Sockelbetrag der Fraktionen jeweils einen Op- Sie ja auch regelmäßig großzügig Gebrauch. Schließlich positionszuschlag von rund 43 000 Euro im Monat. Pro steht Ihnen die Nutzung der Dienste der Verwaltung des Abgeordneten gibt es noch einmal einen Oppositionszu- Deutschen Bundestages voll und ganz zur Verfügung. schlag von 600 Euro im Monat. Ich denke, jeder hier in Sie haben da nicht den geringsten Nachteil. diesem Hause ist davon überzeugt, dass Frau Pau und Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, die beiden ich zur Opposition gehören. Auch wir wären auf dieses Antragstellerinnen können an der politischen Willensbil- Geld angewiesen, um unseren Wählerauftrag zu erfüllen. dung im Parlament und an der Entscheidungsfindung des Wenn es darum geht, Ihre Fraktionsspitzen mit üppigen Deutschen Bundestages insgesamt völlig frei teilneh-Fraktionszulagen zu versorgen, um deren Diäten aufzu- men. Ihre parlamentarischen Mitwirkungsrechte als bessern, sind Sie nicht so zurückhaltend. Uns aber ge- Abgeordnete sind voll und ganz gewährleistet. Für wei- währen Sie nicht einmal einen einfachen Oppositionszu- terreichende Forderungen ist kein Raum. Wie dargelegt, schlag. sind Ihre Anträge aber auch rechtlich höchst bedenklich. Zweites Beispiel: Wir bekommen von diesem Parla- Die Fraktionen des Deutschen Bundestages werden da- ment keinen müden Cent fürÖffentlichkeitsarbeit. her Ihre Anträge ablehnen. Gleichzeitig verschwendet der Präsident Unsummen, um Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, ich einen selbstverliebten Prestigeband über den Bundestag danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. drucken zu lassen. Hätten Sie uns nur einen Bruchteil (B) dieses Geldes gegeben, hätten wir die Bürger in einer(D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Broschüre über Ihre unsoziale fast Allparteien-Gesund- heitsreform informieren können. Doch genau das wollen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie nicht. Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Mehr Knete wollt ihr!) Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undSie wollen nicht, dass Kritik an Ihrer Politik nach außen Herren! Nach dieser Rede, Herr Kollege Küster, kann dringt. Sie wollen, dass Ihre Politik in der Bevölkerung man wirklich nur fragen: Warum haben Sie solche Angst als alternativlos angesehen wird. Genau das ist sie aber vor zwei fraktionslosen PDS-Abgeordneten? Warumnicht. malen Sie das Schreckensbild an die Wand, wir könnten Ich sehe, dass Frau Pau eine Zwischenfrage stellen das Parlament an seiner Arbeit hindern? Der Deutsche will. Bundestag besteht aus 603 Abgeordneten. Davon haben zwei eine andere Meinung als der Rest. Warum können (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie Sie damit nicht leben? schaut ja gar nicht hin! Das steht im Manu- skript! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Die längst er- Worum geht es heute? Es geht um eine lächerliche wartete Zwischenfrage! – Heiterkeit) Abstrafung zweier PDS-Abgeordneter. Dieses Parlament will deutlich machen, dass es mit einer linken Opposi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tion nicht leben will und kann. In Ihren Sonntagsreden Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer sprechen Sie von Toleranz und gegen Ausgrenzung, Kollegin Petra Pau? aber hier verhalten Sie sich völlig anders.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Auch viele Ihrer Wählerinnen und Wähler sehen – da- Ja, ich gestatte diese Zwischenfrage, Frau Präsidentin. nach wird in vielen Gesprächen mit Besuchergruppen gefragt –, wie intolerantund ausgrenzend Sie im Bun- Petra Pau (fraktionslos): destag mit Ihren Kolleginnen umgehen und schämen Frau Kollegin, wir haben sehr viel über das Funktio- sich häufig dafür. Viele Briefe und E-Mails, die wir er- nieren der Gremien des Bundestages gehört. Sie haben halten, zeugen davon. jetzt über die materielle Seite, die für die politische Ar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7649

Petra Pau (A) beit nicht unerheblich ist, gesprochen. Seitdem ich heute – Der heißt nicht Klapptisch. Wenn Sie zugehört hätten, (C) früh um 8.30 Uhr dieses Haus betreten habe, werde ich Herr Dr. Küster, dann wüssten Sie es, denn es ergibt sich abwechselnd von Abgeordnetenkollegen – übrigens quer aus der Logik meiner Rede: Wir haben Tische im Deut- durch die konservative Opposition und die Regierungs- schen Bundestag. Wir haben keinen Platz in der ersten fraktionen – und von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Reihe verlangt. Aber was hätten sich denn die Fraktio- des Hauses nach zwei anderen Dingen gefragt. Ichnen vergeben, wenn sie uns einen oder vielleicht sogar wüsste gerne, wie Sie dazu stehen. zwei Plätze nebeneinander in der letzten Tischreihe ge- geben hätten? Was hat dagegen gesprochen? Wir haben Die erste Frage – fast vorwurfsvoll – war heute Mor- das mit dem Präsidenten ausführlich diskutiert und hat- gen: In der Zeitung stand doch, ihr hättet jetzt einenten auch den Eindruck, dass er das ganz einsichtig fand. Tisch. Habt ihr den etwa herausgetragen? Was ist daEs muss aber doch Leute gegeben haben, die das völlig passiert? Die zweite Frage ist: Wie ist das denn nun mit unvorstellbar fanden. den Telefonen? Ich kann noch einmal zusammenfassen, dass die Aus- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): grenzungsversuche allen anderen Abgeordneten ab- Das könnte ich Ihnen genau erklären. Aber ich habe schreckend deutlich machen sollen, mit welchen Folgen keine Lust mehr, mich an dieser Posse mit Tisch und Te- derjenige oder diejenige zu rechnen hat, der bzw. die lefon zu beteiligen. Ich könnte hier natürlich eine lange sich nicht der Fraktionsdisziplin unterwirft und eine ei- Rede darüber halten, dass es hinten auf den uns zugewie- gene Meinung und ein eigenes Gewissen hat. Das ist der senen Plätzen sehr dunkel ist, dass es zieht, dass alleeigentliche Sinn der Übung mit uns. möglichen Kolleginnen und Kollegen vorbeikommen Vielen Dank. und uns fragen, welcher Tagesordnungspunkt gerade be- handelt wird. Natürlich kann man sich auch fragen, in (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) welchem Gesetz steht, dass zwei einzeln gewählte Abge- ordnete in der letzten Reihe sitzen müssen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache. Es gab übrigens in der Parlamentarischen Gesell- schaft eine Veranstaltung, in der genau das Thema der Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- fraktionslosen Abgeordneten besprochen wurde. Da ver- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- traten wichtige Wissenschaftler – die Wissenschaftnung auf Drucksache 15/2114. Der Ausschuss empfiehlt wurde hier oft zitiert – die Auffassung, dass ein frak-unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ab- tionsloser Abgeordneter nicht durch eine entsprechende lehnung des Antrages der Abgeordneten Dr. Gesine (B) Platzierung im Saal bestraft werden darf. Einen Straf- Lötzsch und Petra Pau auf Drucksache 15/873 mit dem (D) charakter soll diese Platzierung jedoch offensichtlich ha- Titel „Rechtsstellung der Abgeordneten der PDS im ben. 15. Bundestag“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- Zu Ihrer konkreten Frage nach demTisch hat der empfehlung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnis- Kollege Dr. Küster gestern einen besonderen Vogel ab- ses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP gegen geschossen, zumindest wenn man ddp glauben darf. Ich die Stimmen der beiden fraktionslosen Abgeordneten habe hier eine Meldung von „ddp-Extra“: angenommen. Der SPD-Berichterstatter im Geschäftsordnungs- Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- ausschuss, Uwe Küster, fügte auf ddp-Anfragelehnung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine hinzu, ein Tisch wie in den ersten sechs ReihenLötzsch und Petra Pau auf Drucksache 15/874 mit dem würde zwischen 15 000 und 100 000 Euro kosten. Titel „Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Daher werde nach einer preisgünstigeren Variante Bundestages“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- gesucht. Außerdem müsse der Architekt des umge- lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- bauten Reichstags, Sir Norman Foster, noch infor- empfehlung ist mit demselben Stimmenverhältnis wie miert werden. zuvor angenommen. Zu dieser Posse möchte ich nichts sagen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben vor der konstitu- ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen ierenden Sitzung – Sie werden sich daran erinnern – dem Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. Januar 2004, Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Thierse, 9 Uhr, ein. einen ganz einfachen Vorschlag unterbreitet. Der heißt – – Die Sitzung ist geschlossen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Klapptisch!) (Schluss: 21.42 Uhr)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7651

