Plenarprotokoll 15/31

Deutscher

Stenografischer Bericht

31. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Inhalt:

Nachruf auf den serbischen Ministerpräsiden- tegration von Unionsbürgern und Aus- ten Zoran Djindjic ...... 2315 A ländern (Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetz) Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag (Drucksache 15/538) ...... der Abgeordneten 2316 D (Emstek), Gerd Höfer und Alfred d) Antrag der Abgeordneten Ernst Hartenbach ...... 2315 B Burgbacher, Hans-Michael Goldmann, Benennung der Abgeordneten Marianne weiterer Abgeordneter und der Frak- Tritz als ordentliches Mitglied und der Abge- tion der FDP: Arbeitserlaubnis für ordneten (Augsburg) als stell- ausländische Saisonarbeitskräfte auf vertretendes Mitglied der Parlamentarischen sechs Monate ausweiten Versammlung des Europarates ...... 2315 B (Drucksache 15/368) ...... 2316 D Erweiterung und Abwicklung der , Bundesminister BMI ...... 2317 A Tagesordnung ...... 2315 C, 2452 A CDU/CSU ...... 2320 D FDP ...... 2323 B Tagesordnungspunkt 3: (Köln) BÜNDNIS 90/ a) Erste Beratung des von der Bundes- DIE GRÜNEN ...... 2325 C regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin Begrenzung der Zuwanderung und zur (Baden-Württemberg) ...... 2327 B Regelung des Aufenthalts und der Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD ...... 2328 C Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) Wolfgang Bosbach CDU/CSU ...... 2328 D (Drucksachen 15/420, 15/522) ...... 2316 C , Parl. Staatssekretärin b) Unterrichtung durch die Beauftragte BMFSFJ ...... 2329 B der Bundesregierung für Ausländer- Hartmut Koschyk CDU/CSU ...... 2330 D fragen: Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Hans-Joachim Hacker SPD ...... 2334 B Deutschland (Drucksache 14/9883) ...... 2316 C Hartmut Koschyk CDU/CSU ...... 2336 C c) Erste Beratung des von den Abgeord- Hans-Joachim Hacker SPD ...... 2337 A neten Dr. , , Dr. Max Stadler FDP ...... 2337 B weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der FDP eingebrachten Entwurfs fraktionslos ...... 2338 D eines Gesetzes zur Steuerung und Be- Rüdiger Veit SPD ...... 2339 D grenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der In- (Heilbronn) CDU/CSU . . . . . 2342 B II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Josef Philip Winkler BÜNDNIS 90/ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP . . 2353 B DIE GRÜNEN ...... 2344 D Anna Lührmann BÜNDNIS 90/ Dr. Lale Akgün SPD ...... 2346 A DIE GRÜNEN ...... 2354 D CDU/CSU ...... 2356 A Tagesordnungspunkt 4: Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 2358 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 2361 B Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union CDU/CSU ...... 2362 A – zu dem Entschließungsantrag der Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 2362 D Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Dr. Claudia Winterstein FDP ...... 2364 B zu der Abgabe einer Regierungs- Hans Martin Bury, Staatsminister AA ...... 2365 C erklärung durch den Bundes- kanzler zu den Ergebnissen des (Weiden) CDU/CSU . . . . . 2367 A Europäischen Rates in Kopenha- Axel Schäfer (Bochum) SPD ...... 2368 B gen am 12. und 13. Dezember 2002 Dr. CDU/CSU . . . . . 2369 C – zu dem Antrag der Abgeordneten SPD ...... 2370 D Peter Hintze, Dr. Gerd Müller, wei- terer Abgeordneter und der Frak- (Recklinghausen) tion der CDU/CSU: Der Weg für CDU/CSU ...... 2372 C die Osterweiterung ist frei: Ab- Markus Meckel SPD ...... 2372 D schluss der Beitrittsverhandlun- gen auf dem Europäischen Rat Markus Meckel SPD ...... 2373 C von Kopenhagen Erwin Marschewski (Recklinghausen) – zu dem Antrag der Abgeordneten CDU/CSU ...... 2374 A Sabine Leutheusser-Schnarrenber- SPD ...... 2374 A ger, (Münster), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 2375 B der FDP: Historischer Erweite- rungsgipfel verstärkt Druck auf Dr. Georg Nüßlein CDU/CSU ...... 2376 B innere Reformen der Europä- ischen Union Tagesordnungspunkt 18: (Drucksachen 15/215, 15/195, 15/216, 15/451) ...... 2348 A a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs b) Antrag der Fraktionen der SPD und eines Gesetzes über die Verwendung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: von Verwaltungsdaten für Zwecke der Der Europäischen Verfassung Ge- Wirtschaftsstatistiken (Verwaltungs- stalt geben – Demokratie stärken, datenverwendungsgesetz – VwDVG) Handlungsfähigkeit erhöhen, Ver- (Drucksache 15/520) ...... 2378 A fahren vereinfachen (Drucksache 15/548) ...... 2348 B b) Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abge- in Verbindung mit ordneter und der Fraktion der FDP: Die Kompetenzen des Sports bei Prävention und Rehabilitation bes- Zusatztagesordnungspunkt 1: ser nutzen (Drucksache 15/474) ...... 2378 A Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter und der Tagesordnungspunkt 10: Fraktion der FDP: Das neue Gesicht Europas: Kernelemente einer europäischen Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Verfassung gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (Drucksache 15/577) ...... 2348 C Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Peter Hintze CDU/CSU ...... 2348 D Berufung ehrenamtlicher Richter Michael Roth (Heringen) SPD ...... 2351 B (Drucksache 15/411) ...... 2378 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 III

Tagesordnungspunkt 17: Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 2383 A Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- Ina Lenke FDP ...... 2385 A derung des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze – Widerruf der Straf- und Straf- Christel Humme SPD ...... 2386 A restaussetzung – (… StrÄndG) Christel Humme SPD ...... 2387 B (Drucksache 15/310) ...... 2378 B Markus Grübel CDU/CSU ...... 2388 C Josef Philip Winkler BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 2: DIE GRÜNEN ...... 2389 D a) Erste Beratung des von den Fraktionen Petra Pau fraktionslos ...... 2390 D der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- SPD ...... 2391 D wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmen- CDU/CSU ...... 2393 B gesetzes (Drucksache 15/536) ...... 2378 B Tagesordnungspunkt 6: b) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Siegfried Kauder (Bad Dürr- – Zweite und dritte Beratung des von den heim), Dr. Norbert Röttgen, weiteren Fraktionen der SPD und des BÜND- Abgeordneten und der Fraktion der NISSES 90/DIE GRÜNEN einge- CDU/CSU eingebrachten Entwurfs brachten Entwurfs eines Gesetzes zur eines Gesetzes zum verbesserten Errichtung einer Verkehrsinfrastruk- Schutz der Privatsphäre turfinanzierungsgesellschaft zur Finan- (Drucksache 15/533) ...... 2378 B zierung von Bundesverkehrswegen (Verkehrsinfrastrukturfinanzie- rungsgesellschaftsgesetz – VIFGG) (Drucksache 15/199) ...... Tagesordnungspunkt 19: 2394 C a) – c) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Beschlussempfehlungen des Petitions- , weiteren Abgeordne- ausschusses: Sammelübersichten 19, ten und der Fraktion der CDU/CSU ein- 20 und 21 zu Petitionen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (Drucksachen 15/482, 15/483, 15/484) 2378 C Errichtung einer Bundesfernstraßen- finanzierungs- und Managementgesell- schaft (Bundesfernstraßenfinan- Tagesordnungspunkt 16: zierungs- und Managementgesell- schaftsgesetz – BFFuMGG) Beschlussempfehlung und Bericht des Ver- (Drucksachen 15/299, 15/416) ...... 2394 D teidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , Günther Dr. SPD ...... 2395 A Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten CDU/CSU ...... 2396 D , , weiterer Abgeord- Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ neter und der Fraktion der CDU/CSU: Trans- DIE GRÜNEN ...... 2398 C atlantische Beziehungen stärken – Potsdam Center fördern Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 2399 D (Drucksachen 15/194, 15/519) ...... 2378 D , Parl. Staatssekretärin BMVBW...... 2400 D Tagesordnungspunkt 5: CDU/CSU ...... 2402 B Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fünfter Bericht der Bundesrepublik Tagesordnungspunkt 15: Deutschland zum Übereinkommen der Ver- einten Nationen zur Beseitigung jeder Form a) – Zweite und dritte Beratung des von von Diskriminierung der Frau (CEDAW) der Bundesregierung eingebrachten (Drucksache 15/105) ...... 2379 A Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- längerung der Ladenöffnung an , Bundesministerin BMFSFJ 2379 B Samstagen Maria Eichhorn CDU/CSU ...... 2381 C (Drucksachen 15/396, 15/521) . . . 2404 D IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

– Zweite und dritte Beratung des von verletzungen in Tschetschenien nicht den Abgeordneten Gudrun Kopp, vergessen Rainer Brüderle, weiteren Abge- (Drucksachen 15/64, 15/496) ...... 2416 B ordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- in Verbindung mit setzes zur Aufhebung des Laden- schlussgesetzes (Drucksachen 15/106, 15/591) 2404 D Zusatztagesordnungspunkt 3: b) Empfehlung und Bericht des Aus- Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe, schusses für Wirtschaft und Arbeit zu , weiterer Abgeordneter dem Antrag der Abgeordneten Dagmar und der Fraktion der CDU/CSU: Für Men- Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer schenrechte weltweit eintreten – die inter- Abgeordneter und der Fraktion der nationalen Menschenrechtsschutzinstru- CDU/CSU: Ladenschlussgesetz mo- mentarien stärken dernisieren (Drucksache 15/535) ...... 2416 C (Drucksachen 15/193, 15/591) ...... 2404 D SPD ...... 2416 D Wolfgang Grotthaus SPD ...... 2405 A Hermann Gröhe CDU/CSU ...... 2418 C Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 2406 C Christa Nickels BÜNDNIS 90/ Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 2420 B DIE GRÜNEN ...... 2409 A Rainer Funke FDP ...... 2421 C Gudrun Kopp FDP ...... 2410 C Christoph Strässer SPD ...... 2422 D CDU/CSU ...... 2411 D Melanie Oßwald CDU/CSU ...... 2425 A , Parl. Staatssekretär BMWA . . . 2412 D Kerstin Müller, Staatsministerin AA...... 2426 C Kurt Segner CDU/CSU ...... 2414 C Holger Haibach CDU/CSU ...... 2427 D

Tagesordnungspunkt 7: Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Erste Beratung des von den Abgeordneten 59. Tagung der Menschenrechts- Rainer Brüderle, Dr. , kommission der Vereinten Nationen weiteren Abgeordneten und der Fraktion der (Drucksache 15/549) ...... 2416 A FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes b) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 15/359) ...... 2429 D Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu der Unterrichtung Dr. FDP ...... 2430 A durch die Bundesregierung: 6. Bericht Lydia Westrich SPD ...... 2431 A der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den aus- Heinz Seiffert CDU/CSU ...... 2432 A wärtigen Beziehungen und in ande- Christine Scheel BÜNDNIS 90/ ren Politikbereichen DIE GRÜNEN ...... 2433 C (Drucksachen 14/9323, 15/171 Nr. 1, 15/397) ...... 2416 A Stefan Müller (Erlangen) CDU/CSU ...... 2434 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des SPD ...... 2435 D Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜND- Tagesordnungspunkt 9: NISSES 90/DIE GRÜNEN: Men- Erste Beratung des von den Fraktionen der schenrechte als Leitlinie der deut- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- schen Politik NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Drucksachen 15/136, 15/495) ...... 2416 B zur Förderung von Kleinunternehmern und d) Beschlussempfehlung und Bericht des zur Verbesserung der Unternehmensfinanzie- Ausschusses für Menschenrechte und rung (Kleinunternehmerförderungsgesetz) humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Ab- (Drucksache 15/537) ...... 2436 C geordneten Rainer Funke, Dr. Werner Ingrid Arndt-Brauer SPD ...... 2436 D Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Menschenrechts- CDU/CSU ...... 2437 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 V

Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/ Verhandlungen – Transparenz und Flexibi- DIE GRÜNEN ...... 2439 B lität sichern (Drucksache 15/576) ...... 2451 B Carl-Ludwig Thiele FDP ...... 2440 C Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin in Verbindung mit BMF...... 2441 D Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 2443 C Zusatztagesordnungspunkt 7: Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, , weiterer Abgeordneter und Antrag der Abgeordneten Johannes der Fraktion der FDP: GATS-Verhandlun- Singhammer, Karl-Josef Laumann, weiterer gen – Bildung als öffentliches Gut und kul- Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ turelle Vielfalt sichern CSU: Flächendeckende Versorgung mit (Drucksache 15/580) ...... 2451 B Postdienstleistungen sicherstellen (Drucksache 15/466) ...... 2445 A in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren, Michael Müller (Düssel- Zusatztagesordnungspunkt 4: dorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und Hustedt, Rainder Steenblock, weiterer Ab- der Fraktion der FDP: Wettbewerbsbedin- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- gungen bei Vertrieb von Postdienstleistun- SES 90/DIE GRÜNEN: Keine Zustimmung gen schaffen zur Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie (Drucksache 15/579) ...... 2445 A (Drucksache 15/575) ...... 2451 C CDU/CSU ...... 2445 B in Verbindung mit Rainer Funke FDP ...... 2447 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . 2448 A SPD ...... 2449 D Zusatztagesordnungspunkt 8: Rainer Funke FDP ...... 2450 B Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . 2450 C Fraktion der FDP: EURATOM-Vertrag nicht aufweichen – Keine einseitigen Ein- griffe in die Finanzierung Zusatztagesordnungspunkt 5: (Drucksache 15/578) ...... 2451 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten , Dr. Sigrid Zusatztagesordnungspunkt 10: Skarpelis-Sperk, weiterer Abgeordneter und Antrag auf Genehmigung zur Durchführung der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten eines nicht förmlichen Disziplinarverfahrens Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), weiterer (Drucksache 15/607) ...... 2452 A Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhand- lungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern Tagesordnungspunkt 11: (Drucksachen 15/224, 15/506) ...... 2451 A Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker, in Verbindung mit Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Für eine nachhal- tige Agrarpolitik und einen gerechten Inte- Zusatztagesordnungspunkt 6: ressenausgleich bei den laufenden WTO- Antrag der Fraktionen der SPD und des Verhandlungen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS- (Drucksache 15/550) ...... 2452 B VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 in Verbindung mit Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Elke Ferner, (Hil- desheim), Ulla Burchardt, Peter Dreßen, Zusatztagesordnungspunkt 9: Klaus Hagemann, Erika Lotz, Lothar Mark, Antrag der Abgeordneten Peter Harry , (Meschede), Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, weiterer Jörg Tauss, (Wiesloch), Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ , Anton Schaaf, Christoph CSU: WTO-Verhandlungen – Europäisches Strässer, Horst Kubatschka, Landwirtschaftsmodell absichern (Heidelberg), Reinhold Hemker, , (Drucksache 15/534) ...... 2452 C Helga Kühn-Mengel, (Starn- berg), Florian Pronold, Dr. , René Röspel, , Nächste Sitzung ...... 2452 D Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Rüdiger Veit, Dr. , Klaus Kirschner, Heidi Wright, Angelika Graf (Rosenheim), Jella Teuchner, , Waltraud Anlage 1 Wolff (Wolmirstedt) Marco Bülow, Anette Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2453 A Kramme, Heinz Paula und Frank Hofmann (Volkach) (alle SPD) sowie Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samsta- Anlage 2 gen (Tagesordnungspunkt 15 a) ...... 2453 D Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Matthias Sehling, Wolfgang Zeitlmann, Ilse Aigner, , Hartmut Koschyk, Anlage 4 Susanne Jaffke, , Dr. Peter Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ramsauer, Dorothee Mantel, , Ernst Hinsken, Renate Blank und Stephan Dr. Ole Schröder, (Altöt- Mayer (Altötting) (alle CDU/CSU) zur Ab- ting), , Jochen-Konrad stimmung über den Entwurf eines Gesetzes Fromme, Albrecht Feibel, , zur Verlängerung der Ladenöffnung an Sams- Dr. Michael Luther, Günter Baumann, Arnold tagen (Tagesordnungspunkt 15 a) ...... Vaatz, Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), 2454 C , Dr. Klaus W. Lippold (Of- fenbach), Thomas Strobl (Heilbronn), Dr. Andreas Schockenhoff, Ursula Lietz, Anlage 5 , Christa Reichard (Dres- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten den), Georg Brunnhuber, Heinz Seiffert, Fritz Schlösser und Horst Schmidbauer , Matthäus Strebl, Barbara (Nürnberg) (beide SPD) zur Abstimmung Lanzinger, , Johannes über den Entwurf eines Gesetzes zur Ver- Singhammer, Daniela Raab, Monika längerung der Ladenöffnung an Samstagen Brüning, Klaus Hofbauer, Hannelore Roedel, (Tagesordnungspunkt 15 a) ...... 2455 A Christian Schmidt (Fürth), Doris Meyer (Tapfheim), Dr. Georg Nüßlein, Georg Schirmbeck, Peter Weiß (Emmendingen), Anlage 6 , , Elke Wülfing, Gerald Weiß (Groß-Gerau), Julia Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Klöckner, , Kristina Köhler der Anträge: (Wiesbaden), Karl-Theodor Freiherr von und – Flächendeckende Versorgung mit Post- zu Guttenberg, Klaus Brähmig, Michaela dienstleistungen sicherstellen Noll, Klaus Riegert, Tanja Gönner, , Henry Nitzsche, , – Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb Albert Rupprecht (Weiden), Dr. Hermann von Postdienstleistungen schaffen Kues, Erwin Marschewski (Recklinghau- (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord- sen), Kurt-Dieter Grill, , nungspunkt 4) ...... 2455 A Dr. , Thomas Dörflinger und Helmut Rauber (alle CDU/CSU) zur Abstim- Ulrich Kelber SPD ...... 2455 B mung über den Antrag: Der Weg für die Os- terweiterung ist frei: Abschluss der Beitritts- SPD ...... 2456 B verhandlungen auf dem Europäischen Rat Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ von Kopenhagen (Tagesordnungspunkt 4 a) . . 2453 B DIE GRÜNEN ...... 2457 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 VII

Anlage 7 Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 2463 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. CDU/CSU ...... 2464 C der Anträge: Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ – GATS-Verhandlungen – Bildung als DIE GRÜNEN ...... 2466 B öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt Cornelia Pieper FDP ...... 2467 B sichern – GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern Anlage 9 (Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7) ...... 2457 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: Ulla Burchardt SPD ...... 2457 D – Für eine nachhaltige Agrarpolitik und Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD ...... 2458 D einen gerechten Interessenausgleich bei Günter Nooke CDU/CSU ...... 2460 B den laufenden WTO-Verhandlungen Ulrike Flach FDP ...... 2462 A – WTO-Verhandlungen – Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord- Anlage 8 nungspunkt 9) ...... 2468 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. Sascha Raabe SPD ...... 2468 B der Anträge: Reinhold Hemker SPD ...... 2469 B – Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kreditinie Albert Deß CDU/CSU ...... 2470 A – EURATOM-Vertrag nicht aufweichen – Bernhard Schulte-Drüggelte CDU/CSU . . . . 2472 B Keine einseitigen Eingriffe in die Finan- Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/ zierung DIE GRÜNEN ...... 2474 C (Tagesordnungspunkt 12 und Zusatztagesord- Dr. Christel Happach-Kasan FDP ...... 2475 C nungspunkt 8) ...... 2462 D Mathias Berninger, Parl. Staatssekräter Horst Kubatschka SPD ...... 2462 D BMVEL ...... 2476 B

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Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Beginn: 9.05 Uhr

Präsident : den. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Widerspruch. Dann sind die Kolleginnen Marianne Tritz Sitzung ist eröffnet. als ordentliches Mitglied und Claudia Roth als stellver- tretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben. des Europarates gewählt. (Die Anwesenden erheben sich) Interfraktionell ist die Reihenfolge der verbundenen Ta- Gestern Nachmittag erreichte uns die schreckliche gesordnung dieser Woche wie folgt vereinbart worden: Nachricht, dass der serbische Ministerpräsident Zoran Nach Tagesordnungspunkt 6 kommen Tagesordnungs- Djindjic vor dem Parlamentsgebäude in Belgrad auf punkt 15 – Ladenschlussgesetz –, Tagesordnungspunkt 7 – offener Straße erschossen worden ist. Wir sind fassungs- Menschenrechtspolitik –, Tagesordnungspunkt 8 – Um- los und entsetzt. Der feige Mord hat uns einen Freund satzsteuergesetz –, Tagesordnungspunkt 9 – Kleinunter- und Mitstreiter für Europa genommen. Schlimmer noch: nehmerförderungsgesetz –, Tagesordnungspunkt 14 – (B) Er droht Serbien auf seinem Weg zu Demokratie und Postdienstleistungen –, Zusatzpunkte 5 bis 7 – GATS- (D) Modernisierung zurückzuwerfen. Wir müssen alles dafür Verhandlungen –, Tagesordnungspunkt 12 – EURATOM- tun, dies zu verhindern. Kreditlinie – und Tagesordnungspunkt 11 – WTO-Ver- handlungen. Die Beratungen zu Tagesordnungspunkt 10 – Erst vor wenigen Wochen hat das jugoslawische Par- ehrenamtliche Richter –, Tagesordnungspunkt 16 – Pots- lament der neuen Staatenunion Serbien und Montenegro dam-Center – und Tagesordnungspunkt 17 – Änderung des zugestimmt. Auch damit schien ein neuer Zeitabschnitt Strafgesetzbuches – sollen ohne Debatte erfolgen. Der ein- nach dem Bürgerkrieg und der schwierigen Nachkriegs- zige Tagesordnungspunkt am Freitag wird die Regierungs- zeit zu beginnen. Zoran Djindjic hatte maßgeblichen An- erklärung mit anschließender Aussprache sein. teil an dieser Entwicklung. Das Attentat zeigt uns, wie verletzlich die Bedingungen für ein friedliches Zusam- Außerdem ist vereinbart worden, die Tagesordnung menleben in diesem Teil Europas noch immer sind. um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern: Der Deutsche Bundestag spricht dem Parlament von Serbien und Montenegro sein Beileid und seine Solidari- 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weite- tät aus. Unser tiefes Mitgefühl gehört der Witwe und den rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das neue Gesicht Kindern des Ermordeten. – Ich danke Ihnen. Europas – Kernelemente einer europäischen Verfassung Nun zu unserer heutigen Tagesordnung – ich beginne – Drucksache 15/577 – mit einigen Mitteilungen –: Die Kollegen Manfred Überweisungsvorschlag: Carstens und Gerd Höfer feierten am 23. Februar so- Ausschuss für die Angelegenheiten wie der Kollege Alfred Hartenbach am 5. März jeweils der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere nachträglich im Na- Innenausschuss men des Hauses sehr herzlich. Rechtsausschuss (Beifall) 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- gänzung zu TOP 18) Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen möchte a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des bei zwei ihrer Mitglieder in der Parlamentarischen Ver- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- sammlung des Europarates einen Tausch vornehmen. wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Melde- Die Kollegin Marianne Tritz, die bisher stellvertreten- rechtsrahmengesetzes des Mitglied war, soll ordentliches Mitglied werden, und – Drucksache 15/536 – die Kollegin Claudia Roth, die bisher ordentliches Mit- Überweisungsvorschlag: glied war, soll nunmehr stellvertretendes Mitglied wer- Innenausschuss 2316 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Siegfried Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit (C) Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert Röttgen, Wolfgang erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie mit diesen Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Wider- verbesserten Schutz der Privatsphäre spruch. Dann ist so beschlossen. – Drucksache 15/533 – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Innenausschuss gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steue- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend rung und Begrenzung der Zuwanderung und zur 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe, Regelung des Aufenthalts und der Integration von Rainer Eppelmann, Holger Haibach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Für Menschenrechte welt- Unionsbürgern und Ausländern (Zuwande- weit eintreten – die internationalen Menschenrechtsschutz- rungsgesetz) instrumentarien stärken – Drucksache 15/535 – – Drucksachen 15/420, 15/522 – 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Birgit Überweisungsvorschlag: Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Innenausschuss (f) Fraktion der FDP: Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb Rechtsausschuss von Postdienstleistungen schaffen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/579 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Innenausschuss Technikfolgenabschätzung Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Landwirtschaft 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- b) Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- der Bundesregierung für Ausländerfragen zung (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer Bericht über die Lage der Ausländer in der Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- Bundesrepublik Deutschland neten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- – Drucksache 14/9883 – SES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern Überweisungsvorschlag: (B) Innenausschuss (f) (D) – Drucksachen 15/224, 15/506 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Berichterstattung: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Abgeordnete Ulrike Flach Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ulla Burchardt Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Ursula Sowa Technikfolgenabschätzung 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜND- Ausschuss für Kultur und Medien NISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen – Trans- parenz und Flexibilität sichern c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Rainer Funke, , weiteren – Drucksache 15/576 – Abgeordneten und der Fraktion der FDP einge- 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung Cornelia Pieper, (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: GATS-Verhandlun- und Begrenzung der Zuwanderung und zur Re- gen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt gelung des Aufenthalts und der Integration von sichern Unionsbürgern und Ausländern – Drucksache 15/580 – (Zuwanderungssteuerungs- und Integrations- 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer Abgeordneter gesetz) und der Fraktion der FDP: EURATOM-Vertrag nicht aufwei- chen – Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzierung – Drucksache 15/538 – – Drucksache 15/578 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen Rechtsausschuss (Nordstrand), Albert Deß, , weiterer Abge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: WTO-Verhand- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend lungen – Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Drucksache 15/534 – Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Technikfolgenabschätzung Landwirtschaft (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Burgbacher, Hans-Michael Goldmann, Dirk Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2317

Präsident Wolfgang Thierse (A) Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion es nicht weit her ist mit der angeblich verantwortungs- (C) der FDP vollen Politik. Denn das, was wir dort erleben mussten, war doch genau das Gegenteil dessen, was von Ihnen an- Arbeitserlaubnis für ausländische Saison- gekündigt worden ist. Von Bayern wurde beispielsweise arbeitskräfte auf sechs Monate ausweiten im Wirtschaftsausschuss des Bundesrates ein Antrag – Drucksache 15/368 – vorgelegt, in dem in aller Bräsigkeit verlangt wurde, den Überweisungsvorschlag: Gesetzentwurf insgesamt abzulehnen. Auch wenn der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Antrag dort keine Mehrheit gefunden hat, ist doch zu Innenausschuss fragen, was damit bezweckt werden sollte. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (Franz Müntefering [SPD]: Wohl wahr!) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus Das kann doch wohl keine verantwortungsvolle Politik gewesen sein. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre Im Innenausschuss des Bundesrates hat die Bayeri- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. sche Staatsregierung Änderungsanträge in einem Um- fang von rund 150 Seiten vorgelegt. Garniert wurde das Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis- Ganze mit plumpen „Grün raus, Schwarz rein“-Forde- ter Otto Schily das Wort. rungen meines Kollegen Günther Beckstein. Wenn nun kein einziger – das ist zu beachten – dieser verschärfen- Otto Schily, Bundesminister des Innern: den Änderungsanträge in die Stellungnahme des Bundes- rates aufgenommen wurde – beachten Sie das bitte! –, so Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! ist dies leider nicht auf Ihre bessere Einsicht zurückzu- Nach den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen führen, sondern allein auf die FDP – da will ich die Leis- hat die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Frau tung der FDP anerkennen; ein Teil der Opposition in Ge- Merkel, die gewachsene Verantwortung – – stalt der FDP nimmt ihre Verantwortung wahr –, die das (Michael Glos [CDU/CSU]: Daraus hätten Sie verhindert hat. Hätten die unionsregierten Länder diese lernen sollen!) Anträge zur Abstimmung kommen lassen, so hätten sie eine deutliche Abstimmungsniederlage erlitten. Das wis- – Ich kann noch nicht einmal den ersten Satz zu Ende sen Sie doch. Deshalb haben Sie diese erst gar nicht zur bringen, da reden Sie schon dazwischen, Herr Glos! Abstimmung gestellt. Wenigstens einen halben Satz sollten Sie zur Kenntnis Anstatt dies nun zum Anlass zu nehmen, sich an dem (B) nehmen. (D) Gesetzgebungsverfahren wieder sachorientiert zu betei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ligen, hat der Kollege Bosbach gleich am 15. Februar DIE GRÜNEN) dieses Jahres gegenüber der Nachrichtenagentur ddp an- Frau Merkel hat also die gewachsene Verantwortung gekündigt, seine Fraktion werde sämtliche Änderungs- der unionsregierten Länder im Bundesrat herausgestellt anträge des Bundesrates in die parlamentarischen Bera- und betont, die Union werde mit dem Votum der Wähle- tungen des Bundestags wieder einbringen. rinnen und Wähler achtsam und sorgsam umgehen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bosbach ist ein Wörtlich haben Sie von einer verantwortungsvollen Poli- guter Mann!) tik gesprochen, die von der Union zu erwarten sei. Sieht man sich diese Änderungsanträge genauer an, so Auch aus den unionsregierten Ländern war Entspre- ist festzustellen, dass es sich nahezu ausnahmslos um chendes zu hören. Ministerpräsident Koch hat in diesem Anträge handelt, die bereits Gegenstand der Beratungen Zusammenhang gesagt, er wolle Kontrolle ausüben statt im vorausgegangenen Gesetzgebungsverfahren waren. Blockade betreiben. Ministerpräsident Stoiber hat kon- struktive Verbesserungsvorschläge zu den Gesetzesvor- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist doch lagen der Bundesregierung angekündigt. das gleiche Gesetz!) Alles dies schien auf eine konstruktive Haltung der Unter diesen Anträgen befinden sich auch solche, die CDU/CSU-Opposition schließen zu lassen, die dem seinerzeit nicht einmal im Plenum des Bundesrates eine Thema auch angemessen ist. Denn bei allem politischen Mehrheit gefunden hatten, sowie solche, die im Laufe Streit um die richtigen Konzepte dürfen wir eines nicht des früheren Gesetzgebungsverfahrens bereits in den aus den Augen verlieren: Die Neugestaltung der Zuwan- jetzt vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet worden derung ist eine Forderung im besonderen, herausgehobe- sind. nen Interesse unseres Landes und von hoher Bedeutung Herr Bosbach, mit dieser Flut von Änderungsanträgen für den inneren Frieden und die Zukunft unseres Landes. wird ein Änderungsbedarf suggeriert, der in Wirklichkeit überhaupt nicht besteht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nun haben wir aber im Bundesrat, der sich im Rah- men einer Stellungnahme zunächst mit dem Regierungs- Sie zeigen sich entrüstet darüber, dass wir den Gesetz- entwurf zu befassen hatte, gerade erfahren müssen, dass entwurf inhaltlich unverändert erneut eingebracht haben, 2318 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Bundesminister Otto Schily (A) und versuchen den Anschein zu erwecken, als ob sich also auch die Position der Grünen und die Position der (C) die Bundesregierung überhaupt nicht bewegt habe, er- FDP ausreichend Berücksichtigung finden. Sie glauben wähnen aber nicht, dass wir der Union bereits in vielen doch wohl nicht, dass wir hier nur ein irgendwie Punkten weit entgegengekommen sind. „schwarz angemaltes“ Gesetz zustande bringen können. Das kann nicht gehen. (Rüdiger Veit [SPD]: Zu weit!) – Zu weit sind wir nicht entgegengekommen. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des stimmt nun wieder nicht, Rüdiger Veit. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – [CDU/CSU]: Noch nicht einmal (Heiterkeit bei der SPD) das! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Der aktuelle Gesetzentwurf ist aber bereits ein Kompro- kriegen ja gar keines zustande!) miss – auch mit Rüdiger Veit; denn wir haben schon im Glauben Sie mir: Auf eine Taktik, die jenseits von Sach- ersten Gesetzgebungsverfahren zahlreiche Änderungen argumenten versucht, die Koalitionspartner gegeneinan- vorgenommen, mit denen wir – ich wiederhole – den der auszuspielen, Vorstellungen der Opposition weit entgegengekommen sind. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist nicht mehr nötig!) Von der Bayerischen Staatsregierung ist jedoch noch eine Reihe neuer Änderungsanträge formuliert worden, werden wir nicht hereinfallen. Ich frage Sie daher, was die das Staatsangehörigkeitsrecht betreffen und darauf die Union anstrebt: verantwortungsvolle Politik oder abzielen, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts aus Blockade? Sie müssen sich zwischen diesen beiden Al- dem Jahre 1999, die europaweit als historischer Schritt ternativen entscheiden. gelobt und anerkannt wird, rückgängig zu machen. Das Es hat ohnehin den Anschein, dass Sie von der Union werden wir nicht mitmachen. sich über das, was Sie eigentlich wollen, gar nicht so (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ recht einig sind, weil Sie sich nicht mit der Sache ausei- DIE GRÜNEN) nander setzen, sondern nur krampfhaft Vorwände für Ihre Verweigerungshaltung suchen. Auch daher wider- Diese Haltung hat mit dem Zuwanderungsgesetz wahr- sprechen Sie sich ständig gegenseitig. haft nichts zu tun. Die Diskussion über das Staatsbürger- schaftsrecht ist im Jahr 1999 geführt und abgeschlossen Ich kann dafür einige Beispiele nennen. Ministerprä- und dann ist – ich betone – mit breiter Mehrheit ent- sident Stoiber hat in einem „Stern“-Interview vom schieden worden. Jetzt versuchen Sie, die Verhandlungs- 20. Februar 2003 geäußert, dass er nur eine kleine Lö- (B) masse – taktisch ist das vielleicht günstig – zu vergrö- sung mit einem Kompromiss über praktische Verbesse- (D) ßern, um die Konsensfindung zu erschweren oder gar rungen bei der Integration, beim Nachzugsalter von Kin- unmöglich zu machen. dern und beim wissenschaftlichen Austausch für möglich hält. Eine umfassende Regelung komme erst (Hans-Peter Kemper [SPD]: So sind sie!) dann in Betracht, wenn die Union wieder Regierungsver- Das kann ja wohl keine verantwortungsvolle Politik antwortung trage. Da können Sie lange warten! sein. Man kann sich angesichts dessen des Eindrucks kaum erwehren, dass zumindest ein Teil der Union zwar (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – nach außen hin von Verantwortung spricht, in Wirklich- Beifall bei Abgeordneten der SPD) keit aber Blockade meint. Für Ministerpräsident Müller hingegen, so war am (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 24. Februar 2003 in der „Welt“ zu lesen, ist schwer vor- stellbar – hören Sie bitte zu! –, dass es Teilkompro- In dieses Bild passen auch die Überlegungen, die der misse, etwa über das Nachzugsalter oder über die Zu- bayerische Innenminister Beckstein am 6. Februar dieses wanderung in den Arbeitsmarkt, gebe und die übrigen Jahres gegenüber der „Rheinischen Post“ geäußert hat. Bereiche ungeregelt im Streit verblieben. Er hat dabei angekündigt, dass CDU und CSU ihr bishe- riges Kompromissangebot aus den gescheiterten Ver- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! handlungen vor einem Jahr zurückziehen werden. Die Hört!) Bundesregierung und die rot-grüne Koalition müssten Stoiber also auf der einen Seite, Müller auf der anderen. der Union weiter entgegenkommen, als es noch im ver- gangenen Jahr erwartet worden sei. Das heißt doch im Demgegenüber hat Herr Bosbach nach einer Presse- Klartext nichts anderes als Sie wollen partout keinen meldung der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. Februar 2003 Kompromiss. Das ist die Realität. angekündigt, dass die Union einen eigenen Entwurf für ein Integrationsgesetz vorlegen werde, falls die Regie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung dies nicht tun werde, da sie die Differenzen in der DIE GRÜNEN) Zuwanderungsfrage nicht für überwindbar halte. Also ist Ich habe bereits im Bundesrat dargelegt, dass wir im auch er nur für eine kleine Lösung. Dazu hatte Minister- Streit um das Zuwanderungsgesetz nur dann einen Kom- präsident Müller in der „Welt“ bereits festgestellt: Auch promiss erreichen können, wenn sich in diesem Kom- eine von der Zuwanderung losgelöste Einigung über ein promiss alle politischen Kräfte, die hier vertreten sind, eigenständiges Integrationsgesetz sei nicht die beste Lö- wiederfinden können. In diesem Kompromiss müssen sung; Zuwanderung und Integration gehörten zusammen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2319

Bundesminister Otto Schily (A) Dem kann ich nur zustimmen. Wir sind doch einver- Umfang berücksichtigt. Die Unterschiede in den stritti- (C) nehmlich der Meinung, dass die Zuwanderung nach gen Punkten sind daher bei weitem nicht so groß, wie sie Deutschland derzeit weitgehend ungesteuert verläuft und manchmal dargestellt werden. Ich will das an einigen dass wir eine qualitative Änderung benötigen. Ohne Punkten illustrieren, die von Ihnen, von der Union, mit Neugestaltung des Zuwanderungsrechts bliebe es beim steter Regelmäßigkeit aufgegriffen werden. gegenwärtigen Rechtszustand und in bestimmten Berei- chen bei einer Zuwanderung, die wir in dieser Form und Es wird permanent behauptet, dass in § 1 zwar die Qualität nicht wollen. Würden wir tatsächlich nur ein In- Begrifflichkeit der Zuwanderung enthalten sei, diese tegrationsgesetz verabschieden, hätte dies zur Folge, aber nicht im gesamten Gesetzentwurf konsequent dass letztlich auch diejenigen an den mit hohem finanzi- durchgehalten werde. Das gelte vor allem für die Zuwan- ellen Aufwand getragenen Integrationsmaßnahmen derung zum Arbeitsmarkt. Wir haben in dem Gesetzent- partizipieren würden, deren Zuzug nach Deutschland wir wurf den Zugang für ausländische Arbeitskräfte in syste- eigentlich unterbinden wollen. Ohne Umsteuerung matischer und nicht nur in quantitativer Hinsicht völlig bliebe es außerdem bei dem unvermittelten Zuzug in die neu gestaltet, weg von einem sehr komplizierten Verfah- Sozialsysteme, der doch gerade von Ihnen ständig be- ren, das uns behindert, hin zu einer marktwirtschaftli- klagt wird. Sie beklagen einen Zustand, wollen ihn aber chen Systematik, die strikt am Bedarf orientiert ist; das nicht verändern. Das ist die Realität, meine Damen und betone ich. Hierzu war es erforderlich, den so genannten Herren. Anwerbestopp in Teilen aufzuheben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zu behaupten, dass damit eine Gefährdung des hiesi- DIE GRÜNEN) gen Arbeitsmarktes verbunden sei, ist schlicht unwahr – um nicht eine härtere Formulierung zu verwenden. Darauf hat dankenswerterweise auch die Frau Kolle- gin Werwigk-Hertneck hingewiesen. Sie hat in diesem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zusammenhang deutlich gemacht, dass die Union min- DIE GRÜNEN) destens eine erhebliche Mitverantwortung für den ge- An dieser Stelle will ich einen Satz von Frau Rita genwärtigen Rechtszustand habe. Süssmuth zitieren. Sie hat gesagt, sie habe in ihrem gan- Wollen wir diese negative Entwicklung künftig ver- zen politischen Leben noch nie ein so hohes Maß an meiden, so müssen wir den Zuzug nach Deutschland Desinformation erlebt, wie es von Ihnen, der Unions- qualitativ verändern und zugleich die Zuwanderer umge- fraktion, über das Zuwanderungsgesetz verbreitet werde. hend in unsere Gesellschaft integrieren. Deshalb ist der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ so oft wiederholte Satz richtig: Zuwanderung und Inte- DIE GRÜNEN) (B) gration sind zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen das (D) eine tun und dürfen das andere nicht lassen. Das schreiben Sie sich einmal hinter die Ohren! (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) GRÜNEN und der FDP) Erstens ist der so genannte Anwerbestopp bereits im Beides ist erforderlich: Es bedarf sowohl einer Neuge- geltenden Recht durch zahlreiche Ausnahmen aufge- staltung des Zuwanderungsrechts als auch des Aufbaus weicht. Ich empfehle einen Blick in die Anwerbestopp- einer umfassenden Integrationsförderung. ausnahmeverordnung. Das neue System befreit lediglich davon, diese Verordnung permanent zu ändern, wenn sich Dass der Bedarf nach einer grundlegenden Moderni- am Arbeitsmarkt veränderte Mangellagen herausbilden. sierung des Zuwanderungsrechts besteht, darüber dürfte nicht nur unter den Fachleuten uneingeschränkte Einig- Zweitens haben wir den Anwerbestopp für nicht oder keit bestehen. Das gilt aber auch für die wesentlichen In- nur gering Qualifizierte bewusst aufrechterhalten. Das halte einer modernisierten Zuwanderungskonzeption, ist ein Bereich, dem ein großer Teil unserer inländischen wie die eingehende Diskussion der vergangenen zwei Arbeitslosen zuzuordnen ist, sodass entsprechende Ar- Jahre bewiesen hat. Dies bestätigen in gleicher Weise die beitsplätze grundsätzlich aus dem vorhandenen Arbeits- Ergebnisse der Süssmuth-Kommission und der Müller- kräftepotenzial besetzt werden können. Kommission, die von den Parteien vorgelegten Konzepte Drittens ist sichergestellt, dass Zuwanderung in den und die zahlreichen Äußerungen von der Wirtschaft über deutschen Arbeitsmarkt nur dann – und nur dann – statt- die Gewerkschaften bis hin zu den Kirchen. finden kann, wenn alle vorhandenen Möglichkeiten Auch Ministerpräsident Müller – um ihn noch einmal ausgenutzt worden sind, die zur Verfügung stehenden zu zitieren – hat im „Focus“ vom 13. Januar dieses Jah- Arbeitsplätze mit denjenigen zu besetzen, die in res erneut betont, dass wir dringend eine Reform der Zu- Deutschland ohne Arbeit sind. wanderung brauchen. Er hat warnend hinzugefügt: „Eine Ich glaube, Sie haben das inzwischen auch eingesehen; Strategie, die Kompromisse ausschließt, ist verantwor- denn Sie haben die Aufrechterhaltung des Anwerbe- tungslos.“ stopps in Ihrer Göttinger Erklärung vom 11. Januar 2003 (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht mehr erwähnt, sondern formuliert – ich zitiere –: In dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vor- Zuwanderung kann es nur für Fachkräfte geben, die gelegt hat, sind – ich will das noch einmal wiederholen – am deutschen Arbeitsmarkt nicht in ausreichender die Vorstellungen der Union bereits in einem großen Zahl zur Verfügung stehen. 2320 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Bundesminister Otto Schily (A) Das ist der Inhalt unseres Gesetzes. die eigentliche Frage. Sie müssen wissen, was Sie tun (C) und was Sie lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]) Wir haben das, was Sie formulieren, bereits in unser Ge- setz geschrieben. Bei allem Streit um das richtige Zuwanderungsgesetz Nun führen Sie dagegen immer wieder an, dass die sollten wir uns immer die Fragen stellen: Was passiert, uneingeschränkte Geltung des Vorrangprinzips nicht zu- wenn wir keinen Konsens erreichen? treffen, weil es beim Punktesystem auf ein konkretes (Michael Glos [CDU/CSU]: Was haben Sie Arbeitsplatzangebot gar nicht ankomme. Das stimmt, dafür getan?) weil es sich bei dieser Variante um ein angebotsorientier- tes Verfahren handelt, das allerdings nur in Kraft treten Ist der Kompromissvorschlag, den wir hier vorlegen, kann, wenn Bundesrat und Bundestag zustimmen. nicht doch sehr viel besser als der gegenwärtige Rechts- zustand? Ohne Konsens bliebe alles beim Alten. Ich will Ich muss Sie aber erinnern: Sie haben das selbst ge- Ihnen sagen, was das hieße: keine Steuerung und Quali- wollt. Vielleicht ist Ihnen das gar nicht mehr in Erinne- fizierung der Zuwanderung – das ist der gegenwärtige rung, aber im Beschluss des Bundesausschusses der Rechtszustand –, keine Begrenzungsmechanismen, kei- CDU Deutschlands, Ihrem so genannten kleinen Partei- ne Berücksichtigung unserer eigenen wirtschaftlichen tag, vom 7. Juni 2001, der auf der Grundlage der Ergeb- Interessen, unverminderter Zuzug in die Sozialsysteme, nisse der Müller-Kommission gefasst wurde, heißt es: keine Straffung und Beschleunigung der Asylverfahren, Der vorhandene Bedarf an Fachkräften wird unter keine Instrumente zur effektiven Durchsetzung der Aus- Beachtung des Vorrangs von Ausbildung und Qua- reise gegenüber ausreisepflichtigen Personen, keine Ver- lifikation jährlich festgestellt. Dadurch entfällt die einfachung und Entbürokratisierung des Ausländer- Notwendigkeit einer Subsidiaritätsprüfung im kon- rechtes, keine Bündelung der Behördenorganisation, kreten Einzelfall. keine Regelungen für Selbstständige in Deutschland, die Arbeitsplätze schaffen würden, keine Bleibemög- Das ist doch das Punktesystem, das Sie hier beschreiben. lichkeiten für qualifizierte und in Deutschland bestens (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten integrierte ausländische Studienabsolventen, keine För- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) derung des Wissenschaftstransfers und des Studien- standorts Deutschland, ungelöste Integrationsprobleme, Das ist nichts anderes als die Festsetzung einer jähr- ein Kindernachzugsalter von 16 Jahren usw. All das läge lichen Höchstzahl. (B) in Ihrer Verantwortung, wenn der Zustand, den Sie sel- (D) Ich zitiere weiter: ber beklagen, so bliebe. Das müssten Sie dann vor den Wählerinnen und Wählern vertreten. Die Auswahl der betreffenden Personen erfolgt so- dann auf der Basis eines Punktesystems, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Sie haben gerade protestiert, es sei kein Punktesystem; hier steht es aber – Ich biete Ihnen nach wie vor einen vernünftigen Kom- promiss an. Nach meinen bisherigen Erfahrungen bin ich das nach Alter, Schulausbildung, Beruf, Sprach- aber leider nicht sehr zuversichtlich, dass es uns in den kenntnissen, Berufserfahrung … differenziert. Beratungen des Bundestages gelingt, einen Kompromiss Das entspricht auch unserem Punktesystem, das wir im zu finden. Aber vielleicht ist es Ihnen im stillen Käm- Gesetz festgelegt haben. merlein des Vermittlungsausschusses möglich, Ihre Vor- behalte zu überwinden und die Vernunft wieder zu ent- (Franz Müntefering [SPD]: Ihr müsst das le- decken, die man in der Politik braucht. In dem Sinne sen! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder bleibe ich ein Optimist. [CDU/CSU]: Wir haben es vorgeschlagen, wir müssen es nicht lesen!) Vielen Dank. Auch andere Einwände, die Sie erheben, sind weit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hergeholt und dienen nur dazu, das Gesetzgebungsver- DIE GRÜNEN) fahren zu verhindern. – Ich blicke auf die Uhr und sehe, dass ich nicht alle Punkte ansprechen kann. Präsident Wolfgang Thierse: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!) Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang – So ist es. Wenn Sie mir noch mehr Redezeit geben Bosbach, CDU/CSU-Fraktion. wollen, können Sie das gern tun. Sie können diese Zeit (Beifall bei der CDU/CSU) dann von Ihrer Redezeit abziehen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Herr Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Schmidt macht das!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat- Wir stehen jetzt vor der Wahl, ob wir es bei dem ge- tieren heute über die Wiederauflage eines Gesetzent- genwärtigen Rechtszustand belassen oder nicht. Das ist wurfs der Bundesregierung zur völligen Umgestaltung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2321

Wolfgang Bosbach (A) des geltenden Ausländerrechts mit dem Ziel, Deutsch- Dieses Gesetz würde die Zuwanderung nicht besser (C) land zu einem klassischen, zu einem multikulturellen steuern, als es derzeit möglich ist. Es gibt nämlich über- Einwanderungsland zu machen. Wir wollen keine multi- haupt keine Beschränkung. Jeder, der nach geltendem kulturelle Gesellschaft. Wir wollen nicht mehr Zuwan- Recht kommen kann, könnte auch nach dem neuen derung, sondern mehr Integration. Wir wollen gerne der Recht kommen. Herr Schily hat von dieser Stelle aus uns zugewachsenen größeren Verantwortung gerecht kein einziges Beispiel dafür genannt, welche Gruppe zu- werden. Deshalb lehnen wir das Gesetz ab. künftig nicht mehr oder nicht in dem Umfang, wie es derzeit möglich ist, kommen kann. Er kann ein solches (Beifall bei der CDU/CSU) Beispiel auch nicht nennen, weil er weiß, dass das, was Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland. er gesagt hat, in weiten Teilen nicht das ist, was im Ge- Wir können es aufgrund unserer historischen, geographi- setz steht. Das lassen wir ihm nicht durchgehen. schen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auch nicht (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei werden. Dabei geht es nicht um die Frage: Zuwanderung der SPD) ja oder nein? Diese Frage wäre einigermaßen albern. Wir hatten in der Vergangenheit Zuwanderung und wir haben Dieses Gesetz gibt Steuerungsinstrumente auf. Es wird sie zurzeit. Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg Zu- die Steuerung nicht erleichtern, sondern erschweren. wanderung wie kein anderes Land auf dieser Erde. Wir Das beliebteste Argument für das Gesetz – auch heute werden sie auch in Zukunft aufgrund der EU-Freizügig- wieder vorgetragen – lautet: Alle gesellschaftlich rele- keit, der Möglichkeit des Familiennachzugs oder aus hu- vanten Gruppen sind dafür: die Kirchen, die Arbeitge- manitären Gründen haben. Es geht darum, ob die mit ber, der DGB und Frau Süssmuth. diesem Gesetz geplante erhebliche Ausweitung der Zu- wanderung nach Deutschland dem Interesse unseres (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zuruf von der Landes dient. Genau das ist nicht der Fall. SPD: Unanständig!) (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark Bei dieser Aufzählung fehlt allerdings eine gesellschaft- [SPD]: Sie glauben doch selbst nicht, was Sie lich relevante Gruppe, die für die Union eine große Be- da erzählen! – Rüdiger Veit [SPD]: Sie reden deutung hat. Das ist die Bevölkerung der Bundesrepu- wider besseres Wissen!) blik Deutschland. Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, sondern (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Wider- wir haben einen erkennbaren Mangel an Integration. spruch bei der SPD) Deshalb ist nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr In- 80 Prozent – – (B) tegration das Gebot der Stunde. (D) (Michael Glos [CDU/CSU]: Nicht die Bevöl- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Wo kerung, sondern das deutsche Volk! – Zurufe waren denn Ihre Bemühungen?) von der SPD) Bei der Zuwanderung gehen Sie zu weit und bei der Inte- – Herr Schily, wäre ich in punkto Zwischenrufe – ge- gration bei weitem nicht weit genug. nauer gesagt: in punkto Pöbelei – nur halb so empfind- (Beifall bei der CDU/CSU) lich, wie Sie zu Beginn Ihrer Rede waren, dann müsste ich hier schon längst explodiert sein. Die Regierung weiß genau, dass und warum die (Beifall bei der CDU/CSU) Union dieses Gesetz ablehnt. Wenn Sie es dennoch wort- wörtlich wieder einbringen, dann ist das der schlagende Weil die Regierung genau weiß, welche Haltung die Beweis dafür, dass es Ihnen im Gegensatz zu allen öf- Bevölkerung hat fentlichen Erklärungen nicht um einen Kompromiss mit (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, das deut- der Union, sondern um Konfrontation geht, sche Volk! – Michael Glos [CDU/CSU]: Wa- (Widerspruch bei der SPD) rum sprichst du nicht vom deutschen Volk?) weil Sie offensichtlich darauf spekulieren, im Bundesrat – über 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr die unionsgeführten Bundesländer auseinander dividie- Zuwanderung –, versucht sie, fälschlicherweise den Ein- ren zu können. druck zu erwecken, als würde die Zuwanderung durch dieses Gesetz reduziert. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Zuruf von der CDU/CSU: Lüge!) Dieses Bemühen wird ebenso scheitern wie der unappe- Nur ein Beispiel aus dem berüchtigten Desinformations- titliche Versuch, mithilfe eines vorsätzlichen, eines blatt der Bundesregierung: wohlkalkulierten Verfassungsbruchs das Gesetz durch Weniger Zuwanderung den Bundesrat zu peitschen. Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich (Widerspruch bei der SPD) verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Men- Das ist auch gut so. schen kommen, die in Deutschland eine Perspektive haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte (Beifall bei der CDU/CSU) geboten bekommen. 2322 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Wolfgang Bosbach (A) Das ist die glatte Unwahrheit; das wissen Sie. Im Klartext: Im Gegensatz zum geltenden Recht soll die (C) Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland kein (Beifall bei der CDU/CSU) politisches Ziel mehr sein. Sie darf also auch nicht bei Immerhin hat die damalige Staatssekretärin des In- Ermessensentscheidungen von der Verwaltung berück- nenministers, die Kollegin Sonntag-Wolgast, zugegeben, sichtigt werden. Außerdem wollen Sie den Anwerbe- dass diese Aussage falsch ist; allerdings ist sie jetzt keine stopp im Gegensatz zu dem, was Sie hier vor zehn Minu- Staatssekretärin mehr. ten gesagt haben, nicht teilweise, sondern generell aufheben, womit Sie den deutschen Arbeitsmarkt weit (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Was?) über das geltende Recht hinaus für ausländische Arbeit- – In der Sendung „Münchener Runde“ am 25. März nehmer öffneten. 2002 haben Sie vor dem deutschen Fernsehpublikum ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der sagt, die Zuwanderung werde sich ausweiten, wenn auch SPD: Falsch!) nicht gravierend. Das ist das Gegenteil dessen, was in dieser Broschüre steht und wofür der deutsche Steuer- Ihre Begründung lautet, wir müssten uns am weltwei- zahler 2,6 Millionen Euro bezahlen musste. ten Wettbewerb um die klügsten Köpfe beteiligen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Michael Glos [CDU/CSU]: Die gehen inzwi- Erneut soll die Bevölkerung über die gesellschaftli- schen aus Deutschland weg!) chen Folgen eines Gesetzes getäuscht werden – wie Natürlich müssen wir dies tun. Wir machten geradezu ei- beim Staatsangehörigkeitsrecht auch. Sie haben es ge- nen Fehler, wenn wir uns nicht auch international um rade selbst erwähnt. Herr Schily, Sie haben in der De- Spitzenkräfte bemühten. Aber darum geht es nur in einer batte im Mai 1999 gesagt: einzigen Vorschrift des Gesetzes. Weil Sie das Thema Doppelpass angesprochen ha- (Jörg Tauss [SPD]: Gegen die sind Sie auch!) ben: Ich darf Sie bitten – das meine ich sehr ernst –, zur Kenntnis zu nehmen, dass es mir wahrlich nicht – Diese Vorschrift ist im Grundsatz nicht umstritten. um die Herbeiführung möglichst vieler doppelter Die Behauptung, der deutsche Arbeitsmarkt sei für Staatsbürgerschaften geht. Das ist nicht unser Ziel. ausländische Arbeitnehmer faktisch verriegelt, ist ange- Ich bin sogar der Meinung, dass doppelte Staatsbür- sichts der EU-Freizügigkeit sowie der Tatsache, dass wir gerschaften vermieden werden sollten. im vorvergangenen Jahr 342 000 Arbeitserlaubnisse an Der Kollege Westerwelle – es tut mir Leid, Herr ausländische Arbeitnehmer erteilt haben – 235 000 für Westerwelle, dass ich dies hier ansprechen muss; Sie ha- Saisonbeschäftigung und 107 000 für Dauerarbeitsver- (B) (D) ben Jürgen Möllemann am Bein und das ist die politi- hältnisse –, grober Unfug. sche Höchststrafe für jeden Liberalen – Es gibt ein weiteres populäres Argument: Wir bemü- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) hen uns um die Anwerbung von Pflegekräften. Richtig. Das ist nach geltendem Recht aber ohne weiteres mög- hat in derselben Debatte wortwörtlich gesagt: „Der Dop- lich. pelpass ist vom Tisch.“ Von wegen vom Tisch! Ihr Ge- setz zur Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts war (Otto Schily, Bundesminister: Nein, nein!) ein Konjunkturprogramm für doppelte Staatsangehörig- Warum erwecken Sie dann den Eindruck, dass das nur keiten. Vor dem Gesetz wurden etwa 14 Prozent der mit dem neuen Recht möglich ist? Ausländer unter Hinnahme der doppelten Staatsangehö- rigkeit eingebürgert. Jetzt sind es knapp 50 Prozent. Ge- Das beste Argument für unsere Haltung in dieser nau das Gegenteil dessen, was Herr Schily hier zu den Frage ist die Erfahrung mit der Greencard-Initiative. Folgen des Gesetzes gesagt hat, ist in der Wirklichkeit Vor gut drei Jahren gab es hier ein gewaltiges Tamtam eingetreten. unter großer öffentlicher Anteilnahme. Es hieß, wir müssten weltweit IT-Spezialisten gewinnen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist die Wahr- heit! Wie halten Sie es denn mit der Wahrheit, (Otto Schily, Bundesminister: Ja, genau! – Zu- Herr Bundesminister?) ruf von der CDU/CSU: 100 000!) Dieselbe Masche wird jetzt bei der Zuwanderung aus- Das Ergebnis war: An einem einzigen Tag wurde, je probiert. nach Form der Vertreter der Wirtschaft, ein Bedarf von 40 000, 50 000 oder 100 000 solcher Fachkräfte ange- (Beifall bei der CDU/CSU) meldet. Die Verordnung sieht eine Beschränkung auf In der Gesetzesbegründung – warum haben Sie diesen 20 000 vor. Schlüsselsatz hier nicht zitiert, warum steht er nicht in Nach mehr als zweieinhalb Jahren hat es lediglich der Broschüre der Bundesregierung? – heißt es: 13 700 Zusicherungen gegeben Zu den öffentlichen Interessen gehört im Gegensatz (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein Erfolg! Freuen zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine Sie sich doch mal!) übergeordnete ausländerpolitische Grundentschei- dung der Zuwanderungsbegrenzung oder der An- und es sind noch nicht einmal 11 000 gekommen. Und, werbestopp. Herr Tauss, Überraschung: Vier Bundesländer wenden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2323

Wolfgang Bosbach (A) diese Rechtsverordnung nicht an; sie haben landesrecht- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sagen (C) liche Regelungen auf der Basis des alten Rechts. Sie doch mal Ja oder Nein!) 12 Bundesländer wenden die neue Bundes-IT-Verord- nung an. Mehr IT-Spezialisten sind in die vier Bundes- Das gilt beispielsweise in dem von Ihnen genannten Be- länder gegangen, die das alte Recht anwenden, als in die reich oder auch beim Thema Saisonarbeitskräfte. Warum 12 Bundesländer, die das neue Recht anwenden. keine großzügigeren, flexibleren Regelungen? Dagegen spricht nichts. Wir wenden uns gegen die generelle Auf- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss hebung des Anwerbestopps für Arbeitskräfte aus Nicht- [SPD]: Von nichts Ahnung, aber wirklich von EU-Ländern. nichts! – Weitere Zurufe von der SPD: Keine (Lothar Mark [SPD]: Er hat eine Frage ge- Ahnung! – So ein Blödsinn!) stellt, die man mit Ja oder Nein beantworten Das ist ein klarer Beweis dafür, dass es mit dem gelten- kann!) den Recht offensichtlich besser geht, international Spit- Das hat mit dem von Ihnen angesprochenen Thema zenkräfte anzuwerben, als mit der Bundes-IT-Verord- nichts zu tun. nung. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Sie wollen sicherlich wissen, welche Auswirkungen [Salzgitter] [SPD]: Ich bin selten mit Herrn die Greencard-Verordnung auf dem deutschen Arbeits- Niebel einer Meinung, aber was er gerade ge- markt hatte. Dazu zeige ich Ihnen anhand eines Dia- sagt hat, ist richtig!) gramms einmal die Entwicklung der Zahl der inländi- schen arbeitslosen IT-Fachkräfte. Die Zahl hat sich in Wenn in Deutschland tatsächlich Fachkräfte fehlen, den letzten zweieinhalb Jahren fast verdreifacht. dann ist das eine Herausforderung für die Bildungspoli- tik, für die berufliche Qualifizierung, für den Hochschul- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) standort Deutschland und nicht eine Entwicklung, die Alles das, was Sie in punkto Greencard erzählt haben, ist mit mehr Zuwanderung beantwortet werden kann. Diese nicht eingetreten. Probleme können wir nicht mit dem Ausländerrecht lö- sen, sondern nur mit einer besseren Bildung und Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU) dung unserer Kinder und der jungen Generation. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse: Der Anwerbestopp wurde 1973 von Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage – er war Sozialdemokrat – bei einer Arbeitslosenquote (B) des Kollegen Niebel? – Bitte. von 1,2 Prozent und einer Ausländerarbeitslosenquote (D) von 0,8 Prozent erlassen. Jetzt will die gleiche SPD bei einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent und einer Aus- Dirk Niebel (FDP): länderarbeitslosenquote von 21 Prozent diesen Anwer- Vielen Dank. bestopp aufheben. Das ist nicht nur unverantwortlich, sondern paradox. Das werden wir nicht mitmachen. Herr Kollege Bosbach, Sie haben gerade angeführt, was alles nach geltendem Recht schon möglich ist. Unter (Beifall bei der CDU/CSU) anderem haben Sie angeführt, dass auch Pflegekräfte an- Der Anteil der ausländischen Arbeitslosen ist doppelt geworben werden können, was Sie als richtig empfin- so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Der Anteil den. Ist Ihnen nicht bekannt, dass diese Regelung eine der ausländischen Sozialhilfeempfänger ist dreimal so Übergangsregelung ist, die bis zum In-Kraft-Treten des hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Die Zahl der Zuwanderungsgesetzes gelten sollte und die am ausländischen Arbeitslosen hat sich in den letzten zehn 31. Dezember letzten Jahres ausgelaufen ist? Sind Sie Jahren glatt verdoppelt. Sie beträgt heute 580 000. mit mir der Ansicht, dass man eine Regelung braucht, Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, dass wir diese Pro- um die notwendigen Pflegekräfte nach Deutschland an- bleme mit der Aufhebung des Anwerbestopps oder mit werben zu können? mehr Zuwanderung lösen könnten? So werden wir die (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Probleme verschärfen und nicht lösen. Tauss [SPD]: Alles nicht bekannt?) (Beifall bei der CDU/CSU) Solange wir auf dem Arbeitsmarkt eine derart drama- Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): tische Situation haben, in der selbst eine hervorragende Kein Mensch sagt doch – das gilt im Übrigen, Herr Schulausbildung und eine hervorragende berufliche Niebel, auch für Ihren Antrag betreffend Saisonarbeits- Ausbildung sowie Weiterbildung nicht vor Arbeitslosig- kräfte –, keit schützen, muss die Weiterqualifizierung und Ver- mittlung von inländischen Arbeitslosen Vorrang haben (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nicht vor einer weiteren Zuwanderung auf den deutschen Ar- ablenken! Sagen Sie nur Ja oder Nein!) beitsmarkt. dass das geltende Recht optimal ist. Kein Mensch sagt, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie bauen dass wir keine Korrekturen vornehmen müssen. ja einen Popanz auf! Unglaublich!) 2324 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Wolfgang Bosbach (A) Natürlich ist es für die Unternehmen ein Problem, den. Wenn das so ist, dann können wir § 20 ersatzlos (C) wenn sie trotz Massenarbeitslosigkeit freie Stellen nicht streichen. Wenn Sie dennoch an dieser Vorschrift fest- besetzen können. Das ist aber eine Herausforderung für halten, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir Ihnen die Sozialpolitik, für die Arbeitsmarktpolitik. Es muss Ihre politischen Absichten nicht glauben. wieder gelten, dass derjenige, der den ganzen Monat hart gearbeitet hat, mehr in der Tasche hat als derjenige, der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sozialleistungen bezieht. Wir müssen die Anreize erhö- Es ist noch gar nicht lange her, da haben Sie, Herr hen, aus den sozialen Sicherungssystemen heraus- und Schily, in einem Interview mit der „Süddeutschen Zei- in eine Beschäftigung hineinzugehen. tung“ auf die Frage, ob man, da die Wirtschaft sage, sie (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das machen brauche internationale Arbeitskräfte, Fachkräfte und wir doch!) Spitzenkräfte, nicht das geltende Recht ändern müsse, wortwörtlich gesagt: Das alles hat mit dem Thema „Ausländerrecht und Zu- wanderung“ nichts zu tun. Wenn mir Siemens sagt, wir brauchen soundso viele, bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein (Beifall bei der CDU/CSU) Zuwanderungsgesetz, das geht schon mit dem gel- tenden Ausländergesetz. Auch die demographischen Probleme in unserem Land werden wir nicht durch eine höhere Zuwanderung Heute behaupten Sie genau das Gegenteil. lösen. Es ist ja richtig: Wir haben eine im internationalen Vergleich sehr niedrige Geburtenrate. Wir ersetzen die (Beifall bei der CDU/CSU) Elterngeneration nur zu zwei Drittel. Möglicherweise Weil durch dieses Gesetz im Bereich der humanitären unterschätzen wir die damit verbundenen Probleme Zuwanderung die Ausweitung der Zuwanderung nach mehr, als dass wir sie überschätzen. Aber das ist für uns, Deutschland vorprogrammiert wird, entsteht ein Gegen- für die CDU/CSU, keine Herausforderung für die Aus- satz zu dem, was Sie selber einmal zur humanitären länderpolitik. Vielmehr müssen wir wieder ein konse- Zuwanderung gesagt haben, nämlich dass es in quent kinderfreundliches Land werden und eine bessere Deutschland keine Schutzlücken gibt. Das haben Sie Familienpolitik machen. über eine lange Zeit gesagt; Sie bestätigen es hier wieder. (Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Wenn es aber keine Schutzlücken gibt, dann gibt es auch Deshalb das höhere Nachzugsalter!) nicht die gesetzgeberische Notwendigkeit, solche zu schließen. Selbstverständlich müssen wir und wollen wir Jetzt sage ich etwas, von dem ich weiß, dass manch unseren humanitären Verpflichtungen nachkommen; das (B) einer den Kopf schütteln oder denken wird, das sei poli- ist doch völlig unstrittig. Wenn das Leben und die Frei- (D) tisch nicht korrekt. Meine feste Überzeugung ist aber heit eines Flüchtlings konkret bedroht sind, dann genießt nun einmal: Mich würde es beim Thema Bevölkerungs- er in Deutschland Schutz. Das ist so und das wird auch politik bzw. Familienpolitik freuen, wenn wir im Deut- in Zukunft so bleiben. Wir wollen aber nicht über die schen Bundestag mit der gleichen Leidenschaft, mit der eindeutigen Regelungen der Genfer Flüchtlingskonven- wir über Ausländerpolitik sprechen, auch einmal darüber tion hinausgehen. reden, wie wir in Deutschland ungeborenes Leben besser schützen können. Auch das wäre einmal eine Debatte (Rüdiger Veit [SPD]: Wir auch nicht! Sie wert. wissen das!) (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Weil das, was Sie zur nicht staatlichen Verfolgung ge- [Salzgitter] [SPD]: Unfassbar, was hier alles sagt haben, zutrifft, können Sie nicht mit unserer Zu- vermischt wird!) stimmung rechnen. Ich zitiere den Innenminister in ei- nem Interview mit dem „Tagesspiegel“: „Wenn man aber Herr Schily hat vorhin die „Zuwanderung aus demo- generell auch nicht staatliche Verfolgung als Asylgrund graphischen Gründen“ und in diesem Zusammenhang anerkennen will, gäbe es praktisch keine Begrenzung § 20 des Gesetzentwurfes angesprochen. Er hat gesagt, mehr.“ Weil es genau so ist, Herr Schily, können Sie von auch wir von der CDU/CSU würden ein Punktesystem uns nicht erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf zu- vorsehen. Dabei haben Sie den wesentlichsten Unter- stimmen. schied unterschlagen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Lothar Mark [SPD]: Alles Ideologie!) Außerdem ist es falsch, dass es im Grundsatz – von Wir sehen zwei Säulen vor: die Zuwanderung von einer Ausnahme abgesehen – dabei bleiben soll, dass Höchstqualifizierten und die von Fachkräften aufgrund Asylbewerber nach bloßem Zeitablauf von drei Jahren eines nationalen Arbeitsmarktbedürfnisses – und nicht, nicht mehr nur die abgesenkten Leistungen nach dem wie Sie es regeln wollen, aufgrund eines regionalen Ar- Asylbewerberleistungsgesetz, sondern die volle Sozial- beitsmarktbedürfnisses, das über 91 Arbeitsämter zu dia- hilfe bekommen. Das wollen Sie in einem kleinen Teil- gnostizieren ist – mithilfe eines Punktesystems. Sie se- bereich ändern, im Übrigen bleibt es bei dieser Rege- hen drei Gruppen vor: Höchstqualifizierte, übrige lung. Angesichts einer Anerkennungsquote von zurzeit Arbeitnehmer und ein Punktesystem aus demographi- unter 2 Prozent müssen wir jeden Anreiz nehmen, unter schen Gründen, von dem Sie selber sagen: Wir wollen Berufung auf das Asylrecht, in Wahrheit aber aus asyl- diese Vorschrift in den nächsten Jahren gar nicht anwen- fremden Gründen nach Deutschland zu kommen. Herr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2325

Wolfgang Bosbach (A) Schily, ändern Sie das, dann werden wir dem gerne zu- text heißt das: Änderungen ja, wenn sich nichts ändert. (C) stimmen! Dann können Sie doch nicht ernsthaft erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen. (Rüdiger Veit [SPD]: Sagen Sie den Bundes- ländern, dass die Verfahren abgekürzt werden Herr Kollege Beck, Sie haben in einem Interview ge- müssen!) sagt: „Wir verkaufen unsere Seele nicht.“ Soll ich Ihnen etwas sagen? – Wir verkaufen unsere Seele auch nicht. Wir müssen zurück zum alten Recht. Kein politischer Flüchtling, dessen Leib und Leben im Heimatland be- (Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit droht wird und der hier in Deutschland Schutz sucht, [SPD]: Ihr habt doch gar keine! – Wilhelm wird sich ernsthaft darüber beklagen, dass er nur für die Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben doch Zeit des Anerkennungsverfahrens abgesenkte Leistun- gar keine!) gen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und nicht Wir werden keinem Gesetzentwurf zustimmen, der die volle Sozialhilfe bekommt. Sie geben bereits nach den Interessen des Landes nicht dient, weder heute noch drei Jahren die volle Sozialhilfe. Das ist ein kapitaler morgen. Fehler; denn wer als Asylbewerber anerkannt wird, un- terliegt ohnehin nicht mehr den Regelungen des Asylbe- Danke fürs Zuhören. werberleistungsgesetzes. (Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU) (Rüdiger Veit [SPD]: Eben! Deswegen müssen die Verfahren kürzer werden!) Präsident Wolfgang Thierse: Es darf keine wirtschaftlichen Anreize geben, um unter Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/ Berufung auf das Asylrecht nach Deutschland zu kom- Die Grünen, das Wort. men. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Unser eigentliches Problem ist nicht das Asylrecht Seelenverkäufer!) selber, sondern der vielfältige Missbrauch der Inan- spruchnahme des Asylrechts. Das wollen wir ändern. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wird aber mit Ihrem Gesetzentwurf nicht geändert. Lieber Herr Bosbach, (Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Wer hat denn das Asylbewerberleis- (Michael Glos [CDU/CSU]: Keine Liebes- tungsgesetz verabschiedet?) erklärungen!) (B) Nun zu dem Kapitel Integration: Sie bleiben weit hinter über die Frage des Abtreibungsverbots gerade in der (D) dem zurück, was in punkto Integration notwendig wäre. Einwanderungsdebatte bevölkerungspolitisch zu disku- tieren, das ist für mich nun wirklich völlig daneben. (Jörg Tauss [SPD]: Ach du liebe Zeit!) (Lothar Mark [SPD]: Nicht nur das, alles, was Ihr Verhalten ist getragen von dem Bemühen, Kosten er gesagt hat!) vom Bund auf die Länder und Gemeinden abzuwälzen. Natürlich findet Integration immer im richtigen Leben, Ich glaube, das sollten wir lassen. also vor Ort in den Städten und Gemeinden statt. Wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Bund Rechtsansprüche gewährt, muss er auch die und bei der SPD) Kosten tragen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Kosten auf die Städte und Gemeinden abgewälzt wer- Deutschland hat heute 82 Millionen Einwohner; ohne den, die dank Rot-Grün ohnehin auf dem letzten Loch Zuwanderung, so das Institut für Bevölkerungsfor- pfeifen. Eine solche Politik machen wir nicht mit. schung, wären es gerade 55 Millionen. Diese Zahlen zei- gen: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Wir müssen mehr für die nachholende Integration tun. Wir brauchen wirksame Sanktionen für diejenigen, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich rechtsgrundlos weigern, trotz Rechtspflicht an ei- Es geht nicht um die Anerkennung oder Leugnung ei- nem solchen Integrationskurs teilzunehmen. Wenn wir nes Tatbestandes, es geht um seine Gestaltung. Moderne, darauf verzichten, setzen wir das falsche Signal, nämlich innovative Gesellschaften, die im internationalen Wett- dass uns Integration offensichtlich doch nicht so viel bewerb bestehen wollen, müssen atmen. Der Austausch wert ist, wie ständig behauptet wird. mit dem Ausland durch Spracherwerb und Wissenstrans- (Jörg Tauss [SPD]: Wie bei euch!) fer, aber eben auch durch Zu- und Abwanderung ist für sie essenziell. Wer Abschottung betreibt, ist daher ein In- Tun Sie weniger für Zuwanderung und mehr für Integra- novationshemmnis und schädigt die Zukunftsfähigkeit tion! Dann haben Sie uns an Ihrer Seite. unseres Landes. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Schily, Sie haben uns aufgerufen, einem Kom- promiss zuzustimmen, und haben gleichzeitig gesagt, Bei dieser Diskussion geht es auch um Mythen und Sie seien zu Änderungen an diesem Gesetzentwurf be- um Realität. Der Mythos ist der Anwerbestopp mit der reit, sofern die Substanz nicht geändert werde. Im Klar- Begründung: Wir brauchen keine Zuwanderung, wir 2326 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Volker Beck (Köln) (A) haben ja so viele Arbeitslose; deshalb ist das keine Frage, Wir steuern mit diesem Gesetz erstmals die Zuwande- (C) die man lösen muss. Die Realität ist die Anwerbestopp- rung nach den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmark- ausnahmeverordnung. Wir haben IT-Fachleute angewor- tes und sorgen dafür, dass die Leute, die wir brauchen, ben und es sind weniger gekommen – das ist richtig –, als auch zu uns kommen können und attraktive Rahmenbe- wir zugelassen haben. Offensichtlich ist der Druck, nach dingungen vorfinden. Für die Flüchtlinge, die auf Dauer Deutschland zu kommen, gar nicht so groß und offen- hier bleiben, eröffnen wir die entsprechenden Perspek- sichtlich sind die Regelungen, die wir auf der Grundlage tiven. Wer nicht von sich aus sieht, dass dies notwendig des bestehenden Rechts schaffen können, nicht hinrei- ist, sollte einmal im Bericht der Ausländerbeauftragten chend attraktiv im Wettbewerb um die High Potentials nachlesen. Ihr spreche ich im Namen meiner Fraktion, auf dem internationalen Arbeitsmarkt. der Koalition und – ich glaube, ich kann das auch für Sie sagen – des gesamten Hauses für ihre engagierte Arbeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – meinen herzlichen Dank aus. Jörg Tauss [SPD]: Die wissen gar nicht, was das ist!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) VDI-Präsident Christ hat vorgestern auf der CeBIT gesagt: Es gibt einen jährlichen Mangel von 20 000 In- Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kom- genieuren. Wir müssen versuchen, diesen Mangel durch men Sie endlich aus der Schmollecke heraus. Geben Sie eine bessere Bildungspolitik zu beheben. Aber das wer- Ihre Verweigerungshaltung auf! Herr Stoiber hat in sei- den wir nicht allein mit dieser Maßnahme schaffen. Wir nem „Stern“-Interview gesagt, er wolle überhaupt keine brauchen auch mehr Flexibilität im Zuwanderungsrecht. Einigung. Herr Bosbach hat schon im Dezember verkün- det, er könne sich ein Gesetz, das von Schwarz-Rot und Bayern und Hessen – Herr Bosbach hat es angespro- Rot-Grün gleichermaßen getragen werde, nicht vorstel- chen – werben trotz der jetzigen Situation auf dem Ar- len. Herr Beckstein hat heute über die Ticker verkünden beitsmarkt Pflegepersonal für die häusliche Pflege an. lassen, keine Einigung sei auch kein Unglück. Die Union Offensichtlich kommen sie an Ihrer eigenen Ideologie ist bei der Zuwanderungsfrage gesellschaftspolitisch und nicht vorbei und müssen letztendlich da, wo Sie regie- parteipolitisch völlig isoliert. Es gibt keine relevante ge- ren, die Realitäten auch anerkennen. sellschaftliche Gruppe, keine andere Partei, die in dieser Was soll dieser Popanz mit dem Anwerbestopp? Hier Frage an Ihrer Seite steht und die 137 Änderungsanträge hat der Innenminister ja offensichtlich den absoluten aus dem Bundesrat unterstützt. Deshalb belassen Sie es Sündenfall begangen. Mir liegt ein Antrag aus den Aus- bei diesen Anträgen bei einer Beratung, bringen Sie ver- schussberatungen im Saarland vor, in dem steht: Erset- handlungsfähige Positionen ein und öffnen Sie sich für die Debatte! (B) zung des Anwerbestopps durch ein den Bedürfnissen des (D) deutschen Arbeitsmarkts gerecht werdendes Steuerungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN system bei striktem Vorrang der Vermittlung deutscher und bei der SPD) und bevorrechtigter ausländischer Arbeitssuchender. Arbeitgeber und Gewerkschaften, Kirchen und Men- (Jörg Tauss [SPD]: Wer regiert denn im schenrechtsorganisationen unterstützen den Kompromiss- Saarland?) entwurf, den die Bundesregierung heute erneut vorgelegt Das ist genau das, was wir im Zuwanderungsgesetz for- hat. Herr Reimers von der Evangelischen Kirche in muliert haben. Das ist das, was Herr Müller will, und Sie Deutschland hat gestern gesagt – ich zitiere –: machen hier so einen Zinnober! Das Zuwanderungsgesetz in seinem vorliegenden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Entwurf darf aus Sicht der EKD nicht weiter abge- wie bei Abgeordneten der SPD – Thomas Strobl schwächt werden. [Heilbronn] [CDU/CSU]: Bauernfängerei!) Die Kirchen, so Reimers weiter, sähen daher keinen An- Kommen Sie zur Sachlage zurück. lass, ihre Position zu relativieren. Wenn das Gesetz ver- wässert werde, könne man gleich bei den bestehenden Ein anderer Mythos: Wir bürden Flüchtlingen, denen Regelungen bleiben. Schreiben Sie sich das hinter die in ihrer Heimat Steinigung oder andere unmenschliche Ohren! Sie führen doch das „C“ in Ihrem Parteinamen. Behandlung droht, auf, bei uns nur geduldet zu werden. Deshalb sollten Sie in dieser Debatte ein wenig auf die Das heißt zu Deutsch: Ihre Abschiebung wird vorüberge- Stimme der Kirchen hören. hend ausgesetzt. Monat für Monat Kettenduldung, oft über Jahre hinweg. Die Realität ist: Die Menschen blei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben über Jahre hier, aber wir geben ihnen keine Chance, und bei der SPD) hier ein neues Leben zu beginnen, eine Existenz zu grün- Oder hören Sie sich an, was der BDI in seinem Papier den, für ihre Kinder eine Zukunft aufzubauen. Wir zwin- „Innovationspolitik in der 15. Legislaturperiode“ zu die- gen sie dazu, der öffentlichen Hand auf der Tasche zu lie- sem Thema sagt: gen. Das ist einfach eine verrückte Politik. Mit dieser Art von Realitätsverweigerung macht das Zuwanderungsge- Engpässe auf dem Arbeitsmarkt müssen auch setz Schluss und deshalb brauchen wir es ganz dringend. durch Zuwanderung ausgeglichen werden können. Deutschland muss die Zuwanderung aus dem Aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN land am Bedarf der eigenen Wirtschaft und Gesell- und bei der SPD) schaft ausrichten. Das heißt, die Auswahl der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2327

Volker Beck (Köln) (A) Zuwanderer muss bedarfsgerecht nach Qualifika- und weniger Verwaltungsbürokratie. Dem Ganzen liegt (C) tion, Berufserfahrung, Alter, Familienstand und In- aber zugrunde, dass wir akzeptieren müssen, dass wir ein tegrationsfähigkeit erfolgen. ... Im globalen Wett- Einwanderungsland sind – sicherlich kein traditionelles, bewerb um die besten Köpfe hat Deutschland nur aber ein faktisches. Das muss die Botschaft sein. eine Chance, wenn es für Zuwanderer attraktiv ist (Beifall bei der FDP) und sich ausländerfreundlich und integrationsbe- reit zeigt. Es gibt einen breiten Konsens aller gesellschaftlichen Gruppen, Wirtschaftsverbände, Kirchen und auch der Das liest sich doch wie die Begründung zu unserem Parteien darüber, dass wir ein solches Gesetz brauchen. Gesetzentwurf. Deshalb fordere ich Sie auf: Öffnen Sie Wir wollen es nicht abgespaltet wissen; denn Zuwande- sich in dieser Frage. Gehen Sie mit uns in die Beratun- rungspolitik und Integrationspolitik sind zwei Seiten gen und in die Verhandlungen. Lassen Sie uns eine sach- einer Medaille. Ich möchte den saarländischen Minister- liche Debatte führen und zum Wohle unseres Landes ei- präsidenten Peter Müller zitieren, der in einem Interview nen Kompromiss herbeiführen! der „Welt“ am 24. Februar und auch heute in einem Arti- Wir sind dazu bereit. Kompromisse bedeuten immer, kel der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt hat: „Zuwande- dass jeder auf den anderen zugehen muss und bereit sein rung und Integration gehören zusammen.“ muss, in den Verhandlungen seine Position etwas zu än- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dern. Wir sind aber nicht dazu bereit, unsere Seele zu der SPD) verkaufen; das hat Herr Bosbach richtig wiedergegeben. Das verlangt auch von Ihnen niemand. Wenn wir es im Meine Damen und Herren, ich will nur vier Beispiele Innenausschuss schaffen würden, uns zu einer gemein- dafür nennen, dass unser heutiges Ausländerrecht nicht samen Lektüre dieses Gesetzentwurfes zusammenzuset- ausreicht: zen, dann würden wir, wie ich glaube, feststellen, dass Erstens. Bis heute gibt es keine gesetzliche Grundlage die Differenzen nicht so groß sind, wie es in den Plenar- für umfassende, zwischen Bund, Ländern und Kommu- debatten scheint. In Plenardebatten geht es nämlich nen abgestimmte Integrationsmaßnahmen. meist um Ideologie und Mythen und nicht um die Reali- tät und den Gesetzestext. (Rüdiger Veit [SPD]: Das haben Sie mit zu verantworten!) Vielen Dank. Zweitens. Die Regelungen für die Zuwanderung qua- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lifizierter Kräfte sind unzureichend und unübersichtlich. und bei der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] Es reicht nicht, wenn man Insellösungen fabriziert oder Löcher in den Anwerbestopp bohrt. Dies hat zur Folge, (B) [CDU/CSU]: Dann stimmen Sie doch unseren (D) Anträgen zu!) dass vor allem Wirtschaftsflüchtlinge und die Ärmsten der Armen zu uns kommen, obwohl wir eigentlich wol- len, dass andere Menschen zu uns kommen. Wir sollten Präsident Wolfgang Thierse: sagen, was wir wollen. Ich erteile das Wort der Justizministerin des Landes (Beifall bei der FDP) Baden-Württemberg, Frau Corinna Werwigk-Hertneck. Drittens. Wir schicken die ausländischen Absolventen (Beifall bei der FDP) unserer Fachhochschulen und Universitäten nach ihrer teuren Ausbildung wieder zurück. Andere Länder sind Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin (Baden- dankbar, dass sie die in Deutschland ausgebildeten klu- Württemberg): gen Köpfe bekommen können. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Beifall bei der FDP – Volker Kauder[CDU/ ren! Die FDP legt heute einen alternativen Entwurf für CSU]: Die anderen Länder brauchen sie zu ein modernes Zuwanderungssteuerungs- und Integra- Hause!) tionsgesetz vor. Es ist wirklich ärgerlich, dass die Bun- Viertens. Für humanitäre Härtefälle gibt es immer desregierung ihren Gesetzentwurf unverändert einge- noch keine praktikable rechtliche Handhabe. Wir brau- bracht hat. Es ist aber auch wirklich ärgerlich, dass chen also ein flexibles und gut steuerbares System. dieses Gesetz durch 137 Anträge der Union blockiert werden soll. Wir Liberalen – ob in den Landtagsfraktionen oder in der Bundestagsfraktion – wollen bei diesem wichtigen (Beifall bei der FDP) Thema vermitteln und die Konsensbildung fördern. Es Wir haben einen Vermittlungsvorschlag auf der Basis bringt uns nicht weiter, wenn immer wieder die gleichen des rot-grünen Regierungsentwurfes unter Einbezie- Argumente gebracht werden. In unserem Vermittlungs- hung vieler Punkte aus den 137 Änderungsanträgen der vorschlag ist dies eingearbeitet. Die Bevölkerung ist es Union vorgelegt. leid, dass die Argumente jahrelang gegeneinander ausge- tauscht wurden und es auch bei diesem Punkt, der eigent- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: In lich sehr nahe liegend ist, wieder keine Reformen gibt. dem Punkt haben Sie Recht!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kernpunkte des Gesetzentwurfes sind: mehr Steue- der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/ rung und Begrenzung der Zuwanderung, mehr Integration CSU]: Weil Rot-Grün sich nicht bewegt!) 2328 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck (Baden-Württemberg) (A) Ich erinnere nur daran, dass – laut einer gestern ver- Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): (C) öffentlichten Forsa-Umfrage – 67 Prozent der Bevölke- rung nicht mehr daran glauben, dass wir gute und wirk- Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten same Reformen hinbekommen. Es ist also ein Gebot, Kollegen und Kolleginnen, der gerade erwähnte Kollege auch bei diesem Punkt zu zeigen, dass wir es doch schaf- Bosbach hat mir vorgeworfen, fen. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Nein, ich habe Sie gelobt!) (Beifall bei der FDP) ich hätte mich in einer Sendung anders geäußert, als dies Unser liberaler Vorstoß steuert auf jeden Fall die Zu- in einem Flugblatt der Bundesregierung zum Ausdruck wanderung von ausländischen Fachkräften, wobei Deut- komme. Herr Kollege Bosbach, nehmen Sie bitte zur sche und Deutschen gleichgestellte Arbeitnehmer stets Kenntnis, dass jedes polemische Herauspicken aus dem Vorrang genießen. Es ist Ihnen in der Union ja so wich- Zusammenhang gerade in der Diskussion um dieses Ge- tig, dass geklärt wird, wie bei der EU-Osterweiterung setz von Übel ist. mit den Arbeitskräften umgegangen wird. Das muss na- türlich berücksichtigt werden. Dies wollen wir mit einer (Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt Jahreszuwanderungsquote erreichen. [Salzgitter] [SPD]) Warum sagen wir nicht selbstbewusst, dass wir ein Es ging mir in der Sendung seinerzeit um die Frage, Einwanderungsland sind und dass wir im nächsten Jahr wer nach einer zielgerichteten und wohlgeplanten migra- 100 000 Menschen und im übernächsten Jahr niemanden tionspolitischen Konzeption unter bestimmten Umstän- – oder zum Beispiel in fünf Jahren 200 000 Menschen – den, soweit Bedarf ist und niemand sonst aus der EU zur zuwandern lassen wollen? Wir können das selbst bestim- Verfügung steht, nach Deutschland kommen kann – wie men. Dabei soll angerechnet werden – so stellen wir es das die Ministerin eben in ihrer Rede dargestellt hat und uns vor –, wer im Rahmen des Familiennachzugs und wie auch Sie es vorhin vorsichtig angedeutet haben. Das des Asylnachzugs zu uns kommt. Von daher handelt es kann natürlich auch bedeuten, dass in mehreren Jahren sich bei der Quote um eine Höchstquote. Ich weiß gar eine größere Zahl von Zuwanderern nach Deutschland nicht, was die Union noch dagegen haben kann. kommt, als es zurzeit möglich ist. (Beifall bei der FDP – Wolfgang Bosbach [CDU/ Auf der anderen Seite – das muss man in diesem Zu- CSU]: Wie hoch ist die Quote denn?) sammenhang sehen – dämmt das Gesetz ungeordnete Zuwanderung ein, zum Beispiel durch erhöhte Integrati- Dies ist übrigens ein Weg, der in Österreich, Kanada onsanforderungen an verschiedene Gruppen, sowohl (B) und Australien beschritten wird. Herr Koschyk, ich habe Ausländer als auch Aussiedler. Zudem wird im Gesetz (D) gelesen, Sie hätten gesagt, dass diese Quote zu einer eine konsequentere Abschiebung derjenigen gefordert, weiteren qualifikationsunabhängigen Zuwanderung füh- die bei uns nicht bleiben können und deren Zurückwei- ren würde. Ich glaube, Sie haben den Vorschlag entwe- sung wir aufgrund rechtstaatlicher Prinzipien verantwor- der nicht gelesen oder zu wenig Vertrauen in die Union; ten können. Nichts anderes sieht dieses Gesetz vor. denn die Quote wird – das ist ganz normal – mit Zustim- Nichts anderes habe ich in all meinen Äußerungen, ob in mung des Bundestages und des Bundesrates bestimmt. Interviews oder Reden, zu diesem Gesetz gesagt. Sie muss jedes Mal ausdiskutiert werden. Darüber hin- aus kann sie auch auf null gesetzt werden. Noch eine ernsthafte Bitte, Herr Kollege Bosbach: Gezielte und bewusste Missdeutung eines Gesetzes, wie (Beifall bei der FDP) Sie es praktiziert haben und wie es Ihre ehemalige Kolle- gin mit Recht kritisiert, ist politisch unanständig. Davon Als FDP bitten wir Sie deshalb, sich mit diesem Vor- sollten Sie ablassen. schlag ernsthaft auseinander zu setzen. Wir haben uns viel Mühe gegeben und ihn ausdiskutiert, um die ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schiedensten Positionen einzuarbeiten. Wichtig ist auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Integrationsteil. Wir schlagen die nachholende Inte- gration vor. Dies ist im Entwurf enthalten. Für jeden Präsident Wolfgang Thierse: von uns ist es Zeit, sich von inhaltlichen Maximalvor- stellungen insgesamt zu verabschieden. Es ist wesent- Kollege Bosbach, Sie haben Gelegenheit, darauf zu lich, dass wir einen Konsens finden. Ansonsten schaden reagieren. wir den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interes- sen Deutschlands in der Zukunft. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Vielen Dank. Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, ich habe Sie gerade nicht kritisiert, sondern ich habe Sie dafür gelobt, dass (Beifall bei der FDP) Sie in der Sendung „Münchner Runde“ am 25. März 2002 richtigerweise darauf hingewiesen haben, dass es Präsident Wolfgang Thierse: eben nicht zu einer Reduzierung der Zuwanderung nach Deutschland kommen wird. Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- gin Cornelie Sonntag-Wolgast, die diese schon während Noch einmal: In dem Flugblatt, das so weit von der der Rede des Kollegen Bosbach angemeldet hatte. Wahrheit entfernt ist, dass es dem deutschen Steuerzahler Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2329

Wolfgang Bosbach (A) nun wirklich nicht zumutbar ist, für diese Desinforma- aufmerksam verfolgt wird und von der wir alle wissen, (C) tion 2,6 Millionen Euro zahlen zu müssen, heißt es unter dass sie tief an den Emotionen der Menschen rührt, ist der Überschrift „Weniger Zuwanderung“: dann ganz schlecht, wenn sich Politik ständig bewusst missversteht. Ich kann nur noch einmal appellieren, uns zu Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich bemühen, sachlich zu diskutieren, anstatt in dem hochsen- verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Men- siblen Bereich des bewussten Missverstehens zu agieren. schen kommen, die in Deutschland eine Perspektive haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geboten bekommen. DIE GRÜNEN) Kein Bürgerkriegsflüchtling, kein Asylbewerber, kein Herr Kollege Bosbach, inwiefern bringt uns eine De- Kontingentflüchtling und kein De-facto-Flüchtling muss batte über die Frage, ob Deutschland ein klassisches nachweisen, dass er ein Angebot für einen Arbeitsplatz hat. Einwanderungsland ist oder nicht, eigentlich weiter? Welche Folgen hat das für die Realität? Die Realität, mit (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Darum der wir uns auseinander zu setzen haben, ist: Seit den geht es doch gar nicht! – Weitere Zurufe von 50er-Jahren hat es sehr viel Zuwanderung nach Deutsch- der SPD) land gegeben. Es gab auch sehr viel Abwanderung. Das alles ist Ihnen bekannt. Durch diese Passage wird Deutschland ist nunmehr ein Land, in dem 7,3 Millionen der Bevölkerung der Eindruck vermittelt, als könne es Menschen leben, die keinen deutschen Pass besitzen. überhaupt keine Zuwanderung mehr geben, wenn nicht Das begründet eine politische Herausforderung und for- ein Arbeitsplatz nachgewiesen und der Lebensunterhalt dert politische Gestaltung. durch Erwerbseinkommen gesichert ist. Das steht in die- sem Flugblatt. Dies aber ist falsch. Es ist gut, dass Sie in Eben darum geht es beim Zuwanderungsgesetz: ob wir der „Münchner Runde“ nicht den Inhalt dieses Flugblat- uns endlich dazu durchringen, anzuerkennen, dass es Ein- tes wiedergegeben, sondern die Wahrheit gesagt haben. wanderung gegeben hat und es sie auch weiter geben wird, und ob wir den politischen Gestaltungsaufwand, der Ich wende mich dagegen, dass bei der Bevölkerung mit der Einwanderung verbunden ist, wirklich annehmen. hinsichtlich der Folgen des Gesetzes ein völlig falscher Eindruck erweckt wird. (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Monika Heubaum [SPD]: Daran sind Sie doch schuld! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dazu gehört auch die Frage, ob wir Ausländer der zwei- Das ist doch unanständig, was Sie hier machen!) ten oder dritten Generation, die in Deutschland geboren wurden und hier leben, weiterhin als Ausländer bezeich- (B) Nach dem geltenden Gesetz gibt es überhaupt keine Be- nen oder als unsere Bürgerinnen und Bürger, ob wir ak- (D) schränkung. Die einzige Beschränkung, die jetzt vorge- zeptieren, dass sie zu uns gehören. Dazu gehört auch, sehen ist, bezieht sich auf die Spracherfordernisse der dass wir uns damit auseinander setzen, dass sich das Ge- mitreisenden ausländischen Familienangehörigen nach sicht einer Gesellschaft durch Einwanderung spürbar dem Bundesvertriebenengesetz. Ansonsten – dem haben verändert, weil Gesellschaften durch Einwanderung plu- Sie gerade nicht widersprochen – bleibt es bei dem, was ralistischer werden. ich hier gesagt habe: Jeder, der nach geltendem Recht nach Deutschland kommen kann, kann dies auch zu- Jede sechste Ehe, die heute geschlossen wird, ist bina- künftig tun. Darüber hinaus gibt es weitere Zuwande- tional. Jeder dritte Schüler in den westdeutschen Groß- rungsmöglichkeiten. städten hat einen Migrationshintergrund. Mehr Deut- sche als Ausländer heiraten Ehepartner aus dem Sie sagen den Kirchen: Wir lassen aus humanitären Ausland. In 30 Jahren wird jeder zweite Bürger unseres Gründen mehr Zuwanderung zu. Sie sagen den Arbeit- Landes einen Wanderungshintergrund haben, das heißt, gebern: Wir sorgen dafür, dass mehr ausländische Ar- zum Beispiel eine Großmutter oder einen Großvater, die beitskräfte angeworben werden können. Sie sagen der aus anderen Ländern, aus anderen Kulturen oder anderen Bevölkerung: All dies führt zu weniger Zuwanderung. – Religionen kommen. Das ist die eigentliche Herausfor- Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. derung, vor der wir stehen. Darauf muss sich Politik ein- (Beifall bei der CDU/CSU) stellen. Das tut sie mit dem vorliegenden Gesetz. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Präsident Wolfgang Thierse: DIE GRÜNEN) Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Wir kennen die Zahlen über die gewaltige Schieflage Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen das Wort. zwischen Bildungserfolgen von Kindern aus Zuwande- rerfamilien und jenen von Kindern von deutschen Eltern. Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- Werfen Sie einen Blick in den Bericht über die Lage der desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland! Für uns Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht- ist das nichts Neues. Aber sind Ausländerkinder deswegen linge und Integration: verantwortlich für das schlechte deutsche Abschneiden bei der PISA-Studie? Müssen wir nicht vielmehr sagen: Unsere Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Schulen sind offensichtlich nicht so ausgestattet, dass sie Debatte über Zuwanderung, die in der Bevölkerung sehr nach 40 Jahren Zuwanderung gelernt haben, mit den 2330 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Parl. Staatssekretärin Marieluise Beck (A) sozialen Folgen von Migration positiv und vernünftig rüber besteht gottlob Konsens. Das Zuwanderungsgesetz (C) umzugehen? geht mit der Erstförderung einen ersten Schritt. Wir soll- ten diesen Schritt gemeinsam gehen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Es ist zwar richtig, zu fördern und zu fordern, aber – das Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sind sage ich an die Länder gewandt – wer fördern will, der die Lehrer schuld? Oder wer ist schuld?) darf sich auch nicht aus der Finanzierung stehlen. Es geht nicht an, die Aufgaben immer wieder hin- und her- – Von der Schuld der Lehrer war hier überhaupt nicht die zuschieben, ohne dass schließlich Ergebnisse erzielt Rede. werden. Ich betone das im Hinblick auf die Vorschläge Tatsache ist, Schülerinnen und Schüler mit Migra- der unionsgeführten Länder, die für eine Integrationsbe- tionshintergrund sind Teil der Gesamtschülerschaft. Wir auftragte in der Tat sehr erfreulich sind, weil der Umfang rechnen die Jungen schließlich auch nicht heraus; dann der Integrationsangebote deutlich erweitert werden soll. sähe das Ergebnis der PISA-Studie nämlich auch schon Wir sollten aber auch ehrlich über die dadurch entstehen- deutlich besser aus. Kinder und Jugendliche sind für uns den Kosten sprechen. diejenigen, die wir ausbilden und qualifizieren müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schüler und Lehrer müssen in die Lage versetzt werden, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der mit diesen schwierigen Herausforderungen umzugehen. FDP) In unserer alternden Gesellschaft muss eines klar sein: Gesellschaftliche Veränderungen müssen sich in Ge- In Zukunft brauchen wir jedes Kind und jeden Jugend- setzen widerspiegeln. Das Ausländerrecht ist veraltet lichen. Deswegen sollten wir uns das Leitmotiv dieser und bürokratisch verworren; man hat dort zu oft „ange- Debatte in Finnland zu Gemüte führen, welches lautet: baut“. Wir brauchen hier jeden, hoffnungslose Fälle können wir uns nicht leisten. Lassen Sie uns den Weg zu der Erkenntnis, dass Ein- wanderung und Integrationspolitik zusammengehören (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wie zwei Seiten einer Medaille, den wir in den vergange- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nen zwei Jahren gegangen sind, fortsetzen und produktiv Auf diesen positiven Ausgangspunkt sollten wir uns ver- und verantwortungsvoll den Prozess der Gestaltung ein- ständigen. leiten. Mit der Zuwanderung kamen auch neue Religionen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3 Millionen Bürger islamischer Herkunft sind nunmehr und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (B) deutsche Realität. Wir wissen, dass es immer dann FDP) (D) schwierig wird, wenn diese neue Religion sichtbar wird, sei es durch den Wunsch, in einer Gemeinde eine Mo- Präsident Wolfgang Thierse: schee zu bauen, sei es durch das Tragen eines Kopftu- ches, sei es durch das in der Bevölkerung hoch umstrit- Ich erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/ tene Schächten. Wir wissen, dass solche islamischen CSU-Fraktion, das Wort. Symbole in der deutschen Bevölkerung oft mit der Ver- mutung verbunden sind, dass es sich um politischen Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Fundamentalismus handelt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit wird viel Porzellan zerschlagen. Viele Mus- Frau Kollegin Beck, Sie haben zwar Ihre Argumente für den lime fühlen sich in ihrem Glauben nicht akzeptiert. Da- in unveränderter Form eingebrachten Entwurf eines rot-grü- her müssen wir möglichst viele Zeichen setzen, um zu nen Zuwanderungsgesetzes nicht so aggressiv und bissig wie zeigen: Unsere Gesellschaft ist so tolerant, dass auch der Bundesinnenminister, sondern wesentlich werbender, lie- Menschen anderen Glaubens hier ihren Raum finden, benswürdiger und charmanter vorgetragen, aber auch Sie und wir sind bereit, sie zu respektieren und ihnen die Tü- vermochten nicht, uns zu überzeugen. Denn wir glauben, ren zu öffnen. Erst dann werden auch diese Menschen dass das bereits einmal vor dem Bundesverfassungsge- bereit sein, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. richt gescheiterte rot-grüne Zuwanderungsgesetz, wenn Ablehnung erzeugt Ablehnung und Rückzug. Das ist ge- es Wirklichkeit werden sollte, einen großen Schaden für fährlich für beide Seiten, nämlich sowohl für die Zuwan- unser Land bedeutet. derer als auch für diejenigen, die bereits hier leben. (Beifall bei der CDU/CSU – Joseph Fischer Im Zusammenhang mit der Integration gibt es in der [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tat Probleme. Es gibt Jugendkriminalität, eine Machis- Das glauben Sie doch selber nicht!) mokultur und Gewaltbereitschaft – unter ausländischen Jugendlichen wie auch unter jugendlichen Aussiedlern, Wir glauben auch, meine sehr verehrten Kolleginnen die nach dem Staatsbürgerschaftsrecht Deutsche sind. und Kollegen, dass Sie die Bevölkerung unseres Landes Wir werden diese Probleme aber nur lösen, wenn wir sie über Inhalt und Auswirkungen dieses Gesetzes nach wie als unsere gemeinsamen Probleme begreifen, die wir mit vor im Unklaren lassen; den Zugewanderten zusammen angehen müssen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Es geht nicht um Ausgrenzung, sondern um Integra- GRÜNEN]: Die Täuschung ist auf Ihrer tion. Der Schlüssel dazu ist die deutsche Sprache. Da- Seite!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2331