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten und Landwirtschaft: Der Antrag der FDP-Fraktion ist – wie so häufig in der Vergangenheit – durch das ent- schlossene Handeln der Bundesregierung erledigt. entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Ich will aber gern die Gelegenheit nutzen, auf die Umsetzung der Luxemburger Beschlüsse einzugehen; Andres, Gerd SPD 15.01.2004 denn Bundesländer und Bundesregierung haben sich auf eine nationale Regelung geeinigt, die am Ende auf eine Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 15.01.2004 regionalisierte Flächenprämie hinausläuft. Caspers-Merk, Marion SPD 15.01.2004 Richtig ist, dass mit der in Luxemburg beschlossenen Reform ein enger Zusammenhang zu den laufenden Göppel, Josef CDU/CSU 15.01.2004 WTO-Verhandlungen besteht. Bei der beschlossenen Agrarreform hat sich die Europäische Union auch an den Götz, Peter CDU/CSU 15.01.2004 Anforderungen der WTO orientiert. Die EU gibt mit der Reform ein klares Signal anihre Handelspartner in der SPD 15.01.2004 Hartnagel, Anke WTO, dass sie zu einem Entgegenkommen bereit ist und Hinsken, Ernst CDU/CSU 15.01.2004 einen erfolgreichen Abschluss der Welthandelsrunde wünscht. SPD 15.01.2004 Jonas, Klaus Werner Auch wenn die Verhandlungen in Cancun aus einer Lehder, Christine SPD 15.01.2004 ganzen Reihe von Gründen gescheitert sind, wird der Verhandlungsfaden sicher in kürzester Zeit wieder auf- Dr. Leonhard, Elke SPD 15.01.2004 genommen und die Fragen des Agrarhandels werden sehr schnell wieder im Mittelpunkt der Diskussion ste- Meyer (Tapfheim), Doris CDU/CSU 15.01.2004 hen. Dabei wird sich zeigen, dass die jetzige Reform auch ein gutes Fundament für die WTO-Verhandlungen Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 15.01.2004 DIE GRÜNEN darstellt. Mit der EU-Agrarreform werden folgende Ziele er- Müller (Düsseldorf), SPD 15.01.2004 (B) Michael reicht: Die Wende hin zu einer ökologisch, ökonomisch (D) und sozial nachhaltigen Landwirtschaft wird auch in der Ronsöhr, Heinrich- CDU/CSU 15.01.2004 europäischen Agrarpolitik umgesetzt. Das Einkommen Wilhelm der Landwirte aus der Produktion soll sich am Marktge- schehen orientieren. Die entkoppelten Zahlungen geben BÜNDNIS 90/ Roth (Augsburg), 15.01.2004 eine wirksame Einkommenshilfe, die direkt den Betrie- DIE GRÜNEN Claudia ben zugute kommt, sich aber zugleich an den Anforde- rungen der Gesellschaft nach einer nachhaltigen Produk- Sauer, Thomas SPD 15.01.2004 tion orientiert. Die Transferleistungen wirken durch die Stübgen, Michael CDU/CSU 15.01.2004 Entkopplung nicht marktverzerrend, da es keine Anreize mehr für eine marktunabhängige Produktion gibt. Durch Wanderwitz, Marco CDU/CSU 15.01.2004 die Absenkung von Interventionsmengen und -preisen werden Überschüsse beseitigt und die subventionierten Widmann-Mauz, CDU/CSU 15.01.2004 Exporte weiter zurückgeführt. Die Kosten für die Agrar- Annette politik werden stabilisiert. Dr. Zöpel, Christoph SPD 15.01.2004 Die Reformbeschlüsse haben damit nicht nur für die Bauern in der EU, sondern auch für den weiteren Verlauf der WTO-Verhandlungen positive Wirkung. Mit der Ent- kopplung entfällt die Abbauverpflichtung für die Direkt- Anlage 2 zahlungen: denn die entkoppelten Zahlungen sind Green-Box-fähig. Zu Protokoll gegebene Rede Eine positive Wirkung auf die gesellschaftliche Ak- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des zeptanz der Agrarpolitik und der Landwirtschaft insge- Berichts: Agrarpolitische Herausforderungen samt entfalten die so genannten Cross-Compliance-Re- der WTO und EU-Osterweiterung mit der Kul- gelungen. So sind die Zahlungen an die Landwirtschaft turlandschaftsprämie meistern (Tagesordnungs- künftig auch als Ausgleich für die sehr hohen Standards punkt 9) im Bereich des Naturschutzes, des Umwelt- und Tier- schutzes zu betrachten. Diese Zahlungen stellen ohne Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der Übertreibung eine Honorierung der Leistungen der Bundesministerin für rbraucherschutz, Ve Ernährung Landwirtschaft für das Gemeinwohl dar. 7652 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

(A) Anlage 3 und in transparenter Weise ausgeschlossen oder be-(C) schränkt wird. Werden jedoch Inhalt und Umfang der Zu Protokoll gegebene Reden Garantien von vornherein eingeschränkt, steht § 444 zur Beratung des Berichts: Entwurf einesBGB solchen Regelungen nicht entgegen. Nur soweit Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Ge- – in diesem Sinne ist das „wenn“ in § 444 BGB zu le- setzbuches (Gesetz zur Beseitigung der Rechts- sen – der Verkäufer eine entsprechende Garantie abgege- unsicherheit beim Unternehmenskauf) (Tages- ben hat, ist ihm der Rückgriff auf die Haftungsbegren- ordnungspunkt 15). zung verwehrt. Dieses Auslegungsergebnis, welches bei der Alterna- Christine Lambrecht (SPD): Gemäß § 62 Abs. 2 tive des arglistig verschwiegenen Mangels nie bezwei- der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages kann felt wurde, kann inzwischen wohl mit Recht als herr- eine Fraktion verlangen, dass der Ausschuss durch den schende Meinung bezeichnet werden. Da aber Vorsitzenden oder Berichterstatter dem Bundestag einen ungeachtet dessen bei Rechtsanwendern bis zum Erlass Bericht über den Stand der Beratungen erstattet. einer höchstrichterlichen Entscheidung eine gewisse Rechtsunsicherheit besteht und ein Ausweichen in aus- Die Union hat von diesem Recht heute Gebrauch ge- ländisches Recht zu befürchten ist, ist eine gesetzliche macht. Das verwundert schon. Immerhin geht es um ei- Klarstellung angebracht und das Wort „wenn“ in § 444 nen Gesetzentwurf der Union, der im Rechtsausschuss BGB ist daher durch das Wort „soweit“ zu ersetzen. des Deutschen Bundestages – dessen Vorsitzender Andreas Schmidt im Übrigen ebenfalls der Union ange- Die Bundesregierung hat sich bereit erklärt, im Rah- hört – bereits am 24. September 2003 beraten wurde.men eines Gesetzes zur Änderung zivilrechtlicher Be- Eine Anhörung zum Gesetzentwurf der Union wurdestimmungen in den § 444 und 639 des BGB das Wort einstimmig beschlossen. Danach ist allerdings seitens „wenn“ jeweils durch das Wort „soweit“ zu ersetzen. der Union hinsichtlich dieser Anhörung keine Initiative Während die Bundesregierung das Problem erkannt mehr ergriffen worden. hat und bereit ist, im Rahmen eines Gesetzgebungsver- Dies ist also der Stand der Dinge und ich glaube nicht, fahrens mit Schwerpunkt im Zivilrecht eine Klarstellung dass die Union gut beraten war, diese Untätigkeit im ei- durchzuführen, hat die CDU/CSU-Fraktion einen Ge- genen Interesse auch noch zum Gegenstand einer De- setzentwurf auf Drucksache 15/1096 verfasst, der zwar batte im Deutschen Bundestag zu machen. dem missverständlichen Wortlaut des § 444 BGB abhilft, der jedoch gleichzeitig noch weitergehende Regelungs- Es war richtig, dass wiruns im Rechtsausschuss auf elemente enthält. (B) eine Anhörung verständigt haben, weil eine wichtige (D) Auslegung von Praktikern zumindest unklar einge- Um Missverständnisse auszuräumen, noch einmal schätzt wurde. zum Verfahrensstand: Der Gesetzentwurf der CDU/CSU wurde am 3. Juli 2003 in erster Lesung beraten und dem Hintergrund ist der, dass der durch die Schuldrechts- Rechtsausschuss federführend zugewiesen. Auf seiner reform neu gefasste § 444 BGB in seinem derzeitigen 25. Sitzung am 24. September 2003 hat sich der Rechts- Wortlaut vereinzelt so verstanden wird, als stünde er der ausschuss unter TOP 4 mit dem Antrag der CDU/CSU- insbesondere im Recht des Unternehmenskaufs gängi- Fraktion befasst und beschlossen, eine öffentliche Anhö- gen Vertragspraxis entgegen. Dort ist es üblich, statt des rung zu ihrem Gesetzentwurf durchzuführen. Die Anhö- gesetzlichen Gewährleistungssystems Garantien zu ver- rung wurde einstimmig beschlossen. Es ist nunmehr Sa- einbaren und diese dann summenmäßig, zeitlich oderche der CDU/CSU-Fraktion, diese Anhörung in die hinsichtlich der Rechtsfolgen zu beschränken. Wege zu leiten. Die eigene Untätigkeit in dieser Frage Mit der Schuldrechtsreform war jedoch eine Ände- kann nicht anderen in die Schuhe geschoben werden. rung der bis dahin bestehenden Rechtslage nicht beab- Zusätzlich hat die Bundesregierung erklärt, die oben sichtigt. Dies ergibt sich insbesondere aus der Gesetzes- genannte Gesetzesänderung baldmöglichst in ein Ge- begründung. Ausweislich dieser Gesetzesbegründung setzgebungsverfahren einfließen zu lassen, sodass dem sollte § 444 BGB an die Stelle der bisherigen Regelun- Anliegen der CDU/CSU-Fraktion bereits hierdurch gen in §§ 443, 476 BGB a. F. und § 11 Nr. 11 AGBG tre- Rechnung getragen wird. ten, wonach Haftungsausschlüsse und -beschränkungen bei Arglist oder entgegen einer Zusicherung unwirksam Der nunmehr gestellte Antrag nach § 62 Abs. 2 sind. GOBT ist vor dem Hintergrund dieses Verfahrensstandes nicht verständlich. Letztlich rügt die CDU/CSU-Frak- Auch unter Geltung dieser Vorschriften war es jedoch tion ihr eigenes Verhalten des Nichtbetreibens des Ver- nach der damaligen Rechtsprechung des BGH bei Indi- fahrens. Alleine diese Selbsterkenntnis ist lobenswert. vidualvereinbarungen zulässig, Eigenschaftszusicherun- gen oder Garantien von vornherein zu beschränken. Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Am 3. Juli des Sinn und Zweck des § 444 BGB in seiner zweitenvergangenen Jahres, also vor mehr als einem halben Alternative ist es allein, entsprechend der früherenJahr, haben wir hier im Parlament zum ersten Mal über Rechtslage ein widersprüchliches Verhalten zu verhin- den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion zur Beseiti- dern, welches dann anzunehmen ist, wenn eine zunächst gung der Rechtsunsicherheit beim Unternehmenskauf übernommene Garantie nachträglich in überraschender debattiert. Ich hätte mir gewünscht, dass das Gesetz Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7653

(A) unter der Überschrift „2. und 3. Lesung“ wieder auf der kommen, einfach nur in zwei Normen des BGB das(C) Tagesordnung des Bundestages erscheint und wir nicht Wort „wenn“ durch „soweit“ zu ersetzen. Dass man im über einen Bericht des Rechtsausschusses reden müss- Ministerium der Ansicht ist, das „wenn“ sei als „soweit“ ten. Aber leider haben wir wieder einmal einen Stillstand zu lesen, geht bereits aus einem – rechtlich allerdings der Rechtspolitik zu beklagen, seit das Gesetz demunverbindlichen – Schreiben hervor, das das BMJ im Rechtsausschuss überwiesen wurde. Die beschlossene vergangenen Jahr wegen der massiven Kritik an den Anhörung im Ausschuss sollte erst terminiert werden, Auswirkungen der Schuldrechtsreform auf den Unter- wenn auch das Bundesjustizministerium einen Vorschlag nehmenskauf verschickt hatte. Dass ein Jahr zuvor noch zur Klärung der seit der Schuldrechtsreform bestehenden eine ganz andere Position vertreten wurde, sei nur am Rechtsunsicherheit beim Unternehmenskauf vorgelegt Rande erwähnt. Immerhin hat die Bundesregierung er- habe, was nach den damaligen Äußerungen aus Ministe- kannt, dass es einer gesetzlichen Klarstellung bedarf und rium und Regierungskoalition zeitnah passieren sollte. Interpretationshilfen – mit widersprüchlichen Aussa- Das ist an sich ein sinnvolles Prozedere im Gesetzge- gen – aus dem Ministerium nicht ausreichen. Warum sie bungsverfahren, dem sich meine Fraktion grundsätzlich jedoch eine sinnvolle Klarstellung verweigert, die der nicht verschließt. Die Bundesregierung aber hat dieses Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion nach Ansicht der Entgegenkommen missbraucht, um den parlamentari- Fachkreise – ich verweise nochmals auf die positiven schen Fortgang eines sinnvollen, in vielen Fachaufsätzen Reaktionen in vielen Aufsätzen – im Gegensatz zu der in ausdrücklich begrüßten und als notwendig bezeichneten der Formulierungshilfe gewählten Gesetzesänderung Gesetzes zu blockieren; notwendig deshalb, weil die bietet, ist mit Sachargumenten nicht zu begründen. Ich Schuldrechtsreform das sich in jahrelanger Praxis alsdarf aus der Stellungnahme des Zivilrechtsausschusses sachgerecht erwiesene Haftungssystem beim Unterneh- im Deutschen Anwaltverein zu unserem Gesetzentwurf menskauf infrage stellt. Dies sorgt im international aus- zitieren: gerichteten Geschäft der Unternehmenstransaktionen nach wie vor für Unsicherheit und bedeutet einen Wett- Wenn in der ersten Lesung des Bundestages vorge- bewerbsnachteil für unser Rechts- und Wirtschaftssys- schlagen wurde, dem Anliegen dadurch Rechnung tem. zu tragen, dass das Wort „wenn“ durch das Wort „soweit“ ersetzt wird, so könnte diese Änderung Statt eines konkreten Vorschlages kamen jedoch nur zwar einen wichtigen Auslegungshinweis geben, Ankündigungen aus dem Justizministerium. Daran ha- sie würde das Problem jedoch nicht im Sinne ei- ben wir uns zwar inzwischen gewöhnt, abfinden werden ner Regelung lösen. Denn mit einer solchen Ände- wir uns als Opposition damit jedoch nicht. Kein Vor- rung (verbunden mit entsprechender Begründung) schlag aus dem BMJ, keine Anhörung, keine weitere Be- (B) sollte klargestellt werden, dass eine Garantie nur(D) ratung unseres Gesetzentwurfs – bei diesem durchsichti- insoweit vorliegt, als eine Haftung übernommen gen Spielchen machen wir nicht mit. wird, oder, umgekehrt gewendet, dass eine Garan- Der Parlamentarische Staatssekretär Hartenbach sagte tie insoweit nicht vorliegt, als die Haftung für die in seiner Rede am 3. Juli 2003 – ich zitiere wörtlich: Folgen ausgeschlossen oder beschränkt sind. Dies „Der Gesetzentwurf, den Sie uns hier präsentieren, will würde im Klartext bedeuten, dass § 444 BGB hin- ein Auslegungsproblem bei der Vorschrift dessichtlich der Übernahme der Garantie eine rein § 444 BGB lösen. Hierüber könnte man reden.“ Wohl- tautologische oder gegenstandslose Bestimmung weislich wählte der Staatssekretär den Konjunktiv. Es ist: Soweit die Haftung für das Fehlen der garan- mag ja sein, dass im Ministerium mal „darüber geredet“ tierten Beschaffenheit ausgeschlossen ist, läge wurde. Mit uns, die wir bereits einen konkreten Gesetz- keine Garantie vor – die ganze Bestimmung ginge entwurf eingebracht haben, hat allerdings bislang nie- ins Leere. Verfehlt wäre damit allerdings das vor- mand geredet. Gestern – ich wiederhole: gestern! –, also mals durch § 11 Nr. 11 AGB-Gesetz geregelte An- einen Tag vor der Debatte über den Bericht des Rechts- liegen, das nach wie vor einer Regelung bedarf. ausschusses, kam nun eine „Formulierungshilfe“ zum Die richtige Lösung des Problems muss deshalb an Entwurf eines Gesetzes gegen den unlauteren Wettbe- dem Begriff der Garantie und an dem Zweck der werb aus dem Bundesjustizministerium, die eine margi- Norm ansetzen. nale Änderung der Paragraphen 444 und 639 BGB vor- sieht. Diese richtige Lösung bietet der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion. Er sieht eine umfassende und un- Zu dem Verfahren, das Problem der Rechtsunsicher- missverständliche Klarstellung vor und benötigt dafür heit beim Unternehmenskauf mit einer Formulierungs- auch nur geringfügige Änderungen in lediglich drei Be- hilfe im UWG lösen zu wollen und damit das geordnete stimmungen des BGB. Sie stellen eindeutig klar, dass parlamentarische Verfahren zu verkürzen, will ich mich sich das Verbot, die Haftung des Verkäufers auszuschlie- an dieser Stelle nicht weiter auslassen. Den vom Bun- ßen oder zu beschränken, auf den konkret vereinbarten desverfassungsgericht geforderten Sachzusammenhang Inhalt einer Garantie bezieht, und sehen zudem einen mit dem Wettbewerbsrecht, der bislang in der Begrün- über die Vorgaben der EG-Richtlinie zum Gebrauchsgü- dung fehlt, wird uns das Ministerium sicher noch nach- terkauf hinausgehenden Schutz der Verbraucher vor, reichen. weil er ausdrücklich Klauseln in Allgemeinen Ge- Erstaunlich ist aber, dass das Ministerium ein halbes schäftsbedingungen verbietet, die die Haftung für Be- Jahr braucht, um auf das unzulängliche Ergebnis zuschaffenheitsgarantien beschränken oder verbieten. 7654 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