Hartmut Koschyk (A) denn das rot-grüne Zuwanderungsgesetz ist tatsächlich (Jörg Tauss [SPD]: Warum denn?) (C) ein Zuwanderungserweiterungsgesetz. Des Weiteren ist der Anteil der Sozialhilfeempfänger an (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der ausländischen Bevölkerung überdurchschnittlich der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hoch. Während deren Anteil an der deutschen Bevölke- NEN) rung 2,8 Prozent beträgt, liegt ihr Anteil an der ausländi- schen Wohnbevölkerung bei 8,1 Prozent. Darauf ist es in seiner Grundsubstanz und in jedem Buchstaben angelegt. (Rüdiger Veit [SPD]: Wenn wir sie nicht arbei- ten lassen, ist das kein Wunder!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zeigen Sie mal den Buchstaben! Außerdem ist der Anteil der Ausländer an der Kriminal- Wo ist denn der Buchstabe?) statistik ein Vielfaches höher als ihr Anteil an der Wohn- bevölkerung. Weil Sie Angst vor der Reaktion der Bevölkerung haben, (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Glos bestreiten Sie dies. [CDU/CSU]: Das ist der Punkt! Was sagen sie Wir aber sagen der Bevölkerung: Wenn Rot-Grün dazu?) durchgängig alle wesentlichen den Zuzug beschränken- Ich weiß nicht, warum Sie das bestreiten. Haben Sie den Elemente des geltenden Rechts aufhebt, dann führt nicht zur Kenntnis genommen, dass der der SPD ange- dies nicht zu weniger, sondern zu mehr Zuwanderung hörende Berliner Innensenator Körting kürzlich deut- nach Deutschland. Eins plus eins ist für uns trotz PISA lich gemacht hat, dass er den dramatischen Anstieg der immer noch zwei und nicht minus zwei, wie Sie uns und Jugendkriminalität in Berlin auf den Anteil ausländi- der Bevölkerung glauben machen wollen. scher Jugendlicher zurückführt? Es muss uns doch er- (Beifall bei der CDU/CSU) schüttern, wenn Ihr Parteifreund Körting als Berliner In- nensenator sagt: Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz in der vorliegen- den Form ist für uns inakzeptabel. Ich betone auch im Die Kinder lernen kaum Deutsch, scheitern in der Hinblick auf die anstehenden Ausschussberatungen: Für Schule, haben schlechte Chancen auf dem Arbeits- uns geht es nicht um Nachverhandlungen in einigen markt und verkehren nur im eigenen Milieu. Statt Punkten, sondern dieses Gesetz ist von seiner Grund- Integration steht am Ende Isolation und Ausgren- struktur her inakzeptabel und muss völlig neu überarbei- zung. tet werden. So weit der Berliner Innensenator über den Befund von (B) (D) Wir sind überzeugt, dass angesichts von fast 5 Mil- Zuwanderung in Deutschland im Jahr 2003. lionen Arbeitslosen in unserem Land, leerer Staatskas- (Beifall bei der CDU/CSU) sen, berstender Sozialsysteme und einer desaströsen Wirtschaftslage an den bereits von der sozialliberalen Kürzlich hat der Präsident der Deutschen Gesellschaft Koalition 1981 aufgestellten und bis zur Bildung der rot- für Demographie, Professor Herwig Birg, der auch Bei- grünen Bundesregierung unumstrittenen Grundsätzen ratsmitglied des Bundesinstituts für Bevölkerungsfor- des deutschen Ausländerrechts festgehalten werden muss. schung ist, anlässlich der Jahrestagung dieser Gesell- Diese Grundsätze sehen die Integration der rechtmäßig schaft der Auffassung widersprochen, Deutschland sei in dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer vor. Wir ha- Sachen Zuwanderung ein rückständiges Land und ben – das müssen Sie doch einräumen, Frau Beck – Gro- schotte sich gegenüber Zuwanderern ab. Vielmehr, so ßes im Hinblick auf nachholende Integration der be- Professor Birg, sei Deutschland das Industrieland mit der reits bei uns lebenden Ausländer zu leisten. Deshalb höchsten Zuwanderungsrate. Er hat dargelegt, dass der können wir einen weiteren Zuzug, der über das hinaus- prozentuale Anteil der Zuwanderer in Deutschland an geht, was wir bereits an humanitären Verpflichtungen der Gesamtbevölkerung drei- bis fünfmal höher liege als und Familiennachzug vor allem aus Staaten außerhalb in klassischen Einwanderungsländern wie den USA, der Europäischen Union haben, nicht mehr verkraften. Australien oder Kanada. Herr Professor Birg hat auch beklagt – das sollten auch Sie von der FDP einmal zur In Deutschland leben nahezu doppelt so viele Auslän- Kenntnis nehmen –, dass die Politik und die veröffent- der wie durchschnittlich in allen anderen Ländern der Eu- lichte Meinung in Deutschland demographische Befunde ropäischen Union: 9,3 Prozent in Deutschland, 4,8 Pro- ignorierten und verstärkt für Zuwanderung plädierten, zent in den anderen Mitgliedstaaten. Es ist zwar zu begrü- obgleich die Zahl der Zuwanderer in Deutschland etwa ßen, dass ausländische Mitbürger die Wirtschaft und den genauso groß sei wie die Zahl der Geburten. In deut- Kulturaustausch in Deutschland beleben, dass sie als schen Großstädten sei die Zahl der Zuwanderer sogar Selbstständige Arbeitsplätze schaffen und dass sie auch viermal größer als die Geburtenzahl. Auch die Behaup- bereit sind, Tätigkeiten zu verrichten, für die deutsche Ar- tung, Zuwanderung sei notwendig, um die Sozialsys- beitnehmer – bedauerlicherweise und nachdenkenswerter- teme zu sichern, stimme nicht, so Professor Birg, mit weise – oftmals nicht mehr zu gewinnen sind. Gleichwohl wissenschaftlichen Erkenntnissen überein. Nach seinen sind Ausländer in Deutschland überproportional von Arbeits- und anderen gesicherten Forschungsergebnissen wie losigkeit betroffen. Während 9,9 Prozent der deutschen zum Beispiel denen des Ifo-Instituts Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen sind, sind 18,4 Prozent der ausländischen Bevölkerung arbeitslos. (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) 2332 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hartmut Koschyk (A) – Sie werden doch nicht die Seriosität des Ifo-Instituts Hartmut Koschyk (CDU/CSU): (C) bestreiten – übersteigt die Zahl der von Zuwanderern empfangenen Leistungen die der geleisteten Zahlungen Herzlichen Dank, Herr Präsident. in die sozialen Sicherungssysteme. Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz will über die völ- (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Glos kerrechtlichen Verpflichtungen hinaus [CDU/CSU]: Sehr wahr!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wis- Sie müssen sich schon einmal fragen lassen, was Sie sen überhaupt nicht, was Sie dort ablesen! – in diesem Land im Hinblick auf Wirtschaft und Arbeits- Rüdiger Veit [SPD]: Wer hat das aufgeschrie- markt angerichtet haben. Viele deutsche Spitzenkräfte ben?) verlassen dieses Land, weil sie hier keine Zukunft mehr quasi im europäischen Alleingang im humanitären Be- sehen. Auch darüber muss man einmal in einer solchen reich die Zufluchtsgründe erweitern und den Status für Debatte diskutieren. Personen, die bislang vor allem in unsere Sozialsysteme (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Glos zugewandert sind, aufwerten. Dies lehnen wir ab, weil es [CDU/CSU]: Sehr richtig!) aus sachlichen Gründen nicht gerechtfertigt ist. Es ist auch nach Auffassung von Völkerrechtlern, die sich ge- Ich kann Ihnen nur sagen: Wer bei 5 Millionen Ar- rade mit dem humanitären Völkerrecht exzellent ausken- beitslosen in Deutschland den Anwerbestopp aufhebt nen und die wir von der Union in der Anhörung zur ers- und den Arbeitsmarkt grundsätzlich für alle Ausländer, ten Auflage der parlamentarischen Beratungen benannt nicht nur für wenige Spezialisten, die wir selbst nicht ha- haben, klar, dass die von Rot-Grün beabsichtigte Einbe- ben, öffnen will, der handelt unverantwortlich. ziehung nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Verfolgung in den Flüchtlingsbegriff nicht nur über die GRÜNEN]: Stimmt doch nicht!) Genfer Flüchtlingskonvention hinausgeht. Wer meint, Zuwanderung aus Drittländern könne zu- (Rüdiger Veit [SPD]: Das steht auf Ihren rückgehende Bevölkerungszahlen ausgleichen, der irrt. Wunsch im Gesetz!) Das Ausländerrecht ist hierfür das falsche Instrument. Hinsichtlich des Schutzes vor nicht staatlicher Verfol- Nötig ist ein Konzept familien-, sozial- und arbeits- gung ist festzustellen, dass in der internationalen Staa- marktpolitischer Maßnahmen. tenpraxis die Einbeziehung nicht staatlich Verfolgter in (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit dem Fami- sonstiger vertraglicher Schutzinstrumente nicht zuge- (B) liengeld?) standen wird. (D) – Ich wusste noch gar nicht, Herr Minister Fischer, dass (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie sich auch um Familienpolitik kümmern. NEN]: Der UNHCR sieht das anders!) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Auch der EU-Praxis liegt kein Verfolgungsbegriff zu- DIE GRÜNEN]: Doch!) grunde, der unmittelbar staatliche oder dem Staat zumin- dest zurechenbare Verfolgung voraussetzt. Sie haben mit der deutschen Außenpolitik genug zu tun? Kümmern Sie sich um die deutschen Interessen, die zur- Sie sollten endlich mit der falschen Behauptung auf- zeit durch den Kurs, den diese Bundesregierung in der hören, Deutschland sei in dieser Frage in der Staatenge- Außenpolitik fährt, sträflich vernachlässigt werden! meinschaft isoliert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Jörg Tauss [SPD]: Sie sind isoliert!) Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gut! – Wider- spruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie sind nicht in der Lage, auch nur ein Beispiel dafür zu DIE GRÜNEN) nennen, dass aus Deutschland Menschen abgeschoben wurden, wenn konkret-individuell festgestellt wurde, Herr Präsident, können Sie für etwas Ruhe sorgen? dass ihnen existenzielle Gefahren drohen. Meine Kollegen wollen im Gegensatz zu der anderen Front dort drüben zuhören. (Widerspruch bei der SPD) (Michael Glos [CDU/CSU]: Ich möchte es Es steht völlig außer Frage, dass diesen Menschen in der hören, Herr Präsident!) Not Schutz zu gewähren ist. Aber es ist eben nach unse- rer Auffassung ein grundlegender Unterschied, ob man den Betroffenen für die Dauer ihrer Bedrohung in Präsident Wolfgang Thierse: Deutschland Aufenthalt gewährt oder ob man deren Zu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich unterstütze aus- fluchtsmöglichkeiten und auch ihren Aufenthaltsstatus drücklich die Bitte des Kollegen Koschyk. Er möchte grundlegend erweitert mit der Möglichkeit eines vollen gehört werden. Der Kollege Koschyk soll die Chance Familienzuzugs, auch bei gleichgeschlechtlichen Le- haben, gehört zu werden. benspartnerschaften, und dem Zugang zum Arbeitsmarkt ohne jede Bedarfsprüfung. Das wollen wir nicht, meine (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter sehr verehrten Damen und Herren. Ramsauer [CDU/CSU]: Ausnahmsweise Bei- fall für Thierse!) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2333

Hartmut Koschyk (A) Sie verteidigen Ihr Gesetz ständig mit falschen Be- in der IT-Branche widerlegt sei. In zwei Jahren wurden (C) hauptungen. Sie sagen, Zuwanderung sei aus demogra- nämlich nur 13 400 Arbeitserlaubnisse erteilt, obwohl phischen Gründen notwendig. Das ist falsch. Ich muss man einmal annahm, es gebe einen Bedarf von 50 000 bis Ihnen eines sagen: Gestern saßen die Innenpolitiker un- 100 000 Arbeitskräften. serer Fraktion mit den Fachleuten der katholischen Kir- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE che zusammen, um über diese Frage zu sprechen. Wir GRÜNEN]: Das heißt ja nicht, dass alle kom- haben ganz offen darüber gesprochen, wo Dissens und men wollen!) wo Übereinstimmung besteht. Ich bestreite überhaupt nicht, dass wir mit den Kirchen – das Gespräch mit den Von den 13 400 Personen, denen eine Arbeitserlaubnis Vertretern der katholischen Kirche gestern hat das ge- erteilt worden ist, sind nicht einmal alle gekommen. Sie zeigt – im Bereich humanitärer Zuwanderung einen Dis- müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass von denjenigen sens haben. Eines will ich Ihnen hier einmal sagen: Auch Inhabern einer Greencard, die nach Deutschland gekom- die katholische Kirche hält aus demographischen und men sind, um in der IT-Branche zu arbeiten, einige auf- aus arbeitsmarktpolitischen Gründen mehr Zuwande- grund der katastrophalen Situation in dieser Branche be- rung nach Deutschland nicht für gerechtfertigt. reits arbeitslos sind. Das zeigt doch, dass in diesem Bereich ein Verdrängungswettbewerb stattfindet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich muss Ihnen ebenfalls sagen – das sage ich auch in Vereinnahmen Sie nicht ständig die Kirchen für eine ge- Richtung der deutschen Wirtschaft –: Wir müssen der nerelle Zustimmung zu Ihrem Zuwanderungsgesetz! deutschen Wirtschaft die Verantwortung zumuten – aus Diese Zustimmung gibt es so nämlich nicht. Die Be- dieser Verantwortung dürfen wir sie nicht entlassen –, hauptung, dass es diese Zustimmung gibt, ist unwahr. dass man dem Fachkräftemangel in Deutschland auch (Beifall bei der CDU/CSU) durch Fortbildung von Mitarbeitern in Deutschland und durch größere Anstrengungen im Bereich der Bildung Ich möchte auf die Behauptung zu sprechen kommen, und Ausbildung Rechnung trägt. Die bisherige Politik Zuwanderung sei aus demographischen Gründen not- in Niedersachsen ist Gott sei Dank beendet worden. Un- wendig. Frankreich – Sie orientieren sich zurzeit doch so ter der Regierungsverantwortung der SPD wurde in Nie- sehr an Frankreich – hat gezeigt, dass man mit einer dersachsen der IT-Ausbildungsbereich einer Fachhoch- nachhaltigen Bevölkerungspolitik sowie mit einer besse- schule geschlossen. ren Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, als sie in Deutschland betrieben wird, demographische Probleme (Jörg Tauss [SPD]: Ach, das ist doch Quatsch! ganz anders angehen kann, als wenn man auf Zuwande- Das weiß doch inzwischen jeder!) rung setzt. (B) Hinterher haben Sie sich beklagt, dass wir zu wenig IT- (D) Da Sie auch in dieser Debatte immer wieder den Ein- Fachleute in Deutschland haben. Sie sollten sich nicht druck zu vermitteln versuchen, es gehe nur noch um hier hinstellen und behaupten, wir könnten die mit der Kleinigkeiten und wir seien uns im Grundsatz einig, demographischen Entwicklung verbundenen Probleme möchte ich Folgendes sagen: Ihrem Konzept, also dem nur durch Zuwanderung lösen. Konzept von Rot-Grün, und dem der Union liegen völlig (Beifall bei der CDU/CSU) unterschiedliche Vorstellungen zugrunde. Die Bundesre- gierung und die sie tragende Koalition wollen einen Pa- Sie behaupten, dass Sie in der Zuwanderungsfrage radigmenwechsel hin zum multikulturellen Einwande- mit Ihrem Gesetz einen breiten gesellschaftlichen Kon- rungsland. sens erzielen. Wir bestreiten dies. Sie kommen vielleicht mit Spitzenvertretern bestimmter, auch wichtiger gesell- (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – schaftlicher Interessengruppen zu einem Konsens, Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sie waren auch schon mal weiter!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bischöfe und Kardinäle!) Wir, die Union, wollen die Bewahrung der Identität von Staat und Gesellschaft. Wir wollen die Rücksichtnahme aber nach dem Motto: Dem einen ein bisschen hiervon, auf die Aufnahmefähigkeit unseres Landes und wir dem anderen ein bisschen davon. Uns geht es um das wollen die Verhinderung weiterer Zuwanderung in un- Gemeinwohl; wir fühlen uns dem Gemeinwohl ver- sere kollabierenden sozialen Sicherungssysteme. pflichtet. Wir stellen die Frage, wie viel Zuwanderung dieses Land verkraften kann. Darin wissen wir uns mit (Beifall bei der CDU/CSU) der Mehrheit unserer Bevölkerung einig. Wolfgang Bosbach hat bereits sehr eindrucksvoll da- (Beifall bei der CDU/CSU) rauf hingewiesen – ich will das wiederholen –, Ich möchte, Frau Ministerin, noch mit einem Satz auf (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war den Entwurf der FDP eingehen. Wir glauben nicht, dass genauso falsch wie von Ihnen! – Volker dieser FDP-Entwurf eine Brücke zu einem Kompromiss Kauder [CDU/CSU]: Bosbach ist ein guter und einer Einigung darstellt. Die FDP will eine Jahreszu- Mann!) wanderungsquote. Dabei muss die FDP wissen, dass der- dass Ihre Behauptung, Zuwanderung schaffe Arbeits- jenige, der nach Ausschöpfung der Jahreszuwanderungs- plätze, allein durch die mit der Einführung der Green- quote über das Asylverfahren nach Deutschland kommen card verbundenen Geschehnisse und durch die Situation will, hieran außer durch die Drittstaatenregelung nicht 2334 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hartmut Koschyk (A) gehindert werden kann; denn die Zuwanderung im huma- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) nitären Bereich lässt sich rechtlich nicht beschränken. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie wollen Arbeitsmigration und humanitäre Zuwan- um nicht zu sagen: ein Lichtstrahl aus dem Mittelalter. derung trennen. Dabei muss die FDP doch wissen, dass derjenige, der von der erfolglosen Zuwanderung aus Er- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das Mittelalter werbsgründen in das Asylverfahren wechseln will, daran war gar nicht so schlecht, auf jeden Fall besser wegen der Garantien des Asylgrundrechtes rechtlich als Ihre rot-grüne Regierung!) nicht gehindert werden kann und als Asylsuchender – au- Herr Koschyk, in einem Punkt muss ich auch auf Ihre ßer bei erfolglosem Eilverfahren in Drittstaatenfällen – Rede eingehen. Ich finde, es ist unanständig, wenn Sie nicht darauf verwiesen werden kann, sein Verfahren in ausländische Mitbürger, die mit uns hier in Deutschland Deutschland vom Ausland aus zu betreiben. leben, pauschal kriminalisieren. Deshalb ist für uns weder der rot-grüne noch der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ FDP-Gesetzentwurf zustimmungsfähig. Wir werden im DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/ parlamentarischen Verfahren umfangreiche Änderungs- CSU]: Das habe ich doch überhaupt nicht ge- anträge einbringen. Wenn Sie, Kolleginnen und Kolle- macht! Ich habe Körting zitiert!) gen von Rot-Grün, mit diesen Änderungsanträgen wie bei der ersten Auflage der Zuwanderungsdebatte verfah- Sie haben den Eindruck erweckt, ren – durchpeitschen, nicht zur Kenntnis nehmen, ableh- (Michael Glos [CDU/CSU]: Hören Sie auf, nen –, wird und kann es in Bezug auf ein Zuwanderungs- uns mit dem Finger zu drohen!) gesetz und ein neues Zuwanderungsrecht in Deutschland keine Einigung geben. wir würden nicht zur Kenntnis nehmen, dass es im Be- reich der Kriminalität eine besondere Häufung ein- Herzlichen Dank. zelner ausländischer Gruppen gebe. Das ist doch unbe- (Beifall bei der CDU/CSU) stritten; das weiß jeder in Deutschland. Aber die Gleichsetzung, die Sie betreiben, indem Sie Ausländer pauschal als kriminalitätsbelastet einstufen, ist unverant- Präsident Wolfgang Thierse: wortlich. Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Joachim Hacker, SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind ein Wahrheits- verweigerer!) Hans-Joachim Hacker (SPD): (B) Damit befinden Sie sich leider in einem Boot mit Agita- (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten toren vom rechten Rand. Sie bedienen so ganz schöne Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wie unser Bundesin- Stimmungen. nenminister grundsätzlich ein Optimist und gehe Pro- bleme mit einer optimistischen Einstellung an. Aber, (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ Herr Bosbach und Herr Koschyk, was Sie uns hier heute CSU]: Jetzt ist aber Schluss! – Hartmut geliefert haben, hat meine Grundeinstellung auf eine Koschyk [CDU/CSU]: Das ist eine Unver- ziemlich harte Probe gestellt. Ich glaube, Sie können vor schämtheit!) dem Hintergrund der Tatsache, dass in der letzten Dis- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das Zuwan- kussion zu dem ersten Entwurf eines Zuwanderungsge- derungsgesetz, das wir heute beraten, hätte längst verab- setzes Kompromisse geschlossen worden sind, dass in- schiedet sein müssen. Es ist ein wichtiges, notwendiges tensiv beraten worden ist, dass auch Forderungen von Gesellschaftsprojekt. Wir befinden uns da in Überein- Brandenburg einer ernsthaften Prüfung unterzogen wor- stimmung mit wichtigen gesellschaftlichen Gruppen: mit den sind, nicht sagen, wir wären nicht bereit, über die den Kirchen, den Arbeitgeberverbänden, den Gewerk- Fragen, die sich hier stellen, zu diskutieren. schaften und nicht zuletzt – auch das will ich hier deut- Herr Bosbach, was Sie uns hier geboten haben, war lich machen – mit sehr vielen, ich möchte fast sagen: al- eine Mischung von Blockade und Scheinheiligkeit. len Kommunalpolitikern, die darauf warten, dass wir diesen Gesetzgebungsprozess endlich zum Abschluss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bringen. Sie warten in Bayern und auch in Hessen da- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – rauf, dass wir dieses Gesetz verabschieden. Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na! Ein biss- chen vorsichtig, Herr Kollege!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich glaube, Sie sind selber nicht gut aufgestellt. Sie wis- sen nicht, was Sie mit diesem Thema rechtlich machen Insofern befinden Sie sich im Übrigen in Konfrontation sollen. Die Gesellschaft sagt, dass eine Zuwanderungs- mit Angehörigen Ihrer eigenen Partei und damit in der gesetzgebung benötigt wird, und Sie wissen nicht, wie Isolation. Sie aus dieser Falle herauskommen sollen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Der Mann ist an- Ich hatte bei einigen Passagen der Rede von Herrn geblich schon das fünfte Mal im Bundestag! Bosbach das Empfinden, dass der Geist des vorletzten Wo hat er sich in den vergangenen vier Wahl- Jahrhunderts das Plenum erreicht hat, perioden versteckt?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2335

Hans-Joachim Hacker (A) Herr Koschyk, Sie haben hier wieder ein Märchen er- (Michael Glos [CDU/CSU]: Unglaublich! Wä- (C) zählt. Sie sagen, das Gesetz sei in Karlsruhe aufgrund ren Sie bei den Speisekartoffeln geblieben!) inhaltlicher Fehler und Mängel gescheitert. Das stimmt Künstler, Artisten usw. mit Sonderregelungen nach doch nicht. Deutschland geholt. Das ist doch die Wahrheit. Solche (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie sind so Dinge wollen wir jetzt endlich vernünftig regeln, und nervös, dass Sie ständig Dinge hören, die ich zwar einheitlich. nicht gesagt habe!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Lediglich das Verfahren im Bundesrat hat zur Verhand- Glos [CDU/CSU]: Solche Unverschämtheiten lung in Karlsruhe geführt. Nur darum geht es. abzulassen!) Wer hat denn das Theater inszeniert Herr Bosbach, nehmen Sie doch einfach einmal Ihre Einwanderungspolitik, Ihre Ausnahmepolitik der 80er- (Jörg Tauss [SPD]: Die da drüben!) und 90er-Jahre zur Kenntnis! Daraus ist ein unübersicht- und wer ist dafür verantwortlich, dass wir heute noch liches Geflecht an Regelungen und Durchführungsver- einmal eine Debatte über ein notwendiges Zuwande- ordnungen entstanden. Herr Bosbach, ich will an eines rungsgesetz führen müssen? Wir haben in der Diskus- erinnern: Bayern setzt diese Politik fort. Die bayerische sion im Bundesrat Forderungen Brandenburgs nachge- Landesregierung tritt dafür ein, geben. Das Scheitern des Gesetzes muss sich die CDU (Michael Glos [CDU/CSU]: Es heißt immer wegen des Versagens des Innenministers Schönbohm auf noch Staatsregierung!) die eigene Fahne schreiben. dass weitere Sonderregelungen im Bereich der Pflege- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kräfte greifen sollen. An dieser Stelle verstehe ich Ihre des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Politik nicht. Nähern Sie sich doch unseren Vorstellun- Michael Glos [CDU/CSU]: Wären Sie doch gen! Wir sind diskussions- und verhandlungsbereit. bei der Speisekarte geblieben!) Es ist längst Zeit, eine umfassende rechtliche Rege- Herr Bosbach, nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Das lung zu schaffen. Für uns ist dabei die Frage der Inte- Nein von Herrn Schönbohm war ein Wortbruch. gration von zentraler Bedeutung. Das Konzept der Bun- desregierung, das wir in der Koalition unterstützen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael steuert, begrenzt und fördert die Integration. Herr Glos [CDU/CSU]: Das ist eine Beleidigung Bosbach, Sie können natürlich sagen, das seien die For- für die Speisekarte!) derungen, die Sie stellen. Wir sagen Ja zur Steuerung, (B) (D) Es ist höchste Zeit, dass wir die Zuwanderung in ei- wir fordern Begrenzung und wollen genauso wie Sie die nem Gesetz einheitlich regeln. Darüber sind wir uns Integration. Wo sind wir da auseinander? Gleichzeitig auch einig. Die Diskussion, ob Deutschland ein Zuwan- wollen wir das unüberschaubare Regelwerk abschaffen. derungs- oder ein Einwanderungsland ist, ist eine theore- Zurzeit gibt es eine wirtschaftsschädliche Sperre ge- tische Diskussion, die uns überhaupt nicht weiterbringt. gen den Zuzug dringend benötigter Wissenschaftler und Fakt ist, dass zwischen 1955 und 1999 mehr als Unternehmer nach Deutschland. 31 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen sind. Richtig ist auch, dass in der gleichen Zeit etwa (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 22 Millionen Menschen weggezogen sind. Unterm Unsere Wirtschaft braucht diese Fachkräfte. Sie sind Strich gab es immer einen positiven Zuwanderungs- auch für die Stabilisierung unserer sozialen Sicherungs- saldo; in diesem Zusammenhang ist auch die Zuwande- systeme dringend notwendig. Wer das verschweigt, rung der Russlanddeutschen zu nennen, es waren durch- nimmt nicht zur Kenntnis, in welcher Situation sich die schnittlich 100 000 jährlich. sozialen Sicherungssysteme in Deutschland befinden. (Michael Glos [CDU/CSU]: Der Hacker hackt Wer die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte da vorn herum!) steuern will, muss ein Punktesystem aufstellen. Dieses Die CDU/CSU – darüber ist hier schon diskutiert System ist im Gesetzentwurf enthalten. Wer zu uns kom- worden – führt sich als Schutzpatron des deutschen Ar- men will, muss die entsprechenden Kriterien erfüllen. beitsmarktes auf. Aber was haben Sie in den 80er- und Dabei spielen Ausbildung, Berufserfahrung, Alter und 90er-Jahren gemacht? Der 1973 richtigerweise verhängte Sprachkenntnisse, aber auch die Beziehungen des An- Anwerbestopp ist von der Union in der Ära Helmut tragstellers zu Deutschland und die Frage, ob er schon Kohl mehrfach durchlöchert worden. einen Arbeitsplatz hat, eine erhebliche Rolle. (Michael Glos [CDU/CSU]: Was haben Sie Wir wollen weiterhin, dass den in Deutschland ausge- denn in der Ära Kohl gemacht? Da waren Sie bildeten jungen Menschen keine Steine in den Weg ge- Justiziar im VEB-Kombinat!) legt werden. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn Sie es Sie haben Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft und nicht wollen, müssen Sie abtreten!) die Gastronomie, zahlreiche Werkvertragsarbeitnehmer als Bauarbeiter, Spezialitätenköche, Hausangestellte, Es ist doch widersinnig, wenn junge Menschen aus der Lehrkräfte, Krankenschwestern, Dritten Welt, die gebührenfrei an den Universitäten in 2336 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hans-Joachim Hacker (A) Deutschland studiert haben, in andere Industriestaaten Herzlichen Dank. (C) gehen – leider gehen sie nicht immer in ihre Heimatlän- der zurück, wo sie dringend gebraucht werden; das kön- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen wir aber nicht steuern – und dort ihr erworbenes DIE GRÜNEN – Volker Kauder (CDU/CSU): Wissen anwenden. Das müssen wir anders regeln. Ab auf den Kartoffelacker!)

Ein weiterer Aspekt. Ich will für die Koalition insge- Präsident Wolfgang Thierse: samt sagen, dass wir mit dem im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen beschleunigten Asylverfahren unserer Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Verpflichtung zur Humanität, die sich aus dem Grund- Kollegen Hartmut Koschyk. gesetz ergibt, gerecht werden. Diejenigen, die unseres Schutzes bedürfen, müssen ihn auch weiterhin bekom- Hartmut Koschyk (CDU/CSU): men. Menschlichkeit – ich denke, da sind wir uns ins- besondere mit Frau Süssmuth einig; auch Sie sollten Herr Präsident! Herr Kollege Hacker, Sie haben mir sich dieser Auffassung anschließen – darf nicht quo- in Ihrer Rede den Vorwurf gemacht, tiert werden. Darin sollten wir uns alle einig sein, Herr (Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!) Bosbach. dass ich ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland generell kriminalisiere. DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben immer noch die Kadersprache (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) drauf!) Ich möchte mich gegen diesen ungeheuren Vorwurf auf Zuwanderer sollten dauerhaft integriert werden. Des- das Schärfste verwahren. wegen ist für uns das Integrationsprogramm eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – wichtige und gleichwertige Säule des Zuwanderungs- Jörg Tauss [SPD]: Zu Unrecht!) konzeptes. Sehr geehrter Herr Kollege Hacker, diese Art der Wort- Wir müssen heute die wichtige Frage beantworten, ob verdrehung und der Zitatefälschung wir Zuwanderung angesichts der 4,7 Millionen Arbeits- losen brauchen. Wir antworten darauf eindeutig mit Ja. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Wir brauchen diese Zuwanderung. Dafür muss es im Ge- waren Sie doch!) setz eine entsprechende Regelung geben. Die heute war vielleicht in der Führung des Kombinats Obst, Ge- (B) schon viel genannten Erfahrungen mit der Greencard müse und Speisekartoffeln im Bezirk Schwerin, wo Sie (D) belegen nicht nur, dass es für diese Fachkräfte Arbeits- einmal Justiziar waren, üblich. plätze in Deutschland gibt, sondern auch, dass durch sie gleichzeitig mindestens zwei Arbeitsplätze in der betref- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – fenden Firma bzw. in Firmen des Zulieferbereichs ge- Zurufe von der SPD: Oh!) schaffen werden. Aber das sollte nicht der Stil der Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag sein. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Herr Kollege Hacker, Sie müssen zum Ende kommen. [Salzgitter] [SPD]: So weit zur Diskriminie- Ihre Redezeit ist schon überschritten. rung!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich muss Ihnen noch eines sagen, Herr Hacker. Ihr neten der FDP – Michael Glos [CDU/CSU]: Parteifreund und Berliner Innensenator Körting hat da- Es wird höchste Zeit!) rauf hingewiesen, dass der überproportionale Anteil der Jugendlichen in der Kriminalstatistik des Landes Berlin auf einen hohen Anteil ausländischer Jugendlicher zu- Hans-Joachim Hacker (SPD): rückzuführen ist. Wenn ich eine Aussage von Herrn Kör- Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Wenn ich mir ting zitiere, in der er den Befund einer gescheiterten Inte- die Presseerklärung der FDP ansehe, Herr Gerhardt, gration dieser ausländischen Jugendlichen in Berlin dann bin ich optimistisch, dass wir für unser Projekt Zu- darstellt, dann können Sie das nicht so uminterpretieren, stimmung erhalten werden. Ich richte an Sie, meine sehr dass ich die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbür- verehrten Damen und Herren von der Union, noch ein- ger generell der Kriminalität verdächtige. Mich dann mal den Appell: Stellen Sie sich der Lebensrealität in noch in die Ecke von Rechtsradikalen zu rücken ist un- Deutschland! Stellen Sie sich wie wir alle den Heraus- anständig. Ich weise das in schärfster Form zurück. forderungen! (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Stellen Sie sich einmal der Meinung der Menschen in Präsident Wolfgang Thierse: Deutschland!) Kollege Hacker, Sie haben Gelegenheit zur Reak- Gehen Sie mit uns den Weg der Diskussion! tion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2337

(A) Hans-Joachim Hacker (SPD): noch kann die CDU/CSU mit Fug und Recht erwarten, dass (C) ihre 130 Änderungsanträge hier eine Mehrheit finden. Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Koschyk, in Ihrer Kurzintervention haben Sie eigentlich noch das übertrof- (Beifall bei der FDP und der SPD – Wolfgang fen, was Sie zuvor am Pult geboten hatten. Bosbach [CDU/CSU]: Wir sind schon mit 120 zufrieden!) (Beifall bei der SPD – Dr. [CDU/CSU]: Aber Recht hat er!) Meine Damen und Herren, die Debatte vermittelt lei- der bisher nicht den Eindruck, als wären wir wirklich auf Sie tragen heute, 13 Jahre nach der deutschen Einheit, dem Weg zu einem Kompromiss, der allseitige Zustim- hier erneut einen schlimmen Spaltpilz in die Debatte hi- mung finden könnte. Das darf aber nicht das Ende dieser nein – zumindest versuchen Sie es –, indem Sie Biogra- mehr als zweijährigen öffentlichen Diskussion um ein fien von Menschen aus einer anderen Zeit für diese De- Zuwanderungsgesetz sein. batte nutzen. (Beifall bei der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Wer war denn da- mals der Justiziar gewesen?) Aus diesem Grunde ist es erforderlich, dass die gegen- seitige Blockade, die bei Rot-Grün einerseits und der – Ich gehe auf Ihre Frage ein: Was hat das denn damit zu CDU/CSU andererseits zu beobachten ist, aufgehoben tun? wird. Sie haben in Ihrer Rede von Ausländerkriminalität (Beifall bei der FDP) schlechthin gesprochen. Hätten Sie es so differenziert dargestellt, wie es der Innensenator tat Deshalb hat die FDP einen eigenen Gesetzentwurf ein- gebracht, der auf den Vorschlägen von Minister Döring (Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Lesen Sie das und Ministerin Werwigk-Hertneck aus Baden-Württem- im Protokoll nach!) berg beruht. und wie es auch hier im Bundestag schon diskutiert Meine Damen und Herren, wir glauben, dass wir da- wurde, könnte ich mich Ihrer Argumentation anschlie- mit eine vernünftige Grundlage für die weiteren Gesprä- ßen. Aber Sie haben es nicht getan; Sie haben ganz all- che in den Ausschüssen schaffen; denn es kann doch gemein von Ausländerkriminalität gesprochen. Dagegen nicht sein – ich sage dies, auch wenn Sie es nicht gern verwahre ich mich nochmals. Lesen Sie Ihre eigene hören –, dass viele gesellschaftliche Gruppen in einer Rede durch und korrigieren Sie sich! seltenen Einmütigkeit von uns als dem Gesetzgeber ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Handeln verlangen, wir als Bundestag aber nicht in der (B) DIE GRÜNEN) Lage sind, dem nachzukommen. (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Präsident Wolfgang Thierse: der SPD) Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, Wann hat man es schon, dass Arbeitgeber, Wirtschaft, das Wort. Gewerkschaften, Kirchen, Menschenrechtsorganisatio- nen und alle Fachleute der Auffassung sind, dass ein sol- (Beifall bei der FDP) ches Gesetz notwendig ist?

Dr. Max Stadler (FDP): Meine Damen und Herren, eine gesetzliche Regelung muss drei Kernelemente enthalten. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Wir haben in dieser Debatte eine wirklich neue Er- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto kenntnis gewonnen: Der Kollege Wolfgang Bosbach von Solms) der CDU will sich kein Vorbild an Goethes Faust nehmen Erstens. Wir brauchen eine Begrenzung und Steue- und seine Seele nicht verkaufen. Das ist sein gutes Recht. rung der Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt nach unse- Aus diesem Grund schlage ich vor, dass wir uns ein ande- ren eigenen wohlverstandenen Bedürfnissen, nicht mehr res Vorbild aus der Geschichte nehmen, nämlich und nicht weniger. Alexander den Großen. Ihm ist es bekanntlich gelungen, den Gordischen Knoten zu durchschlagen. Genau vor die- (Beifall bei der FDP) ser Aufgabe stehen wir in dieser Zuwanderungsdebatte. Das bedeutet zum Beispiel, dass selbstverständlich der (Beifall bei der FDP und der SPD) Vorrang für die inländischen Arbeitnehmer gilt. Das be- deutet auch, dass derjenige, der sich aus dem Ausland Freilich passt der Vergleich insofern nicht ganz, als um einen Aufenthalt bei uns bewirbt, einen konkreten eine derart martialische Vorgehensweise hier nicht mög- Arbeitsvertrag vorweisen muss. Um den Bedenken aus lich ist. Vielmehr brauchen wir Kompromissbereitschaft der CDU/CSU entgegenzukommen, dass der deutsche auf allen Seiten. Meine Damen und Herren, weder kann Arbeitsmarkt trotz allem überlastet werden könnte, nach dem bekannten Vorlauf Rot-Grün erwarten, dass schlagen wir jetzt vor, dass dies alles durch eine Jahres- das vom Bundesverfassungsgericht aufgehobene Gesetz höchstquote begrenzt wird, obgleich wir uns auch eine so wieder durch das Parlament kommt, marktwirtschaftlichere Lösung hätten vorstellen können. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) (Beifall bei der FDP) 2338 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Dr. Max Stadler (A) Ich verstehe nicht, warum wir dann, wenn schon so Deswegen soll es Sanktionen geben, wenn sie schuldhaft (C) viele Sicherungen eingebaut sind und wenn es de facto nicht genutzt werden, aber auch Anreize für diejenigen, doch Zuwanderung nach Deutschland in ungesteuerter die sich integrieren, etwa schnellerer Erwerb der deut- Form gibt – das ist insbesondere die Zuwanderung aus hu- schen Staatsbürgerschaft. manitären Gründen –, ausgerechnet auf die Gestaltung der Wir befrachten unseren Gesetzentwurf nicht mit an- Zuwanderung mit dem Ziel der Besetzung von Arbeits- deren Themen, mit denen sich der Bundestag auch ein- plätzen verzichten sollten, mit denen Wirtschaftswachs- mal befassen muss. Ich nenne nur die Situation der Hun- tum generiert und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Das derttausende von Illegalen in Deutschland. Darüber ist nämlich das Ziel der Veranstaltung, nicht umgekehrt! müssen wir ein anderes Mal reden. Wir wollen nicht zu (Beifall bei der FDP) viel in dieses Gesetz hineinpacken. Wir haben aber ein Anliegen, für das wir hier sofort Beifall von allen Seiten Die FDP steht aber nicht nur zu dieser eng begrenz- bekommen müssten. Jenseits der Frage der Zuwande- ten, im eigenen Interesse liegenden und für mehr Ar- rung gibt es auch noch einen Bedarf an Saisonarbeits- beitsplätze im Inland sorgenden Zuwanderung auf den kräften. Diesbezüglich müssen die Verfahren unbürokra- Arbeitsmarkt, sondern selbstverständlich auch zu den tischer werden. Wir brauchen statt einer Genehmigung humanitären Verpflichtungen. Wir haben keinen An- für die Dauer von drei Monaten für das Gaststättenge- lass, uns hier an kleinlichen Debatten zu beteiligen. Für werbe und für die Landwirtschaft, die Erntehelfer uns ist völlig klar, dass es selbstverständlich beim Asyl- braucht, eine solche von sechs Monaten. Dieser Antrag grundrecht bleibt und dass auch diejenigen, die von nicht von uns steht auch zur Debatte. staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung be- droht sind, unseren Schutz gemäß der Genfer Flücht- (Beifall bei der FDP) lingskonvention genießen. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Ich komme zum Schluss und möchte noch Folgendes (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten grundsätzlich bemerken: Ich halte nichts davon, wenn der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE jetzt schon die Rede davon ist, dass das Ganze in den GRÜNEN) Vermittlungsausschuss kommen und dort hinter ver- schlossenen Türen beraten werden soll. Warum denn? Der eigentliche Fehler in dem aufgehobenen Zuwan- Der Deutsche Bundestag ist doch das Forum, auf dem in derungsgesetz lag darin – da sind sich alle Experten ei- offener Debatte das Für und Wider ausgetragen wird. nig; Marieluise Beck hat es vorhin auch durchklingen „Hic Rhodus, hic salta“, sagt der Lateiner. Hier müssen lassen –, dass der wichtige Teil der Integration der Zu- wir entscheiden. Deswegen gilt das Angebot unseres wanderer noch nicht genügend ausformuliert war. Wir Fraktionsvorsitzenden , über die Vor- (B) stehen jetzt nicht am Beginn einer Debatte, sondern wir schläge – wir machen mit unserem Kompromissvor- (D) sind nahezu am Ende eines langjährigen Diskussions- schlag ein Angebot an alle anderen – jetzt hier im Deut- prozesses. Deswegen ist es richtig, solche Kritikpunkte schen Bundestag zu sprechen. Wenn wir das tun, dann aufzugreifen. Wir sehen daher in unserem Entwurf ein werden Sie sehen, dass das, was die FDP als Grundlage deutlich erweitertes Angebot an Integrationsmaßnahmen vorschlägt, von allen Seiten akzeptiert werden kann. Das – das betrifft insbesondere Sprachkurse als Schlüssel für dringend notwendige Gesetz muss endlich zustande die Verständigung – vor. kommen. Wir wollen außerdem den Einstieg in die so genannte Vielen Dank. nachholende Integration; (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) der SPD – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Max, denn es gibt auch Sprach- und Integrationsmängel bei wenn doch alle nur so vernünftig wie du wä- Ausländern, die schon einige Jahre in Deutschland sind. ren!) Das ist auch eine Forderung der Union. Aber wir können das nicht rückwirkend ad infinitum machen, sondern wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wollen das zeitlich begrenzt für fünf Jahre machen, weil Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. sonst die finanzielle Belastung nicht darstellbar wäre. (Beifall bei der FDP) Petra Pau (fraktionslos): Übrigens ist es durchaus zumutbar, wenn Zuwanderer Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nach eigener Fähigkeit in angemessener Weise an den Kosten von Sprach- und Integrationskursen beteiligt Zwei Sätze vorab: Die PDS war und ist der Mei- werden. nung, die Bundesrepublik ist ein Einwanderungs- land. Das bedeutet, wir brauchen ein Einwande- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Genau so!) rungsrecht und keine Blockaden. Auch das sehen wir vor. Überhaupt muss das erweiterte (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Angebot an Integrationsmaßnahmen selbstverständlich tionslos]) auch mit stärkeren Anforderungen an diejenigen, die zu uns kommen, verbunden sein, diese Angebote zu nutzen. Das waren übrigens exakt die zwei Eingangssätze, die ich vor einem Jahr sprach. Denn am 1. März 2002 haben (Beifall bei der FDP) wir hier über dasselbe Thema debattiert. Heraus kam ein Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2339

Petra Pau (A) Gesetz, das inzwischen vom Bundesverfassungsgericht Ich möchte mich daher heute auf die Grundforderun- (C) kassiert wurde. Dazwischen lag eine unwürdige Bundes- gen beschränken, die auch von Flüchtlings- und Mi- ratsaufführung, die ich heute nicht noch einmal würdi- grantenorganisationen zu Recht erhoben werden: gen möchte; denn keiner der daran Beteiligten hat sich Erstens. Der Familiennachzug in die Bundesrepublik damals mit Ruhm bekleckert. muss für alle Kinder möglich sein. Das heißt nach gel- Die PDS hat übrigens vor Jahresfrist mit Nein ge- tendem Familienrecht: bis zum Alter von 18 Jahren. stimmt, allerdings aus konträr anderen Gründen als die (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Opposition zur Rechten dieses Hauses. Der rot-grüne tionslos]) Entwurf war uns im Zuwanderungsteil zu regressiv und im Asyl- und Flüchtlingsteil zu repressiv. Das hatte be- Wer das ablehnt – wir haben gestern bereits darüber de- kannte Gründe. Denn Bundesinnenminister Schily hatte battiert –, mag Gründe haben. Unter dem Strich betreibt so lange einen Kompromiss mit der CDU/CSU gesucht, er aber eine Politik, die Familien erster und Familien bis Rot-Grün zur Unkenntlichkeit verfinstert war. zweiter Klasse schafft. Das wollen wir nicht. Die PDS im Bundestag hatte andere Maßstäbe. Un- Zweitens. Nicht staatliche und geschlechtsspezifi- sche Verfolgung muss endlich als Fluchtgrund anerkannt sere erste Prüffrage hieß: Gelingt mit dem Zuwande- werden. Wer das nicht tut, sortiert Menschen in höchster rungsgesetz ein Paradigmenwechsel? Schaffen wir also Not nach Gutdünken. Das wollen wir nicht. ein Bürgerrecht, bei dem nicht die Verwertbarkeit des Menschen, sondern das Menschsein im Vordergrund Drittens. Opfer von Menschenrechtsverletzungen dür- steht? fen weder ab- noch zurückgeschoben werden. Wer das will, riskiert neue Menschenopfer. Das wollen wir nicht. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Viertens. Schutzbedürftige, die nicht abgeschoben werden dürfen oder können, müssen einen sicheren Auf- Unsere zweite Prüffrage lautete: Sucht die Bundesrepu- enthaltsstatus erhalten. Wer das nicht will, nimmt Men- blik mit dem Zuwanderungsgesetz Anschluss an inter- schen ihre Würde. nationale Normen oder verharrt sie in einem völkischen Fünftens. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss ab- Zustand aus dem vorigen Jahrhundert? Unsere dritte geschafft oder zumindest, wie in Berlin und Mecklen- Prüffrage war: Werden mit dem Zuwanderungsgesetz burg-Vorpommern, humaner praktiziert werden. Wer das endlich willkürliche Regeln abgeschafft, die nicht deut- nicht will, behandelt Asylbewerber wie Aussätzige. sche Bürgerinnen und Bürger noch immer zu Menschen zweiter Klasse degradieren? Der Katalog humanitärer Forderungen ist natürlich län- (B) ger, wohlgemerkt: „humanitärer Forderungen“, denn mit (D) Das waren unsere Maßstäbe und das sind sie noch im- einem modernen Zuwanderungsrecht oder mit einem repu- mer. Deshalb wird die PDS im Bundestag den jetzt wie- blikanischen Staatsverständnis hat das noch nichts zu tun. der unverändert vorgelegten Gesetzentwurf erneut ableh- nen müssen. Allerdings würden wir, wenn wir unsere Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen: Während die US-Regierung einen Krieg vorbereitet und Position begründen wollten, heute nur wiederholen, was die CDU-Spitze dies unterstützt, treiben den bayerischen wir vor einem Jahr schon einmal gesagt haben. Das wäre Innenminister Beckstein ganz andere Sorgen um. Er will, langweilig und es wäre effektiver gewesen, wenn wir un- dass Kriegsflüchtlinge auf keinen Fall Europa erreichen sere alten Reden einfach noch einmal zu Protokoll gege- und schon gar nicht die Bundesrepublik; so seine Forde- ben hätten. rung. Sie müssten in der Krisenregion – ich zitiere – Es ist aber mehr geschehen, als dass ein Jahr verflos- menschenwürdig untergebracht werden. Mit Verlaub, sen ist. Wir verzeichnen in der Bundesrepublik einen liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das politischen Rechtsruck, was bei dem heute debattierten ist politische Schizophrenie. Thema auch heißt: Jene Parteien, die kein modernes Zu- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- wanderungsrecht wollen, jene Parteien, die auch frem- tionslos]) denfeindliche Parolen nicht scheuen, jene Parteien, die Menschen in nützliche, unnütze und gar schädliche ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: teilen, haben im Moment im Bundesrat eine Blockade- mehrheit. CSU und CDU machen keinen Hehl daraus, Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit von der SPD- dass sie diese Blockademehrheit kräftig nutzen wollen. Fraktion. Nun kenne ich Stimmen – das habe ich in vielen Brie- Rüdiger Veit (SPD): fen, die ich in den letzten Tagen erhalten habe, gelesen –, die meinen, dass es unter diesen Umständen besser wäre, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und kein Zuwanderungsgesetz zu verabschieden als ein Ge- Herren! Nach dieser Debatte muss ich zumindest eine setz, das von CDU und CSU diktiert wird. Ich kann das Vorbemerkung machen. Herr Kollege Koschyk, Sie ha- gut nachvollziehen. Aber bedenken wir: Das hilft den ben es für richtig gehalten, sich wegen angeblich zu Betroffenen überhaupt nicht. Deshalb werbe ich drin- scharfer, ehrverletzender Äußerungen, die ich über gend dafür: Lassen Sie uns doch wenigstens im humani- Herrn Schönbohm gemacht hätte, an meinen Arbeits- tären Bereich rechtliche Standards setzen, die längst gruppensprecher zu wenden. Das ist Ihr gutes Recht. Ich überfällig sind! komme darauf noch zurück. 2340 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Rüdiger Veit (A) Wenn Sie aber derart ehrpusselig und empfindlich Nein sagt. Im Übrigen sagte er: Herr Präsident, Sie ken- (C) sind, nen meine Auffassung. (Zuruf des Abg. Hartmut Koschyk (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]) DIE GRÜNEN – Wolfgang Bosbach [CDU/ CSU]: Ist das verfassungswidrig? Das ist doch verstehe ich nicht, wie Sie dazu kamen, gegenüber dem lächerlich!) Kollegen Hacker in Bezug auf seine berufliche Vergan- genheit in der früheren DDR eine derart abfällige Be- – Das ist nicht lächerlich, das ist die Wahrheit und ent- merkung zu machen. Das war unanständig. spricht dem wirklichen Ablauf. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie sagen, Karlsruhe habe diesen Gesetzentwurf ver- DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/ worfen. CSU]: Was er vorher zu mir gesagt hat, inte- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Herr Schily ressiert Sie wohl nicht!) hat gesagt, das wäre verfassungsmäß!) Aber das ist nicht die einzige Heuchelei, mit der wir Karlsruhe hat den Gesetzentwurf aber nicht wegen sei- es hier und heute zu tun haben. Vielmehr ging es mun- nes Inhalts verworfen, ter weiter. Heute Morgen konnte man, wenn man die Tickermeldungen gelesen hatte, noch der Meinung sein, (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das hat die CDU/CSU sei in der Frage nicht ganz aufgestellt keiner gesagt!) und es sei unklar, ob sie bereit sein könnte, beim Zu- sondern das Gericht hat das Theaterdrehbuch verworfen, wanderungsgesetz an einem echten Kompromiss mitzu- für das Herr Koch im Bundesrat Verantwortung getragen wirken. Nach den Redebeiträgen von Herrn Bosbach hat. Darum ging es. und Herrn Koschyk bin ich da nicht mehr sehr optimis- tisch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Bosbach [CDU/ Immerhin sagten heute Morgen Frau Professor CSU]: Es hat eure absurde Rechtsansicht ver- Süssmuth und Ministerpräsident Müller auf der einen worfen!) Seite, das Zuwanderungsgesetz müsse es grundsätz- lich geben. Die Herren Stoiber und Beckstein auf der Herr Koschyk, ich darf mich Ihnen noch einmal zu- anderen Seite sagten, eigentlich gehe nichts mehr, wir wenden. Auf der einen Seite beklagen Sie bei unserer De- bräuchten nichts, es sei kein Unglück, wenn wir gar batte, dass die sozialen Sicherungssysteme überlastet nichts bekämen. seien. Sie sprachen sogar vom Kollabieren oder Zerbers- (B) ten. Auf der anderen Seite ist es die CDU/CSU, die bereits (D) Heute stellt sich dann Herr Bosbach hier hin und sagt im vormaligen Gesetzgebungsverfahren, aber auch jetzt – auch das kann so nicht stehen bleiben –, im ersten An- wieder gesagt hat: Wir sind dagegen, dass Menschen, die lauf sei versucht worden, den Gesetzentwurf durch einen in Deutschland als Flüchtlinge Schutz finden müssen, weil angeblich wohl kalkulierten Verfassungsbruch durch den man sie nicht abschieben kann oder weil sie nicht ausrei- Bundesrat zu bringen. sen können, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Wir (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Soll ich das sind dafür, dass es für diese weiterhin Kettenduldungen noch einmal sagen? – Zuruf von der CDU/ gibt – das betrifft etwa eine viertel Million Menschen –, CSU: Das war auch so!) mit der Folge, dass sie nicht arbeiten können, dass sie ih- ren Lebensunterhalt nicht verdienen können, dass ihre Herr Kollege Bosbach, ich will Ihnen dazu etwas sa- Kinder keine Ausbildungsplätze antreten können und gen: Da ich den Vorzug hatte, dieser Beratung im Bun- dass ihre Integration keine Fortschritte macht, obwohl desrat beizuwohnen, konnte ich nicht umhin zuzuhören, sich ihr Aufenthalt manchmal bis Jahrzehnte erstreckt. als sich Herr Stoiber zu seinem letzten Gespräch mit Wer Sozialneid schürt, indem er auf der einen Seite sagt, Herrn Schönbohm vor der Abstimmung ausgerechnet er sei dagegen, dass die Sozialsysteme belastet werden, anderthalb Meter neben mich gestellt hat, um ihn davon auf der anderen Seite aber sagt, er sei ebenfalls dagegen, zu überzeugen, er müsse im Bundesrat nicht nur einmal, dass die Menschen in die Lage versetzt werden, mit ihrer sondern mindestens dreimal Nein sagen. eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt zu bestrei- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das hat er ja ten, der redet mindestens widersprüchlich. auch!) (Zuruf von der CDU/CSU: Es geht um die At- Auch die beiden sind davon ausgegangen, dass dann, traktivität des Asylmissbrauchs! Sie haben es wenn er sich anders verhalten würde, die Zustimmung nicht begriffen!) von Brandenburg möglicherweise unterstellt werden Man könnte etwas pointierter auch sagen: Er heuchelt, könnte. Ich will Ihnen einmal sagen, wer damit etwas und das nicht unerheblich. kalkuliert hat: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ja alles inszeniert!) Lassen Sie mich noch einmal zu den drei Komplexen Herr Schönbohm hat damit kalkuliert, dass er seinen Mi- des Zuwanderungsgesetzes kommen und die Positionen nisterposten behält, wenn er folgsam ist und nur einmal zu markieren versuchen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2341

Rüdiger Veit (A) Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt. Hier ist die Die FDP war, wenn ich mich richtig erinnere, als Junior- (C) FDP meilenweit von der CDU entfernt. Wir liegen mit partner auch über 40 Jahre an der Bundesregierung be- unserem abgewogenen Vorschlag ziemlich genau da- teiligt und hat sich wohl in diesen Fragen nicht durchset- zwischen. Wir wollen je nach den Bedürfnissen des Ar- zen können. beitsmarktes Arbeitsmigration in begrenztem Umfang zulassen. Die CDU/CSU legt jetzt einen neuen Ände- (Jörg Tauss [SPD]: Die haben sich zu diesem rungsantrag vor, in dem sie die Regelungen mit 1 Mil- Thema knapp gehalten!) lion Euro Investitionskapital und zehn Arbeitsplätzen bei Meine Damen und Herren, hier könnten wir sicher zu Selbstständigen nicht mehr will. Meine sehr verehrten Kompromissen kommen, wenn es uns auch gelänge, das Damen und Herren, ist es eigentlich Ihrer Aufmerksam- Geld zu finden. keit entgangen, dass im letzten Gesetzgebungsverfahren genau diese Passage auf Wunsch der CDU/CSU ins Ge- Lassen Sie mich noch einmal kurz zur Frage des Aus- setz hineingekommen ist? Was können wir denn dafür, länderrechts kommen. Ich finde es bemerkenswert – ich wenn Sie ein Jahr später nicht mehr wissen, was Sie frü- muss das wiederholen –, wie viel Angst die CDU/CSU her gefordert haben? vor Kindern hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja total lä- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – cherlich!) Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr Wir reden hier über die Differenz zwischen zehn und richtig!) zwölf Jahren beim Kindernachzugsalter. Sie sind auch diejenigen, die ernstlich meinen, man (Martin Hohmann [CDU/CSU]: Schauen Sie könnte Höchstqualifizierte ins Land holen und ihnen sa- mal Ihre neue Familienministerin an!) gen: Ihr bekommt eine Aufenthaltserlaubnis nur für drei Jahre, danach könnt ihr mit euren Familien oder auch al- Dabei geht es insgesamt um wenige hundert Kinder pro lein wieder nach Hause gehen. Jahr. Sie wollen sogar abschaffen, was wir ins Gesetz schreiben wollen, dass nämlich Ausnahmen möglich (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Abwegig ist das! sind, wenn das Kindeswohl es erfordert oder wenn be- Das ist Unfug, Herr Schröder, wie Sie wissen!) sondere familiäre Umstände vorliegen. Sie sind dagegen, So werden wir hier keinen Erfolg haben. das besagt einer Ihrer Änderungsanträge. Das ist Ihr Fa- milienbegriff, jedenfalls wenn es um ausländische Men- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen geht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) Nächstes Stichwort: Integration. Hier stimmen wir ja DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: überein, dass es wünschenswert wäre, auch diejenigen Weil bei Ihnen jede Ausnahme zur Regel mit zu integrieren und ihnen Deutschkurse anzubieten, wird!) die schon länger in Deutschland leben und einen auslän- Dieses Gesetz, das wir erneut auf den Weg gebracht dischen Pass haben, und nicht nur denjenigen, die neu zu haben – darauf hat auch der Herr Bundesinnenminister uns kommen. Aber wenn wir einen Rechtsanspruch für hingewiesen –, ist bereits ein politischer Kompromiss. alle bereits in Deutschland lebenden Menschen ohne Wir haben im Beratungsverfahren im Innenausschuss deutschen Pass begründen würden, könnte das im Ergeb- 16 Änderungsanträge der CDU/CSU und elf Anregun- nis nicht nur sehr viel Geld von allen staatlichen Ebenen gen des Bundesrates aufgenommen. Darunter waren üb- erfordern, namentlich vom Bund – das ist ja vor allen rigens auch Änderungsanträge, die die Härtefallregelung Dingen Ihre Vorstellung –, sondern es würde auch be- betreffen, die nun wiederum von der CDU/CSU nicht deuten, wir müssten am Tag des In-Kraft-Tretens, theo- gewollt wird. Wir haben außerdem die vier Brandenbur- retisch am 1. Januar 2004, für „round about“ 2 Millionen ger Punkte aufgenommen und sind dort Herrn Stolpe Menschen Deutschkurse anbieten. Das kann niemand und Herrn Schönbohm weitgehend entgegen gekommen. leisten, auch organisatorisch nicht. Das hat, wie wir alle wissen, leider nicht gereicht. Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren Deswegen muss ich erneut feststellen – Herr Kollege von der CDU/CSU oder auch von der FDP, Kollege Koschyk, daher entschuldige ich mich nicht für das, was Dr. Stadler oder Frau Ministerin, sagen, wir müssten hier ich über Herrn Schönbohm gesagt habe, sondern wieder- sehr viel mehr machen, es habe Defizite gegeben, stim- hole es –: men wir mit Ihnen überein. Wenn wir gemeinsam einen Weg finden, das zu bezahlen: noch besser. Aber eines (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das wäre können wir Ihnen hier nicht durchgehen lassen: Tun Sie aber angebracht!) bitte nicht so, als wäre es ein Versäumnis der rot-grünen Regierung oder der Mehrheit der letzten fünf Jahre, dass Es ist besonders bedauerlich, dass Herr Schönbohm, der es ausländische Menschen gibt, die noch nicht ausrei- sich laut „Berliner Zeitung“ vom 18. Januar 2002 ganz chend Deutsch können. Das sind die Folgen Ihrer Ver- weit aus dem Fenster gelehnt hat, dann nicht zu seinem säumnisse in den vergangenen Jahren. Wort gestanden hat. Auf die Frage, ob die große Koali- tion in Brandenburg bei der Begrenzung der Zuwande- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung bei nicht staatlicher Verfolgung zustimmen würde, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wenn wir uns auf Brandenburg zubewegen würden – das 2342 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Rüdiger Veit (A) haben wir getan –, hat er gesagt: Ja, das sei die Linie, die Scheinheilig ist auch etwas anderes. Die Überschrift (C) abgestimmt sei, auch – man höre – mit dem CDU-regier- dieses Gesetzentwurfes lautet: Zuwanderung steuern und ten Saarland. Diese Zusage würden sie auch einhalten, begrenzen – Integration fördern. Dem können wir zu- wenn ihnen – wie es in den Beratungen des Innenaus- stimmen. Das Problem ist nur: In dem Gesetz steht das schusses geschehen ist – die Bundesregierung in der ge- Gegenteil von dem, was die Überschrift verspricht. forderten Weise entgegenkommen würde. (Zuruf von der SPD: Was? Das ist auch drin!) Daraufhin wurde nachgefragt, ob nicht die Gefahr be- stehe, dass er als Koalitionär bei einer Zustimmung in ei- Es soll nicht mehr gesteuert werden, sondern mehr unge- nen Zwiespalt geraten könne, schließlich sei er Präsidi- steuerte Zuwanderung ermöglicht werden. Dieses Zu- umsmitglied in der CDU und gleichzeitig in einer wanderungsgesetz ist ein großer Etikettenschwindel. Koalition mit der SPD. Er hat wörtlich geantwortet – ich (Beifall bei der CDU/CSU) nehme an, das Interview, bestehend aus Fragen und Ant- worten, ist von ihm so autorisiert –: Ihr Zuwanderungsgesetz ist kein Fall für das Bundes- gesetzblatt, sondern für das Monatsblatt der Stiftung Stoiber und die CDU wissen seit dem Warentest. Wenn dort der Inhalt Ihres Gesetzes auf 20. Dezember, unter welchen Bedingungen wir nur Übereinstimmung mit der Überschrift geprüft würde, zustimmen können. Das weiß auch die Bundes- dann wäre das Ergebnis: nicht empfehlenswert. Darüber regierung. hinaus würden Sie wegen Irreführung des Verbrauchers Jetzt kommt ein Satz, der für einen früheren Berufsoffi- auf der Titelseite stehen. Ein solches Gesetz werden wir zier besonders bemerkenswert ist: Ihnen nicht durchgehen lassen. Weil wir altmodische Leute sind und halten, was (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder wir sagen, kann man uns nicht zwischen die Fron- [CDU/CSU]: „Nicht empfehlenswert“ käme ten bringen. da heraus! – Gegenruf des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ge- Hätte er das mal wahr gemacht! Wenn ich von Wort- gen Verbraucherschutz sind Sie ja auch!) bruch spreche, dann ist das objektiv richtig. Sie hätten alle Veranlassung dazu, in diesem Gesetzgebungsverfah- Die Bundesrepublik Deutschland ist ein ausländer- ren etwas Wiedergutmachung zu leisten. freundliches Land. Wir wollen, dass Deutschland ein ausländerfreundliches Land bleiben kann. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rüdiger Veit [SPD]: Die Ansage von Herrn (B) DIE GRÜNEN) Koschyk war ja ein Kulturkampf!) (D)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich nenne hierzu einige Zahlen: Deutschland steht mit einem Ausländeranteil von 9 Prozent – das sind Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Strobl 7,3 Millionen Menschen; davon drei Viertel aus Nicht- von der CDU/CSU-Fraktion. EU-Staaten – an der Spitze der großen westlichen Indus- triestaaten. Insofern muss jedem verständigen Politiker Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): doch vollkommen klar sein, dass unser Ziel eine ver- stärkte Steuerung und Beschränkung der Zuwanderung Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- sein muss. Alles andere ist unverantwortliche Politik. ren Kollegen! Herr Bundesinnenminister Schily und die Redner der rot-grünen Koalition haben eine ganze Reihe Deshalb vertreten wir von der CDU/CSU einen von Appellen an die Union gerichtet und uns gebeten, grundsätzlich anderen Ansatz in der Zuwanderungspoli- wir mögen dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz doch tik als Sie von Rot-Grün. Wir wollen nämlich eine tat- zustimmen. Stur wie Panzer bringen Sie ein Gesetz ein, sächliche Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Dies soll nicht nur vorne auf dem Gesetz, sondern auch (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das im Gesetz stehen. müssen Sie gerade sagen! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Rüsten Sie ab, Herr (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Strobl! – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abschottung wollen Sie!) GRÜNEN]: Sie sind doch die Panzerfraktion! – Entgegen Ihren Behauptungen – insbesondere Be- Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ hauptungen des Herrn Bundesinnenministers auch hier CSU]: Ihr seid doch die Betonfraktion!) und heute von dieser Stelle aus – wollen Sie in Wahrheit von dem Sie aus den Beratungen im Deutschen Bundes- keine verstärkte Steuerung und Begrenzung der Zuwan- tag und im Bundesrat wissen, dass wir es ablehnen. Sie derung. Die schlichte Wahrheit – das ist heute bei ver- legen, obwohl Sie wissen, dass das Bundesverfassungs- schiedenen Debattenbeiträgen in Nebensätzen ein wenig gericht dieses Gesetz aus formalen Gründen für verfas- durchgedrungen – ist: Sie wollen, dass Deutschland ein sungswidrig erklärt hat, uns dieses Gesetz in der alten multikulturelles Einwanderungsland wird. Fassung vor. Vor diesem Hintergrund sind die Appelle, (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip die Sie an uns richten, doch scheinheilig. Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (Beifall bei der CDU/CSU) wäre wirklich schlimm! – Wilhelm Schmidt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2343

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) [Salzgitter] [SPD]: Das kennen wir doch alles – Herr Kollege, das malen nicht wir an die Wand und das (C) schon! Das wird auch durch Wiederholungen sagen nicht nur wir, sondern das ist das Ergebnis, zu dem nicht besser!) führende Bevölkerungswissenschaftler kommen. Wir wollen es nicht. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Einer, und der ist umstritten ohne Ende! Das wissen Herr Kollege Schmidt, ich nenne Ihnen gerne ein paar Sie doch auch! – Weitere Zurufe von der SPD) Zahlen dazu. Nach dem In-Kraft-Treten des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes – wir hoffen, dass es nicht in – Sie wären vielleicht gut beraten, wenn Sie das, was uns Kraft tritt – die Bevölkerungswissenschaftler sagen und für die Zu- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was kunft prognostizieren, denn nun?) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der gäbe es beim jährlichen Zuwanderungssaldo ein Plus eine!) von bis zu 100 000 Menschen. zur Kenntnis nehmen und nicht nur Ihrer Ideologie frö- (Zuruf von der SPD: Quatsch!) nen würden. Ich nenne und wiederhole kurz die Gründe dafür, die die (Beifall bei der CDU/CSU) Kollegen Bosbach und Koschyk hier bereits dargestellt Welche Prioritäten Rot-Grün verfolgt, kann man im haben, nämlich Übrigen auch an der überaus nachlässigen Behandlung (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist des Themas Integration sehen. Der Bund zieht sich aus unseriös wie sonst nichts!) der Integration zurück. die deutliche Erweiterung im Bereich der Arbeitsmigra- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Was tion durch die Aufhebung des Anwerbestopps, weitere war denn in den 16 Jahren Ihrer Regierungs- Möglichkeiten des Familiennachzugs, weitere Anreize zeit in Sachen Integration?) zur ungesteuerten Zuwanderung durch Missbrauch des Asylrechts, eine erweiterte Härtefallregelung usw. Das ist nicht nur ein Zuwanderungserweiterungsgesetz, sondern auch ein Kostenverteilungsgesetz zulasten der (Lothar Mark [SPD]: Das glauben Sie doch Länder und insbesondere der Kommunen. Auch dies selbst nicht, was Sie da sagen!) können wir nicht akzeptieren. Das alles sind Regelungen, die die Zuwanderung nicht (Beifall bei der CDU/CSU) (B) begrenzen, sondern ausweiten. (D) Meine Damen und Herren, eine Bemerkung des Kol- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) legen Beck, die er hier heute wiederholt hat, war interes- Legt man den derzeitigen und langfristigen Zuwan- sant: Die Union sei in der Zuwanderungsfrage völlig iso- derungssaldo von 200 000 Ausländern in die Bundes- liert. republik Deutschland zugrunde, stiege der Saldo der Zu- wanderer mit dem neuen Recht auf jährlich circa (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE 300 000 an. Nach den Berechnungen des Bevölkerungs- GRÜNEN]: Richtig so!) wissenschaftlers Rainer Münz von der Humboldt-Uni- Ich möchte Ihnen hierzu nur sagen, dass eine Mehrheit versität hier in Berlin ergäbe sich damit bis 2050 ein der Bürgerinnen und Bürger die Ausweitung der Zuwan- bundesweiter Ausländeranteil von 18 bis 20 Prozent. derung ablehnt. Das wäre mehr als eine Verdoppelung der Zahl der Aus- länder in der Bundesrepublik Deutschland bezogen auf (Beifall bei der CDU/CSU) den derzeitigen Stand. Der Ausländeranteil würde in ei- ner ganzen Reihe von großen Städten auf über Nach einer Emnid-Umfrage im Januar 2002 sind 75 Pro- 50 Prozent steigen. In vielen Großstädten wird der An- zent der Befragten für eine Beschränkung der Zuwande- teil der Zugewanderten bei den unter 40-Jährigen im rung. In einer Umfrage im März 2002 sagten 52 Prozent, Übrigen schon ab 2010 bei über 50 Prozent liegen. dass ihnen der Ausländeranteil in Deutschland zu hoch sei. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist so abstrus, das muss man überhaupt nicht (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE kommentieren! – Josef Philip Winkler GRÜNEN]: Dann stimmen Sie dem Gesetz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat das der doch zu!) Herr Birg wieder gesagt oder was?) Das Institut für Demoskopie Allensbach hat im Februar Bei Kindern und Jugendlichen wäre ein noch höherer 2003 ermittelt, dass 62 Prozent der Bevölkerung von ei- Anteil zu erwarten. Durch eine Ausweitung der Zuwan- nem Zuwanderungsgesetz die Verringerung des Zuzugs derung würde die deutsche Bevölkerung in vielen Städ- von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten erwarten. Weil ten und Regionen zu einer Minderheit im eigenen auch wir genau das wollen, ist die Union nicht isoliert. Land. Sie bringt vielmehr das zum Ausdruck, was eine Mehr- heit der Bevölkerung in dieser Frage denkt. (Zurufe von der SPD: Herrgott noch mal! – Fängt der wieder damit an!) (Beifall bei der CDU/CSU) 2344 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) keine Unterstützung für die von Ihnen geplante generelle Herr Kollege Strobl, bitte kommen Sie zum Schluss. Öffnung des Arbeitsmarktes. Sie haben heute noch weni- ger Unterstützung als vor einem Jahr, weil die Arbeitslo- senzahl inzwischen bei knapp 5 Millionen angelangt ist. Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Deswegen betreiben Sie mit Ihrem Zuwanderungsgesetz Herr Präsident, ich komme zum Schluss. fortgesetzt Etikettenschwindel. In der Überschrift zu die- sem Gesetz steht „Steuerung und Begrenzung“, aber im Es war schon ein starkes Stück, als der Herr Staats- Gesetz selbst haben Sie reihenweise Tatbestände ge- sekretär im Bundesinnenministerium, Körper, gestern im schaffen oder ausgeweitet, die das genaue Gegenteil Deutschen Bundestag der deutschen Öffentlichkeit ver- bewirken, nämlich Ausweitung und Entgrenzung von kaufen wollte, dass wir durchaus die Möglichkeit hätten, Zuwanderung. Den von Ihnen behaupteten breiten ge- das Nachzugsalter auf unter zwölf Jahre zu senken. sellschaftlichen Konsens in dieser Frage gibt es nicht; (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE dies ignoriert die Haltung der Bürgerinnen und Bürger. GRÜNEN]: Zitieren Sie einmal richtig! Zitie- Rot-Grün ist im Übrigen der Volkswille ziemlich ren Sie aus dem Protokoll!) egal. Deswegen waren Sie bereit – der Kollege Bosbach Dabei ist allgemein bekannt, dass dies aufgrund von EU- hat darauf zu Recht hingewiesen –, die Verfassung zu Recht nicht mehr möglich ist. Dies hat im Übrigen Frau brechen, um Ihre Politik gegen den Willen der großen Staatssekretärin Vogt am Vormittag desselben Tages im Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen, Innenausschuss des Deutschen Bundestag auch so darge- (Volker Kauder [CDU/CSU]: So sind sie halt!) stellt. Herr Bundesinnenminister, nur einer Ihrer Staats- sekretäre kann in dieser Frage Recht haben. Es wäre so wie dies Herr Wowereit auf Geheiß des Bundeskanz- schön gewesen, wenn Sie hier im Plenum des Deutschen lers bei der Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz im Bundestages heute Morgen ein klärendes Wort zu dieser Bundesrat getan hat. Frage gesagt hätten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Hören Sie doch auf die Fachleute! Hören Sie doch auf die vielen kritischen Stimmen in Wissenschaft und Poli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tik! Wenn Sie schon nicht auf sie hören, dann hören Sie wenigstens auf einen verdienten Genossen: Herr Kollege Strobl, das war ein guter Schluss. Vielen Dank. Wir haben unter idealistischen Vorstellungen, gebo- (B) (D) ren aus der Erfahrung des Dritten Reichs, viel zu (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Gut war viele Ausländer hereingeholt ..., die nicht integriert es nicht, aber es war Schluss!) sind, von denen die wenigsten sich integrieren wol- len, denen auch nicht geholfen wird, sich zu inte- Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): grieren. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. So sprach Altbundeskanzler , SPD. Ich sage Ihnen: Der Mann hat Recht. Wir wollen einen ande- (Beifall bei der CDU/CSU) ren, aus unserer Sicht realistischen Weg gehen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU) Unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzieht sich auf Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Philip Winkler der Ebene der EU ein besonders trauriges Kapitel. Sie vom Bündnis 90/Die Grünen. stimmen Regelungen auf EU-Ebene zu oder widersetzen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sich ihnen jedenfalls nicht, mit denen die Zuwanderung SES 90/DIE GRÜNEN) ausgeweitet werden soll. Ihr Motto lautet wohl: Wenn wir unser Zuwanderungsrecht in Deutschland nicht in Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unserem Sinne verändern können, dann bleibt uns noch NEN): immer die Möglichkeit, dies auf europäischer Ebene durchzusetzen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Strobl, obwohl Sie so gerne Herrn Birk zi- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE tieren, muss ich Ihnen heute zumuten, dass Leute wie ich GRÜNEN]: Das ist der Vorteil, wenn man der am Rednerpult des Deutschen Bundestages stehen. Das Regierung angehört!) sollte nicht die Ausnahme bleiben, sondern – Herrn Birk Herr Kollege Beck hat dies Ende letzten Jahres in der wird dies vielleicht ärgern – in Zukunft noch deutlich „Welt“ zum Ausdruck gebracht: häufiger der Fall sein. Dann können wir besser mit dem geltenden Auslän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derrecht leben und mit den Regelungen, die auf eu- und bei der SPD) ropäischer Ebene kommen. Nach der Greencard-Initiative des Bundeskanzlers und Nachtigall, ich hör dir trapsen. der Einsetzung der parteiübergreifenden Unabhängigen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2345

Josef Philip Winkler (A) Kommission Zuwanderung hat die Bundesregierung ein lich. Sie ignorieren, dass in unserem Land inzwischen die (C) Zuwanderungsgesetz verabschiedet. Der vorgelegte Ge- dritte Generation der Einwanderer herangewachsen ist. setzentwurf ist das Ergebnis der Einbeziehung aller, auch Diese Generation tritt mit viel Selbstbewusstsein auf und der christdemokratischen Parteien. Dieses Gesetz markiert lässt es sich nicht mehr so leicht gefallen, herumge- – bei aller Kritik in Einzelpunkten – einen Paradigmen- schubst zu werden. Bei diesen jungen Menschen tritt ein wechsel hin zu einem Einwanderungsland Deutschland. anderes Selbstverständnis zutage als noch bei ihren El- tern. Sie verstecken sich nicht mehr, sondern stellen legi- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist rich- time Forderungen. tig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In dem Gesetz wird Integration als gesellschaftliche und bei der SPD) Aufgabe anerkannt. Die Zuwanderung von Arbeitskräf- ten wird durch ein modernes Auswahlverfahren sowie Diese jungen Migrantinnen und Migranten wollen, dass eine Abkehr von der Politik des Anwerbestopps vernünf- ihre Art zu leben in der Gesellschaft als eine Form unter tiger und deutlich demokratischer geregelt. Die humani- anderen akzeptiert und anerkannt wird. Sie wollen von tären Verpflichtungen, insbesondere im Flüchtlingsrecht, der hiesigen Gesellschaft nicht mehr – auch nicht von Ih- werden nunmehr umfassend und uneingeschränkt beach- nen – durch die Brille der 60er-Jahre gesehen werden. tet. Zum ersten Mal erkennt eine Bundesregierung die Unter den neuen Inländern gibt es Vertreter aller Be- Realität an, dass die Bundesrepublik Deutschland ein rufsgruppen. Sie alle werden ihren Beitrag zur Weiter- Einwanderungsland ist. entwicklung unserer Gesellschaft leisten. Wenn wir ih- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen diese Chance geben und sie dabei aktiv fördern, DIE GRÜNEN) werden sie uns helfen, Brücken nicht nur zwischen der ersten Einwanderergeneration und der Mehrheitsgesell- Herr Koschyk, Ihrer Interpretation der französischen schaft zu bauen, sondern auch zwischen dem Herkunfts- Einwanderungsgesetzgebung kann ich nicht ganz folgen. land und der Aufnahmegesellschaft. Schauen Sie sich doch einmal die französische National- mannschaft an: Bei ihrer Farbenpracht implodiert jeder In diesem Sinne gebe ich die Hoffnung auf das Zu- Farbfernseher. standekommen eines breiten Konsenses nicht auf, ob- wohl Sie, meine Damen und Herren von der Union, mit (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Ihren Anträgen das Rad der Geschichte zurückdrehen DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartmut wollen. Sie verschließen weiterhin die Augen vor der ge- Koschyk [CDU/CSU]: Familienpolitik! – sellschaftlichen Realität und den Herausforderungen ei- Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Was hat das ner Einwanderungsgesellschaft. Sie fallen mit dieser (B) (D) denn mit Familienpolitik zu tun?) Verhandlungsgrundlage zudem – das wurde schon ge- – Familienzusammenführungspolitik. sagt – weit hinter die Beschlüsse Ihrer eigenen Zuwan- derungskommission zurück. Herr Bosbach, Sie sprachen vom Volkswillen, der bei der Gesetzgebung befolgt werden müsse. Hinsichtlich Bezogen auf Ihre Anträge will ich ein persönliches der Außenpolitik interessiert Sie der Volkswille über- Beispiel anführen: Mit dem Antrag bezüglich des Staats- haupt nicht. Sie haben jeden Anspruch verwirkt, den bürgerschaftsrechts wird von Ihnen eine ganze Genera- Willen des Volkes für sich in Anspruch zu nehmen. tion hier lebender junger Menschen, die in diesem Land geboren wurden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und ihr jede Integrationschance verbaut, weil Sie der und bei der SPD) zweiten Generation die Einbürgerungschance verwehren Schauen Sie sich doch einmal in Ihrem eigenen Be- wollen. Das geht so nicht. kannten- und Verwandtenkreis um: Die deutsche Gesell- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaft wandelt sich. Ich finde, das ist richtig so. DIE GRÜNEN) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Darum geht Ich bin stolz, der Sohn einer indischen Mutter zu sein. es doch nicht!) Ich bin aber auch stolz, ein deutscher Volksvertreter zu sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Integrati- In Zeiten der Globalisierung ist es ein Irrglaube, zu onswilligkeit und die Integrationsfähigkeit – Sie spre- denken, dass man Wanderungsbewegungen komplett chen sie dieser ganzen Generation junger Menschen ab – stoppen kann. Da die Möglichkeiten zur Mobilität und von Ihnen nicht richtig eingeschätzt wird. Sie sollten Kommunikation in Zukunft nicht abnehmen, sondern zu- sich da bewegen. nehmen werden, werden wir es in Zukunft verstärkt mit einem Mosaik unterschiedlicher Traditionen, Religionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Lebensgewohnheiten in Deutschland zu tun haben. und bei der SPD sowie des Abg. Harald Eine Abschottungspolitik, wie sie in den Änderungsanträ- Leibrecht [FDP]) gen, die von den unionsregierten Ländern im Bundesrat eingebracht wurden, zum Ausdruck kommt, kann diese Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Entwicklung nur verzögern, jedoch nicht verhindern. Unsicherheiten darf ein solcher Weg nicht beschritten werden, wenn die Zukunft in einem weltoffenen Europa Der Geist, der hinter einigen Ihrer Anträge steckt, gemeinsam gestaltet werden soll. Wir, die rot-grüne meine Damen und Herren von der Union, ist jedoch gefähr- Koalition, wollen ein modernes, sozial verträgliches, 2346 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Josef Philip Winkler (A) europataugliches und humanes Zuwanderungsgesetz, sie zeigt ein viel tiefer sitzendes Problem in Ihren Rei- (C) das den Realitäten dieses Landes gerecht wird. hen. Sie sind von einem tiefen Misstrauen gegen jedes Fremde und Neue und speziell gegen Ausländer in unse- Sie sind herzlich eingeladen, sich dem anzuschließen. rem Land besetzt. Vielen Dank. Wenn ich Ihre Redebeiträge verfolge, so scheinen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tatsächlich zu glauben, jeder Zuwanderer habe nur das und bei der SPD) Ziel, Deutschland maximalen Schaden zuzufügen. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ist doch wirklich Quatsch!) Herr Kollege Winkler, ich gratuliere Ihnen im Namen So kommen Sie zu dem Schluss, dass man jede nur er- des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen denkliche Hürde gegen die Zuwanderung in das Gesetz Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! aufnehmen muss, um Zuwanderern das Leben in (Beifall) Deutschland zu erschweren. Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Lale Akgün von (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das der SPD-Fraktion. ist doch wirklich Unsinn, was Sie sagen!) Anders kann ich mir Ihre Änderungsanträge im Bera- Dr. Lale Akgün (SPD): tungsverfahren des Bundestages und Bundesrates nicht Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem erklären, in denen Sie die Hürden für Zuwanderung und Haus wird das Zuwanderungsgesetz heute zum zweiten Integration verdoppeln und gleichzeitig jede Erleichte- Mal beraten. Dass es beim ersten Mal nicht zu einem rung halbieren. parteiübergreifenden Konsens kommen konnte, hatte da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit zu tun, dass die Bundestagswahl vor der Tür stand. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihnen, werte Kollegen von der CDU/CSU, war es wich- tig, das Thema Zuwanderung zum Wahlkampfthema Wie sieht die Realität in unserem Land aus? Heute be- machen zu können. Sie haben sich dabei alle Mühe ge- sitzt fast jeder zehnte Mitbürger einen nicht deutschen geben, die Aufgaben der Politik misszuverstehen. Sie Pass. Es gibt mehr als 800 000 binationale Ehen. Mehr haben nicht die Ängste der Menschen aufgenommen, als jeder fünfte Ausländer ist bereits in Deutschland ge- sondern Sie haben sie geschürt und instrumentalisiert. boren; bei den Türken ist es bereits mehr als jeder dritte. (B) (Beifall bei der SPD) Das heißt, Deutschland ist ein Einwanderungsland. (D) Das ist die Realität, auch wenn Sie vor dieser Wahrheit Der Wahlkampf auf dem Rücken der Menschen ist Ih- den Kopf in den Sand stecken. Aber weil dies die Reali- nen aber nicht gelungen; Sie haben die Bundestagswahl tät ist, gilt es nicht zu regeln und zu definieren, ob, son- verloren. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass der Wahl- dern wie die Zuwanderung stattfindet und wie wir die kampf vorbei ist, und kehren Sie zu einer konstruktiven Po- Zugewanderten bestmöglich integrieren. Genau dies und litik zurück! Denn das Thema Zuwanderung ist langfristig nichts anderes regelt dieses Gesetz. von zu großer Bedeutung, um es in Bundestags- oder Land- tagswahlen für kurzfristige Interessen zu verschleißen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie haben das Argument gebracht, Herr Strobl, NEN]) Deutschland werde überfremdet, weil der Ausländeran- teil in manchen Großstädten in den nächsten Jahrzehnten Ein Blick in den Bericht der Enquete-Kommission auf bis zu 50 Prozent ansteige. „Demographischer Wandel“ aus der vergangenen Legis- laturperiode zeigt Ihnen, dass es sich um einen generati- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Von onenübergreifenden Politikansatz handeln muss, der Überfremdung hat niemand gesprochen!) langfristige Planung und ein langfristig angelegtes Ge- Dieser Denkweise kann man aber nur dann verfallen, setz notwendig macht. wenn man wie Sie meint, Ausländer bleiben immer Aus- In diesem Zusammenhang – weil wir den Bericht der länder, über Generationen hinweg. Integrationsbeauftragten heute mitberaten – möchte ich Wir hingegen meinen: Die Menschen, die in dritter mich bei Frau Beck herzlich dafür bedanken, dass sie ei- oder vierter Generation bei uns sind, sind keine Auslän- nen so konkreten und detaillierten Bericht vorgelegt hat, der. Sie sind in dieser Gesellschaft geboren und aufge- der eine hervorragende wissenschaftliche Grundlage für wachsen. Sie werden als Deutsche geboren, weil wir das unsere Arbeit darstellt. dank unserem republikanischen Denken mit dem neuen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Staatsangehörigkeitsrecht ermöglicht haben, während DIE GRÜNEN) Sie immer noch einem Denken in ethnischen Schubladen verhaftet sind. Ihrer Haltung, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, kann ich leider kein Lob aussprechen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihre Haltung ist nicht nur wahlkampfgesteuert, sondern DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2347

Dr. Lale Akgün (A) Dieser Denkweise kann man aber nur dann verfallen, zustellen. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der (C) wenn man wie Sie meint, Ausländer bleiben immer Aus- CDU/CSU, beschränken sich darauf, darüber zu lamen- länder, über Generationen hinweg. tieren. Wir hingegen handeln, indem wir bei der Sprach- kompetenz ansetzen, und zwar schon vor Beginn des Wir hingegen meinen: Die Menschen, die in dritter Schulbesuchs. Verstärkte Kindergartenbetreuung und oder vierter Generation bei uns sind, sind keine Auslän- unsere Politik zur Förderung von Ganztagsschulen sind der. Sie sind in dieser Gesellschaft geboren und aufge- die logischen Resultate aus dem Rechtsanspruch auf In- wachsen. Sie werden als Deutsche geboren, weil wir das tegration. dank unserem republikanischen Denken mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht ermöglicht haben, während (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie immer noch einem Denken in ethnischen Schubladen verhaftet sind. Übrigens, die Sozialdemokraten haben Erfahrungen mit Integrationsoffensiven. Denken Sie an die Bildungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ offensive der 70er-Jahre, mit der wir den Zugang zu Bil- DIE GRÜNEN) dung für Arbeiterkinder, insbesondere den Zugang zu Ich möchte noch ein Beispiel nennen, bei dem Sie Gymnasien, verstärkt haben. Ich bin mir sicher, dass sich sich irren. Das Flüchtlingsrecht wird an internationale in allen Fraktionen dieses Hauses Abgeordnete finden Standards angepasst. Die Anerkennung von nicht staat- lassen, die damals davon profitiert haben. Das gleiche licher und geschlechtsspezifischer Verfolgung bringt Engagement wünsche ich mir heute, wenn wir die Inte- keine Zunahme der Flüchtlingszahlen, sondern sie grationsoffensive für die Kinder und Jugendlichen der schafft lediglich Rechtsklarheit für diejenigen, die auf- Migranten beginnen. So selbstverständlich es heute ist, grund der Genfer Flüchtlingskonvention ohnehin nicht dass ehemalige Arbeiterkinder hier Gesetze beschließen, ausgewiesen werden. so selbstverständlich sollte es in 30 Jahren sein, dass Kin- der ehemaliger Migranten als deutsche Juristen, Wissen- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Da- schaftler und Fachleute in diesem Hohen Hause beraten. rüber wollen Sie hinausgehen! Das ist unser Problem!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herr Lubbers, der Vertreter des UNHCR in Deutschland, hat gestern noch einmal betont, die Genfer Flüchtlings- Ich weiß, dass wir Erfolg damit haben werden; denn wir konvention kenne keinen Unterschied zwischen staatli- Sozialdemokraten glauben an Chancengleichheit und cher und nicht staatlicher Verfolgung. Die CDU wolle wissen, wie man sie umsetzt. einen Sonderweg, der in die völlige Isolation führe. Herr Bosbach, noch einem anderen Argument möchte (B) Seien wir doch ehrlich, es geht letztlich darum, einigen (D) ich entgegentreten, nämlich dem, dass Ausländer stärker Hundert, vielleicht wenigen Tausend Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen seien und häufiger Sozial- grausamste Verfolgung hinter sich haben, ein Stück hilfe bezögen. Das stimmt zwar, aber an eines sollten Sie mehr Rechtssicherheit zu geben. Warum betreiben Sie sich erinnern: Als die Anwerbeabkommen geschlossen hier Fundamentalopposition? Wie kann Ihre christliche worden sind, hat nicht die SPD regiert. Damals wurden Seele diese Menschen ernsthaft als Bedrohung ansehen? Menschen in der Schwerindustrie, im Bergbau für den (Rüdiger Veit [SPD]: Die haben gar keine!) Einsatz unter Tage und in der Stahlindustrie gesucht. Es wurden ungelernte Arbeitskräfte gebraucht und solche Ich sage nur: Schämen Sie sich dafür! wurden auch angeworben. Sie sind heute vom Struktur- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wandel besonders stark betroffen, weil in sie nicht inves- DIE GRÜNEN) tiert worden ist und weil sie nicht aus- und weitergebil- det worden sind. Daraus kann man ihnen keinen Vorwurf Rechtssicherheit und gesetzgeberische Klarheit für machen; denn wir hatten damals keine Konzepte für In- unser Land und für diejenigen Menschen, die zu uns tegration und Deutschland stand nicht auf der Agenda. kommen, heißt übrigens auch, Integration zu erleich- Das ist die Wahrheit. Ich sage bewusst: „Wir“ hatten tern; denn die Zuwanderer wissen, was auf sie zukommt, keine Konzepte für Integration; denn auch die SPD hat und können somit ihre Zukunft in Deutschland gestalten. damals über die Bedeutung von Integration nicht nach- Deshalb wollen wir ein Integrationskonzept für diejeni- gedacht. Wir wollen mit unserem Gesetz erreichen, dass gen, die zu uns kommen, mit Sprachkursen als wichti- wir aus unseren Fehlern lernen und künftig der Integra- gem, aber nicht alleinigem Baustein. Wir wollen des tion der Einwanderer vom ersten Tag an die ihr gebüh- Weiteren einen Rechtsanspruch auf Integration, weil wir rende Bedeutung beimessen. eine bestimmte Vorstellung von Integration haben. Für uns ist Integration Teilhabe in allen Lebensbereichen Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam aus und Mitgestaltung der Lebensperspektiven in diesem unseren Fehlern lernen. „Stolz“ ist doch ein ganz wichti- Land. Wir wollen und werden diese Vision in konkrete ger Begriff für Sie. Sorgen Sie deshalb dafür, dass Politik umsetzen. Sie hingegen verkaufen die Bilder von Deutschland auch stolz auf seine Opposition sein kann. gestern als Politik von morgen. Springen Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie mit uns für unseren Gesetzentwurf! In jüngster Zeit wird wieder einmal die PISA-Studie zitiert, wenn es darum geht, die Defizite von Migranten- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kindern bei Sprache und schulischen Leistungen heraus- DIE GRÜNEN) 2348 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Innenausschuss (C) Sportausschuss Frau Kollegin Akgün, auch Ihnen gratuliere ich im Rechtsausschuss Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (Beifall) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf den Drucksachen 15/420, 15/522, 14/9883, 15/538 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und 15/368 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so Entwicklung beschlossen. Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie Zusatzpunkt 1 auf: ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia 4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter richts des Ausschusses für die Angelegenheiten und der Fraktion der FDP der Europäischen Union (20. Ausschuss) Das neue Gesicht Europas: Kernelemente ei- – zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen ner europäischen Verfassung der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 15/577 – Überweisungsvorschlag: zu der Abgabe einer Regierungserklärung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) durch den Bundeskanzler zu den Ergebnis- Auswärtiger Ausschuss sen des Europäischen Rates in Kopenhagen Innenausschuss am 12. und 13. Dezember 2002 Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (B) CDU/CSU Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Red- (D) ner hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU- Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Fraktion. Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen (Beifall bei der CDU/CSU) – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr Peter Hintze (CDU/CSU): (Münster), , weiterer Abge- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ordneter und der Fraktion der FDP ren! Europa ist gestern von einem feigen Mordanschlag Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt auf den serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic Druck auf innere Reformen der Europä- erschüttert worden. Wir trauern um einen mutigen Politi- ischen Union ker, der für den Demokratieprozess in seinem Land und damit auch für Europa einen bleibenden Beitrag geleistet – Drucksachen 15/215, 15/195, 15/216, hat. Die Konstante des Zoran Djindjic war der Kampf 15/451 – für Demokratie und gegen Diktatur. Wir setzen darauf, Berichterstattung: dass die Mörder rasch gefasst werden und dass ihr Anlie- Abgeordnete Günter Gloser gen scheitert. Peter Hintze Politische Instabilität in einem Teil Europas betrifft in Rainder Steenblock seinen Auswirkungen den ganzen Kontinent. Die äußerst Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fragile Stabilität auf dem Balkan muss mithilfe und im b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Interesse Europas gehalten und gefestigt werden. Ich be- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN grüße es außerordentlich, dass der EU-Außenbeauftragte Javier Solana bereits heute nach Belgrad reist, um der Der europäischen Verfassung Gestalt geben – Regierung bei ihrer Reformbemühung zu helfen. Der Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit er- Demokratisierungsprozess im ehemaligen Jugoslawien höhen, Verfahren vereinfachen braucht unsere weitere Unterstützung. – Drucksache 15/548 – (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) 2003 wird als das Jahr der europäischen Weichenstel- Auswärtiger Ausschuss lungen in die Geschichte eingehen. Wir stehen vor der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2349

Peter Hintze (A) bislang größten Erweiterung der Europäischen Union. sagen: Dafür trägt Großbritannien eine Mitverantwor- (C) Zugleich wollen wir Europa mit einer Verfassung ein tung. Beide haben sich vor Kenntnis der Fakten und vor neues Gesicht geben und es nach innen und nach außen dem Austausch untereinander festgelegt: Großbritannien stark für die Zukunft machen. Schließlich führt uns in war auf jeden Fall für, Deutschland war auf jeden Fall diesen Tagen der Irakkonflikt vor Augen, welche außen- gegen einen militärischen Einsatz. Dadurch wurde die und sicherheitspolitischen Herausforderungen die Euro- Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Position päische Union in den kommenden Jahren zu bewältigen verhindert. Das war ein schwerer Fehler. hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die zentrale Frage, vor der wir heute stehen, lautet: neten der FDP) Wie machen wir Europa angesichts neuer Herausforde- rungen zu einer wirtschaftlich, politisch und kulturell Heute sprechen wir auch über den Konvent. Ich hoffe starken Gemeinschaft? Der Erfolg der Europäischen und erwarte – ich will es meinem Kollegen Peter Union beruht auf zwei Einsichten: Das europäische Pro- Altmaier ans Herz legen –, dass in die Verfassung für die jekt kann nur gelingen, wenn der Gemeinschafts- Europäische Union ein Grundsatz aufgenommen wird, gedanke die nationalen Partikularinteressen überwiegt. der es der Union ermöglicht, erst einmal eine gemein- same Position zu formulieren, bevor nationale Wider- (Beifall bei der CDU/CSU) sprüche auftreten. Und: Europa ist auf eine enge transatlantische Part- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr gut!) nerschaft ebenso angewiesen wie Amerika auf einen starken europäischen Pfeiler. Dass diese Position im zweiten Schritt von dem einen oder anderen Staat dann möglicherweise nicht mitgetragen Seit Konrad Adenauer zeichnet eine kluge Politik aus, wird, das ist etwas anderes. Aber wir halten es für falsch, dass sie die Interessen Deutschlands am besten in einem das Projekt Europa derart infrage zu stellen, dass das ge- versöhnlichen Ausgleich und in einer herzlichen Freund- meinsame Handeln durch ein Veto konterkariert wird, be- schaft mit Frankreich und zugleich in einer festen Ver- vor die Chance auf gemeinsames Handeln besteht. bindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika auf- gehoben sah. Ich halte es für ein Gebot der Vernunft, an (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dieser Einsicht in der deutschen Politik festzuhalten. neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein zweiter Komplex spielt hier eine große Rolle. Wir stehen vor der größten Erweiterung in unserer Ge- Es war ein verhängnisvoller Fehler, dass die Bundes- schichte. Was sollen eigentlich die Länder, die der Euro- (B) regierung mit dieser Kontinuität gebrochen hat. Sie hat päischen Union bald beitreten werden, von der Art hal- (D) sich in den vergangenen Monaten dazu hinreißen lassen, ten, wie sie bei uns aufgenommen werden und wie wir dieses Prinzip der doppelten Bindung auf dem Altar des mit ihnen umgehen? Haben sie nicht eine faire Partner- Wahlkampfes zu opfern. Was wir damit erleben, ist ein schaft und eine faire Beteiligung verdient? Was haben verhängnisvoller Paradigmenwechsel in der deutschen sie stattdessen erfahren? Sie haben dafür Kritik erfahren, Politik, nämlich eine Goslarisierung unserer gesamten dass sie es gewagt haben, sich in dieser Schicksalsfrage, Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik. die auch sie angeht, zu äußern und ihr eigenes Interesse zu formulieren. Die Europäische Union muss eine Ge- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meinschaft von Gleichen sein. Da kann es nicht Euro- DIE GRÜNEN – Albert Schmidt [Ingolstadt] päer erster und zweiter Klasse geben. Es muss heißen: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ein Als Schicksalsgemeinschaft stehen, beraten und handeln Küblböck der Politik! Küblböckisierung!) wir zusammen. Ich will zur Erregung der Kollegen von Rot-Grün sa- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Friedbert gen: Es ist schon ein trauriger Vorgang, wenn sich ein Pflüger [CDU/CSU]: Das lernt man schon in deutscher Bundeskanzler im Wahlkampf dazu hinreißen der Kinderstube!) lässt, alle politischen Prinzipien der Kanzler von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis in einer Es mag sein, dass die Beitrittsstaaten etwas in guter einzigen Rede zu zertrümmern und damit die Axt an die Erinnerung haben, was bei uns in Vergessenheit geraten Wurzeln der NATO und der Europäischen Union zu le- ist: dass nämlich die Neuordnung in Europa, die Über- gen. windung des Eisernen Vorhangs, die Niederringung der Diktatur und das Engagement, das die Vereinigten Staa- (Beifall bei der CDU/CSU) ten von Amerika in Europa zur Herstellung einer friedli- Mit ihrer „Ohne uns, egal was kommt“-Rhetorik hat chen und freiheitlichen Ordnung gezeigt haben, sehr die Bundesregierung die bisher größte Vertrauenskrise in wohl etwas miteinander zu tun haben. Ich füge hinzu: Es den transatlantischen Beziehungen hervorgerufen und wäre gut, wenn sich auch die deutsche Regierung an die- eine gemeinsame europäische Position verhindert. ses Handeln Amerikas für und in Europa erinnerte. (Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [FDP]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Darin liegt das Problem in der derzeitigen europa- und außenpolitischen Debatte. Die Schuld dafür liegt bei Das Referendum in Malta war ein erstes Signal dafür, Deutschland. Um der Gerechtigkeit willen möchte ich dass Europa von den Menschen in den Beitrittsländern 2350 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Peter Hintze (A) angenommen wird. Weitere Referenden stehen jetzt auf mierte Macht, die in der Lage ist, den Beschlüssen der (C) der Tagesordnung. Sie werden umso erfreulicher für uns Vereinten Nationen Geltung zu verschaffen. sein, je weniger wir das Vertrauen der Menschen in ein Ich will uns hier ganz ruhig sagen: Eine Demütigung solidarisches und faires Europa enttäuschen und je deut- der USA und ein Triumph des Diktators von Bagdad licher wir machen: Die Länder, die zu uns kommen, ver- würden die Welt erheblich gefährlicher machen, gerade stehen wir als einen Gewinn, als eine kulturelle und poli- für uns in Europa. tische Bereicherung. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, es seien im Grunde Störenfriede, die wir an (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Uwe unseren wichtigen Beratungen nicht beteiligen wollten. Benneter [SPD]: Richtig! Aber wer ist daran schuld? – [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie auch über das Werner Hoyer [FDP]) zweite Kapitel: Demütigung der Vereinten Na- Es scheint mittlerweile zum guten Ton zu gehören, tionen?) den Vereinigten Staaten von Amerika Unilateralismus Der hehre Wunsch nach einer multipolaren Welt führt und Hegemonialstreben vorzuwerfen und Europa gegen in die Irre. Mit ihm verkommt das Völkerrecht zu einer die USA auszuspielen. Dabei entsteht der fatale Ein- bloßen Hülle; denn es suggeriert eine politisch-morali- druck, dass nicht Saddam Hussein – er hat seine Nach- sche Gleichordnung von Demokratie und Diktatur und barstaaten überfallen und 17 UN-Resolutionen gebro- dass es egal sein kann, mit wem wir kooperieren, Haupt- chen –, sondern die Vereinigten Staaten das Problem sache, es sind Mächte. seien. Damit werden die Tatsachen auf den Kopf gestellt. Das ist nicht unsere Auffassung, meine Damen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herren; denn damit würden wir unser Schicksal letztlich neten der FDP) in die Hände von Unrechtsstaaten legen, für die das Völ- kerrecht immer nur ein taktisches Instrument ist. Freiheit Es waren die USA, die nach dem 11. September 2001 und Zivilisation dürfen nie zum Spielball von Unrechts- einen Primat der Diplomatie bewiesen und für eine inter- regimen werden. Wir würden einen schweren Fehler ma- nationale Koalition gegen den Terror gesorgt haben. Es chen, wenn wir es in der aktuellen Krise dahin trieben, waren die USA, die mit der UN-Resolution 1441 den dass etwa die Vereinigten Staaten von Amerika nicht Grundstein für eine wirksame Abrüstung des Irak gelegt mehr bereit wären, wie sie es auf dem Balkan, in Afgha- haben. Es sind die USA, die, zusammen mit Großbritan- nistan und mit Leib und Leben für uns in Europa waren, nien, für eine weitere UN-Resolution werben, um den für Freiheit und gegen Diktatur einzutreten. Diktator in Bagdad zur Kooperation zu zwingen und (B) eine sich möglicherweise als notwendig erweisende mi- (Beifall bei der CDU/CSU) (D) litärische Intervention völkerrechtlich zu legitimieren. Es wird Zeit, dass Deutschland seine Koordinaten Statt auf unsere Freunde zuzugehen und zusammen wieder richtig setzt und wir uns die Frage stellen: Wem mit den USA und Großbritannien einen politischen wollen wir uns anvertrauen, wenn es um elementare Ge- Kompromiss im Weltsicherheitsrat zu suchen, schmiedet fahren für die Zivilisation durch Terrorismus, Diktatur diese Bundesregierung Koalitionen mit Moskau und Pe- und Massenvernichtungswaffen geht? Diesen Gefahren king gegen unseren wichtigsten sicherheitspolitischen können Europa und Amerika nur gemeinsam begegnen. Partner Wenn wir da eine Stimme haben wollen, wenn wir das mitbestimmen und mitgestalten wollen, dann müssen wir (Zurufe von der SPD: Oh! – Kurt Bodewig für die Voraussetzungen sorgen. Das heißt, dass wir ers- [SPD]: Das ist vollkommen falsch! – Winfried tens in einer fairen Weise in Europa zu einer gemeinsa- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: men Haltung finden müssen – gegen diesen Grundsatz Unsinn!) ist verstoßen worden – und dass wir zweitens dafür sor- gen müssen, dass wir in der Lage sind, in einer Welt, die und belastet damit auch das Zusammenwirken in Europa sich geändert hat, in der es neue und gefährliche Bedro- auf erhebliche Weise. hungsszenarien gibt, zu handeln. Wir dürfen nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU) wirtschaftlich stark und ansonsten verletzlich sein, son- dern müssen auch die Fähigkeiten haben und schaffen, in Ich habe die Sorge, dass bei alldem der zivilisatori- Krisen der Welt mit einzugreifen und mitzuhelfen, damit sche Kern des Völkerrechts aus den Augen verloren diese Krisen nicht die Welt erfassen, sondern wir die wird. Die schrecklichen Erfahrungen aus zwei Weltkrie- Krisen bewältigen. gen mit zwei menschenverachtenden Diktaturen lehren uns: Eine friedliche Ordnung der Welt gelingt nur auf der Die Antwort muss eine weitere Integration sein. Hier Grundlage allgemein verbindlicher Normen. Sie funktio- ist der Verfassungskonvent aufgefordert, die Gemein- niert nur dann, wenn die internationale Gemeinschaft be- same Außen- und Sicherheitspolitik zu mehr zu machen reit und in der Lage ist, ihre Regeln durchzusetzen. als zu einem Nebeneinander von 15, 25 oder noch mehr nationalen Außen- und Sicherheitspolitiken. Es kommt Wem an einer Durchsetzung des Völkerrechts gelegen darauf auf, dass wir unsere Kräfte bündeln, dass wir bei- ist, der muss freilich wissen, dass die Völkergemein- spielsweise das Nebeneinander unserer Streitkräfte in schaft hierbei auf die Vereinigten Staaten von Amerika ein Miteinander führen – erster Schritt: europäische Ein- angewiesen ist. Sie sind die einzige demokratisch legiti- greiftruppe auch als Teil der NATO-Response-Force, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2351

Peter Hintze (A) zweiter Schritt: eine europäische Armee –, und dass wir Europapolitik. Ich hoffe, dass darüber Konsens in die- (C) unsere Soldaten, wenn wir sie mit diesem wichtigen sem Hause besteht. Auftrag in die Welt senden, auch mit einem Material Was drohte sonst? Wir hätten sonst Stillstand, ausstatten, das sie schützt, statt mit einem veralteten Ma- schlimmstenfalls den schleichenden Zerfall des europäi- terial, das sie gefährdet. schen Einigungswerks. Darüber, dass wir Letzteres nicht (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wollen, sind wir einer Meinung. Mit der Erweiterung NEN]: Sie haben keine Ahnung von der Aus- werden sich das Gesicht und die Chancen Europas stattung der Einsatzkräfte!) grundlegend verändern. Mit Energie und Beharrlichkeit muss jetzt die Vertiefung der Europäischen Union voran- Deswegen lautet unser Appell an die Bundesregierung: gebracht werden. Es besteht die Fürsorgepflicht, dass diejenigen, die für Recht und Freiheit eintreten, auch vernünftig ausgerüstet Wer bei der Erweiterung aufs Gas drückt, aber bei der werden. Vertiefung gleichzeitig die Handbremse zieht, bringt die Europäische Union auf einen ganz gefährlichen Schleu- (Beifall bei der CDU/CSU) derkurs. Europa ist nicht in bester Verfassung, aber ich habe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Hoffnung, dass wir mithilfe des Konvents eine gute des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Verfassung bekommen, die die Dinge zum Besseren wendet. Es ist jedenfalls aller Anstrengungen wert, Eu- Damit es nicht zu einem gesamteuropäischen Schleuder- ropa transparenter, effizienter und demokratischer zu trauma kommt, muss der europäische Konvent eine gestalten. Ich danke den deutschen Mitgliedern des mutige Verfassung für die Europäische Union erarbeiten, Konvents dafür – sie kommen aus dem Europäischen die vor allem den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Parlament, dem Bundestag und der Regierung –, dass sie Bürger gerecht wird. Weder mit einem Verfassungspla- daran arbeiten, eine solche Verfassung zu entwickeln, cebo noch mit einer Mogelpackung werden wir die die diesen Namen auch verdient. Europa kann jedenfalls Herausforderungen der Zukunft meistern können. stolz darauf sein. Ich werde jetzt ein Bild erwähnen, das zumindest der Ich freue mich für meine Fraktion, dass Peter Außenminister bestens kennt: den Marathonlauf. Die Ar- Altmaier, der in Brüssel im Konvent zusammen mit sei- beiten des europäischen Konvents ähneln nämlich einem nen Kollegen eine erstklassige Arbeit leistet, gleich un- Marathonlauf. Nach einer umfangreichen Warmlauf- sere Position im Einzelnen skizziert. phase geht man das Rennen behutsam an, teilt sich seine Kräfte gut ein, verpasst keine der Verpflegungspausen, (B) (Beifall bei der CDU/CSU) weil sonst ein Hungerast droht, beobachtet genau den (D) Zustand der Mitläufer und hebt sich Reserven für einen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: langen Schlussspurt auf. Wir sind jetzt im letzten Drittel des Verfassungsmarathons und dürfen uns keine Schwä- Herr Kollege Hintze, kommen Sie bitte zum Schluss. chen erlauben. Es gibt zwei Gestaltungsprinzipien, die für uns im Peter Hintze (CDU/CSU): Mittelpunkt der Debatte stehen: Handlungsfähigkeit ei- Herr Präsident, ich komme zum Schluss meiner Rede. nerseits und Demokratie andererseits. Die Konvents- methode zur Ausarbeitung der europäischen Verfassung Europapolitisch sollten wir bei der Erarbeitung der ist für sich genommen schon ein gewaltiger Schritt hin Verfassung und in unserem konkreten Tun alles daran- zu mehr Demokratie in Europa. Verfassung bedeutet im- setzen, unsere Handlungsfähigkeit zu erweitern und das mer mehr Sicherheit, mehr Stabilität und mehr Frieden. Leben sowie das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Sie bedeutet auch die friedliche Austragung von Kon- Wohlergehen der Bürger Europas zu bewahren. flikten. Ich danke Ihnen. Vielleicht ist der furchtbare Mord an Zoran Djindjic (Beifall bei der CDU/CSU) für uns alle ein Fanal, das uns ermutigen sollte, noch schneller und engagierter diesen europäischen Verfas- sungsprozess voranzutreiben, der hoffentlich in absehba- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rer Zeit die Teilstaaten der ehemaligen Bundesrepublik Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth von der Jugoslawien umfassen wird, denn auch ihnen muss eine SPD-Fraktion. europäische Perspektive gegeben werden. Auch das ist eine Botschaft, die von diesem fürchterlichen Attentat ausgehen muss. Darin stimme ich dem Kollegen Hintze Michael Roth (Heringen) (SPD): voll zu. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten würde gern mit Ihnen über die Chancen Europas und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) darüber sprechen, wie wir Europa gemeinsam voranbrin- gen können; denn die Erweiterung der EU muss jetzt Erstmals wirken Parlamentarier aktiv und unmittel- durch eine substanzielle Vertiefung der Integration flan- bar an der europäischen Verfassungsgebung mit. End- kiert werden. Das war und ist eine Grundregel deutscher lich! Diese Reformmethode hat bislang gut funktioniert 2352 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Michael Roth (Heringen) (A) und zu ermutigenden Zwischenergebnissen geführt. Un- mit der transatlantischen Tradition verbinden können. (C) seren Konventsmitgliedern, Herrn Meyer, dem Außen- Aber Ihre Plattitüden und Ihre larmoyante Kritik zeigen minister, Martin Bury als seinem Stellvertreter und auch überhaupt keine Alternativen zu dem schwierigen Weg dem Kollegen Altmaier, möchte ich herzlich danken. Sie auf, den die Bundesregierung und auch wir beschreiten. alle setzen sich für dieses herausragende Projekt ein, für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das wir im Deutschen Bundestag so lange gearbeitet und DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ für das wir so lange gestritten haben. CSU) Diese Konventsmethode muss in der europäischen Ich sehe keine substanzielle Alternative und keinen Fort- Verfassung verankert werden. Die kommende Regie- schritt in dem, was Sie, Herr Hintze, eben zum Ausdruck rungskonferenz, die in diesem Jahr hoffentlich ihre Ar- gebracht haben. beit abschließen kann, muss die letzte ihrer Art sein. Die Ergebnisse des Konvents dürfen im Nachhinein nicht (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Bisher ha- verwässert werden. ben Sie doch sachlich geredet, Herr Kollege! Was soll das jetzt?) Wer es mit dem Begriff von der Union der Bürgerin- nen und Bürger in Europa ernst meint, der kommt an ei- Wer in dieser Frage bremst, der verurteilt die EU zum ner weiteren Stärkung des Europäischen Parlamentes Stillstand. In einer Europäischen Union der Größe 25 – der Bürgerkammer, wie wir es fortschrittlich nennen – plus x gibt es entweder Mehrheitsentscheidungen im Rat nicht vorbei. Wir fordern eine umfassende und gleichbe- oder es gibt gar keine Entscheidungen. rechtigte Mitentscheidung des Europäischen Parlaments Wer Europa demokratischer und handlungsfähiger in allen Feldern der Gesetzgebung. machen will, der braucht keinen gewählten Präsidenten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Europäischen Rates. Wir bejahen zwar eine bessere DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sichtbarkeit Europas in der internationalen Politik. Wir FDP und des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU]) sagen gleichwohl Nein zum Oberkommando der großen Mitgliedstaaten über die Gemeinschaftsinstitutionen. Ein ebenso wichtiger Schritt zu mehr Demokratie und Eine Vorsitzlösung für den Europäischen Rat ist nur parlamentarischer Verantwortlichkeit in Europa ist die dann akzeptabel, wenn sie wirklich gemeinschaftstaug- Wahl des künftigen Präsidenten der EU-Kommission lich ist. Ich bin froh, dass auch die Bundesregierung in durch das Europäische Parlament. Den Bürgerinnen und diesem Sinne denkt und handelt. Bürgern muss klar sein, warum es sich lohnt, für Europa zur Wahl zu gehen. Unterschiedliche Spitzenkandidaten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der europäischen Parteien, die unterschiedliche politi- DIE GRÜNEN) (B) (D) sche Ziele verfolgen, machen deutlich, dass es in Europa Wer die jüngsten Entwicklungen im und um den Kon- – auch da gibt es noch eine Menge zu tun – eben auch vent beobachtet, der wird das Gefühl nicht los, dass um einen Wettbewerb der Ideen und der Personen geht. einige Akteure massiv versuchen, den europäischen Ver- Das macht aber nur dann Sinn, wenn das Europäische fassungsprozess zu schwächen. Die Diskussion über Parlament anschließend den Kommissionspräsidenten Zeitpläne, Ratifizierungserfordernisse und die Beteili- mit der so genannten Kanzlermehrheit wählt. Das Erfor- gung bestimmter Akteure sind durchsichtige Manöver. dernis einer Zweidrittelmehrheit wäre ein Affront gegen Sie dienen nur einem einzigen Zweck: die Reform- Europas Wählerinnen und Wähler. schritte möglichst kurz ausfallen zu lassen. Wir dürfen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das nicht hinnehmen. Wir werden das – das ist überein- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der stimmende Auffassung – sicherlich nicht hinnehmen; CDU/CSU) denn wer jetzt das Ziel der Vertiefung Europas hinter- treibt, setzt mehr als nur die Erweiterung aufs Spiel. Er Neben der Demokratie müssen wir zugleich die gefährdet den Integrationsprozess insgesamt. Handlungsfähigkeit nachhaltig stärken; denn eine er- weiterte EU wird mit den Mechanismen von heute sonst Was wäre denn die Alternative zu einer zukunftsge- zum gelähmten Bürokratiemoloch. Die Rezepte sind uns wandten Verfassung? Etwa ein Regelwerk, das den Sta- allen längst bekannt: die Durchsetzung des Mehrheits- tus quo zementiert? Das würde Europa in eine tiefe Krise prinzips bei den Entscheidungen der EU-Mitgliedstaaten führen und könnte dazu führen, dass einige integrations- im Rat in grundsätzlich allen Bereichen, auch in der Jus- willige Mitgliedstaaten voranschreiten, um politisch das tiz- und Innenpolitik und eben auch in der Außen- und durchzusetzen, was in der Union als Ganzes nicht mehr Sicherheitspolitik. Ohne Mehrheitsprinzip in der Außen- möglich ist. Das wollen wir nicht. Wir wollen ein Eu- und Sicherheitspolitik wird es so sein, dass am Ende der- ropa, das zusammenhält, ein Europa der Solidarität, das jenige „Mister Europe“ angerufen wird, der durch sein auf die Herausforderungen der Globalisierung demokra- Veto die Entscheidungen der EU lahm legen kann. So tische und sozial gerechte Antworten findet. Wir wollen einfach und zugleich so schwierig ist das. ein Europa, das in der internationalen Politik und im transatlantischen Dialog eine aktiv gestaltende Rolle Aber wo sind die Konzepte seitens der Union? Ich muss spielt. Richtig ist zwar, dass wir letztlich niemanden Sie fragen: Wo ist Deutschland in der Außenpolitik iso- zwingen können, diesen Weg mit uns zu beschreiten. liert? Die gegenwärtige Situation wurde schon geschildert. Aber es ist scheinheilig, so zu tun, als könne eine erwei- Wir alle tun uns nicht leicht mit der Frage, wie wir den Pro- terte Europäische Union ohne weitere substanzielle Inte- zess der Herausbildung einer europäischen Außenpolitik grationsfortschritte funktionsfähig bleiben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2353

Michael Roth (Heringen) (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eine Bemer- neut bekräftigt. Es hat gleichsam den Auftrag, in diesem (C) kung in eigener Sache: Die voranschreitende europäi- Prozess weiter voranzugehen, noch einmal formuliert. sche Integration und der Verfassungsprozess gehen auch an uns Abgeordneten nationaler Parlamente nicht spur- (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei los vorüber. Europapolitik ist schon heute ein integraler Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Bestandteil der Innenpolitik. Die Denk- und Handlungs- GRÜNEN) muster der klassischen Außenpolitik lassen sich einfach Europa befindet sich an der entscheidenden Weg- nicht auf die europäische Politik übertragen. Dieser Tat- kreuzung. Die europäische Verfassung, eine von der sache müssen sich die nationalen Parlamente, also auch FDP schon lange Jahre gehegte Vision, die von vielen der Deutsche Bundestag, noch stärker bewusst werden. noch während der Ausarbeitung der Europäischen Im parlamentarischen Handeln muss dieser Entwicklung Grundrechte-Charta als Utopie abgetan wurde, könnte Rechnung getragen werden. Es ist wichtig, dass der schon bald Realität sein, wenn der Konvent seinen ehr- Deutsche Bundestag schon jetzt beginnt, sich mit den geizigen Zeitplan einhält und bald Entwürfe für alle Ar- möglichen Ergebnissen des europäischen Verfassungs- tikel der Verfassung vorlegt, wenn nicht allen an die- prozesses aktiv auseinander zu setzen. Wir Parlamen- sem Prozess Beteiligten der Atem ausgeht – Herr Roth, tarier müssen europatauglich sein und Europa in den beim Marathon braucht man bekanntlich besondere Mittelpunkt unserer Arbeit rücken. Das betrifft alle Poli- Techniken –, wenn die tiefen Zerwürfnisse zwischen ei- tikfelder: Innen-, Justiz-, Umwelt- oder auch Verbrau- nigen Mitgliedstaaten überwunden werden und wenn cherschutzpolitik. die Gefahr gebannt wird, dass große und kleine Mit- Deswegen haben wir als Koalitionsfraktionen einen gliedstaaten gegeneinander ausgespielt werden. Man- sehr weit reichenden Antrag präsentiert, mit dem wir che nennen die künftige Verfassung ja schon heute in ei- zum Ausdruck bringen wollen, dass der Deutsche Bun- nem Atemzug mit der amerikanischen Verfassung von destag diesen Prozess nicht nur als Beobachter begleitet, Philadelphia aus dem Jahre 1787. Aber das ist wirklich sondern auch konkrete Vorschläge unterbreitet, wie der Zukunftsmusik. Konventsprozess zu einem erfolgreichen Abschluss ge- Heute müssen wir uns auf die gegenwärtigen Heraus- bracht werden kann. Wenn wir, liebe Kolleginnen und forderungen konzentrieren. Dazu muss ich ganz klar sa- Kollegen, das Europäische Parlament nachhaltig stärken gen: Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate und und unsere parlamentarischen Mitwirkungsrechte auf ihre möglichen Auswirkungen auf den Verfassungspro- nationaler Ebene effektiv nutzen, dann wird Demokratie zess im Konvent bereiten uns als FDP-Bundestagsfrak- in Europa künftig mit einem großen D geschrieben. tion große Sorgen.