(A) Dass unser Entwurf der bessere und sachgerechtere Lassen Sie mich nun noch einmal auf den vorliegen- (C) ist, das werden uns Experten in einer Anhörung bestäti- den Gesetzesvorschlag von der Union eingehen. gen. Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- Wer nüchtern und mit dem gebotenen Abstand zu den gen der Regierungskoalition, können im weiteren Ge- Streitenden in der Fachliteratur den Gesetzentwurf der setzgebungsverfahren unter Beweis stellen, dass Ihr Opposition zum Unternehmenskauf durchdenkt – und Anliegen, eine Anhörung erst nach Vorlage eines Vor- zwar das von Ihnen angesprochene, mehr jedoch noch schlags aus dem BMJ durchzuführen, Ihrem Interesse an das von Ihnen überhaupt erst geschaffene Problem –, der einer zügigen und ökonomischen Gesetzgebung geschul- kann Ihnen einen Vorwurf nicht ersparen: Meine Kolle- det und nicht lediglich ein taktisches Hinhalte- und Ver- ginnen und Kollegen von der Opposition, Sie blasen eine zögerungsmanöver war: Stimmen Sie unserem Gesetz- sehr eng begrenzte Fachdebatte zu angeblichen Unge- entwurf zu. reimtheiten des neuen § 444 BGB erst richtig auf, um sich dann mit dem selbst geschaffenen Scheinproblem Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wichtigtuerisch zu beschäftigen. Statt echte Probleme Problem ist erkannt. Das Bundesministerium der Justiz anzupacken, wollen Sie zudem mit Ihrer Beschränkung hat gerade dem Rechtsausschuss eine Formulierungs- des Sinngehalts von § 444 BGB auf den Verbrauchsgü- hilfe vorgelegt, die bei der nächsten Gelegenheit in eine terkauf den beteiligten Kreisen im Bereich des Unter- Beschlussempfehlung eingearbeitet werden wird. Dies nehmenskaufs richtig dicke Probleme bescheren. wird im Gesetzgebungsverfahren im Zusammenhang mit Konkret: Es geht um das Verhältnis von Verkäuferga- dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb gesche- rantien zu vonseiten des Verkäufers durchgesetzten Haf- hen. Damit wird es zu einer Klarstellung der Regelung in tungsausschlüssen beim so genannten Unternehmens- § 444 BGB kommen, die den Willen des Gesetzgebers kauf. deutlich ausdrücken wird, dass mit dem Schuldrechts- modernisierungsgesetz keine Änderung der bis dahin be- Sie wollen nach Ihren Worten Rechtssicherheit beim stehenden Rechtslage undRechtsprechung beim Haf- Unternehmenskauf herstellen. Dies ist ein löbliches An- tungsausschluss vorgenommen werden sollte. sinnen. Festzuhalten ist jedoch gleichzeitig, dass es eine solche Rechtsunsicherheit außerhalb der akademischen Damit es auch für den Rechtsanwender verständlich Diskussion faktisch nie gegeben hat. Die von Ihnen auf- wird, der am Buchstaben des Gesetzes hängen bleibt,gegriffene eng begrenzte Fachdebatte hat die Gerichte werden wir das Wort „wenn“ durch das Wort „soweit“ – ich habe es bereits erwähnt – nicht verunsichert. ersetzen. Das für Juristen offenkundig Gemeinte und Gewollte wird damit auch sprachlich klarer in Worte ge- In Wahrheit wollen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, mit Ihrem Gesetz zum Unterneh- (B) fasst. (D) menskauf mehr als Rechtssicherheit beim Unterneh- Die Rechtsprechung hat das auch bisher schon so ge- menskauf. Sie wollen denGrundgedanken, wonach es sehen und die Vorschrift im diesem Sinne ausgelegt.gesetzlich untersagt ist, gegebene Garantien durch ge- Denn sie legt Rechtsnormen in bester Tradition und ge- schickte Haftungsausschlüsse zu unterlaufen, auf den festigter Übung nicht an dem bloßen Worten klebend, Verbrauchsgüterkauf beschränken. Das ist sachwidrig sondern nach Sinn und Zweck der jeweiligen Norm aus. und im Ergebnis eine Einladung an die jeweils Garantie gebende Partei des Unternehmensveräußerungsvertra- § 444 BGB soll ein widersprüchliches Verhalten des ges, gegebene Garantien in Bezug auf das zu verkau- einen Vertragspartners und eine überraschende und ver- fende Unternehmen durch möglichst raffinierte und klausulierte Übervorteilung des anderen Partners verhin- undurchschaubar formulierte Haftungsausschlüsse aus- dern. Zwingend unwirksam ist daher ein Haftungsaus- zuhebeln. Wenn es nicht nur ein undurchdachter Fehler schluss nur, wenn er – und das heißt: soweit er – imIhres Gesetzentwurfes ist, frage ich mich, wo der Sinn Sachzusammenhang mit und in Widerspruch zur abge- eines solchen Regelungsvorschlags liegen mag. gebenen Garantie steht. Denn nur in diesem Fall zerstört oder hintergeht der Verkäufer ein von ihm zuvor ge- Warum soll es möglich sein, dass der Unternehmens- schaffenes Vertrauen beim Käufer. Der neue § 444 BGB verkäufer für einen Umstand eine Garantieerklärung ab- macht Haftungsausschlüsse und -beschränkungen also gibt, damit den Kaufpreis erhöhen kann, sich dann aber nicht per se und generell unwirksam. Es bleibt sehr wohl über einen Haftungsausschluss dieser übernommenen eine Haftungsbeschränkung oder ihr Ausschluss mög- Garantie wieder entziehen kann? lich, wenn die abgegebene Garantie insoweit keinen Ver- Ich kann einen Unterschied in den Interessenlagen trauenstatbestand geschaffen hat. beim Unternehmensveräußerungsvertrag und beim Ver- brauchsgütervertrag nicht erkennen. Auch für den Unternehmenskauf führt also der neue § 444 BGB zu klaren Ergebnissen: Wer bei einem Unter- Wer nicht hinter die Kulissen gucken kann, muss sich nehmensverkauf für den Bestand an Maschinen eine Be- auf Garantien seines Vertragspartners verlassen. Dies schaffenheitsgarantie übernimmt, kann hinsichtlich der gilt für Untemehmenskäufer ebenso wie für Verbraucher. gestellten Geschäftsprognosen auch weiterhin einenAllein der Verkäufer kann einschätzen, ob seine Garantie Haftungsausschluss vereinbaren. Wer für zu erwartende die realen Zustände widerspiegelt oder dem Käufer et- Umsatzzahlen eines Unternehmens die Gewähr über-was vorgaukelt. Der Verkäufer profitiert davon, dass er nimmt, kann diese Haftung auch künftig summenmäßig die Garantie abgibt. Die Garantie erhöht nämlich die beschränken. Kaufwilligkeit des Käufers oder – bestenfalls – sogar Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7655

(A) den Kaufpreis. Warum soll der Verkäufer diese Vorteile dezeit dazu nutzen, „ersatzweise“ die Neuakzentuierung (C) haben, ohne zugleich das Haftungsrisiko für seine Äuße- der Städtebauförderung dieser Bundesregierung und die rungen zu übernehmen? damit inzwischen erzielten Erfolge uns allen noch ein- mal ins Gedächtnis zu rufen. Zusammenfassend will ich deshalb festhalten: Eine Hälfte Ihres Vorschlags ist brauchbar, aber bald nicht Unser Leitbild der Neuorientierung der Städtebauför- mehr notwendig. Die andere Hälfte ist schädlich und da- derung war und ist das der nachhaltigen Stadtentwick- her unbrauchbar. Wir können uns deshalb mit Ihrem Ge- lung. Damit haben wir auf ganz vielfältige Herausforde- setzentwurf zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs rungen reagiert, denen sich unsere Städte in den letzten zulasten von Unternehmenskäufern nicht anfreunden. Jahren ausgesetzt sahen und nach allem, was wir bisher wissen, auch in Zukunft ausgesetzt sehen werden. Ich Rainer Funke (FDP): Diese Debatte ist überflüssig denke nicht nur an die Folgen der demographischen Ent- wie ein Kropf. Die CDU hat bereits am 3. Juni 2003 den wicklung mit einer schrumpfenden und älter werdenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesellschaft, also einem erheblichen Bevölkerungsrück- Gesetzbuches – Gesetz zur Beseitigung der Rechtsunsi- gang und einer deutlich veränderten Altersstruktur in un- cherheit beim Unternehmenskauf – eingebracht. Diese seren Städten, sondern auch an die Konsequenzen für Änderungswünsche waren berechtigt, weil durch die mit das städtische Zusammenleben, das sich aus der Zuwan- heißer Nadel genähte Schuldrechtsreform § 444 BGB derung ergibt. Über alledem schwebt gewissermaßen der missverständlich formuliert war und nicht die in der Pra- gestiegene Anspruch aller Beteiligten an die Qualität des xis bei Unternehmenskäufen üblichen Garantien berück- Wohnens und des Wohnumfeldes. sichtigt hatte. Stadtentwicklung und Stadterneuerung beschreiben Nach dem Motto „Jeder kann einmal einen Fehleralso die neuen Aufgaben einer Städtebaupolitik, die für machen“ wäre dies auch nicht sonderlich tragisch gewe- sich in Anspruch nimmt, auf die unterschiedlichen He- sen, wäre man nur bereit gewesen, diesen Fehler schnell rausforderungen zu reagieren, indem sie für neue Pro- zu korrigieren. Stattdessen zogen sich die Koalitions-blemlagen neue Lösungsansätze entwickelt. fraktionen und die Bundesregierung darauf zurück, sie Lassen sie mich zunächst auf das Programm „Stadt- würden demnächst einen eigenen Gesetzesentwurf vor- umbau Ost“ Bezug nehmen, das die Bundesregierung im legen. Aus „demnächst“ wurde der 14. Januar 2004. Mit Sommer 2001 beschlossen hat und das einen ganz we- diesem Datum ist eine entsprechende Formulierungs- sentlichen Beitrag dazu leistet, die Probleme, die mit den hilfe mit Kurzbegründung übersandt worden. Letztend- hohen Wohnungsleerständen in Ostdeutschland verbun- lich kann nun im Rechtsausschuss sachkundig diskutiert den sind, zu mildern. Es geht nicht nur darum, die Woh- werden, sodass es auch eigentlich nicht mehr der De- (B) nungsmärkte zu restrukturieren, sondern auch darum, die (D) batte nach § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung bedarf. Attraktivität Ostdeutschlands als Wohn- und Wirt- schaftsstandort zu stabilisieren und die Bindung der Be- wohnerinnen und Bewohner an „ihre Stadt“ erhöhen. Anlage 4 Das gilt vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktsituation Zu Protokoll gegebene Reden selbstverständlich auch und vor allem für junge Men- schen. zur Beratung des Antrags: Vorlage eines städte- baulichen Berichts (Tagesordnungspunkt 20) Die Bundesregierung hat damit begonnen, die Ver- säumnisse der Wohnungsbaupolitik der 90er-Jahre, auf Petra Weis (SPD): Unsere Kolleginnen und Kollegen die absehbaren Leerstände nicht reagiert und die Förder- von CDU/CSU konfrontieren uns mit einem Antrag zur instrumente den neuen Gegebenheiten nicht angepasst Städtebaupolitik, der zumindest zum Ergebnis hat, dass zu haben, aufzuarbeiten. Den Angebotsüberhang zu be- wir uns heute zum Glück wieder einmal mit einemseitigen, die vom Rückbau betroffenen Viertel aufzuwer- Thema aus dem Fachbereich Bau- und Wohnungswesen ten und nicht zuletzt die Investitionen auf den wertvollen beschäftigen, was ja bekanntlich in letzter Zeit eher Sel- innerstädtischen Altbaubestand zu richten sind wichtige tenheitswert hatte. Bestandteile einer integrierten Strategie, die Stadtquali- tät zu erhöhen und die nötigen Modernisierungsschübe Die Antragstellerinnen und Antragsteller sprechen in zu initiieren bzw. zu unterstützen. ihrem Antrag davon, dass Städtebauförderung nicht allein Standortförderung ist, sondern darüber hinaus eine Von hier aus lässt sich nahtlos zum Programm „So- große Bedeutung für die soziale Gemeinschaft, die Wirt- ziale Stadt“ überleiten, das seit 1999 die Lebens- und schaft und die Kultur hat. Sie beschreiben damit ansatz- Wohnsituation in sozialen Problemlagen verbessern und weise die qualitative Neuausrichtung der Städtebau-den sozialen Zusammenhalt der Bewohnerinnen und Be- politik, die die jetzige Bundesregierung seit ihremwohner stärken hilft, indem es verschiedene Politikfel- Amtsantritt konsequent weiterentwickelt hat. der zu einem neuen, integrativen Ansatz verknüpft hat. Mit diesem neuen Ansatz wird die Leistungsfähigkeit Da der geforderte städtebauliche Bericht – den wir ja der verschiedenen Ressorts ebenso wie die Motivation erst in den kommenden Wochen in den weiteren parla- der beteiligten Bürgerinnen und Bürger mobilisiert. mentarischen Beratungen beschließen müssten, wenn wir das denn mit Mehrheit tun wollten – heute Abend Das Programm „Soziale Stadt“ hat bereits in der kur- noch nicht vorliegen kann, will ich einen Teil meiner Re- zen Zeit seiner Existenz wichtige Zielstellungen erreicht. 7656 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

(A) Denn es hat bewirkt, dass Menschen in einer Zeit ra-können, so unverzichtbar ist ein bundesweiter, nationaler (C) scher, vor allem ökonomisch bedingter Umbrüche in ih- Blickwinkel, um die übergeordneten gesellschaftspoliti- rem ganz unmittelbaren Lebensumfeld ein hohes Maß an schen Aspekte der Stadtentwicklungs- und Städtebaupo- Sicherheit, Orientierung und Perspektive geboten wird litik zu verfolgen und zu akzentuieren. Wir haben vor und sie zugleich in die Lage versetzt werden, an diesen nicht allzu langer Zeit über die Initiative Architektur und Veränderungsprozessen aktiv mitzuwirken. Baukultur übrigens mit einer ähnlichen Zielrichtung de- battiert, das dort Gesagte gilt im Grunde genommen Das Programm „Soziale Stadt“ spiegelt wie derauch für unser heutiges Thema und steht mit diesem im „Stadtumbau Ost“ ganz augenfällig und nachdrücklich Übrigen in einem engen inhaltlichen Zusammenhang. eine neue Philosophie in der Städtebaupolitik wider, die regional und ganzheitlich zugleich ausgerichtet ist und Die Städtebaupolitik ist – wie die Städte und Gemein- auf den breiten Dialog von Bürgerschaft, Politik undden insgesamt – bei uns in guten Händen. Dass man bei- Verwaltung wie auf die Bündelung verschiedener an der spielsweise über die Reform der Gemeindefinanzen so- Problemlösung beteiligter Politikfelder setzt. wohl den Städten als auch dem Städtebau noch deutlichere Impulse hätte verleihen können, als im Ver- Auch das neue Programm „Stadtumbau West“ macht mittlungsverfahren geschehen, will ich hier mit Blick deutlich, wie sehr die Städtebauförderung unter der jetzi- auf die Reihen von CDU/CSU nur der Vollständigkeit gen Bundesregierung die Anpassung an regionale Pro- halber erwähnen. Da wäre wahrlich mehr drin gewesen. blemlagen in den Blick nimmt. Wie in Ostdeutschland haben der Strukturwandel und die Stadtflucht auch in be- Dass wir die verschiedenen Instrumentarien der Städ- stimmten Städten und Regionen Westdeutschlands zutebauförderung untereinander noch besser verzahnen Wohnungsleerständen geführt, vor allem in den so ge- können und müssen, ist angesichts der Dynamik der ge- nannten Großsiedlungen. Die Ergebnisse der wissen-sellschaftlichen Entwicklung fast schon eine politische schaftlich begleiteten Forschungsprojekte werden inDaueraufgabe. Wenn es nach uns ginge, würde sich der Kürze in eine mögliche Weiterentwicklung der städte- Bund im Rahmen seiner programmatischkonzeptionel- und wohnungsbaupolitischen Instrumentarien einflie- len wie auch seiner finanziellen Möglichkeiten dieser ßen. Aufgabe auch in Zukunft mit großem Engagement stel- len. Die Antragsteller verweisen in der Begründung für den Antrag auf die Einsetzung der gemeinsamen Kom- Es spricht aus unserer Sicht grundsätzlich nichts da- mission von Bundestag und Bundesrat zur Reform der gegen, die Bundesregierung um einen städtebaulichen bundesstaatlichen Ordnung und den damit im Gang be- Bericht zu bitten. Angesichts der grundlegenden Bedeu- findlichen Diskussionsprozess um die Zuständigkeiten tung des Themas – auch wenn die Terminierung der heu- (B) der einzelnen staatlichen Ebenen für die jeweiligentigen Debatte zu später Stunde etwas anderes vermuten (D) Fachbereiche – und natürlich auch um die Finanzbezie- lässt – und angesichts der vielfältigen Entwicklungen hungen zwischen Bund und Ländern. Ohne die Ergeb- seit der Vorlage des letzten Berichts im Jahre 1996, nisse der Kommissionsarbeit vorwegnehmen zu wollen, macht eine solche Fortschreibung durchaus Sinn. Wir hoffe ich, dass wir uns alle einig sind in dem Bemühen, halten aber die Eile durch die geforderte Terminsetzung die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund bis Endes dieses Quartals für völlig unnötig, nicht nur, und Ländern zu verbessern und die Effizienz der staatli- aber auch weil die Bundesregierung in der Zwischenzeit chen Aufgabenerfüllung zu steigern. Ich hoffe aber auch, die Abschlussdokumentation zu Urban 21 und den Na- dass wir uns ebenso einig sind in der Überzeugung, dass tionalbericht „Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Sied- die Städtebaupolitik ein Beispiel ist, wie eine solche Ver- lungspolitik“ vorgelegt und damit die Umsetzung der eu- flechtung im Sinne einer sinnvollen Kooperation und ei- ropäischen und internationalen Initiativen, wie nes im Regelfall zu erzielenden Konsenses im Sinne des beispielsweise die Habitat-Agenda, aufgezeigt hat. Erfinders wirksam werden kann. Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ Die Praxis der Städtebauförderung steht unseres Er- CSU es wirklich ernst meinen – was ich natürlich un- achtens für eine routinierte und funktionsfähige Politik- terstelle – mit ihrem eigenen Wunsch an die Bundesre- verflechtung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, gierung, einen Bericht zu erstellen, der mit einem sehr die vor allem darauf beruht, dass die Akteure aller Ebe- umfangreichen Aufgabenkatalog behaftet ist, dann be- nen sich seit jeher zu einer Kooperations- und Konsens- nötigen die Fachleute aus dem Ministerium einen ge- strategie verpflichtet haben. Wir jedenfalls beurteilen die wissen zeitlichen Spielraum. Wenn die Bestandsauf- Städtebaupolitik als eine Erfolgsstory, an der die Neu- nahme auch nur halbwegs vollständig und die Prognose ausrichtung der Aktivitäten und Initiativen des Bundes nur halbwegs realistisch sein sollen, dann müssen auch einen erheblichen Anteil hat, ohne dass wir die Ver-die Länder und die fachlich zuständigen Institute mit dienste der übrigen Ebenen schmälern wollen. Wir sind einbezogen werden. Das ist bis zum 31. März realis- sehr darauf bedacht, dass der Bund sich auch in Zukunft tisch nicht zu leisten. dieser Verpflichtung und Gestaltungsaufgabe weiter mit Daran ändert im Übrigen auch der Umstand nichts, der nötigen „Hingabe“ widmet. dass die alten Bundesländer darauf bedacht sind, den ih- So wichtig und richtig die regionalen Verantwortlich- nen zustehenden Anteil an den Finanzhilfen des Bundes keiten sind, die in Zusammenarbeit mit den Verantwort- im Rahmen der Städtebauförderung zu erhöhen. Wir alle lichen in den Städten und Gemeinden auch für die ent- wissen, dass sich die Länderbauministerkonferenz im sprechende Zielgenauigkeit der Maßnahmen sorgenDezember des vergangenen Jahres darauf geeinigt hat, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7657