(B) Vielen Dank. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wohl wahr!) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Ringen um den erfolgreichen Weg zur Abrüstung DIE GRÜNEN) des Irak hat tiefe Gräben in der heutigen und der erwei- terten EU entstehen lassen oder aufgedeckt. Auch die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bundesregierung trägt mit ihrer falschen Frühfestlegung dafür Verantwortung. Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Genauso gilt das für die nicht zuerst in der EU abgespro- chene deutsch-französische Initiative. In diesem Zusam- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- menhang ist auch der Brief der Acht zu nennen – ein ein- nen und Kollegen! Wir diskutieren heute zwei Prozesse, maliger Vorgang, der durch schwere diplomatische und deren Erfolg oder Misserfolg über die Zukunft Europas handwerkliche Mängel zu einer in dieser Form bisher entscheiden wird: die Osterweiterung, für die auf dem nicht gekannten Konfrontation in der Europäischen Europäischen Gipfel von Kopenhagen endgültig grünes Union geführt hat. Auch der dann endlich auf dem Son- Licht gegeben worden ist, und das Projekt der europäi- dergipfel am 27. Februar gefundene Minimalkonsens hat schen Verfassung. Beide gehören untrennbar zusammen. diese Kluft bis heute nicht schließen können. Ohne eine gelungene Reform der EU-Strukturen mit den Zielen mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, verbürgte Diese Zerwürfnisse, vielleicht ein Teil Missverständ- Grundrechte und Handlungsfähigkeit wird das erweiterte nisse, können die Arbeiten des Konvents nicht nur be- Europa nicht als politisches Europa bestehen können. hindern; sie können das ganze Projekt der europäischen Verfassung gefährden. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter Hintze [CDU/CSU]) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Leider wahr! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Jetzt über- Der feige Mord an Serbiens Premier Djindjic zeigt treiben Sie!) uns auf, wie notwendig die demokratische, wirtschaftli- che und rechtsstaatliche Stärkung der ost- und südosteu- Dann würde dieses aus unserer Sicht notwendige Projekt ropäischen Staaten ist. Die politische Entscheidung für vielleicht in einer Reihe mit der hervorragenden Pauls- die Osterweiterung der EU – sie war in den vergangenen kirchen-Verfassung stehen, die leider nie die Wirkung Jahren heftig umstritten – wird durch dieses Attentat er- entfaltet hat, die man eigentlich von ihr erwartet hat. 2354 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Das ist keine Schwarzmalerei. Ursprünglich war im Wir sehen schon bei den jetzigen Beratungen im Kon- (C) Konvent zum Beispiel vorgesehen, Ende dieses Monats vent, dass dieses Kompromissmodell, auf das Sie, Herr über die verfassungsrechtliche Ausgestaltung einer ge- Außenminister, sich eingelassen haben – so habe ich das meinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik immer verstanden –, in dieser Form keinen Erfolg haben zu beraten. Das Präsidium des Konvents musste diese wird. Es gibt nicht wenige Vertreter im Konvent und Beratung und die Vorlage von Textentwürfen um meh- auch nicht wenige Mitgliedstaaten, die die Wahl des rere Wochen auf April oder Mai vertagen, um nicht das Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parla- Risiko einzugehen, im Konvent den Streit zwischen den ment nicht wollen. Das würde bedeuten, dass wir zwar Regierungsvertretern sofort neu zu entfachen. Die offen- einen gestärkten Ratsvorsitz bzw. Ratspräsidenten hät- sichtliche Diskrepanz zwischen schönen Verfahrensrege- ten, dass aber das Europäische Parlament, das ursprüng- lungen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli- lich den Kommissionspräsidenten wählen sollte, nicht tik auf dem Papier und der Realität würde die Arbeiten gestärkt würde. Deshalb ist dieses Modell aus unserer des Konvents gegenwärtig unglaubwürdig erscheinen Sicht nicht die richtige Weichenstellung. lassen. Da meine Redezeit vorbei ist, Herr Präsident, Es sind allerdings nicht nur die außenpolitischen Er- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Schade!) eignisse, die den Erfolg der Arbeit des Konvents gefähr- den. Man muss auch der Tatsache ins Auge sehen, dass noch ein Wort zur so genannten Doppelhutlösung. Der die wesentlichen Fragen, insbesondere die institutionel- Schaffung eines europäischen Außenministers stimmen len und damit die Machtfragen, bisher noch ungeklärt wir zu. sind und dass es angesichts der Vielzahl völlig gegenläu- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wir wollen figer Interessen und Vorstellungen ungewiss ist, ob die eine Ministerin!) Delegierten hierüber Einigkeit erzielen werden. Aber in der Ausprägung, die jetzt vorgeschlagen worden Die FDP-Bundestagsfraktion hat ihre Vorstellungen ist, kann und darf dies nur eine Übergangsregelung sein. von einem verfassten Europa mit ihrem Antrag zu den Denn die Gefahr, dass diese Persönlichkeit zwischen Rat Kernelementen einer europäischen Verfassung zur heuti- und Kommission zerrieben wird, ist schon jetzt festge- gen Sitzung vorgelegt; denn der Deutsche Bundestag schrieben. Deshalb sollte hier allenfalls eine Übergangs- muss sich jetzt mit schriftlich formulierten Vorschlägen regelung geschaffen werden. einbringen, die dann auch zu einem Auftrag und zu einer Stärkung der deutschen Vertretung im Konvent führen. Der Verfassungsprozess sollte sich zwar an den vor- gegebenen Zeitplan halten. Wichtiger ist mir aber eine Lassen Sie mich auf zwei Punkte eingehen; meine gut ausgearbeitete Verfassung, die am Ende dieses Jahres (B) Kollegin Frau Dr. Winterstein wird noch konkret auf un- (D) auf einer Regierungskonferenz vorliegt, als Beratungen seren Antrag zu sprechen kommen. Es geht – das ist für im Konvent, die keine Änderungsanträge berücksichti- uns wichtig – um das neue Gesicht Europas, also die po- gen und die Bürgerinnen und Bürger nicht einbeziehen. litisch-demokratisch legitimierte Vertretung Europas nach außen, und die außenpolitische Repräsentanz der Vielen Dank. Europäischen Union. Bei diesen beiden Themen gilt es, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Weichen dafür zu stellen, ob Europa auch in Zukunft der SPD und der CDU/CSU) den Integrationskurs der vergangenen Jahre verfolgen wird oder ob letztlich doch der intergouvernementale Ansatz noch mehr an Boden gewinnt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für uns – das sagen wir ganz klar – steht die Stärkung Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann vom der Position des Kommissionspräsidenten – die Kom- Bündnis 90/Die Grünen. mission ist ja das Integrationsorgan der Europäischen Union – im Mittelpunkt. Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! der CDU/CSU) Liebe Europäerinnen und Europäer! Man könnte fast meinen, dass in Europa ein Gespenst umgeht: das Ge- Das wird natürlich von vielen unterstützt. Das ist auch spenst einer europäischen Verfassung. Element der deutsch-französischen Initiative. Aber die birgt mit der Doppelspitze, die Sie, Herr Roth, in dieser (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ich dachte: Form auch kritisiert haben, sehr wohl Gefahren in sich, !) zum Beispiel die, dass der Ratspräsident oder wie auch Auch wenn die Mächte des alten Europas noch zaudern: In immer Sie ihn nennen mögen, der vom Rat gewählt ist, wenigen Monaten werden die europäischen Bürgerinnen die Position des Kommissionspräsidenten schwächt, und Bürger ihre europäische Verfassung in der Hand halten. dass gar nicht klar ist, in welchem Verhältnis sie zuei- nander stehen, wer für Europa nach außen spricht und es Mit diesem alten Europa meine ich nicht das alte Eu- insgesamt nach außen repräsentiert. Das wird durch eine ropa des Herrn Rumsfeld, sondern das alte Europa, das Doppelspitze eher verwässert denn gestärkt. Deshalb sich primär durch nationale Interessen definiert. wollen wir diesen Weg nicht. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das neue (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Europa von Herrn Fischer!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2355

Anna Lührmann (A) Ich meine das alte Europa, das hinter verschlossenen Tü- trieben, die für die Zukunft meiner Generation extrem (C) ren Entscheidungen trifft, das alte Europa, in dem das wichtig sind, so zum Beispiel das Kioto-Protokoll oder Europäische Parlament oft nichts zu sagen hat. den Internationalen Strafgerichtshof. Das neue Europa hingegen, an dem im europäischen Vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Konvent gerade gearbeitet wird, steht für Demokratie, 21. Jahrhunderts liegen noch viele wichtige Aufgaben Handlungsfähigkeit und Transparenz. vor dem neuen Europa: Es geht um nichts Geringeres als um die gerechte Gestaltung der Globalisierung in allen (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist Teilen der Welt. Es geht um eine Weltinnenpolitik, die Fischers Europa!) Kriege verhindert, bevor sie beginnen. Es geht um den Die europäische Verfassung wird das Fundament für die- Zugang zu Wasser für alle und das ist noch längst nicht ses neue Europa legen, von dem alle profitieren werden. alles. Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns drama- Genau diese Ziele Frieden, Demokratie, Solidarität tisch verdeutlicht, warum die EU so dringend eine und Umweltschutz sind typisch europäisch. Nur wenn europäische Verfassung braucht. Denn wie in einem Europa an einem Strang zieht, werden wir eine Chance Worst-Case-Scenario mussten wir miterleben, wie un- haben, diese Ziele auch weltweit zu verwirklichen. Da- einig Europa ohne effiziente Entscheidungsverfahren und für müssen diese Ziele jetzt in der Verfassung festge- ohne eine einheitliche Vertretung nach außen sein kann. schrieben werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und bei der SPD) CDU/CSU) Auch die innere Organisation der EU muss drin- Das alte Europa hat sich also, als es brenzlig wurde, als gend reformiert werden. Wir brauchen demokratischere handlungsunfähig erwiesen. und effizientere Institutionen in Europa. Nur dadurch werden wir zu einer wirklich zukunftsfähigen Politik in Herr Hintze, wenn ich mich recht entsinne, dann ha- der EU kommen. Im neuen Europa muss das Europäi- ben auch die CDU/CSU-Europapolitiker schon lange da- sche Parlament in allen Bereichen der Gesetzgebung mit- vor gewarnt, dass die EU-Institutionen nicht für eine sol- entscheiden können, damit die Europawahlen endlich zu che Krise ausgelegt sind. Da hilft kein Polemisieren einer tatsächlich demokratischen Abstimmung über eu- Ihrerseits gegenüber der Bundesregierung. Da helfen nur ropäische Politik werden. Deshalb soll das Parlament konstruktive Vorschläge im Verfassungskonvent. den Präsidenten der Europäischen Kommission wählen – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder die Präsidentin. (B) (D) und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger (CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU): Das haben wir doch gemacht! Einen sowie bei Abgeordneten der SPD und der konstruktiven Vorschlag nach dem anderen! – FDP) Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Außer uns macht keiner konstruktive Vorschläge!) Eine EU der 25 wird nicht in der Lage sein, schnell auf neue Herausforderungen zu reagieren, wenn weiter- Der Konvent kann zwei Grundvoraussetzungen dafür hin in vielen Bereichen einzelne Staaten aufgrund natio- schaffen, dass Europa wieder weltweit mit einer Stimme naler Interessen Entscheidungen blockieren können. sprechen kann: Erstens brauchen wir einen europäi- Denn schon jetzt gibt es große Probleme durch das Veto- schen Außenminister als Impulsgeber. Zweitens brau- recht. In vielen Politikbereichen werden zukunftswei- chen wir im Rat im Bereich der Gemeinsamen Außen- sende Projekte nicht angepackt, weil auf die nationalen und Sicherheitspolitik endlich qualifizierte Mehrheits- Interessen einzelner Staaten Rücksicht genommen wer- entscheidungen. Diese beiden Vorschläge haben dank den muss. So gibt die EU immer noch die Hälfte ihres der Initiative der Bundesregierung gemeinsam mit Geldes für eine verfehlte Agrarpolitik aus oder eines der Frankreich gute Chancen, im Konvent angenommen zu reichsten Länder der EU erstreitet sich immer wieder ei- werden. nen Rabatt bei den Beitragszahlungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das absurdeste Beispiel jedoch betrifft den Tabakan- und bei der SPD) bau: Auf der einen Seite subventioniert die EU den An- Die momentane Vielstimmigkeit sollte für uns Euro- bau von Tabak und auf der anderen Seite will sie gleich- päerinnen und Europäer also kein Grund zur Resignation zeitig die Tabakwerbung verbieten. Deshalb brauchen sein. Denn gerade wenn die Nacht am dunkelsten ist, ist wir dringend die Abschaffung des Einstimmigkeitsprin- der Morgen am nächsten. zips im Rat. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wir hier im Bundestag – und besonders auch unsere SPD) Vertreter im Konvent – sollten sich in den nächsten Wo- In den letzten Jahren konnten wir schon häufiger er- chen und Monaten dafür einsetzen, dass wir eine zu- leben, wie hell der europäische Stern am Nachthimmel kunftsfähige Verfassung schaffen, eine Verfassung, die erstrahlen kann. Schon das alte Europa hat in den ver- Europa international handlungsfähig macht, eine Verfas- gangenen Jahren viele internationale Projekte vorange- sung, die Europa auf ein demokratisches Fundament 2356 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Anna Lührmann (A) stellt, eine Verfassung für eine Europäische Union der konzentriert, die demokratisch legitimiert und kontrol- (C) Bürgerinnen und Bürger, also eine Verfassung für ein liert ist. neues Europa. Wenn wir die Probleme der Bürgerinnen und Bürger, Vielen Dank. die es in Europa auch nach 40 Jahren Integration gibt, ernst nehmen und lösen wollen, dann ist nicht entschei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dend, ob wir in der Theorie einen Staatenbund oder ei- und bei der SPD) nen Bundesstaat haben, dann kommt es darauf an, wie wir Europa so konstruieren, dass es handeln kann. Dann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: können beispielsweise Probleme nicht mit dem alten Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Altmaier von der Einstimmigkeitsprinzip nach dem Modell der deutschen CDU/CSU-Fraktion. Kultusministerkonferenz gelöst werden. Das wird in ei- ner Europäischen Union mit 25 Mitgliedstaaten nicht funktionieren. Peter Altmaier (CDU/CSU): (Zuruf von der SPD: D’accord!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Notwendigkeit der Reform der europäischen Außen-, Meine Damen und Herren, wir müssen auch über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind wir uns alle Frage sprechen, wer für welche Probleme in Zukunft zu- in diesem Hause einig. Herr Bundesaußenminister, was ständig sein soll. Nicht jedes Problem in Europa ist auch in der deutsch-französischen Initiative zu diesem Thema ein Problem für Europa. Wenn eine staatliche Ebene al- gesagt worden ist, wird doch von uns allen unterschrie- les machen will, wird sie in Wirklichkeit nichts mehr ben und mitgetragen: im Konvent, im Deutschen Bun- richtig machen. Das ist die Begründung für die Debatte destag und überall. Aber Sie, sehr geehrter Herr Bundes- über Kompetenzabgrenzung und Kompetenzkontrolle. außenminister, sollten dann wenigstens ab und an den Wir wollen Prinzipien definieren. Wir wollen auch die Versuch unternehmen, sich auch in der Praxis an Ihre ei- Rolle der nationalen Parlamente stärken. Dabei wollen genen hehren Prinzipien zu halten. wir keine neuen Institutionen und keine neuen Gremien, aber wir wollen beispielsweise für den Deutschen Bun- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Das wäre eine gute destag und für den deutschen Bundesrat das Recht, die Idee!) Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips notfalls auch Es war doch gerade die deutsche Bundesregierung, gerichtlich vor dem Europäischen Gerichtshof in Lu- die mit ihrem Alleingang, mit ihrem deutschen Sonder- xemburg zu kontrollieren und durchzusetzen. weg verhindert hat, dass Javier Solana auch nur die Spur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) (D) einer Chance hatte, eine gemeinsame europäische Posi- neten der FDP) tion zu formulieren, Ich begrüße es ausdrücklich, Herr Bundesaußenmi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nister, dass auch Sie, dass die Bundesregierung diese neten der FDP – Widerspruch bei der SPD) Forderung wenigstens im Antrag für den Konvent unter- denn Schröder hat auf der einen Seite hü geschrien und stützt hat, auch wenn wir in der täglichen Debatte im Blair hat auf der anderen Seite hott gerufen. Inzwischen Konvent nicht den Eindruck hatten, dass diese Probleme ist das Pferd tot und alle beklagen die Situation. Ihnen besonders auf den Nägeln brennen. Ganz ähnlich ist es doch bei der Frage, wie Europa in (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! – Was er Zukunft im Innern organisiert sein soll. Ich habe nicht gesagt hat, ist zu wenig!) gesehen, dass sich der Bundeskanzler in irgendeiner Meine Damen und Herren, nach dem blamablen Weise für die Debatte interessiert, wer in Europa was Scheitern der Regierungskonferenz von Nizza, wo sich machen soll. nicht Europa blamiert hat, sondern wo sich die nationa- len Regierungen, die ihre eigenen kleinlichen Interessen (Günter Gloser [SPD]: Das ist doch völlig zu Tode geritten haben, falsch!) (Peter Hintze [CDU/CSU]: Unsere an erster Er hat offenbar kein Problem damit, dass Europa in Zu- Stelle!) kunft für alles und jedes zuständig ist. Nur, wenn Europa dann handelt – Beispiele sind VW und die Wettbewerbs- blamiert haben, kann man heute bereits sagen: Der Kon- politik –, ist der Bundeskanzler der erste, der die Europä- vent ist ein Erfolg. ische Kommission vors Schienbein tritt und die europäi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sche Integration infrage stellt. Genau diesen Zustand der FDP) können wir uns in Europa nicht leisten. Wir haben in diesem einen Jahr mehr erreicht als alle an- (Beifall bei der CDU/CSU) deren Initiativen in den letzten fünf Jahren gemeinsam. Meine Damen und Herren, wir brauchen – das muss (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Und das Ergebnis des Konvents sein – nicht irgendeine Ver- wer hat den Konvent erfunden?) fassung. Wir brauchen nicht irgendwelche Kompromiss- lösungen. Wir brauchen eine starke und entscheidungs- Und das hat einen Grund. Der erste Grund liegt in der fähige Europäische Union, die sich auf Kernaufgaben Öffentlichkeit der Sitzungen. Die Öffentlichkeit der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2357

Peter Altmaier (A) Sitzungen und damit die Überwachung durch die Presse EU-Kommission eine Parallelbürokratie beim Europäi- (C) und durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger be- schen Rat entstehen würde, dann hätten wir etwas falsch grenzt die Möglichkeit für nationale Regierungen, offen- gemacht und hätten die Erwartungen der Bürger nicht er- sichtlichen Unsinn zu machen. Deshalb haben wir bislang füllt, sondern enttäuscht. nicht erlebt, dass nationale Regierungen im Konvent mit Vetorecht, mit Blockade oder mit offensichtlich unbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gründeten und nicht durchsetzbaren Vorschlägen hervor- der FDP) getreten sind. Darin liegt eine große Chance für den Der zweite Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Konvent, zu einem Ergebnis zu kommen. Selbstverständlichkeit, als die wir die Demokratie in un- Zweitens. Wir machen in diesem Konvent ja gerade seren Mitgliedsstaaten empfinden, endlich auch auf die keine Politik, bei der jeder national seine Erbsen zählt europäische Ebene übertragen wird. Bis zu 70 Prozent und das ganze Projekt in Frage stellt, wenn er nicht alle all unserer Gesetze kommen aus Brüssel. Es werden in Erbsen bekommt, die er haben möchte. Nein, wir disku- Brüssel Entscheidungen gefällt, die die Bürger unmittel- tieren in diesem Konvent nach politischen Richtungen, bar betreffen, nicht nur die Landwirte, sondern auch Stu- nach unterschiedlichen Konzepten und Vorstellungen. In denten und mittelständische Unternehmer. Wir müssen dieser Diskussion ist der lettische Delegierte, der eine dafür sorgen, dass dieses Europa mindestens so demo- gute Idee hat, genauso viel wert wie der Delegierte aus kratisch organisiert wird wie die Willensbildung in Frankreich oder Deutschland, der eine gute Idee hat. Das Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und je- ist das Modell, nach dem wir Europa in Zukunft organisie- dem anderen europäischen Land. ren müssen, und eben nicht nach nationalen Partikularin- Es gibt allerdings noch einen großen Unterschied. teressen. Dann wären wir als Bundesrepublik Deutsch- Dieser Punkt ist wichtig; ich möchte ihn für all diejeni- land mit unserer europäischen Zentrallage und mit gen ansprechen, die uns zuhören, weil er etwas mit der unserem Interesse an funktionierender Integration immer Europamüdigkeit und Europaverdrossenheit zu tun hat. und automatisch die Verlierer. Wenn Sie als Bürger eines Mitgliedsstaates mit Ihrer Re- Deshalb unterstreiche ich auch das, was die Vorredner gierung und den Entscheidungen, die sie trifft, unzufrie- gesagt haben. Wir müssen das Konventmodell auf Eu- den sind, dann haben Sie alle vier oder fünf Jahre die ropa übertragen. Wir brauchen öffentliche Ratssitzun- Möglichkeit, Ihre Regierung zu wählen bzw. abzuwäh- gen, wenn über europäische Gesetze entschieden wird. len. Sie haben die Möglichkeit, der Regierung einen Wir brauchen schlanke Strukturen. Wir brauchen einen Denkzettel zu geben. Sie können bei Bundestags- oder vernünftigen Interessenausgleich zwischen Groß und Landtagswahlen über politische Konzepte entscheiden. Klein. Weder dürfen die Großen die Kleinen noch dürfen Sie können als Bürger mit entscheiden, welche Politik in (B) (D) die Kleinen die Großen dominieren. Deshalb, Herr Bun- den nächsten vier oder fünf Jahren gemacht wird. desaußenminister, sorgen Sie bitte dafür, dass dieses Diese Möglichkeit hat der Bürger auf europäischer unselige Gerede über ein Direktorium von großen Ebene nicht. Es ist nicht erkennbar, welchen Einfluss Mitgliedstaaten, über den Europäischen Rat als die und welche Auswirkungen die Wahl zum Europäischen Entscheidungszentrale in der Europäischen Union, Parlament auf die Politik hat, die in Europa gemacht das es in der Anfangszeit des Konvents gegeben hat, be- wird. Deshalb müssen wir dieses Prinzip aus den Mit- endet wird. Ich weiß, Sie denken anders darüber. Wir gliedsstaaten auf Europa übertragen. Die Bürger müssen müssen es nur im Konvent mehrheitsfähig machen und die Möglichkeit haben, mit der Wahl zum Europäi- durchsetzen. schen Parlament auch über ihre Exekutive zu entschei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den. Deshalb, Herr Bundesaußenminister: Egal, was wir mit unseren französischen Freunden hinsichtlich der Meine Damen und Herren, die Debatte über die Insti- Frage des Kommissions- und des Ratspräsidenten ver- tutionen mündet immer wieder in folgende Fragen: einbaren, egal, ob es noch Kompromissmöglichkeiten Brauchen wir einen oder zwei europäische Präsidenten? gibt, an die niemand von uns denkt, wir müssen errei- Brauchen wir einen Doppelhut? Brauchen wir eine Dop- chen, dass der Ausgang der Wahlen zum Europäischen pelspitze? Brauchen wir eine Pyramide? Soll es einen Parlament einen entscheidenden Einfluss darauf hat, wer Chairman oder einen Präsidenten für den Europäischen in Europa regiert und wie in Europa regiert wird. Rat geben? All diese Debatten versteht und begreift draußen niemand. Deshalb wird der Erfolg des Konvents (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch davon abhängen, ob es uns gelingt, die entschei- Meine Damen und Herren, diese Europäische Union denden europäischen Machtfragen so zu formulieren, von 25 Mitgliedstaaten ist ein Experiment ohne Beispiel dass die Öffentlichkeit sie versteht, damit die Öffentlich- in der Nachkriegsgeschichte. Es gibt weltweit kein Inte- keit den Konvent auch unterstützt, wenn er sich gegen grationsmodell, das ähnlich weit vorangeschritten ist, Regierungen und deren Positionen durchsetzen muss. das eine ähnlich hohe Integration aufweist, das ähnlich Zwei Aspekte sind meiner Meinung nach wichtig, viele Mitgliedstaaten, Kulturen und Sprachen unter ei- ganz egal, auf welchem Weg man einen Kompromiss nem Dach vereinigt. Deshalb müssen wir alles tun, damit findet. Wir brauchen keine neuen bürokratischen Mons- dieses Experiment gelingt. Ich denke, dass sich jeder im ter, die die Entscheidungsprozesse in Europa weiter Konvent darüber im Klaren ist. Wir schaffen einen euro- komplizieren und erschweren. Wenn in der Debatte über päischen Verfassungsvertrag, also eine Verfassung in eine Kompromissfindung herauskäme, dass neben der Form eines Vertrages, auch deshalb, um europäische 2358 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Peter Altmaier (A) Identität zu stiften. Ein solches Gebilde kann auf Dauer in der Regierung im Jahre 1998 eine Voraussetzung (C) nur funktionieren, wenn die Bürger keine Zweifel bezüg- dafür war, dass wir hinsichtlich der Erweiterung der lich der Identität haben, wenn sie wissen, wer zusam- EU mit der praktischen Arbeit beginnen konnten; bis mengehört und wie dieses Gebilde aussieht. dahin gab es nämlich nur abstrakte Versprechungen, aber kein Öffnen der einzelnen Verhandlungskapitel. Deshalb ist es, wie ich glaube, wichtig, dass wir in diesem Verfassungsvertrag die Grundrechte-Charta an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die erste Stelle setzen und sie nicht in irgendein Proto- und bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ koll oder irgendwelche Erklärungen am Schluss des Do- CSU]: Das ist Geschichtsklitterung!) kumentes packen. Der zweite Punkt ist die Agenda 2000, die eine wich- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie tige Voraussetzung für einen Kompromiss, der uns alles bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- andere als leicht gefallen ist, war. Auch das dürfen wir NISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht vergessen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die Agenda ist Kernelement unseres Menschenbildes und unseres ein Flop, sonst gar nichts!) Staatsverständnisses. Dieser Satz steht in Art. 1 Abs. 1 unseres Grundgesetzes und in Art. 1 Satz 1 der Europä- Schließlich komme ich zum dritten Punkt: Auch der ischen Grundrechte-Charta. Es wäre großartig, wenn es Verfassungsprozess ist von der Bundesregierung unter uns gelänge, diesen Satz auch in der europäischen Ver- Bundeskanzler Gerhard Schröder angeschoben worden, fassung zu verankern. (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: So ist Meine Damen und Herren, wir haben drei Monate es!) Zeit, um dem Deutschen Bundestag ein Ergebnis vorzu- weil wir anders als Sie der Meinung waren, dass eine Er- legen. Als Vertreter des Bundestages gemeinsam mit weiterung auf 25 Mitglieder und mehr – wir werden bei dem Kollegen Meyer in diesem Konvent will ich meinen der 25er-Union nicht stehen bleiben – ohne eine grund- Kolleginnen und Kollegen und allen hier in diesem sätzliche Reform der Verträge und der europäischen Ver- Hause sagen: Ich bin der Auffassung, dass wir alles tun fassung nicht möglich ist. sollten, um diese drei Monate zu nutzen. Wir sollten nicht darüber reden, den Zeitplan aufzuweichen. Wir Sie sagen, dass Nizza gescheitert ist. In Nizza haben sollten keinen Druck aus dem Kessel nehmen. Wir soll- wir den Konvent beschlossen. Ich bitte Sie, das nicht zu ten uns von den großen Schwierigkeiten bei den Themen vergessen. (B) Irak und Außenpolitik nicht entmutigen lassen. Diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) müssen vielmehr ein Ansporn für uns sein, dafür zu sor- und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ gen, dass so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommt. CSU]: Der Konvent ist nicht in Nizza be- Ich glaube, wir haben in diesem Konvent die Chance, die schlossen worden!) Lehren aus der Geschichte, auch aus der jüngsten Ge- schichte, zu ziehen. Wie Ihre Rhetorik bei unseren Nachbarn in Frankreich ankommen wird, bitte, das liegt in Ihrer Verantwor- Vielen Dank. tung. Aber wenn ich mir das gerade vor dem Hinter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie grund der aktuellen Erfahrungen und Entwicklungen bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- anschaue, dann wird mir klar, dass dieser Konvent noch NISSES 90/DIE GRÜNEN) sehr wichtig sein wird, um auftretende Brüche und Grä- ben in der erweiterten Union überbrücken zu können und um nicht in die Gefahr einer Avantgarde-Bildung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hineinzulaufen. Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer. Kollege Hintze, ich möchte hier keine Irak-Debatte führen. Ich frage mich nur: Wen in diesem Land und in Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: den anderen europäischen Ländern meinen Sie mit Ihren Worten eigentlich noch erreichen zu können? Sie – Ihre Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Parteivorsitzende und Ihr Kanzlerkandidat haben dies Redner der Opposition hat heute zu Recht darauf hinge- ebenfalls getan – schweigen bei der entscheidenden wiesen, dass in diesem Jahr zwei Entscheidungen, die zu Frage. Es geht darum, ob Sie wollen, dass die Inspektio- Recht historisch genannt werden, anstehen, nämlich die nen abgebrochen werden und dass wir uns der Resolu- Erweiterung und die neue europäische Verfassung, der tion der USA, Spaniens und Großbritanniens anschlie- neue Vertrag. ßen. Wenn dies so ist, dann sollten Sie sagen, dass Sie Kollege Altmaier, Sie haben zu Recht unterstrichen das wollen und dass Sie für einen Krieg gegen Saddam – das freut mich –, dass der Konvent schon heute ein Hussein sind. Hier haben wir einen tiefen Widerspruch. Erfolg ist. Nun bin ich nicht ganz so weit; das will ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erst noch sehen. Ich teile allerdings Ihren Optimis- und bei der SPD) mus, dass er ein Erfolg werden kann. Ich freue mich, dass die Opposition dies unterstreicht; denn ich denke, Es nützt doch nichts, nur im Verfahren zu bleiben. Sie es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Wechsel müssen zum Punkt kommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2359

Bundesminister Joseph Fischer (A) Diese Bundesregierung hat gegenüber den amerikani- [CDU/CSU]: Sie wissen genau, dass das nicht (C) schen Partnern von Anfang an – und zwar lange vor dem stimmt! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die- Wahlkampf – ihre tiefe Skepsis und Sorge bezogen auf ser Mann ist ein Spalter! Er spaltet nur!) einen Krieg im Irak zum Ausdruck gebracht, weil sie Zurück zu Europa. Wir kommen jetzt in die entschei- erstens der Überzeugung ist, dass vor allem die langfris- dende Phase der Erweiterung. tigen Risiken gewaltig sind. Dabei geht es nicht nur um die humanitären Risiken, die ein solcher Krieg für un- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Wo habe schuldige Menschen bedeuten würde, sondern zweitens ich gesagt, ich sei für den Krieg?) auch um die Frage des Zusammenhalts der Antiterror- koalition und die Konsequenzen für den Kampf gegen – Ich saß doch neben Ihnen, als Sie erklärt haben, dass den Terrorismus. Drittens geht es um die Frage der re- für Sie nun der „material breach“ gegeben sei, Kollege gionalen Stabilität, die gerade uns als direkten regiona- Pflüger. Sie wissen so gut wie ich, was dann die Konse- len Nachbarn langfristig tiefe Sorgen macht. quenzen sind. Herr Kollege Hintze, ich komme zum zweiten Punkt (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ihre physische in diesem Zusammenhang: Unter schwierigen Bedin- Anwesenheit ist kein Argument!) gungen hat diese Bundesregierung – der Bundeskanzler, Ich wundere mich, dass Sie sich jetzt darüber so aufre- ich und andere Mitglieder der Bundesregierung und der gen. Ihre Position ist doch bekannt. Koalition – in ihrer Regierungsgeschichte die Entschei- dung für eine militärische Intervention als das letzte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mittel zweimal für unabweisbar gehalten, nämlich im sowie bei Abgeordneten der SPD – Kosovo und in Afghanistan. Bevor man über Krieg Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Eine Lüge, spricht, sollte man bedenken, dass es dabei um das letzte Herr Kollege!) und nicht um das nächste Mittel oder um formale – Das ist keine Lüge. Das zeigt nur, dass ein schwanken- Gründe geht, Kollege Hintze. der Halm ein Muster an Stabilität im Verhältnis zur Posi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tion der Union in der Frage ist: Wie halte ich es mit und bei der SPD) einem Krieg im Irak? Angesichts der gegenwärtigen Situation, in der ich die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berichte der Inspektoren zur Kenntnis nehme, sage ich Ih- und bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ nen: Bevor man über den Krieg als das letzte Mittel redet, CSU]: Sie spalten das Volk!) muss klar sein, dass alle anderen Mittel erschöpft sind. Die Erweiterung – ich komme zu einem Punkt, der (B) Wenn ich die Berichte von Blix und al-Baradei zur Grund- zu Recht angesprochen wurde – macht eine neue Ver- (D) lage nehme, dann erkenne ich, dass sie nicht erschöpft fassung notwendig. Diese neue Verfassung ist vor dem sind. Blix hat gesagt, dass er nicht über Wochen und nicht Hintergrund der weltpolitischen Herausforderungen über Jahre, sondern über Monate, die er braucht, spricht. umso wichtiger. Ich denke, es wäre keine gute Perspek- Sie wissen es doch so gut wie ich: Wenn Saddam tive, in eine De-facto-Avantgarde innerhalb oder außer- Hussein die Zerstörung der Raketen zum 1. März abge- halb der Verträge hineingetrieben zu werden. Deshalb lehnt hätte, dann wäre das der Anlass dafür gewesen, müssen wir gerade jetzt in der Endphase ein ambitionier- dass jetzt zu militärischen Maßnahmen gegriffen worden tes Ziel anstreben. Ich rate jedoch dazu, die Realitäten wäre. Aber man kann es nicht als irrelevant bezeichnen, anzuerkennen. Es ist nicht so, dass ich mir nicht weiter wenn bei der Zerstörung wirklich Fortschritte gemacht gehende Schritte wünschen würde, aber wir müssen am werden. Genau das wollen wir mit dem deutsch-franzö- Ende, ausgehend von der nationalen Position, zu Kom- sischen Memorandum erreichen: Mit der Setzung von promissen kommen. Fristen soll sichergestellt werden, dass tatsächlich abge- Herr Kollege Altmaier, dabei sind Ihre Vorschläge rüstet wird. Das ist unsere Position. Wir sagen Nein zum nicht sehr hilfreich. Natürlich gibt es Interessenunter- Krieg, während Sie in dieser Frage herumeiern und den schiede zwischen großen und kleinen Staaten. In der er- Menschen nicht klar machen, was Ihre Position ist. weiterten Union der 25 wird es Realität sein, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Staatenmehrheit bei den kleinen Ländern liegt, während und bei der SPD) gleichzeitig die sechs größten Mitgliedstaaten über 70 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Das schafft Kollege Pflüger hat schon sehr früh im Ausschuss er- ein sehr großes Ausgleichsproblem, und zwar nicht nur klärt, dass es für ihn wichtiger sei, an der Seite der USA in der Frage des Europäischen Rates, sondern auf nahezu zu stehen, und er deswegen für den Krieg sei. Diese allen Ebenen. Es wird schwierig sein, hier ein Gleichge- Worte sollte er einmal hier wiederholen. wicht zu finden. Eine Lösung wird sich nur finden las- sen, wenn man sich, ausgehend von den unterschiedli- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Können Sie chen Interessen, an einem Kompromiss orientiert. mir sagen, wann ich das gesagt haben soll?) Dasselbe Problem gilt zwischen den neuen und den Auch die Vorsitzende Merkel sollte sich einmal äußern. alten Mitgliedstaaten. Wir Deutsche haben dafür eine be- Dann gäbe es in dieser Frage Klarheit. sondere Sensibilität, weil wir die Schwierigkeiten des (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Zusammenwachsens in unserem Alltag und auch bei der SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Friedbert Pflüger Gesetzgebung erleben: zwischen den alten und den 2360 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) neuen Bundesländern und auch zwischen den Menschen wäre. Das ist ohne jeden Zweifel eine bittere Pille, die zu (C) in dieser Stadt. Selbstverständlich verstehe ich, dass der- schlucken wäre. Gleichwohl: Im Interesse der Funktio- jenige, der 50 Jahre Unterdrückung und Sowjetkommu- nalität würde ich mich einem solchen Kompromissvor- nismus erlebt hat, eine ganz spezifische Sicht, basierend schlag, wie er im Präsidium des Konvents diskutiert auf dieser Erfahrung, auf die USA hat. Auch wir hatten wird, nicht verschließen. Das sind für mich zwei wesent- und haben eine spezifische Sicht auf die USA, die sich liche Punkte. von anderen unterscheidet. Natürlich verstehe ich auch, dass Polen jenseits dieser 50 Jahre noch eine andere Er- Der dritte Punkt ist die Ausdehnung der Mitentschei- innerung hat. Auch das ist mir völlig klar. Dabei spielen dungsrechte des Parlaments auf alle gesetzgeberischen wir Deutsche eine nicht ganz unwichtige Rolle. Daraus Maßnahmen. Das halte ich für einen sehr wichtigen erwächst noch einmal eine andere Perspektive. Punkt. Die alte Union stand für das Zuschütten des Grabens Ich warne davor, sich beim Doppelhut des Außenmi- der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frank- nisters sofort auf die volle Integration zu versteifen, weil reich. Die neue Union wird das Überwinden des Eiser- das eine lange Perspektive braucht. Bis die Mitgliedstaa- nen Vorhangs bedeuten. Dass das Zeit braucht, wissen ten ihre Souveränitätsrechte – vor allem hinsichtlich des gerade wir Deutsche. ius bellum – aufgeben, wird viel Zeit vergehen. Wenn es gut läuft, erzielen wir eine verstärkte Parallelität bei der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Integration. Die Position des Außenministers der sowie bei Abgeordneten der SPD) Union wird in erster Linie im Rat verankert sein, weil dort das Hauptgewicht liegt. Ich halte es aber für unver- Aber eine erweiterte Union wird starke integrative In- zichtbar, dass er zugleich in der Kommission eine beson- stitutionen brauchen, sonst wird sie nicht funktionieren. dere Rolle spielt. Das ist der Inhalt des Vorschlags des Alle Mitgliedstaaten, alte wie neue, haben ein Interesse Doppelhuts, der zurzeit mehrheitsfähig zu sein scheint. daran, dass die Union funktioniert; denn eine nicht funk- Aus den bisherigen Erfahrungen können wir entspre- tionierende Union würde sofort zu einer informellen chende Konsequenzen ziehen. Gruppenbildung führen – Geschichte lässt sich nicht auf- halten –, weil dann die Interessen der Mitgliedstaaten (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) mit ihrem ganzen Schwergewicht zur Geltung kämen. Kollege Altmaier, ich möchte den Art. 14 im jetzt Das ist die Aufgabe. Dabei geht es um die Ausgestal- vorliegenden Entwurf noch einmal neu formuliert sehen. tung der wesentlichen Punkte. Ich sehe in der Tat eine Das Problem liegt für mich nicht so sehr im Inhalt des Möglichkeit ganz konkret vor uns. Ich persönlich hätte „Briefes der Acht“ als im Verfahren. In Europa wird es (B) mir gewünscht, dass es nur einen Präsidenten gibt. Aber immer verschiedene Meinungen geben. In einem vielfäl- (D) ich muss feststellen: Dazu ist es noch zu früh. Es gibt im tigen Europa kann das nicht anders sein. Wir müssen uns Konvent Überlegungen, die Festlegung auf einen Präsi- aber auf eine Methode einigen, mit der wir eine gemein- denten nach zwei oder drei Wahlperioden in die Verfas- schaftliche Position finden können. Das ist meine Kritik sung hineinzuschreiben. Das heißt, in zehn oder 15 Jah- am „Brief der Acht“. ren wird diese Idee Realität werden. Dann ist eine neue Generation herangewachsen. Das halte ich für eine nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unkluge Idee. und bei der SPD) Wir müssen darauf Acht geben, dass das institutio- In Art. 14 muss eine entsprechende Konsequenz gezo- nelle Dreieck gestärkt bleibt, wenn wir zwei Präsidenten gen werden. Ich denke, es gibt entsprechende Formu- haben. Bei 25 oder mehr Mitgliedstaaten halte ich es für lierungen, um verpflichtend sicherzustellen, dass die ein Unding, an der rotierenden Präsidentschaft im Euro- Mitgliedstaaten wie auch die gemeinschaftlichen Insti- päischen Rat festzuhalten. Das wird nicht funktionieren. tutionen im Falle auftauchender ernsthafter Krisen oder Ein permanenter Vorsitz im Europäischen Rat bedeutet im Falle substanzieller Veränderungen in den Beziehun- de facto eine Stärkung des Rates. Auch deswegen wird gen zu strategischen Partnern eine gemeinschaftliche es so wichtig sein, dass die Wahl des Kommissionsprä- Haltung finden. Das ist meines Erachtens in Art. 14 sidenten durch das Europäische Parlament erfolgt. machbar. Diese Punkte hängen für uns unmittelbar zusammen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Die Größe der Kommission müssen wir uns eben- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Peter falls anschauen. Eine Kommission, die aus 25 Kommis- Altmaier [CDU/CSU]: Die haben doch nicht saren besteht – gemäß dem Nizza-Vertrag wird sie so angefangen! Sie haben nur reagiert!) groß sein –, macht eine starke innere Differenzierung – Die Debatte können wir gerne an anderer Stelle führen. notwendig, weil sie an eine Funktionalitätsgrenze stößt bzw. bereits jenseits dieser Grenze ist. Die Alternative ist Für mich ist ein anderer Punkt entscheidend. Ich das Rotationsmodell, welches für die großen Mitglied- stimme Ihnen teilweise zu. Hinsichtlich des Klagerechts staaten besonders bitter ist. Sie haben bereits auf einen der Bundesländer muss ich Ihnen leider widersprechen. Kommissar verzichtet. Selbst wenn das Rotationsmodell Ich habe Präsident d’Estaing noch einmal klar gemacht, einen langen Zeitraum umfassen würde – es gibt große, wie wichtig das für uns, vom nationalen Standpunkt aus mittlere und kleine Mitgliedstaaten –, würde es immer betrachtet, ist. Ich denke, das wird mit berücksichtigt eine Phase geben, in der ein großes Land nicht vertreten werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2361

Bundesminister Joseph Fischer (A) Mich wundert, dass Sie, als Vertreter der Christlich Hause und in unserem Lande in diejenigen einzuteilen, die (C) Demokratischen Union, die Frage, wie der Gottesbezug den Frieden wollen, und diejenigen, die den Krieg wollen! in der Verfassung verankert werden kann – beim Be- Das vergiftet die Atmosphäre und ist zudem unwahr. such im Vatikan spielte das eine große Rolle –, nicht auf- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller genommen haben. [CDU/CSU]: Sie sollten das Volk zusammen- (Peter Altmaier [CDU/CSU]: Wir beantragen das führen und nicht spalten!) doch im Gegensatz zur Bundesregierung!) Was uns unterscheidet, ist, dass wir die Meinung ver- Um diese Dinge geht es konkret. Der vorliegende treten, dass es militärischen Druckes bedarf, um die Ar- Entwurf ist gut. Die entsprechenden nationalen Initiati- beit der Inspektoren und die Entwaffnung, die auch Sie ven sind geeignet, einen Kompromiss zu finden. Ich bin als wichtiges Ziel ansehen, durchführen zu können. Mili- dafür, dass wir nicht verzögern, sondern während der ita- tärischer Druck kann aber nicht erzeugt werden, wenn lienischen Präsidentschaft, in der zweiten Jahreshälfte, von vornherein erklärt wird – wie es die Bundesregie- im Rahmen einer kurzen Regierungskonferenz zum Ab- rung getan hat –: Alles ist denkbar, aber nicht, dass wir schluss kommen. Voraussetzung dafür ist, dass die in militärisch vorgehen. Kopenhagen beschlossene Teilnahme der Kandidaten, Wenn sich jedes Land so verhalten hätte, dann gäbe es die de jure noch nicht Vollmitglieder sind, die aber die keinen militärischen Druck, keine Inspektoren und keine Beitrittsverträge bereits unterzeichnet haben, eine wirk- Entwaffnung des Irak. Das ist der Widerspruch, auf den liche volle Teilhabe bedeutet. Dann wären die Bedenken ich in der Ausschusssitzung hingewiesen habe und den dieser Länder ausgeräumt. Im Klartext heißt das, dass Sie bis heute nicht aufgeklärt haben. wir dann zügig vorankommen können. Gerade ange- sichts der internationalen und der weltwirtschaftlichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lage meine ich, dass eine handlungsfähige Union, die neten der FDP) mit der Erweiterung zu einer Union der 25 Mitglied- staaten ernst macht und dieses ehrgeizige und schwierige Was ich in der Tat kritisiert habe, ist die deutsch- Projekt umsetzt, durchaus in der Lage ist, sich eine fle- französisch-russische Initiative. Ich habe sie kritisiert, xible, demokratische und handlungsfähige Verfassung zu weil sie eben keine klaren Ultimaten setzt, wie es uns geben. Dieses Ziel halte ich für erreichbar. In diesem Herr Blix vorgemacht hat. Herr Blix hat einen Brief an Punkt sind wir uns auch alle einig. Saddam Hussein geschrieben, in dem er mitgeteilt hat, dass die al-Samud-Raketen bis zum 1. März vernichtet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden müssen. Es war ziemlich klar, dass andernfalls und bei der SPD) der Sicherheitsrat militärisch vorgehen würde. (B) (D) Diese Art von deutlichen Ultimaten und Zielvorgaben Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gibt es in der deutsch-französisch-russischen Initiative Es sind zwei Kurzinterventionen der Kollegen Pflüger nicht, sondern sie erlaubt im Kern, dass Saddam Hussein und Hintze angemeldet. Ich schlage vor, dass wir sie hin- das alte Spiel fortsetzen kann. Ohne den Zeithorizont zu tereinander aufrufen und dass dann der Außenminister begrenzen, gibt sie ihm die Möglichkeit, seine taktischen Gelegenheit hat, sie gegebenenfalls zusammen zu beant- Spiele fortzusetzen. Das machen wir nicht mit. worten. – Herr Kollege Pflüger. Es muss klar gemacht werden, dass die Inspektoren eine Chance bekommen sollen. Aber darüber muss mit Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): unseren amerikanischen Partnern und mit den NATO- Partnern gesprochen werden, statt mit China, Russland Herr Minister Fischer, ich habe eben mit etwas Ver- und Frankreich innerhalb der Weltgemeinschaft Achsen wunderung zur Kenntnis genommen, dass Sie aus einer zu bilden, um gegen unsere amerikanischen Bündnis- vertraulichen Ausschusssitzung zitiert haben. Wenn Sie partner vorzugehen. schon aus dieser Sitzung zitieren, bitte ich Sie darum, (Widerspruch bei der SPD) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Nicht Lügen zu verbreiten!) Darin unterscheiden wir uns in der Tat. Wir werden se- hen, ob Sie mit Ihrer Politik wirklich einen Krieg verhin- richtig zu zitieren, statt eine Lüge zu verbreiten. Denn dern oder ob es bei den schönen Friedensbekenntnissen nichts anderes haben Sie getan. bleibt, Herr Minister. Mein Verdacht ist, dass Sie mit Ih- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – rer Politik nicht sehr weit gekommen sind. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ich kann es be- (Ute Kumpf [SPD]: Na, na, na!) stätigen! Ich war dabei!) Sie klingt schön; aber sie sichert nicht den Frieden in un- Es gibt schließlich ein Ausschussprotokoll, in dem wir serem Land. das nachlesen können. (Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer) Ich habe mich – wie alle Kollegen in der Unionsfrak- tion – zu keinem Zeitpunkt für einen Krieg ausgespro- – Es geht zwar um den Frieden am Golf, Herr Fischer; chen, weder direkt noch indirekt. Denn wir wollen ebenso aber es geht auch um die Sicherheit hier bei uns. Neben wie jeder andere in diesem Hause den Frieden. Unterlas- Ihnen sitzt Minister Schily, der deutlich sagt, dass es sen Sie es bitte, Herr Minister, die Menschen in diesem auch bei uns große Risiken gibt. 2362 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Dr. Friedbert Pflüger (A) Lassen Sie mich Ihnen versichern: Wenn wir nicht et- Inspektionen? Sie sind eindeutig und ausschließlich auf (C) was für die Entwaffnung des Irak tun, dann bekommen die Tatsache zurückzuführen, dass der Diktator den rea- wir das große Problem, dass es irgendwann bei uns Ter- len Druck der militärischen Entschlossenheit spürt. Nur rorismus in Verbindung mit Massenvernichtungswaf- deswegen ist er ein Stück weit zurückgewichen. Die fen geben wird. Um das auszuschließen, müssen wir Frage lautet nun: Wird dieser Druck aufrechterhalten Saddam gegenüber eine klare und deutliche Sprache oder wird er derartig unterminiert, dass am Ende des In- sprechen. Das hat nichts mit Kriegstreiberei zu tun. Las- spektionsverfahrens der Diktator und mit ihm alle Schur- sen Sie bitte in Zukunft die Unterstellung gegenüber ir- ken dieser Welt triumphieren können? Das ist der ent- gendjemandem in diesem Haus, dass er sich einen Krieg scheidende Unterschied. wünschen würde! Ich will die friedliche Entwaffnung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des Irak. Darum geht es mir und meiner Fraktion. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Da hilft es nichts, dass Sie sich öffentlich über den neten der FDP) Kollegen Pflüger aufregen. Sie behaupten, er breche die Vertraulichkeit, und gleichzeitig legen Sie vor dem Deut- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schen Bundestag dar – das finde ich pikant –, was er – an- geblich – in nicht öffentlicher Sitzung gesagt hat. Wenn Herr Kollege Hintze, ich darf noch einmal darauf hin- Sie so etwas machen, dann wäre es zumindest wün- weisen, dass Kurzinterventionen auf drei Minuten be- schenswert, dass Sie ihn richtig zitieren würden. Aber das grenzt sind. alles hilft überhaupt nichts; denn die entscheidende Frage (Ute Kumpf [SPD]: Und nicht vier! – Joseph ist, ob sich die Völkergemeinschaft das Instrument erhält, Fischer, Bundesminister: Herr Präsident, habe Diktatoren in den Arm zu fallen, oder nicht. Hier ist die ich dann sechs Minuten?) Bundesregierung gefordert, nicht dem Land in den Arm zu fallen, das als einziges in der Lage ist, dem Völker- Peter Hintze (CDU/CSU): recht Geltung zu verschaffen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wir sind es von unserem Bundesaußenminister ja ge- Dirk Niebel [FDP]) wohnt, dass er zuweilen, um die parlamentarischen De- batten – ich möchte es freundlich formulieren – zu wür- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zen, auf Unschärfen und manchmal leider auch auf Herr Minister, bitte schön. Unterstellungen zurückgreift. Heute hat er sich beider (B) Stilmittel bedient. (D) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Erstens. Die Konferenz von Nizza – ich beginne mit den Unschärfen – ist eindeutig gescheitert. Sie, Herr Mi- Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Pflüger, nister, meinten sich daran zu erinnern, dass in Nizza der ich habe Ihnen das schon in der damaligen Ausschusssit- Konvent beschlossen worden sei. Ich bitte Sie, das in zung entgegengehalten. Ich habe nichts zurückzuneh- Ruhe zu überprüfen; denn der Konvent ist nicht in men. Gleichwohl habe ich Sie nicht als Kriegstreiber be- Nizza, sondern in Laeken beschlossen worden. Richtig zeichnet. Diesen Begriff haben Sie gerade selber in die ist, dass sich die Bundesregierung eine Initiative aus der Debatte eingeführt und zurückgewiesen. Einen solchen Mitte des Parlaments und des Europaausschusses zu Ei- Begriff habe ich Ihnen gegenüber nicht verwendet. gen gemacht hat. Das finden auch wir gut. Aber ich bitte Ich möchte noch ein paar andere Dinge richtig stellen. um der historischen Wahrheit willen, die Dinge richtig Das deutsch-französische Memorandum scheinen Sie darzustellen. überhaupt nicht oder nur schlecht gelesen zu haben; denn genau dort beziehen wir uns auf das Arbeitspro- Zweitens. Sie haben auf den Vatikan und die Frage gramm, das Herr Blix entsprechend der Resolution 1284 abgehoben, ob der Anfang der zukünftigen europäischen vorlegen soll und in dem er detailliert die einzelnen Verfassung einen Gottesbezug, also einen Hinweis auf Schritte, versehen mit Benchmarks oder, wo es möglich unsere Verantwortung vor Gott, enthalten soll. Vielleicht ist, mit einem so genannten Zeitfaktor, exakt beschreiben können Sie uns einmal klar sagen, wie Sie dazu stehen. soll, so wie es bei den al-Samud-Raketen bereits ge- Ich jedenfalls bin dafür. Die Europäische Volkspartei, in schehen ist. der alle Christdemokraten zusammengeschlossen sind, hat einen entsprechenden Antrag gestellt. Wenn auch Sie (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Was als Konventsmitglied das unterstützen würden – so habe passiert dann?) ich Sie jedenfalls verstanden –, dann wäre das wenigs- tens ein kleiner Erfolg bzw. tätige Reue für die Unterstel- – Ich habe Ihnen zugehört und jetzt hören Sie mir bitte lungen, mit denen Sie aus taktischen Gründen die Oppo- auch zu. – Genau das wird im deutsch-französischen sition im Deutschen Bundestag überziehen. Memorandum gefordert, ja noch mehr: Deutschland und Frankreich sind in einer Sicherheitsratssitzung aktiv ge- Herr Bundesaußenminister, wissen Sie, was mir fast worden und haben verlangt, dass dieses Arbeitspro- die Sprache raubt? Sie stellen sich an das Rednerpult des gramm vorgezogen wird. Mittlerweile wird es präsen- Deutschen Bundestages und freuen sich über die Erfolge tiert. Ob das zeitlich noch reicht, ist eine andere Frage. der Inspektionen. Woher kommen denn die Erfolge der Aber es waren nicht Deutschland und Frankreich, sondern Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2363

Bundesminister Joseph Fischer (A) andere Länder, die sich in dieser Sitzung energisch ge- würde mich nicht wundern, wenn auch Sie dies im Spät- (C) gen das Vorziehen des Arbeitsprogramms ausgesprochen sommer mit vertreten hätten. Dann kam die Begründung haben. Die Behauptung, dass das deutsch-französische mit den biologischen und chemischen Massenvernich- Memorandum keine verbindlichen Zeitfaktoren enthalte, tungswaffen. Jetzt geht es um die Frage der humanitären ist also völliger Unsinn. Der französische Präsident hat Intervention, um einen furchtbaren Diktator von der bei seinem Besuch in Berlin anlässlich des Blaesheim- Macht zu entfernen. Treffens auf einer Pressekonferenz genau darauf noch einmal hingewiesen. Das sind wechselnde Begründungen. Ich kann Ihnen nur sagen: Vor diesem Hintergrund ist unsere Skepsis Nun komme ich zu der von Ihnen und auch von Ih- eher größer als kleiner geworden. nen, Herr Hintze, hergestellten Verbindung zwischen Terrorismusbekämpfung und dem Irak. Das ist mein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN grundsätzliches Problem. Wenn es nach mir gegangen sowie bei Abgeordneten der SPD) wäre, hätte ich nach dem 11. September – dafür habe ich Sie sagen: Alle Schurken dieser Welt triumphieren. bei der amerikanischen Seite immer geworben – eine an- Was ist denn die Botschaft einer Politik, die in Nordko- dere Tagesordnung aufgestellt. Es gab keine Alternative rea auf Verhandlungen setzt – was ich richtig finde; da- zu unserem Einsatz in Afghanistan. Deshalb sind wir mit Sie mich nicht missverstehen –, die dies aber vor mit großer Entschlossenheit gemeinsam an der Seite dem Hintergrund tut, dass dort möglicherweise schon unseres durch die verbrecherischen Attentate angegrif- Nuklearwaffen vorhanden sind? Umgekehrt wurde im fenen wichtigsten Bündnispartners außerhalb Europas Falle von Saddam, bei dem keine Verbindungen zu den in den Einsatz gegangen. Wir haben heute über Anschlägen vom 11. September bestehen, der aber ein 2 000 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Wir haben furchtbarer Diktator ist, eine Containment-Politik ge- Sondereinheiten im Rahmen von Enduring Freedom in macht. Warum gibt es denn seit Jahren die kurdische Au- Kuwait und am Horn von Afrika. tonomie? Ich habe mich dafür eingesetzt und bekam da- Ich habe aber schon damals gesagt, dass ich keinen für teilweise Prügel. Es hat die Flugverbotszonen Zusammenhang zum Irak sehe und dass ich auch keine gegeben. Ich habe mich immer dafür eingesetzt. Sie ken- Appeasement-Politik im Irak sehe, sondern Contain- nen nur zu gut die Botschaft, die mit einer solchen Poli- ment-Politik, die wirkt. Ich habe gesagt, dass Saddam tik signalisiert wird. Sie teilen diese Sorgen, wie ich aus ein schlimmer Diktator ist, dass ich aber an die zweite Gesprächen mit Einzelnen weiß. Die Botschaft kann Stelle die Lösung der Regionalkonflikte setzen würde, sein: Hast du eine Nuklearwaffe, dann wird verhandelt; vor allem die des Nahostkonflikts. Wenn es nach uns ge- hast du sie nicht, dann wird nicht verhandelt. Wenn das die Botschaft ist, dann, fürchte ich, bekommen wir auf (B) gangen wäre, hätten wir den Irakkonflikt nicht als Num- (D) mer eins auf die Tagesordnung gesetzt, jetzt nicht und so mittlere Sicht ein ganz anderes Problem. Denn diese nicht. Das haben wir den amerikanischen Partnern aus Botschaft wird von den Schurken dieser Welt, die Sie, den Gründen, die ich vorher genannt habe, und auch ei- Herr Hintze, zu Recht benannt haben, dann verstanden nigen anderen immer gesagt. Aber es gibt die Resolution werden, mit all den großen Proliferationsrisiken. 1441, es gibt die Entscheidungen, es gibt den Druck. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Angesichts dieses Drucks muss ich fragen: Gibt es und bei der SPD) tatsächlich eine Verbindung zwischen den Anschlägen Deswegen ist für mich – das besagt auch die UN- vom 11. September und dem Irak? Kollege Pflüger hat Charta – die entscheidende Frage die Proportionalität, gerade wieder gesagt, der Terror könnte kommen. Mit die Verhältnismäßigkeit. Sind alle nichtmilitärischen diesem Ansatz habe ich ein Problem. Wenn wir nicht Mittel erschöpft? Es tut mir Leid, aber nach dem, was ich mehr eine konkrete Bedrohung haben, sondern die abs- in den Sitzungen in New York höre – ich erinnere insbe- trakte Vermutung, es könnte eines Tages eine Bedrohung sondere an die beiden letzten Berichte von al-Baradei kommen, und diese Vermutung als Grund für einen prä- und Blix, den Inspektoren –, muss ich sagen: Es ist ventiven Militärschlag nehmen, meine feste persönliche Überzeugung, dass wir jetzt die (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist Chance hätten, wirklich eine weitgehende Abrüstung des nicht präventiv!) Irak mit diesen Instrumenten der Inspektoren zu errei- chen, wenn wir genügend Zeit bekommen. dann bekommen wir bei der Frage einer zukünftigen Welt- ordnung – ich formuliere das jetzt sehr diplomatisch – ein (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ein schlichtes Balanceproblem. Wir bekommen auch ein völ- Märchen!) kerrechtliches Problem. Das wissen Sie nur zu gut. Genau das versuchen wir zu machen. Das hat doch (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Falsch! 1441!) nichts mit Allianzbildung oder Ähnlichem zu tun. Für mich ist die nordatlantische Allianz unverzichtbar. Aber – Doch. Deswegen, sage ich Ihnen, ist die Verbindung zu sie ist eine Allianz freier Demokratien. Wir haben gerade den Anschlägen vom 11. September schon eine entschei- auch von den USA gelernt, dass eine Demokratie im dende Frage. Diskutieren und im Widerspruch besteht. Das ist für mich ein ganz wesentlicher Punkt. Die Begründungen wechseln auch. Zuerst hatten wir die Begründung durch den 11. September, dann die Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gründung, dass eine nukleare Aufrüstung droht. Es und bei der SPD) 2364 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) In einer Allianz freier Demokratien wird es Widersprü- also als die Aufgabe der Politiker, an, den Bürgerinnen (C) che geben. Es kommt nicht nur auf das Wie an, sondern und Bürgern dies positiv zu vermitteln. aus meiner Sicht kommt es vor allem auf die Substanz (Beifall bei der FDP) an. Wenn ich von einem Krieg als letztem Mittel nicht überzeugt bin, dann werde ich auch in Zukunft wider- Wir müssen erreichen, dass sich die Bürgerinnen und sprechen. Das habe ich unter anderem von den USA und Bürger der erweiterten Europäischen Union stärker mit ihrem Demokratieverständnis gelernt, Kollege Pflüger. dem gemeinsamen Rahmen identifizieren und die Institu- tionen in Brüssel nicht als fern und abgehoben beurteilen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit dem Entwurf für eine neue Europäische Verfas- So werde ich es auch in Zukunft handhaben. sung werden die Staaten Europas erstmals ihre gemein- Wenn Russland und China heute aufseiten der USA samen Wertvorstellungen in einem Dokument zusam- und Großbritanniens stünden, dann spräche man nicht menfassen und entsprechend verankern. Die neue von einer neuen Achse, sondern dann würde man deren erweiterte Union braucht jetzt dringend neue Strukturen, Unterstützung selbstverständlich gerne annehmen, weil um damit auch ihre zukünftigen Aufgaben meistern zu man damit eine Mehrheit im Sicherheitsrat hätte. können. Ich halte den möglichen Krieg gegen den Irak ange- (Beifall bei der FDP) sichts der – nicht änderbaren – geopolitischen Lage in Auf den Punkt gebracht: Die neue Verfassung muss Bezug auf die Folgewirkungen für uns alle für hochris- mehr Bürgernähe, mehr Transparenz sowie mehr demo- kant. Andere sind nicht mehr unmittelbar betroffen, kratische Legitimationen schaffen und natürlich die wenn sie ihre Truppen aus der Region abgezogen haben. Handlungsfähigkeit der Institutionen sicherstellen. Wir Wir können Europas geopolitische Lage nicht ändern. von der FDP legen heute einen detaillierten Antrag vor, Der Nahe Osten wird nämlich immer unser Nachbar in dem wir aufzeigen, wie diese Ziele zu erreichen sind sein und dadurch werden die Probleme, die dort existie- und wie eine europäische Politik gestärkt werden kann. ren, immer unsere Probleme – ich denke dabei insbeson- dere an unsere Sicherheit – sein. Ich will einige wichtige Punkte herausgreifen: Da ich mir all dessen bewusst bin und gleichzeitig Ein ganz entscheidender Bestandteil der künftigen eu- eine bestimmte Entscheidung nicht mittragen kann, weil ropäischen Verfassung muss die Grundrechtecharta ich der Meinung bin, die Risiken seien zu groß und die sein. nicht militärischen Mittel seien noch nicht erschöpft, (Beifall bei der FDP) entspricht es meinem Verständnis von einer Allianz (B) freier Demokratien, dass man das, was man meint, auch Diese Grundrechtecharta ist aus unserer Sicht so funda- (D) so sagt, und zwar in der gebotenen Klarheit. Genau das mental wichtig, dass sie nicht in einen Anhang verbannt haben wir getan und das werden wir auch in Zukunft tun. werden darf, sondern selbstverständlich im vorderen Teil der Verfassung der EU verankert werden muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Der Bürger muss seine verbürgten Grundrechte gericht- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lich durchsetzen können. Wegen der besonderen Wichtigkeit dieses Themas bin (Beifall bei der FDP) ich sowohl bei den Fragen als auch bei der Antwort mit unseren Regelungen in der Geschäftsordnung sehr groß- Wir wollen das Europäische Parlament deutlich stär- zügig umgegangen. Ich weise nur darauf hin, dass ich ken. Wir schlagen deshalb vor, dass der Präsident der nicht die Absicht habe, das in der gesamten Debatte so Europäischen Kommission künftig vom Europäischen zu handhaben. Parlament gewählt wird und natürlich auch abgewählt werden kann. Dies ist ein wichtiger Schritt, um das be- (Beifall des Abg. Dr. [SPD]) stehende Demokratiedefizit zu beseitigen. Als nächste Rednerin in dieser Debatte hat nun die (Beifall bei der FDP) Frau Kollegin Dr. Winterstein für die FDP-Fraktion das Wort. Wir schlagen weiterhin vor, dem Europäischen Parla- ment künftig das Recht zu geben, Legislativvorschläge zu unterbreiten, und damit das bisher bestehende Monopol der Dr. Claudia Winterstein (FDP): Kommission zu beenden. Zur notwendigen Stärkung des Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Parlaments gehört auch, das Mitentscheidungsrecht auf Herren! Ich möchte in dieser Debatte zum Thema euro- alle europäischen Rechtsetzungsbereiche auszudehnen. päische Verfassung zurückkehren. Wir wollen die Größe der Kommission auf maximal (Beifall bei Abgeordneten der FDP) 15 Kommissare begrenzen und uns hierbei an der Zahl der Geschäftsbereiche orientieren. Nur ein schlanker Zu- Wir alle im Plenum wissen, wie wichtig die Europäi- schnitt sichert die Handlungsfähigkeit der Kommission sche Union für uns als europäische Bürger ist. Die EU in einer so erweiterten Union. hat in vielen Lebensbereichen einen direkten Einfluss auf die Unionsbürger. Ich sehe es als unsere Aufgabe, (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2365

Dr. Claudia Winterstein (A) Wenn Sie nun fragen, wie bei 15 Kommissaren die Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa im (C) Beteiligung aller Nationalitäten gesichert werden soll, Auswärtigen Amt: dann sage ich Ihnen: Wir müssen weg vom Nationalitä- tenproporz. Bei der Auswahl der Kommissare soll nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein die Nationalität, sondern die Kompetenz entscheidend starkes vereintes Europa als gleichberechtigter Partner sein. der Vereinigten Staaten von Amerika, so stellte sich John F. Kennedy die Fortentwicklung der europäischen Inte- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) gration vor. Seine Vision einer Partnerschaft zwischen dem neuen, auf Integrationskurs befindlichen Europa Für die Handlungsfähigkeit des Europäischen Rates und den USA brachte er 1962 in Philadelphia, dem Ur- und der Ministerräte ist es notwendig, das Einstimmig- sprungsort der amerikanischen Verfassung, in einer Rede keitsprinzip abzuschaffen. Künftig muss in allen EU-Po- zum Ausdruck, in der er gleichzeitig die Bedeutung der litikbereichen, außer bei Verfassungs- und Verteidi- Verfassung für das Entstehen eines geeinten, starken gungsfragen, mit Mehrheit oder qualifizierter Mehrheit Amerika unterstrich. entschieden werden können. Dabei muss sichergestellt sein, dass die Stimmenmehrheit die Mehrheit der Uni- Heute steht Europa kurz davor, sich selbst eine Ver- onsbürger repräsentiert. fassung zu geben, eine Verfassung, die Europa stärker und handlungsfähiger machen wird. Nur so hat die Euro- Wir brauchen eine klare Abgrenzung der Kompeten- päische Union eine Chance, zu einem wirklichen Partner zen zwischen EU und Mitgliedstaaten. der USA bei der Wahrnehmung globaler Verantwor- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Richtig!) tung zu werden, der in diese Partnerschaft seine eigenen, spezifischen Erfahrungen einbringt. Kernelemente dieser Die Aufteilung in ausschließliche, geteilte und unterstüt- spezifisch europäischen Erfahrung sind das Leid durch zende Zuständigkeiten halten wir für sinnvoll. Krieg im eigenen Land, aber auch der friedliche Interes- Unser Antrag enthält eine, wie ich finde, sehr wich- senausgleich, zu dem Deutschland und Frankreich vor tige Klarstellung: Die Formulierung von Zielen der 50 Jahren gefunden haben. Beide Seiten haben hiervon Union begründet allein noch keine Zuständigkeit der EU profitiert und eine beispiellos erfolgreiche Entwicklung im jeweiligen Bereich. in Gang gesetzt. Abschließend: Ganz besonders wichtig ist das Subsi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diaritätsprinzip. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gerd Deutschland und Frankreich haben dabei von Anfang (B) Müller [CDU/CSU]) an nicht den Fehler begangen, sich ausschließlich auf (D) ihre Zusammenarbeit zu konzentrieren. Sie wurden zum Die EU soll im Rahmen der ihr zugewiesenen Kompe- Motor der europäischen Integration. Es gilt bis heute: tenzen nur das regeln, was regional und national nicht Ohne deutsch-französische Kooperation im Vorfeld ebenso gut oder vielleicht sogar besser geregelt werden der Erweiterung oder im Konvent wären Fortschritte in kann. Wir unterstützen von daher den Vorschlag, für die Europa kaum denkbar. Der Erfolg deutsch-französischer Parlamente der Mitgliedstaaten eine frühzeitige Ein- Gemeinschaftsinitiativen beruht dabei nicht auf Domi- spruchsmöglichkeit und bei Nichtberücksichtigung eine nanz, sondern auf der Fähigkeit zu Kompromissen. Klagemöglichkeit zu schaffen. In vielen Einzelfragen liegen die Ausgangspositionen Meine sehr geehrten Damen und Herren, nochmals: Deutschlands und Frankreichs auch heute noch weit aus- Es kommt darauf an, der Europäischen Union für diese einander. So war es bei der Frage einer Begrenzung der Erweiterung eine gemeinsame Verfassung zu geben, die Agrarausgaben im Zusammenhang mit der Erweiterung ein demokratisches, transparentes und bürgernahes Eu- oder bei der Konventsinitiative zur institutionellen Re- ropa schafft. Die Parlamente der Mitgliedstaaten sind form der EU. Unsere gemeinsame Stärke besteht gerade jetzt aufgefordert, ihre konkreten Vorschläge zu unter- darin, aus unterschiedlichen Ausgangspositionen ge- breiten. Die FDP legt mit diesem Antrag ihren Beitrag meinsame Vorschläge zu entwickeln, die geeignet sind, vor. auch die anderen Partner in der EU zu gewinnen. Danke. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) der CDU/CSU und der SPD) Mit der Erweiterung entsteht ein größeres Europa. Der Konvent muss die Voraussetzungen dafür schaffen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dass die erweiterte Europäische Union handlungsfähig, bürgernah und demokratisch wird. Die Erweiterung Frau Kollegin Winterstein, zu Ihrer ersten Rede im zwingt uns dazu, längst überfällige Reformen endlich in Deutschen Bundestag darf ich Ihnen herzlich gratulieren, Angriff zu nehmen. Kompromisse auf dem kleinsten ge- verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere par- meinsamen Nenner können wir uns bei bald 25 und mehr lamentarische Arbeit. Mitgliedstaaten nicht mehr leisten. (Beifall) Es ist gerade in Europa nicht außergewöhnlich, dass der Das Wort hat nun der Staatsminister Martin Bury. Problemdruck den notwendigen Fortschritt beschleunigt 2366 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Staatsminister Hans Martin Bury (A) oder erst ermöglicht. Wir sind uns einig, dass am Ende In der Bevölkerung gibt es gerade in der Irakfrage (C) der Arbeit des Konvents ein Verfassungsentwurf stehen schon heute über alle nationalen Grenzen hinweg ein ge- muss, der erstmals einen einheitlichen Rahmen für das meinsames europäisches Bewusstsein. Es ist die Verant- Handeln der europäischen Institutionen schafft. wortung der politischen Akteure, auch in der Opposition, das entsprechende europäische Selbstbewusstsein an den Für uns ist besonders wichtig, dass Europa bürgernä- Tag zu legen, ein Selbstbewusstsein, das auf Partner- her wird. Deshalb ist das Subsidiaritätsprinzip und seine schaft setzt, aber Ergebenheitsadressen nicht nötig hat. Durchsetzung in der europäischen Praxis von großer Be- deutung. Wir begrüßen Vorschläge für entsprechende (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frühwarnmechanismen, halten jedoch darüber hinaus DIE GRÜNEN) ein Klagerecht der nationalen Parlamente, und zwar bei- Meine Damen und Herren, zur Weiterentwicklung der der Kammern, das heißt in Deutschland des Deutschen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehört für Bundestages und des Bundesrates, unabhängig vonei- mich auch die Perspektive einer europäischen Sicher- nander, für unverzichtbar. Wir wollen die Rechtsinstru- heits- und Verteidigungsunion. Die EU der 15 gibt im mente vereinfachen und klare Kompetenzregelungen Vergleich zu den USA etwa 50 Prozent der Mittel für mi- vereinbaren. Jeder soll nachvollziehen können, wer in litärische Aufgaben aus; aber unsere militärischen Fä- der Union für was zuständig ist. higkeiten liegen weit unterhalb dieser Marke. Deshalb Doch eine Verfassung ist mehr als eine Beschreibung müssen wir unsere Fähigkeiten und Ressourcen bündeln, von Institutionen und Verfahren. Wir wollen, dass sich stärker kooperieren und unsere Bedarfsplanung harmo- die Bürgerinnen und Bürger Europas mit der neuen Eu- nisieren. ropäischen Union identifizieren können. Deshalb setzen Da sich auf absehbare Zeit nicht alle Mitgliedstaaten wir uns auch für die Aufnahme der Grundrechtecharta in an einer ESVU beteiligen können oder wollen, sollten die europäische Verfassung ein, und zwar an prominen- wir das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit nut- ter Stelle. Ich freue mich, dass die entsprechende Initia- zen, um dieses Schlüsselprojekt für den europäischen In- tive der Bundesregierung nicht nur die Unterstützung al- tegrationsprozess voranzubringen. ler deutschen Konventsvertreter, sondern auch die Unterstützung von über 100 Mitgliedern des Verfas- Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sungskonvents gefunden hat. ist keine Konkurrenz zur NATO, erst recht keine Alter- native, sondern eine unverzichtbare Stärkung der transat- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lantischen Partnerschaft. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch das hatte John F. Kennedy bereits angepeilt: eine (B) Das ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil NATO, die auf zwei starken Pfeilern, einem amerikani- (D) die Europäische Union nicht nur eine Union der Staaten schen und einem europäischen Pfeiler, steht. und Völker, sondern zugleich eine Union der Bürgerin- nen und Bürger ist. Das muss auch in der neuen Verfas- Wir sind im Konvent – ohne Frage – weit gekommen, sung entsprechend zum Ausdruck kommen. weiter, als manche Skeptiker vermutet haben. Aber noch ist nicht völlig sicher, ob das größere Europa wirklich Für die Akzeptanz europäischer Institutionen ist nicht mehr sein wird als eine erweiterte Freihandelszone. Für zuletzt deren Handlungsfähigkeit von Bedeutung. Der uns in Deutschland war die EU stets mehr als nur ein deutsch-französische Vorschlag zur Fortentwicklung der Markt, nämlich eine Gemeinschaft mit gemeinsamen europäischen Institutionen stärkt Parlament, Kommis- Werten und Zielen. Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam sion und Rat und damit die Europäische Union insge- daran arbeiten, diese Werte und Ziele in der europä- samt. Die größte Herausforderung – das erfahren wir ischen Verfassung zu verankern und die institutionellen nicht zuletzt in der aktuellen weltpolitischen Debatte und Voraussetzungen zu schaffen, um diesen Werten und das prägt auch die heutige Debatte des Bundestages – ist Zielen Geltung zu verschaffen – in Europa und darüber die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der hinaus. EU. Diese Debatte berührt selbstverständlich auch die Arbeit des Konvents; er ist kein Elfenbeinturm. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Eine Verfassung ist jedoch mehr als eine Antwort auf tagespolitische Fragen. Wir bauen den Rahmen, in dem Wir haben die historische Chance, die Teilung unseres sich in Zukunft gemeinsame europäische Willensbildung Kontinents zu überwinden und ein Europa der Freiheit, vollziehen kann und soll. Das setzt entsprechenden Wil- des Friedens und des Zusammenhalts zu schaffen. Las- len voraus – keine Frage –, aber auch geeignete Instituti- sen Sie uns diese Chance nutzen! onen und Verfahren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Unser Vorschlag, die Schaffung eines europäischen Außenministers, würde Europa in der Gemeinsamen Au- ßen- und Sicherheitspolitik ein Gesicht geben. Noch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wichtiger ist für mich die Perspektive, in Fragen der Ge- Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Rupprecht, meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifi- CDU/CSU-Fraktion. zierter Mehrheit zu entscheiden, damit die EU auch mit einer Stimme sprechen kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2367

(A) Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): brauchen handlungsfähige Parlamente in Deutschland. (C) Ich hoffe, dass der Verfassungsvertrag hier eine Besse- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir rung bringt. Junge in Europa, die heute 20- bis 30-Jährigen, erleben Europa anders als die Nachkriegsgeneration. Wir fragen Kommen wir zur Osterweiterung. Die Wiederverei- primär nach den Chancen, die uns Europa bietet. Wir nigung Europas ist ein großartiger Prozess, großartig wollen in einem starken und handlungsfähigen Europa auch für Deutschland. Aber die Osterweiterung ohne leben, einem Europa der Vielfalt und der Regionen. Vollzug der institutionellen Reformen und ohne Klärung der Kompetenzen zu beschließen ist zumindest riskant. Aber zwischen diesem europäischen Traum – er ist Wir machen den zweiten Schritt vor dem ersten, weil auch mein Traum – und der politischen Wirklichkeit in man sich in Nizza nicht fähig gezeigt hat. Europa wird die Kluft größer. Deutschland war früher die treibende Kraft für die Gemeinschaft. Heute spaltet Es wird auch Verlierer geben, die wir auffangen müs- es Europa; ein Riss geht quer durch Europa. sen. Osteuropa muss aufgebaut werden – keine Frage. Diese Gelder werden aber bei uns fehlen. Auch das ist (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist aber keine Frage. Was passiert in Ostdeutschland? Über kein guter Einstieg!) Nacht soll die europäische Förderung wegfallen. Ein na- Es ist doch traurig, dass trotz aller Dramen, die sich auf tionaler Ausgleich ist – zumindest bisher – nicht gewähr- der Welt abspielen, die gemeinsame Außenpolitik völlig leistet. Wie soll es weitergehen? Die Betroffenen wollen verloren geht. das wissen. Das großartige Deutschland, jahrzehntelang der wirt- (Beifall bei der CDU/CSU) schaftliche Motor in Europa, ist heute ein Sanierungsfall. Ostbayern, meine Oberpfälzer Heimat, wird im Ver- (Ute Kumpf [SPD]: Na!) gleich zu unserem tschechischen Nachbarn das höchste Fördergefälle der Welt verkraften müssen. Das bricht 100 000 gut ausgebildete junge Leistungsträger verlas- Strukturen und verursacht Verwerfungen. Trotz aller sen Deutschland jedes Jahr, weil sie bei uns keine Zu- Freundschaft verstehen die Menschen das nicht. kunft sehen. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die warten auf (Peter Hintze [CDU/CSU]: Stimmt leider!) den Kanzlerförderplan!) Der Kanzler sagt, dass das neue große Europa möglichst Der Kanzler machte in der Weidener Erklärung den niemandem Angst machen solle. Menschen Hoffnung; der damalige Fraktionsvorsit- zende versprach seinerzeit, ein ge- (B) (Ute Kumpf [SPD]: Das ist auch gut so!) (D) schlossenes Grenzgürtelprogramm aufzulegen. Sehr ge- Reden Sie doch einmal mit den Menschen! 61 Prozent ehrte Damen und Herren, die Menschen warten noch der Menschen in Deutschland haben Angst vor der Ost- heute. Es wurde versprochen und es wurde gebrochen. erweiterung. Europa wird nur dann erfolgreich sein, wenn es ein (Widerspruch bei der SPD) Europa der Regionen wird – davon bin ich zutiefst Trotz oder gerade weil ich von der europäischen Idee überzeugt –, ein Europa der Vielfalt mit seinen faszinie- begeistert bin, hinterfrage ich, ob der europäische Zug renden kulturellen Unterschieden, Sprachen und Traditi- auf dem richtigen Gleis steht und ob er in die richtige onen. Bauen wir in Europa auf Dezentralität und Viel- Richtung fährt. Ich frage Sie: Schafft der Verfassungs- falt, wie es erfolgreiche Länder, aber auch Unternehmen vertrag handlungsfähige Institutionen? Bringt er eine tun. Nehmen wir uns erfolgreiche Regionen zum Vor- Klärung der Kompetenzen zwischen Brüssel, Berlin und bild: Regionen in Irland, in Kalifornien, in Asien und den Regionen Katalonien oder Bayern? Vor allem: immer mehr in Mittel- und Osteuropa. Dort wird die re- Bringt er, wo nötig, eine Rückverlagerung der Kompe- gionale Kraft, das regionale Können unterstützt und tenzen? Großartiges aufgebaut. Dort entstehen boomende und ausstrahlende Kerne. Aber dazu brauchen unsere Regio- Mal ehrlich: Innerlich haben viele von uns bereits zu- nen Handlungskompetenz; sie hatten diese Kompetenz gestimmt – man macht es halt so; Europa ist eben gut früher mehr als heute. Wir brauchen eine Neuverteilung und toll –, ohne zu wissen, was im Verfassungsvertrag der Kompetenzen, eine dezentralere Strukturpolitik stehen wird. Ich denke aber, dass der Verfassungsvertrag ebenso wie eine dezentralere Agrarpolitik, wir brauchen die Zustimmung auch wert sein muss. Ob er es ist, wer- ein vernünftiges Maß. Das wäre modern und erfolgreich. den wir dann sehen, wenn er vorliegt. Ein Ja und Amen Das wäre ein wichtiger Schritt auch für ein boomendes zu allem kann und darf es nicht geben. Europa. (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Roth Ein Letztes: Als junger Europäer und Christ wünsche [Heringen] [SPD]: Deshalb müssen wir uns ich mir ein menschliches Europa. Das muss auch für beteiligen!) Vertriebene gelten. Sie haben unsägliches Leid erfahren; Menschen sind zutiefst in ihrer Seele verletzt worden. Es ist doch kaum zu ertragen, wie sich Landesparla- Die Vertriebenen erwarten zu Recht eine Distanzierung mente und der Bundestag in den vergangenen Jahren von dem Unrecht, das ihnen widerfahren ist. schleichend selbst entmachtet haben. Zeitlich verzögert winken wir die Sammellisten durch und winken ab. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) 2368 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Albert Rupprecht (Weiden) (A) Es ist die Pflicht der Bundesregierung, mit allem Nach- 1866 und war im ersten Wahlprogramm des Allgemei- (C) druck hierauf zu drängen. nen Deutschen Arbeitervereins zu finden. Heute ist das fast Wirklichkeit. Die Wiedervereinigung Deutschlands war und ist für uns eine gemeinsame Aufgabe. Damals gab es mit Helmut Weitestgehend erfüllt ist auch das Vermächtnis jener Kohl eine klare nationale und europäische Führungspersön- politischen Häftlinge im KZ Buchenwald aus 13 Län- lichkeit. Herr Schröder stellte sich im Bundestag in die Stie- dern und dem gesamten Spektrum der demokratischen fel von Willy Brandt und sagte zur Osterweiterung: „Es Linken. Sie mahnten nach der glücklichen Befreiung wächst zusammen, was zusammengehört.“ Nur acht Wo- durch US-Soldaten im Jahr 1945, Europas kulturelle chen nach diesem Satz stehen wir in Europa vor einem Mission in der Welt zu erneuern. Die erste Vorausset- Scherbenhaufen. Was ist das für eine Weitsicht, was ist zung dafür sahen sie in der deutsch-französischen und in das für eine politische Führung? der deutsch-polnischen Verständigung. Auf diese Tradi- tion sind wir stolz – und das zu Recht. (Karin Kortmann [SPD]: Was ist das für ein Schmarren?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sehr geehrte Damen und Herren, wir brauchen in Deutschland und in Europa klare Führung statt Beliebig- Sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik keit. Deutschland, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, haben, jeder zu seiner Zeit, dazu Herzlichen Dank. Wegweisendes geleistet. Die besonderen Verdienste von (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. christdemokratischen Regierungschefs wie Konrad Ulrich Heinrich [FDP]) Adenauer und Helmut Kohl um Europa möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich einbeziehen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Eine EU-Verfassung des Jahres 2003 ist allerdings nur möglich, weil die deutsche Ratspräsidentschaft 1999 Herr Kollege Rupprecht, ich gratuliere auch Ihnen ein Erfolg war, weil diese Bundesregierung mit dem herzlich zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Deutschen Konvent zur Grundrechtecharta den Integrationsprozess Bundestages und verbinde dies mit allen guten Wün- vom Kopf auf die Füße gestellt hat und weil SPD und schen für Ihre weitere Arbeit. Grüne die öffentliche Debatte der Bürgerinnen und Bür- (Beifall) ger sowie der Parlamentarierinnen und Parlamentarier an die Stelle von Geheimdiplomatie von Regierungsvertre- Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Axel Schäfer tern und Beamten gesetzt hat. (B) für die SPD-Fraktion. (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Axel Schäfer (Bochum) (SPD): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der seinerzeitige Vorsitzende der CDU/CSU-Frak- Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Europa ist tion, Kollege Schäuble, hat den damaligen EU-Gipfel, an auf einem guten Weg zur Verfassung. Lassen Sie es mich dem ich als Mitglied des Europäischen Parlaments als in einem Bild darstellen: Der europäische Zug rollt ra- Gast teilnehmen konnte, für gescheitert erklärt – trotz scher und rascher in Richtung Integration. Seit 1951 ha- der Erfolge im Kosovo, trotz des EU-Konvents, den wir ben wir die Lokomotive mehrfach generalüberholt: vom auf den Weg gebracht hatten. Die Geschichte ist darüber kohlegefüllten Stahltender der Montanunion über die hinweggegangen und hat unsere Position bestätigt. Diesellok der Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zur E-Lok des Binnenmarktes. Heute sitzen wir im Hochgeschwin- Diese europäische Konstitution wird bestimmt ein digkeitszug nach Brüssel. Statt wie früher nur sechs Modell ohne Beispiel; sie ist aber nicht ohne Vorbilder. Waggons bewegen wir künftig 25 oder 30. Mit neuen In- Gerade bei der Geburt einer Verfassung heute ist es strumenten passen wir die alten europäischen Gleise an wichtig, an „The Birth of a Nation“ von 1776 bis 1787 das rasante Tempo an; die Ära der Bummelzüge ist vor- zu erinnern. Damals schufen sich Menschen aus der al- bei. Nur mit starken, schnellen Zügen wie ICE, TGV, ten Welt in Amerika eine neue. Heute bilden in Europa Thalys und Eurostar kann die EU beim Wettbewerb mit- alte Staaten ein neues Gemeinwesen. Genau darin sehen halten. Es bleibt keine Zeit mehr, anzuhalten und zu ver- viele jenseits des Atlantiks heute ein Vorbild für regio- schnaufen. Wir müssen der europäischen Lokomotive in nale Zusammenschlüsse – Stichwort NAFTA. voller Fahrt die Räder wechseln. Die amerikanische Verfassung beginnt mit den Wor- (Heiterkeit) ten „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Ab- sicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen“. In der Mit dem EU-Verfassungskonvent und der zeitglei- europäischen Verfassung beginnen wir fast gleichlautend chen historischen Erweiterung um zunächst zehn Länder mit dem Wunsch der Völker und Staaten Europas, ihre bringen wir unseren Kontinent nahe an das heran, was Zukunft gemeinsam zu gestalten. einmal die Vereinigten Staaten von Europa sein werden. Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dies Gerade weil Europa und die USA so vieles an Über- Grundbestandteil ihrer geschichtlichen Identität. Unsere zeugungen und Grundsatzfragen verbindet, können wir Forderung nach deutscher Einheit als Anfang eines soli- unterschiedliche Positionen im Einzelfall austragen und darischen europäischen Staates datiert aus dem Jahr aushandeln. Ein Blick auf den Bericht des Europäischen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2369

Axel Schäfer (Bochum) (A) Parlaments 2002 zu den transatlantischen Beziehungen Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): (C) zeigt 64 Punkte, bei denen es in der Politik Meinungs- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen verschiedenheiten gibt. Von der Irakfrage war damals und Kollegen! In dem Antrag, den uns die Koalitions- überhaupt nicht die Rede. Gerade dabei kommt es auf fraktionen zu unserer heutigen Debatte vorlegen, heißt es gleiche Augenhöhe und zuweilen auch auf Tapferkeit – ich zitiere –: vor dem Freund an. Um den neuen außen- und sicherheitspolitischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Anforderungen gerecht zu werden, muss Europa des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auf der internationalen Bühne mit einer Stimme Der europäische Verfassungskonvent bedeutet in stür- sprechen. … Dies ist auch im Interesse einer ausge- mischen Zeiten zugleich eine klare Akzentuierung unse- wogenen und dauerhaften transatlantischen Partner- res Profils. Ortega y Gasset hat vor fast 50 Jahren festge- schaft wichtiger denn je. stellt: In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem Leider erleben wir derzeit, wie eklatant Anspruch und den Deutschen, Spanier, Franzosen und vier Fünftel un- Wirklichkeit rot-grüner Außenpolitik auseinander klaf- serer inneren Habe sind europäisches Gemeingut. – Wer fen. heute die Selbstbehauptung Europas will, braucht Selbst- bewusstsein und Selbstachtung. Aus gemeinsamen Wer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten muss gemeinsames Handeln erwachsen. Deshalb ist neten der FDP) diese Verfassung auch die allgemeine Antwort auf eine Durch die einseitige Vorfestlegung im Irakkonflikt konkrete Frage, die der Irakkonflikt stellt. Sie lautet: Ist unabhängig von dem Ergebnis der UN-Inspektionen hat das vereinte Europa mehr als die Summe seiner Teile die Bundesregierung nicht nur die atlantische Partner- oder fliehen wir in Zeiten, in denen die fortschreitende schaft dramatisch beschädigt. Sie hat Europa gespalten. Globalisierung harte Fakten schafft, zurück in den wei- Bei allem Optimismus, der in dieser Debatte zu Recht chen Schein von Renationalisierung? Nur Zusammenar- zum Ausdruck gekommen ist, müssen wir feststellen, beit oder doch Zusammenschluss? dass der europäische Einigungsprozess in einer der Jawohl, Europa braucht Mut und wir brauchen Mut zu größten Krisen, die es in den letzten Jahren gab, steckt. Europa. Mit dem EU-Konvent verbinden wir einen kriti- Das gilt vor allem für substanzielle Fortschritte im Be- schen, einen kreativen und einen offenen gesellschaftli- reich der Außen- und Sicherheitspolitik, wobei zurzeit chen Dialog. Denn eine Verfassung wird für Menschen die Vertrauensbasis, die dafür notwendig ist, nachhaltig gemacht. Sie müssen sich darin wiederfinden. Sie muss zerrüttet ist. klare Orientierungen, eindeutige Formulierungen und Das ist deshalb umso dramatischer, als der europä- (B) (D) auch Hoffnungen enthalten – im blochschen Sinne: „Ins ische Einigungsprozess auch nach der Osterweiterung Gelingen verliebt“. und nach dem Konvent fortgesetzt werden muss. Nur in Für uns gilt: Europa ist der Weg und das Ziel; der einem großen, politisch einigen und handlungsfähigen Frieden ist das Mittel und der Zweck. Deshalb bringen Europa können wir im 21. Jahrhundert unsere Interessen wir Deutsche in die künftige EU-Verfassung unsere wahren und unserer Verantwortung gerecht werden. Staatsräson vor dem Hintergrund der Präambel des Dieses Europa ist eben kein Gegensatz zur atlantischen Grundgesetzes ein. Wir wollen als gleichberechtigtes Partnerschaft, sondern ein wesentlicher Teil davon. Eu- Land in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt ropäische Einigung und transatlantische Allianz sind dienen. existenzielle Grundlagen für die Sicherung unserer Zu- kunft. Glück auf! Natürlich haben gerade wir Deutschen ein ureigenes (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Interesse am Erweiterungsprozess. Mit dem Beitritt un- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der serer östlichen Nachbarn erzielen wir einen historischen CDU/CSU) Erfolg bei der dauerhaften Sicherung von Frieden in Freiheit. Wie labil Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent immer noch sind, das haben wir gestern in Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: brutaler Weise durch die Ermordung des serbischen Mi- Herr Kollege Schäfer, als früheres Mitglied des Euro- nisterpräsidenten Djindjic wieder vor Augen geführt be- päischen Parlaments war das selbstverständlich nicht kommen. Ihre erste parlamentarische Rede. Aber dies war Ihre Im Übrigen hat die Befriedung des Balkans in den erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich herzlich 90er-Jahren auch deutlich gemacht: Ohne die Vereinig- gratuliere, ten Staaten von Amerika können wir Europäer die dauer- (Beifall) hafte Stabilisierung Ostmitteleuropas und Südosteuropas nicht leisten. Ich bin mir nicht sicher, ob in den Vereinig- verbunden mit allen guten Wünschen für die Fortsetzung ten Staaten von Amerika die Akzeptanz des Engage- Ihrer langjährigen Arbeit an dem gemeinsamen großen ments amerikanischer Soldaten auf unserem Kontinent Thema Europa. erhalten bleibt, wenn europäische Partner die Solidarität verweigern, wenn sich Amerika bedroht fühlt, Nun erteile ich dem Kollegen Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall des Abg. Peter Hintze [CDU/CSU]) 2370 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Dr. Andreas Schockenhoff (A) und wenn europäische Diplomaten im Sicherheitsrat of- Deshalb will ich abschließend auf das eingehen, was (C) fen gegen die Vereinigten Staaten von Amerika Stimmen Sie, Herr Bury, zum Instrument der verstärkten Zusam- sammeln. menarbeit gesagt haben. Selbstverständlich kann in ei- nem Europa mit 25 Mitgliedern vor allem im Bereich der Gestern hat der NATO-Rat beschlossen, mit Ablauf Außen- und Sicherheitspolitik nicht alles mit allen Mit- dieses Monats die Operation Allied Harmony in Ma- gliedern gemacht werden. Aber wir müssen auf dieses zedonien vorzeitig zu beenden. Von April an soll die Eu- Instrument zurückgreifen können. Nach unserer Auffas- ropäische Union diesen Einsatz übernehmen. Die CDU/ sung gilt: Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik CSU begrüßt dies ausdrücklich. Dies ist der erste militä- in Europa darf es keine verstärkte Zusammenarbeit ge- rische Einsatz im Rahmen des internationalen Krisenma- ben, an der nicht beide, also Deutschland und Frank- nagements, der von der Europäischen Union geführt reich, beteiligt sind. Es darf aber auch keine verstärkte wird. Obwohl die Gemeinsame Außen- und Sicherheits- Zusammenarbeit geben, die nicht für alle anderen EU- politik wegen des Irakkonflikts einen herben Rückschlag Mitglieder zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem sie dies erlitten hat, ist sie doch so weit institutionalisiert, dass es wollen und können, offen bleibt. zumindest im Kleinen Fortschritte zu verzeichnen gibt. Die enge Zusammenarbeit mit der NATO und auch der (Beifall bei der CDU/CSU) Rückgriff auf Fähigkeiten und Mittel der NATO bei der Was Sie zur Arbeitsteilung vor allem mit Blick auf die Übernahme des Mandats in Mazedonien sind vorgese- diplomatischen oder militärischen Fähigkeiten gesagt hen. Auch hier zeigt sich wieder: Dort, wo die Europäi- haben, ist selbstverständlich. Wir werden nächste Woche sche Union – und sei es nur im Kleinen – international bei der Haushaltsberatung sehen, ob Sie diesem An- agiert, ist sie ohne eine enge Abstimmung mit der NATO spruch auch Taten und entsprechende Mittel folgen las- und damit ohne das „backing“ der Vereinigten Staaten sen. von Amerika nicht handlungsfähig. Die Osterweiterung der Europäischen Union ist eine Die deutsch-französische Zusammenarbeit – Herr historische Chance und Herausforderung für die deut- Staatsminister Bury hat zu Recht darauf hingewiesen – sche Außenpolitik. Es ist höchste Zeit, die Hand- bleibt für die europäische Einigung essenziell. Eine lungsfähigkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit Grundlage deutscher Außenpolitik war immer, eine aus- zurückzugewinnen, die durch den Sonderweg der Bun- gewogene Balance zwischen transatlantischer Koopera- desregierung gegenüber den heutigen und künftigen tion und deutsch-französischer Partnerschaft zu suchen. Partnern in der EU verspielt worden ist. Diese Balance hat der Bundeskanzler aufgegeben. Vielen Dank. Zu den Grundlagen unserer Außenpolitik hat auch (B) immer gehört, dass wir auf der einen Seite eine privile- (Beifall bei der CDU/CSU) (D) gierte Partnerschaft mit Frankreich pflegen, uns anderer- seits aber auch zum Anwalt der Interessen kleinerer EU- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Mitgliedstaaten machen. Auch diese Ausgewogenheit hat der Bundeskanzler aufgegeben, und zwar erstmals – Das Wort hat nun der Kollege Markus Meckel für die das hat nachhaltiger gewirkt, als uns heute lieb sein SPD-Fraktion. kann – mit der offenen Brüskierung Österreichs, nach- dem Wolfgang Schüssel zum Bundeskanzler gewählt Markus Meckel (SPD): wurde. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrter Kollege (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!) Schockenhoff, Sie sind wahrhaftig ein akzeptierter Au- ßenpolitiker, aber manchmal fehlt die Wahrnehmung der Vor allem in den Staaten, die jetzt der Europäischen Realitäten. Es ist richtig, dass sich die Situation in Eu- Union beitreten, hat dies psychologisch eine verheerende ropa so darstellt, dass es eine Spaltung der Europäer in Auswirkung gehabt. Gerade die Ost- und Mitteleuropäer der Frage, wie der Irak entwaffnet werden soll, gibt, dass haben immer wieder gesagt: So etwas passiert nur einem es insoweit unterschiedliche Positionen gibt. Das ist aber kleinen oder mittleren Land und wir, die beitreten, sind nicht einfach der Bundesregierung anzulasten, sondern alles kleine und mittlere Länder; einem großen Land das liegt daran, dass hier sehr unterschiedliche Positio- wäre das nicht passiert. Auch die Art und Weise der nen und Ansätze miteinander in Einklang gebracht wer- deutsch-französischen Vorgehensweise im Irakkonflikt den müssen. gegenüber den kleinen und auch gegenüber den jetzt bei- tretenden Staaten war Zurzeit sind vier europäische Staaten Mitglied im Sicherheitsrat. Es gibt ein ständiges Mitglied – Frank- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Verheerend!) reich –, das der deutschen Position sehr nahe steht. psychologisch verheerend. Dann gibt es ein anderes ständiges Mitglied – Großbri- tannien –, das der Position der USA und Spaniens sehr (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wo war denn nahe steht. Dort reden und diskutieren wir darüber, wel- die Kritik unseres Außenministers?) ches der beste Weg zur Abrüstung des Irak ist. Die deutsch-französische Partnerschaft ist eben kein Ma- Es stellt sich die Frage – diese Frage hat der Außen- jorat, sondern sie ist Motor der Einigung. Sie muss im minister schon an Sie gerichtet –, wie Sie sich da einord- Interesse der Europäischen Union wirken. nen. Sind Sie der Meinung, dass ein „schwerwiegender Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2371

Markus Meckel (A) Verstoß“ gegen die Resolution 1441 vorliegt – ein „mate- Meine Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist ein (C) rial breach“ –, oder sind Sie der Meinung, dass die In- großer Fortschritt, dass Europa auch eine sicherheitspoli- spektionen auf der Grundlage dessen, was jetzt geschieht, tische Dimension hat und außenpolitisch wirklich ge- fortgeführt werden sollen? Das sind die politischen Ent- meinsam agiert. Das wurde bis 1999 nicht für möglich scheidungen, vor denen Sie stehen. Sie müssen im Rah- gehalten. Dass wir dazu heute im Konvent einen ganz men der Konstellation Europas versuchen, Ihre eigene breiten Konsens haben, ist bereits mehrfach angespro- Position zu beziehen. chen worden. Dass es möglich ist, bereits über einen eu- ropäischen Außenminister zu sprechen, ist ein ungeheu- Wenn wir uns diese unterschiedliche Situation anse- rer Fortschritt. hen – die unterschiedlichen Einschätzungen sind offen- sichtlich –, dann stellen wir fest, dass sich die griechi- Heute geht es darum, diesen politischen Willen ange- sche Präsidentschaft erfolgreich um eine gemeinsame messen umzusetzen. Ich denke, dass es gerade im trans- Position bemüht hat, auf die man sich am 27. Januar atlantischen Verhältnis ausgesprochen wichtig für uns einigte. Wir haben dann erleben müssen, dass nicht die alle ist, dass Europa gemeinsam agiert und gemeinsam Ost- und Mitteleuropäer die Initiative ergriffen haben, auftritt. Es wäre ein völlig falsches transatlantisches Ver- sondern Herr Blair und Herr Aznar. Man kann vermuten, ständnis, zu glauben, durch eine Spaltung Europas nutze dass sie vielleicht nicht ganz alleine auf den Gedanken man Amerika. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den gekommen sind, eine Initiative zu starten, um diesen wir uns deutlich machen müssen. Das transatlantische Ver- Konsens kaputtzumachen. hältnis wird umso stärker sein, je klarer Europa Amerika als Partner auf gleicher Augenhöhe begegnet, als Partner Wir kritisieren nicht den Inhalt der Erklärung, der sich mit gemeinsamen Werten, in gemeinsamen Institutionen unsere osteuropäischen Partner angeschlossen haben, und mit ganz zentralen gemeinsamen Interessen weltweit. sondern das Prozedere. Ich komme gerade aus Polen und Budapest, wo mir sehr deutlich gesagt wurde, dass man (Beifall bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ dies aus heutiger Sicht für problematisch hält. Die Dis- CSU]: So, wie wir es im Augenblick praktizie- kussion findet in den Ländern statt. Auch in Budapest ren! Das ist Ihre Wunschrealität!) und in Polen wird darüber diskutiert und es wird allge- Die Erweiterung der EU ist beschlossen. Im nächsten mein gesagt, dass wir so nicht miteinander umgehen Monat wird die feierliche Unterzeichnung stattfinden, sollten. Den Regierungschefs Polens und Deutschlands, die sich so gut kennen und so oft gesehen haben wie vor- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die verklärte her niemals Regierungschefs der beiden Länder, sollte so Welt!) etwas nicht passieren. Aber wer wollte es dem polni- aber wir werden auch die Referenden in den Beitritts- (B) schen Regierungschef vorwerfen, wenn wir gleichzeitig (D) feststellen müssen, dass auch der polnische Staatspräsi- staaten haben. Wir haben die Wackelpartie und die Dis- dent es vorher nicht wusste? kussion in Malta erlebt und sind froh, dass dieses Land, das als erstes sein Referendum abgehalten hat, recht Es gibt also manchmal Kommunikationsschwierig- deutlich zugestimmt hat. Es wird dort, wie wir wissen, keiten in einem Staat, es gibt Kommunikationsschwie- zwar noch einen parlamentarischen Prozess und Wahlen rigkeiten in Europa. Ich denke, wir alle sollten und kön- geben, aber ich glaube, Malta ist auf einem guten Wege. nen daraus lernen. Ich glaube, es ist uns allen, und zwar sowohl den Beitrittsstaaten als auch den Mitgliedstaaten, Schwieriger wird die Abstimmung in Slowenien, der bewusst, dass es darum geht, Europa auch in der Außen- wir mit Spannung entgegensehen. Dort ist zwar die Ak- und Sicherheitspolitik gemeinsam stark zu machen. zeptanz für die EU groß, allerdings wurde das Referen- dum mit der Abstimmung über die NATO-Mitglied- Bei der Betrachtung der jetzigen Situation sehen wir schaft verbunden. Eine NATO-Mitgliedschaft ist in der heute normalerweise zuallererst die gespaltene Position Bevölkerung nicht sehr populär. Wenn es zu einem Krieg Europas. Wenn wir uns aber die Entwicklung der GASP kommen sollte – wir hoffen zwar alle, dass er verhindert und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs- werden kann; aber es sieht ja nicht danach aus –, und politik, ESVP, seit 1999 und eben nicht nur die Ent- dies im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit wicklung seit gestern ansehen, stellen wir fest, dass un- dem Referendum, dann müssen wir uns durchaus große geheuer viel passiert ist. Das kann niemand von uns Sorgen machen. leugnen. Ich denke dabei natürlich an das Schaffen der entsprechenden Institutionen und der entsprechenden Ich hoffe, dass alle Referenden erfolgreich durchge- Ausschüsse sowie an das Zusammenbinden der militäri- führt werden. Es darf bei den neuen Mitgliedstaaten schen und der zivilen außenpolitischen Arbeit. In dieser Ost- und Mitteleuropas nicht der Anschein erweckt zentralen Frage hat gerade Europa besondere Verdienste, werden – so kam das etwa durch die Reaktion Chiracs auch in der Vergangenheit. auf den Brief der Acht bei ihnen an –, dass sie nicht zur Definition eigener, selbstständiger Positionen und zum (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Einbringen ihrer Positionen in die europäische Mei- nungsbildung berechtigt sein sollten. Wir wollen sie als Dies wollen wir gemeinsam weiterentwickeln zu einer in- wirkliche Partner. Es ist richtig, dass sie sich als solche tegrativen Außenpolitik Europas, in der die politischen, zur Sprache bringen. ökonomischen, zivilen und auch die militärischen Mög- lichkeiten, die Europa hat, zu einer Gemeinsamen Au- Deshalb ist es meiner Meinung nach gut, wenn der pol- ßen- und Sicherheitspolitik zusammengeführt werden. nische Außenminister Initiativen zur Gestaltung der 2372 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Markus Meckel (A) Nachbarschaft ergreift. Die Europäische Union hat jetzt Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): (C) dazu einen Text vorgelegt. Wir werden darüber reden Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vor- müssen, wie die Gestaltung einer guten Nachbarschaft in redner haben zu Recht gesagt, dass die Osterweiterung der Europäischen Union auch mit Blick auf künftige Er- der Europäischen Union ein epochales Ereignis ist. Dass weiterungsprozesse vorangebracht werden kann. Der Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenschutz in Mord an Zoran Djindjic, den wir gerade erleben mussten, dann 25 Staaten Europas mit 450 Millionen Menschen ist für uns ein ganz klares Signal und eine Warnung, dass absolute Geltung haben werden, hat der Union Kraft ge- wir aktiv werden müssen und dass wir den Ländern in die- geben, seit Jahrzehnten auf dieses Ziel hinzuarbeiten. ser Region und den restlichen Ländern Europas verstärkt Wir wollen diese historische Chance nutzen, die auch eine Perspektive auf eine Mitgliedschaft geben müssen. eine noch intensivere Verständigung mit unseren öst- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lichen Nachbarn umfasst. Meine Damen und Herren, wir haben uns sowohl im (Beifall bei der CDU/CSU) Rahmen der EU, wo wir mit dem Headline Goal die militärische Dimension implementieren wollen, als Verständigung und Aussöhnung – das sind Ziele, die auch im Rahmen der NATO, wo wir die Response Force die Heimatvertriebenen bereits im August 1950 in ihrer beschlossen haben, hohe Ziele gesetzt und müssen nun Stuttgarter Charta proklamiert haben. Es geht darum, die zusehen, dass dies kompatibel wird. Dazu gibt es den Gräben zuzuschütten und ein geeintes Europa zu schaffen, festen Willen. Dabei müssen wir darauf achten, dass wir in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. die Grundsätze wirklich in der Praxis umsetzen. Wir ha- Weil dies auch unsere Ziele sind, haben wir als Union die ben nur eine Bundeswehr. Angesichts der Defizite, die wichtige Brückenfunktion der deutschen Heimatvertrie- im Bereich der Streitkräfte – bei den Transportkapazitä- benen und Volksgruppen in Mittel- und Osteuropa stets in ten, bei der Kommunikation und der Aufklärung – vor- besonderer Weise herausgestellt. Deswegen werden wir handen sind, werden wir große Anstrengungen tun müs- die berechtigten Anliegen der Heimatvertriebenen im sen. Das geht nur durch Arbeitsteilung, durch Bündelung Rahmen der Osterweiterung zur Sprache bringen. und dadurch, dass wir in Absprache mit den anderen eu- (Beifall bei der CDU/CSU) ropäischen Partnern gemeinsam handeln. Weil das Recht auf die Heimat gilt, muss die in der Wichtig scheint mir – damit möchte ich schließen –, Europäischen Union geltende Freizügigkeit ein Schritt dass wir auch in der Frage der Rüstungs- und Anschaf- hin zur Verwirklichung dieses Rechts auf die Heimat fungspolitik in Europa zu gemeinsamer Aktion, zu ge- sein, und weil sich Europa als Rechts- und Wertegemein- meinsamem Handeln kommen. Im Rahmen des Kon- schaft versteht, müssen Völker und Volksgruppen ohne (B) vents ist der Vorschlag gemacht worden, eine rechtliche Diskriminierung zusammenleben können. (D) europäische Rüstungsagentur zu schaffen. Ich denke, Deswegen betone ich: Die Vertreibungsdekrete und das ist ein ganz zentrales Thema, nicht nur für die euro- Vertreibungsgesetze sind Unrecht. päische Rüstungswirtschaft, die gegenüber der Rüs- tungswirtschaft der USA konkurrenzfähig sein soll, son- (Beifall bei der CDU/CSU) dern auch für eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Wir Daher darf zum Beispiel das so genannte tschechische brauchen gemeinsames Handeln im Rüstungssektor. Straffreistellungsgesetz von 1946, durch das die Verbre- Deswegen sollten wir diese Agentur intensiv unterstüt- chen an Deutschen und Ungarn bis hin zur Tötung straf- zen, einmal deswegen, weil sie Forschungs- und Ent- frei gestellt wurden, keine Gültigkeit mehr haben. Glei- wicklungsvorhaben in Europa fördern kann, aber auch ches gilt für die Aufhebung der Unschuldsvermutung deswegen, um die Einhaltung der Kapazitätsziele, die und die entschädigungslose Enteignung. Sie dürfen wir als Staaten versprochen haben, zu erreichen. keine notwendigen Sanktionen mehr sein, wie es das Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten tschechische Verfassungsgericht noch 1995 bedauer- Weg und sollten uns dessen auch bewusst sein. Im licherweise ausdrücklich erklärt hat. Jahr 1989/90 haben wir – denken Sie einmal zurück – noch über „Vertiefung oder Erweiterung?“ diskutiert. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Heute sind wir dabei, in einem parallelen Prozess beides Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwi- zu erreichen. Wir haben die große Erweiterung beschlos- schenfrage des Kollegen Meckel? sen und sollten alles dafür tun, dass die Referenden ge- lingen. Darüber hinaus werden wir am Ende des Jahres hoffentlich eine europäische Verfassung haben. Dies Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): wird ein großer Erfolg sein. Bitte schön, Herr Präsident. Ich danke Ihnen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Bitte sehr.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Markus Meckel (SPD): Ich erteile das Wort dem Kollegen Erwin Sehr geehrter Herr Kollege, ich denke, wir alle in die- Marschewski, CDU/CSU-Fraktion. sem Hohen Hause sind uns einig, dass Vertreibungen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2373

Markus Meckel (A) Unrecht sind. Dies ist hier von Vertretern aller Fraktio- mindestens sechs Entscheidungen entsprechend geäußert (C) nen mehrfach gesagt worden. hat. Sie wissen, dass auch das Europäische Parlament die Aufhebung verlangt hat. Wenn Sie gar nichts überzeugt: Ich glaube, es gibt aber ein Missverständnis. Deshalb Der Bayerische Landtag hat mit den Stimmen von CSU möchte ich Sie dazu etwas fragen. Wollen Sie damit sa- und SPD einen Beschluss in diesem Sinne gefasst. gen, dass Sie dieses Thema jetzt, nachdem die Verhand- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der lungen mit diesen Ländern über den Beitritt zur Europä- SPD, ich sage dazu nur: Tut es ihnen gleich! ischen Union zu einem Ende geführt worden sind – die Verträge sind zwar noch nicht unterschrieben, aber die Sie wissen doch genauso gut wie wir: Nur wenn wir Verhandlungen sind beendet –, erneut aufgreifen und auch das ansprechen, wenn wir darüber diskutieren und einbringen wollen? Wollen Sie damit sagen, dass dies für wenn wir zu anderen Ergebnissen kommen, können wir Sie ein neues Feld ist und dass diese Frage in den Verträ- als Nachbarn in eine gemeinsame und bessere europä- gen noch in irgendeiner Weise berücksichtigt werden ische Zukunft gehen. muss? Hier wäre Klarheit wichtig. Herzlichen Dank.

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Meckel, ich will eines sagen: Vertreibung und Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ethnische Säuberung dürfen nirgendwo Bestandteil einer bestehenden Rechtsordnung sein. Es kann nicht sein, Bevor ich dem Kollegen Meckel das Wort zu einer dass diese Dinge zum Beispiel in der Tschechischen Re- Kurzintervention erteile, möchte ich – ganz freundlich – publik noch in den Gesetzesblättern stehen. Das muss darauf hinweisen, dass der zwischen den Fraktionen ver- durch eine Erklärung des Parlaments oder Ähnliches be- einbarte Zeitplan unserer heutigen Plenardebatte schon endet werden können. Denn für uns ist es doch eindeutig kräftig aus dem berühmten Ruder gelaufen ist. Ich wäre – dies will ich mit meinen Ausführungen sagen –: Dies dankbar, wenn alle dies bei ihren Zusatzfragen, Interven- alles steht im klaren Widerspruch zu dem Geist und den tionen und der Ausnutzung ihrer Redezeit berücksichti- Werten der Europäischen Union und des Völkerrechts. gen. Das ist unsere Intention. Bitte schön, Herr Meckel. (Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Markus Meckel [SPD] meldet sich zu einer weiteren Markus Meckel (SPD): Zwischenfrage) Vielen Dank, Herr Präsident. Ich werde mich kurz (B) – Ich möchte in den verbleibenden Minuten gern zu fassen. (D) Ende ausführen, verehrter Herr Kollege. Herr Marschewski, wir sind uns völlig einig, dass wir Um eines noch zu sagen: Wir Deutsche wissen natür- die Fragen von vergangenem Unrecht und von Vertrei- lich um das schwere Unrecht, das die Nazis auch vielen bung, dass wir unsere europäische Geschichte überhaupt Völkern Osteuropas zugefügt haben. Das, was Helmut noch intensiv zum Thema machen müssen. Das gilt nicht Kohl ausgedrückt hat, ist aber auch richtig: nur für unsere östlichen Nachbarn, sondern das betrifft Weder wird deutsche Schuld durch das Unrecht der unsere Situation in Europa insgesamt. Wir brauchen über Vertreibung auch nur um ein Jota gemindert, noch die Ländergrenzen hinweg den gemeinsamen Willen zur hebt deutsche Schuld das Unrecht der Vertreibung Behandlung von Geschichte und sollten versuchen, ge- auf. meinsam Geschichte zu schreiben. Ich stimme Ihnen auch ausdrücklich darin zu, dass sich alle Staaten der Deswegen – das ist meine weitere Antwort – müssen Europäischen Union an die europäische Rechtsordnung diese Themen auch im Verhältnis zu unseren östlichen halten müssen. Nachbarn offener und intensiver angesprochen werden; sonst könnten sie den Weg in eine gemeinsame Zukunft Eine Frage ist mir aber wichtig und deshalb habe ich erschweren, Herr Kollege Meckel. mich doch noch zu einer Kurzintervention gemeldet – das ist in Ihrer Rede offen geblieben –: Wollen Sie sagen, Es ist die Verpflichtung der Bundesregierung, genau dies dass Sie Gesprächsbedarf sehen, oder wollen Sie sagen, zu tun. Wir beide kennen doch Art. 6 des Vertrages über dass Sie bis zum Abschluss der Verträge und ihrer Ratifi- die Europäische Union. In ihm sind die Grundsätze der zierung entweder von der Europäischen Kommission Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der eine entsprechende Initiative erwarten, um das Thema Rechtstaatlichkeit festgeschrieben, die die Mitgliedstaa- Verteibung zur Sprache zu bringen, oder sich von den ten akzeptieren müssen. Was aber in diesen Dekreten Nachbarländern eine entsprechende Entscheidung als Vo- steht, ist eben nicht rechtstaatlich. Sie stehen in eklatan- raussetzung für die Zustimmung Ihrer Fraktion zur Auf- tem Widerspruch zu Art. 6 des EU-Vertrages. Die Ver- nahme in die Europäische Union erhoffen. Diese Frage treibungsdekrete sind Unrecht und müssen aufgehoben möchte ich sehr gerne von Ihnen beantwortet haben. werden. Dafür steht die Union ein. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Mit dieser Haltung stehen wir nicht allein. Sie wissen, Herr Kollege Marschewski, möchten Sie antworten? – dass sich der UNO-Menschenrechtsausschuss in Genf in Gut, dann erteile ich Ihnen das Wort. 2374 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Mordanschlag von gestern hat dies unterstrichen. Es ist (C) ein großer Wert, dass in Europa eine Zone der Sicher- Herr Kollege Meckel, ich spreche nicht für alle Au- heit, der Demokratie und der wirtschaftlichen Zusam- ßenpolitiker der Union; das ist wahr. Aber ich kenne die menarbeit besteht, die nach der Erweiterung bis ins Bal- Meinung unserer Außenpolitiker. Sie alle vertreten ein- tikum, nach Bulgarien und Rumänien reichen wird. Das deutig die Auffassung: Wir müssen noch einmal mitein- bedeutet eine ganz neue Attraktivität. ander reden. Der Deutsche Bundestag hat in seinen Sit- zungen nach dem Krieg zum Volksgerichtshof und zu Einige von uns haben eine Einladung nach Oslo be- vielen anderen scheußlichen Dingen Nein gesagt und sie kommen. Die Norweger diskutieren auf einmal über ei- als Unrecht verurteilt. So etwas erwarte ich zum Beispiel nen Beitritt zur Europäischen Union. Diese neuen Ent- auch von unseren tschechischen Freunden. Was hindert wicklungen zeigen: Es gibt eine Attraktivität dieses sie daran, es uns gleichzutun und die Dekrete, die Ver- größten ökonomischen Binnenmarktes der Welt, der treibung, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, die nach der Erweiterung 450 Millionen Menschen umfas- Verurteilungen zum Tode, Totschlag und vieles andere sen und damit – auch das sollten wir sehen – ein starkes als Unrecht zu verurteilen? Das erwarten wir. Wir erwar- Gegengewicht zu den Wirtschaftsräumen in Nordame- ten, dass die Bundesregierung – der Außenminister ist rika und Asien bilden wird. nicht mehr anwesend – dies intensiv und kraftvoll vor- trägt. Ich halte es für Unsinn, eine Debatte zu führen, ob es sich um ein altes oder ein neues Europa handelt. Europa (Beifall bei der CDU/CSU) hat eine Geschichte, die mit Werten verbunden ist. Zu- künftig werden wir ein gemeinsames Europa haben. Das Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ist eine Antwort auf all diejenigen, die in Europa künst- liche Gräben errichten wollen. Wir wollen ein gemein- Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPD- sames und starkes Europa im Sinne einer Lebensverbes- Fraktion. serung der Menschen und der Friedenssicherung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kurt Bodewig (SPD): DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carl-Ludwig Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Thiele [FDP]) finde es gut, dass wir uns heute die Zeit nehmen, über In der Zuwanderungsdebatte heute Morgen hat ein zwei wirklich historische europäische Ereignisse zu Kollege der Union den Begriff vom gordischen Knoten sprechen: die Entwicklung einer europäischen Verfas- gebraucht. sung und das große Thema des Beitritts, also die Tat- (B) sache, dass Europa ab dem 1. Mai 2004 anders aussehen (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: FDP! Stadler war (D) wird. das!) Das Bemühen der Opposition, künstlich Gegensätze Wenn dieser Begriff in eine Richtung treffend ist, dann zu erzeugen, ist nur zum Teil gelungen. Schließlich füh- in Bezug auf den Gipfel von Kopenhagen. Dort ist, ge- ren wir heute eine Debatte über Europa und nicht über rade in Bezug auf die schwierigen Verhandlungen mit den Irak, auch wenn ein geeintes, starkes Europa meines Polen, ein gordischer Knoten durchschlagen worden, Erachtens eine Antwort in der Irakdebatte ist. Ich will und zwar nicht zuletzt vom Bundeskanzler. Das sollten nachher darauf eingehen. wir anerkennen und dafür sind wir dem Kanzler zu Dank verpflichtet. Es ist wichtig, festzustellen, dass die künstliche Tren- nung zwischen Ost und West aufgehoben worden ist. Die (Beifall bei der SPD) Qualität dieses Ereignisses können wir gar nicht hoch Herr Altmaier, das ist auch die Antwort auf Ihren Bei- genug schätzen. trag, in dem Sie uns glauben lassen wollten, der Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kanzler sei hinsichtlich Europa desinteressiert. Das Ge- DIE GRÜNEN) genteil ist richtig. Es geht um große Linien und um konkrete Kleinarbeit. Beides wird von dieser Bundesre- Ich bedauere, dass dies in der Debatte kaum Widerhall gierung mit Unterstützung des Parlaments hervorragend gefunden hat. Ist es so selbstverständlich, dass es in gehandhabt. Europa, zumindest in den Grenzen der Europäischen Union, seit 58 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hat? Mein Dank gilt natürlich auch Günter Verheugen, der Für diese Region der Welt ist das der längste Zeitraum in einer sehr schwierigen Situation die Interessen der friedlichen Zusammenlebens in der Historie. Auch das Staaten überein gebracht hat. Leider ist der schwere ist Europa. Zypernkonflikt, der übrigens auch Gradmesser für die Europafähigkeit der Türkei ist, noch nicht gelöst. Ich gratuliere dem Kollegen Rupprecht zu seiner ers- ten Rede. Seine bayerische Euroskepsis macht mich je- Die Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit zehn doch sehr nachdenklich. Ich fand das Statement, das Sie Staaten am 16. April ist dennoch ein historischer Vor- hier in Richtung Europa abgegeben haben, traurig, weil gang. Die Erweiterung wird zu Wachstum, ausländi- dieses Europa – auch nach der Erweiterung – eine hohe schen Direktinvestitionen und klaren wirtschaftlichen Attraktivität hat. Eine Zone der Sicherheit und Demo- Impulsen führen. Ich fand die Formulierung von Sir kratie zu haben ist keine Selbstverständlichkeit. Der Leon Brittan in diesem Zusammenhang sehr treffend: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2375

Kurt Bodewig (A) Die Bedeutung der Osterweiterung ist nur ver- der Frage eines Krieges gegen den Irak eine andere Mei- (C) gleichbar mit dem Abschluss der Römischen Ver- nung vertreten als Frankreich und Deutschland. Wir als träge im Jahr 1957. PDS teilen die Auffassung dieser Länder ausdrücklich nicht, weil wir der Meinung sind, dass Krieg kein Mittel Wenn uns das bewusst ist, können wir positiv nach vorne der Politik sein darf. schauen und den bayerischen Skeptizismus zur Seite schieben. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Ich will noch etwas zu Herrn Marschewski sagen. Ich Aber offensichtlich haben einige Politiker der EU ver- glaube, Ihre ganze Herangehensweise ist falsch. Dieses gessen, dass auch EU-Beitrittsstaaten souveräne Staa- Europa wird ein Europa der Gemeinsamkeit und der Be- ten sind. Sie haben wie jedes andere Land das Recht auf gegnung sein. Am sichersten wird gegen Vertreibung eine eigene Meinung und damit auch auf eine argumen- und ethnische Säuberung wirken, dass sich die Men- tative Antwort. schen kennen lernen. Wenn junge Menschen miteinander in einen Austausch treten, ist das das Wirkungsvollste, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) was wir auch im Sinne der Vertriebenen tun können. Da- Insbesondere die Reaktion des französischen Präsiden- ran sollten wir gemeinsam arbeiten. ten war sicherlich nicht von Argumenten dominiert und (Beifall bei der SPD) ist daher symptomatisch. Lassen Sie mich auch das Thema Handel ansprechen. Damit komme ich zu einem Aspekt, der in dieser De- Die EU-Osterweiterung hatte seine Vorgeschichte mit ei- batte bisher noch keine Rolle gespielt hat. Die Beitritts- nem Europaabkommen, mit dem faktisch eine europä- länder werden von der EU häufig wie Schuljungen be- ische Freihandelszone einherging. Allein der Beitritts- handelt, die gefälligst keine eigene Meinung vertreten prozess hat nun bewirkt, dass die Kandidatenstaaten in sollen. Meinungsmacher sind Frankreich, Deutschland Vorleistung gegangen sind: Sie haben die Stabilitätskri- und Großbritannien; die anderen Länder haben das terien ernst genommen und durchgesetzt. Das sind deut- Recht, sich dieser Meinung anzuschließen. Diese Sicht- liche Erfolge. weise ist mir bei den Beitrittsverhandlungen immer wie- der aufgefallen. Der Handelsbilanzüberschuss der EU gegenüber den zehn Beitrittsländern beträgt 20 Milliarden Euro. Die Verhandlungen wurden von oben herab geführt. Deutschland hat hieran einen Anteil von 50 Prozent. Die Beitrittsländer wurden häufig wie Bittsteller behan- Die ökonomische Wirkung ist also auch im Sinne delt. Die Ergebnisse der Verhandlungen sind gerade für Deutschlands positiv, wobei für die Beitrittskandidaten Polen in vielen Fragen eine Zumutung. Die EU fordert, (B) die strukturellen Chancen für eine wirtschaftliche Ent- dass alle Regeln durch die Beitrittsländer 1 : 1 übernom- (D) wicklung noch größer sind als im Europa der Fünf- men werden, gewährt aber gleichzeitig den zukünftigen zehn. Beides zusammengenommen wird dazu führen, EU-Bürgern nicht die gleichen Rechte wie den Alt-EU- dass neue Wachstumschancen entwickelt werden und Bürgern. Vor allem Deutschland hat mit völlig überzoge- dass ein Europa geschaffen wird – damit ende ich an nen Übergangsregeln – ich nenne nur die Einschränkung dem Punkt, an dem ich begonnen habe –, das Frieden der Niederlassungsfreiheit für Bürger aus den Beitritts- gewährleistet und eine starke Kraft darstellt. ländern für sieben Jahre – EU-Bürger erster und zweiter Klasse festgeschrieben. Ich glaube, dass dieses Europa nicht gegen Amerika gerichtet ist. Das Problem der acht Unterzeichner des Ich denke, die EU braucht dringend neue politische vielfach angesprochenen Briefes bestand doch vielmehr und strukturelle Ansätze. Man darf die Beitrittsländer darin, dass sein Inhalt nicht einmal in Übereinstimmung nicht wie Erstklässler behandeln, sondern man muss ih- mit der Auffassung der eigenen Bevölkerung stand. nen Spielräume lassen, damit sie Neues ausprobieren und Innovationen in die EU hineintragen können. Dieses Europa wird ein friedliches Europa mit guten Beziehungen zu den USA und anderen großen Zentren (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) dieser Welt sein. Wir sollten dieses friedliche Europa in Dabei handelt es sich um eine Lehre, die wir auch aus einem gemeinsamen Verständnis und mit Ihrer Unter- den Erfahrungen in Ostdeutschland ziehen müssen. stützung aufbauen. Die kritiklose Übernahme verkrusteter Strukturen der al- Vielen Dank. ten Bundesrepublik war ein schwerer Fehler und hat zur Stagnation in Ostdeutschland beigetragen. Das stelle ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht nur aus eigener Erkenntnis fest, sondern ich darf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) als Beispiel Professor Simon, seinerzeit Präsident des Wissenschaftsrates, zitieren, der von den im Kern verrot- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: teten Hochschulen sprach – in der alten Bundesrepublik, wohlgemerkt! Das Wort hat nun die Kollegin Frau Dr. Lötzsch. Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu der Arbeit Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): des Konvents machen. Die PDS im Bundestag begrüßt die Erarbeitung einer Verfassung für die Europäische Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige Union. Eine künftige Union der Fünfundzwanzig braucht EU-Beitrittskandidaten mit Polen an der Spitze haben in grundlegende Reformen. Sie braucht Institutionen und 2376 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Dr. Gesine Lötzsch (A) Verfahren, die auch mit 25 Mitgliedern funktionieren. Die europäischen Werte haben ihre Wurzeln im Chris- (C) Die PDS setzt sich dafür ein, dass folgende vier Punkte tentum und in der Aufklärung. Deshalb setzen wir uns in der zukünftigen Verfassung auf jeden Fall berücksich- von der CDU/CSU für die „invocatio dei“ ein. Der Be- tigt werden: zug zu Gott ist die kulturelle Klammer Europas, die jede Verfassung, auch die europäische, übersteigende Ver- Erstens: Sozialstaatlichkeit. Wir wollen, dass Sozial- pflichtung zur Verantwortung vor der höchsten Macht. staatlichkeit und soziale Marktwirtschaft in der Verfas- sung festgeschrieben werden; offene Marktwirtschaft ist (Beifall bei der CDU/CSU) uns zu wenig. Massenarbeitslosigkeit, soziale Ausgren- zung und Armut sind europäische Themen, die wir in Dass sich manche heute schwer mit dem Bekenntnis zu Europa gemeinsam angehen müssen. Dazu sollten wir Gott tun, haben wir schon bei der Vereidigung des amtie- uns auch verbindlich verpflichten. renden Atheistenkabinetts erlebt. Zweitens: Grundrechte. Die Grundrechte-Charta (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – muss – das ist schon von einigen Vorrednern angespro- Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- chen worden – in vollem Wortlaut an den Anfang der NIS 90/DIE GRÜNEN) Verfassung gestellt werden. Schon lange haben wir uns Kollege Marschewski hat Recht: In unserer europä- für ihre volle Rechtsverbindlichkeit eingesetzt. Alle Ver- ischen Wertegemeinschaft haben die diskriminierenden suche, die in ihr enthaltenen sozialen Grundrechte zu Benes-Dekrete keinen Platz. Leider warten die Europäer verwässern, lehnen wir als PDS ab. noch immer auf die tschechische Distanzierung vom Un- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) recht der Vertreibung, aber auch auf eine klare Stellung- nahme der rot-grünen Mehrheit in diesem Haus. Drittens: Demokratie. Das Demokratiedefizit der Eu- ropäischen Union muss in der Verfassung endlich ange- Wenn man auf dem von mir dargestellten Wertefunda- gangen werden. Das bedeutet Stärkung der Rechte der ment steht, dann wird auch klar, dass einer EU-Vollmit- Bürgerinnen und Bürger sowie Stärkung der Rechte des gliedschaft der Türkei die Basis fehlt. Daran sollten wir Europäischen Parlaments. künftig keinen Zweifel lassen, um einerseits die Integra- tionsfähigkeit Europas nicht zu überfordern und anderer- Viertens: Friedensverpflichtung. Wir halten es nicht seits die Partnerschaft mit der Türkei, die ich für sehr zuletzt vor dem Hintergrund der Diskussionen über ei- wichtig halte, nicht zu gefährden. nen drohenden Krieg gegen den Irak für unerlässlich, eine Friedensverpflichtung in der europäischen Verfas- Deutschland ist der bevölkerungsreichste Staat und der sung zu verankern. Darum muss sich die deutsche Bun- mit Abstand größte Nettozahler der Europäischen Union. (B) desregierung im Konvent noch mehr bemühen. Es sollte Bei mir in Schwaben gilt – Schwaben ist ja kein unwesent- (D) doch eine Selbstverständlichkeit sein, die Europäische licher Teil Europas –: Wer zahlt, schafft an; wer bezahlt, Union auch in ihrem außenpolitischen Handeln auf das bestimmt die Richtung. Die Bürgerinnen und Bürger er- Völkerrecht und insbesondere auf die Ächtung von An- warten, dass die Bundesregierung endlich die berechtigten griffskriegen zu verpflichten. deutschen Interessen in Europa und in der Konventsarbeit durchsetzt. Ich frage Sie: Wo ist Ihr Gesamtansatz, Ihr Herzlichen Dank. Konzept, das die Rolle Deutschlands in der Europäischen (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Union beschreibt? Vor Rot-Grün waren wir Deutschen Motor in Europa. Jetzt sind wir Schlusslicht. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Widerspruch bei der SPD) Letzter Redner in der Aussprache zu diesem Tages- – Ich würde an dieser Stelle auch lieber etwas anderes ordnungspunkt ist der Kollege Dr. Nüßlein, CDU/CSU- erzählen. Fraktion. Es ist wichtig, dass ein Verfassungsvertrag klare Kom- (Beifall bei der CDU/CSU) petenzabgrenzungen nach dem Subsidiaritätsprinzip ent- hält. Auch das ist übrigens ein Baustein christlicher Sozi- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): allehre. Nun gibt es Aufgaben, die unbestritten der Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Gemeinschaft zuzuordnen sind, zum Beispiel die Gemein- Damen und Herren! Das Zusammenwachsen Europas same Außen- und Sicherheitspolitik oder die Stabilität des und die Freundschaft Amerikas haben nach zwei Welt- Euro. Inzwischen mussten wir erleben, wie Rot-Grün die kriegen Frieden, Freiheit und Wohlstand gesichert. Darü- gemeinsame Sicherheitspolitik auf dem Wahlkampfaltar ber besteht Konsens. opfert. Wir müssen uns immer wieder anschauen, wie Rot- Grün wegen seiner kranken Finanzpolitik die Stabilitäts- (Beifall des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU]) kriterien des Euro zu Grabe tragen will. Herr Bodewig, ich denke, dass dies bereits in der heuti- (Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der gen Debatte entsprechend gewürdigt wurde. Konsens be- SPD: Wer hat die Rede aufgeschrieben?) steht aber auch darüber – so hoffe ich jedenfalls –, dass die EU nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine – Keiner von der SPD. Sie würden nämlich die Realität Wertegemeinschaft ist. nicht so deutlich ansprechen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2377

Dr. Gesine Lötzsch (A) Ihr politisches Siechtum in Deutschland darf aber Personen sich um die Zurückhaltung oder Präzision zu (C) nicht auch noch den Integrationsprozess in Europa infi- bemühen, die dem Gegenstand angemessen ist. zieren. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Da brauchen Die strikte Beschränkung der EU auf Kernaufgaben, wir erläuternde Ausführungen, um das zu ver- die nur gemeinschaftlich lösbar sind, ist gerade im Hin- stehen!) blick auf die Osterweiterung notwendig. Ich halte es, offen gesagt, für illusorisch, eine Vertiefung und eine Er- – Die liefere ich, Herr Kollege, gerne nach. weiterung der Europäischen Union vereinbaren zu wol- len. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das versteht kein Mensch! Vollkommen deplatzierte Be- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) merkung!) – Im Bereich der Kompetenzen. – Wir brauchen stattdes- Ich schließe damit die Aussprache. sen eine Rückübertragung von Kompetenzen, insbeson- dere eine Öffnung hin zu regionalen Eingriffsmöglich- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- keiten im Bereich der Struktur- und Agrarpolitik. Nur so empfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten ist die Osterweiterung für Deutschland zu verkraften und der Europäischen Union auf Drucksache 15/451. Der insgesamt zu finanzieren. Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- (Beifall bei der CDU/CSU) fehlung die Annahme des Entschließungsantrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Aber angesichts des wirtschaftlichen Desasters, das Rot- auf Drucksache 15/215 zu der Abgabe einer Regierungs- Grün anrichtet, spielen für Sie strukturelle Verwerfungen erklärung durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen wohl keine Rolle mehr. des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002. Wer stimmt für diese Beschluss- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!) empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- Die Landwirtschaft, zu der ich heute gar nichts ge- schlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition hört habe, hat Ministerin Künast längst abgeschrieben. gegen die Stimmen der Opposition bei einer Enthaltung Unsere Bauern wissen: Die Landwirtschaftsministerin angenommen. hat keine Kompetenz. Wir kommen zur Abstimmung über die Nr. 2 der Be- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE schlussempfehlung des Ausschusses. Hier geht es um GRÜNEN]: Ihre Bauern vielleicht!) die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU (B) – Sie haben wahrscheinlich keine. auf Drucksache 15/195 mit dem Titel „Der Weg für die (D) Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhand- Ich bitte Sie, die Sorgen der Menschen ernst zu neh- lungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen“. men. Für viele sind die Risiken der Osterweiterung Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer greifbarer als die Chancen. Für viele steht Brüssel für stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Bürokratie. Wenn wir bei diesen Institutionen über den empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der Doppelhut diskutieren, dann geht ihnen schon lange der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion ange- Hut hoch. Nur Transparenz sichert Akzeptanz. Verges- nommen. sen Sie bitte auch nicht die Zuständigkeiten des Deut- schen Bundestages, also unsere Informations-, Kontroll- Ich weise darauf hin, dass zu dem Antrag „Der Weg und Mitwirkungsrechte! für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitritts- verhandlungen auf dem Europäischen Rat in Kopenha- (Zuruf von der SPD: Wir sind doch im Parla- gen“ eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung vor- ment!) liegt, und zwar von den Kollegen Sehling, Zeitlmann, – Ich sage ja: unsere Rechte. – Europäisches Recht darf Aigner und zahlreichen anderen Kolleginnen und Kolle- nicht hinter verschlossenen Türen geschaffen werden. gen aus der CDU/CSU-Fraktion.1) Diese Erklärungen Ich appelliere gerade an die Kollegen der SPD und der werden dem Protokoll beigefügt. Grünen: Es ist in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie die Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europä- parlamentarischen Kontrollrechte nicht zu sehr aus der ischen Union empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschluss- Vogelperspektive der Regierungsfraktionen sehen. Lange empfehlung auf Drucksache 15/451 die Ablehnung des werden Sie das nämlich nicht mehr sein. Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/216 Vielen herzlichen Dank. mit dem Titel „Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europäischen Union“. (Beifall bei der CDU/CSU) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU-Frak- Herr Kollege Nüßlein, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer tion angenommen. ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich erlaube mir für die Zukunft die kleine Anregung, bei der verallge- meinernden Charakterisierung von Institutionen oder 1) Anlage 2 2378 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Wir kommen zur Abstimmung über die unter Tages- Töttgen, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeord- (C) ordnungspunkt 4 b sowie unter Zusatzpunkt 1 aufgeführ- neten und der Fraktion der CDU/CSU einge- ten Vorlagen. Interfraktionell wird die Überweisung der brachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbes- Vorlagen auf den Drucksachen 15/548 und 15/577 an die serten Schutz der Privatsphäre in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- – Drucksache 15/533 – schlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 15/548 zu- sätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) soll. Besteht darüber Einverständnis? – Das ist offenkun- Innenausschuss dig der Fall. Dann haben wir die Überweisungen so be- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schlossen. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a, 18 b, 10, ten Verfahren ohne Debatte. 17 sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an 18 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ver- überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of- wendung von Verwaltungsdaten für Zwecke der fensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so Wirtschaftsstatistiken (Verwaltungsdatenver- beschlossen. wendungsgesetz – VwDVG) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 c sowie – Drucksache 15/520 – 16 auf. Hierbei handelt es sich um Beschlussfassungen Überweisungsvorschlag: zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss Wir kommen zunächst zu den Beschlussempfehlun- Finanzausschuss gen des Petitionsausschusses. Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Tagesordnungspunkt 19 a: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Dieter Thomae, Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ausschusses (2. Ausschuss) Die Kompetenzen des Sports bei Prävention Sammelübersicht 19 zu Petitionen und Rehabilitation besser nutzen – Drucksache 15/482 – – Drucksache 15/474 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (B) Überweisungsvorschlag: hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 19 mit breiter (D) Sportausschuss (f) Zustimmung angenommen. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Tagesordnungspunkt 19 b: 10 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften ausschusses (2. Ausschuss) zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter Sammelübersicht 20 zu Petitionen – Drucksache 15/411 – – Drucksache 15/483 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Damit ist auch die Sammelübersicht 20 mit 17 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten breiter Zustimmung angenommen. Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze – Wi- Tagesordnungspunkt 19 c: derruf der Straf- und Strafrestaussetzung – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (...StrÄndG) ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 15/310 – Sammelübersicht 21 zu Petitionen Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) – Drucksache 15/484 – Innenausschuss Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- ZP 2a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD hält sich? – Damit ist auch die Sammelübersicht 21 ein- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- vernehmlich angenommen. brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Änderung des Melderechtsrahmengesetzes Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 15/536 – richts des Verteidigungsausschusses (11. Aus- Überweisungsvorschlag: schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Innenausschuss Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting, b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2379

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Adam, Ilse Aigner, , weite- vorstands gab und er in Erziehungsfragen das letzte Wort (C) rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU hatte, sind das – Elisabeth Selbert und ihren Mitstreite- rinnen sowie auch einigen Mitstreitern sei Dank – die Transatlantische Beziehungen stärken – Pots- gewonnenen Schlachten von gestern. dam Center fördern – Drucksachen 15/194, 15/519 – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Berichterstattung: CDU/CSU und der FDP) Abgeordnete Christian Schmidt (Fürth) Die faktische Gleichstellung ist jedoch trotz aller Fortschritte noch nicht erreicht. Dies belegen die Ab- Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf stände bei der Einkommens- und Rentenhöhe von Drucksache 15/194 abzulehnen. Wer stimmt für diese Frauen und Männern genauso wie der zu geringe An- Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – teil von Frauen in Führungspositionen. Vieles davon Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen wurde seit 1998 aktiv angegangen. Der Fünfte Staaten- der Koalition gegen die Stimmen der Opposition ange- bericht zum Übereinkommen der Vereinten Nationen nommen. zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Frau, CEDAW, zeigt eine gute Bilanz gleichstellungs- politischer Initiativen. Mit dem Programm „Frau und Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Beruf“ und dem „Nationalen Aktionsplan zur Bekämp- gierung fung von Gewalt gegen Frauen“ hat die Bundesregie- rung auch international Maßstäbe gesetzt. Aber der Be- Fünfter Bericht der Bundesrepublik Deutsch- richt zeigt ebenfalls – davor sollten wir nicht die Augen land zum Übereinkommen der Vereinten Na- verschließen – Handlungsnotwendigkeiten für heute tionen zur Beseitigung jeder Form von Diskri- und die nächste Zukunft auf. minierung der Frau (CEDAW) – Drucksache 15/105 – Was wurde erreicht? Wir haben heute in Deutsch- land die am besten gebildete und ausgebildete Frauen- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) generation, die es je gab. Junge Frauen haben heute die Innenausschuss jungen Männer bei den Bildungsabschlüssen sowohl in Rechtsausschuss Quantität als auch in Qualität eingeholt und teilweise Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überholt. Das hatte auch Folgen für das Einkommen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Bei den 20- bis 30-Jährigen liegt das Durchschnittsein- (B) Technikfolgenabschätzung (D) Ausschuss für. wirtschaftliche Zusammenarbeit und kommen der Frauen nur noch um 10 Prozent niedriger Entwicklung als das der Männer; im Gegensatz dazu bestehen bei den Gruppen höheren Alters Einkommensunterschiede Es liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der von 25 bis 30 Prozent. SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Ent- schließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Daraus und auch aus der Tatsache, dass Frauen bei Führungsfunktionen nach wie vor einen auch im euro- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die päischen Vergleich zu geringen Anteil haben, hat die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Bundesregierung Konsequenzen gezogen, unter anderem Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen. durch die gleichstellungsorientierte Neufassung des Be- Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn erteile ich der triebsverfassungsgesetzes, nach der Unternehmen und Bundesministerin Renate Schmidt das Wort. Betriebsrat bei allen betrieblichen personellen Maßnah- men auf Gleichstellungsgesichtspunkte zu achten haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wir haben durch das neue Gleichstellungsgesetz für den BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) öffentlichen Dienst des Bundes, das ich mir in ähnlicher Form auch für alle Länder wünsche, und durch die Ver- Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se- ankerung des Prinzips einer umfassenden Gleichstellung nioren, Frauen und Jugend: beider Geschlechter, des so genannten Gender-Main- streaming-Prinzips, Instrumente geschaffen, die erste Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Früchte tragen. Herren! Meine sehr geehrten Damen! Vor 92 Jahren, am 19. März 1911, wurde der erste Internationale Tag der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau begangen. Frauen kämpften um ihr Wahlrecht, um DIE GRÜNEN) bessere Bezahlung, aber immer auch um friedliche Lö- sungen bei internationalen Konflikten. Übrigens: Noch nie haben einer Regierung, sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene, so viele Ministe- In Deutschland haben wir seit Bestehen der Bundesre- rinnen angehört wie dieser Bundesregierung. publik die juristische Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht. Während zum Beispiel noch bis 1957 Wir haben mit der Verbesserung der Anrechnung von das Arbeitsverhältnis meiner Mutter ohne ihre Zustim- Teilzeitbeschäftigung und der Höhe der Anwartschafts- mung von meinem Vater hätte gekündigt werden kön- zeiten den Einstieg – ich betone: den Einstieg – in eine nen, es eine Schlüsselgewalt des männlichen Haushalts- eigenständige Alterssicherung von Frauen geschaffen 2380 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Bundesministerin Renate Schmidt (A) und mit dem Gesetz zur sozialen Grundsicherung im Al- worben wurden, im Beruf auch positiv zu bewerten und (C) ter insbesondere Frauenarmut im Alter beseitigt. nicht als Dequalifikation zu erachten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP]) Durch die Flexibilisierung der Elternzeit und den Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung Ich werde dazu beitragen, dass diese Erkenntnisse (Ina Lenke [FDP]: Das ist gerade das Pro- nicht nur Allgemeingut werden, sondern auch durch lo- blem!) kale Bündnisse für familien- und frauenfreundliche Ar- beitsbedingungen, zu denen selbstverständlich nicht nur können sich Mütter und Väter besser denn je Familien- betriebliche, sondern auch öffentliche Anstrengungen und Erwerbsarbeit teilen. gehören, umgesetzt werden. Letzteren werden wir mit Darüber hinaus haben wir präventiv durch unseren unseren beiden Programmen, dem 4-Milliarden-Euro- auch international beachteten Aktionsplan zur Bekämp- Programm für den Ausbau von Ganztagsschulen und fung von Gewalt gegen Frauen in diesem Bereich we- dem 1,5-Milliarden-Euro-Programm zur Verbesserung sentliche Erfolge erzielt. Wir werden den Aktionsplan der Betreuung der unter 3-Jährigen, Rechnung tragen. mit allen betroffenen Institutionen und Nichtregierungs- Ich betone nochmals: Dafür gibt es keine Zuständig- organisationen fortschreiben. keit des Bundes; es ist eine freiwillige Leistung. Länder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Kommunen sind schon seit langem in der Verpflich- DIE GRÜNEN) tung, das umzusetzen, was im Kinder- und Jugendhilfe- recht steht, nämlich den bedarfsgerechten Ausbau von Aber vor allem die gesetzlichen Maßnahmen haben Kinderbetreuungsplätzen zu gewährleisten. Hier wurde Wirkung gezeigt, und zwar umso bessere, je mehr die in den letzten drei Jahrzehnten leider zu wenig getan. Landesregierungen hinter den Intentionen des Gewalt- schutzgesetzes standen. So wurden in Nordrhein-West- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ falen zum Beispiel im ersten Halbjahr 2002 mehr als DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke 2 000 Wohnungsverweisungen des Täters durch die Poli- [FDP] – Ina Lenke [FDP]: Gerade Niedersach- zei ausgesprochen und damit 2 000 Müttern und ihren sen hat enorme Defizite!) Kindern der Verbleib in ihren Wohnungen ermöglicht. – Frau Lenke, ich mache da keine Unterschiede. Hier ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben sich weder CDU- noch SPD-regierte Länder beson- DIE GRÜNEN) ders hervorgetan. Das kann man für alle – mit graduellen (B) Unterschieden – sagen. (D) Gemeinsame zielorientierte Arbeit führt zum Erfolg. Im Interesse der Frauen werden wir das auch für die Natürlich weiß ich, dass allein bei Mentalitätsverände- Gleichstellung in der Privatwirtschaft umsetzen. rungen – auch wenn sie noch so sehr auf harten Fakten be- ruhen – der Zeitraum bis zur faktischen Gleichstellung (Ina Lenke [FDP]: Ach Gott! Das schafft ihr noch einmal mindestens 92 Jahre betragen würde. Dazu doch gar nicht!) funktioniert Old-Boys‘-Network leider Gottes im Gegen- Ende 2003 wird die Bilanzierung hinsichtlich der vom satz zu Young-Women‘s-Network einfach noch zu gut. Bundeskanzler mit den Wirtschaftsverbänden abge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schlossenen freiwilligen Vereinbarung vorgenommen. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke Die hochrangige Begleitgruppe ist installiert. Das IAB [FDP]) liefert uns Zahlen. Ich bin hoffnungsfroh, dass wenigs- tens einige positive Veränderungen erkennbar werden. Deshalb brauchen wir natürlich auch gesetzliche Maß- nahmen. Auf der Ebene der Spitzenorganisationen der Arbeit- geber, beim DGB, bei vielen Großbetrieben und auch ei- Die EU-Gleichstellungsrichtlinie, die in meinem nigen kleineren und mittleren Betrieben rennt man mit Haus federführend umgesetzt werden wird, bietet uns der Forderung nach frauen- und familienfreundlichen eine Reihe von Möglichkeiten. Wir werden sie nutzen Arbeitsbedingungen inzwischen offene Türen ein. und daraus gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeit- Diese Vorbilder werde ich sichtbar machen. Der nächste gebern ein vernünftiges Instrument für die Gleichstel- Wettbewerb „Der familienfreundliche Betrieb“ wird den lung von Frauen und Männern machen, und zwar über Schwerpunkt „flexible Arbeitszeiten und Kinderbetreu- das hinaus, was wir bereits mit dem neuen Betriebsver- ung“ haben. fassungsgesetz umgesetzt haben. Es wird unter anderem eine nationale Gleichbehandlungsstelle und in diesem Vorbildliches betriebliches Verhalten muss sich aber Rahmen für Fälle von grundsätzlicher Bedeutung ein in der Breite und nach unten fortsetzen. Deshalb werden Klagerecht geben. Es wird auch Sanktionen geben, die wir durch eine von uns in Auftrag gegebene Studie nach- diesen Namen verdienen. weisen, dass es sich auch betriebswirtschaftlich lohnt, die gut ausgebildeten Frauen zu halten, die Inanspruch- Diskriminierungen wegen des Geschlechts gibt es nach nahme von Teilzeit und Elternzeit für Frauen und Män- wie vor und allenthalben. So hat zum Beispiel das ZEW nern zu fördern und nicht zu behindern und – das ist mir in Mannheim ermittelt, dass sich die Inanspruchnahme besonders wichtig – Kompetenzen, die in der Familie er- von Elternzeit negativer auf das künftige Arbeitseinkom- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2381

Bundesministerin Renate Schmidt (A) men auswirkt als Arbeitslosigkeit von ähnlich langer Deshalb werden wir den Begriff Gender Mainstrea- (C) Dauer. Ich werde darauf achten, dass mit der richtigen ming nicht nur als Schlagwort benutzen, sondern Gender und notwendigen weiteren Umsetzung des Hartz-Kon- Mainstreaming im öffentlichen Dienst des Bundes prak- zepts, nämlich der Zusammenlegung von Arbeitslosen- tizieren und in den Köpfen der Verantwortlichen veran- und Sozialhilfe, nicht neue mittelbare Diskriminierungen kern. Dazu werden wir vor allem mit dem Aufbau eines für Frauen entstehen. Diese Gefahr besteht und wir müs- Gender-Kompetenzzentrums Hilfestellung leisten. sen schauen, dass wir sie abwenden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da- Diskriminierend ist auch, dass es in Deutschland zwar men, Gleichstellungspolitik ist mehr als Familienpolitik gleichen Lohn für gleiche Arbeit, nicht aber für gleich- und Familienpolitik ist mehr als Gleichstellungspolitik. wertige Arbeit gibt. Zwischenzeitlich gibt es sehr gute Keiner dieser Politikbereiche darf jemals Anhängsel des und praktikable Methoden, mit denen Gleichwertigkeit anderen sein oder werden. Politik für Frauen und mit von Arbeit ermittelt werden kann. Ich werde mich für Frauen ist eine Frage der Gerechtigkeit und darüber hi- Rahmenrichtlinien stark machen – und sie in meinem naus immer zugleich gute Familienpolitik, gute Gesund- Ministerium erarbeiten –, die den Tarifvertragsparteien heitspolitik, gute Bildungs- und Sozialpolitik, gute Wirt- helfen können, zu einer geschlechtergerechten Einkom- schaftspolitik und damit ein Stück Zukunftssicherung für mensfindung zu kommen, aber auch helfen, Diskrimi- uns alle: für Männer, für Frauen und natürlich für unsere nierungstatbestände aufzudecken. Kinder. Einkommensunterschiede resultieren neben den häu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ figeren Unterbrechungszeiten und den damit einherge- DIE GRÜNEN) henden selteneren Führungspositionen für Frauen – auch aus dem Berufswahlverhalten von Frauen. Bei den IT- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ausbildungsberufen verharrt der Anteil der Mädchen bei unter 14 Prozent. Mit dem neuen Programm „Informati- Ich erteile das Wort der Kollegin Maria Eichhorn, onsgesellschaft Deutschland 2006“ wollen wir das än- CDU/CSU-Fraktion. dern. Ziel ist die Steigerung des Anteils der Frauen in diesen Berufen auf 40 Prozent. Maria Eichhorn (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi- (B) Der Girls‘ Day, der Mädchenzukunftstag, wird dazu bei- nisterin, Schönreden hilft nicht. Die Armut der Frauen (D) tragen, das Interesse junger Frauen an angeblich frauen- hat sich leider nicht verringert. Im Gegenteil: Sie wird untypischen Berufen zu steigern. sich verstärken. Das ist für mich die wichtigste Erkennt- nis aus dem Bericht. Dazu werde ich ganz besonders (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stellung nehmen. DIE GRÜNEN) Deutschland ist aus der Balance geraten. Die Schere An einer weiteren Stelle werden wir tätig werden: Die zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahren Aufteilung der Steuerklassen III und V kann bei Frauen immer stärker geöffnet. Betroffen sind vor allem Er- den Eindruck erwecken, ihre Arbeit sei nichts wert. Wir werbslose, mittlerweile 4,7 Millionen Menschen, sowie werden eine Lösung dieses Problems herbeiführen, und Familien mit Kindern. Besonders ernüchternd ist die zwar so, dass das monatlich zur Verfügung stehende Fa- wirtschaftliche Lage der Frauen in Deutschland. Drei milieneinkommen nicht geschmälert wird und gleichzei- von vier Frauen zwischen 30 und 59 sind im Alter von tig die derzeit in der Steuerklasse V arbeitende Ehefrau Armut bedroht. Das hat das Deutsche Institut für Al- das ihr zustehende Nettoeinkommen erhält. tersvorsorge festgestellt. Die Gründe hierfür liegen in den typisch weiblichen Erwerbsbiographien. Frauen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verzichten wegen der Kindererziehung auf Erwerbstä- DIE GRÜNEN) tigkeit oder unterbrechen sie. Sie sind häufiger teilzeit- Gleichstellungspolitik will heute mehr als vor beschäftigt, haben die schlechter bezahlten Jobs und 20 Jahren. Sie will beiden Geschlechtern alle Lebens- sind öfter von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Folge sind möglichkeiten ohne Diskriminierung eröffnen. Das nennt geringere Rentenansprüche, die oft kaum zum Leben man Gender Mainstreaming. Denn auch Männer sind reichen. benachteiligt, auch wenn sie es seltener merken als 1998 erklärte der Bundeskanzler in seiner Regie- Frauen. Wenn 75 Prozent der Männer, so das Ergebnis ei- rungserklärung, Frauen dürften nicht dafür bestraft wer- ner jüngsten Umfrage, für einen gewissen Zeitraum gerne den, dass Phasen der Kindererziehung und Erwerbsarbeit teilzeitbeschäftigt wären oder Elternzeit in Anspruch einander abwechseln. nähmen, dies aber nur zu einem Bruchteil tun, dann ist dies auch eine Beschneidung von Lebensmöglichkeiten (Zuruf von der SPD: Recht hat er!) aus Angst um den beruflichen Erfolg, aber auch wegen des Ansehensverlustes bei Kollegen und Vorgesetzten. Dem ist zuzustimmen. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Was der Deutsche Frauenrat bereits im Juni 2000 (Beifall bei Abgeordneten der SPD) festgestellt hat, wurde vom Statistischen Bundesamt am 2382 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Maria Eichhorn (A) Wochenende bestätigt: Frauen sind die Verliererinnen Das heißt, wir brauchen ein Konzept, das den Bedürfnis- (C) der rot-grünen Rentenreform. sen der Eltern und insbesondere denen der Kinder ge- recht wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: So ein Quatsch! Sie verdienten 2002 immer noch ein Drittel weniger als Das machen wir doch!) Männer. Die Kluft zwischen den Einkommen wird sich in Zukunft noch vergrößern. Ursache dafür ist die Dies ist uns besonders wichtig. Sie setzen allein auf Riester-Rente. Ganztagsangebote, wir dagegen auf ein vielfältiges Be- (Zuruf von der SPD: Ach!) treuungsangebot, das individuelle Erfordernisse berück- sichtigt. „Gleichberechtigung Fehlanzeige“, so lautete eine entsprechende Überschrift in der „Süddeutschen Zei- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der tung“. Die Riester-Rente verhindert, dass Frauen und SPD: Sie müssen zuhören!) Männer jemals gleich viel Geld haben werden. Der Viele Frauen unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit, um Grund liegt in den Produkten der Anbieter. Diese sehen sich voll der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Diese überwiegend schlechtere Tarife für Frauen als für Män- Frauen brauchen mehr Unterstützung beim Wiederein- ner vor. Wenn ein 30-jähriger Mann und eine 30-jährige stieg in den Beruf. Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass Frau die gleiche Summe in ihre Rentenvorsorge stecken, Mütter nach der Zeit der Familienphase oft nur noch in erhält der Mann bei einem Versicherungsbeispiel schlecht bezahlten, berufsfremden Tätigkeiten unter- 784 Euro Rente, die Frau jedoch 105 Euro weniger. Das kommen. Dazu müssen aber erst einmal Arbeitsplätze ist ein Skandal. geschaffen werden. Hier hat die Bundesregierung völlig (Beifall bei der CDU/CSU) versagt. Als Begründung wird die statistisch höhere Lebens- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) erwartung der Frauen angeführt. Dies bedeutet im Klar- Monat für Monat steigen die Arbeitslosenzahlen. Wir text: Frauen müssen entweder während ihres Berufs- sind sehr gespannt, was der Kanzler morgen dazu sagen lebens mehr für ihre Altersvorsorge sparen oder im Alter wird. Aber wir brauchen nicht nur Worte, sondern end- mit weniger Geld auskommen. Dies ist eine Ungleichbe- lich Taten. handlung sondergleichen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, die eigenständige soziale (B) Es kann ja wohl nicht sein, dass der Staat eine solche Sicherung ist ein Teil der Alterssicherung von Frauen. (D) diskriminierende Altersvorsorge fördert. Die Bundesre- Genauso wichtig ist die Hinterbliebenenrente. Die Ab- gierung nimmt dies lediglich bedauernd zur Kenntnis. senkung des Rentenniveaus durch Rot-Grün trifft die Sie akzeptiert also, dass die Frauen die Verliererinnen Frauen doppelt: bei ihrer eigenen Rente und bei der Wit- der Rentenreform sind. wenrente. Seit dem letzten Jahr ist die Witwenrente von Nach Meinung der Verfassungsrechtlerin Sacksofsky 60 Prozent auf 55 Prozent abgesenkt. Das entspricht ei- ist diese Unterscheidung jedoch ein klarer Verstoß gegen ner realen Kürzung um 8,3 Prozent. Diese Einschnitte Art. 3 des Grundgesetzes, wonach niemand wegen sei- können auch durch die Zuschläge für Kinder nicht aus- nes Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden geglichen werden. Das gesamte Versorgungsniveau sinkt darf. Sie sieht hier eine unmittelbare Diskriminierung, trotzdem um bis zu 25 Prozent. Das Einfrieren des Frei- die das Bundesverfassungsgericht sofort kippen würde. betrags und damit die Abkopplung von der allgemeinen Aber auch dann, wenn andere Verfassungsrechtler dies Einkommensentwicklung konnte die Union im Vermitt- anders sähen, läge immer noch eine mittelbare Diskrimi- lungsausschuss Gott sei Dank verhindern. nierung vor, gegen die der Staat vorgehen muss. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Die Bundesregierung kann nicht weiterhin die Hände Für uns steht fest, dass auf absehbare Zeit auf die Wit- untätig in den Schoß legen und sich hinter den Marktge- wenrente nicht verzichtet werden kann; denn nach Ex- setzen verstecken. Sie muss dafür sorgen, dass diese Un- pertenberechnungen wird die Rente von Frauen auch in gleichheit beseitigt wird. Die Privatvorsorge darf Frauen 30 Jahren im Durchschnitt nur etwa die Hälfte der Rente nicht zusätzlich belasten. Wir brauchen daher Unisex- von Männern betragen. Es ist unhaltbar, dass die Auf- Tarife. Die Rentenreform der Bundesregierung ist und wertung der Kindererziehungszeiten mit den Kürzungen bleibt ein Antifrauenprogramm. Die Renten für Frauen bei der Witwenrente finanziert wird. Statt Frauen stärker sind im Durchschnitt von denen der Männer weit ent- zu entlasten, werden sie noch weiter belastet. Das ist un- fernt. Hinzu kommt: je mehr Kinder, desto weniger sozial und ungerecht, meine Damen und Herren. Rente. (Beifall bei der CDU/CSU) Für uns ist der Ausbau der eigenständigen Alters- sicherung für Frauen besonders wichtig. Viele Frauen Dies gilt auch für die Förderung der Privatvorsorge, wollen Beruf und Familie miteinander vereinbaren. Vo- durch die Gutverdienende bevorzugt werden. Während raussetzung sind flexible Arbeitszeiten, vielfältige quali- eine Verkäuferin mit einem Einkommen von 15 000 Euro fizierte Angebote zur Teilzeitarbeit und der Ausbau einer eine Zulage von 155 Euro bekommt, bekommt ihr Chef bedarfsgerechten Kinderbetreuung für alle Altersstufen. mit einem Jahreseinkommen von 50 000 Euro zusätzlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2383

Maria Eichhorn (A) noch einen Steuervorteil von 650 Euro. Wo ist da Gerech- Der vorliegende Fünfte CEDAW-Bericht belegt ein- (C) tigkeit? drucksvoll, welche Fortschritte in den vergangenen vier Jahren durch die Politik der rot-grünen Bundesregierung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und erzielt wurden. Diese Fortschritte waren auch dringend der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Das sagt nötig; denn die von CDU/CSU geführte Regierung – das die Partei, die immer für die Progression war!) belegen die Zahlen – hatte uns 1998 eine eher miserable Die Union hat in ihrer Regierungszeit die Berücksich- gleichstellungspolitische Situation hinterlassen. tigung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversi- cherung eingeführt und damit den Grundstein für eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gerechtere Alterssicherung für Frauen gelegt. Generatio- und bei der SPD) nengerechtigkeit und soziale Verträglichkeit, das war Anders, meine Damen und Herren von der Opposi- und ist unsere Maxime. Diese sucht man bei Ihnen ver- tion, kann ich die lange Mängelliste des CEDAW-Aus- gebens. Wir wollen eine Alterssicherung für Frauen, die schusses zu den damals überfälligen gleichstellungspoli- Altersarmut verhindert und Ungerechtigkeiten beseitigt. tischen Notwendigkeiten nicht erklären. Stellen Sie sich Ihre Rentenreform ist bereits heute Makulatur. Trotz Re- die Kritik des Ausschusses wie einen TÜV-Bericht für form steigen die Beiträge weiter an. die Gleichstellungspolitik vor! Der Ausschuss hat der (Zuruf von der SPD: Wie hoch waren sie zu damaligen Bundesregierung eine Mängelliste mit mehr Ihrer Zeit?) als 28 Punkten zur Erledigung ausgehändigt. Wenn Sie mir erlauben, im Bild zu bleiben, sage ich: Was die von Daher fordern wir: Ändern Sie das Rentengesetz! Sorgen CDU/CSU geführte Bundesregierung gleichstellungspo- Sie dafür, dass die Frauen nicht weiter die Verliererinnen litisch hinterlassen hatte, konnte bestenfalls als „nicht der Rentenreform sind! fahrtüchtig“ bezeichnet werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Ina Lenke [FDP]: So ein Quatsch! – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Der Deutsche Frauen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rat stellt ein anderes Zeugnis aus! Was haben Sie denn schon getan?) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk. – Es ist so! Wir haben es leider schriftlich, Frau Eichhorn. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Die Kritik der Vereinten Nationen an der Gleichstel- GRÜNEN): lungspolitik der von CDU/CSU geführten Regierung be- (B) (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- zieht sich auf zwei zentrale Bereiche – das hört sich an- gen! Die heutige Debatte über den Fünften Staatenbe- ders an als Ihre Rede; die Medaille hat eben zwei Seiten –, richt der Bundesregierung zum Übereinkommen zur Be- einmal den fehlenden Abbau der systematischen Diskri- seitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau bietet minierung von Frauen, insbesondere im Erwerbsleben, die Gelegenheit, die Gleichstellungssituation in unserem und zum anderen die mangelhaften Maßnahmen zum Land etwas näher zu beleuchten. Alle vier Jahre muss Schutz von Frauen, insbesondere Migrantinnen, vor Deutschland dem zuständigen UN-Ausschuss über die Gewalt. Entwicklung der Lebenssituation von Frauen berichten. In diesen beiden Bereichen haben wir nachhaltige Ich freue mich besonders, zu unserer Debatte auch die Verbesserungen erzielen können. Ich nenne nur einige: Vertreterinnen zahlreicher Frauenverbände zu begrüßen, das Elternzeitgesetz, das Teilzeitgesetz, ein Gleichstel- die heute auf der Tribüne Platz genommen haben. Herz- lungsgesetz für den öffentlichen Dienst, gesetzliche Än- lich willkommen! derungen für die Erwerbsarbeit, das Lebenspartner- (Beifall) schaftsgesetz, die Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation von Prostituierten, das Gewaltschutz- Ihre oft auch kritischen Positionen im Interesse der gesetz, der eigenständige Aufenthalt für ausländische Frauen sind uns ein Ansporn für unsere Arbeit. Ehefrauen. Ich könnte diese Liste noch verlängern. Alles Das CEDAW-Abkommen zur Beseitigung jeder Form das haben wir in vier Jahren erreicht. Frau Eichhorn, das von Diskriminierung der Frau aus dem Jahr 1979 ver- sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen! pflichtet die Bundesregierung, die Gleichberechtigung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Mann und Frau in wirtschaftlicher, sozialer, kultu- und bei der SPD) reller, bürgerlicher und politischer Hinsicht sicherzustel- len. Durch die Verabschiedung des Fakultativprotokolls Wir sehen es aber auch als unsere Verpflichtung an, ist aus diesem CEDAW-Abkommen inzwischen auch ein Frauen, die Opfer furchtbarster Menschenrechtsverlet- rechtlich verbindliches Instrument entstanden. Seit Ja- zungen, etwa von Verstümmelungen, Vergewaltigungen nuar 2002 können Frauen im Falle einer Diskriminierung in kriegerischen Auseinandersetzungen und Zwangspros- nämlich individuell Beschwerde bis hin zu den Vereinten titution, werden, in Deutschland Schutz zu geben. Da- Nationen einlegen. Zurzeit wird in Deutschland das erste rum beinhaltet das Zuwanderungsgesetz – heute Morgen Untersuchungsverfahren durchgeführt. Im Falle von wurde darüber diskutiert – die Anerkennung ge- zehn weiblichen Angestellten in Diplomatenhaushalten schlechtsspezifischer und nicht staatlicher Verfolgung wird auf systematische Benachteiligungen hin geprüft. nach der Genfer Flüchtlingskonvention. 2384 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen von der Altersvorsorge. Ich lasse nicht in meiner Forderung (C) Opposition, Sie haben es nicht nur während Ihrer Regie- nach, dass wir hier Änderungen vornehmen müssen. In rungsverantwortung versäumt, etwas zum verbesserten diesem Punkt kann ich Ihnen, Frau Eichhorn, zustim- Schutz der Migrantinnen zu tun, sondern verhindern men; damit habe ich kein Problem. noch heute dringend notwendige Reformen. Ihre feh- Die Anmerkung des Ausschusses, stärker die notwen- lende Zustimmung im Bundesrat kann ich nur als eines dige Verhaltensänderung von Männern in den Blick zu bezeichnen: als verantwortungslos. Das sieht der CE- nehmen, ist Rückenwind für die Position der Grünen. DAW-Ausschuss ganz genauso. Damit deutlich mehr Väter schon früh Verantwortung für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihre Kinder übernehmen, wäre ein kurzer Vaterschaftsur- und bei der SPD) laub sicherlich ein sehr guter Anreiz. Auch die Mahnung des Ausschusses, die Wirkung des Ehegattensplittings Als würde das nicht reichen, haben Sie bereits angekün- im Hinblick auf die Verfestigung von stereotypen Rollen digt, erzielte Verbesserungen der rot-grünen Regierung zu überprüfen, ist Wasser auf unsere Mühlen. Denn das wieder rückgängig zu machen. Wir werden es nicht zulas- Ehegattensplitting und die Steuerklasse V haben sich als sen, dass künftig ausländische Ehefrauen vier Jahre in un- Erwerbshindernisse für Frauen herausgestellt. Das müs- zumutbaren Ehen verharren, um nicht aus Deutschland aus- sen wir ändern. gewiesen zu werden. Das werden Sie nicht erreichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich will es überhaupt nicht verhehlen: Wir haben noch und bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/ unendlich viel zu tun, bevor wir gerade im Erwerbsle- CSU]: Sie haben aber eine andere Meinung als ben und bei der traditionellen Rollen- und Aufgabenver- die Ministerin! – Zuruf der Abg. Ina Lenke teilung eine faktische Gleichstellung von Frauen und [FDP]) Männern erreicht haben. Diese Verantwortung nehmen wir ernst. Das wissen die Frauen; darum haben sie Rot- – Verehrte Kollegin Lenke, die FDP hat bis vor einem Grün wiedergewählt. Wir werden alles dafür tun, dass Jahr in ihrem Programm die Abschaffung des Ehegatten- die Lohnungerechtigkeit, die im Hinblick auf das durch- splittings vorgesehen. Irgendwann ist Ihnen in den Sinn schnittliche Frauen- und Männereinkommen besteht und gekommen, dass das für einzelne Personen eine Steuer- 30 Prozent ausmacht, bald der Vergangenheit angehört. erhöhung darstellen könnte. Beginnend beim öffentlichen Dienst werden wir die Ta- (Ina Lenke [FDP]: Fragen Sie doch einmal rifparteien auf nicht diskriminierende Tarife verpflich- Ihre Ministerin!) ten, wie es der Europäische Gerichtshof fordert. Ich freue mich, dass auch die Ministerin das gerade so formuliert Dann haben Sie es wieder herausgestrichen. Wir befan- (B) hat. Die jungen Frauen, die inzwischen bessere Schul- den uns lange in einem Boot. (D) und Hochschulabschlüsse haben als ihre männlichen (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das hatte die Kollegen, lassen sich nicht länger mit 70 Prozent des FDP nie in ihrem Programm!) durchschnittlichen Einkommens abspeisen. Frauen wol- len 100 Prozent. Es ist an der Zeit für Lohngerechtigkeit. – Herr Thiele, ich weiß das genau. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Nicolette Kressl [SPD]: Wahrscheinlich hat es und bei der SPD) der Herr Thiele wieder herausgenommen!) Zu Recht mahnt der CEDAW-Ausschuss aber auch Lassen Sie mich mit einem Zitat aus der Begründung die mangelnden Anreize für die Privatwirtschaft an, ak- des CEDAW-Abkommens schließen; denn auf die Frie- tiv an der Gleichstellungspolitik mitzuwirken. Mit der denspolitik im Zusammenhang mit Frauen bin ich über- Vereinbarung mit den Spitzenverbänden der Privatwirt- haupt nicht eingegangen. Wir haben gestern im Rahmen schaft ist ein Anfang gemacht. Das ist zu wenig; das wis- einer Umfrage zur Kenntnis nehmen können, dass sen wir. Wir werden die Erfolge prüfen und ich hoffe, es 94 Prozent der Frauen gegen einen Kriegseinsatz sind. wird Erfolge geben. Auch in diesem Zitat aus dem CEDAW-Abkommen wird auf die Friedenspolitik eingegangen. Dort heißt es: (Ina Lenke [FDP]: Was denn?) Voraussetzung für die vollständige Entwicklung ei- – Dann kommen gesetzliche Regelungen, verehrte Frau nes Landes, für das Wohlergehen der Welt und für Kollegin. Aber darauf komme ich in den nächsten Sät- die Sache des Friedens ist die größtmögliche und zen zu sprechen. Sie sollten sich also etwas gedulden. gleichberechtigte Mitwirkung der Frau in allen Be- Weitere Maßnahmen wie die Koppelung der Vergabe reichen. von öffentlichen Aufträgen an die Umsetzung der Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Gleichstellung und Regelungen für die Privatwirtschaft müssen bei der Umsetzung von EU-Richtlinien folgen. Ich danke Ihnen. (Ina Lenke [FDP]: Müssen nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Aber auch bei den Reformen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme muss das Prinzip „Gender Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Mainstreaming“ besser als bisher verwirklicht werden. Ich nenne die für Frauen höheren Beiträge für die private Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2385

(A) Ina Lenke (FDP): und haben Ihre Aufgabe nicht so hundertprozentig erfüllt, (C) wie die Jubelarien meiner Kollegin von den Grünen, Frau Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Schewe-Gerigk, das heute sichtbar machen sollten. komme gern auf die Rede meiner Kollegin von den Grü- nen zurück. Sie hat ja auf das Steuerrecht abgehoben. Zu Spannend ist, was in diesem Bericht nicht gesagt diesem Bereich können Sie sich ja einmal untereinander wird, aussprechen. Denn die Ministerin hat, während Sie von (Zuruf von der FDP: Ja, das ist richtig!) den Grünen gesagt haben, dass Sie in diesem Bereich et- was tun wollen, in einer Veröffentlichung ausgeführt, was untergeht und was falsch verstanden werden muss. dass das Ehegattensplitting nicht abgeschafft wird. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wohl war!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das! – So listet die Bundesregierung in ihrer Analyse zwar ge- Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Recht hat sie! – wissenhaft die eigenen und fremden Aktivitäten zur Be- Zuruf von der CDU/CSU: Das unterstützen seitigung der Diskriminierung von Frauen auf. Aber auf wir!) bestehende eklatante Defizite kommen Sie, Frau In den letzten vier Jahren habe ich festgestellt, dass nur Schmidt, in Ihrem Bericht nicht zu sprechen. sehr wenige Ideen von den Grünen hier im Bundestag (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird einfach umgesetzt wurden. ausgeblendet!) (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- In der Summe entspricht der Bericht der Bundesregie- SES 90/DIE GRÜNEN) rung meines Erachtens somit nicht dem Alltag der Ich freue mich – das möchte ich vorab sagen –, Frau Frauen in Deutschland. Ich meine, er ist geschönt. Ministerin, dass Sie in Ihrer Rede – das haben wir in den (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig! Leider letzten vier Jahren gefordert – darauf eingegangen sind, wahr!) dass wir die Lohnsteuerklasse V endlich abschaffen müssen. Es handelt sich hier um eine faktische Benach- Deswegen hat die FDP-Fraktion einen eigenen Ent- teiligung, nicht aber um eine rechnerische. schließungsantrag zu dem CEDAW-Bericht einge- bracht, über den wir ja auch demnächst in einer öffentli- (Renate Schmidt, Bundesministerin: Das ist chen Ausschusssitzung beraten werden. sie aber schon länger!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein guter – Nein, das habe ich hier im Bundestag zum allerersten Ansatz!) (B) Mal von Ihnen gehört. Das hat nie auf der Agenda von (D) SPD und Grünen gestanden. Wir wollen damit in entscheidenden Punkten die wahren Situationen und Zusammenhänge aufzeigen. In unserem (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja un- Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, diese Defi- glaublich!) zite zügig zu beseitigen. Auch wir werden eigene Vorschläge machen. Dann wol- (Beifall bei der FDP) len wir einmal sehen, ob es hier im Bundestag eine Sie haben uns im Boot, wenn Sie darauf liberale, nicht Mehrheit zur Abschaffung der Steuerklasse V geben nur soziale und grüne Antworten geben. wird. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Nicolette Kressl [SPD]: Das steht im GRÜNEN]: Gegen das Soziale sind Sie Koalitionsvertrag!) scheinbar! Das habe ich schon gemerkt!) Meine Damen und Herren, nun möchte ich zum aktu- Ich möchte in meinem Beitrag auf die dramatische ellen Tagesordnungspunkt, dem Fünften Bericht zum Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und in der Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung Wirtschaft in Deutschland zurückkommen. Bei über jeder Form der Diskriminierung der Frau, kommen. Hier 4,7 Millionen Arbeitslosen sind die Chancen für Frauen, erfüllt die Bundesregierung grundsätzlich ihre Berichts- eine unbefristete, existenzsichernde Vollzeitstelle zu fin- pflicht den, so schlecht wie nie. Die Zusammenhänge zwischen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber wie, aber verfehlter Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik und Be- wie!) nachteiligungen von Frauen verschweigt der Bericht ge- flissentlich; und legt uns auch eine nützliche Datensammlung vor. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aber of- Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Daten sind fenkundig!) wenig erfreulich. Ihr Bericht verweist auf die vielfältige Benachteiligung von Frauen in Deutschland und liefert denn es ist ja ein Bericht der Bundesregierung. Die ge- unzählige Belege dafür. Aus dieser Verantwortung kön- stiegene Erwerbstätigenquote von Frauen wird gelobt. nen Sie sich nicht stehlen. Denn Sie sind bereits ein hal- Jedoch wird nicht deutlich gemacht, dass zwar mehr bes Jahrzehnt an der Regierung Frauen arbeiten, aber nur in Teilzeit und nicht in Vollzeit. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, das ist aber (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oder sie sind fünf Jahre zu lang!) geringfügig beschäftigt!) 2386 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Ina Lenke (A) Die Bundesregierung fördert diese Entwicklung, in- sind durch die Umstellung von der pauschalen Lohnsteuer (C) dem sie zwar gesetzliche Ansprüche auf Teilzeitbeschäf- hin zur pauschalen Abführung an die Sozialversicherung tigung schafft, aber nicht für die nötige Kinderbetreuung mit in diese Statistik gekommen. Wenn Sie diese Zahlen sorgt. herausrechnen, sieht die Statistik längst nicht mehr so gut aus, wie Sie mir hier weismachen wollen. Ich möchte auf die Vorgängerin von Ministerin Schmidt zu sprechen kommen, die im letzten halben Jahr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der vergangenen Legislaturperiode einen Betreuungsgip- fel vorgeschlagen hat. Dieser Betreuungsgipfel hat nicht Ich will die Diskussion hier nicht verlängern. Wir kön- stattgefunden. nen uns gern im Ausschuss darüber unterhalten. Dann kann ich Ihnen genau sagen – die Zahlen sind auch in (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum unserem Antrag enthalten –, dass diese Quoten nur we- eigentlich?) nig gestiegen sind. Jetzt verspricht uns die neue Ministerin wiederum einen Wir sind ja gar nicht so weit auseinander, aber liberale Betreuungsgipfel. Wollen wir einmal abwarten, was das Ansätze sind halt andere als die der SPD. Ergebnis dieses Betreuungsgipfels sein wird! (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird wieder DIE GRÜNEN]: Gott sei Dank!) nichts!) Wir meinen, es sind auch erfolgreiche Ansätze. Bei uns Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wären die Arbeitslosenzahlen nicht so hoch gestiegen und sie würden nicht noch mehr steigen, wenn wir an der Gestatten Sie eine Zwischenfrage? Regierung wären.

Ina Lenke (FDP): (Nicolette Kressl [SPD]: Wie waren sie denn 1998? – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- Ja, gerne. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange war denn (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber bitte ohne die FDP mit in der Regierung?) Sprechzettel!) Ich meine, dass die Bundesregierung die Entwicklung hinsichtlich der Teilzeitbeschäftigung fördert, weil die Christel Humme (SPD): Kinderbetreuung fehlt. Ich hoffe, dass die Regierung sich endlich mit den Ländern zusammensetzt und die Frau Lenke, Sie haben gerade die Situation von Voraussetzungen für vielfältige Formen der Kinderbe- (B) Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die Regelungen zur (D) treuung schafft. Ich denke nicht nur an staatliche Kinder- Teilzeitarbeit angesprochen. Ich möchte Sie fragen, ob betreuung, sondern zum Beispiel auch an Tagesmütter Sie die Zahlen über die Verteilung von Vollzeitbeschäfti- und private Angebote. gung und Teilzeitbeschäftigung bei Frauen kennen. Wir haben in der Tat bei den Vollzeitbeschäftigten einen (Kerstin Griese [SPD]: Tun wir doch!) Rückgang von 98 000 zu verzeichnen, aber auf der ande- ren Seite – das ist entscheidend – haben wir über – Ja, aber in den letzten Jahren ist nichts von Ihnen ge- 900 000 teilzeitbeschäftigte Frauen mehr. Das heißt also: kommen, Sie haben nur darüber geredet. neunmal mehr beschäftigte Frauen durch Teilzeitjobs. Meine Damen und Herren, die hohe Arbeitslosigkeit (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sind die gering- wirkt sich nicht nur materiell auf Frauen aus, jedes Pro- fügig Beschäftigten darin enthalten? Sie sind zent der Arbeitslosigkeit dreht auch das Rad der Gleich- darin!) berechtigung von Frauen wieder ein Stück zurück. Von daher war unser Gesetz, mit dem wir die Teilzeitre- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) gelung geschaffen haben, durchaus richtig. Kennen Sie diese Zahlen oder kennen Sie sie nicht? Das würde ich Frau Ministerin, Sie haben am Anfang Ihrer Rede ge- gerne wissen. sagt, dass Sie mit der Situation der Frauen in unserem Land nicht voll zufrieden sind und dass es noch vieles zu verändern gibt. Ich denke dabei an die Verfehlungen und Ina Lenke (FDP): die Untätigkeit Ihrer Regierung in Bezug auf den Ar- Frau Humme, Sie geben mir eine sehr gute Gelegen- beitsmarkt, die Steuergesetze und die Wirtschaftsgesetze heit darauf hinzuweisen, dass Sie Ihre Statistik bei der und nenne als Beispiel den Rechtsanspruch auf Teilzeit- Zahl der geringfügig Beschäftigten geschönt haben. arbeit. Wenn Frau Schewe-Gerigk jetzt auch noch ein Gleichberechtigungsgesetz für die Wirtschaft ankün- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten digt, kann ich Ihnen nur sagen: Damit werden wir nicht der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: mehr Frauen in Arbeit bekommen, Frau Schewe-Gerigk. So ist es!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Früher, als die geringfügig Beschäftigten noch pauschal Lohnsteuer gezahlt haben, waren sie in dieser Berechnung Ich glaube, durch ein solches Gesetz wird es mehr Um- nicht enthalten. Ich glaube, 400 000 – Herr Kolb, ist das gehungstatbestände geben, als dass es überhaupt etwas so? –, jedenfalls mehrere hunderttausend Beschäftigte, bringt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2387

Ina Lenke (A) Ich komme jetzt zu den Frauen als stiller Reserve. Ich tive Politik des Entweder-oder, das heißt, sich zwischen (C) glaube, dass viele Frauen wegen der hohen Arbeitslosig- beruflichem Erfolg und Familienglück entscheiden zu keit gar nicht mehr den Mut haben, ihre Arbeitskraft auf müssen, hat uns ganz eindeutig in die Sackgasse geführt. dem Arbeitsmarkt anzubieten. Deshalb tauchen sie in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Arbeitsmarktstatistik nicht mehr auf. Das wollen wir DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke nicht. Die nachhaltige Integration von Frauen in allen [FDP]) gesellschaftlichen Bereichen und besonders in der Ar- beitswelt ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit un- Ich denke, das ist ein Skandal. Wir wollen das, was in seres Landes. anderen europäischen Ländern schon selbstverständlich ist, nämlich die Freiheit, sich für Familie und Beruf ent- Ich möchte zu einer Gemeinsamkeit zurückkommen. scheiden zu können. Das nenne ich echte Wahlfreiheit. Wir haben ein gemeinsames frauenpolitisches Ziel und ich denke, wir sollten trotz unterschiedlicher Ansätze (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten versuchen, dieses Ziel in der Realität umzusetzen. Die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Potenziale von Frauen – ich komme zum Schluss, Frau Liebe Kolleginnen und Kollegen, junge Frauen sind Präsidentin –, ihr Wille und ihre Fähigkeit, ihr Leben ei- den Männern bereits eine Nasenlänge voraus, wenn es genverantwortlich für sich und die Familie zu gestalten, darum geht, die Grundlagen für erfolgreiches Berufsle- müssen durch kluge Politik befördert werden. Ich meine, ben zu legen. 55 Prozent aller Abiturzeugnisse werden durch eine bessere Politik als die jetzige. Geben Sie sich zum Beispiel an junge Frauen gegeben. Dafür werden einen Ruck, sehen Sie sich auch die liberalen Konzepte sie mittlerweile auch im Job belohnt; denn Frauen bis an. Ich denke, dann werden wir gemeinsam in diesem 30 Jahre sind – das bestätigt der Bericht – ebenso häufig Parlament etwas für Frauen tun können. in Führungspositionen anzutreffen wie ihre männlichen Vielen Dank. Kollegen. Das ist eine kleine Sensation. Also: Alles in Ordnung in der gleichstellungspolitischen Welt? – Ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – denke: mitnichten. Berufliche Diskriminierung aufgrund Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE verfestigter Rollenmuster ist für die Mehrheit der Frauen GRÜNEN]: Die Fakten von 1998 sprechen nach wie vor die bittere Realität. Das sagt uns der Be- aber eine andere Sprache!) richt ebenfalls. Diese Rollenmuster zu überwinden war und ist unsere Daueraufgabe. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vieles von dem, was der CEDAW-Ausschuss noch Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme. 1998 in diesem Zusammenhang anmahnte, haben wir (B) umgesetzt. Ich nenne die Schaffung eines Rechtsanspru- (D) ches auf Teilzeit, Öffnung der Bundeswehr für Frauen, Christel Humme (SPD): (Ina Lenke [FDP]: Das haben wir schon seit Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- langer Zeit gefordert!) nen! Auch ich möchte es nicht versäumen, die Vertrete- rinnen der Frauenverbände, die oben auf der Tribüne sit- Berücksichtigung der Frauenbelange im Betriebsverfas- zen, herzlich im Bundestag willkommen zu heißen. Ich sungsgesetz, Flexibilisierung der Elternzeit sowie die hoffe, dass wir ihnen heute eine Diskussion liefern – um Schaffung von Programmen zur Förderung der Frauen in mit dem Schlusswort von Frau Lenke zu sprechen –, aus Wissenschaft und Lehre und zur Erweiterung des Be- der deutlich wird, welche Frauenpolitik hier im Bundes- rufswahlspektrums von Mädchen. Ich könnte diese Liste tag gemacht wird. noch beliebig fortführen. Der Fünfte Staatenbericht, über den wir heute reden, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist gleichzeitig der erste dieser rot-grünen Bundesregie- DIE GRÜNEN) rung. Er stellt eine hervorragende Bestandsaufnahme zu Sie sehen: Der Abbau von Beschäftigungshemmnissen Beginn der 15. Legislaturperiode dar – kein Schönreden, für Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch alle Poli- wie Sie gerade gesagt haben – und ermuntert uns, unsere tikfelder. Das ist gelebtes Gender Mainstreaming. erfolgreiche Gleichstellungspolitik fortzusetzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Aber es bleibt natürlich noch viel zu tun. Vollzeitbe- schäftigte Frauen verdienten im Vergleich zu vollzeitbe- Ich weiß: Vier Jahre sind nach 16 Jahren gleichstellungs- schäftigten Männern im Jahr 2002 ganze 30 Prozent weni- politischer Durststrecke äußerst wenig. Wir haben diese ger. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Frau vier Jahre aber genutzt, um umzusteuern und unsere Po- Eichhorn, das ist der eigentliche Grund, warum die Höhe litik den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. der Renten so unterschiedlich ausfällt: Es gibt nämlich zu wenige gut bezahlte, vollzeitbeschäftigte Frauen. Deshalb 2001 waren 931 000 Frauen – das sind fast 1 Million gibt es so viele Probleme beim Erwerb eines eigenen Ren- Frauen – mehr erwerbstätig als 1997. Die Zahl der er- tenanspruchs. Das Ergebnis heute hat seine Ursache noch in werbstätigen Frauen hat sich seit der Vorlage des Vierten Ihrer Regierungszeit. Das muss man eindeutig festhalten. Staatenberichts deutlich erhöht; sie liegt jetzt bei 58,8 Prozent. Das zeigt deutlich, dass Frauen eine glei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten che Teilhabe am Erwerbsleben wollen. Die konserva- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 2388 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Christel Humme (A) Wir werden, was die Entlohnung angeht, mit gutem die das genauso sehen und deshalb beim Programm zum (C) Beispiel vorangehen. Denn es gilt, den Bundesangestell- Ausbau der Ganztagsschulen mitmachen möchten. Las- tentarif auf Fallstricke für Frauen zu untersuchen. Wich- sen Sie uns hier endlich zusammen handeln. Die Frauen tig ist – das wurde gerade erwähnt – auch die Überprü- in Deutschland erwarten das von uns. fung der Steuerklasse V. Wenn vom Bruttoeinkommen kaum etwas übrig bleibt, ist das für Frauen kein Anreiz Danke schön. zur Arbeitsaufnahme. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Ina Lenke [FDP]: So ist es!) DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso zentral wie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Abbau von Beschäftigungshemmnissen für Frauen ist der Abbau von Erziehungshemmnissen für Väter. Be- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Grübel. ruf und Familie, das muss wie selbstverständlich auch ein Männerthema sein. Markus Grübel (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich rede heute bewusst als männliches Mitglied meiner Deshalb gehen wir davon aus, dass die freiwillige Ver- Fraktion und offensichtlich auch als einziger Mann über- einbarung zur Förderung der Chancengleichheit von haupt in dieser Debatte zum Fünften Bericht. Frauen und Männern in der Privatwirtschaft, die zwi- schen der Wirtschaft und der Bundesregierung getroffen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem wurde, bis Ende 2003 zu Ergebnissen führt. Auch wir als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Gesetzgeber werden handeln und die EU-Gleichstel- geordneten der FDP) lungsrichtlinie in nationales Recht umsetzen. Für mich ist die Gleichstellung eine Aufgabe, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Frauen und Männer gleichermaßen betrifft. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aber der entscheidende Hemmschuh für die gleiche der FDP) Teilhabe von Männern und Frauen am Erwerbsleben ist Bildlich gesprochen: Wenn eine Seite stehen bleibt, wird nach wie vor, dass Möglichkeiten zur Kinderbetreuung so- es verhältnismäßig schwierig und es wird lange dauern, wie Ganztagsschulen fehlen. Darin besteht zwischen uns bis beide Seiten wieder zusammen sind. Schneller wird (B) Einigkeit, Frau Lenke. Ich bin dankbar, dass die Bundes- es gehen, wenn beide Seite aufeinander zugehen. (D) regierung mit den Programmen zum Ausbau von Ganz- tagsschulen und von Betreuungseinrichtungen für Kin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der bis zu drei Jahren hier die Weichen richtig stellt. neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gleichstellungspolitik ist für mich daher nicht nur Frau- enpolitik, sie muss auch die Männer gewinnen. Eine gute An dieser Stelle richte ich meinen Dank an die Ministe- Gleichstellungspolitik hat Frauen und Männer im Blick. rinnen Renate Schmidt und , die ge- Meines Erachtens kommt diese Blickrichtung im vorge- rade diese Programme ganz besonders stark unterstützen. legten Bericht etwas zu kurz. Ich möchte dies an einigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beispielen darstellen: DIE GRÜNEN) Bezogen auf den Bereich der Gleichstellung von Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Paradigmen- Frauen und Männern im Berufsleben wird im Bericht wechsel – es ist ja einer – bedeutet für die Zukunft eine hö- dargestellt, wie sich der Frauenanteil in so genannten here Frauenerwerbstätigkeit, mehr Beschäftigung im Männerberufen entwickelt hat. Zum Beispiel wird darge- Dienstleistungssektor und bessere Chancen für Allein- stellt, dass sich der Anteil der selbstständigen Unterneh- erziehende, aus der Armutsfalle zu kommen. Vielleicht merinnen zwar im letzten Jahr nicht erhöht hat, dass er werden auch in Deutschland wieder mehr Frauen Ja zu ei- aber von 1991 bis 2001 um immerhin 2 Prozent auf nem Kind sagen. Nur so gelingt uns eine nachhaltige Lö- 28 Prozent gestiegen ist. Meiner Meinung nach fehlt im sung der Probleme unserer sozialen Sicherungssysteme Bericht die Betrachtung der anderen Seite. Wie hat sich und nur so werden wir, genauso wie in den anderen euro- die Zahl der Männer in so genannten Frauenberufen ent- päischen Staaten, den demographischen Wandel meistern. wickelt? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht Es ist sicherlich sehr begrüßenswert, dass Mädchen bei einem konsequenten Ausbau der Bildungseinrichtun- auch in technische Berufe oder in den naturwissenschaft- gen für Kinder von mehr als 100 000 zusätzlichen Ar- lichen Bereich gehen und dass sie dort gefördert werden. beitsplätzen allein für Erzieherinnen und Erzieher aus. Doch warum fordert die Gesellschaft männliche Abitu- Sie sehen: Unser Programm für Betreuung ist auch ein rienten nicht in gleichem Maße dazu auf, Sozialpädago- Programm für Bildung und Beschäftigung. gik zu studieren oder Grundschullehrer zu werden? Ich freue mich sehr, dass es auch in den unionsgeführ- (Beifall bei der CDU/CSU – Christel Humme ten Ländern immer mehr Kolleginnen und Kollegen gibt, [SPD]: Gute Frage!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2389