(A) den Umfang der allgemeinen Städtebauförderung – aus- und Infrastruktur gehören mittlerweile auch zum Alltag (C) genommen Stadtumbau Ost und Denkmalpflege in Ost- westdeutscher Großstädte. Da sind die Programme Städ- deutschland – in Ost und West in drei Jahresschritten ab tebauförderung, Stadtumbau West und Ost, Soziale Stadt 2005 auf ein Verhältnis von 50 : 50 anzugleichen. mit den geringen Haushaltsansätzen nur ein Tropfen auf den heißen Stein, zumal die Mittel für 2004 gekürzt wur- Die inhaltliche Neuausrichtung der Städtebaupolitik den und noch dazu gesperrt sind. Die Bauministerkonfe- und ihre ständige Anpassung an neue Herausforderun- renz hat doch im Dezember 2003 einstimmig die Bun- gen ist schon längst im Gange. Aber dennoch sind wir desregierung aufgefordert, die Kürzungen in der auf einen Bericht gespannt, der uns in absehbarer Zeit, Städtebauförderung zurückzunehmen und die Mittel in aber deutlich nach dem 31. März dieses Jahres, eine aus- 2004 für die Städtebauförderung West und das gemein- gesprochen positive Bilanz einer ausgesprochen erfolg- same Programm „Soziale Stadt“ wieder anzuheben. reichen Städtebaupolitik der Bundesregierung vorlegt und uns gleichzeitig Möglichkeiten einer Weiterentwick- Gerade Finanzhilfen des Bundes und der Länder nach lung im soeben von mir skizzierten Sinne aufzeigt. Denn Art. 104 a Abs. 4 GG zur Förderung des Städtebaus ha- nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werdenben neben der zentralen städtebaulichen, sozial- und könnte. Über Details werden wir in den kommendenkommunalpolitischen Bedeutung eine nicht minder Monaten noch ausführlich diskutieren können. Verbin- wichtige struktur-, konjunktur-, beschäftigungs- und fis- den sollte uns schon jetzt die Erkenntnis, dass wir allen kalpolitische Bedeutung: 1 Euro Städtebaufördermittel Grund haben, mehr Verbündete für unsere Ideen undlöst Investitionen von anderen Seiten in Höhe von 5 bis Konzepte zu gewinnen, im Sinne der Städtebaupolitik 8 Euro aus, die in die Sanierung einfließen. Aber: In der und der Menschen, für die wir sie machen. letzten Zeit haben leider immer mehr Kommunen erheb- liche Probleme bei der Aufbringung ihres Kofinanzie- rungsanteils. Das ist vor allem das Resultat der verfehl- Renate Blank (CDU/CSU): Auf den ersten Blick ten Finanz- und Wirtschaftspolitik von Rot-Grün. Die scheint unsere Forderung nach einem neuen städtebauli- hohe Arbeitslosigkeit und das schwache Wirtschafts- chen Bericht nicht gerade spektakulär und die spätewachstum haben erhebliche Steuerausfälle bei Bund, Stunde der heutigen Debatte scheint dem Recht zu ge- Ländern und Gemeinden zur Folge. Gerade Kommunen ben. Auf den zweiten Blick sprechen wir heute aber da- trifft das schwer. mit indirekt auch über alle hochaktuellen spannenden Felder der Verkehrs-, Umwelt-, Wirtschafts- und Sozial- Schon vor fünf Jahren haben Sie, meine Damen und politik, wie insbesondere alle Kolleginnen und Kollegen Herren von der Regierungskoalition, eine Reform der wissen, die kommunalpolitische Erfahrung mitbringen. Gemeindefinanzen angekündigt. Aber es ist nichts ge- schehen. Die Krise, in der unsere Städte und Gemeinden (B) Wir fordern die Bundesregierung auf, auf der Grundlage (D) des Bundestagsgrundsatzbeschlusses von 1976 endlich heute stecken, hat Rot-Grün durch Nichtstun mitver- wieder einen aktuellen städtebaulichen Bericht vorzule- schuldet. Die wankelmütige Hü-und-Hott-Politik der gen. Das ist auch höchste Eisenbahn, denn seit 1996 ist Bundesregierung hat das Ihre dazu getan, den Bürger zu das nicht mehr geschehen – eine grobe Unterlassung! verunsichern. Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in die Lösungskompetenz der Politik. Fakt ist: Die wohnungs- und städtebaupolitischen Vorhaben der Bundesregierung entsprechen nicht der Ein neuer städtebaulicher Bericht ist daher dringend Bedeutung, die diese Politikbereiche für die Wohnungs- notwendig zur Aktualisierung und Darstellung der aktu- versorgung, die Stadtentwicklung, die Bauwirtschaft, die ellen räumlichen Entwicklungen bzw. Fehlentwicklun- soziale Sicherheit und die Altersvorsorge haben müss- gen in Deutschland. Die Bundesregierung muss darin ten. Der Bund hat sich weitgehend aus der FörderungZukunftsperspektiven der deutschen Städte und Gemein- des sozialen Wohnungsbaus zurückgezogen. Allein die den angesichts des allgegenwärtigen Strukturwandels in Wohnungsbaufördermittel sanken von insgesamt rund Wirtschaft und Gesellschaft aufzeigen. Ich fordere von 660 Millionen Euro 1998 auf knapp 300 Millionen Euro der Bundesregierung insbesondere ein stärkeres Be- 2002 – also um über 50 Prozent! Das ist in der Öffent- wusstsein für die gesamtgesellschaftliche Verantwortung lichkeit viel zu wenig bekannt. Man kann es nicht oft für unsere Städte und Gemeinden, eine frühzeitige The- genug sagen: Eine sozialdemokratisch geführte Bundes- matisierung der Folgen eines Strukturwandels in den regierung halbiert ihre Förderung beim sozialen Woh- Kommunen und verbindliche Qualitätsstandards. nungsbau! Das ist also die „soziale Gerechtigkeit“, die Kernziel der CDU/CSU ist es, die Städte als leben- der Bundeskanzler versprochen hat! Die Politik der „ru- dige Heimat mit eigenständigem Charakter zu erhalten higen Hand“ der rot-grünen Bundesregierung hat also und eine nachhaltige Stadtentwicklung zu initiieren. Wie auch in der Städtebauförderung auf ganzer Linie versagt. kaum ein anderes Programm trägt die Städtebauförde- Kein Wunder also, wenn Sie sich um die Auflage eines rung zur Verbesserung der Wohn- und Wirtschaftsbedin- neuen städtebaulichen Berichts drücken wollen – esgungen in den Städten bei. Sie gibt soziale, kulturelle wäre ja kein Ruhmesblatt für Rot-Grün. Das hat nichts und wirtschaftliche Impulse. mit Schwarzmalerei zu tun. Das ist die Realität. Ein Schwerpunkt der Städtebauförderung, der mir Nicht nur in den neuen Bundesländern gibt es Woh- auch persönlich ganz besonders am Herzen liegt, ist der nungsbestände, die zum Problem geworden sind. Bevöl- Erhalt der überbrachten Siedlungsstrukturen. Leider kerungsverluste und die damit einhergehenden schwieri- müssen wir immer wieder feststellen, dass sich, bedingt gen Folgen für die öffentlichen Kassen und die Sozial- durch Generationenwechsel und demographische 7658 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

(A) Entwicklung, aber auch durch die arbeitsmarktbedingte 23 auf 37 Prozent im Jahr 2015 steigen. Daher ist es ab- (C) Abwanderung junger Familien, viele Stadtkerne zuneh- sehbar, dass mehr und mehr Wohnungen benötigt wer- mend entleeren. Diesem Trend müssenden, diewir altengerechtes, barrierefreies und betreutes entgegenwirken! Wir wollen der Innenentwicklung der Wohnen ermöglichen. Der Wunsch nach selbstbestimm- Städte im Rahmen der Städtebauförderung künftig ein tem Wohnen im Alter nimmt verständlicherweise stän- größeres Gewicht verleihen. Dazu müssen wir alte, ge- dig zu. Deshalb ist es eine Aufgabe der Wohnungspolitik wachsene Stadtkerne revitalisieren und neue Nutzungs- und der Bauförderung, die Voraussetzungen dafür zu möglichkeiten für leer stehende Gebäude suchen. schaffen, dass ein ausreichendes Angebot an barriere- freien Wohnungen entsteht und die Möglichkeiten am- Ging es zunächst um die Sanierung von völlig herun- bulanter Pflegedienstleistungen besser genützt werden tergekommenen „Glasscherbenvierteln“ in größerenkönnen. Städten, um Flächensanierungen, so änderte sich dies bald hin zu behutsamen Konzepten der Stadtreparatur Durch alle Themenschwerpunkte der letzten Jahre unter besonderer Berücksichtigung denkmalpflegeri-zieht sich als roter Faden das Streben nach qualitätvollem scher Aspekte auch in vielen kleineren Orten. In denStädtebau. Dabei ist erfreulich, dass in jüngster Zeit auch letzten Jahren wurden mit breit angelegten Initiativenin der öffentlichen Diskussion die Pflege der Baukultur zur Stärkung der Innenstädte und Ortszentren und der einen wichtigen Stellenwert gewonnen hat. Ein Wort Konversion von Brachflächen stillgelegter Anlagen von noch zur großen Bedeutung des Wohnungsbaus für un- Industrie, Militär, Bahn oder Post in der Städtebauför- sere Baukultur. Der österreichische Maler und „selbster- derung zukunftsorientierte Schwerpunkte zur Innenent- nannte“ Baukünstler Friedensreich Hundertwasser wicklung und zu nachhaltigem Flächenmanagement in sprach einmal davon, dass der Mensch drei Häute habe: vielen Gemeinden gesetzt. Hinzugekommen sind auch „seine eigene Haut, seine Kleidung, seine Behausung.