Markus Grübel (A) Warum machen fast keine jungen Männer, die mit Kindern Entsprechendes gilt auch für viele soziale Bereiche. (C) gut umgehen können, eine Ausbildung zum Erzieher? Man kann natürlich den hohen Frauenanteil als Erfolg darstellen. Man muss aber aus meiner Sicht eher bekla- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ gen, dass es viel zu wenig Männer im sozialen Bereich DIE GRÜNEN]: Das möchten wir auch mal gibt. wissen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Nach wie vor stellen Geschlechterbilder ein großes Hindernis dafür dar, dass Menschen gemäß ihren Fähig- Aber auch beim zuständigen Bundestagsausschuss für keiten und Talenten etwa in Unternehmen oder sozialen Familie, Senioren, Frauen und Jugend muss die Frage er- Einrichtungen tätig sind. Potenziale und Kompetenzen laubt sein, ob es unter dem Gesichtspunkt der Gleichstel- bleiben auf diese Weise ungenutzt. lung sinnvoll ist, dass sich zum Beispiel bei den Grünen dem Thema Familie, Senioren, Frauen und Jugend nur Die so genannten Männerberufe sind auch aus Sicht Frauen widmen. eines Mannes nicht das Maß aller Dinge. Da im Fünften Bericht nur dargestellt wird, wie viele Frauen in Män- (Beifall bei der CDU/CSU) nerberufe gehen, wird in den Köpfen der Menschen weiterhin das Vorurteil bestehen bleiben, dass die so ge- Auch bei der SPD sind die Männer deutlich in der Min- nannten Frauenberufe weniger wert sind. Das hat dann derheit. auch Auswirkungen auf die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern. (Ina Lenke (FDP): Wir haben 50 Prozent Män- ner und Frauen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Irmingard Schewe-Gerigk – Die FDP ist bei den ordentlichen und stellvertretenden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht Mitgliedern vorbildlich. aber auch drin!) (Beifall bei der FDP) Hätten wir in Zukunft mehr Grundschullehrer und Er- Nach meinem Geschmack werden die Männer in die- zieher, hätte dies auch noch einen anderen Vorteil für sen Fraktionen zu stark aus ihrer Verantwortung und ih- Jungen und Mädchen: Sie würden mit einem neuen rer Mitarbeit entlassen. In der CDU/CSU sind gleichzei- Frauen- und Männerbild groß werden. tig starke Frauen und starke Männer in diesem Bereich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie tätig. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- (B) NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Ein stärkeres Engagement von Männern in so genannten Das zeigt auf, welch hohen Stellenwert die Gleichstel- Frauenberufen ist aber auch für viele Frauen eine Heraus- lungspolitik für uns Unionsmänner hat. forderung. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Lachen der Abg. Christel Humme [SPD]) – Entschuldigung, wenn ich Sie getroffen haben sollte. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkler? (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Markus Grübel (CDU/CSU): Eine Studie aus Schweden hat ergeben, dass männliche Ja. Erzieher überdurchschnittlich oft Mobbing durch Kolle- ginnen ausgesetzt sind, dass diese Kolleginnen Erzieher als unmännlich betrachten und ihnen gleichzeitig fach- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: liche Kompetenz absprechen. Ich kann Ihnen diese Stu- die zur Verfügung stellen. Wir müssen also beide Seiten Bitte. sehen, um das Ganze zu betrachten. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In dem Teil des Berichts über die Beteiligung von Frauen am politischen und öffentlichen Leben wird bei- Sehr geehrter Kollege Grübel, ist Ihnen bekannt, dass spielhaft dargestellt, dass der Anteil der Frauen in der die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen seit Arbeitsgruppe Frauenhandel sehr groß ist. Dieses Gre- etlichen Jahren die Fraktion mit dem höchsten Frauen- mium wurde 1997 von der unionsgeführten Bundesre- anteil ist, nämlich weit über 60 Prozent, und dies dazu gierung eingerichtet. Diese Arbeit ist sehr gut und wich- beitragen könnte, dass in einem Arbeitsgebiet, egal wel- tig. Dennoch muss zumindest die Frage erlaubt sein, ob cher Art, zufällig nur Frauen sind? Würden Sie auch in ein möglichst hoher Frauenanteil wirklich ein Erfolg ist. Betracht ziehen, eine solche Quote auch in Ihrer Fraktion Denkbar wäre sicherlich auch, dass es für die Beseiti- anzustreben? gung von Diskriminierung und für die Gleichstellung gut wäre, wenn Frauen und Männer in solchen Gremien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gleichermaßen zusammenarbeiten. und bei der SPD) 2390 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) Markus Grübel (CDU/CSU): hierfür ist aber auch eine angemessene finanzielle Aus- (C) stattung der Familien und ein ausreichendes Betreu- Meine erste Anmerkung, Herr Kollege: Die Zahlen ungsangebot. sind, wie sie sind. Meine zweite Anmerkung: Die CDU/ CSU hat eine Frau als Fraktionsvorsitzende und eine (Zuruf von der SPD: Das haben Sie ja vorge- Frau als Bundesvorsitzende. Wenn man sich die Medien- macht!) anteile ansieht, stellt man fest, dass die Frauen dort bei Bessere Betreuungsangebote können nur gemeinsam mit uns sehr stark vertreten sind. den Kommunen und Ländern erreicht werden. Die Tatsa- (Beifall bei der CDU/CSU) che, dass die Kommunen kein Geld haben, ist das größte Hindernis bei dem Ausbau der Betreuungseinrichtungen. Eine dritte Anmerkung: Wenn Ihre Fraktion bereits über Wir dürfen gespannt sein, wann und wie die Bundesre- einen Frauenanteil von 60 Prozent verfügt, ist es umso gierung hier tätig wird. erstaunlicher, dass sich für den Bereich Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend nicht ein Mann findet, der bereit (Zuruf von der SPD: Guck einmal in die Ver- ist, dort mitzuarbeiten. fassung!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Die Finanzausstattung ist auch Sache des Bundes. neten der FDP) (Zuruf von SPD: Die Kommunen sind am Allein die zahlenmäßige Überlegenheit müsste es er- schlechtesten ausgestattet!) zwingen, dass wenigstens ein einziger Mann das Thema Bei der Lektüre des umfangreichen Fünften Berichts als so wichtig empfindet, dass er in diesem Bereich mit- der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen arbeitet. der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von (Ina Lenke [FDP]: 1 : 0 für Sie!) Diskriminierung der Frau fällt auf, dass ein wichtiger Bereich fast vollständig fehlt, nämlich das Thema der Frau Ministerin Renate Schmidt, ich möchte auch et- Gleichstellung von Frauen und Männern mit Migrations- was zu Ihrem Ministerium sagen. Der Blick in das Orga- hintergrund. Das wundert mich schon allein deshalb, nigramm zeigt, dass Belange der Gleichstellung in Ihrem weil die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung Ministerium reine Frauensache sind. Wenn ich die Na- gleichzeitig Parlamentarische Staatssekretärin im Minis- men im Organigramm richtig gelesen habe, besteht die terium ist. Abteilung 4 ausschließlich aus Frauen. Ich hielte es für richtig, für diese Aufgabe der Gleichstellung auch Män- Der Botschafter der Türkei hat uns in dieser Woche ner zu gewinnen. Ich sehe ein, dass dort Frauen in Füh- eine Broschüre zur Integration der Türken in Deutsch- (B) rungspositionen tätig sind, aber es müsste auch möglich land vorgelegt. Dort wird dargestellt, dass bei über (D) sein, wenigstens einen Mann in der ganzen Abteilung 40 Prozent der Ehen die Frau aus der Türkei zugezogen aufzutreiben, der ein Referat leitet. ist. Dies hat ganz erhebliche Auswirkungen auf die Inte- gration und die sprachliche Kompetenz insbesondere der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kinder. Dies hat aber auch ganz erhebliche Auswirkun- neten der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Wie gen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern mit heißt der Staatssekretär?) Migrationshintergrund. Möglicherweise ist das Aus- – Die Parlamentarischen Staatssekretärinnen sind sicher- druck eines traditionellen Rollenverständnisses junger lich beide Frauen. türkischer Männer, auch wenn sie schon längere Zeit in Deutschland leben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Männer zu leicht aus der gemeinsamen Verantwortung entlassen werden. Dieser Bereich sollte von Ihrem Ministerium ausführ- Wir wollen den Bericht am 2. April im Ausschuss disku- lich beleuchtet werden. tieren. Die vorläufige Liste der einzuladenden Verbände Abschließend möchte ich klar sagen: Gleichstellung zu dieser Sitzung weist alles auf, was in Deutschland im funktioniert nur, wenn Frauen und Männer gleicherma- Bereich von Frauenorganisationen Rang und Namen hat. ßen daran arbeiten. Dazu fordern wir Sie alle auf! Von den Frauenorganisationen der Parteien bis hin zur eingetragenen Genossenschaft „Weiberwirtschaft“ sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 70 Verbände aufgefordert, an der Sitzung teilzunehmen. Es mag sein, dass in dieser Runde schnell Einigkeit her- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zustellen ist. Für mich wäre es aber sinnvoll, wenn Gleichstellungsthemen breiter in die gesellschaftlichen Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau. Gruppen getragen werden, sonst bleiben Gleichstel- lungspolitikerinnen und -politiker und Frauenverbände Petra Pau (fraktionslos): in einer Nische unter sich. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frauen und Männer sollten sich an der Erziehung der Vor 24 Jahren ist das internationale Übereinkommen zur Kinder und an der Hausarbeit gleichermaßen beteiligen. Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau in Diesen Satz kann mit Sicherheit jeder unterschreiben. Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland trat ihm Eltern sollten die Möglichkeit haben, frei zu entschei- nach nur sechs Jahren bei. Das war am Beginn der Ära den, wer in welchem Umfang berufstätig und wer für die Kohl. Nach Jahren konservativer Frauenpolitik gab es Erziehung und Hausarbeit zuständig ist. Voraussetzung 1998 einen Regierungswechsel. Die Neuen versprachen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2391

Petra Pau (A) Besserung. Sie verhießen, die Auswirkung aller Gesetze sundheitssystem integriert und keine Forschung und Er- (C) und Maßnahmen auf die Geschlechter zu prüfen, und sie probung von Medikamenten erlaubt werden, wenn diese gelobten, Benachteiligungen von Frauen zu verhindern nicht geschlechtsspezifisch angelegt ist. Außerdem ist und vorhandene Benachteiligungen abzubauen. Das hat eine Aufklärungskampagne des Gesundheitsministeri- die PDS begrüßt, weil es modern, europäisch und frau- ums zur Hormonersatztherapie dringend notwendig, um enfreundlich ist. das ihr innewohnende Risiko der Neuerkrankung an Brustkrebs zu senken. Ich räume gerne ein: Nach fünf Jahren Rot-Grün gibt es etwas auf der Habenseite: das Gewaltschutzgesetz, Ich gebe zu: Mir fällt es als Mitglied einer parlamen- das Kinderrechteverbesserungsgesetz oder die Änderung tarischen Gruppierung, die zu 100 Prozent aus Frauen des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Es geht um weniger besteht, leicht, mich so zu diesen Themen zu äußern. Wir Gewalt gegen Frauen, um mehr Rechte für Kinder und sollten aber parteiübergreifend dafür sorgen, dass der um Mittel für die Erziehung. Die PDS hat das nicht im- nächste Bericht noch positiver ausfällt. Das gilt insbe- mer im Detail, aber in der Richtung begrüßt. sondere, wenn wir über den bundesdeutschen Tellerrand hinausblicken. Nun komme ich aber zur Sollseite, zu den Defiziten – sie sind zum Teil gravierend – von Rot-Grün: Im vergangenen Jahr hat sich die Lage der Frauen in der Welt verschlechtert. Immer mehr Frauen und Kinder Beispiel eins: Lohngleichheit von Frauen und Män- sind Opfer von Krieg und Gewalt geworden. Auch daran nern. Noch immer erhalten Frauen keinen gleichen Lohn sollten wir in den aktuellen außen- und innenpolitischen für gleiche oder gleichwertige Arbeit. Frauen im Westen Auseinandersetzungen denken. Vielleicht sollte Frau erhalten 75 Prozent und Frauen im Osten 94 Prozent der Merkel noch einmal darüber nachdenken, welche Aus- vergleichbaren Männereinkommen. Sie werden darauf wirkungen ihre Außenpolitik auf die Lage der Frauen verweisen, dass die Differenz abnimmt. Ich sage Ihnen: zum Beispiel im Irak hat. Bei gleich bleibender Entwicklung können die Frauen im Osten in 30 Jahren und die Frauen im Westen in Danke schön. 160 Jahren mit gleichen Löhnen wie ihre Kollegen rech- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen. Ich finde, das ist etwas sehr spät. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Lötzsch [fraktionslos]) tionslos]) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Bundesregierung verweist in diesem Zusammen- hang gerne auf die Tarifautonomie. In anderen Bereichen Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Griese. (B) tut sie das nicht. Sie haben aber Recht: Auch die Ge- (D) werkschaften sind für diesen Zustand verantwortlich. Kerstin Griese (SPD): (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tionslos]) Wir ziehen heute eine Bilanz der Frauenpolitik und ich Eines können Sie mir aber nicht erklären: Weshalb sind will aus der Sicht der Generation junger Frauen etwas im Jahre 13 der Einheit die Frauen im Westen noch im- dazu sagen, was sich verändert hat und was wir von der mer doppelt diskriminiert? Politik erwarten. Zweites Beispiel: Hartz. Ich habe hier schon mehr- 1994 lautete das Motto der Aktionen der sozialdemo- fach darauf hingewiesen, dass die so genannten Hartz- kratischen Frauen: „Die Hälfte des Himmels, die Hälfte Regelungen für die neuen Bundesländer, aber auch für der Erde, die Hälfte der Macht“. Inzwischen haben die die strukturschwachen Regionen in den alten Bundeslän- Frauen die Hälfte des Kabinetts erobert. Das ist ein No- dern Gift sind. Besonders katastrophal sind die Aus- vum. Denn so viel Frauenpower gab es noch nie in einer wirkungen auf Frauen. Das Lohndumping in frauenspe- Regierung. zifischen Berufen boomt. Sozialversicherungspflichtige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Teilzeit- und Vollzeitstellen werden durch geringfügige DIE GRÜNEN) Beschäftigungsverhältnisse verdrängt. Mit der Bundesfrauenministerin Renate Schmidt gibt Dasselbe trifft übrigens auch für die Mittel der Ar- es insgesamt sechs Ministerinnen sowie viele Staatsse- beitsförderung zu. Sie streichen sie um Milliarden zu- kretärinnen und Staatsministerinnen. sammen und wieder sind Frauen im Osten und in struk- turschwachen Regionen im Westen die ersten Opfer. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Die Männer glänzen durch Abwesenheit!) Drittes Beispiel: die Gesundheitsreform. Die Debatte Das begrüße ich deshalb, weil eine Forderung zur selbst- über diese Reform ist im Gange. Ich finde es bemerkens- verständlichen Realität geworden ist: Frauen wollen die wert, dass dabei frauenspezifische Aspekte kaum eine Hälfte der Macht. Rolle spielen, obwohl wir doch in diesem Ressort eine Ministerin haben. Dabei wäre eine qualitativ bessere Im Parlament ist bei einigen Fraktionen noch Nach- Gesundheitsversorgung von Frauen, insbesondere von holbedarf zu verzeichnen. Herr Grübel, ich stimme Ih- Migrantinnen, dringend geboten. Deshalb sollte die Ver- nen zu, dass Frauen und Männer gleichermaßen zu betei- sorgung von Migrantinnen möglichst schnell in das Ge- ligen sind. Ich lade auch alle Männer sehr herzlich in 2392 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Kerstin Griese (A) unseren Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und einander von Männern und Frauen, um Gleichberech- (C) Jugend ein. Sie lade ich zum Karneval in meinen Wahl- tigung in der Schule, in der Ausbildung und im Studium. kreis ein; aber das ist ein anderes Thema. Das ist für uns eigentlich die Grundlage. Das fordern wir auch für Familie und Partnerschaft ein. Deshalb steht die (Heiterkeit bei der SPD) individuelle und flexible Lebensplanung im Vorder- grund. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat eine Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: neue Dimension erreicht und stellt neue Anforderungen Zu was laden Sie ihn ein? an die Politik, an die Gesellschaft und insbesondere an die Männer. Ich bin um jeden froh, der sich damit be- (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das war sehr schäftigt. Es geht um eine menschliche Gesellschaft, um ernst, was Herr Grübel gesagt hat!) die Balance von Leben und Arbeit. Die meisten jungen Frauen nutzen optimistisch ihre Kerstin Griese (SPD): Chancen. Ganz interessant ist, dass viele mit dem Be- In den Fraktionen des Bundestags sieht es sehr unter- griff „Frauenförderung“ eigentlich nichts mehr anfangen schiedlich aus. Während der Frauenanteil in der SPD- können; denn sie fühlen sich gar nicht als defizitäres We- Fraktion bei über 35 Prozent liegt, beträgt er in der sen, das gefördert werden müsste. Und das ist auch gut CDU/CSU-Fraktion weniger als 23 Prozent und in der so. Wir machen dieses Selbstbewusstsein junger Frauen FDP-Fraktion etwa 25 Prozent. Da muss sich schon noch sowie ihre guten Ausbildungs- und Schulabschlüsse zum etwas tun. Ausgangspunkt unserer modernen und lebensnahen Frauenpolitik. Frauen – das ist schon von vielen gesagt (Ina Lenke [FDP]: Wir haben jetzt wieder eine worden – machen die besseren Schulabschlüsse. Aller- mehr!) dings ist ihr Anteil an denjenigen, die promovieren, nur Frauen stellen auch die Hälfte der Wählerschaft. Wir noch ein Drittel. Der große Karriereknick kommt bei den als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen C-4-Professuren; denn dort beträgt der Frauenanteil nur sehr gut, dass die Frauen die Bundestagswahl entschie- noch 7,1 Prozent. Ein solcher Knick kommt dann, wenn den haben, indem sie unsere moderne Frauen- und Fami- jede noch so gut ausgebildete Frau auf dem Arbeitsmarkt lienpolitik den alten Hüten von der Union vorgezogen allein auf ihre Gebärfähigkeit reduziert wird und deshalb haben. noch immer Nachteile erleiden muss. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ DIE GRÜNEN) (B) CSU) Deshalb – das ist meine feste Überzeugung – muss sich (D) in der gesamten Gesellschaft, bei Männern und Frauen, Der CEDAW-Bericht, den wir heute diskutieren, etwas ändern. mahnt an, dass die Beteiligung von Frauen in der Politik noch gesteigert werden muss. Denn noch immer gibt es Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, die gleiche eine traditionelle Rollenverteilung, die die Ursache für Chancen bietet, und zwar sowohl für Frauen auf Karriere die geringere Beteiligung von Frauen an politischen Äm- als auch für die neuen Väter auf Familienzeit, die viele tern ist. Interessanterweise sind Frauen aber in der Mehr- Männer so gerne nehmen wollen, aber tatsächlich sind es heit, wenn es um das ehrenamtliche Engagement geht. nur 2 Prozent. Das neue Elternzeitgesetz und das Recht Auch das sollte uns zu denken geben. Ich begrüße es auf Teilzeitarbeit sind gute Schritte in die richtige Rich- sehr, dass die Bundesregierung ein Bündel von Maßnah- tung. Auch in der Wissenschaft geht es voran. Inzwi- men aufgelegt hat, um junge Frauen für politisches En- schen sind ein Viertel der Juniorprofessuren mit Frauen gagement zu gewinnen. besetzt. Das ist ein Fortschritt. Das Problem in unserer Gesellschaft liegt aber noch Ich bin mir außerdem ganz sicher, dass unser Schwer- an einer anderen Stelle, wie der Prospekt des Bundesver- punkt, den wir beim Ausbau von Kinderbetreuungsmög- bandes der Deutschen Industrie und seines Vorstandes lichkeiten gesetzt haben – die Ministerin hat immer wieder zeigt, der ausschließlich aus Männern besteht. Insofern betont, dass sie für Vielfalt ist, dass wir die ganze Band- besteht unser Hauptproblem nicht darin, dass im Frauen- breite der Angebote nutzen wollen, von den Tagesmütter- ausschuss des Bundestags so viele Frauen vertreten sind, initiativen über die Einrichtungen der Kirchen und der sondern darin, wie es in der Führungsebene der deut- Wohlfahrtsverbände bis hin zu den staatlichen Einrichtun- schen Wirtschaft aussieht. gen –, ein Riesenschritt für mehr Chancengleichheit von Frauen und Männern sein wird. Das wird die Praxis jen- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ina Lenke seits aller ideologischen Debatten sicherlich zeigen. [FDP]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich möchte noch ein weiteres Motto eines Frauenta- DIE GRÜNEN) ges zitieren, weil es sehr aktuell und programmatisch ist. 1988 hat unsere Kollegin Inge Wettig-Danielmeier den Ich möchte noch auf zwei Bereiche eingehen, in de- Satz geprägt: „Wer die menschliche Gesellschaft will, nen wir mit der Frauenpolitik der rot-grünen Koalition muss die männliche überwinden.“ Ich glaube, darum ganz entscheidende Fortschritte zu verzeichnen haben. geht es. Der heutigen Generation junger Frauen geht es Erstens: der Schutz von Frauen vor Gewalt. Hier set- – das ist für sie ganz selbstverständlich – um ein Mit- zen wir Zeichen; denn Gewalt im häuslichen Bereich ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2393

Kerstin Griese (A) keine Privatsache. Das 2002 in Kraft getretene Gewalt- selbstverständlich. Das war nicht immer so. Das Parla- (C) schutzgesetz bietet Schutz vor Gewalttaten. Die Gewalt- ment durften Frauen erst 1918 betreten. Heutzutage gibt opfer – das sind meistens Frauen – haben einen Anspruch es sie, die erfolgreichen Frauen an der Spitze, aber viel auf Wohnungsüberlassung. Das Gewaltschutzgesetz gibt zu wenige. Die Führungspositionen sind nach wie vor das Signal: Das Opfer bleibt, der Täter geht! Ich denke, fest in männlicher Hand. das ist das richtige Signal. Auch wenn in Deutschland genauso viele Frauen wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Männer ihr Studium erfolgreich abschließen, stellen DIE GRÜNEN) Frauen nur ein Drittel der Doktoranden, ein Fünftel der Habilitierten und ein Zehntel der Professoren. Nicht nur Zweitens: die Asyl- und Menschenrechtspolitik. hier ist Deutschland wiederum Schlusslicht in Europa. Der CEDAW-Bericht ist das wichtigste internationale Dies ist besonders bedauerlich und zeigt auch die Ver- Dokument, in dem klargestellt wird: Frauenrechte sind geblichkeit vieler gut gemeinter Maßnahmen von Rot- Menschenrechte. In dem Bericht wird die Bundesregie- Grün. Denn mit der Regierungsübernahme 1998 kün- rung für die Novellierung des Ausländergesetzes gelobt digte die Koalition den Durchbruch in der Gleichstel- und es wird angemahnt, wie wichtig es ist, dass sich lungspolitik an und erklärte diesen Bereich zum gesell- Deutschland als Ziel- und Transitland des Menschenhan- schaftlichen Reformprojekt. dels damit beschäftigt; denn Menschenhandel ist in ers- ter Linie noch immer Mädchen- und Frauenhandel. In (Zuruf von der SPD: Das war auch nötig!) dem CEDAW-Bericht wird die Einrichtung der bundes- weiten Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Frauenhan- Die von mir zitierten Zahlen belegen: Viel Lärm um dels gelobt, die Erfolge zu verzeichnen hat. nichts. Auch die neueste Initiative unserer Bildungs- ministerin mit den so genannten Juniorprofessuren wird Ich möchte noch ein aktuelles Thema ansprechen, das an diesen Tatsachen wenig ändern. Diese Professur soll mich sehr schockiert hat. Ich habe gelesen, dass die uni- sechs Jahre dauern, erfordert laufend Qualifikations- onsgeführten Länder die geschlechtsspezifischen Flucht- nachweise und kann mit knapp 30 Jahren angetreten ursachen aus dem Zuwanderungsgesetz streichen wol- werden. Doch gerade in diesem Alter entscheiden sich len. Ich halte das für einen Skandal. die meisten Frauen für Kinder. Damit stellt sich wie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der die Entweder-oder-Frage. Mit derartigen Junior-Ini- DIE GRÜNEN) tiativen ist den Frauen also nicht wirklich geholfen. Statt mit der Frauenförderung erst im Alter von Ich appelliere ganz deutlich insbesondere an die Kolle- 30 Jahren zu beginnen, müssen die Weichen früher ge- ginnen der Opposition: Lassen Sie das nicht zu! Wenn stellt und Mädchen bereits in der Grundschule geför- (B) Sie sich die zurzeit laufende Plakatkampagne gegen die dert werden. (D) Beschneidung von Mädchen ansehen, dann wissen Sie doch, dass frauenspezifische Fluchtursachen grausame (Beifall bei der CDU/CSU) Realität sind. Ich bin mir ganz sicher, dass die deutsche Unabdingbar sind weiterhin Transparenz bei den Ent- Gesellschaft in ihrem Bewusstsein längst weiter ist und scheidungswegen, eine ausgewogene Zusammenset- dass es eigentlich kaum noch jemanden gibt, der leugnet, zung in den Entscheidungsgremien und familienfreund- dass frauenspezifische Verfolgung existiert und ein le- liche Bedingungen. Aber das alles ist für uns ja nichts bensbedrohlicher Grund sein kann, ein Land zu verlassen. Neues. Schon zu unserer Regierungszeit haben wir An- Im CEDAW-Bericht werden wir ausdrücklich aufgefor- fang der 90er-Jahre mit dem Hochschulsonderprogramm dert, den Schutz ausländischer Frauen, insbesondere den den Grundstein für eine erfolgreiche Frauenförderung weiblicher Asylsuchender, zu verstärken. gelegt. Bei Rot-Grün dagegen, die sich, wie von mir ge- Wir wollen hier keinen Rückschritt. Wir wollen die frau- rade erwähnt, die Gleichstellung der Frauen auf die enspezifischen Fluchtursachen im Gesetz belassen. Des- Fahne geschrieben haben, bleibt dieser Bereich weiter- halb sage ich Ihnen: Treten Sie Ihren Männern auf die Füße hin Baustelle. – das müssen wir manchmal auch bei unseren machen –, da- Die Situation der Frauen in Wissenschaft und For- mit diese Errungenschaften für die Frauen nicht den Profi- schung ist aber nur ein Teilaspekt der Lebenswirklich- lierungskämpfen an der CDU-Spitze zum Opfer fallen. keit von Frauen. Die größte Diskriminierung für Frauen, Vielen Dank. egal welchen Berufs, liegt in der hohen Arbeitslosigkeit in diesem Land. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke [FDP]) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Über 4,7 Millionen Menschen sind auf der Suche nach Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hannelore einem Arbeitsplatz und über 2 Millionen von ihnen sind Roedel. Frauen. Diese Zahlen sprechen für sich und sind die bit- tere Konsequenz Ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik. Hannelore Roedel (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Jetzt, meine Damen und Herren der Koalition, sitzen Sie Frauen im Bundestag und am Rednerpult sind heute hier und erwarten, dass morgen mit der Regierungserklärung 2394 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hannelore Roedel (A) des Kanzlers ein Wunder geschieht, das sämtliche Pro- Kurz nach dem Internationalen Frauentag liegt es nun (C) bleme löst. an Ihnen, Frauen endlich die Perspektiven aufzuzeigen, für die sie schon so lange kämpfen. Margaretha von (Ina Lenke [FDP]: Der wird nicht über Frauen- Wrangell schrieb dazu 1923 an ihre Mutter: politik sprechen!) Wir brauchen jedoch keine Wunder, sondern konkretes Ich habe viele Kämpfe in meinem Berufe. Jedoch und wirkungsvolles Handeln. Was nützt zum Beispiel weiß ich, wofür ich kämpfe. ein Anspruch auf Teilzeit, wenn Frauen nicht einmal Sie muss es wissen; denn sie war vor 80 Jahren die erste die Einladung zum Bewerbungsgespräch bekommen? ordentliche Professorin in Deutschland. Unternehmen ziehen den Bewerber vor, von dem man annimmt, dass er keine Wünsche nach Teilzeit äußert. So (Beifall bei der CDU/CSU) bewirken Ihre Schutzgesetze nur eins: nämlich den Ar- beitsuchenden vor dem Arbeitsplatz zu schützen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Ich schließe die Aussprache. sowie der Abg. Ina Lenke [FDP]) Die beste Frauenförderung ist eine gute Wirtschaftspoli- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf tik. Das zeigt das Beispiel Bayerns, wo so viele Frauen Drucksache 15/105 an die in der Tagesordnung aufge- wie in keinem anderen Bundesland erwerbstätig sind. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs- antrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Grünen auf Drucksache 15/599 und der Entschließungs- antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/601 sol- Frauen brauchen aber genauso eine gute Familienpo- len an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind litik. Sie aber wollen den Familien durch ewig neue Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind Steuer- und Abgabenerhöhungen das Leben immer die Überweisungen so beschlossen. schwerer machen. Man nehme nur das Beispiel Ehegat- tensplitting. Auch wenn Ihre Pläne vorübergehend auf Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Eis liegen, so ist doch im CEDAW-Bericht die Diskus- sion aufs Neue angeregt. Das Ehegattensplitting ist aber – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- für die Union, abgesehen von der verfassungsrechtlichen nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Bedeutung, wesentlicher Teil einer modernen Frauen- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- und Familienpolitik. zes zur Errichtung einer Verkehrsinfrastruktur- finanzierungsgesellschaft zur Finanzierung von (B) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE Bundesverkehrswegen (D) GRÜNEN]: Modern? Das ist altmodisch!) (Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesell- Warum? – Es entspricht nun einmal genau dem am meis- schaftsgesetz – VIFGG) ten gelebten Familienmodell. Ohne Kinder gehen beide – Drucksache 15/199 – Partner einer Berufstätigkeit nach. Mit Kindern wech- seln Erziehungszeiten und Berufstätigkeit im unter- (Erste Beratung 16. Sitzung) schiedlichen Ausmaß einander ab. Ob ein Partner das Familieneinkommen alleine verdient, beide gleich viel – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- dazu beitragen neten Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Georg Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der (Zuruf von der SPD: Fragen Sie einmal Allein- Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs erziehende, was die davon halten!) eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfern- oder sonst eine Aufteilung gewählt wird – die Jahres- straßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft steuerbelastung des Familieneinkommens ist in allen (Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Ma- denkbaren Varianten die Gleiche. Damit bewirkt der nagementgesellschaftsgesetz – BFFuMGG) Splittingvorteil ein indirektes Familiengeld und hono- – Drucksache 15/299 – riert damit die von einem Partner erbrachte Erziehungs- leistung als gleichwertig zur Erwerbstätigkeit des ande- (Erste Beratung 19. Sitzung) ren Partners. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Damit ist gleichgültig, welches Modell die Eltern nehmen (14. Ausschuss) und wofür sie sich entscheiden, denn dies bedeutet echte – Drucksache 15/416 – Wahlfreiheit für Erziehung und/oder Erwerbstätigkeit. Berichterstattung: Eine vernünftige Frauenpolitik muss Lösungen für die Abgeordnete Georg Brunnhuber vielfältigen Lebensentwürfe von Frauen anbieten. Die Reinhard Weis (Stendal) Union hat mit dem Programm „Faire Politik für Fami- lien“ und umfassenden Konzepten wirkliche Alternati- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ven für Deutschland für mehr Dynamik, Wachstum und Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Beschäftigung vorgelegt. höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2395

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Die Gründung dieser Gesellschaft ist eine reine Organi- (C) Abgeordnete Margrit Wetzel. sationsprivatisierung für nicht hoheitliche Aufgaben des Bundes. Die Entscheidung über die Projekte bleibt beim Parlament. Sie werden als Anlage in einer besonderen Dr. Margrit Wetzel (SPD): Titelgruppe des Bundeshaushaltsgesetzes festgehalten. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit und mit der jährlichen Berichtspflicht der Jeder ruft nach einer Reform und wir machen sie. Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft schaffen wir Transparenz und zugleich auch die Akzeptanz derje- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – nigen, die zahlen müssen. Denn dass die verladende Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wirtschaft durch die LKW-Maut höhere Kosten hat, wird nur akzeptiert, wenn sich zugleich sichtbar etwas Selbst wenn die Opposition versucht, das im Bundesrat bei den Investitionen bewegt. zu verhindern: Wir setzen wichtige Reformen im Ver- kehrsbereich fort. Auch deshalb verabschieden wir heute Wir regeln über dieses Gesetz außerdem die Zweck- den im vorigen Jahr schon einmal vorgelegten Gesetzent- bindung der Mittel aus der LKW-Maut. Die Zuweisung wurf, der die Einrichtung einer Verkehrsinfrastruktur- erfolgt zwar jährlich; aber wir überwinden die Jährlich- finanzierungsgesellschaft vorsieht. Dieser Gesetzentwurf keit der kameralistischen Haushaltsführung des Bundes, hat den gleichen Wortlaut wie der, den wir im vergange- indem nicht verausgabte Mittel noch im nächsten und nen Jahr eingebracht haben. übernächsten Jahr eingesetzt werden können. Wir schaf- fen damit eine völlig neue Flexibilität, die für Investitio- Wir sind der Meinung, dass diese Gesellschaft ihre nen bei allen drei Verkehrsträgern dringend notwendig Arbeit rechtzeitig vor dem 1. September dieses Jahres und absolut neu ist. Das ist der Einstieg in eine ganz aufnehmen können muss. Wir haben über unseren frühe- wichtige Weiterentwicklung der Finanzierung unserer ren Entwurf ausführlich diskutiert, wir haben eine Anhö- Verkehrsinfrastruktur, bei der wir dann hoffentlich zügig rung durchgeführt und wir haben wichtige Elemente aus weiterkommen. den Anregungen der Sachverständigen aufgenommen. Das Ergebnis, das wir damals erzielt haben, kann sich Außerdem soll die schlank organisierte Gesellschaft zu heute wirklich sehen lassen. einem Kompetenzzentrum für Privatfinanzierung und damit für die Mobilisierung privaten Kapitals werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mit der Änderung des Fernstraßenbauprivatfinanzie- rungsgesetzes haben wir gute Rahmenbedingungen ge- Denn mit diesem Gesetz organisieren wir den Einstieg in schaffen, die von den Mitarbeitern der neuen Gesellschaft die Nutzerfinanzierung von Verkehrsinfrastruktur. kreativ genutzt und mit Leben erfüllt werden sollen. Die (D) (B) Gesellschaft soll geeignete Betreibermodelle ermitteln. Aus den Einnahmen der LKW-Maut soll der größt- Sie soll die Vergabe von Konzessionen betreuen, die pri- mögliche Teil schnell, transparent und unbürokratisch in vatwirtschaftliche Realisierung von Verkehrsinfrastruk- den Ausbau gravierender Engpässe auf den Straßen, auf turvorhaben vorbereiten, sie durchführen und abwickeln. den Schienenwegen und auf den Wasserstraßen gelenkt werden. Das verkehrsträgerübergreifende Bedienen aus Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bauwirtschaft der LKW-Maut und aus den Nutzerentgelten auf Bun- brennt darauf, in die dann möglichen Betreibermodelle deswasserstraßen entspricht den Vorstellungen eines ver- der Public-Private-Partnership einzusteigen. Wir stehen einten und zusammenwachsenden Europas. Auch darü- damit am Beginn einer ganz neuen Entwicklung. Das ber muss man sich klar sein. Die Bundesfernstraßen rechtfertigt, diese Aufgaben aus dem BMVBW auszu- werden forciert ausgebaut und durch die Beseitigung der gliedern. Engpässe bei den Schienenwegen und bei den Wasser- straßen gewinnen wir neue Kapazitäten und entlasten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gleichzeitig die Straßen; das kommt den Straßen letzt- DIE GRÜNEN) endlich zugute. – Ich interpretiere den Applaus jetzt so, dass dieser neue Schritt unterstützt wird, und nicht etwa als Kritik am (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BMVBW. DIE GRÜNEN) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Im speziell dafür aufgelegten Anti-Stau-Programm DIE GRÜNEN]: Niemals!) sind die Projekte, um die es geht, zusammengestellt. Die Gesellschaft darf keine Kredite aufnehmen, damit – das Das soll damit nicht ausgedrückt werden; ganz im Ge- ist uns ganz wichtig – kein unkontrollierbarer Schatten- genteil: Wenn ein Ministerium selbst auf den Gedanken haushalt des Bundes entsteht. Noch wichtiger ist uns kommt, eine völlig neue Aufgabe auszugliedern und da- aber, dass wir für den Ausbau der fünften und sechsten mit den Versuch zu unternehmen, Bürokratie abzubauen, Fahrstreifen an Bundesautobahnen über das so genannte (Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Das schafft A-Modell zusätzliches privates Kapital mobilisieren. doch noch mehr Bürokratie!) Das heißt, wir stecken mehr Geld in die Verkehrsinfra- struktur. Das ist neu und das nennen wir Fortschritt. aus den eingefahrenen Wegen herauszukommen und neue Chancen zu eröffnen, dann finde ich das in hohem Maße (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ anerkennenswert. Das verdient unsere Unterstützung. Es DIE GRÜNEN) zeigt, dass wir in der Lage sind, aus den Fehlern der 2396 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Dr. Margrit Wetzel (A) Vergangenheit zu lernen; denn unter der Kohl-Regierung abgekupfert. Das wird uns heute als CDU-Gesetzentwurf (C) wurden mit Privatfinanzierung schlechte Erfahrungen ge- vorgelegt. Das ist nicht zu fassen. macht. Ich erinnere nur an die Konzessionsmodelle der Kommen wir zu dem zurück, was wir wollen. Wir privaten Vorfinanzierung, die nur kurzfristig scheinbaren wollen, dass die Entscheidung darüber, wo gebaut wird, Erfolg hatten und die uns jetzt die Handlungsspielräume im Parlament bleibt. Über die Prioritäten entscheiden wir einengen, sodass wir noch jetzt unter ihnen leiden, oder und niemand anders. Das ist das originäre Recht des Par- auch an die Unzulänglichkeiten des Fernstraßenbaupri- laments. vatfinanzierungsgesetzes, das wir durch entsprechende Verordnungen erst einmal so modernisieren mussten, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des es in der Zukunft wahrgenommen werden kann, dass die Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜND- Chancen, die darin liegen, überhaupt umsetzbar sind. Ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]) nau das sind die Bereiche, in die die neue Gesellschaft ein- Es darf keine Schattenhaushalte geben und es wird sie steigen soll und in denen sie Fortschritte erzielen soll. auch nicht geben. Wir werden aber zusätzliches privates Was unterscheidet nun unseren Gesetzentwurf von Kapitel mobilisieren. Die Abwicklung der Engpassbesei- dem CDU-Gesetzentwurf? tigung muss zügig beginnen und transparent und unbüro- kratisch sein. Das wird die moderne, pfiffige Gesell- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Und CSU!) schaft mit dem komplizierten Namen auch leisten. Den – Ich bitte um Entschuldigung, Herr Oswald, so viel Zeit zukünftigen Mitarbeitern dieser Gesellschaft wünsche muss sein. – Die CDU/CSU möchte die Mittel aus- ich viel Erfolg. Die Wirtschaft wartet darauf, dass wir schließlich und vollständig in den – so heißt es wörtlich – mit dieser Art der Finanzierung anfangen, ebenso warten „Unterhalt der Bundesfernstraßen“ lenken. die Gemeinden darauf, die an den Engpassstellen liegen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Das entspricht weder unseren Vorstellungen noch denen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Europäischen Union von einer integrierten Verkehrs- DIE GRÜNEN) politik. Die Union will, dass die Verkehrsinfrastrukturfi- nanzierungsgesellschaft Kredite aufnehmen darf. Das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: heißt, es werden Schattenhaushalte gebildet. Sie sagen: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Denn of- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg fenbar haben Sie vergessen, dass Sie uns in der letzten Brunnhuber. Legislaturperiode bei der Beratung ebendieses Gesetzes (Beifall bei der CDU/CSU) (B) noch vorgeworfen haben – ich zitiere aus der Beschluss- (D) empfehlung –: Georg Brunnhuber (CDU/CSU): Mit der jetzt vorgesehenen Gründung der Verkehrs- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- infrastrukturfinanzierungsgesellschaft werde allen- legen! Wir entscheiden heute über zwei Gesetzentwürfe, falls ein Schattenhaushalt geschaffen, aber keines über den der Regierungskoalition zum Thema Verkehrs- der gesteckten Ziele erreicht. infrastrukturfinanzierungsgesellschaft Da sieht man einmal, wie kurz gedacht die Konzepte (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Den werden der CDU/CSU – so viel Zeit muss sein; ich betone dabei wir annehmen!) bewusst die CSU – sind. Sie sind es, die den Bundesver- kehrswegeplan als Märchenbuch wie vorher weiter- und über den der CDU/CSU zur Bundesfernstraßen- schreiben wollen und Schattenhaushalte aufbauen wol- finanzierungs- und Managementgesellschaft. len. Ich denke, das ist nicht das, was die Bevölkerung (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Den werden will. Die Menschen wollen Planungssicherheit und Klar- wir ablehnen müssen!) heit über das, was vor Ort passiert. Sie können im schlimmsten Fall auch einmal ein Abwarten akzeptieren; Ich habe mir aufgeschrieben, wie die Überschrift lau- aber sie müssen erfahren, dass sie gegebenenfalls warten tet: Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschafts- müssen. Diejenigen, die bauen, müssen das einschätzen gesetz. Das sind 53 Buchstaben, es ist ein Wortmonster. können. Im Grunde genommen ist das auch schon das Bedeu- tendste, was man über dieses Gesetz sagen kann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Ihr habt aber [CDU/CSU]: So kriegen Sie das Land nie aus erstaunlich viel davon abgeschrieben!) der Krise!) Sie haben es wieder nicht begriffen. Sie haben wie bei Außerdem handelt es sich bei Ihrem Gesetzentwurf der LKW-Maut, an der Sie seit dreieinhalb Jahren he- um einen reinen Ampelverschnitt; denn es ist nichts Ei- rumdoktern und nichts zustande bringen, genes enthalten. Man muss sich wirklich einmal das Ver- (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist diskrimi- gnügen machen, diesen Entwurf zu lesen. Ich kann uns nierend gegenüber den Ärzten!) das nur empfehlen. Die formalen Teile sind aus unserem Gesetzentwurf abgeschrieben und die politischen aus der wiederum aus einer guten Idee Murks gemacht. Auch Beschlussempfehlung zum alten Gesetzentwurf der FDP hier machen Sie alle Fehler, die man machen kann. Sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2397

Georg Brunnhuber (A) sind wirklich mit einem großen Genie ausgezeichnet. nicht entscheidungsreif! Deshalb haben wir ein (C) Die Fehler, die man machen kann, suchen und finden Sie Jahr gewartet!) und machen sie anschließend auch. Das ist auch hier wieder der Fall. Wenn Sie gelegentlich wenigstens das tun würden, was Ihre Kommissionen Ihnen vorschlagen, dann könnte man (Beifall bei der CDU/CSU) noch die Hoffnung haben, dass irgendwann etwas Vernünf- tiges herauskommt. Sie hatten eine hochrangige Kommis- Eigentlich ist die Überschrift in Ordnung sion „Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ eingesetzt. (Rainer Fornahl [SPD]: Auch der Inhalt!) Sie hat Ihnen genau das vorgeschlagen, was die CDU/ CSU mit ihrem Gesetz umsetzen will. und man könnte meinen, Sie wüssten, was Sie wollen. Die Formulierung in § 1 möchte ich vortragen, damit Ein weiterer Punkt. Herr Klimmt hat am 5. September man weiß, was Sie gern machen möchten. 2000 die von der Kommission erarbeiteten Vorschläge in Empfang genommen. Damals war in der Presse, haupt- (Siegfried Scheffler [SPD]: Sehr gut!) sächlich in den Verkehrspublikationen, zu lesen – wir Zur Errichtung der Gesellschaft heißt es, dass Aufga- haben genau aufgepasst –, er werde dafür sorgen, dass ben des Bundes der Finanzierung von Neubau, Ausbau, mangels allgemeiner Haushaltsmittel diese Vorschläge Erhaltung und Betrieb von Bundesfernstraßen und 1 : 1 umgesetzt würden. In der Zwischenzeit wissen wir: Bundeswasserstraßen sowie von Bau, Ausbau und Er- Wenn Sie sagen, Sie würden etwas 1 : 1 umsetzen, be- satzinvestitionen der Schienenwege der Eisenbahnen deutet dies eigentlich, dass die Vorschläge im Papierkorb des Bundes landen – siehe Hartz. (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Warum haben Sie (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei das denn alles abgeschrieben?) der SPD) einer Gesellschaft des privaten Rechts in der Rechtsform Man muss sich fast schon fragen, warum Sie eigentlich einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu übertra- Kommissionen einsetzen, wenn Sie von vornherein wis- gen seien. Dieser Text ist absolut in Ordnung. sen, dass das, was dabei herauskommt, von Ihnen in kei- ner Weise umgesetzt wird. (Siegfried Scheffler [SPD]: Darum habt ihr ihn ja auch abgeschrieben!) (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Man darf sich immer noch Gedanken machen!) Hätten Sie jetzt den Mut gehabt oder die Intelligenz besessen – das lasse ich offen –, das weiter zu betreiben, Ich möchte noch einen weiteren Punkt anführen. Bei (B) dann hätten Sie nicht in § 2 formulieren dürfen, dass dies der Diskussion über die Verkehrsinfrastrukturfinan- (D) „nach Maßgabe der jährlichen Haushaltsgesetze und zierungsgesellschaft muss man natürlich auch darüber nach den Weisungen des Bundesministeriums für Ver- reden, wie Sie mit der LKW-Maut und den entsprechen- kehr, Bau- und Wohnungswesen“ geschehen soll. den Verordnungen bisher umgegangen sind. Diese Ge- Gleichzeitig stellen Sie fest, dass diese Gesellschaft sellschaft soll mit den Einnahmen aus der LKW-Maut nicht berechtigt ist, Anleihen und Kredite aufzunehmen sinnvolle Maßnahmen finanzieren. Bis jetzt wurde aber oder Bürgschaften, Garantien oder ähnliche Haftungen noch kein Cent eingenommen. Niemand weiß, ob bis zu übernehmen. zum 31. August überhaupt Geld fließen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Sie haben schon 1991 meine Damen und Herren von der Regierungsbank, da- davon gesprochen und nichts geschafft!) mit haben Sie nichts anderes vor als das, was bisher die Seit drei Jahren erklären Sie permanent in diesem Hause Beamten im Verkehrsministerium gemacht haben, in und der gesamten Öffentlichkeit – also nicht nur dem eine Gesellschaft vorzulagern. Wahrscheinlich machen Transportgewerbe –, dass die Maßnahmen mit Brüssel es sogar die gleichen Beamten. Dafür hätten Sie keine hervorragend abgesprochen seien, dass sowohl die Gesellschaft gebraucht. Mauthöhe als auch die Harmonisierungsmaßnahmen be- Frau Kollegin Wetzel, vielleicht erinnern Sie sich da- züglich des Transportgewerbes in Ordnung seien und ran: Es gab vor ziemlich genau einem Jahr eine Anhö- dass alles geklärt sei. rung. Bei dieser Anhörung waren Sachverständige an- ( [CDU/CSU]: Alles gelo- wesend, nicht einer hat das, was Sie jetzt machen, auch gen! – Siegfried Scheffler [SPD]: Sie lenken nur im Ansatz für gut befunden. ab!) (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Auf welcher Veranstaltung waren Sie denn?) Jetzt muss man aber feststellen: Nachdem Sie dreiein- halb Jahre, von denen Sie zwei Jahre prozessieren muss- Der Bundesrechnungshof – zumindest auf ihn sollten Sie ten, in Brüssel verhandelt haben, erklären der Minister hören – hat gesagt: Dieses Gesetz ist so unnötig wie ein und seine Staatssekretäre, Fürchterliches sei geschehen, Kropf. – Recht hat er. Dem schließt sich die Opposition die Verkehrskommission sei gar nicht bereit, über Ihre an. Vorschläge zu diskutieren. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Margrit (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist ja Wetzel [SPD]: Er hat gesagt: Das ist noch unglaublich!) 2398 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Georg Brunnhuber (A) Sie will weder über die Mauthöhe – sie wird angefoch- wird, sodass der Autofahrer nicht permanent im Stau (C) ten – noch über die Harmonisierungsschritte verhan- steht, und der Gütertransport auf der Straße vernünftig deln. Dazu sage ich Ihnen: Entweder sind Sie unfähig organisiert wird, dann stimmen Sie unserem Gesetz- oder Sie haben uns belogen. Nur eine von diesen Mög- entwurf heute zu. lichkeiten kann zutreffen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald Das muss heute geklärt werden!) [CDU/CSU]: Die letzte Chance für heute!)

Dazu hätten wir schon gerne ein Wort von Frau Wetzel Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: oder vielleicht nachher von einem Vertreter der Regie- rung gehört. Jetzt hat der Abgeordnete Albert Schmidt das Wort. Im Ausschuss haben Sie gestern den Eindruck er- weckt, dass Sie zwar nicht wissen, wie es jetzt weiter- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE geht, dass Sie aber davon ausgehen, dass die Genehmi- GRÜNEN): gung zum 31. August erfolgen wird. Wenn Sie so Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und weitermachen, bekommen wir in diesem Jahr zwar das Kollegen! Die Verkehrsministerkonferenz hat bereits im modernste und teuerste Mautsystem der Welt; aber diese April 2002 einstimmig, Herr Kollege Brunnhuber, also Technik kann nicht eingesetzt werden, weil Sie keine einschließlich der Verkehrssenatoren und -minister der Genehmigung aus Brüssel für dieses Vorhaben bekom- CDU/CSU-geführten Länder, beschlossen, der Bund men. Das ist ein Armutszeugnis auf der ganzen Linie. möge die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft Die gesamte Verkehrspolitik in Deutschland nähert sich möglichst schnell einrichten, damit die Einführung der letztendlich langsam dem Chaos, wie wir es in der Wirt- LKW-Maut im Jahr 2003 so reibungslos wie möglich er- schafts-, Finanz- und Sozialpolitik dieser Regierung er- folgen könne. Was lernen wir daraus? Inzwischen gibt es kennen können. eine Union der Bundesländer, in der vernünftige Leute (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sitzen, die wissen, was richtig ist, und die Brunnhuber- Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Sie wissen es wohl CDU/CSU im Bundestag, die das Gegenteil dessen pro- besser! Wir bauen und Sie haben Spatenstiche pagiert, was die eigenen Kollegen in den Ländern sagen gemacht! Das ist doch kein Chaos!) und wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe Ihnen vor (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) 14 Tagen Folgendes vorgehalten: Wenn Sie eine ver- und bei der SPD – Georg Brunnhuber [CDU/ (D) nünftige Politik machten CSU]: Das letzte Wort hat die Brunnhuber- CDU/CSU!) (Peter Letzgus [CDU/CSU]: Das können die nicht!) Dieselbe Schlachtordnung hatten wir schon gestern im Ausschuss, als es generell um das Thema LKW-Maut und auch nur ein bisschen auf das eingingen, was die ging. Ich fürchte, Herr Kollege Brunnhuber, dass Sie den Opposition hier sagt, dann hätten Sie in Brüssel schon falschen Kalender benutzen. Sie müssen einmal begrei- einen Streitpunkt weniger. Sie haben nämlich auch den fen, dass die Dinge im Fluss sind, dass sich die europä- Streitpunkt noch nicht ausgeräumt, dass nach Brüsseler ische Verkehrspolitik und die deutsche Verkehrspolitik Auffassung das viele Geld, das von LKWs kassiert wird, entwickeln und dass über das, was jetzt auf der Tagesord- nach Abzug der Systemkosten und gewisser Harmoni- nung steht, unter den halbwegs vernünftigen Verkehrs- sierungskosten wieder in die Straßenverkehrsinfrastruk- politikern dieses Landes weitgehend Konsens besteht. tur zurückfließen muss. Wenn Sie in Brüssel Erfolg ha- ben wollen, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, sich Nun komme ich zur Sache: Der heute vorliegende Ge- unsere Anträge nochmals genau anzusehen. Wenn Sie setzentwurf der Koalition ist mit dem inhaltsgleich, was intelligent genug sind, sie auch zu verstehen, dann wer- wir am 17. Mai 2002 in zweiter und dritter Lesung hier den Sie ihnen auch zustimmen. beraten und beschlossen hatten, was aber der Diskonti- nuität anheim fiel, weil zwischenzeitlich ein neuer Bun- (Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis destag gewählt wurde. Das, was hier Verkehrsinfra- [Stendal] [SPD]: Herr Brunnhuber, wir wollen strukturfinanzierungsgesellschaft heißt, klingt in der wirklich etwas anderes als Sie! Das wird doch Tat wie ein bürokratisches Monstrum. In diesem Punkt an diesem Punkt deutlich!) gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht, Herr Kollege Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir von der Brunnhuber. In Wahrheit ist es aber das Gegenteil davon: CDU/CSU-Fraktion haben ernst genommen, was Ihre Es ist ein neues, innovatives Finanzierungsinstrument, Kommissionen von der Pällmann-Kommission bis zur das im Gegensatz zu dem, was Sie hier behauptet haben, Infrastrukturfinanzierungskommission vorgeschlagen die Impulse der europäischen Verkehrspolitik aufgreift, haben. Wir haben das, was sie den Ministerien vorge- die besagen, dass zu einer Steuerfinanzierung der Ver- schlagen haben, expressis verbis in Vorlagen gegossen. kehrswege als zweite Säule eine Nutzerfinanzierung tre- Eine dieser Vorlagen liegt heute als Gesetzentwurf vor. ten müsse und dass die Nettoeinnahmen aus dieser Wir können darüber abstimmen. Wenn Sie wollen, dass LKW-Maut gerade nicht, wie Sie es in Ihrem Gesetzent- in Deutschland wieder ordentlich Straßenbau betrieben wurf von vorgestern wieder verlangen, ausschließlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2399

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) dem Straßenbau gewidmet werden, sondern für ein inte- privater Rechtsform, das Parlament auf kaltem Weg ent- (C) griertes Verkehrssystem verwandt werden, das alle Ver- machtet wird. kehrsträger gemäß ihren Leistungen entwickelt (Siegfried Scheffler [SPD]: Jawohl!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Deshalb haben wir Folgendes festgehalten: GRÜNEN]: Fahrradfahrer!) Erstens. Diese Gesellschaft hat keine Ermächtigung, und damit auch einen Beitrag zum Abbau der Staus auf selbstständig Kredite oder Anleihen aufzunehmen. Das den Straßen leistet. heißt, eine Neuverschuldung oder Höherverschuldung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf diesem Umweg wird es nicht geben. Über jeden LKW, den wir von der Straße bringen, freut Zweitens. Sämtliche Projekte, die diese Gesellschaft sich doch auch der PKW-Fahrer, weil er endlich eine entwickelt und umsetzt, müssen in einem Bericht gegen- freie zweite Spur hat, wenn die rechte Spur schon zu ei- über dem Parlament jährlich dokumentiert werden und ner Mauer von LKWs geworden ist. der Gesetzgeber selbst, wir hier im Parlament, entschei- det, welche Projekte mit welcher Priorität realisiert wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den. Die Entscheidung darüber, was gebaut wird und und bei der SPD – Georg Brunnhuber [CDU/ was nicht gebaut wird, bleibt also bei uns und hier gehört CSU]: Das funktioniert ja nicht! Die Bahn sie auch hin. schafft es ja nicht!) Ich fasse zusammen: Die Verkehrsinfrastrukturfinan- Worum geht es bei dieser Verkehrsinfrastrukturfinan- zierungsgesellschaft ist ein innovatives Instrument zur zierungsgesellschaft also in Wahrheit? Es geht erstens Einführung einer zweiten Säule der Verkehrsfinanzie- um die Herstellung von Transparenz. Es geht darum, rung. Das ist der eigentliche Paradigmenwechsel, der deutlich zu machen, für jeden nachvollziehbar zu ma- dahinter steckt. Diese Gesellschaft schafft Transparenz chen, dass die Einnahmen, die aus diesem System gene- bezüglich der Mittelverwendung. Sie schafft Akzeptanz. riert werden, netto überwiegend zur Ertüchtigung des Sie setzt das Prinzip der Verursachergerechtigkeit astrein Verkehrsnetzes eingesetzt werden. Es geht zweitens da- um. Sie schafft – letzter Punkt – Flexibilität. Mit dieser rum, durch diese Transparenz auch Akzeptanz zu schaf- Gesellschaft haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit, fen. Natürlich kommt auf viele Transportunternehmen Haushaltsreste ins nächste Haushaltsjahr zu übertragen eine erhebliche Belastung zu. Von daher haben sie auch und dann zu verwenden. Wir entgehen damit ein Stück Anspruch darauf, verlässlich zu erfahren, dass die Gel- weit dem kameralistischen Haushaltsprinzip. Ich ver- der reinvestiert werden. Akzeptanz gewinnen wir nur, stehe, dass das nicht jedem Bundesfinanzminister ge- (B) wenn wir glaubhaft machen können, dass nicht jedes fällt, aber es ist vernünftig, weil es hilft, auf Dauer Pla- (D) Jahr darum gezittert werden muss, ob der Bundesfinanz- nungssicherheit zu gewährleisten, und das wollen wir. minister das Geld für diesen Zweck einsetzt, dass nicht jedes Jahr darum gekämpft werden muss, sondern dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieses Geld gleichsam mit einem rosa Schleifchen um- und bei der SPD) wunden wird, in die Schatulle der Verkehrsinfrastruktur- Ich darf Sie also bitten, Ihren verstaubten Begriff von finanzierungsgesellschaft gelegt wird und damit dem Verkehrsfinanzierung von vorgestern ad acta zu legen, Verkehrswegebau gewidmet ist. Wenn Sie das nicht be- sich in den Mainstream der deutschen und europäischen greifen, Herr Brunnhuber, dann weiß ich nicht, wie ich Verkehrspolitik einzureihen und unserem Gesetzentwurf es Ihnen noch erklären soll. heute von ganzem Herzen zuzustimmen. (Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Ich begreife (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es wirklich nicht!) und bei der SPD – Georg Brunnhuber [CDU/ – Das ist dann Ihr Problem. CSU]: Sie müssen das erst noch in Brüssel durchbringen!) Mit diesem Instrument wird natürlich noch ein drittes Ziel erreicht. Das ist – ich will es gar nicht verschwei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gen – die Entlastung der öffentlichen Kassen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Günther. (Siegfried Scheffler [SPD]: Genau!) Das ist übrigens kein deutsches, sondern ein europawei- Joachim Günther (Plauen) (FDP): tes Problem. Wir werden uns Verkehrsnetze dieser Dichte und dieser Qualität auf Dauer nur leisten können, Frau Präsidentin! Mein sehr verehrten Damen und wenn wir eine zweite Finanzierungssäule einführen. Herren! Beide Gesetzentwürfe, die heute debattiert wer- Dazu brauchen wir diese Gesellschaft. den, bleiben – Kollege Brunnhuber, das ist unabhängig von der Zahl der Buchstaben in der Überschrift – eigent- Jetzt will ich noch sagen, was diese Gesellschaft nicht lich hinter dem zurück, was sie als Ziel vorgeben und was darf. Da schließe ich an das an, was die Kollegin Margrit in der Tat anstrebenswert wäre, nämlich ein echter Ein- Wetzel zutreffend ausgeführt hat. Wir als Parlamentarier stieg in die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur durch – ich hoffe, da sind wir alle im selben Boot oder im sel- die Nutzer anstelle der bisherigen reinen Finanzierung ben Zug oder wie immer Sie es gern hätten – wollen ja über den Haushalt. Dieses Manko gilt für beide Entwürfe nicht, dass mit einem solchen Instrument, sei es auch in gleichermaßen. Beide Entwürfe bringen im Endeffekt 2400 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Joachim Günther (Plauen) (A) nicht den Einstieg in die Nutzerfinanzierung, wobei der Aus dieser Sicht ist Ihr Vorschlag kein ernsthafter (C) CDU/CSU-Entwurf weiter geht und zumindest die Kre- Einstieg in das System der Nutzerfinanzierung. Denn er ditfähigkeit der Gesellschaften berücksichtigt. führt nicht zu einer Abkoppelung vom Bundeshaushalt. Die neue Infrastrukturfinanzierungsgesellschaft be- Warum wollen wir eigentlich – unter den Fachkolle- kommt erstens nicht alle Einnahmen aus der LKW-Maut gen übrigens fraktionsübergreifend – diese Nutzerfinan- und zweitens schon gar nicht – zumindest das wäre not- zierung? wendig – die verbindliche Zuweisung zukünftiger Ge- Erstens. Verkehrswege sind in der Volkswirtschaft bühreneinnahmen. Sie bekommt nur das, was der Fi- entscheidende Produktionsfaktoren und Investitionen in nanzminister ihr Jahr für Jahr zur Verfügung stellt. Er hat die Verkehrswege müssen kontinuierlich und ohne Ab- bei der Einnahmenverteilung das letzte Wort. hängigkeit von Zufälligkeiten der gerade herrschenden (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das ist falsch! – Haushaltslage stattfinden. Siegfried Scheffler [SPD]: Das Parlament hat (Beifall bei der FDP – Siegfried Scheffler das letzte Wort und nicht der Finanzminister!) [SPD]: Da hat er Recht!) Schon jetzt ist klar, dass er diese Einnahmen auch für Verkehrswegeinvestitionen sind etwas qualitativ ande- verkehrsfremde Zwecke verwenden wird. res als konsumtive Ausgaben. Wir erleben im Zusammenhang mit der LKW-Maut (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) gerade, dass sich Herr Eichel den Einnahmeverlust aus Deshalb gehören sie nicht in den Haushalt. der LKW-Vignette – das sind rund 450 Millionen Euro – mit 750 Millionen Euro aus der LKW-Maut kompensie- (Siegfried Scheffler [SPD]: Da hat er wieder ren lässt – und das für allgemeine, verkehrsfremde Zwe- Unrecht!) cke. Zweitens. Die Nutzungskapazitäten der Verkehrswege Kurz gesagt, wenn diese Gesellschaft so gestaltet sollten durch ein marktkonformes Anreizsystem opti- wird, dann ist sie ein lahmer Gaul und eine ausgelagerte miert werden. Dazu braucht man ein Gebührensystem. Abteilung des Verkehrsministeriums, die am Gängel- band des Finanzministers hängt. Drittens. Die Summe der für Investitionen zur Verfü- gung stehenden Mittel soll durch die Beteiligung der Was wir brauchen, ist eine Finanzierungsgesellschaft, Nutzer, aber auch durch die Beteiligung privaten Kapi- die von Beginn an unabhängig vom Bundeshaushalt ope- tals erhöht werden. Das steht ja auch in dem Gesetz- riert und mittelfristig zu einer Betreibergesellschaft für entwurf der Koalition. die Bundesfernstraßen weiterentwickelt wird. Stattdes- (B) (D) (Siegfried Scheffler [SPD]: Da steht drin, dass sen setzen Sie bei der Finanzierungsgesellschaft das fort, wir beides brauchen!) was Sie bei der Maut angefangen haben: Sie verwirren die Bürger mit inkonsequenten und in sich widersprüch- Ich zitiere: lichen Konzepten. Bei der Maut, die normalerweise eine lupenreine Gebühr mit konsequenter Zweckbindung für Da über eine Mobilisierung privaten Kapitals bei den Verkehrswegebau sein müsste, lassen Sie den Zu- der Verkehrswegefinanzierung breiter Konsens be- griff des Finanzministers zu. Die Finanzierungsgesell- steht, soll die Gesellschaft auch Aufgaben im Zu- schaft unterstellen Sie in wesentlichen Punkten ebenfalls sammenhang mit der Vorbereitung, Durchführung den Weisungen des Finanzministers. und Abwicklung von privatwirtschaftlichen Projek- ten übernehmen. Das hat mit einem wirkungsvollen Schritt in Richtung (Siegfried Scheffler [SPD]: Ja, das hat Frau Nutzerfinanzierung nichts zu tun. Aber da alle so große Wetzel gesagt!) Hoffnungen auf den morgigen Tag setzen, geben auch wir die Hoffnung nicht auf, dass ab Morgen alles besser Das ist richtig. Das wollen auch wir. Aber wenn Sie und schneller vorangeht. Unter den heutigen Bedingun- das wollen, dann sollten Sie dieser Gesellschaft Hand- gen müssen wir die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe lungsspielräume geben. aber ablehnen. (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Hat sie doch! – Danke schön. Siegfried Scheffler [SPD]: Die bekommt sie doch!) (Beifall bei der FDP) – Nein. Der Entwurf der Koalition lässt zum Beispiel bei Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Kreditaufnahme kaum Handlungsspielräume zu. Frau Wetzel, Sie sagen, es solle keinen Schattenhaus- Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung die Parla- halt geben. Sie, Herr Schmidt, sagen, das Parlament mentarische Staatssekretärin Angelika Mertens. werde sonst ausgeschaltet. Dazu kann ich nur sagen: Ohne eine flexible Handhabung des Kreditwesens im Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Zusammenhang mit privaten Investoren werden solche desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Projekte im Endeffekt nicht durchführbar sein. Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und (Beifall bei der FDP) Kollegen! Herr Brunnhuber, Sie haben hier wider besseres Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2401

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) Wissen wiederholt, was Sie gestern im Ausschuss gesagt mit der Einführung der LKW-Maut zum 31. August die- (C) haben: dass die EU die Maut infrage stellt. ses Jahres. (Renate Blank [CDU/CSU]: Er hatte gestern In einigen Bereichen sind wir sicherlich zum Vorreiter Recht und er hat heute Recht!) in Europa geworden, zum Beispiel in der konsequenten Sie haben davon gesprochen, dass sich Brüssel dazu ge- Umsetzung einer integrierten Verkehrspolitik, in vielen äußert habe. Brüssel hat gar nichts gesagt. Die Maut Bereichen holen wir nur das nach, was andere schon seit wird nicht infrage gestellt. Frau Palacio hat ein Interview Jahrzehnten machen. Dies tun wir zum Beispiel beim gegeben und das ist alles. Einstieg in die ergänzende Nutzerfinanzierung. Die Feststellung, dass die bisherige alleinige Finanzierung Sie kritisieren zum Beispiel das Verkehrsinfrastruk- der Verkehrsinfrastruktur über den allgemeinen Haushalt turfinanzierungsgesellschaftsgesetz. Ich habe einmal an ihre Grenzen stößt, ist keine deutsche Erfindung. nachgezählt: Es sind 53 Buchstaben. Ihr Bundesfern- straßenfinanzierungs- und Managementgesellschafts- Der vorliegende Gesetzwurf zielt darauf ab, das Ge- gesetz hat übrigens 63 Buchstaben – und das nur für bührenaufkommen aus der LKW-Maut weitgehend der einen Verkehrsträger. Wir sind also sehr sparsam mit den Finanzierungsgesellschaft für den Bau von Verkehrsin- Buchstaben umgegangen. frastruktur zukommen zu lassen. (Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Das sind (Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt „weitge- aber zwei Wörter!) hend“?) – ich muss dazu sagen: Ich habe den Bindestrich auch Dadurch entsteht eine zweite Säule der Finanzierung. mitgezählt. Sonst wären es 62. Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft wird zunächst das ASP-Programm, das Anti-Stau-Pro- Meine Damen und Herren, der Inhalt des Gesetzent- gramm, finanzieren. Darüber hinaus enthält der Gesetz- wurfes ist ja schon vorgestellt worden. Es handelt sich entwurf auch Spielraum für die Durchführung weiterer nicht um irgendein Gesetz, sondern um einen wichtigen verkehrsübergreifender Programme. Baustein eines Konzeptes. Dieses Konzept heißt: nach- haltige Mobilität durch integrierte Verkehrspolitik. Das ASP – das ist das Besondere, das wir auch sehr bewusst gemacht haben – setzt da an, wo wir das, was (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich wieder bewegt, auch steuern können, nämlich da, DlE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: In wo es volkswirtschaftlich besonders wertvoll ist und den Worten wart ihr immer gut! Aber in den heute volkswirtschaftlich besonders schädlich und un- Taten?) sinnig: beim Stau auf Straße, Schiene und Wasserstraße. (B) (D) Bekanntlich lässt sich ja nur steuern, was sich auch be- Bezüglich des Staus auf der Straße gibt es folgende wegt. Es gibt ja den Pauschalvorwurf, Verkehrspolitik Faustregel: 40 Prozent werden durch erhöhtes Verkehrs- sei zu statisch. Wenn ich die Straßen- und Schienenfun- aufkommen, 40 Prozent durch Unfälle und 20 Prozent damentalisten und die Elfenbeinturmwissenschaftler ab- durch Baustellen verursacht. Bei Staus auf der Schiene ziehe, dann bleibt die Frage: Wie zukunftsfähig ist oder und auf der Wasserstraße sind es immer vergeudete Ver- war unser bisheriges System in Bezug auf Finanzierung, lagerungspotenziale. Deshalb ist es richtig und volks- den „Modal Split" und ökologische Aspekte? wirtschaftlich sinnvoll, genau hier anzusetzen. Verkehrsinfrastruktur wird nicht um ihrer selbst wil- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des len gebaut und unterhalten, sondern um den Mobilitäts- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bedarf der Wirtschaft und die Mobilitätsbedürfnisse der Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft Menschen zu befriedigen. wird noch eine weitere Aufgabe übernehmen – Frau (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wetzel hat das schon gesagt –: Sie soll ein Kompetenz- BÜNDNISSES 90/DlE GRÜNEN) zentrum für die Entwicklung und Betreuung von Betrei- bermodellen werden. Um mit einem anderen Verkehrs- Dabei gibt es natürliche und politisch gewollte Grenzen. träger zu argumentieren, sage ich dazu: Es ist höchste Kein Land der Welt kann Infrastruktur für die Spitzen- Eisenbahn. Um uns herum wird nämlich nicht nur über- zeiten vorhalten. Das muss man hier eindeutig sagen. legt, welche innovativen Möglichkeiten es gibt, neue Wir haben mit verschiedenen Grundsatzentscheidungen Wege aufzuzeigen, um notwendige Investitionen im öf- und konkreten Maßnahmen wieder Bewegung in die fentlichen Bereich zu finanzieren, sondern sie werden im deutsche Verkehrspolitik gebracht; Ausland teilweise auch schon praktiziert. (Zuruf von der CDU/CSU: Um Gottes willen!) Wenn ich zum Beispiel an das Eisenbahnnetz denke, zum Beispiel mit der Entscheidung, Straße und Schiene das Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, dann stelle finanziell weitgehend gleich zu behandeln, ich fest: Private Investitionen in öffentliche Infrastruk- turprojekte waren in der Vergangenheit durchaus Teil der (Zuruf von der CDU/CSU: ihr habt mittler- unternehmerischen Initiativen. Im 20. Jahrhundert haben weile vier Minister verbraucht!) der Staat und seine öffentlichen Körperschaften diese mit der Entscheidung, Hinterlandanbindungen für die Aufgabe weitgehend übernommen. Der Einsatz privaten deutschen Seehäfen im neuen Bundesverkehrswegeplan Kapitals war nicht nur unüblich, sondern auch durch ge- mit besonderer Bedeutung zu versehen, und vor allem setzliche Regelungen blockiert. Er wird heute immer 2402 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) noch durch gesetzliche Regelungen blockiert. Hier be- Mit Ihrem Gesetz vollziehen Sie nur den Umstieg von (C) steht Nachholbedarf, wenn wir in Europa wettbewerbs- einer zeitbezogenen auf eine streckenbezogene Gebühr. fähig werden wollen. Zurzeit sind wir nicht wettbe- Aber nicht einmal das bekommen Sie ordentlich hin. werbsfähig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Mit der Umsetzung der A-Modelle sind wir sicherlich Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ auf der Überholspur, aber überholt haben wir noch nicht. DIE GRÜNEN]: Oh, Sie kapieren ja gar Ich will auch nicht missverstanden werden. Vorhin ist nichts! Du lieber Gott!) schon gesagt worden, dass private Investitionen in Verkehrsinfrastruktur kein Windhundrennen sind. Was Meine Damen und Herren, das ist die Methode Rot- wann, wo und wie gebaut wird, bestimmt der Gesetzge- Grün: Alle, die nicht Ihrer Meinung sind, erklären Sie, ber, und daran wird und darf sich auch nichts ändern. Frau Staatssekretärin und Herr Kollege Schmidt, für dumm. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Herr Brunnhuber hat das gemacht!) Bei der Umsetzung unserer Betreibermodelle geht es auch darum, eine Visitenkarte für unsere Straßenbauer Sie fahren das Land in den Ruin und beauftragen später und für unsere Bauindustrie zu drucken, vor allen Dingen diejenigen, die man zuvor für dumm erklärt hat, das für die mittelständische Bauindustrie. Die Betriebe bauen Land wieder in Ordnung zu bringen. Das ist die Methode doch phantastische Straßen und wenn es jetzt darum geht Rot-Grün! zu beweisen, dass sie diese Straßen auch betreiben und (Beifall bei der CDU/CSU) unterhalten können, haben sie unsere Unterstützung nö- tig. Deshalb soll die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungs- Meine Damen und Herren, es sollte doch mittlerweile gesellschaft auch ein Kompetenzzentrum werden. Ich allen klar und allgemeines Gedankengut sein, dass für möchte gern, dass unsere guten Straßenbauer auch außer- die Gestaltung der Zukunft Deutschlands der Erhalt und halb dieses Landes, irgendwo in Europa oder internatio- die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur von gro- nal, Straßen bauen. Ich denke, wir haben auf diesem Ge- ßer Bedeutung sind. 1 Milliarde Euro Investitionen be- biet einiges vorzuweisen, und mit den A-Modellen deuten 20 000 Arbeitsplätze. Wir haben auch festge- werden wir den Beweis antreten, dass wir es können und stellt und es ist gemeinsames Gedankengut, dass die damit auch wettbewerbsfähig sein werden. bisherige Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur an die Grenzen des allgemeinen Haushalts stößt und wir eine Meine Damen und Herren, auf der VMK im April Lösung finden müssen. Deshalb wurde die so genannte letzten Jahres – das ist schon angesprochen worden – (B) Pällmann-Kommission ins Leben gerufen, (D) wurde der einstimmige Beschluss gefasst, die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft rechtzei- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sehr tig zu errichten, damit sie bei Einführung der LKW- richtig!) Maut arbeitsfähig ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich diesem Votum anschließen könnten. die den Auftrag hatte, Vorschläge zu unterbreiten, wie künftig die Finanzierung, der Betrieb und der Unterhalt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von Verkehrsinfrastruktur gehandhabt werden sollen, DIE GRÜNEN) also Vorschläge für den Wechsel von der bisher prakti- zierten Haushaltsfinanzierung in eine Nutzerfinanzie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rung und natürlich auch für die Gewinnung von privatem Kapital. Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank. Aus unserer Sicht gehen die Vorschläge der (Beifall bei der CDU/CSU) Pällmann-Kommission in die richtige Richtung und grundsätzlich sehen wir die Gründung von Verkehrs- Renate Blank (CDU/CSU): infrastrukturgesellschaften als sinnvoll an. Der vor- liegende Gesetzentwurf der Regierungskoalition ist Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau jedoch deutlich der falsche Ansatz, Staatssekretärin, der Fachmann aus Ihrem Ministerium hat gestern im Verkehrsausschuss zu LKW-Maut und (Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis Brüssel etwas ganz anderes gesagt, als Sie hier ausführen. [Stendal] [SPD]: Das ist der integrale Ansatz, der ist besser als der sektorale!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- ruf von der SPD: Das stimmt nicht! – Reinhard denn keines der gesteckten Ziele wird erreicht und keine Weis [Stendal] [SPD]: Da haben Sie aber nicht der Vorstellungen der Pällmann-Kommission wird ver- richtig zugehört!) wirklicht. Sie errichten eine Gesellschaft mit Geschäfts- Im Übrigen darf ich Sie, Frau Staatssekretärin, vielleicht führer und verursachen damit Overhead-Kosten, früher daran erinnern: Wir haben mit Verkehrsminister hat man das Wasserkopf genannt. Es entstehen Kosten, Wissmann im Jahr 1993 die LKW-Gebühr eingeführt. aber die Gesellschaft hat kein originäres Einnahmerecht. Das Geld kommt aus dem Bundeshaushalt. Die Gesell- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ schaft macht also nur das, was eine Abteilung im Minis- DIE GRÜNEN]: Die Jahresvignette!) terium locker hätte machen können. Mit der Gesellschaft Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2403

Renate Blank (A) wird ein Schattenhaushalt geschaffen und kein privates (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Geld gewonnen. neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie wollen und wollten nicht auf Sachverständige hören. Auch unsere guten Vorschläge – siehe unseren Gesetz- Diese Form der Gesellschaft hätten Sie sich sparen kön- nen. Es wäre auf jeden Fall besser gewesen, wenn der Ver- entwurf – stoßen auf taube Ohren. Sie sind nach wie vor kehrsminister mehr Geld für den Straßenbau in den Bun- beratungsresistent. deshaushalt eingestellt hätte. Das Gegenteil war aber der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Fall. Sie haben in den Jahren 1999 und 2000 Kürzungen vorgenommen, die Sie im Jahr 2001 nur aufgrund der Ich möchte auf einen für das Parlament wichtigen UMTS-Lizenzerlöse zum Teil zurücknehmen konnten. Ich Kritikpunkt hinweisen. Durch die Festlegung privat zu nenne das Stichwort Zukunftsinvestitionsprogramm. finanzierender Projekte durch eine separat von der Bun- desregierung zu erlassende Rechtsverordnung, die nur Ihre ganzen Programme haben aber nichts gebracht. ein Einvernehmen mit den betroffenen Landesregierun- Die Maßnahmen aus dem Investitionsprogramm, das bis gen erfordert, wird eine Beteiligung des Parlaments Ende 2002 angesetzt war, sind noch nicht abgearbeitet. umgangen. Gutes Beispiel ist die gestrige Diskussion um (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Wir haben die Mautverordnung. Die Beteiligung des Parlaments ist ordentlich mehr investiert als Sie!) dabei gleich null. Das kann Ihr Demokratieverständnis sein, unseres ist es nicht. Im Gegenteil: Die Dauer für die Verwirklichung aller Maßnahmen, die in dem Programm enthalten sind, reicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wahrscheinlich weit über das Jahr 2010 hinaus. Bei dieser Problematik haben wir sogar die Verbände, Die Verwirklichung des Anti-Stau-Programms, das den Bund Naturschutz und den Verkehrsclub Deutsch- im Jahr 2000 mit großem Getöse verkündet wurde, sollte land, auf unserer Seite. Das können Sie im Wortprotokoll ab Januar 2003 mit den Einnahmen aus der LKW-Maut der Anhörung nachlesen. Dabei stehen diese Verbände begonnen werden. Jetzt soll es die LKW-Maut erst ab ansonsten weniger auf unserer Seite; sie tendieren eher in September geben. Ihre Richtung. Diese Verbände sagten übereinstimmend, dass dem Deutschen Bundestag die Entscheidungshoheit (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Wir machen und die Kontrolle darüber entzogen wird, wie die Ver- es ein bisschen spät, aber wir machen es, Frau kehrsinfrastruktur weiterentwickelt werden soll. Blank!) In einem ersten Schritt sollen der Verkehrsinfrastruk- Technisch ist das sicherlich machbar. Aber Sie haben die turfinanzierungsgesellschaft die Einnahmen aus der stre- (B) Rechnung ohne den Wirt, das heißt, die zuständige EU- (D) ckenbezogenen Autobahnbenutzungsgebühr für schwere Kommission, gemacht. Die wird noch großen Ärger in LKW zufließen. Was steckt dahinter? Mit Ihrem Gesetz Bezug auf die Harmonisierung der Wettbewerbsbedin- wollen Sie durch die Belastung der Straße den gesamten gungen für das Transportgewerbe und die Verwendung der Einnahmen aus der LKW-Maut bereiten. Verkehrsbereich alimentieren. Wir treten dafür ein, dass die für die Nutzung der Bundesfernstraßen erhobenen (Zuruf von der CDU/CSU: Leider!) Abgaben in den Unterhalt der Bundesfernstraßen zu- Dies könnte die Einführung der LKW-Maut verzögern rückfließen. bzw. zum Scheitern der Maut führen. (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das ist doch (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Beim Abwehren Unsinn! – Weiterer Zuruf von der SPD: Wol- werden Sie doch hoffentlich mitmachen!) len Sie den Stau organisieren?) Ich frage mich: Hat die Bundesregierung eigentlich – Herr Kollege Weis, Unsinn ist das nun wirklich nicht; keine Gespräche geführt? War sie so blauäugig, davon denn in Ihrem Vorschlag fließen die Abgaben nicht in auszugehen, dass alles, was von ihr vorgeschlagen wird, die Straße zurück, sondern gehen an alle Verkehrsträger. von der EU-Kommission abgenickt wird? Große und Nach Abzug der Betreiber- und Harmonisierungskos- grobe Fehler sind gemacht worden. ten muss das Geld aus der Straße in die Straße reinves- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tiert werden. neten der FDP – Reinhard Weis [Stendal] (Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis [SPD]: Haben Sie eigentlich das Manuskript [Stendal] [SPD]: Sie machen Verkehrspolitik von Herrn Brunnhuber erwischt? Das haben von vorgestern!) wir schon vorhin alles gehört!) Nur so macht die LKW-Maut, die eine Gebühr und keine Auch bei der Gestaltung des Gesetzes wurden Fehler Steuer ist, Sinn. Die Gebühr kann so vollständig zweck- gemacht. In der Anhörung zum Entwurf der Bundesre- gebunden für den Straßenbau verwendet werden. Dies gierung in der letzten Legislaturperiode hat sich die könnte – wenn man nur wollte – im Gesetz verankert überwiegende Mehrheit der Sachverständigen gegen die werden. Vorschläge im Gesetz ausgesprochen. Ihr Gesetz ist un- zureichend und mangelhaft, wie eigentlich alles, was (Zuruf von der SPD: So etwas schreiben wir von dieser Regierungskoalition und dieser Bundesregie- nicht ins Gesetz! Das heißt: Stau organisie- rung kommt. ren!) 2404 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Renate Blank (A) Was geschieht stattdessen? Es wird keinen müden Wir kommen zur Abstimmung über den von den (C) Euro mehr für den Straßenbau geben; denn der Straßen- Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen bauhaushalt wird reduziert und ein Großteil der LKW- eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer Ver- Maut fließt in den allgemeinen Haushalt des Finanz- kehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft – 53 Buch- ministers. Das ist aus unserer Sicht ein Skandal. staben – zur Finanzierung von Bundesverkehrswegen. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Fischer [Ham- empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf burg] [CDU/CSU]: Eine Mogelpackung!) Drucksache 15/416, den Gesetzentwurf anzunehmen. Nun möchte ich den Kollegen Schmidt, den ich leider Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen nicht mehr sehe, wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- (Zuruf von der SPD: Doch, da ist er!) ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen an seine Aussagen in der Debatte vom 17. Mai 2002 er- gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom- innern. Er führte damals aus, dass die transportierende men worden. Wirtschaft durch die Einführung der LKW-Maut erheb- Dritte Beratung liche zusätzliche Kosten zu erwarten habe. Richtig! Die Akzeptanz der Maut hänge davon ab, dass garantiert und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem werden kann, dass die Nettoeinnahmen wieder in das Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Verkehrsnetz reinvestiert werden. Es war von Ihnen da- stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz- mals nicht gesagt worden, dass sich der Finanzminister entwurf ist damit auch in dritter Lesung mit den Stim- 800 Millionen Euro pro Jahr aus der LKW-Maut holen men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von will. CDU/CSU und FDP angenommen worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der Zurufe von der CDU/CSU: Pfui!) CDU/CSU zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinan- zierungs- und Managementgesellschaft: Der Ausschuss Um das sicherzustellen, transparent und umsetzbar zu für Verkehr, Bau und Wohnungswesen empfiehlt unter machen – das haben Sie damals ausgeführt –, brauche Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/416, man die Gesellschaft. So weit Herr Kollege Schmidt. den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die In diesem Zusammenhang sprachen Sie auch von ei- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- ner Zweckbindung. Ihren Aussagen von damals kann chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- man nur zustimmen. Tatsache ist jedoch, dass der Fi- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen (B) nanzminister kassiert und kein Cent mehr – in diesem der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stim- (D) Jahr wahrscheinlich weniger und in den nächsten Jahren men der CDU/CSU abgelehnt worden. Damit entfällt trotz der LKW-Maut auch nicht viel – in den Straßenbau nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. fließen wird. Tja, Herr Kollege Schmidt, Sie haben da- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und b auf: mals ein wenig vollmundig getönt. a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Sams- Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit. tagen (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das haben – Drucksachen 15/396, 15/521 – wir alles schon zehnmal von Ihnen gehört! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie redet sowieso (Erste Beratung 25. Sitzung) schon viel zu lange!) –Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Rainer Renate Blank (CDU/CSU): Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Fest steht, dass wir mehr Geld für den Straßenbau benö- zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes tigen. Es wäre eine Aufgabe des Verkehrsministers, sich bei seinem Kollegen Eichel durchzusetzen, damit dieser – Drucksache 15/106 – mehr Geld für die wichtigen Investitionen locker macht (Erste Beratung 16. Sitzung) (Zuruf von der SPD: Frau Kollegin Blank, Sie Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- waren schon mal charmanter!) ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) und nicht die Haushaltsansätze aufgrund der LKW- – Drucksache 15/591 – Maut-Einnahmen reduziert. Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU) Abg. Wolfgang Grotthaus

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit Ich schließe die Aussprache. (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2405

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Wolfgang der Ladenöffnungszeit um wöchentlich vier Stunden. (C) Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und Wie ist es zu dieser Initiative gekommen? Es lassen sich der Fraktion der CDU/CSU gesellschaftliche Veränderungen beim Käuferverhalten sowie Arbeitsplatzverluste und Konzentrationen im Ein- Ladenschlussgesetz modernisieren zelhandel feststellen. Hierzu ist anzumerken, dass sich – Drucksachen 15/193, 15/591 – durch eine Veränderung der Ladenöffnungszeiten die Konzentrationsbewegungen nicht verändern werden – es Berichterstattung: wird zu weiteren Konzentrationen kommen –, dass da- Abg. Wolfgang Grotthaus durch Arbeitsplätze nicht neu entstehen werden – dies Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die hat uns der Einzelhandelsverband bestätigt –, sondern Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch höre dass es im Wesentlichen darum geht, den negativen ich nicht. Dann ist so beschlossen. Trend zu bremsen oder gänzlich zu stoppen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Ich will daran erinnern, dass der ehemalige Bundes- der Abgeordnete Wolfgang Grotthaus, SPD. wirtschaftsminister Rexrodt unter der Kohl-Regierung zum damaligen Zeitpunkt argumentiert hat, man müsse die Ladenöffnungszeiten gänzlich freigeben, weil damit Wolfgang Grotthaus (SPD): 133 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Tatsächlich sind in dieser Zeit 50 000 Arbeitsplätze ver- Herren! Dieses Thema haben wir in den zurückliegenden loren gegangen. Es gibt also eine Facette vieler Ansatz- Wochen und Monaten schon zweimal hier im Plenum punkte im Einzelhandel, die man berücksichtigen muss. behandelt. Wir haben es auch ausgiebig in den zuständi- Daher sage ich hier in aller Deutlichkeit: Dies ist nur gen Ausschüssen diskutiert. Eigentlich könnte man mei- eine Facette. Wir werden nachfolgend weitere Facetten nen, dass genug darüber geredet worden ist, dass die Si- aufgreifen und entsprechende Gesetzentwürfe in den tuation geklärt ist und dass man abstimmen sollte. Ich Bundestag einbringen, um darüber zu diskutieren. glaube, dass man trotzdem noch einmal klarstellen Am Montag haben wir zu dieser Thematik eine Exper- sollte, worum es eigentlich geht. tenanhörung gehabt. Dabei hat sich ganz klar herausge- Uns liegt heute ein Antrag der FDP zur Beratung vor. stellt, dass die Mehrheit der Experten den Gesetzentwurf Dieser Antrag beinhaltet, dass die Ladenschlusszeiten der Bundesregierung als optimale Zusammenführung der gänzlich aufgehoben werden sollen, dass also die Ge- im Bereich des Einzelhandels vorhandenen Interessen schäftsinhaber ihre Geschäfte an den Werktagen rund um ansieht. Dies bedeutet für uns, dass der Entwurf der Bun- (B) die Uhr – von 0 bis 24 Uhr – öffnen können und dass die desregierung heute eigentlich die einhellige Zustimmung (D) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn die Geschäftsin- bekommen sollte. Wir gehen aber davon aus, dass die haber dies als notwendig erachten, in dieser Zeit zur Ver- Opposition diesem Vorschlag, wie er in der Anhörung fügung zu stehen haben. vorgestellt wurde, nicht zustimmen wird. Aber auch wir haben schon angekündigt, dass wir den Gesetzentwurf In dem uns vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Frak- der FDP und den Antrag der CDU/CSU ablehnen wer- tion wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Ge- den, weil beide nicht dazu führen, die Interessen des Ein- setzentwurf vorzulegen, der letztendlich genau das Glei- zelhandels, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer che wie der FDP-Antrag beinhalten soll, nämlich eine und der Verbraucher auf einen gemeinsamen Nenner zu komplette Freigabe der Ladenöffnungszeiten an den bringen. Werktagen. Nicht unerwähnt will ich eine Bundesratsini- tiative lassen, in der ebenfalls die vollständige Freigabe Wie haben sich die Experten geäußert? Ich will deut- der Ladenöffnungszeiten gefordert wird; hinzu kommt lich machen, dass insbesondere die christlichen Arbeit- eine Ergänzung, wonach die Länder in ihrer Hoheit darü- nehmervertreterorganisationen, die katholische Arbeiter- ber bestimmen dürfen, wie sie die Ladenöffnungszeiten bewegung und die evangelische Arbeiterbewegung, festsetzen. einen zumindest für mich neuen Begriff in die Diskus- sion eingebracht haben, nämlich den Sozialfaktor Zeit. Ich will am Anfang sofort deutlich machen: Diesem Der Sozialfaktor Zeit spielte in der Diskussion eine he- Entwurf werden wir, wenn er hier im Plenum behandelt rausragende Rolle. Es wurde den anwesenden Abgeord- wird, in keiner Weise zustimmen, weil wir befürchten, neten klar gemacht, dass am Wochenende, also auch am dass es in Bezug auf die Ladenöffnungszeiten zu einem Samstag, das ehrenamtliche Engagement und die Fami- Flickenteppich in der Republik kommen wird. Dies lie eine entscheidende Rolle spielen. Daher sei es wich- könnte dazu führen, dass zum Beispiel in Mainz andere tig, gerade den Samstag in die Familienplanung und die Ladenöffnungszeiten als in Wiesbaden gelten, womit soziale Planung einzubeziehen. Deswegen ist deutlich sich Käuferströme über Ländergrenzen hinweg entwi- gemacht worden, dass gerade diese beiden Organisatio- ckeln, die aus unserer Sicht nicht gewollt sind. nen eine 24-stündige Öffnungszeit ablehnen würden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Daher glauben wir, dass unser Antrag, dem gestern im Ihnen liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung Ausschuss mehrheitlich zugestimmt worden ist und der vor. Dieser Gesetzentwurf beinhaltet als wesentlichen sich daran nicht orientiert hat, aber durch diese Anhö- Teil die Verlängerung der Ladenöffnungszeit an rung eine Zustimmung bekommen hat, den Bedenken Samstagen von 16 auf 20 Uhr, also eine Erweiterung der Vertreter der christlichen Arbeitnehmerverbände, 2406 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Wolfgang Grotthaus (A) aber auch den Arbeitgeberintentionen und – was uns gehen davon aus, dass wir weitere Initiativen entwickeln (C) sehr, sehr wichtig ist – den Interessen der Arbeitnehmer werden. im Einzelhandel Rechnung trägt. Ich sage abschließend: Den Antrag der CDU/CSU Wie haben wir unseren Antrag formuliert? Wir haben werden wir ablehnen. gesagt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist ein Verkaufsstellen verlangen können, in jedem Kalender- Fehler!) monat an einem Samstag von der Beschäftigung freige- stellt zu werden. Wir haben nicht explizit festgeschrie- Den Antrag der FDP werden wir ebenfalls ablehnen. ben, dass man freistellen muss. Wir wissen, dass es in den Betrieben und Geschäften Beschäftigte gibt – im (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist ein Wesentlichen sind es Frauen –, die nur am Wochenende Doppelfehler!) arbeiten wollen. Dann, wenn sie frei haben wollen, mel- Wir sagen der Bundesregierung einen herzlichen Dank den sie das vorher an. Der Arbeitgeber kann flexibel da- dafür, dass sie im Sinne der von mir Genannten aktiv ge- rauf reagieren. Wir wollten diese Flexibilität in diesem worden ist. Gesetzentwurf und ebenso in unserem ergänzenden An- trag festhalten. Wir haben mit Freude festgestellt, dass Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die große Oppositionspartei diesem Antrag zugestimmt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat. DIE GRÜNEN) Ich mache darauf aufmerksam, dass dies für Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer im Einzelhandel eine Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Verbesserung ist. Sie haben auf Verlangen frei zu be- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut kommen. Ich mache deutlich, dass dies auch für die Ge- Schauerte. schäfte in Bahnhöfen und für Tankstellen gilt, sodass wir für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesen ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bereichen ebenfalls eine Verbesserung erreicht haben. Bitte genau zuhören, was er sagt! Er neigt zu Dies ist letztendlich eine Allgemeinverbindlichkeitser- Verleumdungen!) klärung, an die sich die Tarifvertragsparteien halten müs- sen. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Dies bedeutet: Die Flexibilität für die Arbeitnehmer – Aufpassen! ist vorhanden und die Flexibilität für die Arbeitgeber ist (B) vorhanden. Von daher haben wir Ihnen mit unserem An- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- (D) trag eine entsprechende Verbesserung des Antrags der legen! Im Jahr 2002 waren im deutschen Einzelhandel Bundesregierung vorgeschlagen. durchschnittlich 2,5 Millionen Personen beschäftigt. Das sind 133 000 Personen weniger bzw. 13 Prozent weniger Das Fazit, das man aus der Diskussion und aus unse- Vollzeitarbeitsplätze als zum Zeitpunkt der letzten Ände- rem Antrag ziehen kann, lautet: Es gibt gesellschaftliche rung des Gesetzes 1996. Veränderungen in dieser Republik. Diese Veränderun- gen wollen und müssen wir gemeinsam mitgestalten. Es Die Umsätze sind seit 1996 rückläufig. Auch die Un- gibt widerstreitende Interessen, die zu beachten sind. ternehmenszahlen sind rückläufig; die Verkaufsstellen Wir glauben, dass wir mit der – je nachdem, aus welcher sind deutlich reduziert worden. Das alles hat unter dem Sicht man das sieht; ich sage: minimalen – Verlängerung geltenden Ladenschlussgesetz stattgefunden. der Ladenöffnungszeiten den Verbraucherinnen und Ver- Der deutsche Einzelhandel befindet sich zurzeit in ei- brauchern in dieser Republik entgegenkommen. Ich gehe ner der schwierigsten Situationen, die er jemals durchlau- davon aus, dass wir den Arbeitgeberinnen und Arbeitge- fen hat. Die Erträge sind schlecht und auch im internatio- bern mit der flexibleren Handhabung entgegenkommen nalen Wettbewerb nimmt er eine schlechte Position ein. und dass wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Form entgegenkommen, dass wir ein Recht auf Dass all das unter dem geltenden Ladenschlussgesetz ein freies Wochenende in das Gesetz mit einbringen. stattgefunden hat, muss zwar nicht heißen, dass es auch darauf zurückzuführen ist, aber geholfen hat das Gesetz Ich habe vor einigen Minuten gesagt, dass dies eine jedenfalls nicht. Facette ist, um den Einzelhandel zu stärken. Meine Frak- tion sieht die Notwendigkeit für weitere Diskussionen in (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ nächster Zeit. Aus unserer Sicht haben wir darüber zu DIE GRÜNEN]: So differenziert habe ich Sie diskutieren, wie wir den Einzelhandel in den Innenstäd- ja lange nicht gehört!) ten stabilisieren können und wie wir die Revitalisierung Im Prinzip hatte es keine Wirkung. der Innenstädte zustande bringen. Wir haben einen übergreifenden Branchendialog zu führen. Dabei wollen Hängt das, was ich eben beschrieben habe, mit den wir auf diesem Weg, den wir jetzt gegangen sind, weiter Schutzwirkungen des Gesetzes oder mit den in ihm ent- gehen. Wir wollen diese Gespräche mit den Einzelhan- haltenen Begrenzungen zusammen? Diese Frage werden delsverbänden, mit den Gewerkschaften, mit den Kom- wir nicht eindeutig beantworten können. Sehr wahr- munen, mit den Landesgesetzgebern, also mit allen, die scheinlich würden wir lediglich in einen punktuellen und den Einzelhandel mit stabilisieren können, führen. Wir interessengesteuerten Streit geraten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2407

Hartmut Schauerte (A) Jedenfalls hat der deutsche Einzelhandel keinen Beim Vergleich mit dem Ausland wird übersehen, (C) Grund, mit der gegenwärtigen Situation und insbeson- dass die gesetzestheoretische Freiheit in der Praxis im dere der geltenden Rechtslage zufrieden zu sein. Inso- Ausland keine längeren Öffnungszeiten bedeutet. weit ist es vernünftig, über notwendige Maßnahmen nachzudenken. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner) Unserer Meinung nach sollte eine Regelung, bei der Außerhalb der Tourismuszentren schließen die Ge- wir nicht mehr nachweisen können, ob sie nützlich ist, schäfte dort häufig früher oder haben aufgrund anderer eher entfallen als fortbestehen. Lebensrhythmen ausgedehnte Mittagspausen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Was hindert uns daran, eine ähnliche Feststellung für Gudrun Kopp [FDP]) Deutschland zu treffen? Auch bei uns haben sich die Le- Das ist der Ansatz, den wir in Fällen der Entbürokratisie- bensgewohnheiten etwas geändert; sie weisen eine grö- rung und der Deregulierung wählen. Entscheidend ßere Unterschiedlichkeit auf. Warum können wir diese müsste die Frage sein, ob die Regelung hilfreich ist und, Freiheit nicht zulassen? wenn ja, in welcher Form und an welcher Stelle. Dieser Ich kann nicht feststellen, dass die Arbeitnehmer in Beweis ist aber nicht zu führen. Man könnte genauso gut den ausländischen Einzelhandelsgeschäften brutal aus- das Gegenteil behaupten. Deshalb halten wir eine Re- gebeutet oder schlechter behandelt werden als die Ar- form für notwendig. beitnehmer in Deutschland und dass die Umsatzergeb- nisse des Einzelhandels in den Ländern, in denen die Wir haben bei der letzten Reform des Ladenschluss- Ladenschlusszeiten freigegeben sind, schlechter sind gesetzes einer Verlängerung der Ladenöffnungszeiten an als die des Einzelhandels in Deutschland. Warum müs- Werktagen bis 20 Uhr zugestimmt. Diese Regelung war sen wir dann an der bisherigen engen Regelung festhal- damals heiß umkämpft. Inzwischen hat die Wirklichkeit ten? gezeigt: Die deutschen Läden schließen in der Regel zwischen 18 und 19 Uhr, obwohl sie bis 20 Uhr geöffnet Die Position der CDU/CSU ist deswegen ganz klar: bleiben könnten. Das heißt, wir haben eine zeitliche Wir wollen die Ladenschlusszeiten grundsätzlich freige- Grenze festgesetzt, die in Wirklichkeit keine Rolle spielt ben, das heißt, wir wollen keine 20-Uhr-Grenze, auch und nicht ausgeschöpft wird. Die Läden schließen in der nicht am Samstag; denn wir sind uns sicher, dass sich die Regel früher. Es gibt wenige Fälle, in denen jenseits die- Menschen vernünftig verhalten und selber Grenzen fin- ser Grenze möglicherweise noch Spielraum für Ge- den werden, die ihrem jeweiligen Lebensgefühl entspre- schäfte besteht. Selbst wenn wir die Grenze abschaffen, chen. (B) wird es nur wenige Einzelfälle geben, in denen in diesem (D) Bereich noch Geschäfte generiert werden können, weil (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine konkrete Nachfrage besteht. Wir wollen aber – das halten wir für richtig und wich- tig – den Sonntag weiterhin schützen, und zwar zumin- Warum soll das untersagt werden? dest in so starkem Maße wie bisher. Deswegen möchten (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. wir, liebe Kollegen von der FDP, den Ländern auch nicht Gudrun Kopp [FDP]) die Möglichkeit geben, eventuell Ausnahmeregelungen zu beschließen; denn daraus könnten sich neue Risiken Warum muss das Vorhaben gestoppt werden? Warum für den Sonntagsschutz ergeben. Lassen Sie mich dazu muss man an dieser Stelle so ängstlich sein? Wir haben ein paar Bemerkungen machen. Zurzeit ist der Sonntags- es schließlich mit mündigen Bürgern zu tun. Aus der schutz bundesgesetzlich geregelt. Er ist eine Konsequenz Abschaffung der Ladenöffnungszeiten ergibt sich kein aus den Vorgaben unserer heutigen Verfassung, die fest- Gebot, die Läden rund um die Uhr zu öffnen. Vielmehr legt – das ist aus der Weimarer Reichsverfassung über- werden die Nachfrage sowie die geschäftlichen Mög- nommen worden –, dass der Sonntag gesetzlich zu lichkeiten und Notwendigkeiten bestimmen, wann die schützen ist. Wenn man den Sonntagsschutz per Bundes- Läden geöffnet sind. Das wird sich auf eine vernünftige gesetz beseitigen will, dann muss man zunächst einmal Weise regulieren. bedenken, dass der Sonntagsschutz in einigen Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ländern völlig unzureichend und gänzlich anders gere- Gudrun Kopp [FDP]) gelt ist. Ich möchte Ihnen ein praktisches Beispiel nen- nen – ich möchte noch nicht einmal von solch gottlosen „Markt intern“ hat sich in einem bitterbösen Informa- Regierungen wie der in Berlin reden, wo die Regierung tionsbrief gegen diese weitere Liberalisierung ausge- mit dem Schutz des Sonntags macht, was sie will; das sprochen. Um deutlich zu machen, wie unlogisch häufig wollen wir nicht zulassen –: Einige Stadtstaaten würden, argumentiert wird, möchte ich einen Punkt daraus anfüh- wenn sie die Möglichkeit hätten, die Regelung zum ren: Dass der alte Gesetzeszopf weg müsse, sei eine Sonntagsschutz weit öffnen. Ich kann mir gut vorstellen, Lüge; er müsse eigentlich beibehalten werden. Von den welches Theater es zum Beispiel im Speckgürtel gäbe, Gegnern werde das Ladenschlussgesetz als Anachronis- wenn es zu einer solchen Öffnung käme. Es wird dann mus dargestellt. Das Gesetz sei erst 1956 in Kraft getre- sicherlich heißen: Wir müssen das Gleiche tun, weil ten. Es sei mittlerweile elfmal überarbeitet und insofern sonst Kaufkraft abgezogen wird. Ich bin mir sicher, dass immer wieder modernisiert worden. Vergleiche mit dem man dann überhaupt keine Grenzen mehr finden wird. Ausland seien ohnehin nicht möglich. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin sehr wohl für 2408 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hartmut Schauerte (A) den Föderalismus. Aber bei Gütern, die über jeden Zwei- und diskutieren über den Ladenschluss. Jetzt sehen wir (C) fel erhaben sind und die ich deswegen deutschlandweit uns einmal an, was bei der SPD bezogen auf den Laden- geschützt sehen will – dazu gehört für uns der Sonntag –, schluss los ist. Ich habe gedacht, es geht um eine Verlän- gerung der Öffnungszeiten an Samstagen um vier Stun- (Beifall bei der CDU/CSU) den. Bei uns geht es ja um mehr. Für Sie waren die vier möchte ich auf die Möglichkeit der freien Gestaltung für Stunden unheimlich viel. Sie haben eine Sondersitzung die einzelnen Länder verzichten. Ich sage deshalb: Nein, der Fraktion machen müssen, der Sonntag muss weiterhin bundesgesetzlich geschützt (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: werden. Wir halten an unserer Linie fest, weil sie ver- Und?) nünftig ist. um die Abweichler, die diesem Gesetzentwurf nicht zu- Ich möchte – das ist schon angesprochen worden – stimmen wollten, zur Räson zu bringen. noch auf einen weiteren Gesichtspunkt eingehen, nämlich das Cityprivileg, dessen Einführung ständig gefordert (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) wird. Wir lehnen dieses Privileg ab, weil wir neue Gren- Das muss man sich einmal vorstellen. Angesichts dieser zen für Quatsch halten. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie, Jahrhundertreform haben Sie heute Morgen eine Sonder- wenn Sie Ihre 20-Uhr-Regelung und die Einführung des sitzung der Fraktion gemacht. In dieser Sondersitzung Cityprivilegs an einigen interessierten Standorten – der der Fraktion Wunsch danach wächst ja ständig – tatsächlich realisie- ren, über kurz oder lang eine neue Ladenschlussdebatte (Dr. [SPD]: Wir wollten uns führen müssen. Man hat das Cityprivileg aus der Motten- noch vor dem Frühstück sehen!) kiste wieder herausgeholt und argumentiert, dass man wieder etwas für die Geschäfte in den Innenstädten tun haben 25 Leute gegen den Regierungsentwurf gestimmt müsse und dass man deswegen die Geschäfte auf der grü- und sie behaupten, das auch durchhalten zu wollen. nen Wiese schlechter stellen müsse. Wenn dieses Privileg (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eingeführt wird, dann werden neue künstliche Grenzen entstehen. Sie werden damit also nichts weiter als Unsi- Wir müssten Ihnen eigentlich den Gefallen tun, eine cherheit und neues Theater erreichen. Deswegen ist unser namentliche Abstimmung über den Gesetzentwurf zu Ansatz richtig, die Ladenschlusszeiten gänzlich freizuge- fordern. ben, wobei der Sonntag mit aller Konsequenz geschützt (Lachen bei der SPD) bleibt. Die wäre interessant. (B) In der Diskussion über das Cityprivileg gibt es außer- (D) dem ein interessantes „logisches“ Argument. Die Ein- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das müssen Sie führung dieses Privilegs wird ja gewünscht, weil man Herrn Hinsken gönnen, Herr Schauerte!) hofft, durch längere Ladenöffnungszeiten bessere Ge- Wissen Sie, warum die interessant wäre? Herr Wend, schäfte zu machen. Deswegen befürworten die Ge- stellen Sie sich doch einmal vor: Am Vorabend der Jahr- schäfte in den Innenstädte das Cityprivileg. Warum sol- hundertrede bekommt der Kanzler bei der Kleinsten der len das aber nur die Großstädte dürfen? Warum sollen, vorgesehenen Reformen nicht einmal die eigene Mehr- wenn sie wollen, nicht auch der ländliche Raum und die heit zustande. kleinen Städte selbstständig über ihre Ladenöffnungszei- ten entscheiden dürfen? (Dirk Niebel [FDP]: Keine eigene Mehrheit!) (Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das muss man sich einmal vorstellen. Wie soll das denn NEN]: Herr Schauerte, das ist unsere Posi- beim Kündigungsschutz, bei der Arbeitsmarkt- oder der tion!) Gesundheitsreform gehen? Wie viele Sondersitzungen wollen Sie denn noch machen? Wie oft sollen wir Sie – Nein, das, was Sie vertreten, ist im Grunde ein Groß- denn mit namentlichen Abstimmungen verschonen, da- stadtprivileg. Deshalb ist auch die BAG dafür. Hier geht mit Sie nicht unangenehm auffallen? es ja nicht um einen Kaufhof im ländlichen Raum, son- dern um Einzelhandelsunternehmen auf der Düsseldor- (Lachen bei der SPD) fer Kö. Darauf läuft es letztendlich hinaus. Dazu sagen Das ist doch wirklich mehr als peinlich. wir Nein; denn wir halten eine weitere Verschiebung der Kaufkraftströme vom Land in die Ballungsräume für un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- vernünftig. Wir müssen vielmehr die Versorgung im derspruch bei der SPD) ländlichen Raum auf hohem Niveau erhalten. Deswegen ist das Cityprivileg falsch. Ich sage Ihnen voraus: Sie Wo ist Ihre Fraktionsführung, wo ist Ihre Geschlos- werden aufgrund Ihrer Regelung betreffend das Citypri- senheit? Es wäre hochinteressant festzustellen, wie Sie vileg eine neue Ladenschlussdiskussion führen müssen. nachher tatsächlich abstimmen. Es juckt mich immer noch, den Antrag auf namentliche Abstimmung zu stel- Wir stehen hier am Vorabend einer Jahrhundertrede len. Das wäre hochinteressant für Sie. Sie würden sich des Bundeskanzlers wundern. (Zuruf von der SPD: Endlich kommen Sie zum (Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: Ma- Thema!) chen Sie es doch! – Zurufe von der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2409