“ neue Aufgaben durch das Programm „Soziale Stadt“Diese Metapher macht den besonders engen Bezug des und durch das Forschungsvorhaben „Stadtumbau West“ Menschen zu seiner Wohnung deutlich. Ergänzend dazu im experimentellen Wohnungs- und Städtebau. könnte man die Siedlung, den Ort oder die Stadt, in der man lebt, als die „vierte Haut“ des Menschen bezeichnen. Rückläufige Entwicklungen im Städtebau erfordern neue Strategien. Die städtebaulichen Folgen des gegen- „Eine Stadt ist niemals fertig“ – diese treffende Aus- wärtigen Strukturwandels wie etwa hohe Arbeitsplatz- sage eines kommunalen Planungsreferenten sollte moti- verluste, ein kontinuierlicher Bevölkerungsrückgang, in- vieren, weiterhin mit vollem Einsatz die Herausforde- nerstädtische Brachflächen sowie Gebäudeleerständerung „Städtebau“ anzunehmen, und Sie, meine Damen stellen unsere Städte und Gemeinden vor neue Heraus- und Herren der Regierungskoalition, auffordern, unse- forderungen! Der Erfolg des Stadtumbaus lässt sich nur (B) rem Antrag zuzustimmen, damit die Bundesregierung(D) an den sichtbaren Ergebnissen messen. Nur herausra-endlich wieder einen städtebaulichen Bericht vorlegt. gende bauliche Qualitäten werden die notwendigen Im- pulse geben. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Ein grundlegender Wechsel der Rahmenbedingungen GRÜNEN): Die Initiative der CDU/CSU-Fraktion findet prägt den Städtebau der vergangenen zehn Jahre. War im Prinzip meine Zustimmung. Problematisch erscheint anfangs noch die zügige Bereitstellung von Bauland für mir der vorgeschlagene kurzfristige Berichtszeitraum, eine rasch wachsende Bevölkerung zentrales Anliegen der eine angemessene Berichterstattung erschwert. städtebaulicher Planung, so hat sich der Schwerpunkt Der Vorschlag hat allerdings schon ein gewisses „Ge- heute zur städtebaulichen Innenentwicklung und einem schmäckle“, wenn man in Betracht zieht, zu welchem sparsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen ver- Zeitpunkt dieser Vorschlag hier vorgebracht wird. Erst schoben. Mehr und mehr bestimmen auch enge Spiel- vor wenigen Wochen haben Sie im Vermittlungsaus- räume der öffentlichen Haushalte unser Handeln. schuss unsere Initiative zur Stärkung der Städte und zur Neu ist auch das Ausmaß an sozialem Konfliktstoff, Eindämmung fortgesetzter Zersiedelung massiv konter- der sich aus der Konzentration unterschiedlicher ethni- kariert. Ich erinnere daran: Wir haben zum einen die scher Gruppierungen mit verschiedenen kulturellen Hin- Streichung der Wohnungsbauprämie, die Kürzung der tergründen in den Stadtquartieren ergibt. Vor diesemEntfernungspauschale und die Abschaffung der Eigen- Hintergrund erscheint es als zentrale Aufgabe einer inte- heimzulage gefordert. Im Gegenzug haben wir vorge- grierten Stadtteilentwicklung, den Belastungen und Be- schlagen, 25 Prozent der eingesparten Geldmittel für die nachteiligungen entgegenzuwirken, die aus einer spezifi- Stärkung der Städtebauförderung, den Stadtumbau, das schen Stadtstruktur resultieren. Dabei geht es nicht wie Programm „Soziale Stadt“ und die Altschuldenhilfe ein- bei der traditionellen Sanierung defensiv und reaktiv um zusetzen. Dies hätte insbesondere eine Stärkung der Vermeidung von nachteiligen Auswirkungen planeri-Städtebauförderung in den alten Bundesländern zur scher Interventionen, sondern offensiv und präventiv um Folge gehabt, die wiederholt von Ihren Kollegen in den Stabilisierung und Weiterentwicklung der lokalen Le- Ländern eingefordert wird. Sie wollten das nicht. Sie ha- bensverhältnisse, um möglichst frühzeitig die sonst ent- ben sich für eine Lösung zulasten der Städte entschie- stehenden – in der Regel hohen – sozialen Folgekosten den. zu vermeiden. Quartiersmanagement ist angesagt. Die Städtebauförderung in Deutschland ist tatsächlich Ein wichtiges Stichwort: „demographischer Wan-eine Erfolgsgeschichte, um die uns viele andere Länder del“: Der Anteil der über 60-Jährigen wird von heutebeneiden. Gefährdet ist sie zuallererst durch die sparsam Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7659

(A) bemessenen Finanzmittel. Dies trifft insbesondere auf Joachim Günther (Plauen) (FDP): Die CDU/CSU- (C) die Städtebauförderung für Westdeutschland zu, wo wir Fraktion fordert in ihrem Antrag die Vorlage eines städ- inzwischen wieder großen Nachholbedarf haben. Rot- tebaulichen Berichts bis Ende März dieses Jahres. Be- Grün hat allerdings in Ergänzung zur Städtebauförde- richte verändern zwar nichts, aber sie sind wichtige rung das innovative und erfolgreiche Programm „Soziale Grundlagen, um die Weichen für die Zukunft richtig stel- Stadt“ auf den Weg gebracht, ebenso den „Stadtumbau len zu können. Ost“ und im Modellversuch den „Stadtumbau West“. Wer sich die Entwicklung der Städte in den vergange- Mit der Baugesetzbuchnovelle, die wir heute noch in nen Jahren ansieht, der erkennt sehr deutlich, dass es zu erster Lesung beraten, werden wir diese Instrumente wesentlichen Veränderungen gekommen ist. Mitte der auch planungsrechtlich verankern. Mit diesen verschie- 90er-Jahre war deutschlandweit noch von fehlenden denen und sich ergänzenden Instrumenten reagieren wir Wohnungen die Rede. Unterversorgung von Wohnraum bereits auf den Bevölkerungsrückgang in Ostdeutsch- pro Einwohner im Osten war eine maßgebliche Diskus- land und Teilen von Westdeutschland und den Wandel sionsgrundlage. Fehlender sozialer Wohnungsbau in von Alters-, Haushalts- und Sozialstrukturen. Ballungsgebieten war die Standardforderung der damali- Die Städte stehen aber nicht nur vor den Herausforde- gen Opposition. Die Mietpreise sind nicht mehr bezahl- rungen des demographischen Wandels. Die Entwick-bar, bekam man ständig zu hören. lungsbedingungen der Städte sind je nach den regionalen Inzwischen hat sich vieles verändert. In Deutschland und wirtschaftlichen Bedingungen sehr differenziert.gibt es über 1 Million leer stehende Wohnungen. Diese Wir haben in Deutschland inzwischen stark gegenläufige sind natürlich nicht gleichmäßig verteilt. In Ballungsräu- Tendenzen: Wachstumsregionen entlang der Rhein-men des Südens ist es nach wie vor schwierig, eine pas- schiene und um München herum, Stagnationsregionen in sende Wohnung zu finden. In anderen Gebieten, vor weiten Teilen von Nord-Westdeutschland und in Ost-allem im Osten und Norden, hat die Leerstandsproble- deutschland überwiegend immer noch Entleerungsregio- matik erhebliche Auswirkungen auf den Immobilien- nen. Trotz dieser Differenzierungen müssen sich abermarkt. Das Wort Sozialmietgrenze ist im Osten praktisch alle Städte in unterschiedlicher Weise folgenden Proble- verkommen, weil sie selbst für toll renovierte Wohnun- men und Herausforderungen stellen: dem Bevölkerungs- gen kaum mehr erreicht wird. rückgang und dem demographischen Wandel, den zu- nehmenden wirtschaftlichen Standortkonkurrenzen, der Bei einem Blick auf den Wanderungssaldo der Länder Konzentration von Arbeitslosigkeit und sozialen Proble- ist leicht zu erkennen, dass in weiten Teilen Deutsch- men, der Integration von Migranten, der verstärktenlands sozialer Wohnungsbau total überflüssig ist. Die Konkurrenz zwischen Wohn- und Lebensqualität zwi- Bundesregierung hat ein Stadtumbauprogramm richti- (B) schen Städten und Umlandgemeinden, der begrenzten gerweise auf den Weg gebracht, nur leider hinkt es der(D) Finanzkraft. Aus all dem folgt für mich ein steigender Realität hinterher. Das darin beschlossene Abrisspro- Bedarf der Städte an der Förderung von Städtebau, Stad- gramm hält nicht mit dem Bevölkerungsrückgang Schritt tumbau, Flächenrecycling und sozialen Integrationsmaß- und somit wird die Zahl der leer stehenden Wohnungen nahmen im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“. nicht zurückgehen. All das hat Auswirkungen auf die Stadtentwicklung. Wir sind bereit, diesen Beitrag zu leisten. Wir haben Wenn Bevölkerungszahlen stark schrumpfen, gehen die Mittel für die Städtebauförderung in den vergange- auch Einnahmen zurück. Damit beginnt der Kreislauf. nen Jahren massiv erhöht. Davon haben hauptsächlich Wie lange kann sich eine Kommune noch das Bad, das die neuen Länder profitiert. Jetzt geht es darum, die Er- Theater oder die Straßenbahn leisten? Wenn diese Infra- fordernisse des Stadtumbaus auch in den alten Ländern struktur wegbricht, was passiert dann? Gibt es eine weite zu unterstützen. Darum muss ich die Opposition drin- Bevölkerungswanderung? gend auffordern, endlich den Subventionsabbau konse- quent anzupacken und Mittel für die Städtebauförderung Ist es notwendig, in Ballungsgebieten die Infrastruk- umzuverteilen. Die Steuermindereinnahmen infolge der tur weiter auszubauen und neue Wohnungen zu errich- Wohneigentumsförderung betrugen in 2003 allein fürten, die im Förderkreislauf sogar noch Wohngeldzu- den Bund rund 4 Milliarden Euro. Demgegenüber betrug schuss erhalten, und auf der anderen Seite mit der Haushaltsansatz des Bundes für die Städtebauförde- staatlichen Fördermitteln Infrastruktur zurückgebaut und rung, den Stadtumbau Ost und das Programm „Soziale Wohnungen abgerissen werden? Eigentlich ein Irrsinn Stadt“ insgesamt 555 Millionen Euro. Wenn die Städte der Entwicklung. gestärkt werden sollen, müssen hier endlich die Prioritä- Um auf all diese Fragen fundamentierte Antworten ten verändert werden. vorbereiten zu können, ist eine Standortanalyse unum- Die Städtebauförderung wird auch auf dem Prüfstand gänglich. Dazu kann ein städtebaulicher Entwicklungs- der Föderalismuskommission stehen. Sie ist eine Finanz- bericht ein wichtiger Baustein sein. Die FDP unterstützt hilfe des Bundes nach Art. 104 a IV Grundgesetz. Ich deshalb den Antrag der CDU/CSU-Fraktion. spreche mich mit aller Deutlichkeit dafür aus, dass wir dieses Instrument mit der Gemeinschaftsfinanzierung Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Städte in von Bund, Ländern und Kommunen beibehalten. IchDeutschland sind Orte, in denen die meisten Menschen hoffe dabei auf die Unterstützung aller nachdenklichen unseres Landes leben, in denen sich das soziale Leben Mitglieder der Föderalismuskommission. entfaltet, in denen die Menschen arbeiten und ihre 7660 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