Hartmut Schauerte (A) Das ist schon ein hochnotpeinlicher Vorgang, wie der Ich kann noch einen Schritt weiter gehen. Die Perver- (C) Löwe SPD am Beginn eines Reformprozesses von histo- sion sind die Factory Outlet Center. Diese bedeuten ei- rischem Ausmaß dasteht. Er hat keine Mehrheit bei dem nen Generalangriff auf die deutschen Innenstädte. So ist es Vorhaben, den Ladenschluss am Samstag um vier Stun- nun einmal. Darauf muss es Reaktionen seitens der Politik den zu verlängern. Peinlich, peinlich, peinlich! geben. Dort ist die Wettbewerbsverzerrung perfekt. Danke schön. Was kann noch getan werden, um auf diesem Gebiet einen gewissen Ausgleich zu schaffen? Was im Raum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von steht, ist einfach nur eine zeitliche Differenzierung der der CDU/CSU: Bravo! Bravo! Bravo!) Ladenöffnungszeiten, um den Innenstädten einen gewis- sen Vorteil zu verschaffen, was auch erreicht würde. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Verfassungs- Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bünd- rechtlich!) nis 90/Die Grünen. – Sie geben mir gerade das Stichwort „verfassungsrecht- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Keine unfläti- lich“. gen Bemerkungen!) Zunächst möchte ich etwas über den Vergleich mit dem Ausland sagen. Schauen Sie in die Vereinigten Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Staaten von Amerika! Dort sind die Innenstädte auf- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und grund solcher Center verödet. Bleiben wir in Europa und Herren! Das Thema Ladenschluss beschäftigt uns heute schauen wir einmal nach Schweden! In Schweden domi- zum dritten Mal innerhalb der letzten Monate und heute nieren drei große Einzelhandelsunternehmen den ganzen auch abschließend. Lebensmittelmarkt. Diese drei Unternehmen machen 90 Prozent des gesamten Umsatzes. Wie sieht es in (Klaus Brandner [SPD]: Ladenöffnung, bitte!) Schweden mit den Preisen aus? Zunächst sanken die – Auch gerne Ladenöffnung. Einzelhandels- und Lebensmittelspreise ein gutes Stück. Dann bildete sich ein Oligopol. Heute ist das Lebensmit- (Dirk Niebel [FDP]: Wenn Sie keine Reform telpreisniveau in Schweden das höchste in ganz Europa. machen, kommt das Thema immer wieder!) Das ist eine Folge der dortigen Verhältnisse. Wir machen heute einen weiteren, auch in meinen Herr Schauerte, Sie argumentieren juristisch und sa- Augen kleinen Schritt zur Erweiterung der Laden- gen, ein solches Cityprivileg lasse sich juristisch nicht (B) öffnungszeiten am Samstag von 16 auf 20 Uhr. halten. Professor Isensee hat genau das in einem Gutach- (D) ten bestritten und ist zum gegenteiligen Ergebnis gekom- (Gudrun Kopp [FDP]: Ein Minischritt!) men. In einer Expertise des Bundesjustizministeriums – Zwischenrufe können Sie sich sparen, Sie kennen aus dem Jahre 2000 heißt es klipp und klar: Wesentlich meine Position. ist, den Gleichheitsgrundsatz des deutschen Grundgeset- zes zu wahren. Dies geschieht durch die Bewahrung der (Dirk Niebel [FDP]: Die kann ich mir nicht Gemeinwohlbelange und durch die Förderung von In- sparen! Die sind gut!) nenstädten. Die zur Erreichung dieses Ziels eingesetzten Wir müssen als Regierungskoalition auf die veränderten Mittel müssen verhältnismäßig sein und eine Differen- Lebens- und Arbeitsgewohnheiten der Menschen reagie- zierung der Ladenschlusszeiten ist ein solches verhält- ren. Insbesondere durch die Reform aus dem Jahre 1996 nismäßiges Mittel. hat sich gezeigt, dass der Samstag von den Konsumen- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist der tinnen und Konsumenten bedeutend stärker angenom- Befreiungsschlag!) men wird, als das zunächst erwartet wurde. Die logische Konsequenz daraus ist natürlich eine Verlängerung der Sie argumentieren – das haben Sie auch veröffentlicht – Öffnungszeit am Samstag auf zunächst 20 Uhr. mit der Abgrenzungsproblematik. Dank des Investiti- onszulagengesetzes gibt es in diesem Bereich sehr einfa- Ich will ein Thema ansprechen, das auch Herr che und sehr brauchbare Möglichkeiten. Die bestehen- Schauerte zur Sprache gebracht hat. Ich bin dabei der den Regelungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten festen Überzeugung, dass wir die Problematik der La- angewandt werden – Stichworte sind das Baugesetzbuch denöffnungszeiten tiefer diskutieren müssen. Wir müs- und die Baunutzungsverordnung –, machen eine glas- sen einfach einmal sehen, was in unserem Land durch klare Unterscheidung zwischen Innenstadtlagen und La- das Ausräumen der Innenstädte aufgrund des Auswei- gen auf der grünen Wiese möglich. Bereits heute wird chens auf die grüne Wiese geschieht. Die Zahlen sind zwischen Gewerbegebieten, Kerngebieten und Mischge- hier in den Debatten bereits genannt worden. Die großen bieten differenziert. Wir alle kennen diese Begrifflich- Discounter auf der grünen Wiese haben nun einmal ge- keiten. Diese Regelungen wurden in Deutschland bisher genüber den Händlern in unseren Innenstädten ganz be- in 400 000 Fällen angewandt – und das ohne eine ein- deutende Wettbewerbsvorteile. Herr Schauerte, daran zige Klage. Man sollte in dieser Angelegenheit also nicht können Sie nicht vorbeireden. Der Wettbewerb ist völlig juristisch argumentieren, sondern bestenfalls politisch. verzerrt. Politik muss sich einfach ernsthafte Gedanken darüber machen, was daran verändert werden kann. (Gudrun Kopp [FDP]: Verfassungsrechtlich!) 2410 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hubert Ulrich (A) – Ich habe gerade die verfassungsrechtliche Problematik Allein in diesem Bereich – der von den Grünen und nicht (C) erläutert, Frau Kopp. Ihr Problem, Frau Kopp, und das von der CDU/CSU in die Diskussion gebracht wurde – Problem der FDP allgemein ist, dass Sie sich noch nie wird, so der HDE, mit 100 000 neuen Arbeitsplätzen ge- für die Klein- und Kleinstbetriebe sowie die mittelstän- rechnet. Dass Sie uns via Bundesrat dabei unter die dischen Betriebe interessiert haben. Sie denken nur an Arme gegriffen haben, Herr Schauerte, ist richtig. Aber die großen Unternehmen auf der grünen Wiese. Dement- die Initiative kam von den Grünen. sprechend ist Ihre Politik seit Jahrzehnten. Das beweisen Meine Redezeit ist um, ich bedanke mich für Ihre Sie auch jetzt wieder durch diesen Zwischenruf. Aufmerksamkeit. (Gudrun Kopp [FDP]: Sie pflegen Vorurteile!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Machen Sie sich einmal Gedanken darüber, warum in sowie bei Abgeordneten der SPD) den letzten Jahren gerade im Einzelhandel mehr als 100 000 Arbeitsplätze verloren gingen! Es waren die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: großen Unternehmen, die dafür gesorgt haben, dass Ar- beitsplätze in den Innenstädten abgebaut wurden. Frau Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp, Kopp, die Zahlen sprechen für sich – man muss sich das FDP-Fraktion. immer wieder einmal klar machen –: Der prozentuale Anteil der Personalkosten im Fachhandel in den Innen- Gudrun Kopp (FDP): städten liegt bei 18,5 Prozent; der gleiche Anteil bei den Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Verbrauchermärkten auf der grünen Wiese liegt bei Lieber Herr Kollege Ulrich, im Gegensatz zu Ihnen 8,6 Prozent. Das ist ein enormer Unterschied. komme ich aus einem unternehmergeführten mittelstän- (Gudrun Kopp [FDP]: Woran liegt das?) dischen Betrieb. – Das liegt an vielem: Es liegt an der viel größeren und (Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- viel preiswerteren Fläche, die den Unternehmern auf NEN]: Ich auch!) der grünen Wiese zur Verfügung steht. Man braucht Versuchen Sie bitte nicht, mir zu erzählen, was Mittel- dort nur „eindimensional“ zu bauen. Man hat dort eine stand ist. gute Verkehrsanbindung. Außerdem verfügt man über zentrale Marketingkonzepte und beim Einkauf beste- Liebe Kollegen und Kolleginnen, bezüglich des The- hen große Margen. Es gibt dort eine ganze Reihe von mas Reformen gibt es kein Frühlingserwachen. Ich Vorteilen gegenüber den Anbietern in Innenstädten. glaube, dass es hier im Deutschen Bundestag eine neue, größer werdende Allianz der Regulierungswütigen gibt, (B) Auch große Kaufhäuser in Innenstädten können diese (D) Vorteile – das darf man nicht vergessen – nicht wett- die plötzlich wieder neue Blüten treiben lassen. machen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dirk Niebel [FDP]: War es dann doch nicht die der CDU/CSU) FDP? Waren es vielleicht die Umstände?) Es geht nicht nur darum, dass sich die SPD und auch die Der einzige Weg, den Anbietern in den Innenstädten Grünen nur trauen, hier einen Gesetzentwurf mit einem einen gewissen Vorteil zu verschaffen, ist nun einmal Minischritt von gerade einmal vier weiteren Stunden La- eine Differenzierung, wofür ich mich klar ausspreche. denöffnungszeit vorzulegen, sondern auch um einen an- Ich weiß, dass unser Koalitionspartner in dieser Angele- deren Punkt, den ich deutlich erwähnen möchte. Dabei genheit eine andere Position hat. Trotzdem kämpfe ich kann ich leider auch die CDU/CSU-Fraktion nicht her- für dieses Ziel. Ich weiß, dass es auch innerhalb der sozi- auslassen. aldemokratischen, aber auch innerhalb der christdemo- Lieber Herr Schauerte, Sie haben vergessen, zu er- kratischen Fraktion eine größere Gruppe von Abgeord- wähnen, wie Sie zu den Punkten Sonderregelungen und neten gibt, die das ähnlich sieht. Ich bin der Meinung, Verbeugung vor den Gewerkschaften stehen und abge- dass wir dieses Thema weiter diskutieren sollten. Ich stimmt haben. Zu unserer großen Überraschung ist jetzt halte es für sehr wichtig, auch mit Blick auf die Zukunft, im Gesetzentwurf der rot-grünen Regierung vorgesehen, sich darüber Gedanken zu machen. dass die Beschäftigten in den Verkaufsstellen ein ver- Diese Regierung hat neben der weiteren Liberalisie- brieftes Recht auf einen freien Samstag einmal im Monat rung der Ladenschlusszeiten eine ganze Reihe anderer erhalten sollen. Ich muss Ihnen sagen: Das ist absurd; Maßnahmen durchgeführt, um dem Einzelhandel und (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Warum?) dem Mittelstand Vorteile zu verschaffen. Die aktuellste Maßnahme ist die Schaffung des Niedriglohnsektors das ist absoluter Unsinn. Ich finde es bedauerlich, dass im Zusammenhang mit dem Hartz-Konzept. die CDU/CSU-Fraktion dem auch noch zustimmt – Sie bilden eine Koalition der Unbelehrbaren –, weil dadurch (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das waren Sondertatbestände geschaffen werden. wir!) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Warum ist – Für das Hartz-Konzept waren Sie verantwortlich? das falsch?) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Für den – Ich sage Ihnen das sofort. Es ist doch so, dass Sie hier Niedriglohnsektor!) eine Bevormundung hineinbringen. Sie wissen doch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2411

Gudrun Kopp (A) selber, dass Sie damit in die Tarifhoheit der beiden Part- Ausführungen des Rechtswissenschaftlers Professor (C) ner, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, eingreifen. Sie Hufen sehr interessant. Er hat angeregt, zu hinterfragen, müssten eigentlich wissen, dass es aufgrund einer tarif- ob in einem freiheitlichen Rechtsstaat das Aufrechterhal- vertraglichen Einigung bereits heute eine Fünftage- ten von kleinlichen Regulierungen wie im Ladenschluss- woche gibt. gesetz überhaupt noch verfassungskonform ist. Dieser Umkehreffekt ist ein Aspekt, den viele in diesem Haus Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: überhaupt noch nicht bedacht haben. Eigentlich müssten diejenigen, die nach wie vor regulieren wollen, begrün- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der den, weshalb sie das wollen. Kollegin Blank? (Beifall bei der FDP) Gudrun Kopp (FDP): Angesichts der Tatsache, dass wir morgen früh eine so genannte „Ruckrede“ des Kanzlers hören werden, nach Nein, ich gestatte jetzt keine. der sich alles am Standort Deutschland verbessern wird, Außerdem lassen Sie die Frage offen, wie Sie gegenü- muss ich sagen: Ich persönlich habe die Hoffnung aufge- ber anderen Arbeitnehmern argumentieren wollen, zum geben, dass es hier so etwas wie Reformfähigkeit Beispiel in der Gastronomie, in der Freizeitbranche oder (Zuruf von der SPD: Sie sind immer hoff- in der Gesundheitsbranche. nungslos!) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Da haben oder einen Aufbruch in die Neuzeit geben wird. Das ist wir den Sonntag auch geregelt! Gucken Sie mal dramatisch und tragisch; denn spürbare Steuerentlastun- ins Arbeitszeitgesetz, bevor Sie hier reden!) gen, Reformen bei der Gesundheitspolitik und die Sen- Dies ist ein weiterer ordnungspolitischer Fauxpas. kung der Abgaben, die den Mittelstand, die Wirtschaft sowie die Bürger und die Verbraucher belasten, würden (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Die den Mittelstand stabilisieren. Das wäre eine echte Re- schwarzen und roten Gewerkschafter kann form, die zur Stabilisierung des Wirtschaftsstandorts man einfach austauschen! Alles der gleiche Deutschland führen würde. Diese haben wir wahrlich Beton!) nötig. Wir als FDP-Bundestagsfraktion stellen dem ganz Ich finde es lächerlich und peinlich, dass wir heute ein klar unsere Forderung entgegen. Wir wollen die Ab- weiteres Mal über das Regulierungswerk Ladenschluss schaffung des Ladenschlussgesetzes für Werktage diskutieren. Wir haben eigentlich viel größere Sorgen. (B) ohne Wenn und Aber. Wir legen – um Legendenbildung (D) vorzubeugen – genauso Wert darauf, dass Sonn- und Fei- (Klaus Brandner [SPD]: Haben Sie zur Kennt- ertage verfassungsrechtlich geschützt bleiben, so wie sie nis genommen, dass mindestens zehn Ab- das jetzt sind. Mit einem Unterschied: Wir folgen dem schnitte des Gesetzes gestrichen worden sind?) Subsidiaritätsprinzip und möchten, dass die Länder je Wir sollten das Problem lösen, indem wir auf ein solches nach kultureller Tradition entscheiden, welche Ausnah- Gesetz verzichten. Das wäre eine hervorragende Nach- men gelten. richt. Wir sollten nicht immer wieder neue Gesetze (Beifall bei der FDP) schaffen, sondern Mut zum Schritt nach vorn haben. Im Übrigen gibt es schon heute, je nach Bundesland (Klaus Brandner [SPD]: Haben Sie nicht gese- unterschiedliche Feiertage. Das funktioniert hervorra- hen, wie viel entrümpelt wurde?) gend, wenn man den Menschen ein Stück mehr Eigen- Ich sehe es aber zusammen mit meiner Fraktion rea- ständigkeit und weniger Regulierung zutraut. Das sollten listisch: Es wird noch eine Weile dauern, bis Vernunft, wir hinbekommen. Sachverstand und ordnungspolitisches Denken und Han- Ich betone noch einmal, dass der nötige Schutz für deln in dieses Haus einziehen werden. die Mitarbeiter, die betroffen sind, nach wie vor gilt. Vielen Dank. Auch wir stehen hinter dem Arbeitszeitgesetz und den Arbeitsschutzgesetzen. Aber wir legen Wert auf mehr (Beifall bei der FDP) Eigenständigkeit und weniger staatliche Regelungen. Wir legen auch Wert auf eine größere Verbraucherorien- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tierung. Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/ Niemand wird gezwungen – auch das hat Herr CSU-Fraktion. Schauerte richtig ausgeführt –, ein Geschäft 24 Stunden lang zu öffnen. Es geht darum, das nötige Zeitfenster zu Max Straubinger (CDU/CSU): haben, um die eigenen Nischenchancen am Markt zu nutzen. Das finde ich hervorragend. Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol- legen! Wir reden heute wiederum über die Ladenöff- (Beifall bei der FDP) nungszeiten, besser gesagt, über die Ladenschlusszeiten Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt anbringen. in unserem Land. Die SPD freut sich, am Vortag der Ich fand bei der Anhörung am vergangenen Montag die Rede des Bundeskanzlers noch ein großes Reformprojekt 2412 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Max Straubinger (A) präsentieren zu können. Das bedeutet, die Geschäfte nichts für die Beschäftigung gebracht haben. Dies (C) können am Samstag vier Stunden länger öffnen. Das ist müsste meines Erachtens auch den Vertretern von SPD eine großartige Reform. Sie können stolz darauf sein; und Grünen einleuchten. Letztendlich haben sich einzig denn sie zeigt – das wird auch den Wählerinnen und und allein die Finanzkraft und die Marktmacht der ein- Wählern bewusst –, wie reformunfähig SPD und Bünd- zelnen Handelskonzerne, die sich leider Gottes bei uns nis 90/Die Grünen mittlerweile geworden sind. auf acht Unternehmen konzentrieren, durchgesetzt. Das ist das entscheidende Kriterium und nicht die Frage, ob (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in der Woche die Geschäfte eine, zwei oder vier Stunden neten der FDP) länger geöffnet werden können. Es geht darum, den Ver- Derzeit gilt die strenge Ladenöffnungsregelung, nach braucherinnen und Verbrauchern für sie angenehme Öff- der die Geschäfte von 6 Uhr morgens bis 20 Uhr abends nungszeiten zu bieten. geöffnet sein können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Klaus Brandner [SPD]: Sie ist doch nicht Ich glaube, es wäre besser gewesen, dem kleinstruktu- streng, sie ist sozial gerecht!) rierten Handel Nischen zu eröffnen. Bündnis 90/Die Diese Möglichkeit wird heute schon von den verschiede- Grünen hat immer wieder davon gesprochen, besonders nen Einzelhändlern nicht genutzt. Der Bäcker öffnet die Citylagen zu unterstützen, weil hier abends verstärkt frühmorgens, wie es für ihn richtig ist, und schließt kulturelles Leben stattfindet. Daher sollte es den Einzel- wahrscheinlich vor 20 Uhr. Der Textilhändler dagegen händlern dort möglich sein, unter Umständen die Ge- öffnet später und schließt vielleicht um 20 Uhr, in der schäfte länger zu öffnen. Unser Antrag wird dieser Tat- Regel aber früher. sache durch die Forderung nach Abschaffung der Ladenöffnungszeiten von Montag bis Samstag gerecht. Warum ist das so? Es ist deshalb so, weil die unter- nehmerische Entscheidung es gebietet, über den Grenz- Ich glaube, dass die SPD und die Grünen weiterhin ertrag nachzudenken, ihn zu bestimmen und darauf letzt- darauf setzen, dass die Menschen Konsumverzicht üben endlich die Öffnungszeiten abzustimmen. sollten, wie es der Fraktionsvorsitzende der SPD, Müntefering, vorgegeben hat. Ich glaube, dass der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt bei der Einbringung des Gesetzentwurfs (Zurufe von der SPD: Ah! – Klaus Uwe einen sehr wichtigen Satz gesagt hat: Benneter [SPD]: Aber nur nachts!) Ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin: Das Entscheidende ist: Wenn Sie etwas für den klein- strukturierten Einzelhandel tun wollen, verehrte Kolle- (B) Ich glaube, wir haben recht daran getan, die Unter- (D) nehmen des Einzelhandels durch die Erweiterung ginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grü- des Öffnungsrahmens an Samstagen in die Lage zu nen, dann entlasten Sie die Einzelhandelsunternehmer versetzen, sich besser auf Verbraucherwünsche ein- von überbordender Bürokratie. zustellen und ihre Leistungen dem Bedarf und dem (Klaus Brandner [SPD]: Die Sie produziert ha- Kundenaufkommen anzupassen. Ich sage an dieser ben, Herr Straubinger!) Stelle noch einmal: Niemand wird verpflichtet, sein Geschäft bis 20 Uhr offen zu halten. Jeder soll nach Dazu trägt die Abschaffung des Ladenschlussgesetzes Maßgabe und geschäftlichem Interesse seinen La- bei. Entlasten Sie sie von zu hohen Sozialversicherungs- den offen halten oder ihn schließen, wenn er das für beiträgen und von zu hohen Steuerbelastungen! Ich richtig hält. nenne in diesem Zusammenhang die Abschaffung der Ökosteuer, die vor allen Dingen bei Altbauten zu höhe- Wer sich diesem letzten Satz anschließt, der müsste ei- ren Heizkosten führt. Das würde unsere Einzelhandels- gentlich dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion, in dem unternehmen fördern. So könnten Sie tatsächlich etwas eine Abschaffung der Ladenöffnungszeiten von Montag für den Mittelstand tun. bis Samstag gefordert wird, zustimmen. Es soll den Ein- zelhändlern überlassen sein, wann sie ihre Geschäfte öff- Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nen und wann sie sie zusperren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ich möchte mich auch mit der These befassen, die Gudrun Kopp [FDP] – Hartmut Schauerte längeren Ladenöffnungszeiten würden den Strukturwan- [CDU/CSU]: Nur Mut, meine Damen und del und die Unternehmenskonzentration bzw. die Um- Herren von der SPD!) satzkonzentration beschleunigen. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang einmal einige Zahlen zu Gemüte Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: führen. 1995 gab es in Deutschland laut Auskunft des HDE 95 Millionen Quadratmeter Verkaufsflächen. Im Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekre- Jahr 2002 waren es 110 Millionen Quadratmeter. Das ist tär Gerd Andres. eine Steigerung um knapp 16 Prozent. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Man könnte nun ableiten, dass die Beschäftigung zu- nister für Wirtschaft und Arbeit: genommen haben müsste. Das ist aber nicht der Fall. Die Beschäftigung ist vielmehr massiv gesunken. Das zeigt Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sehr deutlich, dass in diesem Bereich die Öffnungszeiten Herren! Genau einen Monat nach der ersten Lesung des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2413

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Gesetzentwurfs der Bundesregierung wird heute die Än- der nimmt in Kauf, dass die Ladenöffnung an Sonn- und (C) derung des Ladenschlussgesetzes im Deutschen Bundes- Feiertagen durch Landesrecht geregelt würde. tag abschließend beraten. Ich möchte keinen Wettbewerb der Länder um die (Zuruf von der CDU/CSU: Bisher ist alles Frage, wo die Geschäfte sonntags am längsten öffnen richtig!) dürfen. Die Folgen sind doch klar – hier unterstütze ich das, was der Kollege Schauerte gesagt hat –: Man muss Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen nur an die Stadtstaaten denken, um zu wissen, dass das und Kollegen, die dazu beigetragen haben, dass der Ge- Recht zersplittert und der Sonn- und Feiertagsschutz setzentwurf so zügig beraten wurde. Ich bedanke mich ausgehöhlt würden. Es geht nicht um das Spiel „Alles auch für eine sehr intensive und inhaltsreiche Diskussion oder nichts“, auch nicht darum, wer die beste marktwirt- in der Ausschusssitzung am vergangenen Mittwoch. schaftliche Theorie erfunden hat. Es geht um sachge- Wenn es nicht darum geht, Fensterreden zu halten und rechte, praktikable Lösungen, die die Interessen aller Be- Ideologien vor sich herzutragen, sondern darum, sich mit teiligten widerspiegeln. Problemen auseinander zu setzen, dann kann man er- staunliche Erfahrungen mit den Kolleginnen und Kolle- (Zustimmung bei der SPD) gen aus der Unionsfraktion, aber auch aus der SPD- Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Fraktion machen. Ladenöffnung an Samstagen setzt die Bundesregierung Die Sachverständigenanhörung des Ausschusses für auf eine Reform mit einer maßvollen Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Der Gesetzentwurf ist eine tragfä- Wirtschaft und Arbeit am Montag dieser Woche hat er- hige Lösung, die den Bedürfnissen der Kundinnen und neut das weite Spektrum der Positionen zum Laden- Kunden sowie des Einzelhandels gerecht wird. Die Ba- schluss deutlich gemacht. Die Auffassungen reichen von lance zwischen den Interessen der Geschäftsinhaber, der einer völligen Freigabe der Ladenöffnungszeiten in der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der Beschäf- Woche bis hin zur Ablehnung jedweder Änderung des tigten bleibt erhalten. geltenden Rechts. Diese Positionen kennen wir bereits seit Jahren; sie hatten daher nur einen geringen Neuig- Es ist nicht wegzudiskutieren: Der Samstag ist inzwi- keitswert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin seit schen zu einem Haupteinkaufstag geworden. Es gibt 1987 Mitglied des Deutschen Bundestages und habe jede ein Bedürfnis der Verbraucherinnen und Verbraucher, Debatte über Ladenöffnungszeiten miterlebt. Mir ist kein samstags auch nach 16 Uhr einkaufen zu können. neues Argument mehr begegnet und mir fällt auch kein Der Regierungsentwurf sieht eine Verlängerung der neues Argument mehr ein. Wir alle machen die Erfah- gesetzlichen Ladenöffnungszeiten an Samstagen bis rung, dass man die Argumente und Positionen nutzt, um 20 Uhr vor. Der Einzelhandel kann dann an allen Werk- (B) die jeweils eigene ideologische Haltung zu begründen. (D) tagen von Montag bis Samstag im Zeitraum von 6 bis Davon sollten wir uns verabschieden. 20 Uhr öffnen. Wir ermöglichen damit eine zeitgemäße (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und bedarfsorientierte Öffnung der Läden. In zwei zentralen Punkten waren aber weitgehend ein- Seit dem In-Kraft-Treten des Ladenschlussgesetzes heitliche Positionen festzustellen: Alle Verbände stimm- im Jahre 1956 haben sich die wirtschaftlichen und sozia- ten darin überein, dass der verfassungsmäßig garantierte len Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Schutz der Sonn- und Feiertage nicht angetastet werden Deutschland erheblich verändert. Der Gesetzgeber hat dürfe. Weitgehende Einigkeit gab es auch in der Frage auf diese Veränderung mit einer Überprüfung der Rege- der Bundeseinheitlichkeit. Kein Verband hat sich dafür lung zum Ladenschluss reagiert und das Recht den geän- ausgesprochen, die Regelung des Ladenschlusses den derten Realitäten angepasst. Ländern zu überlassen. Wir reichen unsere Hand aber nicht für eine Öffnung rund um die Uhr. Es besteht wenig Bedarf, nachts um Die Anhörung hat daher die Bundesregierung in ihrer 3 Uhr Socken oder Haferflocken zu kaufen, wie es einer Haltung bestärkt, dass wir auch weiterhin ein bundesein- der Sachverständigen am Montag auf den Punkt ge- heitliches Ladenöffnungsgesetz brauchen. Ein Bundes- bracht hat. Dass aber ein Bedürfnis für eine längere Öff- gesetz sichert den Schutz der Sonn- und Feiertage. Die nung am Samstag besteht, zeigen auch die Erfahrungen Bundesregierung ist sich mit nahezu allen Beteiligten in Niedersachsen mit den verlängerten Ladenöffnungs- – dem Einzelhandel, den Kirchen und Gewerkschaften – zeiten während der Weltausstellung EXPO 2000. Die sowie der Mehrheit der Bevölkerung einig, dass insbe- Verbraucherinnen und Verbraucher haben die verlänger- sondere die verfassungsrechtlich geschützte Sonn- und ten Öffnungszeiten an Samstagen rege genutzt. Wer sich Feiertagsruhe nicht angetastet werden darf. heute in Citylagen begibt – wir diskutieren über das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Cityprivileg –, der weiß, dass die Innenstädte bis 16 Uhr DIE GRÜNEN) brummen und dass es danach in den Innenstädten leer wird. Die Menschen stimmen mit ihren Füßen ab. Der Das Ladenschlussgesetz enthält klare, einheitliche Re- Gesetzgeber muss, finde ich, Schritt für Schritt auf diese gelungen, die an Sonn- und Feiertagen nur einen sehr ein- geänderten Bedürfnisse reagieren und entsprechende geschränkten Verkauf erlauben. Wer dagegen wie die FDP- Möglichkeiten schaffen. Fraktion das Ladenschlussgesetz ganz abschaffen will, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Gudrun Kopp [FDP]: An Werktagen!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 2414 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Die Ausweitung der gesetzlichen Ladenöffnungs- Kurt Segner (CDU/CSU): (C) zeiten an Samstagen trägt dem veränderten Kauf- verhalten Rechnung. Durch die Erweiterung des Öff- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! nungsrahmens an Samstagen werden die Unternehmen Mehr als 4,7 Millionen Menschen waren im Februar des Einzelhandels in die Lage versetzt, sich besser auf ohne Arbeit. Das ist die höchste Arbeitslosenzahl wäh- die Verbraucherwünsche einzustellen und ihre Leis- rend der Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung. tungen dem Bedarf und dem Kundenaufkommen an- (Lothar Mark [SPD]: Bei Ihnen war sie damals zupassen. höher! – Klaus Brandner [SPD]: 4,9 Millionen Der Trend im Einzelhandel zeigt seit Jahren nach un- bei der CDU/CSU, Herr Kollege!) ten. Sinkende Umsätze und sinkende Arbeitsplatzzahlen Die Unternehmerpleiten erreichen neue Rekordzahlen. kennzeichnen die Situation. Ich stimme ausdrücklich der Umsätze brechen auf breiter Front ein. Der Einzelhandel folgenden Aussage zu: Der Einzelhandel hat nur dann hat im Jahr 2002 das schlechteste Ergebnis seit 1945 er- eine Chance, diesen Abwärtstrend zu stoppen und umzu- zielt. kehren, wenn er sich den Bedürfnissen der Verbraucherin- nen und Verbraucher öffnet und sich an ihnen orientiert. Vor diesem Hintergrund sind alle notwendigen Maß- Dazu wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ei- nahmen zu treffen, die zu mehr Dynamik, mehr Wachs- nen Beitrag leisten. tum und mehr Beschäftigung in unserem Land beitragen. Was wir brauchen, ist wieder mehr : mehr Ich bin davon überzeugt, dass die neue Regelung ei- soziale Marktwirtschaft, nen positiven Impuls für den privaten Konsum geben wird. Gleichzeitig wird durch die erweiterte Öffnungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- möglichkeit an Samstagen ein wirksamer Beitrag insbe- neten der FDP) sondere zur Belebung der Innenstädte geleistet. mehr Freiraum für den Einzelnen und weniger Staat. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält eine Ludwig Erhard schrieb bereits 1957 in seinem Buch mit maßvolle Anpassung der Ladenöffnungszeiten, die die dem Titel „Wohlstand für alle“: veränderten Verbrauchergewohnheiten berücksichtigt Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will und die Balance zwischen den unterschiedlichen Interes- das Risiko des Lebens selber tragen, will für mein sen im Einzelhandel gewährleistet. Wir erhalten den La- Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, denschluss an den übrigen Werktagen und schützen den Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin. Sonntag weiterhin als Ruhetag. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Ein letzte Anmerkung möchte ich zu dem machen, (D) was Herr Kollege Schauerte gesagt hat. Wir nehmen Mit dem Gesetzentwurf der rot-grünen Bundesregie- jetzt nicht die Diskussion von morgen vorweg. Herr rung, mit der Verlängerung der Ladenöffnungszeit am Kollege Schauerte, wenn Sie eine namentliche Abstim- Samstag bis 20 Uhr wird zwar ein kleiner Schritt in die mung wollen – ich finde das schon bemerkenswert –, richtige Richtung gemacht. Doch Sie von der SPD fallen dann stellen Sie doch einen Antrag. Daran hindert Sie immer wieder in das alte Gedankengut zurück, alles re- doch niemand. Ich weiß allerdings, dass die inhaltli- geln zu wollen. Warum lassen wir den Geschäftsinhaber chen Positionen Ihres Gesetzentwurfs auch in Teilen Ih- nicht selber entscheiden, wann er seinen Laden öffnen rer eigenen Fraktion außerordentlich umstritten sind. Es oder schließen möchte? gibt eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die der Auffassung sind, dass man in einer ganz anderen Art Auch mit dem Änderungsantrag zur Direktvermark- und Weise etwas für den Schutz insbesondere des klein- tung, den Sie vor circa 48 Stunden eingebracht haben, teiligen Einzelhandels leisten müsste. Wenn Sie also die waren Sie auf dem richtigen Weg. Aber bereits 24 Stun- Sorge haben, dass wir dieses Gesetz nicht verabschie- den später hat Sie der Mut verlassen und Sie haben den den können, dann beantragen Sie doch eine nament- eigenen Antrag wieder zurückgezogen. liche Abstimmung. Sie werden sehen, was dabei her- (Beifall bei der CDU/CSU) auskommt. Wir brauchen ein Ladenschlussgesetz, das sich mit Ich bedanke mich auf alle Fälle für die gute inhaltli- den veränderten Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen che Diskussion. Wir sind mit diesem Gesetzentwurf auf des Kunden deckt. Kleine Mittelständler und Existenz- dem richtigen Weg. gründer haben so die Möglichkeit, Marktnischen leichter Schönen Dank. zu besetzen. Auch der Konsument entzieht sich immer mehr der Bevormundungsrolle des Staates, indem er frei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ entscheidet, wann und wo er seine Einkäufe erledigt – DIE GRÜNEN) sei es im Bahnhof oder im Flughafen, sei es beim Tank- stellenshopping oder im Internet. Von dieser Ladenöff- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nungsfreiheit haben zahlreiche Demonstranten von Verdi an einem Sonntag Gebrauch gemacht, indem sie den De- Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Kurt monstrationstag als Einkaufstag nutzten. Segner, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk (Beifall bei der CDU/CSU) Niebel [FDP]: Sehr vernünftig! – Karl-Josef Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2415

Kurt Segner (A) Laumann [CDU/CSU]: Die haben sich ja gar keine Mehrheit! – Hartmut Schauerte [CDU/ (C) nicht an den Konsumverzicht gehalten!) CSU]: Das waren da drüben zu viele Gegen- stimmen!) – So ist es. der CDU/CSU und der FDP angenommen. Das bestehende Ladenschlussgesetz erweist sich für Handel und Dienstleistung als Hemmschwelle. Die Frei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gabe des Ladenschlusses ist auch im Interesse der Fami- DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ lie. Auch für den Tourismusstandort Deutschland ist es CSU]: Hat Ihnen das ein Beamter eingeflüs- ein Schritt in die richtige Richtung. Aber die Neurege- tert? Das bestimmt doch die Präsidentin!) lung muss auch den sozialen und kulturellen Grundlagen unseres Landes Rechnung tragen. Deshalb sind die Dritte Beratung Sonn- und Feiertage in der jetzigen Form zu wahren. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Mit dem Antrag der CDU/CSU kommen wir folgen- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – dem Ziel ein Stück näher: mehr Freiheit und weniger (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das deutsche Bürokratie, mehr Wachstum und Beschäftigung. Aber Parlament ist kein Beamtenparlament!) dies allein reicht nicht aus. Wir müssen auch dafür sor- gen, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr Geld Wer stimmt dagegen? – in der Tasche haben. (Dr. [FDP]: Das ist die Meine Damen und Herren von der SPD und von den Mehrheit!) Grünen, wenn Sie schon nicht Ihrem Gesetzentwurf zu- stimmen können, dann bitte ich Sie im Interesse unseres Im Präsidium herrscht über diese Frage keine Einigkeit. Landes: Stimmen Sie unserem Antrag zu! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Danke schön. Ich bitte Sie daher, sich zum Hammelsprung aus dem (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der Plenarsaal zu begeben. SPD – Klaus Brandner [SPD]: Wovon träumen Sie nachts, Herr Kollege?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer ihre Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Plätze eingenommen? Das ist von hier vorne wegen der Herr Kollege Segner, Sie hielten gerade Ihre erste einfallenden Sonne sehr schwer zu erkennen. – Wenn Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr dies der Fall ist, eröffne ich die Abstimmung. (B) (D) herzlich dazu und wünsche Ihnen persönlich alles Gute. Sind jetzt alle Kolleginnen und Kollegen im Saal? – (Beifall) Ich schließe die Abstimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das Ergeb- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nis des Hammelsprungs bekannt. Mit Ja haben gestimmt Ich schließe die Aussprache. 279 Mitglieder des Parlaments, mit Nein 224, Enthaltun- gen gibt es keine. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ver- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Blamage! – Wilhelm längerung der Ladenöffnungszeiten an Samstagen, Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächerliche Num- Drucksachen 15/396 und 15/521. Dazu liegen uns drei mer! – Weitere Zurufe von der SPD) persönliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Geschäftsordnung vor: die persönliche Erklärung der Abgeordneten Ernst Hinsken, Renate Blank und Stephan (Unruhe) Mayer, die persönliche Erklärung von Fritz Schösser und Horst Schmidbauer und die persönliche Erklärung von Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir noch weitere 36 Abgeordneten der SPD-Fraktion.1) Diese Erklärungen Abstimmungen zu diesem Thema haben, möchte ich Sie liegen dem Präsidium schriftlich vor. bitten, sich in Ihre Fraktionsreihen zu begeben. Wir tun uns dann mit der Ermittlung der Abstimmungsergeb- Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt un- nisse leichter. ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 15/591, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem tion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Aufhe- Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol- bung des Ladenschlussgesetzes, Drucksache 15/106. len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent- Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- fiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit auf ratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen Drucksache 15/591, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Nein! – len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent- Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie haben haltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Be- ratung mit den Stimmen der Koalition, bei Zustimmung 1) Anlage 3 bis 5 der FDP und bei Enthaltung der CDU/CSU, abgelehnt. 2416 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- Berichterstattung: (C) tere Beratung. Abgeordnete Christa Nickels Rudolf Bindig Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Melanie Oßwald Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksa- Rainer Funke che 15/591 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ladenschlussgesetz modernisieren“. Der ZP 3Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Bechluss- Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, Holger empfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/193 abzu- Haibach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – der CDU/CSU Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalition und einer Stimme Für Menschenrechte weltweit eintreten – die aus der CDU/CSU gegen die Stimmen der CDU/CSU im internationalen Menschenrechtsschutzinstru- Übrigen bei Enthaltung der FDP angenommen. mentarien stärken Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d sowie – Drucksache 15/535 – Zusatzpunkt 3 auf: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 59. Tagung der Menschenrechtskommission (Unruhe) der Vereinten Nationen Liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir jetzt in – Drucksache 15/549 – der Tagesordnung – die ohnehin ziemlich lang ist – wei- termachen? Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- bei dem Tagesordnungspunkt nicht zuhören wollen, den richts des Ausschusses für Menschenrechte und Plenarsaal zu verlassen. – Vielleicht können die Kolle- humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu der Unter- ginnen und Kollegen, die in den Gängen und hinten an richtung durch die Bundesregierung der Tür ihre Gespräche fortsetzen, dieses außerhalb des 6. Bericht der Bundesregierung über ihre Saales tun; ich bitte darum. Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Be- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege ziehungen und in anderen Politikbereichen Rudolf Bindig, SPD-Fraktion. – Drucksachen 14/9323, 15/171 Nr. 1, 15/397 – (B) (D) Berichterstattung: Rudolf Bindig (SPD): Abgeordnete Christa Nickels Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Rudolf Bindig gen! Wir führen diese Menschenrechtsdebatte zu einem Hermann Gröhe wichtigen Zeitpunkt und in einer schwierigen außenpoli- Rainer Funke tischen Situation. In wenigen Tagen beginnt in Genf die c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 59. Tagung der Menschenrechtskommission der Verein- richts des Ausschusses für Menschenrechte und ten Nationen. So mühsam sich die Beratungen in Genf humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag immer wieder gestalten, weil das Gremium einerseits aus der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Staaten besteht, die die Menschenrechte voranbringen DIE GRÜNEN wollen, und andererseits aus Staaten, die Fortschritte eher verhindern wollen, so unverzichtbar ist doch das Menschenrechte als Leitlinie der deutschen jährliche Treffen. Politik Die Menschenrechtskommission der Vereinten Na- – Drucksachen 15/136, 15/495 – tionen ist das wichtigste internationale Gremium, das Berichterstattung: sich regelmäßig mit der Lage der Menschenrechte welt- Abgeordnete Christa Nickels weit befasst und Menschenrechtsverletzungen durch Rudolf Bindig Staaten öffentlich kritisiert. Dieses Jahr tagt die Men- Hermann Gröhe schenrechtskommission unter dem Vorsitz Libyens, das Rainer Funke selbst ein Problemland ist. Die Beratungen fallen in eine Zeit, in der die internationale Gemeinschaft darum ringt, d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- den Konflikt mit dem Irak friedlich zu lösen. richts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag Nach wie vor ist die Weltpolitik von den Terroran- der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner schlägen des 11. September und dem anschließenden Hoyer, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeord- Kampf gegen den internationalen Terrorismus geprägt. neter und der Fraktion der FDP So legitim dieser Kampf auch ist, so problematisch sind vielerorts seine Auswirkungen auf die Menschenrechte. Menschenrechtsverletzungen in Tschetsche- Als Menschenrechtler müssen wir klarstellen: Der nien nicht vergessen Kampf gegen den Terrorismus darf weder zu einer Ein- – Drucksachen 15/64, 15/496 – schränkung von Grund- und Freiheitsrechten führen noch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2417

Rudolf Bindig (A) darf er als Vorwand für die Unterdrückung innenpoliti- urteilten sofort hingerichtet. Eine neue negative Qualität (C) scher Gegner und für militärische Interventionen dienen. hat auch die Einschränkung der Presse- und Meinungs- freiheit in China erreicht. Eine eigens eingerichtete Inter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE netpolizei kontrolliert und blockiert den Zugang zum GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke [FDP]) Internet. In den Provinzen werden Befürworter größerer Tief besorgt sind wir darüber, dass einige Staaten die kultureller und politischer Autonomie mit Extremismus, Anwendung von Folter mit der Begründung rechtferti- Separatismus und Terrorismus in Verbindung gebracht. gen, mit den so erlangten Informationen könnten neue Die Kontrolle Pekings über das öffentliche, kulturelle Terroranschläge verhindert werden. Dies widerspricht und religiöse Leben Tibets bleibt weiterhin erdrückend. völkerrechtlichen Konventionen. Nicht einmal in Kolumbien leidet seit Jahrzehnten an gewaltsamen Kriegszeiten oder im Falle eines öffentlichen Notstandes inneren Konflikten, bei denen paramilitärische Gruppen, darf das Verbot von Folter eingeschränkt werden. Guerillas und Drogenhändler, aber auch staatliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Sicherheitsorgane schwerste Verbrechen und Menschen- GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke [FDP]) rechtsverletzungen begehen. Mit 3 000 Entführungen und 30 000 Morden pro Jahr herrscht in Kolumbien ein Das sollten sich auch diejenigen merken, die in Deutsch- Klima der Gewalt, in dem sich niemand mehr sicher füh- land eine Diskussion zu dem Thema Folter losgetreten len kann und in dem Verbrechen ohne strafrechtliche haben. Auch das Verbot von Auslieferungen oder Ab- Konsequenzen begangen werden können. schiebungen bei einer drohenden Folter oder Todesstrafe darf auf keinen Fall mit dem Verweis auf den Kampf ge- Simbabwe ist eines jener Länder in Afrika, deren gen den Terrorismus aufgeweicht werden. Menschenrechtslage sich dramatisch verschlechtert hat. Diktatur, Korruption, Massenenteignungen von weißen Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Farmern und eine ungewöhnlich lange Dürreperiode ha- Grünen haben zur Vorbereitung der 59. Tagung der Men- ben eine menschenrechtliche und humanitäre Katastrophe schenrechtskommission der Vereinten Nationen einen ausgelöst. Die Opposition ist schwersten Menschenrechts- gemeinsamen Antrag vorgelegt. Wir wollen darin die verletzungen wie Folter und willkürlichen Verhaftungen Bundesregierung in ihrem Einsatz für die weltweite För- ausgesetzt, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind derung der Menschenrechte unterstützen. Unsere ent- faktisch aufgehoben. scheidenden Forderungen sind: Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine besondere He- Erstens. Die Menschenrechtskommission muss bei rausforderung für die Menschenrechtspolitik stellt weiter- der internationalen Staatengemeinschaft nachdrücklich hin der Tschetschenienkonflikt in der Russischen Föde- (B) die Einhaltung der Menschenrechte und des Völker- ration dar. Ohne Zweifel ist Russland in der Außenpolitik (D) rechts – auch im Antiterrorkampf – einfordern. gegenwärtig ein wichtiger Akteur und Partner. Zusam- Zweitens. Die MRK soll als Forum genutzt werden, men mit Frankreich, Deutschland und weiteren Ländern um die Implementierung des internationalen Menschen- bemüht es sich, den Irakkonflikt ohne einen Krieg zu lö- rechtsschutzes voranzubringen und möglichst viele Staa- sen. Ein solcher Krieg würde Abertausenden von Men- ten zur Zeichnung und Ratifizierung von Menschen- schen das Leben kosten, also ihr elementares Menschen- rechtsabkommen zu bewegen. recht, das Recht auf Leben, verletzen. Innenpolitisch dagegen ist Russland in Tschetschenien selbst tief in ei- Drittens. Besondere Beachtung bei der Tagung der nen Konflikt verstrickt, in dem es immer wieder zu Menschenrechtskommission ist der Stärkung der wirt- schwersten Menschenrechtsverletzungen und Verbre- schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu schen- chen durch die beiden Konfliktparteien, das russische ken, dem Bericht des Sonderberichterstatters gegen Fol- Militär und die tschetschenischen Kämpfer, kommt. ter sowie den menschenrechtsverletzenden Praktiken der Scharia. Kann und darf nun – so stellt sich aus menschenrecht- licher Sicht die Frage – die positive Rolle Russlands in Viertens. Besondere Initiativen sollen von der Bun- der Irakfrage dazu führen, dass über die menschenrecht- desregierung im Verbund mit der Europäischen Union in liche Lage in Tschetschenien hinweggesehen wird? Die Bezug auf die Besorgnis erregende Menschenrechtssitu- Antwort ist glasklar: Menschenrechtsverletzungen kön- ation in der Volksrepublik China, in Simbabwe, Kolum- nen und dürfen niemals gegen „positive Taten“ aufgewo- bien und in der Russischen Föderation, speziell in gen werden. Tschetschenien, unternommen werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die genannten Länderbeispiele haben wir aus folgen- DIE GRÜNEN) den Gründen besonders hervorgehoben: In China hat Massentötungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Fol- sich die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen im ter, Verschwindenlassen, Vergewaltigungen, Plünderun- Rahmen der Antikriminalitätskampagne „Hartes Durch- gen und Raub müssen als das gesehen werden, was sie greifen“ drastisch erhöht. Der Katalog der Straftaten, für sind: schwerste Menschenrechtsverletzungen, die nicht die die Todesstrafe verhängt wird, wurde durch eine relativiert, ignoriert und beschönigt werden dürfen. Neudefinition des Tatbestandes „schweres Verbrechen“ erweitert und umfasst auch gewaltfreie Delikte wie Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stechung, Veruntreuung, Steuerhinterziehung und Spe- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der kulation. Oftmals werden nach Schnellverfahren die Ver- CDU/CSU und der FDP) 2418 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Rudolf Bindig (A) Diese Auffassung haben wir nicht nur im Koalitionsan- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (C) trag zur Menschenrechtskommission zum Ausdruck ge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE bracht, sondern auch in dem interfraktionellen Antrag GRÜNEN und der FDP) „Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in Tschetschenien“. Hier sind verschiedene Initiativen zu Tschetschenien gebündelt, welche im Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Deutschen Bundestag und in der Parlamentarischen Ver- Der nächste Redner ist der Kollege Hermann Gröhe, sammlung des Europarates unternommen worden sind. CDU/CSU-Fraktion. Darin wollen wir klar machen, dass es auch in Tschet- schenien keine Alternative zu einem gewaltfreien politi- schen Prozess gibt. Hermann Gröhe (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und In diesen Tagen habe ich erneut im Auftrag der Parla- Herren! Wenige Tage vor Beginn der 59. Tagung der mentarischen Versammlung des Europarates einen Be- Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in richt zur menschenrechtlichen Lage in Tschetschenien Genf diskutieren wir heute über Anträge zu ebendieser erstellt. Der Bericht listet sowohl die schweren Men- Tagung, zur Menschenrechtspolitik insgesamt und zur schenrechtsverletzungen auf, welche von den russischen Lage in Tschetschenien. Sicherheitskräften begangen werden, als auch die Ver- brechen der tschetschenischen Kämpfer. Die Verbrechen Schaut man sich die Anträge an, so stellt man viele russischer Militärs an der Zivilbevölkerung können mit Gemeinsamkeiten fest, aber auch manchen markanten Ort, Zeit und Datum exakt belegt werden. Es ist eine Unterschied. Gerade wenn es darum geht, Klartext in Sa- Chronik des Grauens, von Massakern, Massengräbern, chen Menschenrechte zu sprechen, ist es gut, wenn wir außergerichtlichen Hinrichtungen, Verschwinden von dies gemeinsam tun können. Personen, Folter, Vergewaltigung und anderen Men- (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ schenrechtsverletzungen. Auf tschetschenischer Seite DIE GRÜNEN und der FDP) geht es vor allem um die brutale Geiselnahme in Mos- kau, den Terroranschlag in Grosny sowie um Entführung Deshalb freue ich mich, dass es zur Lage in Tschetsche- und Tötung moskaufreundlicher Tschetschenen und ih- nien eine von allen Fraktionen gemeinsam getragene und rer Familien. in der Sache wie in der Sprache sehr deutliche Be- schlussempfehlung auf der Grundlage eines FDP- Zwar stellen die russischen Justizbehörden Unter- Antrags gibt. Die klare Verurteilung der Menschen- suchungen über Menschenrechtsverletzungen an. Leider rechtsverletzungen in Tschetschenien unterscheidet sich (B) muss aber festgestellt werden, dass in den meisten Fällen wohltuend von manch fragwürdigem Lob von Kanzler (D) die Verantwortlichen nicht ermittelt, geschweige denn Schröder für Putins Tschetschenienpolitik. zur Rechenschaft gezogen werden. Ernüchtert bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die Anklagebehörden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Russischen Föderation entweder unwillig oder un- der FDP) fähig sind oder dass sie systematisch daran gehindert Frau Kollegin Oßwald wird dazu Weiteres für unsere werden, diejenigen zu finden und vor Gericht zu brin- Fraktion ausführen. Schon jetzt möchte ich aber Ihnen, Herr gen, welche für die schweren Menschenrechtsverletzun- Kollege Bindig, für Ihren besonderen persönlichen Einsatz gen verantwortlich sind. im Hinblick auf die Lage in Tschetschenien danken. Der Generalsekretär des Europarates hat erst vor we- (Beifall im ganzen Hause) nigen Tagen dargelegt, dass sich die Menschenrechts- situation in Tschetschenien im Jahr 2003 erneut erheb- Auch die beiden vorliegenden Anträge zur lich verschlechtert habe. Die Zahl der Verschwundenen 59. Tagung der Menschenrechtskommission zeichnen sei weiter angestiegen. Allein im Januar 2003 seien sich durch erfreuliche Gemeinsamkeiten aus. Dies ist zu 63 Fälle von Verschwindenlassen registriert worden. Das begrüßen; denn die Tagung steht vor großen Herausfor- sind zwei Fälle pro Tag. derungen. Bereits die Tagung im vergangenen Jahr war in erheblichem Umfang von Konfrontation, Blockbil- Angesichts dieser schrecklichen Lage müssen wir un- dung und der Solidarisierung von Staaten geprägt, denen missverständlich fordern, dass die Menschenrechtsver- man zu Recht schwere Menschenrechtsverletzungen letzungen in Tschetschenien, die das Ausmaß von Ver- vorwerfen muss. Ja, man muss so weit gehen, festzustel- brechen gegen die Menschlichkeit angenommen haben, len, dass das Verhalten einer ganzen Reihe von Mitglied- sofort eingestellt und die Täter zur Verantwortung gezo- staaten der MRK geeignet ist, die Glaubwürdigkeit und gen werden. Funktionsfähigkeit der UN-Menschenrechtspolitik ins- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesamt massiv zu gefährden. Dies gilt vor allem für die DIE GRÜNEN) zunehmende Tendenz, die Debatte über bestimmte Län- derresolutionen erst gar nicht auf die Tagesordnung zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Tschetschenien, setzen. Länder wie die Volksrepublik China, die gar auf der kommenden MRK-Sitzung und in der bilateralen nicht erst bereit sind, die Menschenrechtslage im eige- Außenpolitik – immer muss deutlich werden, dass die nen Land überhaupt zu diskutieren, zeigen damit, dass Menschenrechte Leitlinie der deutschen Politik sind und ihre Beteuerungen in Sachen Menschenrechte wenig bleiben. glaubhaft sind. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2419

Hermann Gröhe (A) Inakzeptabel sind alle Versuche, die Mitwirkungs- mehr zur Notwendigkeit einer Länderresolution zur (C) möglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen, Lage in China, wie dies im Antrag der Union geschieht? zum Beispiel durch Verkürzung von Sitzungszeiten, zu beschränken; denn die Mitwirkung der Nichtregierungs- Auch im Hinblick auf die Lage in Simbabwe spricht organisationen ist ein wesentlicher Bestandteil der Ar- Rot-Grün von einer Verurteilung, ohne eine Resolution, beit in Genf. Wir sind diesen Nichtregierungsorganisati- wie wir sie für geboten halten, konkret zu fordern. onen für ihren unermüdlichen Einsatz sehr dankbar. Soweit es um die Kritik an der Menschenrechtssitua- tion in China geht, ist es mehr als nur bedauerlich, dass (Beifall im ganzen Hause) sich die gesamte Europäische Union hinter den USA Die Arbeit der Sonderberichterstatterinnen und Son- versteckt. Auch die Bundesregierung erklärt immer wie- derberichterstatter der Vereinten Nationen, besonders der, die EU werde eine entsprechende Meinungsbildung aber die Arbeit des neuen Hochkommissars für Men- erst nach Vorlage eines Resolutionsentwurfs der USA schenrechte, Vieira de Mello, hat große Anerkennung herbeiführen können. und alle nur denkbare Unterstützung verdient. Gerade Ganz auf der Linie dieser fragwürdigen Zurückhal- weil es zunehmend Versuche von einzelnen Staaten oder tung liegen die Aussagen zur Lage in China im Men- Staatenkoalitionen gibt, die Möglichkeiten der Men- schenrechtsbericht der Bundesregierung, der ebenfalls schenrechtskommission deutlich abzuschwächen, halten Gegenstand unserer heutigen Debatte ist und der in an- wir es für ein falsches Signal, dass sich die Bundesrepu- deren Teilen durchaus, etwa als Nachschlagewerk zum blik Deutschland wie alle EU-Mitgliedstaaten in der internationalen Menschenrechtsschutz, hohe Anerken- MRK bei der Wahl Libyens zum Vorsitz der Men- nung verdient. schenrechtskommission enthalten hat. In Libyen selbst sind grundlegende Freiheitsrechte, beispielsweise die „Klar verfehlt“, so nennt Amnesty International die Meinungs- und Pressefreiheit, massiv eingeschränkt. Mit in diesem Bericht enthaltene Bewertung der Menschen- dem Verbot der Bildung von politischen Parteien ver- rechtslage in der Volksrepublik China. Amnesty Interna- stößt das Land gegen grundlegende politische Mitwir- tional fährt fort – ich erlaube mir zu zitieren –: kungsrechte. Der Deutsche Bundestag würde dem guten Zudem erscheint es fast zynisch, wenn von „häu- Beispiel des Europäischen Parlaments folgen, wenn er figer Verhängung der Todesstrafe“ die Rede ist, durch Annahme unseres Antrags sein Bedauern über die- obwohl allein im Zeitraum von April bis Juni ver- ses Abstimmungsverhalten klar zum Ausdruck bringen gangenen Jahres im Rahmen einer landesweiten würde. Kampagne zur Kriminalitätsbekämpfung in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) VR China mehr Menschen exekutiert worden sind (B) als in den restlichen Ländern der Erde in den ver- (D) Soweit es um die bedrückende Menschenrechtssitua- gangenen drei Jahren zusammengenommen. tion in einzelnen Ländern geht, gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen dem Antrag der Unionsfrak- Die so genannte Administrativhaft, die unbefristete tion und dem der Koalitionsfraktionen. Leider ist die Inhaftierung in Straflagern ohne richterlichen Beschluss, Lage in so vielen Ländern kritikwürdig, dass wohl kein die in unserem Ausschuss nach einhelliger Auffassung Antrag eine vollständige Aufzählung enthält. Aber es zu den drängendsten Problemen der Menschenrechtssi- fällt schon auf, dass der Antrag von Rot-Grün weder die tuation in China gehört, wird im Bericht mit keiner Silbe Lage in Nordkorea noch in Vietnam noch in Kuba über- erwähnt. Wer hier fragwürdig beschönigt oder Kritik bis haupt erwähnt. Dabei gehört die stalinistische Diktatur in zur Unkenntlichkeit diplomatisch verpackt, der verfehlt Nordkorea unstrittig zu den Staaten, in denen die Men- den eigenen Anspruch in der Menschenrechtspolitik und schen am schlimmsten unterdrückt werden. Menschen- sollte nicht immer wieder so tun, als würden die Men- schindern, die das eigene Volk verhungern lassen, aber schenrechte erst seit der rot-grünen Regierungsüber- atomare Aufrüstung betreiben, sollten wir gemeinsam nahme überhaupt ernst genommen. entschieden entgegentreten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall im ganzen Hause) Sie wissen das ja besser; denn der Durchbruch für ei- nen ständigen Internationalen Strafgerichtshof, den Auch die sich verschärfende Lage ethnischer und religi- wir alle voranbringen wollen, wurde mit dem Römischen öser Minderheiten in Vietnam verlangt unseren tatkräfti- Statut im Juli 1998 erreicht und ist ganz maßgeblich dem gen Einsatz für die Unterdrückten. beharrlichen Drängen der damaligen Bundesregierung Bei Ländern, die sowohl die Regierungskoalition als zu verdanken. Wir wünschen den vor zwei Tagen einge- auch die Unionsfraktion in ihren Anträgen ansprechen, führten 18 Richterinnen und Richtern des Internationa- bleibt Rot-Grün bedauerlicherweise ebenfalls sehr len Strafgerichtshofs, nicht zuletzt dem deutschen Völ- schwammig. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die kerrechtler Hans-Peter Kaul, viel Erfolg bei ihrer nicht konkrete Benennung der Instrumente des internatio- leichten, aber so wichtigen Aufgabe. nalen Menschenrechtsschutzes. So fordert der rot- (Beifall im ganzen Hause) grüne Antrag die Bundesregierung auf – ich zitiere –, „auf die Volksrepublik China einzuwirken“, wenn es um Meinungsverschiedenheiten zwischen der Union und bestimmte Menschenrechtsverletzungen geht. Doch wie Rot-Grün werden auch deutlich, wenn man sich den An- soll das geschehen? Warum bekennt sich Rot-Grün nicht trag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ 2420 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hermann Gröhe (A) von Rot-Grün ansieht. Auch wenn dieser Antrag viele tion statt. Der Boden, auf dem wir so fest und sicher zu (C) richtige Einzelforderungen enthält, kann er unsere Zu- stehen meinten, ist ins Wanken geraten und droht uns stimmung nicht finden. Er ist geprägt von einer einseiti- teilweise unter den Füßen wegzubrechen. gen Betonung der wirtschaftlichen, sozialen und kultu- Unser Wertefundament muss sich in dieser kritischen rellen Rechte und trägt damit der Unteilbarkeit der Lage bewähren, sonst wird es uns in Zukunft nicht mehr Menschenrechte insgesamt sowie dem unaufgebbaren tragen können. Diese Werte, in deren Zentrum vor allem Zusammenhang zwischen den bürgerlichen und poli- die Menschenrechte als universale und unveräußerliche tischen Rechten einerseits und den wirtschaftlichen, so- Rechte stehen, sind kein Zeichen westlicher kultureller zialen und kulturellen Rechten andererseits nicht aus- Überlegenheit. Sie sind in jahrhundertelangen Leidens- reichend Rechnung. So werden etwa die massive und Unrechtserfahrungen hart erkämpft worden und von Bedrohung der Pressefreiheit in vielen Konfliktregionen daher zu wertvoll, als dass sie links liegen gelassen wer- der Welt oder andere Einschränkungen im Bereich der den dürften und wir eine Aushöhlung tatenlos oder ohne Meinungsfreiheit – Stichwort: Internet – nicht einmal entsprechende Reaktion hinnehmen dürften. erwähnt. (Beifall im ganzen Hause) Wenn später einiges im Rahmen des Antrags zur Sit- zung der Menschenrechtskommission nachgereicht wird, Wo stehen wir heute? Die Geltung der Menschen- vermag dies die Schlagseite eines Antrages, der gerade rechte ist heute in einem Ausmaß bedroht, das ich noch die Leitlinie darstellen soll, nicht auszugleichen. vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Nach dem 11. September und angesichts eines drohen- Wenn Sie sich in Ihrem Antrag zugute halten, dass Sie den Irakkrieges haben wir berechtigte Verlustängste. einen eigenständigen Bundestagsausschuss für Men- Menschenrechtspolitik bewährt sich in dieser Lage nur schenrechte eingerichtet haben – Sie haben dies 1998 ge- dann, wenn sie strikt unparteiisch und unbestechlich ist. tan – sowie das Amt eines Menschenrechtsbeauftragten, Der Antrag der Koalitionsfraktionen zur 59. Sitzung der kann auch das nicht unkommentiert bleiben. Gewiss, die Menschenrechtskommission kritisiert deshalb die Re- Einrichtung eines Menschenrechtsausschusses ist ein lativierung von Menschenrechten im Zuge des Anti- Fortschritt. Aber die Regierung muss ihn auch so behan- terrorkampfs ebenso wie Menschenrechtsverletzungen deln. Man kann feststellen, dass Teile der Bundesregie- aufgrund von politischer Instrumentalisierung und men- rung, allen voran das Bundesinnenministerium – dessen schenrechtswidriger Anwendung von islamischem Scha- Abwesenheit auf der Regierungsbank uns nicht über- riarecht. rascht; nach dem Hammelsprung sind sie schnell hinfort- geeilt –, diesen Ausschuss nicht ernst nehmen. Es reicht Die Aufweichung des Folterverbots und die Ausliefe- nicht, ihn hochzuloben, wenn man gleichzeitig Aus- rung oder Abschiebung bei drohender Folter oder Todes- (B) (D) schussbeschlüsse zur Erhöhung der humanitären Hilfe strafe sind verboten. Die Information über ein Massaker im Haushaltsausschuss gar nicht erst ernst nimmt. an kriegsgefangenen Taliban weist auf einen klaren Verstoß gegen geltendes Völkerrecht hin. In Teilen der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Antiterrorkoalition ist die zunehmende Neigung festzu- Sie loben die Einrichtung des Amtes des Men- stellen, doppelte Standards anzuwenden und Menschen- schenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt. Aber rechte nur noch ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern der Amtsinhaber weiß bis heute nicht, ob er die Tätigkeit sowie denen der Verbündeten zuzugestehen. All das be- in dieser Legislaturperiode überhaupt wird fortsetzen droht das Fundament, auf dem demokratische Zivil- dürfen. Wer den Amtsinhaber schäbig behandelt, sollte gesellschaften und die Idee einer Weltvölkergemein- auch nicht die Einrichtung des Amtes mit Selbstlob ver- schaft bis heute gebaut haben. sehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es bleibt vieles zu tun – vieles, was wir gemeinsam sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] tun können, manches, über das wir uns streiten müssen. [SPD]) Wo dieser Streit Wetteifern um den bestmöglichen Wenn ein Kampf der Kulturen als Kampf zwischen Schutz von unterdrückten Menschen bedeutet, ist es ein der muslimisch geprägten Welt und der südlichen Hemi- lohnender Streit. sphäre auf der einen Seite und den westlichen Industrie- Ich danke Ihnen. staaten auf der anderen Seite tatsächlich ausbricht, dann hat Osama Bin Laden gewonnen, dann hat er sein Ziel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erreicht. Wenn unter dem Banner des Antiterrorkampfs Völkerrecht missachtet und gebrochen wird und wenn Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Kampf der Kulturen herbeigebombt wird, dann macht sich die Antiterrorkoalition zum Erfüllungsgehil- Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Nickels, fen ihres Hauptfeindes und dann zerstört sie auf viele Bündnis 90/Die Grünen. Jahre hinaus die Chance, die Quellen des Terrorismus auszutrocknen und dem Weltfrieden ein Stück näher zu Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kommen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die 59. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der findet in einer äußerst kritischen weltpolitischen Situa- FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2421

Christa Nickels (A) Wir müssen uns klar machen, was tatsächlich im rechte, die sie besitzt und genießt, wieder zu Eigen ma- (C) Schatten eines möglichen Irakkriegs zu passieren droht. chen, sie erneut für alle befestigen und verteidigen. Alle Krisenherde, die nach dem 11. September vorrangig hätten angegangen werden müssen, bleiben ungelöst und Ich danke Ihnen. drohen zurückzufallen und zu eskalieren: Im Nahen Os- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten wird sich eine neue Generation von Selbstmordatten- und bei der SPD) tätern auf den Weg machen und die „Homelandisierung“ der palästinensischen Gebiete wird weitergehen. Der Schrecken und das Leid der Zivilbevölkerung in Israel Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und in den palästinensischen Gebieten werden sich noch Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Frak- um eine schreckliche Stufe steigern. Die Kurdenproble- tion. matik wird mit neuer Gewalt wieder aufbrechen, wie es sich im Nordirak bereits jetzt andeutet. Der Wiederauf- bau Afghanistans wird gefährdet. Die Sicherheitslage in Rainer Funke (FDP): Afghanistan hat sich als Vorbotin im Schlagschatten ei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es steht nes drohenden Irakkriegs bereits verschärft. Für Tschet- nicht gut um die Sache der Menschenrechte. Die ganze schenien ist eine friedliche Lösung ferner als je zuvor. Welt schaut wie gebannt auf den Kampf gegen den inter- Als Vorsitzende des Menschrechtsausschusses muss nationalen Terrorismus, auf Krieg oder Frieden im Irak, ich mich fragen: Wie lässt sich ein Krieg im Irak recht- auf die Bedrohung durch den Islam-Fundamentalismus. fertigen, für den es keinen zwingenden Grund gibt, der Es ist verständlich, dass dabei die Menschenrechtssitua- dort aber unfassbar viel menschliches, humanitäres tion in nahezu vergessenen Regionen der Welt hinten he- Elend zusätzlich schaffen wird? Die Vereinten Nationen runterfällt und dass Länder wie Pakistan, Saudi-Arabien rechnen mit 600 000 bis 1,5 Millionen Flüchtlingen, ei- oder sogar Syrien für den Augenblick ausschließlich als ner weiteren Million Binnenflüchtlingen und mindestens Partner und Verbündete gesehen werden. Das ist ver- 10 Millionen irakischen Menschen, die im Kriegsfall so- ständlich, aber auch tragisch und vor allem falsch. fort vom Food-for-Oil-Programm abgeschnitten wären. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Und was bedeutet ein „schockierender Schlag“, wie US- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Verteidigungsminister Rumsfeld ihn angedroht hat, für die irakische Zivilbevölkerung? Die Menschen in Deutschland und in anderen west- lichen Gesellschaften haben Angst um ihre Sicherheit. Es gibt aber noch eine andere Frage, die mich genauso Sie fühlen sich bedroht und sie sind im Streben nach umtreibt: Was heißt diese Entwicklung für uns selbst? Was (B) mehr Sicherheit kurzfristig bereit, Einschränkungen der (D) tun wir uns selbst an? Im Schatten des Antiterrorkampfs Freiheitsrechte in Kauf zu nehmen, die das Wesen ihrer verrohen unsere Gesellschaften. Noch als wir Anfang die- Gesellschaften ganz wesentlich ausmachen. Das ist viel- ses Jahres den Antrag zur Sitzung der Menschenrechts- leicht verständlich, aber brandgefährlich. Wer mit der kommission in Genf erarbeitet haben, der betont, dass Fol- Rechtsstaatlichkeit spielt, spielt mit dem Feuer. ter unter keinen Umständen gerechtfertigt ist, hätte ich nie für möglich gehalten, dass wir mitten in Deutschland eine (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Folterdebatte führen müssten – ausgelöst ausgerechnet BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- vom Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes. Das, geordneten der CDU/CSU) was jetzt passiert, hat mit unserer Art, den Kampf gegen den Terror zu führen, zu tun und wirft uns im weltweiten Das gilt natürlich vor allem dann, wenn man in Deutsch- Kampf gegen Folter unglaublich weit zurück. land mit Blick auf die Kriminalitätsbekämpfung jetzt so- gar diskutiert, Foltermethoden in Ermittlungsverfahren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einzuführen. Ich kann mich da nur dem anschließen, was und bei der SPD) meine Vorredner gesagt haben: Wehret den Anfängen! Vor kurzem habe ich als Ausschussvorsitzende einen (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Brief an den russischen Botschafter wegen des Tschet- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schenienkonflikts geschrieben. Postwendend kam die Antwort des Botschafters zurück, er habe den Brief er- Die Menschen in Deutschland beobachten genauso halten, aber er würde doch gerne wissen, was ich denn gebannt, wie Bundeskanzler Schröder im Windschatten zur Menschenrechtslage in Deutschland zu sagen hätte. des französischen Präsidenten Chirac eine neue Achse mit Moskau und Peking schmiedet, um den Krieg zu Diese Geschichte hat allerdings eine Fortsetzung, die verhindern. Es ist irgendwie verständlich, dass Herr ich Ihnen auch nicht verschweigen möchte: Herr Schröder oder Herr Fischer dabei nicht gleichzeitig die Mackenroth hat sich ausdrücklich dafür entschuldigt, weiter massiven Menschenrechtsverletzungen in Tschet- dass er diese unsägliche Debatte losgetreten hat. In einem schenien oder die Lage in Tibet und die immer zahlrei- Gespräch mit mir hat er zugesagt, dass er sich mit seinem cher werdenden Todesurteile in China in den Mittel- Verband für eine Kampagne für Menschenrechte und punkt rückt. Auch das ist verständlich, aber auch gegen Folter einsetzen wird. Wenn diese Kampagne tragisch und mindestens genauso falsch. wirklich zustande kommt, dann ist sie ein Beitrag zu ei- ner absolut notwendigen Aufgabe, die wir alle jetzt zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten leisten haben. Jede Generation muss sich die Menschen- der CDU/CSU) 2422 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Rainer Funke (A) Die Beachtung der Menschenrechte überall auf der deln und beim russischen Präsidenten Putin endlich Bes- (C) Welt und der Einsatz für ihre universelle Durchsetzung serung einfordern. sind und bleiben mittel- und langfristig das wichtigste Mittel, um Demokratie, Frieden und Stabilität internatio- Ich hoffe, dass wir in der Lage sein werden, in Genf nal zu gewährleisten und dem internationalen Terroris- auch einen China-Resolutionsentwurf zur Sprache zu mus seinen Nährboden zu entziehen, genauso wie ver- bringen. Dies könnte mit Hilfe der viel gescholtenen meintlich drohenden „Kulturkämpfen“. Das darf nicht USA gelingen. Ob es dazu kommt, ist allerdings noch für kurzfristige Allianzen oder vermeintliche Sicher- zweifelhaft. heitsgewinne aufs Spiel gesetzt werden. Genauso wichtig wie die Länderarbeit ist die The- menarbeit der MRK. Am Beispiel der Kinderrechte Deshalb ist es gut und wichtig, dass wir heute zur an- verweise ich hier nur auf die Kindersoldaten in vielen stehenden 59. Tagung der Menschenrechtskommission Ländern, die Kinderarbeit sowie den Schutz der Kinder in Genf diese Menschenrechtsdebatte im Deutschen vor Missbrauch auch und gerade in Ländern der so ge- Bundestag führen. Dieser Tagung kommt angesichts der nannten Ersten Welt. Kinderrechte sind Menschenrechte; weltpolitischen Großwetterlage eine ganz besondere Be- wir müssen die Rechte der Kleinsten und Schwächsten deutung zu. Wir können nur hoffen, dass ihr Verlauf und auch in unserer Gesellschaft stärker schützen. vor allem ihre Ergebnisse in den Medien breiten Nieder- schlag finden. Es muss natürlich vor allem darauf ge- drängt werden, dass die Ergebnisse gut und möglichst Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: konkret sein werden. Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten. Die Menschenrechtskommission spielt über ihre Län- der- und Themenresolutionen als Hüterin der Menschen- Rainer Funke (FDP): rechte weltweit eine entscheidende Rolle. Wäre das nicht so, wären die Bemühungen nicht so groß, unliebsame Ja, ich komme zum Schluss. Resolutionen zu verhindern. Diese Bemühungen sind der Meine Damen und Herren, die Regierungsfraktionen eigentliche Adelsschlag für die MRK in Genf. Ob es in haben den Antrag „Menschenrechte als Leitlinie der diesem Zusammenhang eine glückliche Entscheidung deutschen Politik“ eingebracht. Über manches Detail war, in diesem Jahr mit Billigung der europäischen Län- und über die manchmal doch übertriebene Rhetorik die- der ausgerechnet den Libyern den Vorsitz der MRK zu ses Antrags haben wir uns im Ausschuss gestritten; vie- übertragen, wage ich an dieser Stelle zu bezweifeln. les findet aber unsere uneingeschränkte Zustimmung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vor allem gilt dies für den Titel des Antrags. Leitlinie (B) der Politik sollten die Menschenrechte sein: im weltwei- (D) Zu Tschetschenien ist im letzten Jahr keine Resolu- ten Zusammenleben der Völker, für das Handeln unserer tion verabschiedet worden. Auch in diesem Jahr ist die Regierung und auch für die in Zeiten wachsender Un- Chance leider groß, dass entsprechende Versuche schei- sicherheit nicht ganz einfache Gestaltung unserer Innen- tern werden. Trotzdem: Auch das Scheitern einer entspre- politik. chenden Resolution würde das Licht der Öffentlichkeit Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. auf die mehr als bedenkliche Situation vor Ort lenken. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Ich freue mich deshalb, dass es auf Anstoß der FDP- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Fraktion im Ausschuss eine klare Mehrheit für eine ent- CDU/CSU) sprechende Beschlussempfehlung gegeben hat und dass sie heute mit Zustimmung aller Fraktionen verabschiedet werden kann. Die Situation in Tschetschenien ist bis Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: heute durch außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Verschleppungen, Säuberungsaktionen und Vergewalti- Christoph Strässer, SPD-Fraktion. gungen gekennzeichnet. Sie mögen mir verzeihen: Unter „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ subsu- miere ich als Jurist das nicht. Ich danke dem Kollegen Christoph Strässer (SPD): Bindig sehr für seinen Einsatz, den er sowohl in Tschet- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und schenien vor Ort als auch in Moskau in dieser Sache ge- Herren! Als vor einiger Zeit beschlossen wurde, auch in leistet hat. diesem Frühjahr eine Menschenrechtsdebatte in diesem (Beifall im ganzen Hause) Hause zu führen, war wahrscheinlich uns allen nicht klar, dass diese Debatte geradezu eine makabre Aktuali- In diesem interfraktionellen Tschetschenien-Antrag tät auch für die innenpolitische Entwicklung in unserem des Menschenrechtsausschusses fordert der Bundestag eigenen Land gewinnen würde. Die Diskussion über die die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass in der Zulässigkeit von Foltermaßnahmen zur Erzwingung von MRK eine Resolution oder zumindest ein Chairman’s Aussagen Beschuldigter im strafrechtlichen Ermittlungs- Statement zu Tschetschenien auf die Tagesordnung verfahren ist hier schon angesprochen worden. Ich bin kommt. Ich hoffe sehr, dass die Schmiede der deutsch- sehr froh darüber – ich denke, dies gilt für alle – und russischen Achse im Bundeskanzleramt und im Auswär- hoffe, dass von dieser Debatte ein klares politisches Si- tigen Amt dies zur Kenntnis nehmen, entsprechend han- gnal ausgeht und dieses Hohe Haus einmütig jede Form Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2423

Christoph Strässer (A) von Folter und jede Diskussion über die Einschränkung die Menschenrechtspolitik. Ich möchte jedenfalls für uns (C) des Folterverbots entschieden verurteilt. sagen, dass wir uns für die Vorlage dieses ausführlichen Kompendiums bei der Bundesregierung ganz ausdrück- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich bedanken, weil es eine gute Arbeitsgrundlage für die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Menschenrechtspolitik darstellt. CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus diesem DIE GRÜNEN) Grunde ist es für uns wichtig, dass diese Debatte heute stattfindet. Auch in unserer eigenen Gesellschaft scheint Ich habe es schon gesagt: Es gibt Defizite, an deren es nötig zu sein, die Menschenrechte regelmäßig ins Be- Beseitigung noch intensiv zu arbeiten ist. Ich denke zum wusstsein zu rufen. Wir müssen uns ständig in Erinne- Beispiel daran, dass – ich freue mich, Herr Kollege rung rufen, dass wir auf die Umsetzung von Grund- und Funke, dass auch Sie die Kinderrechte angesprochen ha- Menschenrechten auch in unserem eigenen Land achten ben – noch immer nicht der Vorbehalt Deutschlands zu müssen. Anderenfalls laufen wir Gefahr, Menschen- Art. 22 der UN-Kinderrechtskonvention aufgehoben rechte in guten Zeiten als selbstverständlich und in wurde, der nun seit immerhin zehn Jahren existiert. Ich schlechten Zeiten als Luxus anzusehen. halte es allerdings für einen außerordentlichen Fort- schritt, dass sich die Bundesregierung den Forderungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dieses Hauses aus der 14. Legislaturperiode wie auch der Dieser Gefahr müssen wir beharrlich vorbeugen, denn vielen Nichtregierungsorganisationen angeschlossen hat wie wir aus der Geschichte und leider auch aus dem ak- und endlich die Aufhebung dieses Vorbehalts anstrebt. tuellen Zeitgeschehen wissen, sind Menschenrechte we- der selbstverständlich noch Luxus. Sie sind vielmehr die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Basis für unsere Gesellschaft: für das Zusammenleben in unserem Volk genauso wie für unser Zusammenleben Wer die besondere Schutzbedürftigkeit unbegleiteter mit anderen Völkern und Nationen. Sie sind die Grund- ausländischer Kinder anerkennt – das tun wir –, der darf lage für unseren rechtsstaatlich verfassten demokrati- sich einer Aufhebung dieses Vorbehalts nicht widerset- schen Staat und damit die Legitimation jeglichen Han- zen. Ich appelliere von dieser Stelle aus ganz klar und delns von Legislative und Exekutive, gleich welcher deutlich an die Bundesländer, diesen Schritt endlich kon- Couleur. Wir dürfen sie unter keinen Umständen und struktiv zu begleiten, damit wir auch insofern den Stan- keinen Interessen opfern. dards entsprechen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (D) Die Koalitionsfraktionen tragen diesem Grundgedan- DIE GRÜNEN) ken durch Vorlage des Antrages „Menschenrechte als Am Dienstag dieser Woche hat eine Institution formal Leitlinie der deutschen Politik“ Rechnung. Nun haben ihre Arbeit aufgenommen, deren Einrichtung einen Mei- wir uns zwar viel Mühe gegeben, aber an der einen oder lenstein in der internationalen Umsetzung menschen- anderen Stelle die Dinge möglicherweise auch nicht so rechtlicher Grundsätze bedeuten kann. Ich meine den beurteilt wie Sie, Herr Kollege Gröhe, als Sie es gerügt Internationalen Strafgerichtshof, der nach der Vereidi- haben. gung der Richterinnen und Richter am 11. März in Den (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Haag seine Arbeit aufnehmen kann. Das ist deshalb ein Solms) Meilenstein für die Menschenrechtspolitik, weil, wie es zum Beispiel in der „Berliner Zeitung“ vom 10. März zu Weil Sie die möglicherweise ungleichgewichtige Be- lesen war, ein Menschheitstraum sich zu erfüllen be- rücksichtigung von Rechten angesprochen haben, will ginnt, der Traum, die schlimmsten Verbrecher, die wo- ich nur sagen: Wir haben zum Teil den Eindruck, dass möglich einen ganzen Staat zur Verübung ihrer Taten bestimmte ökonomische und soziale Grundrechte in der missbrauchen, zur Rechenschaft zu ziehen. Vergangenheit nicht den Stellenwert eingenommen ha- ben, den sie verdienen. Deshalb haben wir an dieser (Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]) Stelle einen berechtigten politischen Schwerpunkt ge- Es ist gut, dass sich diese Bundesregierung und auch setzt. Ich hoffe, dass das in absehbarer Zeit vielleicht vorherige Bundesregierungen so vehement für die Eta- nicht mehr nötig sein wird. Das war der Grund dafür, blierung dieser Institution eingesetzt haben. Wir dürfen dass wir das an dieser Stelle so getan haben. nicht akzeptieren, dass das Recht des Stärkeren vor die Wir haben des Weiteren versucht, mit diesem Antrag Stärke des Rechts gesetzt wird. die Menschenrechtspolitik, wie sie in dieser Legislatur- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa periode auf den Weg gebracht werden soll, komprimiert Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) darzustellen. Wir haben natürlich auch nicht vergessen, dass wir noch das eine oder andere Defizit aufzuarbeiten Wir akzeptieren nicht, wenn bestimmte Staaten von an- haben. Dazu werde ich gleich ganz kurz noch etwas sa- deren die Einhaltung von Standards verlangen, ohne gen. diese für sich selber zu akzeptieren. Der Antrag fußt in wesentlichen Bereichen auf den (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa Feststellungen im 6. Bericht der Bundesregierung über Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 2424 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Christoph Strässer (A) Wir akzeptieren auch nicht, dass Entscheidungen der erkennung geschlechtsspezifischer und nicht staat- (C) Staatengemeinschaft nur dann akzeptiert werden, wenn licher Verfolgungsgründe ein. sie dem eigenen politischen Kalkül nicht widerspre- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa FDP) Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) In unserem Antrag fordern wir, die Zeichnung des Dies ist das Gegenteil einer Verrechtlichung der interna- Zusatzprotokolls zum Übereinkommen gegen Folter tionalen Beziehungen, für die sich die Bundesregierung und andere grausame, unmenschliche oder erniedri- in dankenswerter Weise so nachdrücklich einsetzt. Es ist gende Behandlung oder Strafe zu prüfen, so wie es von mehr als bedauerlich, dass die USA als einzig verblie- der Generalversammlung der Vereinten Nationen im bene Weltmacht eine Beteiligung ablehnen und sich auf vergangenen Jahr in der 57. Sitzungsperiode angenom- diese Weise, wie ich finde, politisch isolieren; wir se- men wurde. Diese Forderung hat durch die fatalen Dis- hen das bei anderen internationalen Abkommen leider kussionen in unserem Land eine nicht vorhersehbare auch. Aktualität gewonnen, auf die wir alle gerne verzichtet hätten. Ich jedenfalls wünsche den nunmehr eingesetzten Richterinnen und Richtern und ganz besonders Herrn (Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] Kaul für die Erfüllung ihrer Aufgabe alles erdenklich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Gute. Lassen Sie sich nicht von dem so genannten Inva- sionsgesetz für die Niederlande beeindrucken, das die Die Debatte um die Zulässigkeit von Folter muss Regierung der USA ermächtigen soll, amerikanische schnell beendet werden, und zwar nicht nur juristisch, Staatsangehörige mit Gewalt aus dem Zugriff des Ge- sondern vor allem auch politisch. Die politische Bot- richts zu befreien! Wer so mit Rechten umgeht, hat, schaft muss klar sein: Alle Rechtsnormen, Art. 1 unseres denke ich, sein Recht verspielt, anderen diese Rechte Grundgesetzes, Art. 3 der Europäischen Menschen- vorzuhalten. rechtskonvention und Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, enthalten ein Folterverbot ohne (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn und Aber. Dies sind nicht nur rechtliche Normen, DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine sondern auch Ergebnis eines Politikverständnisses, nach Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) dem die Wahrung der Würde des Menschen das höchste Die Tatsache, dass sich der 6. Menschenrechtsbericht Gut ist, das es umfassend zu schützen gilt. Es gibt nicht nicht nur auf die auswärtige Politik erstreckt, gibt ihm „ein bisschen Folter“. Bei den politisch Verantwortlichen (B) eine neue Bedeutung. Wir wollen die Menschenrechts- darf es kein Verständnis für solche Maßnahmen geben, (D) politik weiter stärken und Kohärenz zwischen den ein- wenn wir nicht einen Dammbruch erleben wollen, des- zelnen Politikbereichen herstellen; dazu dient unser An- sen Folgen wir nicht mehr aufhalten können. Dies ver- trag. Wir halten es für unverzichtbar, dass hierfür im stehe ich als einen Appell an uns selbst. 7. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung an den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschen Bundestag ein nationaler Aktionsplan in DIE GRÜNEN) Form eines eigenständigen Kapitels aufgenommen wird, in dem offene Fragen der Umsetzung der Menschen- Als jemand, der neu in diesem Parlament ist und der rechte und Strategien zu ihrer Lösung aufgelistet wer- an anderen Stellen Dinge erlebt hat, die er sich so nicht den. Diese Umsetzung beruht auf einer Empfehlung der vorgestellt hat, sage ich: Die Zusammenarbeit im Aus- Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993. Auch die- schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sen Empfehlungen und Beschlüssen der internationalen könnte ein Beispiel für das Verfahren bei Auseinander- Staatengemeinschaft sollten wir endlich nachkommen, setzungen auch an anderer Stelle in diesem Hohen so wie es der Antrag vorsieht. Ich hoffe, dass die Bun- Hause sein. Ich freue mich außerordentlich, dass ich in desregierung das tut. diesem Ausschuss mitarbeiten darf. Denn dort macht man parlamentarische Erfahrungen, die sich von dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unterscheiden, was man in anderen Bereichen erlebt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich wünsche mir, wir könnten diese Art der Zusam- Vor diesem Hintergrund begrüßen wir, dass die menarbeit auf alle politischen Diskussionen und Debat- Bundesregierung die Flüchtlings- und Migrations- ten übertragen. politik an hohen menschenrechtlichen Standards aus- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Aufruf zur Besse- richten will. Wir wollen dies nicht nur auf internatio- rung!) naler und europäischer, sondern natürlich auch auf nationaler Ebene umsetzen. Wir wollen die Harmoni- Ich glaube, das würde zu mehr Streitkultur und zu mehr sierung der europäischen Flüchtlings- und Asylpoli- politischer Kultur in diesem Hohen Hause führen. tik unter dem Aspekt der Menschenrechte und der Ich wünsche mir, dass dies stattfindet, und bedanke Verwirklichung der Menschenwürde auf der Grund- mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. lage der Genfer Flüchtlingskonvention betreiben. An- gesichts der heute Vormittag geführten Debatte be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tone ich ausdrücklich: Dies schließt unserer Ansicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der nach – das fordern wir in unserem Antrag – die An- FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2425

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: folgen. Es muss nach wie vor ein fundiertes Konzept (C) zum Tschetschenienkonflikt erarbeitet werden. Denn die Herr Kollege Strässer, ich gratuliere Ihnen im Namen Tschetschenienpolitik hat sich von Herbst 1999 bis heute dieses Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bun- im Kern nicht verändert. destag. Herzlichen Glückwunsch! (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter (Beifall) Ramsauer [CDU/CSU]: Das überlebt Herr Das Wort hat jetzt die Kollegin Melanie Oßwald von Schröder nicht!) der CDU/CSU-Fraktion. Obwohl Bundesminister Fischer immer wieder beteuert, dieses Thema bei russischen Vertretern anzusprechen, Melanie Oßwald (CDU/CSU): wurde dies offensichtlich nicht in der erforderlichen Härte unternommen. Ich habe auch noch nie von einer Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue Erfolgsbilanz gehört. Wahrscheinlich gibt es nichts zu mich, heute im Plenum meine erste Rede halten zu kön- berichten. nen. Leider bietet das Thema, über das ich sprechen werde, keinen Anlass zur Freude. In den Vorjahren Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre scheiterte man in der EU-Menschenrechtskommission Hilfe hat einen interfraktionellen Antrag zum Thema immer wieder daran, das Thema des Tschetschenienkon- „Menschenrechte in Tschetschenien nicht vergessen“ er- fliktes ernsthaft zu behandeln; das haben wir heute schon arbeitet. Ich habe mich – das wurde heute schon öfter er- öfter gehört. Der Handlungsbedarf ist jedoch dringender wähnt – über die Zusammenarbeit gefreut. Herr Bindig, denn je. ich finde es schade, dass wir uns zwar in großen Teilen einig sind und auch gemeinsam etwas erreichen wollen, Deshalb fordern wir in unserem Antrag von der Bun- dass Sie sich aber manchmal mit Ihrer Partei schwer tun, desregierung: Deutschland muss in Abstimmung mit den klare und harte Forderungen zum Konflikt zu formulie- EU-Staaten und den anderen Ländern der westlichen ren. Staatengruppe gemeinsam darauf hinwirken, dass in ei- ner Resolution die Menschenrechtsverletzungen von bei- (Beifall bei der CDU/CSU – Rudolf Bindig den Seiten im Tschetschenienkrieg thematisiert werden [SPD]: Die Partei unterstützt mich! – Gernot und die russische Regierung zu einer ehrlichen politi- Erler [SPD]: Machen Sie sich keine Hoffnun- schen Lösung mit internationaler Hilfe gedrängt wird. gen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Trotz allem konnten wir einige Forderungen durchset- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass nicht nur das (B) und der FDP) Mandat der OSZE für Tschetschenien verlängert wird. (D) Vielmehr sollte Deutschland Russland dazu drängen, sol- Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vor zwei Wochen che Hilfe auch vonseiten der Vereinten Nationen und des eine Reise nach Moskau unternommen, um mich vor Ort Europarates zu akzeptieren und nicht blind zu kritisieren. über den aktuellen Stand der Tschetschenienproblematik zu informieren. Nach wie vor stehen sich Befürworter Menschenrechtsverletzungen müssen konsequent auf- und Gegner der gegenwärtigen russischen Politik wei- geklärt, Täter bestraft und eine effektive Verwaltung und testgehend unversöhnlich gegenüber. Trotz aller Justiz geschaffen, die humanitäre Situation der tschet- Bemühungen, wachsende Stabilität und Normalität in schenischen Bevölkerung muss verbessert und der Wie- Tschetschenien zu suggerieren, vermittelt die aktuelle deraufbau des Landes vorangetrieben werden. Russland Lageentwicklung ein komplett anderes Bild. Tschetsche- muss den Boden bereiten, damit humanitäre Hilfsorgani- nien steckt nach wie vor in der Sackgasse eines von bei- sationen wieder sicher vor Ort arbeiten können. den Seiten brutal geführten Krieges, in dem Moskau un- Vielleicht kennen Sie das Beispiel Arjan Erkel. Ich verändert auf seiner Macht besteht und sein Vorgehen als habe Ihnen das entsprechende Flugblatt aus Moskau mit- Teil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus gebracht. Er ist Missionschef bei „Ärzte ohne Grenzen“ rechtfertigt. Daher ist die Empörung unter russischen im Nordkaukasus und wurde vor einem halben Jahr von Menschenrechtsorganisationen sehr verständlich. Ein Unbekannten entführt. Bisher gibt es von ihm kein be- Sprecher der Menschenrechtsorganisation Memorial wiesenes Lebenszeichen. Ich sage Ihnen: So kann es sagte zu Schröders Tschetschenienpolitik: Entweder ist doch nicht weitergehen. Schröder ein Zyniker oder er zeichnet sich durch Inkom- petenz aus. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN) Herr Schröder ist Sozialdemokrat. Ich frage mich, was Neueste Meldungen über Terroranschläge in Tschet- an seiner Haltung zur Tschetschenienpolitik sozial und schenien machen zusätzlich deutlich, dass Tschetschenien demokratisch sein soll. keinesfalls, wie in der russischen Öffentlichkeit oft be- (Beifall bei der CDU/CSU) hauptet wird, weitgehend befriedet ist und dass dort in ge- nau zehn Tagen ein Verfassungsreferendum durchge- Vonseiten der Bundesregierung ist es dringend not- führt werden kann. Ich frage Sie: Ist ein derartiges wendig, ihre an sich guten Ansätze in ihrem 6. Bericht Referendum überhaupt demokratisch, wenn ein großer Teil über ihre Menschenrechtspolitik auch tatsächlich zu ver- der Bevölkerung, der sich als Flüchtlinge in Russland 2426 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Melanie Oßwald (A) befindet und dort übrigens massiv rassistisch verfolgt wird Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Kerstin Müller. (C) – dies hat auch die Menschenrechtsorganisation Memorial bestätigt –, keine Möglichkeit hat, ohne Lebensgefahr zu- Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen rückzukehren und mitzuwählen, während in Tschetsche- Amt: nien stationierte Soldaten ein Wahlrecht haben? Meine Damen und Herren! Menschenrechtspolitik ist Es bestehen erhebliche Zweifel, ob angesichts der für uns Querschnittspolitik. Von dieser Maxime geht der derzeitigen Zuspitzung eine derartige politische Lösung vorliegende 6. Menschenrechtsbericht der Bundesregie- ohne internationale Hilfe überhaupt möglich ist. Es wun- rung aus. Das bedeutet, dass Menschenrechtspolitik sich dert mich nicht, dass internationale Beobachter – um es in allen Politikbereichen widerspiegeln muss. Sie berührt nicht zu legitimieren – eine Begleitung des Referendums Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik genauso wie verweigern. Selbstverständlich hat die Russische Föde- solche der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. ration das Recht, Terrorismus mit rechtsstaatlichen Mit- teln zu bekämpfen. Auch hat sie nach der verbrecheri- Gerade weil die Bundesregierung einen umfassenden schen Geiselnahme Ende Oktober Anspruch auf unsere menschenrechtlichen Ansatz verfolgt, gehört dazu auch Solidarität. Die tschetschenischen Kämpfer sind aber der Einsatz für Freiheits- und Bürgerrechte im eigenen nicht mit den Terroristen vom 11. September 2001 zu Land und in Europa. Das will ich hier sehr deutlich sa- vergleichen, da sie für komplett andere Ziele kämpfen. gen. Wir sind nur dann glaubwürdig mit diesem umfas- senden Ansatz, wenn wir auch kritisch fragen: Wie hal- Der Westen muss alles vermeiden, was von Russland ten wir es bei uns mit den Menschenrechten? Wie gehen als Blankoscheck für das militärische Vorgehen gegen wir hier mit Flüchtlingen und Minderheiten um? Dem die Zivilbevölkerung in der Kaukasusrepublik verstan- stellt sich der 6. Menschenrechtsbericht und wir werden den werden kann. Morde, Folter und Erpressungen bei- in den 7. Menschenrechtsbericht einen nationalen Akti- der Konfliktparteien in Tschetschenien, einem Teil Euro- onsplan aufnehmen, wie es der Ausschuss beschlossen pas, sind völlig inakzeptabel und verlangen den klaren hat. Widerspruch unserer Völkergemeinschaft. Der Weg von der Leisetreterei zur Komplizenschaft ist nicht weit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Massive Einschränkungen der Pressefreiheit in sowie bei Abgeordneten der SPD) Russland zeigen zudem, dass die russische Tschetsche- Meine Damen und Herren, viele von Ihnen haben es nienpolitik auch die demokratische Entwicklung in erwähnt: Vor zwei Tagen wurde in Den Haag der Inter- Russland dramatisch beeinflusst. Die Möglichkeit, nun- nationale Strafgerichtshof feierlich eingeweiht. Das ist mehr nahezu jede kritische Berichterstattung zum Kau- ein historischer Meilenstein in der Geschichte des Völ- (B) kasuskonflikt in die Nähe des Terrorismus zu rücken und kerrechts. Herr Gröhe, vielleicht können wir uns auf Fol- (D) strafrechtlich zu verfolgen, ist mit unserem Verständnis gendes einigen: Deutschland, das heißt wir und auch die von Meinungsfreiheit absolut unvereinbar. Vorgängerregierung, hat sich von Anfang an sehr inten- (Beifall bei der CDU/CSU) siv dafür eingesetzt, dass es diesen Gerichtshof gibt. Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen: In einer globali- Es ist wichtig, dass Deutschland und seine transatlanti- sierten Welt muss es doch gerade darum gehen, die Herr- schen und europäischen Partner ihre engen Beziehungen schaft des Rechts zu stärken und einer Politik entgegen- zum russischen Präsidenten und zur russischen zutreten, die auf das Recht des Stärkeren setzt. Das wird Regierung nutzen müssen, um gerade jetzt auf die Einhal- die zentrale Aufgabe dieses Gerichtshofes sein. tung der Menschenrechte im Tschetschenienkonflikt zu drängen. Gerade weil der Bundeskanzler ein überdurch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schnittlich gutes Freundschaftsverhältnis zum russischen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Präsidenten pflegt, wie er immer behauptet, verlange ich CDU/CSU) von ihm, sich endlich für eine aufrichtige politische Lö- sung des Konfliktes in Tschetschenien einzusetzen. Die wirkliche Arbeit beginnt erst und deshalb kommt es darauf an, die Funktionsfähigkeit und die Effektivität Die Gewalt an der tschetschenischen Zivilbevölke- dieses Gerichtshofes zu stärken. Leider gibt es noch im- rung muss unverzüglich gestoppt werden. Es muss an mer Staaten, die dem Gerichtshof ablehnend oder kritisch Putin appelliert werden, bei der Suche nach einer politi- gegenüberstehen. Deshalb gilt: Nur mit einer möglichst schen Lösung für den Tschetschenienkonflikt konse- universellen Unterstützung durch die Staatengemein- quent menschenrechtliche und humanitäre Standards zu schaft kann die Arbeit des Gerichtshofs dauerhaft wirk- beachten. Dazu möchte ich Sie hiermit auffordern. lich ein Erfolg werden. Daher möchte auch ich hier noch Danke schön. einmal ganz klar an alle appellieren, die noch zögern: Unterstützen Sie die Arbeit des Gerichtshofes. Er wird (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für den Schutz der Menschenrechte in der Zukunft ganz wichtig werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Kollegin Oßwald, auch Ihnen gratuliere ich im und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen CDU/CSU und der FDP) Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! In der kommenden Woche beginnt die 59. Sitzung der (Beifall) VN-Menschenrechtskommission. Wo stehen wir am Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2427

Staatsministerin Kerstin Müller (A) Vorabend? Natürlich macht uns die Lage der Menschen- Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, nur an- (C) rechte in vielen Staaten große Sorgen. Gewalt, Unterdrü- dere Staaten hätten Hausaufgaben zu machen. In ckung und Not sind weiterhin weltweit an der Tagesord- Deutschland wurde unlängst die Auffassung vertreten, nung. Vielerorts werden die Menschenrechte massiv dass unter gewissen Umständen eine Lockerung des Fol- beeinträchtigt, in bewaffneten Konflikten, durch Folter terverbots in Kauf genommen werden könne. Ich und Todesstrafe, durch die Verletzung der Rechte von möchte hier in aller Deutlichkeit klarstellen: Nach der Frauen, Kindern und Minderheiten und durch die Vor- Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen- enthaltung elementarer sozialer und bürgerlicher Grund- rechte und Grundfreiheiten und nach den Übereinkom- rechte. men der VN ist der Schutz vor Folter absolut und darf unter keinen Umständen, auch nicht im Falle eines öf- Doch es gibt auch Hoffnung, zum Beispiel in Afgha- fentlichen Notstandes, relativiert werden. nistan. Zu unseren Prioritäten zählen auch hier unter an- derem Menschen- und Frauenrechte. Das hat Außenmi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nister Fischer in der letzten Woche gegenüber seinem und bei der SPD sowie des Abg. Rainer Funke afghanischen Amtskollegen noch einmal sehr deutlich [FDP]) gemacht. Das macht auch unsere Verfassung deutlich, ein Blick Ich sehe zum Beispiel ein positives Signal darin, dass hätte genügt. Nach Art. 1 des Grundgesetzes ist die die afghanische Regierung am 5. März das Übereinkom- Menschenwürde unantastbar. Und Art. 1 gilt überall, men zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung auch bei Verhören. Das hat der Bundesinnenminister der Frau, das CEDAW, das heute auch hier im Hohen heute noch einmal zu Recht gesagt. Deshalb hoffe ich, Hause diskutiert wurde, ratifiziert hat. Das ist ein positi- dass diese Debatte ein für alle Mal beendet ist. ves Signal. Damit verpflichtet sich die afghanische Re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gierung, den Grundsatz der Gleichberechtigung in die und bei der SPD) Verfassung aufzunehmen und ihn auch umzusetzen. Wir werden die afghanische Regierung bei dieser Umsetzung Ich komme zum Schluss. Der vorliegende Koalitions- unterstützen. antrag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Poli- tik“ fasst die aktuellen und zukünftigen Aufgaben der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechtspolitik eindringlich zusammen. Ich kann sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Ihnen versichern: Die Bundesregierung ist und bleibt CSU und der FDP) den dort dargelegten Grundsätzen verpflichtet. Konse- Mit besonderer Sorge erfüllt uns der nun schon zehn quente Menschenrechtspolitik ist und bleibt die Leitlinie (B) Jahre andauernde Konflikt in Tschetschenien. Es ist unseres Handelns. (D) klar: Es muss eine politische Lösung geben. Diese mah- Vielen Dank. nen wir an. Dafür setzen wir uns ein. Das haben die meisten meiner Vorredner – fast alle haben dieses Thema (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angesprochen – zu Recht gefordert. In zehn Tagen findet und bei der SPD) in Tschetschenien das Referendum über den Verfas- sungsentwurf statt. Das könnte vielleicht ein erster Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schritt hin zu einer politischen Lösung sein. Wir wün- schen uns, auch die Bundesregierung, dass die OSZE Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von und der Europarat bei dieser Volksabstimmung ange- der CDU/CSU-Fraktion. messen präsent sein werden, und setzen uns dafür ein, (Beifall bei der CDU/CSU) dass die OSZE ihre Arbeit in Tschetschenien fortsetzen kann. Das ist sehr wichtig. Das werden wir auf allen Ebenen deutlich machen. Holger Haibach (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen! Frau Staatsministerin, wenn Menschenrechte eine und bei der SPD) Querschnittsaufgabe sein sollen, dann frage ich mich, Klar ist: Terroristische Anschläge wie die in Moskau wo die Vertreter der Bundesregierung bei dieser Debatte und Grosny sind ohne Wenn und Aber zu verurteilen. sind. Ich sehe nur die Vertreter von zwei Ministerien. Dennoch muss in diesen Fällen wie auch generell gelten: Von den restlichen Ministerien, die das Thema Men- Der Schutz der Menschenrechte und die Verhältnismä- schenrechte in hohem Maße angeht, wie zum Beispiel ßigkeit der Mittel müssen auch und gerade beim Kampf vom Innenministerium oder dem Bundeskanzleramt, ist gegen den Terrorismus gewahrt bleiben. Meine Damen niemand zu sehen. Das finde ich beachtlich. und Herren von der Opposition, das haben die Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gierung und der Bundeskanzler deutlich gemacht und Kerstin Müller, Staatsministerin: Das richten werden es auch weiterhin immer wieder deutlich ma- Sie an den Falschen! – Rudolf Bindig [SPD]: chen, öffentlich, aber auch in vielen einzelnen bilateralen Wo ist denn Frau Merkel?) Gesprächen. Es darf keinen Antiterrorrabatt geben. Das hat Außenminister Fischer immer wieder sehr deutlich Es tut mir Leid, dass ich auch darüber hinaus Öl ins gemacht. Das bleibt unsere Maxime in der Tschetscheni- Feuer gießen muss. Aber die heutige Menschenrechtsde- enpolitik. batte hat sehr deutlich eine entscheidende Schwachstelle 2428 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Holger Haibach (A) in der Menschenrechtspolitik der rot-grünen Bundesre- zurücken. Sie befassen sich in Ihrem Antrag lange mit (C) gierung aufgezeigt. Bei der Beobachtung von und der Re- der Frage, was im Kampf gegen den Terror sein darf und aktion auf Menschenrechtsverletzungen, die von staatli- was nicht. Damit bin ich vollkommen einverstanden. Sie cher Seite motiviert, begünstigt oder zumindest geduldet dürfen bei aller berechtigten oder unberechtigten Kritik werden, geht man ganz offensichtlich sehr einseitig vor. an der amerikanischen Haltung aber bitte nie vergessen, Das werde ich an drei Beispielen deutlich machen. dass es doch Saddam Hussein und nicht George Bush ist, der die Menschenrechte seit Jahrzehnten mit Füßen Gestern hat Frau Staatsministerin Müller im Aus- tritt, seine Bevölkerung unterdrückt und seine Nachbarn schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in Be- mit Krieg bedroht und überzieht. zug auf den Irak ausgeführt, die Menschenrechtslage dort sei besorgniserregend. Dieser Aussage ist in ihrer Deut- (Beifall bei der CDU/CSU) lichkeit nichts hinzuzufügen. Bedauerlich ist allerdings, Es würde auch von einer verantwortungsvollen Politik dass sich solch eindeutige Aussagen nicht im Reden und der Bundesregierung zeugen, das bei passender Gelegen- Handeln der Regierungskoalition niederschlagen. heit deutlich zu machen. Leider kann ich nicht feststel- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na, na!) len, dass dies in ausreichendem Maße geschieht. Es ist das Recht von Vertretern der Koalition, sich als (Beifall bei der CDU/CSU) Bewahrer des Friedens und der Menschenrechte in der Frau Kollegin Nickels, noch ein Wort zum „Food for Welt zu präsentieren und dafür an Demonstrationen teil- Oil“-Programm: Wenn man sich die Berichte der NGOs zunehmen. Ob das klug ist, darf mit gutem Recht be- anschaut, erkennt man, dass es zumindest eine sehr zweifelt werden. große Unstimmigkeit darüber gibt, ob dieses Programm (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster so hilfreich war, wie Sie es hier dargestellt haben. [SPD]: Mit dieser Meinung stehen Sie ganz (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einsam da!) NEN]: Ich schicke Ihnen noch einmal unser Das, was Sie mit Ihrem Antrag „Menschenrechte als Ausschussprotokoll!) Leitlinie der deutschen Politik“ vom 3. Dezember und Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Beispiel, das Ihrem Antrag zur heutigen Debatte getan haben, geht ich ansprechen möchte, dem Iran. Es ist richtig, dass die aber nicht. vom iranischen Parlament und auch von Staatspräsident (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Khatami getragene Politik hoffnungsvolle Ansätze zeigt. NEN]: Lesen Sie doch mal die epd-Meldung Es ist auch richtig, diese Politik zu fördern und die sie tragenden Kräfte zu stabilisieren. Dies muss besonders (B) vom Kollegen Gröhe, Herr Haibach! Ich schi- (D) cke sie Ihnen zu!) gegen den Einfluss des Wächterrates geschehen, der nun wirklich jeden Versuch, Menschlichkeit und Menschen- Einerseits haben Sie die Bundesregierung für ihren Ein- rechte im Iran voranzubringen, unterminiert. Es ist wei- satz dafür gelobt, dass sie auf die Partner der Antiterror- terhin richtig, dies im Rahmen einer abgestimmten euro- koalition dahin gehend einwirkt – ich zitiere jetzt Ihren päischen Haltung zu tun. Angesichts der vielfältigen Antrag –, „dass menschenrechtliche Normen und das hu- Menschenrechtsverletzungen darf dies aber nicht dazu manitäre Völkerrecht in einem Antiterrorkampf beachtet führen, dass wir die Bundesregierung aus ihrer Verant- werden“. Andererseits erwähnen Sie in diesem Antrag wortung entlassen, auch auf bilateraler Ebene alles in ih- die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die rer Macht Stehende zu tun, um eine Verbesserung der Si- seit Jahren in den Berichten von Amnesty International tuation im Iran zu erreichen. Auch hier vermisse ich und den Human Rights Watch Reports immer wieder an- noch entschiedenere Anstrengungen. geprangert werden, mit keinem Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) In Ihrem heutigen Antrag wird der Irak immerhin an zwei Stellen erwähnt und an einer Stelle sogar eindeutig Die Frage einer europäischen Haltung bringt mich verurteilt. Dass Sie anderen Ländern, wie Russland, zum letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. In Ihrem China, Kolumbien oder Simbabwe, ganze Absätze wid- Antrag vom 3. Dezember mahnen Sie – ich zitiere noch- men – übrigens völlig zu Recht –, zeigt doch, dass es mit mals – „ausdrücklich die Fortführung der Rechtsstaatsdi- einer ausgewogenen Betrachtungsweise offenbar nicht aloge mit der Volksrepublik China und der Türkei“ an. ganz so weit her ist. Ein Hinweis auf die Türkei fehlt in Ihrem heutigen An- trag völlig. Sollten Ihnen hier etwa der Bundeskanzler (Beifall bei der CDU/CSU) oder der Bundesaußenminister die Feder geführt bzw. Im Übrigen gibt auch der Menschenrechtsbericht der gerade nicht geführt haben, Bundesregierung leider wenig Anlass zur Hoffnung. (Rudolf Bindig [SPD]: Wir denken selbst!) (Kerstin Müller, Staatsministerin: Immerhin weil ein türkischer EU-Beitritt ja offensichtlich zu den gibt es einen!) außenpolitischen Lieblingsprojekten dieser beiden Her- ren zählt? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. In diesem immerhin über 350 Seiten starken Werk findet der Irak ganze dreimal Erwähnung. Ich denke, es ist (Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth richtig und wichtig, gerade an dieser Stelle das Bild der [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: öffentlichen Diskussion in Deutschland einmal zurecht- Jetzt wird es aber ganz schlicht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2429

Holger Haibach (A) Es ist ja nicht zu bestreiten, dass der türkische Staat Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- (C) zumindest auf der Verfassungsebene ganz entscheidende ses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zum Fortschritte im Bereich der Menschenrechte getan hat. 6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechts- Es gibt aber doch genauso unbestreitbar immer noch ei- politik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen nen entscheidenden Unterschied zwischen der Verfas- Politikbereichen, Drucksachen 14/9323 und 15/397. Der sungsnorm und der Realität in der Türkei. Die Beispiele, Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichts der Bun- die wir in letzter Zeit dafür erleben konnten, Prozesse desregierung eine Entschließung anzunehmen, die aus gegen die Vertreter politischer Stiftungen, die Tatsache, zwei Teilen besteht. Wer stimmt für die Entschließung un- dass religiöse Minderheiten immer noch an ihrer Religi- ter Nr. 1 der Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – onsausübung gehindert werden, die problematische Ein- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den richtung der Gefängnisse des so genannten F–Typs und Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der die Unterdrückung von Minderheiten insgesamt, zeigen CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion an- doch sehr deutlich, wo das Problem liegt. genommen. Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 2 der Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal- Es gäbe noch vieles mehr zu nennen. Bei allem Inte- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- resse an einer weiteren Einbindung der Türkei in die nommen. Europäische Union darf auch hier nicht nach dem Vogel- Strauß-Prinzip vorgegangen werden, das ja lautet: Es Tagesordnungspunkt 7 c: Abstimmung über die Be- kann nicht sein, was nicht sein darf. schlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/495 zu dem (Beifall bei der CDU/CSU) Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die drei genannten Beispiele machen deutlich, dass Die Grünen mit dem Titel: Menschenrechte als Leitlinie wir seitens der CDU/CSU-Fraktion im Vorfeld der Ta- der deutschen Politik. Der Ausschuss empfiehlt, den An- gung der UN-Menschenrechtskommission mehr von der trag auf Drucksache 15/136 anzunehmen. Wer stimmt Bundesregierung erwarten, als der vorliegende Antrag für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – der Koalition zu bieten hat. Wir erwarten von der Bun- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den desregierung, dass sie bei der bevorstehenden Tagung Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen die von uns benannten Punkte mit der gleichen Deutlich- von CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenommen. keit und Offenheit vertritt, wie sie die Koalition aufge- führt hat. Der vorliegende Antrag lässt allerdings be- Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- fürchten, dass es sozusagen zweierlei Menschenrechte schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf gibt: solche, die aus übergeordneten Gründen angespro- Drucksache 15/496 zu dem Antrag der Fraktion der FDP (B) chen werden dürfen, und solche, die bedauerlicherweise mit dem Titel: Menschenrechtsverletzungen in Tschet- (D) gerade nicht passend sind. Auch für die Bundesregie- schenien nicht vergessen. Der Ausschuss empfiehlt, den rung der Bundesrepublik Deutschland gilt: Die Men- Antrag auf Drucksache 15/64 in der Ausschussfassung schenrechte sind unteilbar. anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Nochmals: Der Antrag der Koalition ist aus unserer schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Sicht zu ungenau und die dadurch unterstützte Politik zu einseitig. Deshalb werden wir ihn ablehnen. Zusatzpunkt 3: Abstimmung über den Antrag der Frak- tion der CDU/CSU auf Drucksache 15/535 mit dem Titel: Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Für Menschenrechte weltweit eintreten – die internationa- len Menschenrechtsschutzinstrumentarien stärken. Wer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthal- neten der FDP – Rudolf Bindig [SPD]: Sie tungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions- müssen noch viel lernen!) fraktionen bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion abgelehnt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Herr Kollege Haibach, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion (Beifall) der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ich schließe die Aussprache. zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der – Drucksache 15/359 – Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Überweisungsvorschlag: auf Drucksache 15/549 mit dem Titel: 59. Tagung der Finanzausschuss Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der CDU/CSU- derspruch. Dann ist so beschlossen. Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion angenom- men. (Unruhe) 2430 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser deutschen Wirtschaft. Dabei kommt es stets dann zum (C) Aussprache nicht teilzunehmen wünschen, den Saal Schwur, wenn wie heute eine Fessel gekappt werden soll. möglichst geräuschlos zu verlassen, damit die anderen Um welche Fessel es sich handelt, will ich Ihnen kurz der Debatte aufmerksam folgen können. erläutern. Es sind die Umsatzsteuervoranmeldungen; das Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das klingt vergleichsweise harmlos. Sie werden bisweilen Wort für den Antragsteller der Kollege Professor monatlich von den Betrieben erwartet, obwohl in Um- Dr. Pinkwart von der FDP-Fraktion. satzsteuergesetz im Grundsatz eine quartalsweise Rege- lung vorgesehen ist. Von dieser Quartalsregelung wird (Beifall bei der FDP) aber stets dann abgewichen, wenn die Umsatzsteuerzahl- last für das vorangegangene Kalenderjahr mehr als Dr. Andreas Pinkwart (FDP): 6 163 Euro beträgt. Dies ist aber tatsächlich schon dann der Fall, wenn Betriebe weniger als 50 000 Euro Jahres- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und umsatz haben. Also sind viele Betriebe – auch die Herren! Wir stehen am Vorabend einer als groß angekün- kleinen – in diesem Land von dieser Regelung berührt. digten Rede. Ein Ruck soll durch unser Land gehen. Ich denke, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen und Welch bürokratischer Aufwand dadurch entsteht, will finanziellen Lage unseres Landes ist es notwendig, dass ich Ihnen exemplarisch darstellen. In der Regel wird in es endlich einen solchen Ruck gibt. der Buchhaltung des Unternehmens oder beim Steuerbe- rater das Umsatzsteuervoranmeldeformular ausgedruckt, (Beifall bei der FDP) geprüft, unterschrieben, verschickt, anschließend im Fi- Aber wir mussten bereits in der Vergangenheit erfah- nanzamt geöffnet, geprüft, digital erfasst, abgeheftet und ren: Worte ersetzen keine Taten. Meine Erwartungen dann per Einzugsermächtigung oder Überweisung der sind deshalb weniger auf die Rede selbst als auf die da- Zahl- oder Erstattungsvorgang ausgelöst. Dies alles ge- ran hoffentlich folgenden konkreten Schritte gerichtet. schieht zwölfmal im Jahr plus der jährlichen Umsatz- Die mittlerweile meterdicken Gutachten der Sachver- steuererklärung. ständigen weisen hierzu einen klaren Weg. Wirtschaft Würden, wie in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, und Verbraucher müssen von konfiskatorischen Steuern die Umsatzsteuervoranmeldungen nicht mehr monatlich, und Abgaben und vor allen Dingen von überbordender sondern nur noch quartalsweise abgegeben, würde die Bürokratie befreit werden. Zahl dieser Vorgänge – es sind zig Millionen im Jahr – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten um zwei Drittel verringert und damit entsprechend der der CDU/CSU) Bürokratieaufwand in den Betrieben und in den Finanz- ämtern um zwei Drittel verkleinert. (B) In Bezug auf den Bürokratieabbau hat sich die Re- (D) gierung zumindest sprachlich zwischenzeitlich fort- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schrittsgewandt gezeigt. Das sieht man an den Anglizis- der CDU/CSU) men, die der Superminister neuerdings verwendet. Das Es handelt sich um eine der Fesseln, die wir schon reicht vom „Masterplan“ bis zum „Small Business Act“. längst hätten kappen können. Denn bereits in der vergan- Aber Etiketten allein reichen nicht aus; auch nicht die genen Legislaturperiode lag ein entsprechender Gesetz- Tatsache, dass die Forderungen nach einem Masterplan entwurf vor, dem die Fraktionen der SPD, der Grünen „Bürokratieabbau“ den Mitgliedern dieses Hauses mitt- wie auch der PDS aus, wie ich meine, vorgeschobenen lerweile offensichtlich leicht über die Lippen gehen. Gründen nicht zugestimmt haben. Wir müssen dem Bürokratieberg in diesem Land kon- Die staatlichen Buchhalter dieser Welt werden mögli- kret zu Leibe rücken, und zwar deshalb, weil die Büro- cherweise auch jetzt wieder anmerken, dass es mittler- kratie die Wirtschaft in unserem Land mit über weile Verfahren gibt, die Umsatzsteuervoranmeldung 30 Milliarden Euro Bürokratiekosten belastet. Das ist online abzuwickeln. Aber auch Onlineverfahren müs- eine wahrlich schwerwiegende Last für dieses Land. sen von Unternehmen administriert und geprüft werden. Auch Onlineverfahren verursachen Arbeitsaufwand und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kosten. Mit einem Onlineverfahren einen überflüssigen Dabei ist es so, dass jede Einzelregulierung für sich bürokratischen Vorgang zu vereinfachen macht diesen genommen hinnehmbar erscheinen kann. In der Summe noch lange nicht sinnvoll. aber – das ist das Fatale – fesseln und knebeln diese Re- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gulierungen unser Land in einer Weise, wie es Gulliver der CDU/CSU) im Land der Zwerge ergangen ist. Ich erwarte – zumindest lässt das bisherige Verfahren (Carl-Ludwig Thiele[FDP]: Richtig!) das erwarten –, dass die Etatisten unter Ihnen in der fol- Viele kleine Fesseln hielten ihn am Boden und lähmten genden Diskussion auch das vermeintliche Miss- seine Kräfte. brauchspotenzial einer derartigen Regelung in den Vor- dergrund stellen werden. Wer aber seinen Bürgern und (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genauso ist das!) den Unternehmern misstraut und Kontrolle vor Freiheit setzt, wird in Deutschland keine Dynamik entfalten. Um wieder auf die Beine zu kommen, musste jede ein- zelne Fessel gekappt werden. Dies gilt im übertragenen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sinne auch für die bürokratische Überregulierung der der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2431

Dr. Andreas Pinkwart (A) Wir brauchen Freiheit, um die wirtschaftlichen Kräfte chen. Aber er ist unter Einhaltung der Kriterien des (C) zu entfesseln. Helfen Sie daher mit, dass dieser Gesetz- Stabilitätspaktes solide durchfinanziert. Wenn die Koa- entwurf in der parlamentarischen Beratung endlich die litionsfraktionen Ihrem Gesetzentwurf zustimmen wür- notwendige Unterstützung bekommt! Es wäre ein Signal den, wären alle Bemühungen um einen sauber finanzier- an die Wirtschaft und an die Menschen im Lande, dass ten Haushalt 2003 zunichte. Ich denke, so kann man mit wir es wirklich ernst meinen. den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes nicht um- gehen. Das käme dem Ausstellen ungedeckter Schecks Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. auf die Zukunft gleich. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Bei der Opposition ist von verantwortungsvoller Politik Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: keine Rede mehr. Das bedauere ich sehr. Die Umsatz- steuer ist eine der Haupteinnahmequellen des Staates. Das Wort hat jetzt die Kollegin Lydia Westrich von Selbst die Kommunen, bei denen Sie den Verfall der der SPD-Fraktion. Einnahmebasis ständig beklagen, rechnen mit den kon- stanten Einnahmen aus der Umsatzsteuer. Ich dachte, Lydia Westrich (SPD): wir wären zusammen angetreten, den Missbrauch und Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und die Kriminalität gerade bei dieser Steuer sehr energisch Kollegen! Herr Pinkwart, wir kommen jetzt von Ihrer zu bekämpfen. Wenn es aber um die Bekämpfung von Ruck-Rede wieder auf den Boden des vorliegenden Ge- Steuermissbrauch und Wirtschaftskriminalität geht, setzentwurfs zurück. Lassen Sie uns also mit Ihrem klei- dann stehen Sie, meine Damen und Herren von der Op- nen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Umsatz- position – das gilt nicht nur für die FDP, sondern auch steuergesetzes beschäftigen, der die Abschaffung der für die CDU/CSU –, wirklich nicht in der ersten Reihe. Verpflichtung zur Abgabe der monatlichen Umsatzsteu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ervoranmeldungen zum Inhalt hat und der nach Ihrer DIE GRÜNEN) Meinung zum Abbau der Bürokratie beitragen soll. Meiner Beobachtung nach gehört er zu dem Sammel- Ich kann mich an keinen Antrag erinnern, den Sie dazu surium aktionistischer Anträge und Gesetzentwürfe der gestellt haben, geschweige denn an einen, den Sie kämp- FDP, die keinen roten Faden erkennen lassen, sich in ih- ferisch gleich mehrere Male eingebracht haben. Wenn rer Wirkung teilweise widersprechen und das Land und Sie das getan hätten, hätten wir vielleicht irgendwann die Wirtschaft keineswegs voranbringen würden, wenn zugestimmt. (B) (D) wir ihnen zustimmen würden. Der Bundesrechnungshof hat ausdrücklich die Ab- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gabe monatlicher Umsatzsteuervoranmeldungen im Kampf gegen die überbordende kriminelle Energie im Bereits Anfang 2001 haben wir bekanntlich den vor- Umsatzsteuerbereich als wirksame Maßnahme empfoh- liegenden Gesetzentwurf schon einmal abgelehnt, weil len, und zwar generell. Wir halten trotzdem an der 1996 er – das sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen – mit beschlossenen Regelung fest, wonach das Kalendervier- großen Haushaltsrisiken verbunden ist. An dieser Stelle teljahr der Regelvoranmeldungszeitraum ist, weil erstens zeigt sich wieder einmal beispielhaft die Doppelzüngig- – hier bin ich mit Ihnen einer Meinung – mehr als keit der FDP. Einerseits reiten Sie im Finanzausschuss 50 Prozent der Unternehmen, vor allem die kleineren, stundenlang auf dem Stabilitätspakt herum und fordern von dieser Vereinfachung profitieren und weil zweitens ein festes Bekenntnis dazu ein – als ob das notwendig die meisten Unternehmen ehrliche Steuerzahler sind, die wäre –, andererseits verteilen Sie aber zumindest verbal wir nicht belasten wollen. Nur bei einer größeren Um- in Ihren Anträgen mit vollen Händen Geld, ohne auch satzsteuerschuld müssen wir im Interesse der staatlichen nur einen Blick auf die Grundsätze der Haushaltsklarheit Einnahmen auf der monatlichen Abgabe der Voranmel- und Haushaltswahrheit zu verschwenden. dung an das Finanzamt bestehen. Das schulden wir allen (Beifall bei der SPD – Dr. staatlichen Ebenen, also Bund, Länder und Kommunen. [CDU/CSU]: Dazu kann der Bundesfinanz- Dafür erhalten die Unternehmen aber auch zeitnah ihren minister viel beitragen!) Vorsteuerabzug für die getätigten Investitionen. Bezeichnenderweise, Herr Meister, steht bei diesem Das Schlimme an Ihrem Gesetzentwurf ist, dass Sie Gesetzentwurf unter dem Punkt „Kosten“: „Keine“. Die die Notwendigkeit der regelmäßigen Einnahmen aus der Wahrheit ist: Schon bei der ersten Einbringung des Ge- Umsatzsteuer genau kennen; denn sonst hätten Sie das setzentwurfs wurde Ihnen vom Finanzministerium mit- schon 1996, als Sie noch Regierungsverantwortung ge- geteilt, dass bei der Umsetzung des Gesetzentwurfs im tragen haben, gemäß Ihrem heutigen Gesetzentwurf re- betreffenden Haushaltsjahr einmalig 15 Milliarden Euro geln können. Davon hätten die Unternehmen also nicht fehlen würden, nicht mitgerechnet die erheblichen Zins- erst 2001, sondern schon 1996 profitieren können. Aber verluste, die nicht einmalig wären, sondern jährlich wie- damals wollten Sie keine Haushaltsrisiken eingehen. Ich derkehren würden. denke, das ist kein gutes Politikverständnis. Nächste Woche verabschieden wir einen Haushalt mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vielen schmerzhaften Einschnitten in wichtigeren Berei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 2432 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Lydia Westrich (A) Die Umsatzsteuervoranmeldung ist – das wissen Sie einer „richtigen“ Steuererklärung mit allen finanziellen (C) selber – ein Nebenprodukt der Buchhaltung und ist in und juristischen Folgen hat, verursacht sowohl für die den meisten Fällen per Knopfdruck abrufbar. Auch bei Finanzverwaltung als auch für die Kleinunternehmen ei- den Finanzämtern – ich habe mich kundig gemacht – nen ganz erheblichen bürokratischen Mehraufwand. läuft die Bearbeitung routiniert. Weder die Länder noch Unternehmerverbände haben die von Ihnen gestellte Insofern ist das Ziel des FDP-Entwurfs, nämlich im Forderung erhoben; denn auch sie sehen keinen Hand- Bereich der Umsatzsteuer für Kleinunternehmen ein lungsbedarf. Welche Vereinfachung eine Regelung brin- Stück Bürokratie abzubauen, durchaus wohlwollend zu gen soll, wonach das Kalenderjahr in vier verschieden sehen. In den vergangenen Jahren war doch eine stetige lange Zeiträume – vier Monate, drei Monate, noch ein- Zunahme der Bürokratie festzustellen. Dieser kaum mal drei Monate und dann zwei Monate – eingeteilt mehr zu bewältigende bürokratische Aufwand trägt ganz wird, erschließt sich selbst jemandem nicht, der etwas erheblich zum schwachen Wirtschaftswachstum in die- von Buchhaltung versteht. sem Lande bei. Es ist nur logisch, dass die Bürokratie besonders die Innovation, die Beweglichkeit und auch Wir werden also wie vor zwei Jahren Ihren heute ein- den unternehmerischen Mut des Mittelstandes einengt. gebrachten Gesetzentwurf ablehnen; denn er ist wenig Statt sich überall einzumischen, sollte sich der Staat auf durchdacht, ohne Notwendigkeit und vor allem nicht seine Kernaufgaben konzentrieren und Bürgern und Un- finanzierbar. Verantwortungslose Politik mit nicht kalku- ternehmen mehr Freiheit und Selbstverantwortung ein- lierbaren Haushaltsrisiken ist mit uns nicht zu machen. räumen. Zumindest darin sollten wir uns in diesem Hause einig sein. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Derzeit müssen Bürger und Unternehmen allein auf Bundesebene 2 197 Gesetze mit 47 000 Einzelvorschrif- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ten sowie 3 131 Rechtsvorschriften mit fast 40 000 Ein- zelvorschriften befolgen. Wer also gesetzestreu sein will, Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Seiffert von der der muss sich allein auf Bundesebene mit 85 000 gesetz- CDU/CSU-Fraktion. lichen Vorgaben auseinander setzen. Das ist übrigens auch in der letzten Legislaturperiode nicht besser, son- Heinz Seiffert (CDU/CSU): dern schlimmer geworden. Es waren fast 1 000 neue Ge- setze und Rechtsvorschriften, die hinzugekommen sind. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (B) gen! Das Steuerrecht in Deutschland ist unter der rot- Wenn Sie also von Bürokratieabbau reden – der Bun- (D) grünen Regierung zu einem bürokratischen Monster ver- deskanzler wird dies ja morgen an dieser Stelle wieder kommen. tun; „wir bauen Bürokratie ab“, wird er sagen –, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Lydia Westrich [SPD]: Haben wir schon ge- Widerspruch bei der SPD) macht!) Es ist zu einem Dickicht geworden, das selbst von den so ist dies purer Zynismus, Frau Kollegin. Steuerfachleuten nicht mehr durchschaut werden kann, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) allenfalls vielleicht von Ihnen von Rot-Grün. Gerechter ist das Steuerrecht durch die von Ihnen zu verantworten- Nach einer OECD-Studie liegt Deutschland in Sachen den Verkomplizierungen auch nicht geworden. Im Ge- regulatorische und administrative Hemmnisse unter genteil: Was ist denn gerecht daran, dass große Unter- 21 Staaten auf Platz 16. Das sagt doch eigentlich alles. nehmen, die in Deutschland Milliardengewinne erzielen, Das ist die Realität. hier keine Steuern zahlen? Daran ist im Übrigen nicht nur die Konjunktur schuld. Das ist auch Eichels „Leis- Die größten bürokratischen Dummheiten, die Sie in tung“. der letzten Legislaturperiode gemacht haben, haben wir noch alle im Ohr: das Scheinselbstständigkeitsgesetz, die Je komplizierter und undurchschaubarer das Steuer- Neuregelung der 325-Euro-Jobs – mittlerweile haben Sie recht ist, desto mehr Gestaltungsmöglichkeiten bietet es das dank unserer tatkräftigen Hilfe wieder zurückge- den Steuerspezialisten der großen, weltweit tätigen Kon- nommen, aber vier Jahre wurden die Menschen schika- zerne. Die kleinen und mittleren Unternehmen, die sich niert –, die Mindestbesteuerung für Unternehmen, die genauso wenig wie der einfache Steuerzahler solche bis heute in der Praxis nicht anwendbar ist, die Riester- Spezialisten und Gestaltungskünstler leisten können, Rente, deren guter Ansatz durch überzogene Bürokratie sind die Dummen. Gerade kleine und mittelständische wieder kaputtgemacht worden ist, das Betriebsverfas- Betriebe liefern mit erheblichem bürokratischem Auf- sungsgesetz, Recht auf Teilzeit und schließlich die Bau- wand monatlich ihre Steuern ab. abzugsteuer, bei der wir dummerweise auch noch mitge- macht haben. Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzentwurf, den die FDP vorgelegt hat, nur zu verständlich. Die Abschaf- (Beifall bei der CDU/CSU – Christine Scheel fung der Verpflichtung zur monatlichen Umsatzsteuer- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wollte voranmeldung für Kleinbetriebe ist zumindest sehr über- das Baugewerbe haben! Das war nicht unsere legenswert; denn diese Voranmeldung, die den Charakter Idee!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2433

Heinz Seiffert (A) In dieser Legislaturperiode machen Sie gerade so wei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) ter. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz schafft doch nicht mehr Klarheit und mehr Durchschaubarkeit, son- Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom dern neue Bürokratie. Denken Sie doch nur an die Kon- Bündnis 90/Die Grünen. trollmitteilungen, die der Minister noch vor wenigen Ta- gen verteidigt hat! Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Seiffert, auch ich finde, dass wir alle in der Verant- Wir werden dieses Gesetz übrigens morgen im Bundes- wortung stehen, für Bürokratieabbau zu sorgen. rat stoppen. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ihr redet nur da- Wenn wir das Wachstum in Deutschland beschleuni- von! – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Warum gen und damit die Möglichkeit für mehr Arbeitsplätze macht ihr das dann nicht? Wie wäre es, wenn schaffen wollen, dann sollten wir auf drei Prinzipien set- ihr mit gutem Beispiel vorangeht?) zen: Freiheit, Eigenverantwortung und Subsidiarität. (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) Verantwortlich dafür sind aber eben nicht nur der Bund, sondern auch die Länder, die Kommunen und vor allem Sie dagegen setzen auf mehr Staat, mehr Misstrauen und die Standesorganisationen, Stichwort Handwerksord- mehr Kontrolle. Dieser Weg führt ins Elend. Die Flut nung. Man muss sich einmal anschauen, wie viel Büro- von Regelungen, Gesetzen und Vorschriften überfordert kratie sich diese Organisationen selbst schaffen. Darüber Bürger, Unternehmen und Verwaltung gleichermaßen. hinaus erwarten sie von der Politik, dass sie für eine Deshalb muss das alles auf den Prüfstand. Vielzahl von bürokratischen Regeln sorgt, um bestimmte Dinge zu organisieren und zu regulieren. Angesichts Deshalb ist auch der FDP-Entwurf überlegenswert. dessen muss man sich schon fragen, ob es Sinn macht, Gerade mittelständische und kleine Unternehmen wür- deren Forderung nach Bürokratieabbau wirklich ernst zu den sehr davon profitieren, wenn die monatliche Um- nehmen. satzsteuervoranmeldung entfallen könnte. Mir scheint al- lerdings der Gedanke, die monatliche Voranmeldung für Ich meine, wir alle müssen dafür sorgen, dass es in alle Unternehmen wegfallen zu lassen, noch nicht ganz diesem Land weniger Bürokratie gibt. Das von Ihnen ge- zu Ende gedacht. Es sind nämlich zwei Faktoren zu be- nannten Beispiel der Bauabzugsteuer war keine Idee der denken. Das hat die Frau Kollegin richtig gesagt. rot-grünen Bundesregierung, sondern eine Idee der Bau- industrie, die sie gemeinsam mit einigen CDU- bzw. Erstens. Die Umsatzsteuer gehört zu den größten CSU-regierten Ländern entwickelt hat. Das muss man (B) Steuerquellen des Staates. Wenn die Vereinnahmung der (D) hier der Klarheit halber einmal sagen. Umsatzsteuervorauszahlungen nur noch vierteljährlich erfolgen kann, dann wird dies zwangsläufig bei Bund (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Ländern zu erheblichen Liquiditätsproblemen füh- sowie bei Abgeordneten der SPD) ren, zumindest vorübergehend. Herr Pinkwart, leider ist es nicht so, dass die Verab- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schiedung dieses Entwurfs zu einer Win-Win-Situation NEN]: Das ist richtig!) führen würde. Es wäre nämlich nicht so, dass dadurch Zweitens. Unternehmen mit Vorsteuerüberhängen, mehr Bürokratie abgebaut werden könnte und Unterneh- also Umsatzsteuererstattungsansprüchen, können die men Finanzverwaltung zum Nulltarif bekämen. Mit an- Umsatzsteuer folgerichtig dann auch nicht mehr monat- deren Worten: Es wäre nicht so, dass der Staat keine Pro- lich, sondern nur noch vierteljährlich zurückbekommen. bleme hätte und die Unternehmen bürokratisch entlastet wären. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist ein Problem für viele junge Un- Die Realität – die Kollegin Westrich hat darauf schon ternehmen!) hingewiesen – ist wirklich anders. Die Umsetzung der von Ihnen hier eingebrachten Überlegung wäre nicht Auch das würde mit Sicherheit für viele Liquiditätspro- kostenfrei zu haben. Wenn wir Ihren Vorschlag ernst bleme bringen. nehmen und umsetzen würden, dann gäbe es im Haus- Wir sollten also den FDP-Entwurf im Ausschuss halt ein Defizit von 15 Milliarden Euro, weil die entspre- sorgfältig beraten. Ich kann der rot-grünen Mehrheit nur chenden Mittel erst 2004 und nicht 2003 in die öffentli- empfehlen, diesen Vorschlag nicht schon wieder nur des- chen Kassen fließen würden. Zusätzlich wäre der Jahr halb abzulehnen, weil er von der Opposition kommt. für Jahr eintretende Zinsaufwuchs zu finanzieren. Das würde letztendlich eine Verlagerung der Belastung in die (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nächsten Rechnungsjahre bedeuten, die nicht akzeptabel ist. Dieses Verfahren, das Sie fünf Jahre praktiziert haben, nämlich alles abzulehnen, was von dieser Seite kommt, ist Da Sie immer wieder sagen, der Stabilitätspakt sei Ih- Deutschland im Übrigen verdammt schlecht bekommen. nen wichtig – das gilt auch für die FDP – und es gelte, ihn einzuhalten – die Umsetzung Ihrer Forderungen Vielen Dank. würde zwar immer wieder das Gegenteil bedeuten; aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das macht ja nichts –, möchte ich sogar so weit gehen, zu 2434 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Christine Scheel (A) behaupten, dass Ihr Vorschlag aus haushaltspolitischer Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): (C) Sicht ein getarnter Anschlag auf die Maastricht-Krite- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und rien ist, Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorlie- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ist das nicht ein gende Gesetzentwurf der FDP zur Abschaffung der bisschen überhöht?) monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung greift ein Thema auf, das, wie ich meine, zu diskutieren durchaus der unsere Bemühungen, eine vernünftige Haushaltskon- wert ist. In den anstehenden Beratungen im Finanzaus- solidierung vorzunehmen, wirklich völlig konterkariert. schuss werden wir ausreichend Gelegenheit haben, darü- Das wäre das Ergebnis der Realisierung Ihres Vor- ber zu sprechen und zu diskutieren, ob es unter Berück- schlags. sichtigung vieler Aspekte, die hier schon angesprochen Nach Abwägung der Vor- und der Nachteile möchte worden sind, Sinn macht, die geltende Rechtslage zu ich Ihnen zwei Hauptgründe dafür nennen, die monatli- verändern. chen Umsatzsteuervoranmeldungen nicht völlig abzu- Frau Westrich, wenn Sie schon in der ersten Lesung schaffen: Ihre Ablehnung signalisieren, zeigt mir das, dass Sie an Erstens. Der Vorschlag der FDP konterkariert die ge- einer ordentlichen Diskussion kein Interesse haben. genwärtigen Anstrengungen von Bund und Ländern, ge- (Beifall bei der SPD – Lothar Binding [Heidel- gen den Umsatzsteuerbetrug durch kriminelle Organi- berg] [SPD]: Das ist eigentlich schon die vierte sationen verstärkt vorzugehen. Seit dem Jahr 2000 ist ein Lesung!) ganzes Paket von Maßnahmen wirksam, mit dem wir die Steuerhinterziehung bei der Umsatzsteuer eindämmen Im Übrigen gibt es auch im Bereich der Umsatz- wollen. In diesem Rahmen geben Unternehmensgründer besteuerung schon heute wesentliche Vereinfachungs- im Jahr der Gründung und im ersten Folgejahr, unabhän- vorschriften. Ich nenne als Beispiel die Umsatzsteuer- gig von den tatsächlich erzielten Umsätzen, ihre Voran- pauschalierung, die eine wesentliche Verwaltungsver- meldungen monatlich ab. So kommen die Finanzämter einfachung bedeutet. Die Landwirte sparen sich dadurch schneller an Informationen über neue Unternehmen. Auf den Aufwand der monatlichen Umsatzsteuervoranmel- diese Weise können sie feststellen, ob es Karussellge- dung und die Finanzverwaltung erspart sich die Prüfung schäfte gibt. Diesbezüglich gab es in diesem Land Rie- der Steuerbescheide und die Ausdehnung der Betriebs- senprobleme. Wir haben damit angefangen, die mit Um- prüfung auf die Umsatzsteuer. satzsteuerbetrug verbundenen Probleme, unter anderem (Lydia Westrich [SPD]: Das ist auch richtig!) mit dieser Maßnahme, besser in den Griff zu bekommen. Umso weniger verständlich war für mich, dass Sie, (B) (D) Zweitens. Würden wir dem Vorschlag der FDP folgen, meine Damen und Herren von SPD und Grünen, in der würden Existenzgründern und Existenzgründerinnen ursprünglichen Fassung des Steuervergünstigungsabbau- – Herr Seiffert hat es angedeutet – Liquiditätsnachteile gesetzes bei dieser Umsatzsteuerpauschalierung eine entstehen; denn sie könnten ihre Vorsteuerüberhänge erst Senkung von 9 auf 7 Prozent vorgesehen hatten. Dies später entsprechend geltend machen, obwohl sie die Erstat- hätte nämlich zu einer deutlichen Mehrbelastung bei den tung der Vorsteuer sehr oft als Anschubfinanzierung benö- Steuerpflichtigen und bei den Steuerbehörden geführt. tigen. Diese Regelung kann also Existenzgründern und Existenzgründerinnen schaden. Auch das muss man sehen. (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: So ist es!) Abschließend möchte ich einen Punkt ansprechen, bei Es hätte mit ziemlicher Sicherheit auch dazu geführt, dem ich schon ein wenig mit dem Kopf schütteln muss. dass die betroffenen Landwirte die Pauschalierung abge- Wenn man sich den Gesetzentwurf unter handwerklichen wählt und zur Regelbesteuerung gewechselt hätten. Gesichtspunkten anschaut, erkennt man, dass er wirklich Aber, meine Damen und Herren von SPD und Grü- kein Meisterwerk ist. Er ist Pfusch. Frau Kollegin nen, zumindest in diesem Punkt haben Sie sich aus- Westrich hat das bereits gesagt und ich greife diese Formu- nahmsweise einmal nicht beratungsresistent gezeigt. Das lierung gerne auf. Sie streichen § 18 Abs. 2 Satz 2 des Um- macht das ganze Gesetz jedoch noch lange nicht besser. satzsteuergesetzes, beziehen sich aber im folgenden Satz wieder auf diese Passage, die nach Ihrem Willen überhaupt (Beifall bei der CDU/CSU) nicht mehr existieren soll. Das kann man nicht nachvoll- Der Gesetzentwurf der FDP bringt uns dankenswer- ziehen. Man kann sich nur darüber wundern. Aber mit der terweise dazu, heute wieder einmal über das Thema Zahl 18 hatten Sie ja schon immer ein Problem und das hat Bürokratieabbau im deutschen Steuerrecht und über sich in diesem Gesetzentwurf wieder gezeigt. Steuervereinfachungen zu sprechen. Lassen Sie mich zu- Danke schön. nächst einmal eines feststellen: Wir von der CDU/CSU werden jeden Vorschlag mittragen, der eine wesentliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vereinfachung bringt und tatsächlich zu einem Bürokra- und bei der SPD) tieabbau beiträgt. Es muss sich hierzulande die Erkennt- nis durchsetzen, dass wir endlich Ernst machen müssen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mit dem Abbau einer erdrückenden Bürokratielast für Private und Unternehmer. Seit Jahren und Jahrzehnten Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller von der wird hierzulande über den Bürokratieabbau diskutiert. CDU/CSU-Fraktion. Trotz vielerlei Bemühungen sind Initiativen immer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2435

Stefan Müller (Erlangen) (A) wieder gescheitert und haben nicht zu dem gewünschten Kreditinstitute in diesem Land mit einem meines Erach- (C) Ergebnis geführt. tens nicht zu rechtfertigenden bürokratischen Aufwand und zusätzlich auch noch mit erheblichen Kosten belas- Der Kollege Seiffert hat es schon angesprochen: Es ten, Kosten, die letztendlich wohl an die Kunden weit- gab auf Bundesebene bis Mitte des vergangenen Jahres ergegeben werden. Auch die Banken gehen von einem weit über 5 000 Gesetze und Rechtsverordnungen mit immensen Kosten- und Verwaltungsaufwand aus, insbe- nahezu 90 000 Einzelvorschriften. Dieses Dickicht an sondere bei der Bereitstellung von neuen EDV-Syste- Vorschriften ist schon heute bei weitem nicht mehr zu men, die notwendig ist, um laufende Depotkontrollen, übersehen. Gleiches gilt für das deutsche Steuerrecht. die Sie vorsehen und die die Meldepflicht dann auch er- Meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit Lippen- forderlich machen würde, durchzuführen. bekenntnissen allein ist es nun einmal nicht getan. Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- öffentlichen Äußerungen und plakativen Sprüche, die neten der FDP) wir von Ihnen immer wieder hören, stehen im Gegensatz zu dem, was Sie in diesem Hause, soweit ich es nach ei- Die Banken sind schon heute zum verlängerten Arm des nem halben Jahr beurteilen kann, auf den Weg gebracht Staates geworden. Kein anderer Wirtschaftszweig in die- haben oder in Zukunft auf den Weg bringen wollen. sem Land wird meines Erachtens so unverhältnismäßig zur Klärung insbesondere auch steuerlicher Sachverhalte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) herangezogen. Die von Ihnen im Bundestag beschlossene Besteue- Bürokratieabbau im Steuerrecht kommt aber nicht nur rung von privaten Veräußerungsgewinnen führt weder den Unternehmen zugute, sondern eben auch den Steuer- zum Abbau von Steuervergünstigungen noch zu einer behörden und den Arbeitnehmern. Durch eine Vereinfa- Steuervereinfachung. chung ließen sich die Kosten bei allen Betroffenen deut- (Lydia Westrich [SPD]: Sie bringt Geld!) lich senken. In diesem Sinne sind wir alle gehalten, dort, wo es Sinn macht – auch im steuerlichen Bereich –, mit – Vielen Dank für den Zwischenruf. Sie bringt Geld; ge- dem Bürokratieabbau endlich Ernst zu machen. nau da liegt der Hase im Pfeffer. Ihnen geht es schlicht und ergreifend darum, Ihre fiskalischen Vorstellungen Vielen Dank. voranzubringen. An einer Steuervereinfachung sind Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in keiner Weise interessiert. (Florian Pronold [SPD]: Aus der Steuer wer- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den Ihre Diäten bezahlt!) (B) Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von (D) Systematisch sind die privaten Veräußerungsgewinne der SPD-Fraktion. eine völlige Neuerung, die eine Reihe von Auslegungs- und Vollzugsschwierigkeiten nach sich ziehen wird. Es Florian Pronold (SPD): ist doch fraglich, ob wertvolle Teppiche und Antiquitä- ten, die sich im Gebrauch befinden, Gegenstände des Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- täglichen Gebrauchs sind oder nicht. Fraglich ist doch gen! Immer, wenn ich die FDP von Bürokratieabbau re- auch, wie deren Veräußerung von der Finanzverwaltung den höre, dann fällt mir meine gymnasiale Schulbildung kontrolliert werden soll. ein, und zwar Goethes Ausspruch: „Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Nicht fraglich ist jedoch, dass das System der Kon- (Beifall bei der SPD – Stefan Müller [Erlan- trollmitteilungen, das Sie im Steuervergünstigungsab- gen] [CDU/CSU]: Das hat Ihr Lehrer wahr- baugesetz beschlossen haben und auch bei der Zins- scheinlich auch gesagt!) abgeltungsteuer beabsichtigen einzuführen, zu einer bürokratischen Belastung par excellence führen wird. Dieser Gesetzentwurf, den Sie hier zum wiederholten Umso unverständlicher ist es mir, dass wir im Zusam- Male vorlegen, ist doch der beste Beweis, dass es Ihnen menhang mit der Zinsabgeltungsteuer wieder über die mit dem Bürokratieabbau nicht besonders ernst ist; Einführung von Kontrollmitteilungen diskutieren; ich denn die wortgleiche Wiedereinbringung Ihrer Initiative nehme an, das ist Ihr Lieblingsthema. Die Kontrollmit- hier bedeutet doch nicht den Abbau von Bürokratie, son- teilungen widersprechen an sich schon der Idee einer dern die Schaffung von mehr Bürokratie. Zumindest die Abgeltungsteuer. Ich hoffe, dass Herr Eichel dies auch Arbeit für die Bundestagsverwaltung nimmt dadurch ei- endlich einsieht; von der Bundesregierung hört man ja nigermaßen zu. fast tagtäglich andere und am laufenden Band auch wi- dersprüchliche Meldungen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Müller, ich finde es schön, dass Sie hier gesagt Ich möchte noch einmal festhalten: Ein Kontrollmit- haben: Mit Lippenbekenntnissen allein ist es nicht getan. teilungssystem für die Erfassung von Erträgen aus Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie sich einmal in der Wertpapieren und Gewinnen wird bei geschätzten Frage des Bürokratieabbaus an Ihre Staatsregierung 300 Millionen Konten und 16 verschiedenen Datenver- wenden; arbeitungssystemen schlicht und ergreifend nicht zu be- wältigen sein. Die Pflicht zur Versendung von solchen (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Tun Sie Mitteilungen der Banken an die Finanzämter wird die doch was!) 2436 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Florian Pronold (A) denn kein anderes Land hat so viele Gesetze, Verordnun- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist ein (C) gen und Ausführungsbestimmungen wie das Bundesland unglaublicher Vorhalt, Herr Kollege!) Bayern, keine Staatsregierung ist so groß, üppig und überdimensioniert wie die in Bayern. Wenn Sie Ihre Deshalb wird die SPD auch diesmal den Antrag ablehnen. Hausaufgaben gemacht haben und wieder hierher kom- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men, dann reden wir noch einmal über die Frage von DIE GRÜNEN) Lippenbekenntnissen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Birgit Ich schließe die Aussprache. Homburger [FDP]: Ausreden!) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Das Ansinnen der FDP ist aber auch inhaltlich abzu- wurfs auf Drucksache 15/359 an den Finanzausschuss lehnen. Hier wurden einige Beispiele von angeblichen vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Einsparungen gebracht. Ich würde in diesem Zusammen- Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be- hang gern von „Milchmädchenrechnung“ reden, aber schlossen. dann müsste ich mich bei den Milchmädchen entschuldi- gen, dass ich sie in die Nähe der FDP rücke; deswegen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: will ich davon nicht sprechen. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Ich fand sehr interessant, Herr Pinkwart, dass Sie ein und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Märchen als Beispiel angeführt haben, um hier die Frage brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des Bürokratieabbaus zu dokumentieren. Vielleicht ist es von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der auch ein Märchen, dass Sie es mit dem Bürokratieabbau Unternehmensfinanzierung (Kleinunternehmer- ernst meinen; denn in Wirklichkeit haben Sie die Rege- förderungsgesetz) lung, die Sie jetzt herausnehmen wollen, selber 1996 mit – Drucksache 15/537 – in dieses Gesetz hineingestimmt. Es ist schon ein biss- Überweisungsvorschlag: chen merkwürdig, wie Sie hier vorgehen. Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Es wurden noch weitere Argumente von meinen Vor- Ausschuss für Tourismus rednerinnen und Vorrednern, auch von Herrn Meister aus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO (D) (B) der CDU/CSU-Fraktion, angesprochen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre NEN]: Das war Herr Seiffert!) keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Entschuldigung. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für den Antrag- steller hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von der (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist keine Be- SPD-Fraktion. leidigung für mich!) Es wurde die Relevanz der Umsatzsteuer aufgrund ihres Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Volumens angesprochen und die Frage gestellt, welche Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Steuerausfälle und Zinsausfälle zumindest vorüberge- gen! Da ich beginnen darf, möchte ich Ihnen am Anfang hend eintreten würden, wenn man auf eine vierteljähr- unser Kleinunternehmerförderungsgesetz kurz erläu- liche Abrechnung umstellen würde. Auch die Bundes- tern. Vorhin schimmerte durch, dass unsere Gesetze länder sind sich, zumindest bezogen auf das Jahr 2000, kompliziert seien und keiner mehr die Steuergesetze ver- einig, dass keinerlei Notwendigkeit besteht, von der jet- stehen würde. zigen Regelung abzuweichen. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Deshalb macht ihr (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) jetzt eine Ausnahme!) Letzter Punkt. Für mich ist entscheidend – das hat Daher möchte ich Ihnen die neuen Regelungen kurz dar- auch die Kollegin Westrich angesprochen –, was der legen. Bundesrechnungshof zu der Frage der effektiveren Umsatzsteuerkontrolle und zur Betrugsbekämpfung so- Ziel unseres Gesetzes ist – wie von Ihnen allen ver- wie zur Feststellung von Unregelmäßigkeiten im Falle langt; wir haben es vorher schon erkannt und viel in die- von Unternehmensneugründungen, die von monatlichen ser Richtung getan – Abgaben weitgehend ausgenommen sind, sagt. Manch- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das sehen die mal habe ich bei der FDP den Verdacht, dass unter dem Bürger aber anders!) Logo Bürokratieabbau ein Etikettenschwindel erfolgt. Wo bei Ihnen Bürokratieabbau draufsteht, stecken sehr der Bürokratieabbau. Das ist vor allen Dingen für oft Forderungen nach Maßnahmen dahinter, die Steuer- Kleinunternehmen sehr wünschenswert. Deswegen ha- hinterziehungen erleichtern können. ben wir dieses Thema angepackt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2437

Ingrid Arndt-Brauer (A) Schon in der Koalitionsvereinbarung haben wir fest- nehmen zur Verfügung steht, sich die Eigenkapitalbasis (C) gestellt, dass der Mittelstand unnötige Bürokratie zu tra- der Banken verbessert und dadurch auch eine bessere gen hat; Refinanzierung der Unternehmen zu gewährleisten ist. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Damit werden wir den Nachteil beseitigen, dass diese Zweckgesellschaften, sofern sie überhaupt vorhanden die Eigenkapitalbasis vor allen Dingen bei Existenzgrün- waren, für die auf die Fremdmittel zu zahlenden Entgelte dern und Kleinunternehmen muss gestärkt werden. Das Dauerschuldzinsen zahlen mussten. Dies wird künftig ist ein Ziel, das wir mit diesem Gesetz erreichen werden. nicht mehr der Fall sein. Indem sie wie Banken behan- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ delt werden, werden diese Zweckgesellschaften zuguns- DIE GRÜNEN) ten der kleinen Unternehmen und der gewerblichen Be- triebe entscheidende Impulse auslösen können. Bürokratie – das wissen wir alle – ist in einem gewissen Umfang notwendig und unerlässlich; aber zu viel ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schädlich. Deswegen versuchen wir ein Mittelmaß zu DIE GRÜNEN) finden. Umgehungs- und Missbrauchsmöglichkeiten, die wir Die wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit ist na- in der Steuergesetzgebung häufig zu erwarten haben, türlich von den Rahmenbedingungen abhängig. Des- werden wir dadurch vermeiden, dass der begünstigte Ge- halb müssen wir schauen, dass wir die Rahmenbedin- werbebetrieb nachweisen muss, dass die übertragenen gungen – in diesem Fall die Aufzeichnungs- und Forderungen oder Kreditrisiken den im Gesetzentwurf Erklärungspflichten der Unternehmen – verbessern. Bei genannten Anforderungen entsprechen. Das heißt, es kleinen Unternehmen ist es deswegen wünschenswert, darf nur das Kapital angegeben werden, das ausgeliehen dass sie ihre Erklärungen dem Finanzamt gegenüber wird; andere betriebliche Transaktionen werden in der ohne Steuerberater machen. Das ist erstens billiger und Form nicht berücksichtigt. zweitens weniger aufwendig. Deswegen werden in Zu- kunft die kleinen Unternehmen ihr Betriebsergebnis dar- Das Ganze hat natürlich finanzielle Auswirkungen. legen, ihre Entnahmen aufzeichnen und dann die Be- Wenn wir Kleinunternehmen fördern wollen, geht es triebsausgaben pauschal abziehen. Das bedeutet weniger nicht ohne Geld. Im Jahr 2003 wird der Bund Steuermin- Aufzeichnungspflichten und ein vereinfachtes System, dereinnahmen in Höhe von 264 Millionen Euro zu ver- in dem kein Steuerberater mehr notwendig ist. zeichnen haben; bis zum Jahr 2006 wird sich dies auf bis zu 390 Millionen Euro aufbauen. Das sollte uns dies (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aber wert sein; denn wir wollen im Rahmen unseres DIE GRÜNEN) (B) Hartz-Konzepts die kleinen Unternehmen fördern und (D) Dieses erste Gesetzespaket ist ein Einstieg und soll an ihnen helfen, nach und nach zu größeren Unternehmen unser Hartz-Konzept anschließen. Es soll vor allen Din- zu werden. Diese Förderung des Mittelstands dürfte in gen Arbeitslose dazu ermutigen, sich mit einer Ich-AG unser aller Interesse sein. selbstständig zu machen. Dabei soll der Schutz der So- Ich danke Ihnen. zialversicherung erhalten bleiben. Diese Vereinfachung wird dazu führen, dass auch ganz normale Arbeitnehmer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in die Selbstständigkeit hineinfinden können. DIE GRÜNEN) Außerdem heben wir die Buchführungspflichtgren- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zen an, was zur Folge hat, dass auch gewerbliche Unter- nehmen sowie Land- und Forstwirte nur eine Einkom- Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach von mensüberschussrechnung erstellen müssen, wenn sie der CDU/CSU-Fraktion. unter den vorgesehenen Grenzen bleiben. Wir haben diese Grenzen massiv angehoben: die Umsatzgrenze von Hans Michelbach (CDU/CSU): bisher 260 000 Euro auf 350 000 Euro, die Wirtschafts- wertgrenze von bisher 20 500 Euro auf 25 000 Euro und Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! die Gewinngrenze von bisher 25 000 auf 30 000 Euro. Es gibt keinen Zweifel, die verfehlte Wirtschafts- und Dies wird bei vielen Betrieben zu weniger Aufwand füh- Finanzpolitik von Rot-Grün hat uns in die schwerste ren, weil sie keine Buchführung im bisherigen Sinne Strukturkrise seit Jahrzehnten geführt. Wie sind die Er- vorhalten müssen. Freiberufler sind davon ohnehin be- gebnisse nach 142 Tagen der zweiten Schröder-Regie- freit. Für die anderen bringt dies ebenfalls Vorteile. rung? An jedem dieser 142 Tage sind 100 Unternehmen pleite gegangen; in diesem kurzen Zeitraum wurden fast Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir zum Zweiten 15 000 Existenzen vernichtet, so viele wie noch nie. die Finanzausstattung der Unternehmen verbessern, in- Damit hat die Schröder-Regierung das Vertrauen des dem wir auch in Deutschland das Instrument der Ver- Mittelstandes gänzlich verspielt. Angesichts dessen hilft briefung einführen. In anderen Ländern ist es schon auch keine neue Ankündigungswelle mehr. Vertrauen heute üblich, dass Kreditinstitute ihre Liquidität verbes- und Glaubwürdigkeit sind weg. Es nützt dann auch sern, indem sie Kreditforderungen und damit verbun- nichts, wenn Sie immer wieder neue Programme auf- dene Risiken verbriefen und mittels Zweckgesellschaf- legen. ten am Kapitalmarkt platzieren. Mit diesem Instrument werden wir dafür sorgen, dass mehr Kapital für Unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 2438 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hans Michelbach (A) An jedem dieser 142 Tage sind 6 000 Menschen ar- Wirtschafts- und Finanzpolitik keinen Ansatz, keine Ge- (C) beitslos geworden. Am Ende dieser 142 Tage waren es samtkonzeption, keine steuerrechtlichen Prinzipien, Hunderttausende mehr als im Oktober 2002. Das ist na- keine ordnungspolitische Leitlinie. Statt ein Gesamtkon- türlich eine so negative Bilanz in der Wirtschafts- und zept für mehr Wachstum und Beschäftigung vorzulegen, Finanzpolitik, wie wir sie noch nicht hatten. streuen Sie mit dem Entwurf eines Kleinunternehmerför- derungsgesetzes den Bürgern sowie natürlich auch de- (Zurufe von der SPD: Doch!) nen, die an eine neue Existenz als Existenzgründer Rot-Grün hat darauf bisher nur eine Antwort: eine neue glauben, Sand in die Augen. Sie haben schon wieder ei- Welle von Steuererhöhungen und immer neue Flick- nen großen Fehler gemacht, indem Sie bei den Existenz- schusterei mit Einzelgesetzen statt eine zielführende Ge- gründern Glaubwürdigkeit verlieren. Sie schaffen kein samtkonzeption für den Mittelstand. Wenn Sie Vertrauen Vertrauen. Das ist das große Problem, das ich auch bei gewinnen wollen, dann müssen Sie mit einem Ge- diesem Gesetzentwurf sehe. samtansatz, mit einer ordnungspolitischen Leitlinie vor- gehen und dürfen nicht mit immer neuen Programmen Auf der einen Seite will sich Rot-Grün für dieses neue und einer Programmvielfalt kommen. Ich erinnere an Ihre Gesetz, das eine Entlastung von sage und schreibe Programmwut und die vielen nutzlosen großen Ankündi- 30 Millionen Euro für Kleinunternehmer vorsieht, gera- gungen, die wir in diesem Hohen Hause schon gehört ha- dezu feiern lassen; auf der anderen Seite wollen SPD ben. Ich zähle einmal auf: JUMP-Programm – Fehlan- und Grüne mit dem Steuervergünstigungsabbauge- zeige –, setz, das morgen im Bundesrat zur Abstimmung steht, bei Bürgern und Unternehmen fast 16 Milliarden Euro (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- abkassieren. Das merkt man doch: 30 Millionen und NEN]: Das war erfolgreich, aber wirklich! 16 Milliarden, das passt wirklich nicht zusammen. Für Keine Ahnung!) wie dumm halten Sie den Mittelstand eigentlich? Der kann doch 30 Millionen und 16 Milliarden Euro deutlich Job-AQTIV-Programm – Fehlanzeige; fünf Millionen unterscheiden. Damit entspricht die angekündigte Ent- Arbeitslose –, Ich-AG-Programm, die Wunderwaffe, lastung nicht einmal 2 Prozent des Volumens des Steuer- „Kapital für Arbeit“-Programm, „Masterplan Bürokra- vergünstigungsabbaugesetzes. tieabbau“-Programm, Förderbankneustrukturierungspro- gramm. Morgen werden wir sicherlich in großen Tönen Wenn es um das vorliegende Gesetz geht, müssen Sie von dem Bundeskanzler-Kreditprogramm hören. sich auch Beispiele anschauen, die aufgrund dieser Be- Heute geht es um die neue Programmwunderwaffe, stimmungen gebildet werden. das Kleinunternehmerförderungsgesetz, das weit hinter Beispiel eins. Im Hinblick auf die Betriebsausgaben- (B) den Notwendigkeiten für den Mittelstand zurückbleibt. pauschalierung sollten Sie sich einmal fragen, wie viele (D) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Selbstständige überhaupt eine Umsatzrendite von NEN]: Sie mäkeln an allem herum!) 50 Prozent aufweisen. Damit können wir sicherlich Entbürokratisierung errei- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) chen, aber auch hierbei gibt es wieder Halbherzigkeit Ehrlich gesagt, ich kenne niemanden. Meine Damen und und insbesondere Etikettenschwindel. Herren von Rot-Grün, ich sage Ihnen: 99,99 Prozent al- Das alles ist ein praxisfernes Nullsummenspiel für ler mittelständischen Unternehmen weisen nach meinem den Mittelstand. Herr Clement macht gewissermaßen je- Dafürhalten nur eine Umsatzrendite von 1 bis 10 Prozent den Tag neue Lockvogelangebote, aber es gibt keinen aus. Wo sollen denn da die 50 Prozent herkommen, die neuen Umsatz beim Mittelstand. Neue Lockvogelange- Sie als Parameter ansetzen? Wie kommen Sie eigentlich bote, aber nichts dahinter! Für den Mittelständler zählt dazu, dass ein Selbstständiger 50 Prozent Gewinn hat? aber nun einmal, wenn er etwas in der Kasse hat. Nur Sie haben nicht die geringste Ahnung davon, wie es in dann kann er seine Mitarbeiter bezahlen. der mittelständischen Wirtschaft bzw. bei einem Mittel- ständler zugeht. Deswegen ist Ihr Ansatz völlig verfehlt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Beispiel zwei: Fraglich ist auch, wie der pauschale Betriebsausgabenabzug zu einem Abbau von Bürokra- Von diesen undurchdachten Ankündigungsprogram- tie führen soll. Bei einem Teil der Gewerbetreibenden men und Scheinreformen von Rot-Grün hat der Mittel- besteht schon heute keine Buchführungspflicht. Diese stand wirklich genug. Machen Sie einen Kurswechsel! sind lediglich verpflichtet, den Überschuss der Einnah- Wir brauchen den Kurswechsel. Kreativ und zielführend men gegenüber den Ausgaben aufzuschreiben. Das kann sind Sie bisher immer nur bei der Etikettierung. Nir- zur Not handschriftlich auf einem Blatt Papier erfolgen. gendwo ein Gesamtkonzept, nur Etikettenschwindel, nur Die Grenze, ab der eine Pflicht zur Buchführung besteht, Halbherzigkeiten und Unzulänglichkeiten! müsste, wenn Sie wirklich eine Entbürokratisierung auf Mit dem Entwurf eines Kleinunternehmerförderungs- breiter Front wollen, bei einem Umsatz von mindestens gesetzes werden – wir haben es gerade gehört – weder 500 000 Euro und einem Gewinn von 50 000 Euro fest- wesentliche Investitionsanreize noch Arbeitsplätze noch gelegt werden. Wenn Sie in diesem Zusammenhang 30, Wachstum in ausreichendem Maß geschaffen. Der Mit- 25 oder 20 Prozent der Mittelständler erfassen wollen telstand braucht zielführende Reformen statt immer und nicht nur 0,1 Prozent, dann müssen Sie springen und mehr fragwürdiger Programme. Rot-Grün hat in der für den Mittelstand etwas tun. Sie dürfen also nicht nur Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2439

Hans Michelbach (A) den Teller mit der Wurst zeigen und diesen dann sofort Weiterführung bzw. – auch das kann man sagen – eine (C) zurückziehen und schließlich Überregulierungen und Verbesserung. weiteren Unsinn schaffen. Herr Michelbach, Sie haben gerade einige Zahlen ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nannt. Wenn Sie sich das, was zwischen der SPD und Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Grünen vereinbart worden ist, genauer anschauen NEN], zu Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP] ge- würden, dann wüssten Sie, dass wir im nächsten Jahr mit wandt: Sie haben wegen der Wurst ge- den 35 000 Euro, die wir bereits vereinbart haben, von klatscht!) dem, was Sie gerade gefordert haben, nämlich einen Schwellenwert von 50 000 Euro, gar nicht so weit ent- Man erkennt: Aufgrund zu niedriger Schwellenwerte fernt sein werden. Wir bewegen uns also in genau diese gibt es für die größte Zahl der Mittelstandsunternehmen Richtung und erfüllen an dieser Stelle somit auch Ihre weder den hoch gepriesenen Entbürokratisierungs- noch Forderungen. einen Vereinfachungseffekt. Beispiel drei: Der Umsatzschwellenwert von Das Kleinunternehmerförderungsgesetz ist ein weite- 17 500 Euro pro Jahr müsste auf 50 000 Euro erhöht wer- rer Meilenstein in den Bemühungen, die Rahmenbedin- den, sollte das Gesetz einen Sinn machen. Nach Einschät- gungen der kleinen und mittelgroßen Betriebe in zung der Bundesregierung verursacht die geplante Neu- Deutschland zu verbessern. Dies ist ja nicht die erste regelung Steuerausfälle von etwa 30 Millionen Euro. Maßnahme, die die rot-grüne Bundesregierung durch- Angesichts eines so geringen Finanzvolumens scheint die führt. Ich darf an eine wichtige Maßnahme dieser Bun- Bundesregierung wohl nicht an ernsthaften Reformen in- desregierung aus der letzten Wahlperiode erinnern: die teressiert zu sein. Angesichts der Tatsache, dass Sie Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommen- Kleinunternehmern bis zu einem Umsatzschwellenwert steuer bei Personengesellschaften. von 17 500 Euro Versprechungen machen, muss ich Sie Dies war, gerade für dieses Segment von Unterneh- fragen: Denken Sie inzwischen bei den Wörtern „Klein- merinnen und Unternehmern, ein großer Wurf. Sie war unternehmer“ bzw. „Mittelständler“ an Almosenempfän- eine Verbesserung für das Heer von Personengesell- ger? Es ist doch eine Schande, wenn einem Existenzgrün- schaften gegenüber den Kapitalgesellschaften. Auch darf der aufgrund dieses Gesetzes gesagt wird, er sei zwar ein man nicht die beiden wirklich großen Bemühungen und Kleinunternehmer, aber sein Umsatz dürfe 17 500 Euro Erfolge dieser Bundesregierung aus der letzten Wahlpe- nicht übersteigen, damit er Ihrem Gesetz zur Entbürokra- riode vergessen. Dies war das bisher größte Förderpro- tisierung gerecht werden kann. Das sind doch Widersprü- gramm für den Mittelstand, das in Deutschland durchge- che, die deutlich gemacht werden müssen. führt wurde: die große Steuerreform. (B) (D) Es ist Zeit für einen klaren Kurswechsel. Wir von der (Lachen des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/ Union wollen diesen Kurswechsel erzwingen. Dazu wird CSU]) eine nationale Kraftanstrengung der ökonomischen Ver- nunft benötigt. Dazu braucht es insbesondere eine klare – Ja, Herr Schauerte, wenn Sie sich an den Kopf fassen, Mittelstandspolitik mit einem Gesamtkonzept und nicht dann muss ich Sie wohl einmal an Ihre Steuersätze aus Ihre Programmwut. Es liegt zwar ein Ansatz in die rich- dem Jahre 1998 erinnern: Sie waren bei einem Spitzen- tige Richtung vor; aber er bedeutet wieder nur Halbher- steuersatz von 53 Prozent. Wir sind bei 48,5 Prozent. zigkeit für den Mittelstand. Das werfen wir Ihnen bei Der Eingangssteuersatz lag bei 26 Prozent, heute liegt er diesem Gesetzentwurf vor. bei 19,9 Prozent. Wir werden den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent und den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent Herzlichen Dank. senken. Das ist eine wirkliche Steuerreform, die unterm (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Strich bis zum Jahre 2006 zu einer Steuerersparnis in Höhe von 62 Milliarden Euro führen wird. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das hätten Sie schon 1996 haben können!) Das Wort hat jetzt der Kollege Hubert Ulrich vom Bündnis 90/Die Grünen. Das ist eine Leistung, die die frühere liberal-konserva- tive Koalition nie zu Wege gebracht hat. Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sowie bei Abgeordneten der SPD – Elke Herren! Wir sprechen heute in erster Lesung über den Wülfing [CDU/CSU]: Bedanken Sie sich bei Entwurf eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes. Herrn Lafontaine, dass Sie das nicht schon seit Der Hintergrund für diese Maßnahme ist die schlichte 1996 haben konnten!) Notwendigkeit, zum einen im Rahmen der Maßnahme Heute geht es auch um Bürokratieabbau. Auch hier der Ich-AG und all dessen, was damit zusammenhängt, muss ich mir zunächst einmal folgende Frage stellen: Existenzgründungen in Deutschland und zum anderen Wer hat denn die ganze Bürokratie, mit der wir uns heute den bestehenden Klein- und vor allen Dingen Kleinstbe- herumschlagen, aufgebaut? trieben das Bestehen auf dem Markt zu erleichtern. Das Kleinunternehmerförderungsgesetz basiert auf der be- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE reits bestehenden Kleinunternehmerregelung. Es ist eine GRÜNEN]: Genau!) 2440 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hubert Ulrich (A) Es war doch 16 Jahre lang die CDU und sage und Aber das „Handelsblatt“ vom 20. Januar dieses Jahres (C) schreibe 29 Jahre lang die FDP! Heute tut die FDP so, hat, glaube ich, über die Wirtschaftskompetenz des als hätte sie damit überhaupt nichts zu tun und als sei sie Herrn Merz und der gesamten CDU/CSU-Fraktion ein die Wirtschaftspartei, die Bürokratie abbaut. Sie haben gutes und treffendes Urteil abgegeben. Im „Handels- sie aber aufgebaut. Wir können den Schutt jetzt wieder blatt“ hieß es nämlich, dass im Jahre 2003 ein neuer In- wegräumen. So sieht es doch real aus. solvenzrekord Deutschland erschüttern werde. Doch eine Megapleite werde in den Statistiken fehlen: der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirtschaftspolitische Bankrott der CDU/CSU. Diese und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU Aussage trifft den Nagel auf den Kopf. und der FDP: Oh, oh!) Vielen Dank. An dieser Stelle muss ich einmal ein Lob für Bundes- wirtschaftsminister Clement loswerden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Oh, der hat doch Wer regiert denn? – Das war ganz knapp dane- noch gar nichts getan!) ben!) – Herr Clement hat nichts getan? Er setzt an genau dem Segment unserer Wirtschaft an, an dem man ansetzen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: muss und in dem sich 70 Prozent unserer Arbeitsplätze befinden: im Mittelstand. Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele von der FDP-Fraktion. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das hätte er doch in Nordrhein-Westfalen machen können!) Carl-Ludwig Thiele (FDP): Dort versucht er – er tut dies gegen große Widerstände, was man an dieser Stelle auch einmal honorieren sollte –, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Maßnahmen durchzusetzen, die Sie, meine Damen und Kolleginnen und Kollegen! Herr Ulrich, ich glaube Herren von der Opposition, in Ihrer eigenen Regierungs- schon, dass die derzeitige wirtschaftliche Situation nicht zeit nie durchgesetzt hätten, und er wird es auch schaf- ausschließlich auf das Verhalten von Herrn Merz zurück- fen. zuführen sein kann, denn noch ist die Regierungsverant- wortung nicht übernommen. Noch liegt sie bei Ihnen (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Oh, oh! Warte und das war bedauerlicherweise in den letzten vier Jah- erst einmal ab!) ren auch schon der Fall. Das muss schnellstmöglich ge- ändert werden, damit es mit unserem Land wieder auf- (B) Ich möchte jetzt gar nicht auf alle Einzelheiten eingehen, wärts geht. (D) da ich dafür nicht genug Zeit habe. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das Kleinunternehmerförderungsgesetz setzt an zwei zentralen Punkten an. Der erste Punkt ist der Bürokratie- Mit diesem Gesetz setzt Rot-Grün die Flickschusterei abbau. Ich möchte jetzt nicht noch einmal auf die Einzel- am deutschen Steuerrecht fort. Morgen will der Kanz- heiten eingehen, da sie bereits dargestellt wurden. Der ler seine Regierungserklärung abgeben und einschnei- zweite wichtige Punkt ist die Verbesserung von Kredit- dende Reformen verkünden. Die Hoffnungen – das darf möglichkeiten. Die Verbriefung, die jetzt von der rot- man in diesem Zusammenhang nicht verkennen – auf grünen Koalition umgesetzt wird, ist, gerade mit Blick durchgreifende Reformen beziehen sich auch und gerade auf Basel II und die damit zusammenhängenden Kredit- auf die Steuerpolitik. Deshalb darf es gerade in der Steu- schwierigkeiten der kleinen und mittelgroßen Betriebe, erpolitik nicht mit einem Kleinklein weitergehen. Folg- ein sehr wichtiger und richtiger Schritt. lich ist dieses Gesetz ein viel zu kurzer Wurf. Was ich allerdings – das sage ich ganz offen – an die- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ser Stelle nicht verstehen kann, ist der Widerstand der CDU und insbesondere der Widerstand des Herrn Merz. Wir brauchen nicht zusätzliche steuerliche Ausnah- Der Presse habe ich entnommen, dass sich Herr Merz men und Sonderregelungen. Wir dürfen nicht in diesem über diese Maßnahme ein bisschen lustig macht, indem Kleinklein weitermachen. Wir brauchen einen größeren er sagt, dass sie nichts bringen wird, da sie nur für die Wurf, einen größeren Ansatz und eine Reform, die den ganz kleinen Betriebe gelten wird. Aber diese Verniedli- Namen Steuerreform tatsächlich verdient. Die Steige- chung verdeutlicht ja die Denkweise des Herrn Merz rung in der Steuerpolitik lautet doch: kompliziert, kom- oder vielleicht sogar das fehlende Gefühl für die Klein- plizierter, rot-grün. betriebe. Man muss sich einfach klar machen: Aus Mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz haben Sie Kleinbetrieben werden, zumindest teilweise, irgendwann das Vertrauen der Bürger in eine planbare und verlässli- einmal Großbetriebe. che Steuerpolitik grundlegend und nachhaltig geschä- (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Oder sie digt. Wir brauchen eine grundlegende Steuerreform und gehen in die Insolvenz!) deshalb setzt sich die FDP nach wie vor für ein einfache- res und gerechteres Steuersystem mit weniger Ausnah- Wenn ich das nicht einsehe und diese Betriebe nicht för- men und erheblicher Senkung der Steuersätze ein. Nach dere, dann habe ich in dieser Wirtschaft einiges nicht Vorstellung der FDP soll es nur noch eine Einkunftsart verstanden. geben. Der Eingangssteuersatz soll 15 Prozent betragen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2441

Carl-Ludwig Thiele (A) dann folgen 25 Prozent und der Spitzensteuersatz von gesetzt werden. Das würde den Existenzgründern (C) 35 Prozent. erheblich mehr helfen als dieses Gesetz. Am Tag vor der vom Bundeskanzler selbst so apostro- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten phierten Ruckrede, von der ein Aufbruchsignal für unser der CDU/CSU) Land ausgehen soll, erleben wir hier wieder klassische Ihnen ist ja auch bewusst, dass Sie mit dieser neuen klein-kleine Politik. steuerlichen Ausnahmebestimmung zu Missbrauch (Beifall der Abg. Cornelia Pieper [FDP]) förmlich einladen. Gleichzeitig mit der Schaffung dieser steuerlichen Ausnahme erklären Sie, dass der Gesamtbe- Es erstaunt schon sehr, dass einen Tag vor der Befassung trag der Einkünfte 35 000 Euro und im Falle der Zusam- des Bundesrates mit dem Steuervergünstigungsabbauge- menveranlagung 70 000 Euro nicht übersteigen soll. In setz von Rot-Grün nunmehr ein neues Steuervergünsti- Ihrer Begründung weisen Sie zutreffend darauf hin, dass gungsgesetz vorgelegt wird, in dem neue Vergünstigun- die Begrenzung dazu dienen soll, unerwünschte Gestal- gen enthalten sind. Wahrscheinlich werden diese tungen durch die Verlagerung von Einkünften zu vermei- Vergünstigungen, sollten sie je Gesetz werden, in einem den. Das wird Ihnen aber nur begrenzt gelingen, weil nächsten Steuervergünstigungsabbaugesetz von Ihnen hier wirklich ein Steuerschlupfloch geschaffen wird. wieder gestrichen. Sie werden noch erleben, wie Steuerfindige dieses (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schlupfloch nutzen werden. NEN]: So ein Quark!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auf der einen Seite wollen Sie die Bürger und die Steu- Trotz des Versuchs, die Missbrauchsmöglichkeiten, erpflichtigen durch das Steuervergünstigungsabbauge- die sich natürlich durch diese neue Ausnahmeregelung setz mit mehr als 15 000 Millionen Euro pro Jahr zusätz- ergeben, wieder einzugrenzen, schaffen Sie genau das lich belasten. Gegenteil dessen, was Sie an anderer Stelle fordern. Sie (Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: verkomplizieren unser Steuerrecht, statt es zu vereinfa- Wie bitte?) chen. Auch an dieser Stelle doktern Sie ausschließlich an Symptomen herum, anstatt eine mutige und klare Re- – 15 000 Millionen Euro, Frau Staatssekretärin, sind form zu beschließen. Wir brauchen mehr Mut und eine 15 Milliarden Euro. andere Denkweise der Regierung als die ausschließlich (Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: fiskalische Sichtweise des Finanzministers. Ich habe „Billionen“ verstanden!) Es ist kennzeichnend, dass Rot-Grün in der Debatte (B) –Nein, das war ein Verständnisfehler. – Auf der anderen zu diesem wie auch zum vorigen Tagesordnungspunkt (D) Seite versuchen Sie, mit diesem Gesetz öffentlich den ausschließlich von einem Stabilitätspakt spricht. Es han- Eindruck zu erwecken, als käme nun endlich der steuer- delt sich aber um einen Stabilitäts- und Wachstums- politische Durchbruch für kleine Unternehmen in un- pakt. serem Lande. Das ist genauso, als wenn Sie auf einen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bauernhof gehen und ein Schwein wegnehmen und an- schließend derjenige, dem Sie vorher das Schwein ge- Dass Sie mit Ihrer Politik das Wachstum in Deutschland nommen haben, noch Danke schön dafür sagen soll, dass so abwürgen, ist ein Zeichen für Hoffnungslosigkeit. Sie ihm ein Kotelett zurückgeben. Das kann nicht funk- Dem werden wir entschieden entgegentreten. tionieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Der Witz ist aber auch uralt!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Ja, aber es ist leider Ihre Politik, Frau Scheel. Inso- Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä- fern ist das leider gar kein Witz, sondern es ist die Rea- rin Dr. Barbara Hendricks. lität. Es zeigt, wie Rot-Grün Steuerpolitik betreibt. Diese Realität werden wir weiter kritisieren und wollen Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim wir verändern. Bundesminister der Finanzen: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für Die Steuerpflicht ist an dieser Stelle auch nicht das die Bundesregierung zählt die Verbesserung der Förde- erste Problem; denn die meisten Existenzgründer haben rung von Kleinunternehmern und Existenzgründern zunächst erheblich mehr Kosten als Einnahmen. Insofern zu den Prioritäten, um Wachstum und Beschäftigung zu bezweifle ich auch, dass der errechnete steuerliche Aus- sichern und zu stärken. Mit diesem Gesetz leisten wir fall für Existenzgründer tatsächlich in der von Rot-Grün dazu einen Beitrag, der – das sage ich besonders in Rich- vorgesehenen Größenordnung eintritt. tung der Opposition – nicht unterschätzt werden sollte. Wir verbessern einerseits die Finanzierungsbedingun- Man muss sich natürlich fragen: Nutzt dieses Gesetz gen, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, oder ist es lediglich weiße Salbe? Sind die Steuern tat- und stärken die Eigenkapitalbasis von Existenzgründern. sächlich das Problem oder ist es nicht vielmehr die Büro- Andererseits bauen wir unnötige Bürokratie ab und sor- kratie? Wir brauchen Bürokratieabbau, dort muss an- gen für eine spürbare Vereinfachung des Steuerrechts. 2442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Mit diesem Gesetz werden auch die ersten Teile des Ich-AG unkomplizierte, leicht zu handhabende Regelun- (C) von der Bundesregierung am 26. Februar dieses Jahres gen benötigt. So fühlen sich gerade Existenzgründer beschlossenen Sofortprogramms zum Bürokratieabbau vielfach dadurch belastet, dass nach den geltenden Be- umgesetzt. Die Bedeutung dieses Sofortprogramms stimmungen des Steuerrechts bereits bei geringen Ein- brauche ich eigentlich nicht zu betonen. Es wurde hier nahmen bzw. Umsätzen umfassende Aufzeichnungs- mehrmals davon gesprochen, es müsse uns ein großer und Erklärungspflichten bestehen. Schon zur Erfül- Wurf gelingen. Ich weiß nicht, was genau man sich da- lung der elementaren Buchführungspflichten muss viel- runter vorstellen soll. Bei Hunden spricht man bei sieben fach die Hilfe von Steuerberatern hinzugezogen werden. Welpen auf einmal von einem großen Wurf. Allerdings Beim bisher geltenden Recht bezüglich der Buchfüh- muss auch bei einem solchen Wurf jeder dieser Welpen rungspflichten haben wir in den letzten Jahren nichts ge- für sich lebensfähig sein. So gibt es auch im Rahmen des ändert. Wir verändern es erst jetzt, und zwar zum Positi- Sofortprogramms einzelne Projekte, die in dieses Pro- ven. Die bisher bestehenden Regelungen sind auf Ihre gramm hineinpassen. Dazu zählt auch das Programm Verantwortung zurückzuführen. Durch sie entstehen zum Bürokratieabbau. Kosten, die die zumeist ohnehin geringen Gewinne der Überflüssige Bürokratie beeinträchtigt gravierend die Existenzgründer zusätzlich schmälern. Möglichkeit zur Entfaltung produktiver oder innovativer Das gilt in gleichem Maße natürlich auch für eine Tätigkeiten. Umfang und Komplexität rechtlicher Rege- Vielzahl bereits bestehender Klein- und Kleinstunterneh- lungen sowie ihre häufigen Änderungen erschweren es men, für die deshalb ebenfalls ein Bedarf an Vereinfa- gerade den kleinen Unternehmen, den Überblick über chungen besteht. Ich spreche hier ausdrücklich von die vielfältigen Rechte und Pflichten zu behalten sowie Klein- und Kleinstunternehmen und wende mich an den den damit verbundenen Anforderungen gerecht zu wer- gerade telefonierenden Kollegen Michelbach. Es geht den. Das Gleiche gilt in besonderem Maße für Existenz- hier nicht um das, was wir im eigentlichen Sinne unter gründer, die ihre Aufmerksamkeit und Energie in der Mittelstand verstehen. Der Mittelstand in der Bundesre- Startphase ganz anderen Dingen widmen sollten und publik Deutschland ist groß und vielfältig; die Definitio- wollen. nen sind unterschiedlich. Es geht stattdessen um die Deshalb ist die rasche Umsetzung unseres Sofortpro- Gründung von Klein- und Kleinstunternehmen, aus de- gramms zum Bürokratieabbau so wichtig. Die Bürokratie nen, wie wir hoffen, mit unserer gemeinsamen Unter- ist – darauf hat schon der Kollege Ulrich hingewiesen – stützung größere Unternehmen werden können. in der Bundesrepublik Deutschland schließlich nicht erst In dem Gesetzentwurf haben wir deshalb eine verein- in den letzten vier Jahren, fachte Gewinnermittlungsmöglichkeit für Existenz- (B) (Zurufe von der CDU/CSU) gründer und Kleinunternehmer verankert. Nach der Ver- (D) einfachungsregelung darf der Kleinunternehmer die sondern über Jahrzehnte hinweg aufgebaut worden. Wir Hälfte seiner Betriebseinnahmen pauschal als Be- haben über diese lange Zeit gemeinsam zu deren Aufbau triebsausgaben abziehen. Selbstverständlich gehen wir beigetragen, deswegen sollten Sie uns nun auch bei ih- dabei von der Annahme aus, dass dieser Kleinstunter- rem Abbau helfen. Es sollte sich niemand einen schlan- nehmer seinen Umsatz letztlich durch seine eigene Ar- ken Fuß machen. Es darf niemand behaupten, auf der beitskraft und ohne weitere größere Kosten erzielt. Nur Ebene von Bund und Ländern hätten nur bestimmte dann ist das natürlich interessant. Sobald er Kosten in Mehrheiten zum Aufbau beigetragen und andere Mehr- größerem Umfang hat, ist er natürlich an Abschreibun- heiten nicht. gen und am Vorsteuerabzug interessiert und wird selbst- verständlich für die normale Besteuerung optieren. Durch das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistun- gen am Arbeitsmarkt, in dem die ersten Teile des so ge- Es geht um diejenigen – dies sage ich ein wenig nannten Hartz-Konzeptes umgesetzt werden, sollen untechnisch –, die für sich allein herumpuzzeln und mit Existenzgründer besonders gefördert werden. Es wurden der Arbeit beginnen, aus der, wie wir alle hoffen, einmal deshalb durch Änderungen im Dritten, Vierten und mehr wird. Für die Zeit, in der sie damit beginnen, sich mit Sechsten Buch Sozialgesetzbuch gezielt Anreize ge- ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten am Markt zu behaup- schaffen, durch die Arbeitslose verstärkt zur Gründung ten, wollen wir ihnen diese Erleichterung geben. Einen selbstständiger Existenzen im Rahmen der so genannten größeren Anspruch verbinden wir damit ja gar nicht. Wir Ich-AG angeregt werden sollen. So wird der Übergang sagen nicht, dass das eine Mittelstandsförderung ist. Das in die Selbstständigkeit zeitlich befristet sozial flankiert, hat niemand von uns behauptet. Es geht – ich sage es noch indem die Gründerinnen und Gründer einer solchen Ich- einmal – darum, diejenigen, die allein aufgrund ihrer AG in den Schutz der Sozialversicherung einbezogen Fähigkeiten und Fertigkeiten anfangen wollen, zu arbei- bleiben und Fördermittel bekommen. Zudem wird der ten, in der Anfangsphase von bürokratischen Hemmnis- Schritt in die Selbstständigkeit durch den so genannten sen zu befreien. Die vereinfachte Gewinnermittlung, bei Existenzgründungszuschuss gefördert. der pauschal angenommen wird, dass die Hälfte des Um- satzes Kosten sind, ist selbstverständlich eine große Er- Zur weiteren Förderung dieser neuen Form der leichterung. Selbstständigkeit sind darüber hinaus Vereinfachungen des Steuerrechts erforderlich. Dazu haben wir heute Vor- Das geht natürlich auch mit der Umsatzsteuerrege- schläge vorgelegt. Nach den Empfehlungen der Hartz- lung, die im geltenden Recht eine Umsatzsteuerbefrei- Kommission werden für die steuerliche Behandlung der ung bei einem Umsatz von bis zu 16 600 Euro vorsieht, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2443

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) einher. Kollege Michelbach, daher kommt auch die Bundesrepublik Deutschland nicht statt, sondern kam (C) Grenze. Wir sprechen von 17 500 Euro und heben damit ausschließlich im Ausland zur Anwendung. Wir sorgen die Grenze nach dem geltenden Recht etwas an. Das dür- dafür, dass die Zweckgesellschaften bei der Gewerbe- fen wir ohne die Genehmigung der EU. Wir dürfen aber steuer mit Banken gleichgestellt werden. Damit wird keine Umsatzsteuerbefreiung in jeder denkbaren Höhe Verbriefung zum ersten Mal in der Bundesrepublik durchführen. Das müssten wir uns von der EU-Kommis- Deutschland stattfinden. Lediglich die Kreditanstalt für sion genehmigen lassen. Wiederaufbau hat mit diesem Instrument schon seit eini- gen Jahren Erfahrungen sammeln können. Wirklich bürokratieentlastend und helfend ist das nur, wenn die vereinfachte Gewinnermittlung mit der Um- Die Verbriefung führt zu einer Eigenkapitalstärkung satzsteuerfreiheit einhergeht. Deshalb orientieren wir der in der Bundesrepublik Deutschland tätigen Banken uns auch an den Freigrenzen im Umsatzsteuerrecht. Das und infolgedessen zur Möglichkeit der Ausreichung wei- ist also nicht willkürlich. Eine richtige Bürokratieentlas- terer Kredite. Dies wird dem Mittelstand in seiner Ge- tung gibt es natürlich nur, wenn die Umsatzsteuer gar samtheit und nicht nur den Kleinstunternehmen zugute nicht anfällt und die Einkommensbesteuerung sehr ver- kommen. Ich glaube nicht, dass die Kolleginnen und einfacht wird. Wir behaupten nicht, dass dies eine Mit- Kollegen von der Opposition diesen Gesetzentwurf ab- telstandsförderung im engeren Sinne ist. Es geht darum, lehnen werden. Ich bin sicher, dass sie ihm zustimmen diejenigen, die mit der Arbeit beginnen und mit ihren werden. eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten neu am Markt sind, zu stärken. Das ist der entscheidende Punkt. Herzlichen Dank. Es wird immer wieder gesagt, dass es in vielen Län- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dern der Welt eine sehr viel höhere Selbstständigen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) quote als in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Das liegt natürlich daran, dass der Maronenverkäufer oder Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Schuhputzer in Portugal als selbstständig gelten. Sol- Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von che Tätigkeiten gibt es in der Bundesrepublik Deutsch- der CDU/CSU-Fraktion. land gar nicht. Ich will jetzt nicht sagen, dass zukünftig Maronenverkäufer oder Schuhputzer gefördert werden (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Mach uns wach!) sollen. Darum geht es mir wirklich nicht. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ein Schuh- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): putzerförderungsgesetz!) Herzlichen Dank. (B) (D) Wir werden aber mit diesen Ländern verglichen und uns Ich möchte vorweg drei kurze Bemerkungen machen, wird immer wieder vorgehalten, es gäbe dort eine hö- die sich insbesondere an Sie richten, Herr Ulrich. Erste here Selbstständigenquote als in der Bundesrepublik Bemerkung: Wenn Sie unsere Steuerreform, die im Prin- Deutschland. Dabei vergisst man, zu erwähnen, dass es zip richtig war, nicht blockiert hätten, dann hätten wir sich dabei um Menschen handelt, die für sich alleine vier Jahre früher eine Steuerreform mit vernünftigen eine nicht viel Geld bringende Tätigkeit ausüben und Steuersätzen gehabt und alles wäre deutlich besser. gleichwohl als Selbstständige in der Statistik stehen – auch in Südeuropa. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Das war Ich will noch die Anhebung der Buchführungs- der Redebaustein Nr. 1, vielfach einsetzbar!) pflichtgrenzen erwähnen. Herr Kollege Michelbach, Sie haben das eben kritisiert. Immerhin gehen wir von den Zweite Bemerkung: Da Sie von Größenordnungen ge- Grenzen aus, die Sie in Ihrer Gesetzgebungsverantwor- redet haben, möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie es tung gesetzt haben. Wir heben sie an. Auch hier gibt es mit Ihrer Regierungskunst fertig gebracht haben, in zwei eine Erleichterung. Jahren 50 Milliarden Euro an die Großkonzerne dieses Landes zurückzugeben. Die Standardisierung der Einnahmenüberschussrech- nung – das will ich noch sagen – ist von großer Bedeu- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE tung. Auch dies wird nicht nur den an der Wirtschaft GRÜNEN]: Alte Guthaben!) Beteiligten, sondern auch der Finanzverwaltung sehr Damit haben Sie nahezu alle Haushalts- und Finanzpla- helfen. nungen zunichte gemacht. Eine solche Größenordnung Ein Wort noch zur Stärkung der Unternehmensfinan- habe ich mir vorher nicht vorstellen können. Dies ist der zierung: Wir schaffen eine Gewerbesteuererleichterung eigentliche steuerpolitische Skandal der zurückliegen- im Bereich der so genannten Zweckgesellschaften, die den vier Jahre. zum Beispiel eine Verbriefung von Krediten vorneh- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- men. Das ist natürlich ein etwas anderes Feld, das nichts neten der FDP) mit der Kleinstunternehmensförderung im engeren Sinne zu tun hat. Dies ist ein wirklich innovatives Instrument. Dritte Bemerkung: Sie haben dafür geworben, Minister Das erwähne ich deshalb, weil Sie uns immer vorwerfen, Clement einmal zu loben. Ich kenne ihn aus Nordrhein- wir hätten keine Ideen, sondern würden immer nur auf Westfalen sehr gut. Er galt als Mann der 100 Baustellen. alten Pfaden wandeln. Bisher findet Verbriefung in der Freunde von ihm haben darauf hingewiesen, dass es kein 2444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Hartmut Schauerte (A) Richtfest gegeben hat. Kritiker behaupten, dass er bei sei- darf daran erinnern, dass die Ansätze bei der Umsatzsteuer (C) nen 100 Baustellen schon über das Schnurgerüst gestol- in der letzten Legislaturperiode schon deutlich waren. Wir pert ist. Sie werden erleben, dass er über Ankündigungen hatten in der letzten Legislaturperiode 40 000 Euro und im Wesentlichen nicht hinauskommt; denn den Beweis 400 000 Euro beantragt, nicht 30 000 und 350 000 Euro, des Gegenteils ist er bisher schuldig geblieben. wie Sie es jetzt machen. Insoweit haben wir schon in der letzten Legislaturperiode die Richtung vorgegeben. Uns (Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- scheinen diese Grenzen noch zu niedrig zu sein. NEN]: Hartz ist bereits umgesetzt!) Ich sage Ihnen – damit bin ich im Prinzip schon am – Wer hat Ihnen denn das Hartz-Konzept nahe gebracht? Ende meiner Rede –: Dieses Programm wird kein Be- Es müsste eigentlich Karl-Josef-Laumann-Konzept hei- freiungsschlag für den Mittelstand sein. Es wird kein ßen. Wo sind wir denn hier? Ruck durch unser Land gehen, sondern es wird nur (Beifall bei der CDU/CSU) tröpfchenweise dem einen oder anderen helfen können. Im Übrigen ist das, was Hans Michelbach im Einzelnen Das Einzige, was beim Hartz-Konzept funktioniert – wir als Kritik vorgetragen hat, richtig. haben uns gerade die erste Zwischenbilanz von der Bundes- anstalt für Arbeit zeigen lassen –, sind die Minijobs. Offen- Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zum sichtlich berechtigen diese Sie zu den schönsten Hoffnungen. Thema Banken und Mehrwertsteuerregelung für die As- Ihr wärt doch kein Jota weitergekommen, wenn wir es euch set-Backed-Security-Finanzierung machen. Das ist eine nicht vorgemacht hätten. Den Unsinn mit den 400-Euro- überfällige, notwendige Sache, die wir nur begrüßen Minijobs, dem vollen Sozialbeitragssatz auf Einkommen bis können. Das zeigt wieder einmal, dass wir in vielen Fäl- 800 Euro und das Scheinselbstständigengesetz habt ihr end- len inländische Produktionen nicht halten können, weil lich wieder rückgängig gemacht. An dieser Stelle kann es unser Steuerrecht nicht so flexibel ist wie in den Ländern also besser werden. Herzlichen Glückwunsch! um uns herum. Das ist also eine Hilfe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich bin auch dankbar, dass wir von dem Weg ab sind, neten der FDP) dass allein die IKB das machen soll. Das ist eigentlich nicht die zentrale Aufgabe der IKB, sondern das ist die Auf die aktuelle katastrophale Lage antworten Sie mit normale Aufgabe des deutschen Kreditgewerbes. Es diesem Programm. Wenn jemand Angst vor der Lösung muss steuerlich in die Lage versetzt werden, dies unter schwieriger Aufgaben hat, dann beschäftigt er sich mit europäischen Wettbewerbsbedingungen zu organisieren. den kleinen Aufgaben. Genau das ist es, was Sie hier Der Schritt kann also nur breite Zustimmung finden. machen. Sie trauen sich nicht an die wirklichen Fragen heran, sondern doktern daher an relativ kleinen Weh- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE (B) wehchen herum, obwohl das ganze Wirtschaftshaus lich- GRÜNEN]: Das freut uns!) (D) terloh brennt. Je schneller das gelingt, umso besser; denn wir brauchen Sie kommen mir wie eine Feuerwehrtruppe vor, der es im Mittelstand auch diese Art der Finanzierung. angesichts eines brennenden Hauses mit viel Mühe ge- Ich denke, wir werden im Bundesrat – das Ganze ist lungen ist, Frau Dr. Hendricks, ein Glas Wasser zu orga- ja zustimmungspflichtig – sorgfältig beraten. Wir wer- nisieren, um wenigstens den Eindruck des Löschens zu den über Einzelheiten und über Verbesserungen in der erwecken. Mehr ist das, was Sie jetzt tun, nicht. Das hilft einen oder anderen Struktur beraten. Es mag sein, dass aber nicht wirklich. Deswegen muss es jedoch nicht wir am Ende zustimmen werden. Ich kann das noch falsch sein. Wenn der Hunger groß ist, dann hilft auch nicht übersehen, weil wir nicht wissen, was Ihnen dazu ein Brotkrümel, aber er verbessert die Ernährungslage nicht nachhaltig und grundsätzlich. Aus diesem Handeln noch einfällt. kann nichts werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Eine gewisse positive Tendenz ist bei uns vorhanden. neten der FDP) Aber halten Sie den Ball bitte schön flach. Es ist ein Mi- niprogramm; das denkbar kleinste Programm zur Lö- Ihr Tun ist eher propagandistisch gemeint als in der Sub- stanz wirklich hilfreich. Zudem ist es eine Beschäftigung sung eines erstaunlich großen Problems. von Parlamentariern. Sie werfen uns den kleinstmögli- (Zuruf von der CDU/CSU: Es soll ja auch chen Knochen hin, damit wir an ihm herumnagen. Aber nichts kosten!) bei den wirklich notwendigen Aufgaben haben Sie die Waffen gestreckt. Wir werden uns nicht verweigern. Aber das ist allenfalls ein zarter Hauch vom Anfang gründlicher Reformen, zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) denen Sie immer noch keinen Mut haben. Es kann natürlich sein, dass morgen das Wunder von der Herzlichen Dank. Spree passiert: Aus Schröder wird ein mutiger Visionär. Bisher lässt Ihr Wirken aber nur eine bedauerliche Bi- (Beifall bei der CDU/CSU) lanz zu. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zur Sache: Die Richtung ist in Ordnung, aber mit mini- malem Bewegungsfortschritt. Wir werden über vieles re- Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird den können, zum Beispiel über die Größenordnungen. Ich Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/537 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2445

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- vaten Postagenturbetreibern fair und partnerschaftlich um- (C) geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das gegangen wird. Wir wollen, dass die Deutsche Post AG ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- als Privatunternehmen weiterhin Gewinn machen kann. sen. Wir wollen aber auch, dass die Menschen in Deutsch- land weiterhin flächendeckend mit Postdienstleistungen Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 4 versorgt werden. auf: Nun ist bekannt, dass derzeit viele Tausende Agentur- 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten betreiber in großer Sorge sind. Bürgermeister und Land- Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, räte fürchten um die Postversorgung in Gemeinden und Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Kreisen. Postagenturverträge werden in großem Um- Fraktion der CDU/CSU fang gekündigt. Innerhalb von zwei Wochen sollen sich Flächendeckende Versorgung mit Postdienst- Postagenturbetreiber für einen geänderten Vertrag ent- leistungen sicherstellen scheiden. – Drucksache 15/466 – (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Überweisungsvorschlag: Unerhört ist das!) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Viele befürchten hinsichtlich der flächendeckenden Ver- Innenausschuss Finanzausschuss sorgung weiße Flecken auf der Landkarte. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Zu Recht! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Unmöglich, ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer dass auf der Regierungsbank niemand zustän- Funke, Birgit Homburger, Rainer Brüderle, wei- dig ist!) terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Viele private Postagenturbetreiber empfinden die neuen Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von Vertragsbedingungen, die ihnen präsentiert werden, als Postdienstleistungen schaffen wesentlich ungünstiger. Viele Landräte und Bürgermeis- – Drucksache 15/579 – ter befürchten deshalb, dass eine schlechtere Versorgung droht. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Die größten wirtschaftlichen Einbußen erwarten die Innenausschuss einzelnen privaten Postagenturbetreiber durch folgende Finanzausschuss Regelungen: Es soll eine Vergütungsreduktion um 25 (B) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (D) Landwirtschaft bis 30 Prozent erfolgen. Die Kündigungsfristen der Ver- träge sollen von bisher zwölf und mehr Monaten auf ma- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ximal sechs Monate verkürzt werden. Damit geht eine Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich entsprechende Planungs- und Investitionsunsicherheit höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. einher. Allerdings wollen eine Reihe von Kolleginnen und Gravierende Änderungen drohen bei der Vergütungs- Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben. Es handelt sich struktur. Künftig sollen 80 Prozent auf pauschale Ver- um die Kollegen Ulrich Kelber und Hubertus Heil von gütung und nur noch 20 Prozent auf einen leistungsbezo- der SPD-Fraktion und die Kollegin Michaele Hustedt genen Anteil entfallen. Bisher war das Verhältnis exakt 1) von Bündnis 90/Die Grünen . Die Kollegen von CDU/ umgekehrt. CSU und FDP wollen allerdings reden. Ich weiß nicht, ob der Wunsch in Anbetracht der geringen Zuhörerzahl Der Vorsitzende des Verbandes der Postagenturunter- immer noch besteht. nehmer, Herr Modery, rechnet im Schnitt nur noch mit einem Stundenlohn von 4,50 Euro in diesen privaten (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja!) Agenturen. Die finanziellen Einbußen werden von der – Also, Sie bestehen darauf. Das ist Ihr gutes Recht. Deutschen Post AG nicht bestritten. Von ihrer Seite heißt es: Dann gebe ich das Wort als erstem Redner dem Kolle- gen Johannes Singhammer von der CDC/CSU-Fraktion. Die Grundvergütung hat sich als zu hoch erwiesen. An die Stelle der transaktionsabhängigen Bezahlun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen tritt nunmehr eine pauschale Vergütung für die einfachen Serviceleistungen. Aus der Umstellung Johannes Singhammer (CDU/CSU): resultiert insgesamt zunächst eine individuelle Ab- senkung der bisherigen Vergütung. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Dieser Tagesordnungspunkt schließt nahtlos an den Wir befürchten nun, dass bei einem Drittel der priva- vorhergehenden an. Wir wollen, dass 7 000 private mit- ten Postagenturen die bestehenden Verträge nicht mehr telständische Postagenturen Existenzsicherheit erhalten verlängert werden, weil sie sich als nicht mehr rentabel und dass vonseiten der Deutschen Post AG mit den pri- erweisen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: 1) Anlage 6 Skandalös!) 2446 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Johannes Singhammer (A) Unterstützt wird diese Befürchtung durch große Werbe- wenigen Tagen, am 11. März dieses Jahres, empörte sich (C) anzeigen, mit denen die Post AG zusammen mit einer die bei Verdi für den Bereich Post zuständige Gewerk- Versandhauskette letztlich eine andere Vertragsgestal- schaftsfunktionärin, Frau Sigrud Schmid, dass der Bund tung mit Verdienstmöglichkeiten von nur 400 Euro – das als Mehrheitsaktionär nicht darauf dränge, dass die Post entspricht den Minijobs, über die wir eben gesprochen in Sachen Übernahme der Auszubildenden vorbildlich haben –, also auf einem niedrigeren Niveau, durchzuset- agiere. Die Eigentümerverantwortung des Bundes kann zen versucht. nicht je nach Laune wahrgenommen werden, sondern muss konsequent für alle Geschäftsbereiche gelten. Das Postgesetz sieht in Verbindung mit der Post-Uni- versaldienstleistungs-Verordnung, die die frühere Bun- (Beifall bei der CDU/CSU) desregierung unter dem damaligen Postminister Wolfgang Bötsch seinerzeit durchgesetzt hat Die Deutsche Post zu privatisieren war richtig. Wir können stolz sein, dass die Deutsche Post AG ein er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) folgreiches Unternehmen ist, das nach einem aktuellen und die sich insgesamt als erfolgreich erwiesen hat, vor, Bericht der EU-Kommission – er ist erst vor wenigen bundesweit mindestens 12 000 stationäre Einrichtungen Tagen erschienen – als Universaldienstleister im europä- zu betreiben, von denen nach geltender Gesetzeslage bis ischen Bereich bei der Rentabilität an der Spitze liegt zum 31. Dezember 2007 mindestens 5 000 Einrichtun- und mit 2 038 Millionen Euro Gewinn im Jahr 2000 weit gen mit unternehmenseigenem Personal betrieben wer- vor allen anderen Postunternehmen in der Europäischen den müssen. Mindestens 7 000 private Partner müssen Union lag. gefunden werden, die die Postagenturen betreiben. Zu- Allerdings darf die Deutsche Post AG – jetzt kommt dem haben wir festgelegt, dass eine lückenlose Flächen- die Verpflichtung, die sich daraus ergibt – ihre Mono- deckung zu gewährleisten ist. polstellung nicht ausnutzen. Wir wollen, dass sie ihre (Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben das festge- Verantwortung auch gegenüber den mittelständischen legt? Sie haben dagegen gestimmt!) Betrieben wahrnimmt und ihnen ein fairer und gerechter Partner ist. Aktive Mittelstandsförderung in diesem Be- – Wir haben die Rahmenbedingungen geschaffen. reich heißt für uns ganz konkret, dass die 7 000 kleinen Selbstverständlich kann die Deutsche Post AG im und mittelständischen Postagenturen einen Anspruch ha- Rahmen ihrer unternehmerischen Freiheit neue vertragli- ben, dass ihre Interessen auch auf der Eigentümerseite che Vereinbarungen eingehen. Das ist ihr gutes Recht. der Deutschen Post AG vertreten werden. Deshalb hat Wir sind zwar für Vertragsfreiheit, aber wir wollen, dass die Bundesregierung die Verpflichtung, dafür zu sorgen, das Prinzip der Flächendeckung nicht gefährdet wird. dass die Deutsche Post AG zu einem klaren Kurs (B) kommt, der sich an einer fairen und partnerschaftlichen (D) Jetzt kommen wir zu dem entscheidenden Punkt. Die Geschäftspolitik orientiert. Bundesregierung als Mehrheitsaktionär der Deut- schen Post AG muss zu ihrer politischen Verantwortung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stehen und ihren Einfluss als Eigentümer geltend ma- chen. Die Deutsche Post AG braucht angesichts ihrer star- ken Stellung auch einen starken Verhandlungspartner. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich meine – so steht es auch in unserem Antrag –, ein neten der FDP) solch starker Partner könnte beispielsweise der Verband Sie kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir der Postagenturunternehmer oder der Hauptverband des betonen in diesem Zusammenhang, dass es nicht darum Deutschen Einzelhandels sein. Mit solchen Vertragspart- geht, plötzlich das Aktienrecht zu ändern und entspre- nern kann die Deutsche Post AG auf gleicher Augen- chende Änderungen hinsichtlich des Einflusses der Ei- höhe über die Vertragsmuster und die inhaltliche Ausge- gentümer vorzunehmen. Die Bundesregierung steht aber staltung der neuen Verträge verhandeln. So wäre echte als Mehrheitsaktionär der Deutschen Post AG in der Ver- Partnerschaft möglich. Wenn das alles nicht zur Durch- antwortung. Selbst Bundeswirtschaftsminister Wolfgang setzung des von uns festgelegten Flächendeckungsprin- Clement hat das in einem Schreiben an den bayerischen zips und der von mir skizzierten Forderungen führen Wirtschaftsminister vom 31. Januar dieses Jahres einge- sollte, dann müssten als allerletzte Lösung Bußgelder räumt: verhängt werden. Im vorliegenden Fall müssen die Verträge jedoch so Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir wollen ein gestaltet werden, dass die Deutsche Post AG ihre Miteinander und kein Gegeneinander. Wir wollen eine rechtlichen Verpflichtungen einer flächendeckend erfolgreiche Post und viele erfolgreiche mittelständische angemessenen und ausreichenden Versorgung mit Postagenturen. Wir haben unseren Antrag so konzipiert, Postdienstleistungen auch erfüllen kann. dass es eine gute Zukunft für alle Beteiligten gibt. Damit hat er Recht und dafür verdient er Beifall. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Gewerkschaften, denen viele Kollegen der Op- position angehören, verlangen im Übrigen Ähnliches, Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Erst vor FDP-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2447