(A) Freizeit verbringen. Unsere Städte sind Orte der Kom- In den Nebenzentren des Ruhrgebietes sind zum Bei- (C) munikation und Integration. Sie stiften Identität. Der Zu- spiel Städte wie Duisburg, Dortmund und Bochum durch sammenhalt unseres Gemeinwesens hängt vom Wohlsinkende Einwohnerzahlen, leer stehende Wohnungen unserer Städte ab. und verlassene Läden gekennzeichnet. Circa 2 Millionen Wohnungen aus den 50er- und 60er-Jahren in NRW ent- Trotz ihres hohen, von allen Seiten gleichermaßen an- sprechen nicht mehr den heutigen Anforderungen. Es erkannten Stellenwertes leiden unsere Städte gegenwär- existieren westdeutsche Großstädte, in denen bereits tig massiv an den Auswirkungen des demographischen 60 Prozent der Bevölkerung Migranten sind, die es zu Wandels, der Unterfinanzierung, der Stadtschrumpfung integrieren gilt. und der neuen sozialen Ungleichheiten. In den neuen Bundesländern ist die Lage vergleichs- Offensichtlich konnte diesen Problemen der Kommu- weise viel schlechter. Ein starke Abwanderungsbewe- nalpolitik seitens der rot-grünen Bundesregierung unter gung in die alten Länder, es sind besonders die jungen, dem Druck der Tagesaufgaben nicht rechtzeitig präven- leistungsfähigen Menschen, die gehen, lassen jene zu- tiv und vorausschauend begegnet werden. Die Orientie- rück, deren Bezüge als Folge von Vorruhestand und jah- rung auf längere Zeithorizonte, das Zusammenwirken relanger Arbeitslosigkeit eine eher trostlose Perspektive von Kurz- und Langfristigkeit, gerade auch in Bezug auf bilden. Einkommen bzw. Vermögen und künftige Ren- die Entwicklung unserer Städte, scheinen seit 1998 ei- tenansprüche sind gering. In den Städten droht ein Wie- nem ziemlichen Dilemma zu unterliegen. deranstieg der Altersarmut. Nicht ohne Grund wurde 1996 von der CDU-geführ- Fragen, die sich heute in fast allen ostdeutschen Städ- ten Bundesregierung ein Städtebaulicher Bericht vorge- ten und vielleicht bald auch in westdeutschen Städten legt. Dieser Bericht stellte die Städtebaupolitik Deutsch- stellen, sind: Wie können Stadtväter und -mütter unter lands nach der Wiedervereinigung umfassend unter dem diesen Bedingungen ihre Stadt entwickeln? Was fangen Aspekt einer nachhaltigen Entwicklung, vom damaligen die Bürger dieser Stadt an, wenn sie mehrheitlich alt und Zeitpunkt aus betrachtet, dar. Auf Basis einer realisti- immer älter werden, zunehmend beschwert von körperli- schen Bestandsaufnahme wurden sowohl Bilanz als auch cher Mühsal und ohne finanzielle Ressourcen ? Schlussfolgerungen – Handlungsprinzipien, Konzepte und Instrumente – für die Durchsetzung einer nachhalti- Hinzu kommt die dramatische Höhe der Wohnungs- gen Stadtentwicklung gezogen. leerstände in den neuen Ländern. Bund und Länder hat- ten sich auf gemeinsame Fördermaßnahmen geeinigt, Aber, bedingt durch gesellschaftlichen Wandel, be- um dauerhaft nicht mehr benötigte Wohnungen durch darf auch die Ausgestaltung der Städtebaupolitik einer Abriss und Rückbau in Verbindung mit städtebaulicher folgerichtigen Weiterentwicklung. Ziel ist eine nachhal- (B) Aufwertung vom Markt zu nehmen: seit 2001 durch Ent- (D) tige Schritt-für-Schritt-Stadtplanung. Sie muss jederzeit lastung von Altschulden, seit 2002 durch Zuschüsse im korrigierbar sein. Dafür brauchen wir zuallererst nach ei- Rahmen des Programms Stadtumbau Ost. Doch festzu- ner realistischen Bestandsaufnahme Aussagen über den stellen ist: Der Leerstand hat in den letzen Jahren weiter aktuellen städtebaulichen und regional differenzierten zugenommen und liegt bei 1,3 Millionen Wohnungen. Handlungsbedarf sowie Aussagen über die Wirksamkeit Die Lage ist so dramatisch, dass Bundesbauminister der Instrumente der bisherigen Städtebauförderung. Manfred Stolpe und damit überhaupt ein Bundesbaumi- Dazu fordert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die nister im letzten Jahr erstmals den Weg zu einem Leer- Bundesregierung auf, einen Städtebaulichen Bericht bis standskongress gefunden hat. zum 31. März 2004 vorzulegen; einen Fortschrittsbe- Bund und Länder verfügen über ein umfangreiches richt, den es seit 1996 nicht mehr gab. Förderinstrumentarium. Aber, passt dessen Ausgestal- Von besonderer Bedeutung sind hier die gegenwärti- tung noch in unsere Zeit? Stehen die Bundesmittel zeit- gen und zukünftigen Auswirkungen der demographi-gerecht zur Verfügung? Werden die einzelnen Förderin- schen Entwicklungen. Insgesamt wird die Bevölke-strumente ausreichend verzahnt? Sind die Kriterien für rungszahl bis 2020 noch leicht über dem Niveau desdie Förderelemente wie Wohneigentumsbildung flexibel Jahres 2000 liegen und dann bis 2050 um rund 8,5 Pro- genug? – Nein. Wir fordern die Bundesregierung auf, zent schrumpfen. Doch wird sich diese Entwicklung sehr endlich Aussagen über die Wirksamkeit der einzelnen unterschiedlich auf die einzelnen Bundesländer vertei- Instrumente der bisherigen Städtebauförderung – auch len. Während in wachstumsstarken Bundesländern wie im Verhältnis zum Mitteleinsatz – zu treffen. Denn nur Bayern und Baden-Württemberg der Rückgang insge- so lassen sich die Weichen für effizientere Programme samt nur 3 Prozent betragen wird, erreicht er in struktur- oder Ansatzänderungen stellen. schwächeren Ländern wie achsen-Anhalt, S Thüringen Zu kritisieren ist auch die Vorgehensweise bei Eigen- und dem Saarland Werte von über 20 Prozent. Wenn also heimzulage und Altschuldenhilfe. Ursprünglich war sei- regionale Unterschiede fortbestehen, geht es bei der de- tens der Bundesregeirung die vollständige Streichung mographischen Entwicklung auch um die Verteilung ei- der Eigenheimzulage geplant. In dem Zusammenhang ner schrumpfenden Bevölkerung. Diese Unterschiede wurde dem Bundesbauministerium ein Volumen von sind heute bereits angelegt. 25 Prozent der auf den Bund entfallenen Einsparungen Viele Städte in Ost- und Westdeutschland sind in ei- zur Aufstockung der Städtebauförderprogramme zuge- ner Umbruchsituation und auf der Suche nach Strategien billigt. Zusätzlich sollte die Altschuldenhilfe in die Be- ohne Wirtschaftswachstum. günstigung aufgenommen werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 86. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004 7661

(A) Im Vermittlungsergebnis wurde die Eigenheimzulage Vor diesem Hintergrund von Fehlsteuerung und Inef- (C) um 30 Prozent gekürzt, ohne Mittelzuwendung an die fizienz im deutschen Städtebau muss der Bericht die ge- Städtebauförderung und Altschuldenhilfe. Dieses Ergeb- forderten Inhalte aufweisen, um Entscheidungsgrundla- nis widerspricht den städtebaulichen Notwendigkeiten gen für die anstehenden Debatten im Deutschen und muss bei der Überarbeitung des BundeshaushaltsBundestag bereitzustellen. Dazu gehört auch, aufzuzei- 2004 aufgefangen werden. Im Vertrauen auf zugesagte gen, welche städtebaulichen Aufgaben aus Sicht der Unterstützung durch die Politik haben Wohnungsunter- Bundesregierung für die verschiedenen staatlichen Ebe- nehmen und Kommunen Unternehmens- und Stadtent- nen zukünftig noch bestehen und wie sie erfüllt werden wicklungskonzepte erarbeitet. Für den Stadtumbau Ost können. Die Bundesregierung wurde bereits 1975 er- hätte der „Vertrauensbruch“ negative Auswirkungen, für sucht, weitere Städtebauliche Berichte vorzulegen, dem einen Stadtumbau West würden die Mittel fehlen. sie bis 1996 nachkam.

(B) (D)

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