(A) Rainer Funke (FDP): Rainer Funke (FDP): (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgangs- – Nicht nur das, er sollte auch nicht so laut reden, dass punkt unserer heutigen Debatte ist ja der überfallartige man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Versuch der Deutschen Post AG, die bisherigen Agentur- Hier zeigt sich, wie Recht die FDP damit hat, dass sie verträge, mit denen es eigentlich keine Probleme gab, seit Jahren fordert, dass das Briefpostmonopol der Deut- zulasten der zumeist mittelständischen und kleineren schen Post AG aufgegeben werden muss. Unternehmen zu verändern. Dieser Versuch findet seinen Ausdruck in einem 39-seitigen Vertrag, den man den (Beifall bei der FDP) Kleinunternehmen mit der Aufforderung übergeben hat: Nur ein Monopolist wie die Deutsche Post AG kann Ihr müsst diesen Vertrag spätestens in zwei Wochen un- sich in so erdrückender Weise gegenüber den vermeint- terschrieben haben! lich kleinen Vertragspartnern verhalten und Geschäftsbe- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: dingungen diktieren. Die Postagenturen werden, wenn So ist es! Knebelverträge sind das!) die Verträge umgesetzt werden, 25 bis 30, zum Teil so- gar mehr Prozent ihrer Einkünfte verlieren und sie müs- Dieses Vertragswerk trägt auch noch den schönen Titel sen dafür sogar noch mehr Dienstleistungen erbringen. Partnervertrag. Nun wird man der FDP entgegenhalten wollen, dass die (Birgit Homburger [FDP]: Unglaublich!) Deutsche Post AG als privates Unternehmen jetzt dem Von partnerschaftlichen Verhältnissen kann überhaupt Aktiengesetz unterliegt und der Vorstand deshalb unter- keine Rede sein. Wenn Sie, meine Damen und Her- nehmerisch und unabhängig handeln darf. Das ist richtig, ren von den Koalitionsfraktionen, mit Ihren Partnern, aber der Bund hat noch die Mehrheit am Unternehmen auf welchem Gebiet auch immer, so umgehen wür- und somit auch in Person des Herrn Wirtschaftsministers, den, wie die Deutsche Post AG mit ihren Agenturen der immerhin durch seinen Parlamentarischen Staats- umgeht, sekretär vertreten ist – darüber freuen wir uns sehr –, über die Regulierungsbehörde, über den Aufsichtsrat oder die (Birgit Homburger [FDP]: Das tun die doch Hauptversammlung die Möglichkeit, doch Einfluss auf ständig!) das Unternehmen zu nehmen. Dieses ist auch notwendig. dann sind Sie bald in allen Lebensbereichen allein. (Ulrich Kelber [SPD]: Keine Ahnung von Ak- tienrecht!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hier zeigt sich einmal mehr, dass es nicht allein darauf (B) ankommt, eine private Rechtsform zu schaffen, sondern (D) Genau das will offensichtlich die Post AG auch sel- dass Privatisierung auch bedeuten muss, dass das Unter- ber. Wir müssen auch befürchten, dass die Post AG diese nehmen voll dem Wettbewerb ausgesetzt wird. Privati- Politik umsetzt. Denn wenn man einseitig als Monopo- sierung und Wettbewerb müssen Hand in Hand gehen. list den Partner zu knebeln und in seiner wirtschaftlichen Existenz niederzumachen versucht, dann wird man als- Jetzt zeigt sich, dass es ein Fehler war, die von An- bald allein dastehen und die bisherigen Dienstleistungen fang an bestehende Forderung der FDP auf Aufhebung der Agenturen nicht mehr in Anspruch nehmen können. des Postmonopols abzuweisen und dieses Postmonopol Gerade da sind wir als Politiker gefragt, obwohl die sogar noch bis zum Jahr 2007 zu verlängern, was Sie vor Post AG inzwischen privatisiert ist kurzem getan haben. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei der FDP – Carl-Ludwig Thiele Genau!) [FDP]: Das war ein Riesenfehler!) und in der Rechtsform der Aktiengesellschaft an der Die Deutsche Post AG missbraucht ihre Marktmacht. Börse notiert ist. In diesem Fall ist nämlich die Versor- Deswegen ist es auch folgerichtig, dass das Bundeskar- gung der Bevölkerung mit den Postdienstleistungen ge- tellamt im Wege seiner Missbrauchsaufsicht das Ver- fährdet, triebssystem der Post AG überprüft, damit der Eintritt großer wirtschaftlicher Schäden zulasten der Postkunden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) infolge monopolistischer Verhaltensweise vermieden und das zu einer Zeit, in der die Deutsche Post AG die werden kann. Zahl ihrer eigenen Filialen immer weiter zurückführt. Die Bundesregierung sollte entweder über ihren Ein- fluss als Hauptaktionär oder über die Regulierungsbe- (Unruhe) hörde darauf hinwirken, dass diese Knebelverträge zwi- – Darf ich einmal Ihren Redefluss etwas unterbrechen, schen der Deutschen Post AG und den Postagenturen bis Herr Kollege? zum Abschluss der Prüfung durch das Kartellamt nicht in Kraft treten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Kollege Dreßen, würden Sie, wenn Sie schon Insoweit haben wir ausdrücklich auf unseren Antrag zu hier sind, dem Redner das Gehör schenken? – Vielen verweisen, der sich etwas von dem CDU/CSU-Antrag Dank. unterscheidet. 2448 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Rainer Funke (A) Meine Damen und Herren, die Zeit drängt. Die Regie- jetzt ein Staatsmonopolist die abhängigen Kleinunter- (C) rung ist im Interesse der mittelständischen Wirtschaft nehmen aus. Der Mittelstand wird wieder einmal getrof- und der Postkunden aufgefordert, schnell zu handeln. fen. Mit rüden und rücksichtslosen Methoden ist die Post Bitte tun Sie endlich etwas für die Postkunden. dabei, Tabula rasa im Vertriebssystem zu machen. Dazu sollte es nicht kommen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Verantwortlich für diesen Schritt, der zusätzliche Ar- Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Börnsen von beitslosigkeit und Existenzvernichtung bedeutet, ist der der CDU/CSU-Fraktion. Vorstand der Deutschen Post AG, dem unter anderem Walter Scheuerle, Sozialdemokrat und Gewerkschafts- (Unruhe) mitglied, angehört. Mitverantwortlich für die Verelen- dung einer ganzen Branche und für weniger Bürgerser- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): vice ist auch der Aufsichtsrat, in dem unter anderem Herr Staatssekretär Manfred Overhaus einen wichtigen Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Platz einnimmt. Kollegen! (Ulrich Kelber [SPD]: Diesmal ist es aber Ihr Der Hauptverantwortliche für den „Anti-Agentur- Kollege, der die Unruhe ausgelöst hat!) Kurs“ ist jedoch die rot-grüne Bundesregierung mit Fi- nanzminister . – Ich finde, dieser Anlass ist schon ernst genug, um ver- antwortungsvoll darüber zu diskutieren, wie sich die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Post in der Frage der Vertragsneugestaltung verhält. Sie ist der Mehrheitseigner. Hans Eichel ist der eigentli- Der bürgernahe Bundespräsident hat che Boss der Post. Er duldet, dass demnächst Tausende das Lied von der Post populär gemacht: von Postagenturen geschlossen werden. Er akzeptiert da- mit, dass die Post als Staatsmonopolist gegen sämtliche Hoch auf dem gelben Wagen Grundsätze der Marktwirtschaft verstößt. Sein fehlendes Sitz ich beim Schwager vorn. Handeln hat dazu beigetragen, dass Brüssel wegen uner- Vorwärts die Rosse traben, laubter Quersubventionierung mit Strafgebühren bei Lustig schmettert das Horn. der Post eingreifen musste. 900 Millionen Euro mussten (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der zurückgezahlt werden. Jetzt sollen die Kleinunterneh- men vor Ort für diese Strafgebühren aufkommen. Die (B) CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/ (D) DIE GRÜNEN und der FDP) Post entpuppt sich als ganz dreister Riese. – Denen, die jetzt lachen, darf ich nur sagen: Wenn die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) letzte Strophe kommt – auch die werde ich noch vortra- Es sind Hans Eichel und Bundeskanzler Gerhard gen –, dann wird einigen das Lachen im Halse stecken Schröder gewesen, die 2001 die endgültige Privatisie- bleiben. rung der Post verhinderten und sich für die Fortsetzung In einer optimistischen Aufbruchstimmung dürften des Staatsmonopols einsetzten. Ich wiederhole: Es ist die sich die 7500 Postagenturbetreiber befunden haben, die rot-grüne Bundesregierung als Hauptaktionär, die die dort, wo die Post ihr Filialnetz rigoros ausdünnte, den Umsetzung der neuen Knebelverträge zulässt und Tau- Postdienst übernommen haben. Besonders im ländlichen senden von mittelständischen Betrieben die Existenz- Raum wurde damit nicht nur ein Kahlschlag verhindert; grundlage nimmt. Jedoch propagiert man gleichzeitig die mit dem Einstieg der privaten Anbieter verbesserte sich Neugründung von Unternehmen durch subventionierte vielmehr auch der Service: längere Öffnungszeiten und Ich-AGs. Fragwürdiger und widersprüchlicher kann eine freundlichere Bedienung. Außerdem wurde und wird die Wirtschaftspolitik wirklich nicht sein. Möglichkeit von den Bürgern als Vorteil empfunden, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Post dort zu erledigen, wo auch andere Dienstleistungen Ulrich Kelber [SPD]: Glauben Sie das eigent- in Anspruch genommen werden können. lich, was Sie da sagen?) Sicherlich war die Skepsis zu Beginn der neuen Alles Handeln unterliegt den Zielen, Global Player Postepoche groß, Brief- und Paketdienste durch Fach- Nummer eins bei den Postdienstleistungen und außerdem fremde in Anspruch zu nehmen; doch die Akzeptanz Dividendenkönig zu werden. Es sieht ganz danach auch, wuchs mit der Qualität der Agenturen. Auch wenn Seni- dass diese Strategie auf dem Rücken von Kleinunterneh- oren und Mitbürger ohne Auto im ländlichen Raum wei- mern und Mitarbeitern umgesetzt werden soll. Vergessen tere Wege akzeptieren mussten, hat sich das weitma- Sie nicht: Allein in den letzten zehn Jahren mussten schige Agentursystem bewährt. 140 000 Postbedienstete entlassen werden. Das passiert, (Beifall bei der CDU/CSU) wenn man Global Player Nummer eins werden will. Jetzt will es der Postvorstand offensichtlich zerschla- (Widerspruch bei der SPD) gen, denn eine Reduzierung der Vergütung um 25 bis – Was haben Sie denn dagegen getan? 35 Prozent raubt fast jeder zweiten Postagentur die Exis- tenzgrundlage. Wie in frühkapitalistischen Zeiten presst (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2449

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) Deshalb sind unsere Forderungen: erstens Stopp al- Ein Kurswechsel ist machbar; Sie haben ihn in der (C) ler Neuverträge, zweitens Anerkennung des Verbandes Hand, Sie können ihn veranlassen bzw. dazu beitragen, der Postagenturbetreiber als eigentlichen Verhandlungs- denn Sie stellen die Bundesregierung. Sie wissen, dass partner, drittens Vorlage eines zeitnahen Gutachtens über die rot-grüne Regierung, der Hauptanteilseigner, Ein- die tatsächliche Lage der Agenturen, viertens eine wei- fluss nehmen kann. Sie lassen nichts zu. Handeln Sie! tere Sonderprüfung des Bundeskartellamtes zum Geba- Dann haben die Postagenturen eine Zukunft. ren der Post, fünftens eine Garantie, dass es nicht im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommenden Jahr eine neue Welle von Verträgen gibt. Vergessen Sie nicht: Durch die Fortsetzung des (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Monopols – im Jahr 2001 beschlossen, 2003 aufgege- DIE GRÜNEN]: Und sechstens? Was ist mit ben, erst für 2007 anvisiert – wurden fast 600 Unterneh- sechstens?) men, die sich damals auf das Anbieten von Postdienst- Jetzt nimmt man den Agenturen die Luft zum Atmen. leistungen eingestellt haben, ins Aus gestellt. Einige Postshops liegen schon jetzt im Minus. 20 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten entlas- sen werden, weil das Staatsmonopol gegen das Gesetz, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gegen das, was das Parlament im Grunde genommen ge- wollt hat, fortgesetzt wurde. Das sind auch Ihre Arbeits- Herr Kollege Börnsen, ich muss Sie jetzt einmal un- losen und das ist absolut unvertretbar. terbrechen, weil der Kollege Kelber Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen möchte. Genehmigen Sie das? (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Herr Börnsen, es ist schon peinlich! – Jochen- Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das war Kurs- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): pflege zugunsten des Bundeshaushalts, nichts Ich bin dazu nicht bereit, Herr Kelber. anderes!) (Heiterkeit bei der SPD) Die Postagenturen, denen das Wasser jetzt bis zum Hals steht, die Frust erleben durch die derzeitige Be- Wissen Sie, weshalb? Die Reaktion Ihrer Kollegen ist handlung, die im Grunde genommen eine Abkehr der ganz typisch: Man lacht und freut sich bei diesem Politik erfahren, haben nur dann eine Zukunft, wenn Sie Thema. Haben Sie in den letzten Wochen und Monaten bereit sind, unserem Antrag zuzustimmen und bei dem einmal die Agenturbetreiber besucht? mitzumachen, was unser Antrag bedeutet, nämlich eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Umkehr in den Vertragsverhandlungen, wenn Sie mithel- Zurufe von der SPD: Ja!) fen, die Post in die Lage zu versetzen, fair mit diesen (B) (D) Partnern umzugehen, die bisher auch fair mit den Bür- Wissen Sie, wie denen zumute ist? gern umgegangen sind. (Erneute Zurufe von der SPD: Ja!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Denen steht das Wasser bis zum Hals. 30 Prozent weni- ger Einkommen, weniger Dienstleistung für ihre Mitar- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: beiter – meinen Sie, darüber kann man noch lachen? Ich schäme mich für die Leute, die sich darüber vergnügen. Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ulrich Kelber (SPD): Diese Friss-oder-stirb-Strategie kann man nicht dul- Lieber Kollege Börnsen, der Antrag Ihrer Fraktion den, gerade von Ihrer Seite nicht. war so sachfremd und so populistisch, dass wir uns ent- Die Dividende für die Aktionäre wurde auf 40 Cent schieden hatten, nicht zu reden. Auf die Unverschämt- erhöht. Damit bekommt der Hauptanteilseigner, die Bun- heiten jedoch, die Sie hier herausposaunt haben, bedarf desregierung, satte 223 Millionen Euro in den Haushalt. es drei kurzer Anworten: 907 Millionen Euro musste die Post wegen unrechtmäßi- Erstens zum Thema Aktienrecht: Sie sind in Ihrer ger Quersubventionen an die Bundesregierung zurück- fünften Legislaturperiode. Bitte informieren Sie sich ein- zahlen. Damit erhielt Minister Eichel von der Post im mal über ein solch grundlegendes Recht, das der Bun- vergangenen Jahr 1,13 Milliarden Euro. Da kann man desregierung sogar verbietet, sich als Hauptaktionär in schon mal ein Auge zudrücken, wenn die Post Stellen das Geschäft der Post AG einzumischen, wenn sie nicht streicht, Filialen auflöst und Agenturen und ihre mittel- schadenersatzpflichtig werden will. ständischen Betreiber in den Ruin treibt – so ein bissiger Pressekommentar. Wir stehen als Union an der Seite der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Opfer dieser neuen Poststrategie. DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD) Zweitens. Schauen Sie sich einmal über Ihre linke „Knebelverträge“ ist noch die zahmste Formulierung bei Schulter um, dann sehen Sie den sehr geschätzten Kol- diesen Attacken. legen Bötsch dort sitzen, der die entscheidenden Rechts- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Unsozial!) grundsätze, die auch zu den Rationalisierungen und 2450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Ulrich Kelber (A) Liberalisierungen geführt haben, als Minister umgesetzt Agenturverträge nicht so gestaltet werden, wie sie den (C) hat. Aufgrund dieser Rechtsgrundsätze haben wir in die- Agenturen von der Post AG aufgedrückt werden sollen. sem Jahr zum ersten Mal in der Geschichte der Bundes- Im Übrigen habe ich mit angeregt, dass sich das Bun- republik eine Portosenkung erreicht. Sie sollten nicht an- deskartellamt einmal ansieht, wie diese Verträge zum deren vorwerfen, was aus Ihrer eigenen Fraktion gekommen ist. Nachteil der Postagenturen und der Postkunden ausge- legt werden. Dritter und letzter Punkt. Sie können mir vielleicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bestätigen, ob ich das als jemand, der damals dem Bun- der CDU/CSU – Ulrich Kolber [SPD]: In Ih- destag noch nicht angehört hat, im Protokoll richtig rem Antrag steht aber etwas anderes als das, nachgelesen habe: Am 4. November 1999 ist darüber was Sie jetzt gesagt haben!) diskutiert worden, ob der Post vorgeschrieben wird, mehrere tausend Postagenturen zu betreiben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der Kollege Funke hat die Post-Dienstleistungsverord- nung deswegen abgelehnt; er hat gesagt: Es ist falsch, so Das Wort hat jetzt der Kollege Börnsen zur Erwide- etwas vorzuschreiben. Das Protokoll vermerkte dazu rung. Beifall von FDP, CDU und CSU. Erklären Sie das ein- mal. Die meisten der Postagenturen, über die wir uns Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): heute unterhalten, gäbe es gar nicht, wenn Sie damals die Mehrheit gehabt hätten. Ich habe jetzt, glaube ich, ein Dutzend Postagenturen in ländlichen Regionen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der SPD: Nur?) DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer [CDU/ CSU]: Unsinn!) und habe erfahren, dass immer nur in Einzelverhand- lungen mit den Agenturbetreibern gesprochen wird. Der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: eine muss 11 Prozent mehr bezahlen, der andere 28 Pro- zent, der nächste 35 Prozent, dem Vierten ist der Compu- Einen Moment, Herr Börnsen. Mir liegt der Wunsch ter gestrichen worden, dem Fünften wird mitgeteilt, er nach einer weiteren Kurzintervention des Kollegen müsse jetzt seine Pakete selbst weiterfahren. Mit den Rainer Funke vor. Anschließend gebe ich Ihnen die Ge- Agenturbetreibern, die im Grunde genommen hilflos legenheit, zu antworten. Herr Funke, bitte. sind, wird in einer Art und Weise umgegangen, dass man wirklich zornig wird. Darauf hat auch eine ganze Reihe (B) (D) Rainer Funke (FDP): Ihrer Kollegen mit Wut und Ärger reagiert. Zu der Frage des Aktienrechts, – damit da keine Ich möchte Ihnen dazu meinen Standpunkt darlegen. Missverständnisse entstehen –: Natürlich muss sich der Sie haben die Möglichkeit – Rainer Funke hat das ganz Vorstand am Aktiengesetz orientieren. Hier ist es aber klar gesagt –, zu handeln. Warum sitzt denn eigentlich so, dass wir einen regulierten Markt haben; die Post un- Ihr Staatssekretär aus dem Bundesfinanzministerium im terliegt der Aufsicht durch die Regulierungsbehörde. In- Aufsichtsrat der Post? soweit hat der Bundeswirtschaftsminister, der ja die (Ulrich Kelber [SPD]: Der Aufsichtsrat darf Dienstaufsicht über diese Behörde hat, auch Einfluss auf nicht in das operative Geschäft eingreifen! – das Marktverhalten der Deutschen Post AG. Gegenruf des Abg. Rainer Funke [FDP]: Das ist doch nicht wahr!) (Zurufe) Sie wissen doch ganz genau, welche Möglichkeiten es Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gibt. Sie wissen auch, dass Sie dem Image der Post und der Sache selbst schaden, wenn Sie weiter so verfahren. Entschuldigen Sie, das Wort hat der Kollege Funke. Wenn Sie ihn ausreden lassen würden, würde das schnel- Ich nehme Ihren Hinweis auf den Kollegen Wolfgang ler vorübergehen. Bötsch gerne auf. In seiner Zeit ist mit den Mitarbeitern und Kunden noch fair umgegangen worden. Rainer Funke (FDP): (Beifall bei der CDU/CSU) Des Weiteren hat der Bund sowohl als Hauptaktionär Als die Post in Brüssel in Bedrängnis kam, ist er von als auch im Wege der Aufsicht, vertreten durch Staatsse- Hauptstadt zu Hauptstadt gereist, um klar zu machen, wo kretär Overhaus, der die Post schon seit vielen Jahren die Interessen der Post eigentlich liegen. Er hat mit Er- begleitet hat folg die Sache der Post vorangetrieben. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Ewige!) Die Post verfolgt im Moment die Strategie – genau das ist das Problem –, Tausende von Postagenturen Zug um – nicht nur zum Vorteil der Post; das muss ich auch sa- Zug dichtzumachen, um in Zukunft mit einem ganz gro- gen –, hinreichende Möglichkeiten – das gilt auch noch ßen Betreiber – vielleicht heißt er sogar Quelle – flächen- für die Regierung Kohl; da war er auch schon im Auf- deckend das Geschäft zu machen. Dann ist in der Fläche sichtsrat –, auf die Post AG einzuwirken, damit die keine Postagentur mehr zu finden. Das ist leider das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2451

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) eigentliche Ziel. Wir sollten gemeinsam dafür eintreten – Sie abschätzung auf Drucksache 15/506 zu dem Antrag der (C) sind letzten Endes selbst mit dabei gewesen –, dass wir ein Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen flächendeckendes Netz an Postagenturen haben. mit dem Titel „GATS-Verhandlungen – Bildung als öf- fentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern“. Der Aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/224 an- Ulrich Kelber [SPD]: Das flächendeckende zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Netz ist vorgeschrieben! Kapieren Sie das – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- doch endlich einmal!) schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: angenommen. Ich schließe die Aussprache. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/576 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf mit dem Titel „GATS-Verhandlungen – Transparenz und den Drucksachen 15/466 und 15/579 an die in der Tages- Flexibilität sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. die Überweisungen so beschlossen. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP Ich rufe die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf: auf Drucksache 15/580 mit dem Titel „GATS-Verhand- ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- lungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Vielfalt sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer der CDU/CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt. Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zu- Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), satzpunkt 8 auf: Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren, Michael Müller GATS-Verhandlungen – Bildung als öffent- (Düsseldorf), Horst Kubatschka, weiterer Abge- liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab- geordneten Michaele Hustedt, Rainder (B) – Drucksachen 15/224, 15/506 – (D) Steenblock, Christine Scheel, weiterer Abgeord- Berichterstattung: neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Abgeordnete Ulrike Flach DIE GRÜNEN Ulla Burchardt Thomas Rachel Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURA- Ursula Sowa TOM-Kreditlinie ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD – Drucksache 15/575 – und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia GATS-Verhandlungen – Transparenz und Fle- Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Hom- xibilität sichern burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 15/576 – EURATOM-Vertrag nicht aufweichen – Keine ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike einseitigen Eingriffe in die Finanzierung Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Frak- – Drucksache 15/578 – tion der FDP Auch hier sollen mit Ihrem Einverständnis alle Reden 2) GATS-Verhandlungen – Bildung als öffent- zu Protokoll genommen werden. liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD – Drucksache 15/580 – und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/575 mit dem Titel „Keine Zustimmung zur Erhöhung der Ich höre, dass zu diesem Tagesordnungspunkt alle EURATOM-Kreditlinie“. Wer stimmt für diesen An- Reden zu Protokoll gegeben werden sollen.1) Ich ver- trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der zichte auf das Verlesen der Namen der Redner. Sie kön- Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- nen dem Protokoll entnommen werden. gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Drucksache 15/578 mit dem Titel „EURATOM-Vertrag

1) Anlage 7 2) Anlage 8 2452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) nicht aufweichen – Keine einseitigen Eingriffe in die Überweisungsvorschlag: (C) Finanzierung“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit Auswärtiger Ausschuss den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- Entwicklung nung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, Gerda Durchführung eines nicht förmlichen Disziplinarverfah- Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Frak- rens zu erweitern und diese jetzt als Zusatzpunkt 10 auf- tion der CDU/CSU zurufen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. WTO-Verhandlungen – Europäisches Land- wirtschaftsmodell absichern Dann rufe ich jetzt Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung auf: – Drucksache 15/534 – Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Landwirtschaft (f) schäftsordnung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Antrag auf Genehmigung zur Durchführung Entwicklung eines nicht förmlichen Disziplinarverfahrens Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 15/607 – Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden; ich verzichte darauf, die Namen der Redner vor- Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss zulesen. Daher kommen wir gleich zu den Überweisun- für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung gen. Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlagen empfiehlt auf Drucksache 15/607, die Genehmigung zu auf den Drucksachen 15/550 und 15/534 an die in der erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz- (B) punkt 9 auf: Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesord- (D) nung. 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Dr. Sascha Raabe, Matthias Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Weisheit, weiterer Abgeordneter und der Fraktio- tages auf morgen, Freitag, den 14. März 2003, 9 Uhr, nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ein. GRÜNEN Die Sitzung ist geschlossen. Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen (Schluss: 21.37 Uhr) gerechten Interessenausgleich bei den laufen- den WTO-Verhandlungen

– Drucksache 15/550 – 1) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2453

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Maria Michalk, Kristina Köhler (Wiesbaden), Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Klaus Brähmig, , Klaus Riegert, entschuldigt bis Tanja Gönner, Volker Kauder, Henry Nitzsche, Abgeordnete(r) einschließlich Veronika Bellmann, Albert Rupprecht (Wei- den), Dr. Hermann Kues, Erwin Marschewski Adam, Ulrich CDU/CSU 13.03.2003 (Recklinghausen), Kurt-Dieter Grill, Erika Steinbach, Dr. Peter Gauweiler, Thomas Austermann, Dietrich CDU/CSU 13.03.2003 Dörflinger und Helmut Rauber (alle CDU/CSU) Dr. Göhner, Reinhard CDU/CSU 13.03.2003 zur Abstimmung über den Antrag: Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Bei- Göppel, Josef CDU/CSU 13.03.2003 trittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat Götz, Peter CDU/CSU 13.03.2003 von Kopenhagen (Tagesordnungspunkt 4 a) Lehn, Waltraud SPD 13.03.2003 Dem Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakischen Republik, Slowenien, der Möllemann, Jürgen W. Fraktionslos 13.03.2003 Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern in die Eu- ropäische Union stimmen wir mit dem vorliegenden An- Rühe, Volker CDU/CSU 13.03.2003 trag grundsätzlich zu, denn diese Völker und ihre jungen Schmidt (Eisleben), SPD 13.03.2003 Demokratien sind eine Bereicherung für die Europäische Silvia Union. Wir sind aber enttäuscht, dass bei den Beitritts- verhandlungen die Menschenrechtsstandards des Kopen- Schneider, Carsten SPD 13.03.2003 hagener Vertrages nicht die notwendige überragende Rolle gespielt haben. In diesem Sinne sind die Entrech- Seib, Marion CDU/CSU 13.03.2003 tungsdekrete gegenüber ungarischen und deutschen Ver- Volquartz, Angelika CDU/CSU 13.03.2003 triebenen und Flüchtlingen fortwirkendes Unrecht. In die EU gehören aber nur Staaten, die die Menschenrechte Wettig-Danielmeier, Inge SPD 13.03.2003 umfassend achten. Menschenrechte sind von sich aus universal angelegt. Rechtsakte, die zu diesen im Gegen- (B) Wieczorek (Böhlen), SPD 13.03.2003 (D) Jürgen satz stehen, gehören aufgehoben. Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 13.03.2003 Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO Anlage 2 der Abgeordneten Elke Ferner, Bernhard Erklärung nach § 31 GO Brinkmann (Hildesheim), Ulla Burchardt, Peter Dreßen, Klaus Hagemann, Erika Lotz, Lothar der Abgeordneten Matthias Sehling, Wolfgang Mark, Hilde Mattheis, Dagmar Schmidt (Me- Zeitlmann, Ilse Aigner, Martin Hohmann, schede), Jörg Tauss, Gert Weisskirchen (Wies- Hartmut Koschyk, Susanne Jaffke, Michael loch), Gernot Erler, Anton Schaaf, Christoph Glos, Dr. Peter Ramsauer, Dorothee Mantel, Strässer, Horst Kubatschka, Lothar Binding Norbert Geis, Dr. Ole Schröder, Stephan Mayer (Heidelberg), Reinhold Hemker, Willi Brase, (Altötting), Hubert Deittert, Jochen-Konrad Helga Kühn-Mengel, Klaus Barthel (Starn- Fromme, Albrecht Feibel, Beatrix Philipp, berg), Florian Pronold, Dr. Ernst Dieter Dr. Michael Luther, Günter Baumann, Arnold Rossmann, René Röspel, Ottmar Schreiner, Vaatz, Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Rüdiger Veit, Reinhard Grindel, Dr. Klaus W. Lippold (Of- Dr. Christine Lucyga, Klaus Kirschner, Heidi fenbach), Thomas Strobl (Heilbronn), Wright, Angelika Graf (Rosenheim), Jella Dr. Andreas Schockenhoff, Ursula Lietz, Clemens Teuchner, Christine Lambrecht, Waltraud Binninger, Christa Reichard (Dresden), Georg Wolff (Wolmirstedt), Marco Bülow, Anette Brunnhuber, Heinz Seiffert, Partricia Lips, Kramme, Heinz Paula und Frank Hofmann Matthäus Strebl, Barbara Lanzinger, Manfred (Volkach) (alle SPD) sowie Thilo Hoppe Grund, Johannes Singhammer, Daniela Raab, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- Monika Brüning, Klaus Hofbauer, Hannelore mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ver- Roedel, Christian Schmidt (Fürth), Doris längerung der Ladenöffnung an Samstagen (Ta- Meyer (Tapfheim), Dr. Georg Nüßlein, Georg gesordnungspunkt 15 a) Schirmbeck, Peter Weiß (Emmendingen), Marco Wanderwitz, Peter Bleser, Elke Wülfing, Die Mehrheit unserer Fraktion hat sich für die An- Gerald Weiß (Groß-Gerau), Julia Klöckner, nahme des Gesetzentwurfes in der Ausschussfassung 2454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) ausgesprochen. Wir akzeptieren diese Mehrheitsent- Einzelhandel, um auf Fehlentwicklungen reagieren zu (C) scheidung, obwohl nach unserer Auffassung gewichtige können. Gründe gegen eine Änderung der jetzigen Regelung sprechen: Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten schafft nicht mehr Kaufkraft, sondern forciert den Kon- Anlage 4 zentrationsprozess im Einzelhandel. Erklärung nach § 31 GO Lediglich Geschäfte in den Innenstädten und Ein- kaufszentren auf der grünen Wiese nutzen die bestehen- der Abgeordneten Ernst Hinsken, Renate Blank den Ladenöffnungszeiten voll aus und werden auch die und Stephan Mayer (Altötting) (alle CDU/CSU) neuen Öffnungszeiten ausschöpfen. Die Folge ist, dass zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- die Konzentration im Einzelhandel zunimmt und die zes zur Verlängerung der Ladenöffnung an wohnortnahe Versorgung, insbesondere in ländlichen Samstagen Gebieten, in Wohngebieten und außerhalb der 1a-Lagen (Tagesordnungspunkt 15 a) abnimmt. Ich werde dem Gesetzentwurf der Bundesregierung Die Erweiterung der Ladenöffnungszeiten wird die- auf Drucksache 15/396 mit dem Titel „Entwurf eines sen Konzentrationsprozess zulasten kleiner Familien- betriebe, kleiner Filialen und kleiner Einzelhändler Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnungszeiten an Samstagen“, dem Gesetzentwurf der FDP-Fraktion auf weiter forcieren. Für Menschen, die auf eine wohnort- Drucksache 15/106 mit dem Titel „Entwurf eines Geset- nahe Versorgung angewiesen sind, wird sich die Situa- tion weiter verschlechtern. Der Konsum wird zu ande- zes zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes“, sowie dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf ren Zeiten und an anderen Orten stattfinden, sich aber Drucksache 15/193 mit dem Titel „Ladenschlussgesetz nicht vermehren. modernisieren“, nicht zustimmen. Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten schafft nicht mehr Beschäftigung, sondern reduziert die Voll- Begründung: Die im Jahre 1996 vorgenommene No- zeitarbeitsplätze und verschlechtert die Arbeitszeiten für vellierung des Ladenschlussgesetzes hat nicht das Er- die Beschäftigten. gebnis gebracht, das man erwartete. So wurden nicht die 50 000 zusätzlichen Arbeitsplätze, wie vom damaligen Die Erfahrungen mit der bisherigen Regelung zeigen, Bundeswirtschaftsminister Rexrodt angekündigt, ge- dass die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze abnimmt, die Zahl schaffen. Im Gegenteil gab es eine Reduzierung um der Teilzeitarbeitsplätze und Mini-Jobs zunimmt, die Ar- 133 000 Arbeitsplätze. Bei den Vollzeitarbeitsplätzen ist beitszeiten für die Beschäftigten ungünstiger werden, (B) sogar ein Minus von 175 000 zu verzeichnen. Es soll je- (D) insbesondere durch den Einsatz von kapazitätsorientier- doch nicht verschwiegen werden, dass im Teilzeitbereich ter variabler Arbeitszeit, und damit für Eltern, insbeson- eine Steigerung, allerdings nur um 4,4 Prozent, zu ver- dere für Mütter, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zeichnen war. zunehmend schwieriger wird. Zudem ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich Wir befürchten eine Verstärkung dieser Entwicklung zwischenzeitlich die Einzelhandelsstruktur in der Bun- und im Ergebnis einen Verlust von existenzsichernden desrepublik Deutschland für kleinere und mittlere Be- Arbeitsplätzen im Einzelhandel, eine massive Auswei- triebe weiter verschlechtert hat. Circa 7 000 Betriebe tung der Mini-Jobs und damit einhergehend weitere werden jetzt weniger gezählt als vor sieben Jahren. Mindereinnahmen bei Steueraufkommen und bei den Sozialversicherungssystemen. Darüber hinaus wird für Eine weitere Ausweitung der Ladenöffnungszeiten viele Beschäftigte im Einzelhandel die Wochenendarbeit bringt mit sich, dass vor allem die Supermärkte auf der zunehmen. Davon sind insbesondere Frauen betroffen, grünen Wiese und die Geschäfte in Toplagen positiv be- für die es noch schwieriger wird, Vereinbarkeit von Fa- troffen sind. Alle übrigen Geschäfte profitieren nicht da- milie und Beruf verwirklichen zu können oder am sozia- von und werden mit zusätzlichen Kosten belastet, die sie len und kulturellen Leben teilhaben zu können. Darüber gerade in dieser schwierigen Wirtschaftslage nicht so hinaus entstehen gravierende Nachteile für Beschäftigte, ohne weiteres verkraften können. Sie sind deshalb der die auf den ÖPNV angewiesen sind. Gefahr besonders ausgesetzt, nicht mehr mithalten zu können und somit schließen zu müssen. Fazit: Eine weitere Lockerung der Ladenöffnungszei- ten wird weder auf den Arbeitsmarkt noch auf das Um- Insbesondere negativ betroffen sind Geschäftsinhaber satzvolumen im Einzelhandel insgesamt positive Auswir- in der Fläche, denn durch eine weitere Veränderung der kungen haben. Wir erwarten, dass auch die Unternehmen Öffnungszeiten gibt es noch mehr Kaufkraftverlagerung aufgrund der ernsten Lage am Arbeitsmarkt ihre unterneh- in größere Einkaufszentren. Eine Eröffnungszeit von merische Verantwortung wahrnehmen und mit der Locke- durchschnittlich 74 Stunden pro Woche ist meiner Mei- rung der Öffnungszeiten nicht einen weiteren Abbau von nung nach ausreichend. festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein- Ich kann es nicht verantworten, dass unter anderem leiten. durch eine zusätzliche Verlängerung der Ladenöffnungs- Wir erwarten von der Bundesregierung eine genaue zeiten ein weiterer Rückgang von kleinen und mittleren Beobachtung der Entwicklung der Arbeitsmarktsitua- Geschäften die Folge sein wird. Aus diesen Gründen tion und der klein- und mittelständischen Struktur im werde ich keiner der drei Vorlagen zustimmen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2455

(A) Anlage 5 Jahren sogar sehr stark gesunken. Es waren übrigens (C) auch die geringeren Kosten der Postagenturen gegenüber Erklärung nach § 31 GO den Postfilialen, die dies möglich gemacht haben. der Abgeordneten Fritz Schösser und Horst Die Liberalisierung hat zu mehr Service geführt: Schmidbauer (Nürnberg) (beide SPD) zur Ab- Durch die Einführung der Postagenturen haben sich in stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur vielen Fällen die Öffnungszeiten erweitert. In vielen Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen Dörfern und kleinen Ortsteilen haben die Postagenturen (Tagesordnungspunkt 15 a) die örtliche Nahversorgung stabilisiert, weil der Tante- Emma-Laden zusätzliche Kunden und Einnahmen ge- Seit vielen Jahren setzten wir uns dafür ein, dass wonnen hat. Menschen sich wohnortnah versorgen können, die In- nenstädte attraktiv bleiben, Familienbetriebe und Einzel- Die Liberalisierung hat zu mehr Kundenfreundlich- händler eine Zukunftschance haben, sozialversiche- keit geführt: Früher hat die Post vermittelt, es sei eine rungspflichtige Vollzeit- und Teilzeitarbeitsplätze Gnade, eine Briefmarke kaufen zu dürfen. Jeder hier erhalten bleiben und nicht einem ständigen Verdrän- wird sich an solche Szenen auf den Postämtern noch er- gungswettbewerb durch geringfügige Beschäftigungs- innern. Heute wird man als Kunde ernst genommen, ge- verhältnisse zum Opfer fallen, negative Auswirkungen rade auch in den Postagenturen. auf die Beschäftigten im Einzelhandel durch eine kapa- zitätsorientierte, variable Arbeitszeit vermieden werden Das notwendige Gegenstück zur Liberalisierung ist und Eltern Familie und Beruf besser miteinander verein- die PUDLV: vorgeschriebene Qualität zu einem ange- baren können. messenen und günstigen Preis. Denn der Markt allein kann zum Beispiel nicht dafür sorgen, dass eine ortsnahe Die neuerliche Reform des Ladenschlusses, die eine Versorgung besteht. Der Markt allein kann auch nicht weitere Verlängerung der Ladenöffnungszeiten vorsieht, dafür sorgen, dass Postleistungen auf dem Land genauso geht in die falsche Richtung. Deshalb lehnen wir eine preisgünstig angeboten werden wie in der Stadt. Deswe- weitere Lockerung der Ladenöffnungszeiten ab. gen ist die PUDLV notwendig. Die PUDLV, 1999 beschlossen, schreibt der Post AG Anlage 6 12 000 Postfilialen und Postagenturen vor, übrigens 2 000 mehr, als noch die alte Kohl-Regierung wollte. Zu Protokoll gegebene Reden Deswegen wurde die PUDLV 1999 von CDU/CSU und zur Beratung der Anträge: FDP auch abgelehnt. Ich betone das noch einmal: CDU/ (B) CSU und FDP haben 1999 abgelehnt, der Post eine hohe (D) – Flächendeckende Versorgung mit Post- Anzahl von Postfilialen und Postagenturen vorzuschrei- dienstleistungen sicherstellen ben. Viele der Postagenturen, über die wir heute spre- chen, gäbe es überhaupt nicht, wenn CDU/CSU und – Wettbewerbedingungen bei Vertrieb von FDP die Mehrheit im Bundestag hätten. Postdienstleistungen schaffen (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord- Übrigens haben auch die Bundestagsabgeordneten nungspunkt 4) von CDU/CSU und FDP, die sich jetzt dreist zu ver- meintlichen Fürsprechern für die Postagenturen auf- schwingen wollen, damals gegen eine vorgeschriebene Ulrich Kelber (SPD): Lassen Sie uns zunächst die Anzahl von Postfilialen und Postagenturen gestimmt. Gemeinsamkeiten in dieser Frage betonen: Dieses Parla- ment will quer durch alle Fraktionen eine günstige Post, Rainer Funke, FDP, hat am 4. November 1999 ausge- eine kundenfreundliche Post, eine Post mit einem guten führt: „In diesem Sinne regelt die PUDLV einfach zu Service und vor allem auch eine ortsnahe Postversor- viel ... Ob es zweckmäßig ist, der Post AG im Einzelnen gung. Dies alles war in den letzten Jahren weitgehend vorzuschreiben, wie viele stationäre Einrichtungen – und der Fall. Dazu haben die Postagenturen viel beigetragen. zwar Poststellen und Tante-Emma-Läden – vorhanden sein müssen, kann tunlichst bezweifelt werden.“ Das Deswegen sieht dieses Parlament, sieht die SPD-Bun- Protokoll vermeldet nach diesem Absatz Beifall der FDP destagsfraktion die Debatte über die neuen Verträge für und der CDU/CSU. die Postagenturen mit Sorge. Damit das niemand falsch versteht: Wir sind überzeugt, dass die Liberalisierung Wäre es nach der Opposition gegangen, dann hätten der Post gute Preise und guten Service bei gleichzeitiger wir heute überhaupt kein Druckmittel mehr auf die Post AG ortsnaher Versorgung erst möglich gemacht hat. Deswe- in der Hand. Wir hätten keine stringente PUDLV. Nur gen halten wir an der Liberalisierung fest und werden über die PUDLV können wir Einfluss in der Frage der diesen Weg weiter gehen. Es gibt dazu keine seriöse Al- Postagenturen nehmen. Gut, dass wir diese Verordnung ternative. haben. Gut, dass wir von dieser Verordnung jetzt auch Gebrauch machen können. Die Liberalisierung hat bereits erste Preissenkungen ermöglicht: Im Jahr 2003 wurde in Deutschland erstmals Übrigens haben CDU/CSU und FDP in letzter Zeit in der Geschichte das Briefporto gesenkt, nachdem die grundsätzlich einen Eingriff der Bundesregierung in den alte Kohl-Regierung 1997 das Porto noch einmal erhöht geschäftlichen Betrieb von Telekom und Post abgelehnt. hatte. Inflationsbereinigt ist das Briefporto seit den 90er- Das sei schuld am Sturz der Aktienkurse der beiden 2456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) Unternehmen, hat – wie so häufig glatt wahrheitswidrig – sicherstellt. Die Postagenturen helfen damit, die nach der (C) Herr Merz von der CDU behauptet. Er wollte sich bei Post-Universaldienstleistungsverordnung bestehende den Kleinaktionären lieb Kind machen. Die Wahrhaftig- Verpflichtung der Deutschen Post AG einzulösen, die keit ist dabei auf der Strecke geblieben. Grundversorgung der Bevölkerung mit Postdienstleis- tungen sicherzustellen. Es existieren derzeit etwa 7 800 Heute legt diese CDU/CSU einen Antrag vor, wo die Agenturen, in denen circa 21 000 Arbeitsplätze entstan- Bundesregierung zum genauen Gegenteil vom dem auf- den sind. gefordert wird, was Merz, Merkel und Stoiber noch vor wenigen Wochen wollten, nämlich den direkten Eingriff Zurzeit bemüht sich die Post AG um eine Neuord- der Bundesregierung in den geschäftlichen Betrieb der nung ihrer Vertragsbeziehung zu den Agenturnehmern. Post AG. Diese Form von Populismus finde ich peinlich. Viele Agenturen und ihre Interessensvertretungen emp- Er hilft den Betreibern der Postagenturen auch überhaupt finden die von der Post AG vorgeschlagenen Standard- nicht. Die Betreiber der Postagenturen werden von verträge als „Knebelverträge“. Einige Postagenturen be- CDU/CSU missbraucht für Angriffe auf die Bundesre- klagen sogar, dass sie durch die aus diesen neuen gierung. Verträgen resultierenden Umsatzeinbußen in ihrer wirt- Dabei sind es die Postagenturen, um die es hier geht – schaftlichen Existenz gefährdet seien. und nicht die Interessen von CDU/CSU. Die Postagentu- Die SPD-Bundestagsfraktion beobachtet diese Ent- ren benötigen unsere Hilfe. Und die werden Sie auch be- wicklung mit großer Sorge und wird darauf dringen, dass kommen. Diese Hilfe ist schon unterwegs, nämlich in die Post AG die Bestimmungen der Verordnung in vol- Form von zwei Drehschrauben für die Politik: Erstens lem Umfang bis Ende April einhalten wird. Dieses ha- prüft das Kartellamt bereits, ob die neuen Verträge ein ben uns die Vertreter der Deutschen Post AG gestern in Missbrauch von Marktmacht darstellen. Dies ist – das einem Gespräch und heute nochmals schriftlich zuge- sollten wir dann auch dazusagen – keine Vorverurteilung sagt. Unsere Gespräche mit der Post AG hatten auch der Deutschen Post AG. Wir fordern die Post AG auf, zum Erfolg, dass das Unternehmen zumindest in einigen diese Prüfung abzuwarten. Bereichen den Agenturen entgegenkommt. Zweitens haben wir der Deutschen Post AG klar ge- macht, dass wir ohne jeden Abstrich an der Forderung So wird in der Übergangsphase der Vertragsumstel- der PUDLV nach 12 000 Postfilialen und Postagenturen lung den Agenturen im Rahmen eines Verkaufsförde- festhalten. Würden wirklich reihenweise Postagenturen rungspakets eine Provision für den Verkauf von wert- gekündigt und damit die PUDLV verletzt, dann würden schöpfenden Produkten angeboten, die über 200 Prozent automatisch Strafen fällig. Wir werden da keine Aus- höher als üblich liegen. Auch wird der Abschluss eines (B) nahme für die Post AG machen. Wir prüfen auch, ob das Postbank-Girokontos oder eines Telekom-ISDN-An- (D) Strafmaß weiter erhöht werden muss. schlusses mit 50 Euro statt mit 15 Euro vergütet. Flan- kierend wird diese Maßnahme durch umfangreiche Wer- Wir fordern CDU/CSU und FDP auf, den offensichtli- bekampagnen begleitet. chen Populismus sofort einzustellen. Helfen Sie den Postkunden und den Betreibern der Postagenturen. Stop- Wir Sozialdemokraten konnten erreichen, dass diese pen Sie ihre plumpen parteipolitischen Spielchen und ursprünglich bis September 2003 befristete Aktion für ziehen Sie mit uns an einem Strang! Ihr Antrag ist über- alle Partner der Post AG, die neue Verträge abschließen, flüssig. Ihr Antrag ist eine Mischung aus Selbstverständ- auf zwölf Monate ab Vertragsumstellung verlängert lichkeiten und Unsinn. Die wirklich notwendigen wird. Des Weiteren wurden uns zusätzliche Verkaufsför- Schritte nennt er nicht. derungsmaßnahmen zugesichert. Und schließlich sagte uns die Post AG zu, eine regelmäßige Überprüfung der An die Adresse der Deutschen Post AG: Ihr müsst die Vergütung im Lichte der Geschäftsentwicklung vorzu- PUDLV jederzeit und im vollen Umfang erfüllen. Ohne nehmen, um diese gegebenfalls anzupassen. leistungsfähige Postagenturen, deren Betrieb sich auch finanziell lohnen muss, wird das nicht möglich sein. Die Wir erwarten allerdings über diese Zusagen hinaus Post AG sollte ihren Vorteil der ortsnahen Kundenver- von der Post AG, die Neuordnung des Vertragsverhält- sorgung, die sie gegenüber der Konkurrenz hat, nicht nisses mit den Agenturen so lange auszusetzen, bis die mutwillig aufs Spiel setzen. Prüfung des Bundeskartellamtes abgeschlossen ist. An den uns vorliegenden Anträgen von CDU/CSU Hubertus Heil (SPD): Im ländlichen Raum, den Kleinstädten und auch in den Stadtteilen von Großstäd- und FDP irritiert uns, dass diese Parteien der von uns ten müssen die Bürgerinnen und Bürger auch zukünftig verschärften PUDLV damals nicht zugestimmt haben, ein erreichbares Angebot von Postdienstleistungen in sich aber heute als Gralshüter dieser Verordnung auf- Anspruch nehmen können. Das war immer unsere Posi- spielen. Noch mehr irritiert uns, dass der CSU-Kollege tion, das ist unsere Position und das wird auch immer die Singhammer sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, ei- Position der SPD-Bundestagsfraktion sein. nen eigenen Antrag zu formulieren. Im Antrag der CDU/ CSU-Fraktion wird wortwörtlich ein Antrag aus einer Postdienstleistungen werden in erheblichem Umfang Sitzung des Beirates der Regulierungsbehörde für Post durch Postagenturen erbracht. Sie sichern die Grundver- und Telekommunikation wiedergegeben, ohne auf die sorgung dort, wo die Post diese oft nicht mehr über ei- Urheberschaft hinzuweisen. Dem ist zu entnehmen, dass gene Filialen aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen der neue stellvertretende Vorsitzende des Beirates die- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2457

(A) sem Gremium keine allzu große Durchsetzungsfähigkeit werden. In zusammenhängenden bebauten Gebieten (C) einräumt. muss die Einrichtung in maximal 2000 Metern für die Kunden erreichbar sein. Am meisten irritiert uns aber, dass der von CDU/CSU sonst so viel beschworene ordnungspolitische Kompass Die Vorgabe der PUDLV in der seit dem Zweiten Ge- in dieser Frage vollständig abhanden gekommen zu sein setz zur Änderung des Postgesetzes vom 30. Januar 2002 scheint. Im Gegensatz, zu den Bestimmungen des Akti- gültigen Fassung wird von der Deutschen Post hinsicht- engesetzes soll nach Vorstellung der Union der Bund als lich der Anzahl der stationären Einrichtungen erfüllt. Je- Mehrheitsaktionär einen direkten Einfluss auf betriebs- doch ist mit Stand November 2002 die neue Vorgabe von wirtschaftliche Entscheidungen nehmen. zusätzlichen stationären Einrichtungen in Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern nur etwa zu 75 Prozent Ist es nicht immer wieder die Union, die in Bezug auf erfüllt und die Verpflichtung zur Schaffung von stationä- die Deutsche Telekom AG zu Recht das Gegenteil er- ren Einrichtungen aufgrund des Flächenkriteriums von wartet? 80 Quadratkilometern ist bislang nur etwa zu 70 Prozent Populistisch durch jeden Wahlkreis zu ziehen und von erfüllt. Und es gibt Hinweise, dass Postfilialen, die auf- der Bundesregierung Handeln einzufordern, das weder grund eines Betreiberwechsels oder Personalmangels ge- eine Rechtsgrundlage hat noch der ordnungpolitischen schlossen wurden, nicht zeitgerecht wieder geöffnet wer- Vernunft entspricht, mag kurzfristig Effekte erzielen, ist den. Aktuell beschäftigt uns die Debatte, dass die Post aber alles andere als hilfreich, um nicht zu sagen däm- den Postagenturen deutlich schlechtere Verträge anbie- lich. Herr Singhammer macht den Eindruck eines klei- tet. Es existieren 7 800 Agenturen, in denen circa 21 000 nen Jungen, der am Rande eines Ozeans steht und den Arbeitsplätze entstanden sind. Die neuen Verträge sollen Versuch unternimmt, durch das Werfen von Kieselstein- den wirtschaftlichen Betrieb der Agenturen gefährden. chen den Kurs eines Tankers zu beeinflussen. Und die Post soll ihre Monopolstellung nutzen, um im Vertriebsbereich zulasten der Agenturen Kosten zu spa- Lassen Sie uns lieber die rechtlichen Instrumente nut- ren. zen, um einen fairen Interessenausgleich zwischen den berechtigten betriebswirtschaftlichen Interessen der Ich sage hier sehr deutlich im Namen der grünen Post-AG und den Agenturen herbeizuführen. Fraktion: Wie die Post ihre Verpflichtungen erfüllt, ist ihre Sache. Wir werden es dem Unternehmen nicht vor- Erst wenn sich dann zeigen sollte, dass die vorhande- schreiben. Aber dass sie für die Verbraucher die zwin- nen rechtlichen Instrumente zur Durchsetzung der flä- gend erforderliche Versorgung bereitstellen muss, ist auch chendeckenden Umsetzung der Universaldienstverord- klar. Die Post muss die Vorgaben der PUDLV einhalten. nung nicht ausreichen, werden wir neue schaffen. Dazu Wir werden aus gegebenem Anlass zudem prüfen, ob die (B) (D) gehören dann auch gegebenenfalls neue Instrumente der bestehenden rechtlichen Instrumente ausreichen, einer Regulierungsbehörde. möglichen Gefährdung der flächendeckenden Versor- gung mit Postdienstleistungen entgegenwirken zu kön- Jetzt aber gilt es, die vorhandenen Mittel auszuschöp- nen. Die Post möchte ich auffordern, die Neuordnung fen. der Vertragsverhältnisse mit den Agenturen so lange aus- zusetzen, bis die Prüfung des Bundeskartellamtes abge- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schlossen ist. Nicht jeder Mensch chattet im Internet. Ja, es soll sogar Menschen geben, die überhaupt keinen Computer besit- zen und keinen Zugang zum Internet haben. Die Post ist Anlage 7 für die Kommunikation immer noch unentbehrlich, wenn die Oma ihrem Enkel ein Päckchen zum Geburts- Zu Protokoll gegebene Reden tag schicken will oder die Schülerin ihrem Brieffreund Zur Beratung der Anträge: schreibt oder auch nur – ganz wunderbar altmodisch – ein Liebesbrief geschrieben und abgeschickt werden – GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentli- soll. Die Sicherstellung der flächendeckenden Grundver- ches Gut und kulturelle Vielfalt sichern sorgung mit Postdienstleistungen gehört zur Daseinsvor- – GATS-Verhandlungen – Transparenz und sorge. Gerade die Menschen, die verstärkt auf die Post Flexibilität sichern angewiesen sind, sind zum Teil auch körperlich nicht so mobil, weil sie zum Beispiel noch nicht oder nicht mehr (Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7) Auto fahren. Deshalb muss die nächste Postdienststelle auch in der Fläche für die Menschen erreichbar sein. Ulla Burchardt (SPD): Internationale Handelsver- einbarungen wie die um GATS haben Auswirkungen auf Den Umfang dieses Universaldienstes hat die rot- nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche und betreffen grüne Bundesregierung in der Post-Universaldienstleis- letztendlich jeden Einzelnen. Von daher ist es nicht ver- tungsverordnung (PUDLV) festgelegt und damit 1998 wunderlich, dass es eine intensive kritische öffentliche den massiven Abbau von Postdiensten gestoppt. Die Debatte gibt, in die sich die unterschiedlichsten Gruppen PUDLV ist das zentrale Instrument zur Sicherung eines und Institutionen einbringen. Mindestangebots durch die Deutsche Post und deren Wettbewerber. In allen Gemeinden mit mehr als 2000 Ein- Man muss ja nicht alle Beiträge und Forderungen gut wohnern muss eine stationäre Einrichtung vorgehalten und richtig finden, aber für meine Fraktion kann ich 2458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) sagen: Wir begrüßen diese öffentliche Debatte und hal- Von der Unionsfraktion liegt – obwohl anders ange- (C) ten sie für notwendig. Vor allen Dingen aber halten wir kündigt – bis heute kein Antrag vor. Das ist insofern be- es für geboten, ja geradezu für unseren Auftrag als Ab- merkenswert, als mindestens die CDU-regierten Länder geordnete, dass sich der Deutsche Bundestag mehr als in über die BLK eine Position mitformuliert haben, die mit der Vergangenheit in diese Verhandlungsprozesse ein- unserer deckungsgleich ist und auch in den bisherigen bringt und positioniert, also der Bundesregierung einen Bundestagsberatungen an wesentlichen Stellen Überein- klaren Verhandlungsauftrag mit auf den Weg gibt. stimmung festzustellen war. Auseinandersetzung mit un- serem Antrag erschöpft sich im Wesentlichen in der Kri- Mit der Beschlussfassung über unseren Antrag heute tik, wir redeten „ja nur Gruppen wie attac nach dem sind wir sozusagen „just in time“: das Angebot der EU- Munde“ und hätten „zu einer Überschätzung des Themas Kommission liegt vor, die Bundesregierung wird wie die in der Öffentlichkeit beigetragen“, deshalb lehnten sie anderen Mitgliedstaaten ihre Stellungnahme erarbeiten, ihn ab. Dieser Schuss geht nach hinten los: die öffentli- so dass das endgültige Angebot am 30. März steht. che Diskussion gab es bereits Monate bevor der Bundes- Mit diesem Antrag liegen wir aber nicht nur im Zeit- tag sich des Themas angenommen hat. Insofern ist Ihre plan richtig, sondern auch mit unseren Positionen. Uns Kritik ein Zeichen dafür, dass Sie dieses Interesse bis ging und geht es darum, Bildung als öffentliches Gut und heute entweder nicht realisieren oder hartnäckig ignorie- kulturelle Vielfalt zu sichern. Wir sehen keine Notwen- ren. digkeit für weitergehende Liberalisierungen, halten die bisherigen für ausreichend, zumals sie weitergehender Dem gegenüber haben wir uns ernsthaft mit den vor- sind als die anderer Staaten. Wir wollen mehr Qualitäts- liegenden Stellungnahmen fachlich relevanter Institutio- wettbewerb und mehr Internationalisierung, nur ist nen und Organisationen befasst, wie denen der Bund- GATS nicht der zielführende Weg. Die einzelnen Forde- Länder-Kommission und der Hochschulrektorenkonfe- rungen und Begründungen sind in der ersten Lesung und renz, dem Wissenschaftsrat und der Gewerkschaft Erzie- in der Ausschussberatung hinlänglich dargestellt wor- hung und Wissenschaft. Wir haben große Übereinstim- den. Ich kann feststellen, dass der Kommissionsentwurf mung erzielt und in Gesprächen großes Lob und inhaltlich in Bezug auf Bildung und Kultur unseren Vor- Zustimmung gefunden. stellungen entspricht, also kein Angebot enthält. Auszu- In der abschließenden Bewertung komme ich zu dem machen bleibt die überfällige Klarstellung des Begriffs der „governmental services“. Ergebnis: Die FDP ist mit ihrer Postition völlig isoliert, während die CDU/CSU sich offenkundig aus rein takti- Ein weiteres Kernanliegen betrifft das grundsätzliche schen Gründen bis heute nicht zu einem Antrag hat durchringen können. Sie haben jetzt die Chance, sich (B) Verhandlungsverfahren. Wir wollen öffentliche Transpa- (D) renz und die frühzeitige Beteiligung des Bundestages. von Ihrer entschiedenen Sowohl-als-auch-Position weg- Und hierzu kann ich feststellen, dass durch die Initiati- zubewegen. Stimmen Sie unserem Antrag zu! ven der Koalitionsfraktionen eine neue Sensibilität und Dynamik für die Parlamentarisierung internationaler Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Die Europäi- Entscheidungsprozesse angestoßen worden ist. Das ist sche Kommission bereitet derzeit ihr Verhandlungsange- gut so, denn Regelungen mit derart weitreichenden Wir- bot im Rahmen der Welthandelsrunde WTO für das All- kungen wie GATS können und dürfen nicht ausschließ- gemeine Übereinkommen über den Handel mit lich Bürokratien überlassen werden. Das wäre geradezu antidemokratisch und es gibt überhaupt keinen Grund, Dienstleistungen, GATS, vor. Die Mitgliedstaaten sind bei internationalen Regelsetzungen prinzipiell anders zu aufgefordert, bis zum 18. März 2003 ihre Stellungnahme verfahren als bei innerstaatlichen. abzugeben, damit die EU-Kommission ihre in der Welt- handelskonferenz von Doha gegebene Zusage, bis zum Darüber hinaus hat EU-Kommissar Lamy dankens- 31. März 2003 ein Angebot an die WTO zu machen, werterweise bei seinem Gespräch mit dem EU-Aus- auch einhalten kann. schuss betont, wie wichtig öffentliche Transparenz und Beteiligungen im Hinblick auf den Verhandlungsprozess Das vorläufige Eingangsangebot, Initial Draft Offer, seien, um dem Entstehen irrationaler Ängste und Kriti- der Kommission wurde am Freitag, dem 7. Februar 2003 ken keinen Vorschub zu leisten. unter strikter Vertraulichkeitsauflage den nationalen Par- lamenten zugänglich gemacht. Das bedeutet, dass die Nun noch einige Anmerkungen zur Debatten- und Parlamente weder ausreichend Zeit noch die Möglich- Antragslage. Beim Antrag der FDP-Fraktion handelt es keit zur Beratung in den Ausschüssen, zur Diskussion sich um eine Mogelpackung. Mit der Überschrift haben mit den Betroffenen sowie einer breiteren Öffentlichkeit sie wortgleich unsere Position übernommen, ihre Fest- haben. Gerade diese fehlende Transparenz ist angesichts stellungen und Forderungen laufen jedoch genau auf das der Bedeutung der GATS-Verhandlungen gesellschaft- Gegenteil hinaus. Sie bedeuten nicht Sicherung sondern lich und politisch nicht hinnehmbar. Gefährdung von Bildung als öffentlichem Gut und kultu- reller Vielfalt. Man findet die altbekannte Variation neo- Der Handel mit Dienstleistungen umfasst bisher etwa liberaler Ideologie, in der der Markt zum Mythos wird ein Fünftel des Welthandels und soll – wenn es nach dem und Liberalisierung als Zaubermittel für mehr Qualität Willen der WTO und vieler Interessierter geht – im kom- gilt. Das ist eine Position, die mehr mit Glauben und we- menden Jahrzehnt auf 50 Prozent des Welthandelsvolu- nig mit adäquater Problemlösung zu tun hat. mens wachsen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2459

(A) Da das Erbringen von Dienstleistungen in den OECD- wogen und wir wissen, dass viele Abgeordnete aus ande- (C) Ländern circa 60 bis 70 Prozent zum jeweiligen BSP ren Fraktionen dieses Hauses unsere Sorgen teilen. beiträgt, ist klar, dass der hier begonnene Weg einer Wir wollen deutlich machen: Entscheidungen von deutlichen Ausweitung der Liberalisierung des Dienst- solcher Tragweite können und dürfen nicht hinter ver- leistungshandels von einschneidender Bedeutung sein schlossenen Türen der Bürokratien von nationalen Re- wird. gierungen und der Europäischen Kommission fallen. Dienstleistungen begleiten uns von der Geburt bis Volle Transparenz, eine umfassende Information und zum Lebensende. Sie sind nicht nur in der staatlichen Diskussion der Betroffenen und der breiteren Öffentlich- Organisation und öffentlichen Daseinsvorsorge wichtig, keit sind unabweisbar und auch die Anhörung der Be- sondern auch einer der wichtigsten Wachstumsbereiche troffenen. auf den privaten Märkten. Alles andere widerspricht den demokratischen Tradi- Für wen, in welchem Umfang, in welcher Qualität tionen der europäischen Völker. Ich sage es offen: Der und zu welchem Preis die öffentliche Daseinsvorsorge Mangel an Demokratie in der Spitze der Europäischen zur Verfügung steht, bestimmt in hohem Maße Wohl- Union und die Arroganz der Brüsseler Bürokratie und stand und Lebensqualität, Leben und Gesundheit. Sie ihre Missachtung demokratischer Informations- und Ent- prägt auch Chancengleichheit, sozialen Zusammenhalt scheidungsprozesse kann und wird so nicht mehr hinge- und zu einem nicht geringen Teil das, was wir als natio- nommen werden. Die Entscheidung des niederländi- nale Identität, kulturelles Erbe, aber auch Heimat defi- schen Parlaments, heute die des Deutschen Bundestages nieren. und morgen des finnischen Parlaments, die harsche Kri- tik im französischen Parlament, im britischen Unterhaus Beim GATS geht es dabei nicht nur allein um private und im Europäischen Parlament machen deutlich, dass wirtschaftsnahe Dienstleistungen wie Datenverarbei- die bisherigen Verfahrensweisen nicht mehr akzeptiert tung und Kommunikation, einschließlich Post und Tele- werden. kombereich, Werbung, Bau, Montage und vieles mehr und freie Berufe. Es geht auch um Bildung, medizini- Aber es ist nicht nur das Verfahren, das kritisierens- sche und soziale Dienstleistungen vom Krankenhaus bis würdig ist, es gibt auch eine Fülle von schwerwiegenden zur Altenpflege, Umweltdienste von Wasser und Abwas- Bedenken von Betroffenen, die berücksichtigt oder aber ser bis hin zur Müllabfuhr, Erholung, Kultur und Sport. geklärt werden müssen, bevor die Bundesregierung auf Nur die „in Ausübung hoheitlicher Gewalt“ erbrachten den von uns in der Entschließung genannten Bereichen Dienstleistungen sind ausgenommen – aber was die sind, ihre Zustimmung im 133-er Ausschuss erklären kann. darüber gibt es keinen weltweiten Konsens – bis auf ei- Diese Bedenken wollen wir in einer Anhörung am (B) nen sehr engen Bereich wie Regierung, Parlament, 7. April zur Kenntnis nehmen, bewerten und dann ent- (D) Rechtssprechung, Militär und innere Sicherheit. Und scheiden. selbst bei den letzten Bereichen gibt es sichtbare Auf- Ich wiederhole: Für die Parlamentsmehrheit ist un- weichungstendenzen in einer Reihe von Staaten. denkbar, dass die Bundesregierung sich vorher festlegt. Bei den Verhandlungen geht es also auch entschei- Da uns vonseiten der Regierung auch immer versichert dend darum, was an Leistungen künftig öffentlich er- wurde, dass im Verhandlungsverfahren, das Angebot bracht wird bzw. erbracht werden darf und welche Krite- ständig weiter verändert werden darf, kann es wohl kein rien außer der reinen Gewinnerzielung Geltung haben Problem sein, unter anderem in den Bereichen keine An- sollen. Gerade in der Daseinsvorsorge, bei den Leistun- gebote zu machen, beispielsweise bei den grenzüber- gen, die in unseren Städten und Gemeinden erbracht schreitenden, zeitlich befristeten Dienstleistungen durch werden, sind die Fragen existentiell, wie viel Gestal- Personen, in denen das Parlament Bedenken hat bzw. tungsspielraum die öffentliche Hand noch haben wird, Klärungsbedarf sieht. wie viel Zuschüsse noch erlaubt bzw. ob jeder private Was ist dabei für uns grundsätzlich wichtig? Anbieter ebenso Anspruch auf öffentliche Subventionen hat wie gemeinnützige Organisationen. Erstens. Wir sehen bei der gegenwärtigen und abseh- baren Arbeitsmarktlage in Deutschland und Europa Aber es geht beim GATS mit der Gestaltung einer grundsätzlich keinen Bedarf für eine Öffnung der neuen internationalen Marktordnung für Dienstleistun- Dienstleistungsmärkte für Personen. Dies gilt nicht nur gen nicht nur um eine neue Ordnung des globalen Ar- für die Arbeitnehmer, sondern auch für Selbständige, In- beitsmarktes. Es wird auch eine neue globale und soziale dependent Professionals. Ausnahmen im Bereich von Ordnung vorgezeichnet, die tief in die bisher vorhande- Managern, Geschäftsreisenden, Wissenschaftlern und nen politischen, sozialen und kulturellen Wertvorstellun- Forschern sowie bei der Weiterbildung im Akademiker- gen und Ordnungssysteme der meisten Nationalstaaten bereich sind nicht unser Problem. eingreift und ihre Handlungsspielräume für politische Gestaltung in der Vergangenheit eingeschränkt hat und Zweitens. Wir wollen im Rahmen von allen Handels- in der Zukunft erheblich einschränken kann. abkommen soziale, ökologische und Verbraucherstan- dards systematisch einbezogen sehen. Im GATS ist uns Die Sorge um diese weltweiten Entwicklungstenden- das besonders wichtig. Es kann und darf auf keinen Fall zen, das schrittweise Zurückdrängen des öffentlichen – über welche Hintertüre auch immer – ein Zwei- oder Raums und der demokratischen Entscheidung hat uns Dreiklassensystem von Beschäftigten geben. Das ent- Sozialdemokraten zu diesem Entschließungsantrag be- steht aber fast zwangsläufig, wenn nicht von Anfang an 2460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) klargestellt wird, dass auf unserem Boden das Arbeits- Fraktion für dieses wichtige Thema auch eine angemes- (C) verhältnis mindestens nach deutschem Recht geregelt ist. sene, offene Plenardebatte notwendig gewesen. Wenn im Entsendeland Löhne und Rechte besser sind, will das niemand von uns verwehren. Aber wir wollen Festzustellen ist zu Beginn, dass bei der Problematik der GATS-Verhandlungen im Grundsatz bei den Kultur- keine Heloten zum Beispiel aus Entwicklungsländern in politikern aller Fraktionen im Deutschen Bundestag Ei- der Europäischen Union und in Deutschland, die unter nigkeit besteht. Einigkeit besteht darüber, bei den aktuel- unsäglichen Arbeitsbedingungen und Minimallöhnen bei len und künftigen GATS-Verhandlungen „Bildung als uns arbeiten wie in den Golfstaaten. Das, was sich schon öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt zu sichern“, wie heute in Deutschland auf vielen Baustellen abspielt, ist die Überschrift des Antrags der Koalitionsfraktionen for- schlimm genug; eine Erweiterung darf es nicht geben. dert. Und die Gefahr ist nicht gering. Denn in Deutschland gibt es keine verbindlichen Mindestlöhne wie in anderen Die Feststellung der grundsätzlichen Einigkeit ist europäischen Ländern und – außer im Baubereich – nicht unwichtig, und sie macht zweierlei deutlich: Ers- keine Entsenderichtlinie, die diese Bereiche verbindlich tens macht sie deutlich, dass die besondere Bedeutung, regelt. aber auch die Problematik, die mit der fortschreitenden Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen ver- Drittens. Wir wollen den Bereich der öffentlichen Da- bunden ist, vom deutschen Parlament gesehen wird. seinsvorsorge im weiteren Sinne nicht in die Liberalisie- Zweitens macht sie deutlich, dass das Parlament die Not- rung des Dienstleistungshandels einbeziehen. Deswegen wendigkeit sieht, einen eigenen Standpunkt zu den lau- begrüßen wir ausdrücklich, dass die Europäische Kom- fenden Verhandlungen zu formulieren. Das ist nicht we- mission in den Bereichen Bildung, audiovisuelle Dienst- nig. Aber es ist eben auch nicht genug. Ich bin zwar leistungen, Gesundheit sowie Wasser, um nur einige Be- sicher, dass der Antrag der Koalition gut gemeint ist, reiche zu nennen, keine Angebote gemacht hat. Dabei aber das reicht nicht. soll es im Laufe des GATS-Verhandlungsprozesses auch verbindlich bleiben. Aber ich möchte ausdrücklich beto- Denn leider wird der vorliegende Antrag aus einer nen, dass wir uns auf Definition der Public Services und Reihe von Gründen den einleitend festgestellten Ge- der öffentlichen Daseinsvorsorge einigen, um bei Strei- meinsamkeiten nicht gerecht. Beim Thema Bildung ist tigkeiten im Rahmen der WTO klarzustellen, dass diese mir der Antrag viel zu defensiv. Gerade der deutsche Bil- dungsbereich kann etwas Wettbewerb gut gebrauchen. Bereiche allein der politischen Entscheidung der souve- Selbst internationale Qualitätsstandards sind ja, seit wir ränen Staaten vorbehalten sind und bleiben. Das schließt die Ergebnisse von PISA kennen und wissen, was Ab- auch Umweltdienstleistungen und den Verkehrsbereich schlüsse von Hochschulen aus aller Welt im Vergleich zu mit ein. Für die Entscheidung über Qualität und ihre Si- (B) vielen deutschen Universitäten inzwischen Wert sind, (D) cherung und die Frage der Gewährung öffentlicher Sub- nicht mehr zu fürchten. Vielleicht kann sogar Wettbe- ventionen muss das Gleiche gelten. werb von außen hier zu sinnvollen Strukturveränderun- Viertens. GATS-Verpflichtungen müssen die Mög- gen in den Bundesländern führen. Aber das ist nur die lichkeit einschließen, Modelle zu erproben und spezifi- halbe Wahrheit: Denn Bildung, insbesondere Schulbil- sche Verpflichtungen zu überprüfen und gegebenenfalls dung, hat immer noch einen sehr regionalen Bezug und zurückzunehmen, wenn die Erwartungen nicht realisiert steht für Kultur schlechthin. Nähern wir uns allerdings werden können. Vor Übernahme weiterer Liberalisie- dem GATS-Thema von der Seite der Kultur, liegen die rungsverpflichtungen müssen Folgeabschätzungen Probleme etwas tiefer und wiegen schwerer. Aus kultur- politischer Sicht liegt das große Manko des vorliegenden durchgeführt und öffentlich diskutiert werden können. Antrages darin, dass der kulturelle Aspekt der GATS- Wir befinden uns als Deutscher Bundestag erst am Verhandlungen viel zu kurz kommt. Anfang der Diskussion darüber, wie wir Globalisierung Wie die Bildung entzieht sich die Kultur der reinen sozial, ökologisch und fair mitgestalten können. Eine Logik des Handels mit Dienstleistungen. Gleichzeitig breite Öffentlichkeit erwartet von uns zu Recht, dass wir gilt es, bei den konkreten GATS-Verhandlungen zu be- diese Aufgabe nicht rein passiv zur Kenntnis nehmen rücksichtigen, dass Kultur genauso wie Bildung zu den oder gar als Notare der Exekutive im abschließenden Ra- Kernaufgaben einer demokratischen Gemeinschaft ge- tifizierungsverfahren beglaubigen. Das wird von uns hört und damit nicht ausschließlich wirtschaftlichen Ge- noch viel Anstrengung, Zeit und auch eine Änderung un- sichtspunkten untergeordnet werden kann. Die Struktur serer parlamentarischen Arbeitsweise verlangen, damit der öffentlich subventionierten Kultur in Deutschland wir unserem eigenen Anspruch, Politik auf allen Sekto- darf durch die GATS-Verhandlungen nicht generell zur ren der Globalisierung zu gestalten, gerecht werden. Disposition gestellt werden. Ein wichtiger Schritt dazu ist heute getan. Im Hinblick auf den Bereich der audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen ist es von entscheidender Bedeutung, auf die besondere historisch gewachsene Günter Nooke (CDU/CSU): Gestern hat das Europä- Struktur und die kulturelle Vielfalt in Deutschland und ische Parlament über die Liberalisierung kultureller den Regionen Europas hinzuweisen. Dienstleistungen debattiert. Nach dem die Koalitions- fraktionen das Thema unbedingt noch auf die Tagesord- Aus diesem Grund ist es nicht nur wünschenswert, nung setzen wollten, wäre aus Sicht der CDU/CSU- sondern unserer Meinung nach auch notwendig, ein Ab- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2461

(A) kommen zum Schutz der kulturellen Vielfalt anzustre- Der komplizierte Verhandlungsweg der GATS-Run- (C) ben, das bei künftigen Liberalisierungsverhandlungen den sollte uns andererseits aber auch nicht zu Überreak- Standard und Referenzpunkt ist. tionen veranlassen oder zu blankem Aktionismus oder gar blindem Protektionismus führen: Weder das kultu- Ob das in Form einer völkerrechtlichen Vereinbarung relle Erbe des „alten Europa“ noch die föderale Verfas- geschieht, ähnlich zur Biodiversität oder als Klausel „vor sung Deutschlands und auch nicht die Stadttheater sind der Klammer“ auch künftiger GATS-Vereinbarungen, in akuter Gefahr, jedenfalls nicht und nicht in erster Li- muss geprüft werden. Vielleicht ist sogar beides sinn- nie durch die laufenden Verhandlungen zur Liberalisie- voll. Entscheidend ist vor allem, dass diese Vereinbarung rung des Handels mit Dienstleistungen. Referenzpunkt für künftige Liberalisierungsangebote im Rahmen der GATS-Verhandlungen ist und bindenden Allerdings ist die Praxis der Kulturförderung des „al- Charakter für die künftigen Stellungnahmen der Betei- ten Europa“ nur schwer kompatibel mit anderen Model- ligten an den Verhandlungen hat. len, zum Beispiel in den USA. Im Unterschied zu den USA subventioniert im „alten Europa“ der Staat die Kul- Der Antrag stellt in der Überschrift eine Verbindung tur. Und im Unterschied zu den USA stehen im „alten her zwischen Bildung und Kultur. Das ist der Sache nach Europa“ Theater und Opernhäuser mit 300-jähriger Ge- völlig richtig. Aber es muss auch begründet werden, schichte. Hierüber ist – im Gegensatz zu anderen aktuel- sonst ist der Zusammenhang bloß zufallig und die spe- len Fragen – ein Streit mit den USA nötig und richtig. zielle Problematik der Kultur bloß Anhängsel der Pro- blematik bei der Bildung. Leider bleibt im Antrag der Fazit: Die innere Logik von WTO-Verhandlungen, Zusammenhang zufällig. Das ist nicht ausreichend und die immer in Richtung „fortschreitende Liberalisierung“ damit für die künftigen Verhandlungen – leider – wert- führt, darf nicht die Identität und die regionalen Zusam- los. menhalt stiftende Rolle der Kultur zerstören. Auf folgenden Sachverhalt ist also dezidiert hinzu- Zum Schluss: Wir fordern die Bundesregierung auf, weisen: Erfolgreiche Bildungspolitik trägt auch dazu bei, bei den GATS-Verhandlungen sicherzustellen, dass die dass kulturelle Produktion und kulturelle Wertschöpfung von den Bundesländern wahrgenommene Kulturhoheit in ihren unterschiedlichen Ausprägungen nachgefragt durch das GATS-Abkommen nicht beeinträchtigt wird, wird und damit ihre Vielfalt erhalten und gesichert wer- dass die Regeln zur „Inländerbehandlung“ gemäß den. Das heißt, dass unsere kulturellen Angebote – ich Art. XII des GATS-Vertrages nicht so ausgelegt werden, spreche ganz betont nicht von „kulturellen Dienstleistun- dass eine generelle Verpflichtung zur staatlichen Sub- gen“! – nur dann auch in kommenden Generationen ventionierung auch privater Anbieter entsteht – die staat- nachgefragt, verstanden und weitergegeben werden, liche Finanzierung von Bildungs- und Kultureinrichtun- (B) wenn in den Schulen entsprechende Grundlagen für die gen in Deutschland darf keine Subventionsansprüche (D) Rezeption gelegt werden. ausländischer Anbieter erzwingen – und dass es zu ei- nem völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz kulturel- In diesem Zusammenhang ist es besonders bedrü- ler Vielfalt als Referenzgröße für weitere Liberalisierun- ckend festzustellen, dass an den Schulen in Deutschland gen im Dienstleistungssektor kommt. immer wieder und als erstes die musisch-kulturellen-Fä- Wir begrüßen, dass die Antwort der Staatsministerin cher nicht gelehrt werden. Wir brauchen hier eine Kehrt- für Kultur und Medien, Christina Weiss, auf diesen Vor- wende, wir müssen die musisch-kulturelle Bildung wie- schlag von uns positiv ist, und damit erheblich weiter der in den Vordergrund stellen, vor allem in den Schulen. geht als der Antrag der Koalition. Und wir müssen dafür sorgen, dass eine künstlerische Ausbildung – in den Kunst- und Musikschulen der Wir können dem vorliegenden Antrag aus kulturpoli- Städte und Gemeinden – nicht als Luxus angesehen tischer Sicht nicht zustimmen, weil er zentrale Forderun- wird, sondern als Grundlage zum Verständnis unserer gen zum Schutz der kulturellen Vielfalt – außer, gut ge- Kultur. Eine solche Grundlage bildet übrigens auch der meint, im Titel – nicht vorsieht; weil er damit den Religionsunterricht. besonderen Stellenwert der Kultur bei den Verhandlun- gen nicht annähernd berücksichtigt und so keine Hilfe Wenn wir hier nicht zu einem anderen Verständnis, zu bei künftigen Verhandlungen darstellt; weil die Interes- einem anderen Stellenwert der Kultur in der Gesellschaft sen der Kulturverbände und -institutionen nicht ange- kommen, dann können wir uns künftig die Diskussionen messen vertreten werden und weil die Verbindung der über die GATS-Verhandlungen zumindest im Kulturbe- Problematik bei den GATS-Verhandlungen von Bildung reich ganz sparen. und Kultur nicht hergestellt wird. Soweit ist es noch nicht, die Verhandlungen stehen Festzuhalten bleibt, dass Mitglieder der CDU/CSU- nicht vor dem Abschluss, sie stehen am Anfang. Aber ih- Fraktion im Deutschen Bundestag die Intention des An- nen liegt das Prinzip der „fortschreitenden Liberalisie- trages im Grundsatz unterstützen und dass wir auch bei rung“ zugrunde. Das heißt, dass wir in großen Zeiträu- künftigen Diskussionen die Bundesregierung unterstüt- men denken müssen. zen werden, wenn es darum geht, den Schutz der kultu- rellen Vielfalt einzufordern. Das ist eine Fähigkeit, die bei der Bundesregierung nur sehr rudimentär entwickelt ist. Aber morgen früh Wir wünschen uns eine Bundesregierung und ein werden wir ja durch den Kanzler vom Gegenteil über- Wirtschaftsministerium, die diese Positionen in der EU zeugt werden, wie man seit über zwei Wochen hört. in den kommenden Verhandlungen offensiv vertreten 2462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) und nicht etwa den Kulturteil zum Beispiel nur Frank- brechen von Tarifkartellen, Sie wollen keine Ausnahmen (C) reich überlassen. Wir wollen wie die Koalitionsfraktio- beim Arbeitsrecht für Leih- und Entsendefirmen. nen umfassend informiert werden. Wir werden die Re- gierung an den Ergebnissen messen. Heute Nachmittag erhielt ich eine bemerkenswerte Mail aus dem BMWA. Andere Kollegen, auch aus der Regierungsfraktionen, haben diese Mail auch erhalten. Ulrike Flach (FDP): Beim Thema „GATS-Abkom- Darin wird völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die men“ wird die unterschiedliche Grundphilosophie zwi- Verabschiedung des Antrages, vor allem der geforderte schen SPD/Grünen sowie Teilen der Union und den „Parlamentsvorbehalt“, zu einer „Lähmung der Hand- Liberalen deutlich: Wir alle wissen, dass unser Bil- lungsfähigkeit der Gemeinschaft mit unabsehbar nach- dungssystem derzeit für den internationalen Wettbewerb teiligen Auswirkungen auf den Fortgang der gesamten nicht ausreichend gerüstet ist. Sie ziehen daraus den WTO-Verhandlungen“ führen könnte. Die im Antrag im- Schluss, einen Schutzzaun zu errichten, um unsere Bil- mer wieder genannten „schwerwiegenden Bedenken“ dungslandschaft vor dem Eindringen ausländischer An- sind gerade nicht erkennbar. Was ist bei Ihnen eigentlich bieter zu schützen. Sie tun allerdings nichts, um die los? Gibt es denn überhaupt keine Koordination zwi- Hochschulen so fit zu machen, dass sie im Wettbewerb schen Regierungsebene und Parlamentsfraktionen? bestehen können. Wer hat hier eigentlich die Federführung, die sach- Wir dagegen gehen den umgekehrten Weg: Wir wol- kundigen Experten in den Ministerien oder die Angstma- len Wettbewerbsdruck erzeugen und damit auch durch- cher in der Fraktion? aus ein Signal setzen, dass die Qualität unserer Bil- dungsanbieter nicht ausreicht. Deshalb fordern wir in Wer so denkt, wer solche Anträge schreibt, der er- unserem Antrag, dass zum Beispiel die Akkreditierung weist sich als strukturell unfähig, neue Potenziale zu er- von Studiengängen, Eingangstests für Studierende oder schließen und neue Dienstleistungsmärkte für Arbeits- die Überprüfung von Qualitätsstandards als Angebote plätze zu nutzen. Geht es uns denn bei 20 Prozent für eine weitere Liberalisierung eingereicht werden sol- Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern noch nicht len. schlecht genug? Wir werden erleben, wie andere Regio- nen dieser Welt auch mithilfe von GATS zu dynami- Aber wir lassen die Hochschulen im Wettbewerbs- schen Wirtschaftsräumen werden, während Deutschland druck nicht allein, sondern wir wollen ihnen auch die in seiner geschützten, staatlich behüteten Behäbigkeit Mittel und die rechtlichen Rahmenbedingungen geben, beharrt. damit sie die Herausforderungen bestehen können. Wir wollen ein entrümpeltes HRG, eine Reform der Profes- Wir lehnen Ihren Antrag ab, denn Sie sehen GATS (B) sorenbesoldung und ein modernes Wissenschaftstarif- nur als Bedrohung. Mit Angst in der Hose kann man (D) vertragsrecht für eine autonome und leistungsfähige keine Märkte erobern. Die FDP hat keine Angst, sondern Hochschule. sieht in GATS eine echte Chance für mehr Wettbewerb und bessere Qualität von Dienstleistungen. Während Sie Artenschutz betreiben, wollen wir Qua- litätsverbesserung. Und dabei haben wir die Unterstüt- zung des Stifterverbandes für die Wissenschaft, der sich Anlage 8 dafür ausspricht, auch ausländischen Hochschulen im Wettbewerb um staatliche Fördermittel eine Chance zu Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung geben, wenn die Studiengänge akkreditiert sind, die der Anträge: Hochschule nach § 70 HRG anerkannt ist und eine Eva- – Keine Zustimmung zur Erhöhung der luierung der Qualität, zum Beispiel durch den Wissen- EURATOM-Kreditinie schaftsrat, stattgefunden hat. – EURATOM-Vertrag nicht aufweichen – Jetzt haben Sie vorgestern einen neuen Antrag vorge- Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzie- legt, der im Grunde nur zwei Aussagen macht: rung Erstens. Die nationalen Parlamente sind nicht ausrei- (Tagesordnungspunkt 12 und Zusatztagesord- chend berücksichtigt worden und es geht alles zu nungspunkt 8) schnell. Zweitens. Sie sehen schwerwiegende Bedenken bei Horst Kubatschka (SPD): Der Antrag der Koalition jeder Form der Deregulierung. „Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kre- ditlinie“ hat zwei klare Ziele: Ich finde es wirklich erstaunlich, wie sehr Reden und Handeln bei Ihnen auseinander klaffen. Morgen wird der Erstens. Der Anleihehöchstbetrag soll nicht von bis- Kanzler in seiner „Ruck-Rede“ für das Aufbrechen von her 4 auf 6 Milliarden Euro erhöht werden. Traditionskartellen, für Entbürokratisierung und Außer- Zweitens. Der Anwendungsbereich von EURATOM- kraftsetzen von überflüssigen Vorschriften sprechen. Darlehen soll nicht erweitert werden. Hier liegt die rot-grüne Realität vor uns: Sie wollen keine Öffnung der Dienstleistungsmärkte, der Wasser- Die Bundesregierung soll darauf drängen, dass die und Abwasserentsorgung, Sie wollen kein Außer-Kraft- entsprechenden Vorschläge der Kommission in Brüssel Setzen von Prüfungsvorschriften, Sie wollen kein Auf- im Ecofin-Rat abgelehnt werden. Damit unterstützen wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2463

(A) die Linie der Bundesregierung, die im EU-Ministerrat halten wir grundsätzlich für richtig. Die Rückzahlung (C) Umwelt am 9. Dezember letzten Jahres erklärt hat, dass der EURATOM-Kredite sollen aus den Betriebsgewin- eine Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie abgelehnt nen der Atomkraftwerke zurückgezahlt werden. Ich habe wird. noch nie gehört, dass beim Rückbau von Atomkraftwer- ken Betriebsgewinne beim Betreiber der Anlage erzielt Der EURATOM-Vertrag stammt aus dem Jahre 1957. wurden. Diese Kredite könnten also überhaupt nicht zu- Er ist geprägt von der unglaublichen Aufbruchstim- rückgezahlt werden. mung, die damals in Bezug auf die Kernenergie ge- herrscht hatte. In den 50er- Jahren des letzten Jahrhun- EURATOM-Kredite sind also das falsche Instrument. derts war man fest davon überzeugt, dass alle Außerdem, es besteht bereits ein Instrument zur Förde- Energieprobleme durch die Kernenergie gelöst werden rung der Demontage von Atomreaktoren. Diese Mittel könnten. Von Entsorgung und seinen Problemen sprach werden über die Osteuropabank verwaltet. kaum jemand. Dass Endlager erforderlich sind, die für eine Million Jahre das radioaktive Material von der be- Für uns in der Koalition ist klar: Die Vorschläge der lebten Erde abschließen müßten, war damals nicht be- Kommission zur Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie dacht. Vielmehr träumte man vom Schnellen Brüter und gehen in die falsche Richtung. Sie zielen nicht auf das von einem Fusionsreaktor, der 1985 funktionieren sollte. Gemeinwohl in einer zukunftsgerichteten Europäischen Union, sie nützen höchstens denjenigen, die von den Heute wissen wir es besser. Der unglaubliche Opti- kerntechnischen Investitionen profitieren. mismus ist verflogen. Spätestens seit Tschernobyl sind wir grausam aus den Träumen gerissen worden. Seit Wir müssen unsere Stromerzeugung auf Nachhaltig- 1957 hat sich viel verändert. Nur der EURATOM-Ver- keit umstellen. Das heißt Energie sparen, das heißt Ener- trag ist unverändert geblieben. Er entspricht heute weder gieeffizienz, das heißt erneuerbare Energien. Daran muss der EU-Wirklichkeit, noch den Erfordernissen einer zu- und will sich ja auch die Energiepolitik der Gemein- kunftsgewandten Energieversorgung: schaft orientieren. Bloß ist die Meinungsbildung in Eu- ropa und in seinen Mitgliedsstaaten diesbezüglich noch Erstens. Von 15 Mitgliedstaaten haben sechs nie die nicht abgeschlossen. Um es deutlich zu sagen: Die Produktion von Kernenergie aufgenommen. Sie können Atompolitik in Europa ist heftig umstritten und entwi- sich glücklich schätzen – sie sind frei von atomaren Alt- ckelt sich mehr und mehr zu einem Stein auf dem Weg lasten. Fünf weitere Staaten haben die strahlende Sack- zu einem gemeinsamen Europa, einem schweren Stein, gasse Kernenergie erkannt und den Ausstieg beschlos- den wir wegräumen wollen und müssen. sen. Es bleiben also nur vier Staaten, die zurzeit noch auf Kernenergie setzen. Nur ein Staat – nämlich Finnland – Wir wollen ein gemeinsames Europa, ein zukunftsge- (B) will neue Atomkraftwerke bauen. Bei der Erweiterung richtetes Europa, in dem sich alle Bürgerinnen und Bür- (D) der Europäischen Union sollen mehr unsichere Atom- ger sicher und wohl fühlen können. Dies kann mit immer kraftwerke abgerissen als neue errichtet werden. mehr Atomkraftwerken nicht gelingen – und auch nicht mit einer Europäischen Atomgemeinschaft, die seit 1957 Zweitens Die EU-Wirklichkeit heißt liberalisierter unverändert das Ziel hat, „die Voraussetzungen für die Markt. Zusätzliche verbilligte EURATOM-Kredite deh- Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaf- nen die erheblichen Wettbewerbsverzerrungen im euro- fen“. Und auch nicht mit immer neuen EURATOM-Kre- päischen Strombinnenmarkt aus. Dem Wettbewerbs- diten. kommissar müßten eigentlich alle Haare zu Berge stehen, so groß ist der Sündenfall gegen den liberalisier- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Seit dem Jahr ten Markt. 1957 ist der Vertrag zur Gründung der Europäischen Der Deutsche Bundestag hat am 14. Dezember 2001 Atomgemeinschaft, kurz: EURATOM, nahezu unverän- das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergie- dert geblieben. Horst Kubatschka hat deutlich gemacht, nutzung verabschiedet. Es ist am 27. April 2002 in Kraft wie sich Energietechnik und Energiewirtschaft seitdem getreten. Damit hat die rot-grüne Koalition eine Kehrt- verändert haben – nämlich grundlegend. Das verlangt wendung in der Nutzung der Kernenergie vollzogen: auch neue Antworten. statt Förderung Ausstieg. Wir halten das Risiko der Ich will noch einmal wiederholen, denn so mancher in Kernenergienutzung nur noch für einen begrenzten Zeit- diesem Hause scheint einfach nicht zur Kenntnis neh- raum für hinnehmbar. men zu wollen, was jeder Bürger sehen kann und was je- Es wäre aber eine unehrliche Politik, bei uns auf Aus- der Experte ohnehin weiß: Die Energiewelt sieht heute stieg zu setzen und in den Nachbarländern weiter die anders aus als vor 50 Jahren. Und sie wird sich in den Kernenergie zu fördern, also die Risiken dort weiter auf- kommenden 50 Jahren noch einmal grundlegend ändern. rechtzuerhalten. Die Risiken der Kernenergie wollen wir Die Zukunft heißt Effizienzrevolution, Einsparen, erneu- unserer Bevölkerung nicht zumuten, folglich können wir erbare Energien. auch keine Investitionen fördern, die das Risiko für die Wie sonst ist zu erklären, dass die FDP in ihrem An- Bevölkerung in anderen Staaten erhöhen. Ich sage es trag erklärt, „der EURATOM-Vertrag ist heute in Inhalt noch einmal: Dies wäre inkonsequent und unehrlich! und Aussage aktueller denn je“? Das kann doch nicht Ich möchte auch auf einen Widerspruch bei den Vor- wahr sein. Soll der EURATOM-Vertrag etwa unverän- schlägen der Kommission hinweisen. Es soll die De- dert wie vor nahezu 50 Jahren das Ziel verfolgen, „die montage von Atomreaktoren unterstützt werden. Dies Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen 2464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) Kernindustrie zu schaffen, vorbei am europäischen würden dieses Verhalten doch – nicht zu Unrecht – als (C) Strombinnenmarkt, vorbei an Wettbewerbs- und Chan- doppelbödig kritisieren. cengleichheit für alle Energieträger, vorbei an den Parla- menten, vorbei an weiten Kreisen der europäischen Zi- Ich appelliere an Ihr europäisches und demokratisches vilgesellschaft, die die Atomkraft nicht mehr für Gewissen. Lassen Sie solche Unterstellungen, arbeiten verantwortbar halten? Sie mit uns gemeinsam an den Fundamenten des künfti- gen Europas, dessen Demokratie wir stärken und dessen Die FDP fordert bei jeder Gelegenheit mehr Markt, Handlungsfähigkeit wir erhöhen wollen. mehr Wettbewerb. Wo bleibt ihr Credo hier in ihrem An- trag zu EURATOM? Ich habe den Eindruck: Wenn ihre Auch auf europäischer Ebene gibt es unterschiedliche Klientel in Atomwirtschaft und Atomforschung es will, Auffassungen über die Bewertung der Kernenergie. wischen sie ihr am Sonntag so hoch gehaltenen An- Aber dies darf keine Rolle für die Verfassungsgrundla- spruch werktags mit einem Federstrich vom Tisch. Zum gen der Europäischen Union spielen. Und dazu gehört Glück wird ihr Antrag unbeachtet in den Archiven ver- nun einmal der EURATOM-Vertrag. schwinden. Aber ärgerlich ist er doch. Wir müssen in den kommenden Wochen und Monaten eine Lösung für das Verhältnis von EURATOM-Vertrag Wir bauen mit Überzeugung und mit Nachdruck an und europäischer Verfassung finden. Die Vorschläge der einem gemeinsamen europäischen Haus. Ende diesen Kommission zur EURATOM-Kreditlinie sind dazu Wei- Jahres werden wir eine europäische Verfassung haben. chenstellungen, die nicht hinzunehmen sind. Auch des- In wenigen Jahren wird unser Europa nicht mehr 15, halb lehnen wir sie ab. sondern 25 Mitgliedstaaten haben. Das ist eine großar- tige Perspektive, alle Parteien im Deutschen Bundestag wollen eine starke Europäische Union. Aber es ist auch Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): Mit welcher Ge- eine große Herausforderung für uns alle, für unsere Ver- schwindigkeit Rot-Grün es schafft, ein über Jahrzehnte antwortung, für unser Verständnis von einer gemeinsa- aufgebautes internationales Vertrauen und internationale men Zukunft, jetzt auch die Weichen für mehr Wirt- Glaubwürdigkeit zu verspielen, ist schon atemberau- schafts- und Lebensqualität und für eine moderne bend. Jüngstes Beispiel ist der gestern von den Regie- Energieversorgung zu stellen. Bis die europäische Ver- rungsfraktionen vorgelegte Antrag zur Ablehnung der fassung steht, bis wir mit dem gemeinsamen Europa ein geplanten Erhöhung der EURATOM-Anleihen: Rot- gutes Stück weitergekommen sind, haben wir noch viele Grün stellt damit den EURATOM-Vertrag als eine tra- Steine aus dem Weg zu räumen. Sie muss allerdings für gende Säule der Europäischen Union zur Disposition. die Bürger überzeugend sein. Rot-Grün nimmt die von der EU-Kommission befürwor- (B) tete Aufstockung der EURATOM-Anleihen zum Anlass, (D) Der Umbau der Energieversorgung sollte im Interesse den gesamten EURATOM-Vertrag auf den Prüfstand zu der Natur, der Dritten Welt, der friedlichen Partnerschaft stellen, und riskiert damit erneut erheblichen Schaden am besten gemeinsam von allen Parteien im Bundestag für Deutschland, und zwar sowohl in wirtschafts- und angepackt werden. Wir haben unterschiedliche Auffas- außen- als auch in sicherheitspolitischer Hinsicht. sungen zur Kernenergie. Das ist unbestritten. Aber der Koalition zu unterstellen, sie wolle die Verpflichtungen In sicherheitspolitischer Hinsicht ist die Fortführung aus dem EURATOM-Vertrag isoliert aufkündigen, wie von EURATOM und der Anleihe zur Verbesserung der es die FDP in ihrem Antrag tut, das kündigt die Gemein- Sicherheitsstandards in Kernkraftwerken weiterhin un- samkeit auf. Die Unterstellungen sind schlicht unwahr. bedingt erforderlich. Denn was würde geschehen, wenn durch die EURATOM-Darlehen nicht – wie bisher – ins- Mit unserem Antrag „Keine Zustimmung zur Erhö- besondere die osteuropäischen Kernkraftwerke auf den hung der EURATOM-Kreditlinie“ sprechen wir uns ge- in Westeuropa üblichen Sicherheitsstandard angehoben gen die Vorschläge der Kommission aus, den Höchstbe- würden? Diese Frage ist leicht zu beantworten: Die Re- trag für EURATOM-Anleihen um 50 Prozent anzuheben aktoren würden mit der bisherigen veralteten Technik und den Anwendungsbereich der Darlehen zu erweitern. weiterbetrieben werden. Mehr noch: Auch schon im Bau Das ist kein Weg in ein modernes Europa, sondern er befindliche Kraftwerksneubauten würden nicht die Si- führt zurück in die Streitigkeiten, die wir in unserer Ge- cherheitsausstattung erhalten, die technisch möglich sellschaft – mit Ausnahme der Oppositionsparteien – wäre. Daher hat die Europäische Gemeinschaft – nicht überwunden haben. zuletzt aus eigenem Sicherheitsinteresse – die Verant- wortung übernommen und den Staaten Osteuropas über Wir haben unseren Antrag ausführlich begründet. Er die EURATOM-Darlehen eine Möglichkeit gegeben, die entspricht unserer Grundlinie, eine sichere Energiever- Sicherheit ihrer kerntechnischen Anlagen zu erhöhen. sorgung ohne Atomkraft zu organisieren. Wir wollen da- mit den Vertrag ändern. Dieses Vorgehen entspricht gu- Demgegenüber spricht Rot-Grün davon, dass der För- ter demokratischer Praxis, wie sie in den Europäischen derzweck der EURATOM-Darlehen mit der Zielsetzung Verträgen niedergelegt ist. Uns zu unterstellen, wir wür- des deutschen Atomausstiegs unvereinbar sei. Der den die mit dem EURATOM-Vertrag eingegangenen Atomausstieg finde mit dem Antrag auch in der Europa- Verpflichtungen einseitig aufkündigen, das verlässt gute politik seine Umsetzung. Was hat der deutsche Atomaus- demokratische Praxis. Nein, der Antrag entspringt der stieg mit der Verbesserung der Sicherheitsstandards aus- Überzeugung, dass wir nicht national aussteigen können, ländischer Kernkraftwerke zu tun? Gar nichts! Rot-Grün aber in der EU dann die Atomkraft unterstützen. Sie nimmt unter dem Deckmantel des Atomausstiegs einen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2465

(A) Verzicht auf den Ausbau der Sicherheit des europäischen veralteter sowjetischer Technik betreibt. Durch die (C) Kraftwerksparks in Kauf. Diese Politik widerspricht den EURATOM-Darlehen könnte Russland die Sicherheit Sicherheitsinteressen Deutschlands. und die Effektivität der Kraftwerke steigern und wäre so in der Lage, den Anteil fossiler Energieträger und damit Aber das ist nicht das einzig paradoxe an der rot-grü- den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren. Wenn Rot-Grün nen Kernenergiepolitik. Während in Berlin gebetsmüh- aus EURATOM aussteigen will, hätte dies den russi- lenartig der Atomausstieg propagiert wird, werden in schen Vertretern auch mitgeteilt werden müssen. Ver- Düsseldorf durch den grünen Minister Vesper eine Milli- trauen und Verlässlichkeit gegenüber internationalen arde Kilowattstunden Atomstrom für die öffentliche Partnern wird damit zulasten zweifelhafter nationaler Hand, nämlich das Land und seine Behörden, aus dem Alleingänge aufs Spiel gesetzt. Nach dem deutschen Ausland importiert. Krasser kann man sich den Wider- Weg in der Außenpolitik droht offenkundig ein deut- spruch zwischen Anspruch und Realität nicht mehr vor scher Alleingang in der Energiepolitik. Dies kann nur Augen führen. zum Schaden des Wirtschaftsstandortes Deutschland Die Liste der Widersprüche lässt sich beim Thema sein. Die Zeche dieser Ausstiegspolitik tragen in einem Endlagerung fortführen. Der Bundesumweltminister hat zukünftig liberalisierten Energiemarkt Verbraucher und einen Arbeitskreis Endlagerung ins Leben gerufen. Das Unternehmen über international nicht mehr wettbe- mit hochrangigen Experten besetzte Gremium hat im werbsfähige Preise. Dezember letzten Jahres seinen Abschlussbericht zu die- sem Thema vorgelegt. Danach führt an einem Endlager- Die hier diskutierte Frage der EURATOM-Anleihen konzept kein Weg vorbei. Aber anstatt nun zügig zu han- reflektiert damit auch die rot-grüne Wirtschaftspolitik. deln, übt sich der Bundesumweltminister in der „ruhigen Nicht übersehen werden sollte, dass es durch die Umrüs- Hand“ und will erst einmal eine über Jahre dauernde ge- tung der Altanlagen auf moderne Standards auch zu ei- sellschaftspolitische Diskussion über dieses Thema ab- ner Sicherung von deutschen Arbeitsplätzen kommen warten. Über den Atomausstieg wird tatsächlich geredet, kann. Denn die deutsche Kraftwerkstechnologie ist in ei- aber bei der gleichzeitig zu lösenden Aufgabe der Endla- nigen Bereichen immer noch führend und durch den Ex- gerung fehlt jedes Handlungskonzept. port von Anlagen werden Arbeitsplätze in Deutschland erhalten. Zugleich kann die weit fortgeschrittene wissen- Der Versuch, durch die Aufweichung des schaftliche Forschung in Bezug auf die Sicherheit von EURATOM-Vertrages den Rest der Welt mit den eige- Kernkraftwerken in Deutschland auf hohem Niveau wei- nen deutschen Atomausstiegskonzepten zu missionieren, terbetrieben werden. Der Erhalt und der Ausbau techno- muss scheitern; denn Rot-Grün übersieht die anhalten- logischen Know-hows ist für Deutschland mehr denn je den weltweiten Bestrebungen, die Kernenergie weiterhin bedeutsam. Wir sind und bleiben ein rohstoffarmes (B) als eine Quelle für die zukünftige Sicherung der Energie- Land. Wir verdanken unseren Wohlstand zum großen (D) versorgung zu nutzen. Daher ist der außenpolitische Teil der Innovationskraft der Industrie und der internati- Schaden erheblich, der mit dieser Haltung der Regie- onalen Exportfähigkeit unserer Produkte. Wer dies im rungsfraktionen einhergeht. Anstatt die mittel- und ost-eu- Rahmen der Politik völlig ausblendet, kann und wird ropäischen Beitrittsländer bei ihrem wirtschaftlichen keine Erfolge bei Wachstum und Beschäftigung erzielen. Aufbau zu unterstützen, will Rot-Grün künftig offenbar Von daher ist es auch völlig unvertretbar, aus dem Pro- allenfalls die Demontage von Atomreaktoren unterstüt- zess der Kernfusionsforschung aussteigen zu wollen. zen. Dass die EU-Beitrittskandidaten derzeit überwie- Anders als bei der Kernspaltung könnte mit der Kernfu- gend keine energiepolitische Alternative zur Kernkraft sion eine dauerhaft sichere Energiequelle für die haben, interessiert Rot-Grün nicht. Die Staaten sind auf Menschheit entwickelt werden. Auch von daher ist ein die Kernkraft angewiesen, nicht zuletzt auch, um die deutscher Ausstieg aus der Kernfusionsforschung nicht Ziele des Kioto-Protokolls einhalten zu können. verantwortbar. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich sehr ge- Anstatt den Versuch zu starten, Europa über die Hal- nau an die erst Ende Januar mit einer Delegation der rus- tung zu den EURATOM-Anleihen das aktuelle deutsche sischen Staatsduma in Berlin geführten Gespräche. Ge- Verständnis von Energiepolitik aufzwingen zu wollen, meinsam mit den russischen Kollegen fand eine Sitzung wäre Rot-Grün gut beraten, zunächst die Missstände vor der Ausschüsse für Wirtschaft und Arbeit sowie Umwelt der eigenen Haustür zu beseitigen. Durch Ökosteuer, statt. Zentraler Punkt der Beratungen waren der Klima- KWK-Abgabe und EEG haben die Stromkosten mittler- schutz und die Ratifizierung des Kioto-Protokolls durch weile wieder das Niveau vor der Liberalisierung erreicht. Russland, eine Ratifizierung, die wir alle wünschen. Auf Die durch die Marktöffnung entstandenen Preissenkun- die Frage, wie Russland die nationalen Klimaschutzziele gen gehören durch die Abgabenbelastung und durch die erreichen will, wurde unmissverständlich klar gemacht, neuerliche Regulierung und Marktabschottung inzwi- dass dies nur durch einen Ausbau der Kernenergie in schen nach weniger als fünf Jahren wieder der Vergan- Russland möglich ist. Gleichwohl wurde Russland bei genheit an. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Union der Erreichung der Klimaschutzziele von allen Fraktio- setzt sich nachhaltig für erneuerbare Energien als ener- nen des Deutschen Bundestages Unterstützung zugesi- giepolitische Alternativen ein. Auch eine angemessene chert. Förderung ist zu sichern. Aber es kann nicht angehen, er- Rot-Grün handelt nun aber genau entgegengesetzt. neuerbare Energien um jeden Preis und ohne Rücksicht Das Einfrieren der EURATOM-Anleihen träfe vor allem auf die Wettbewerbs- und Marktfähigkeit zu fördern. Die Russland, das zahlenmäßig die meisten Atommeiler mit Förderung der erneuerbaren Energien darf nur befristete 2466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) Anschubfinanzierung sein. Dauersubventionen schaden Schaut man sich an, wer in Deutschland noch aktiv auf (C) dem Standort Deutschland. Sie führen zum Erstarken Atomenergie setzt, stellt man schnell fest, wo die Min- von Monopolstrukturen, zu mehr Bürokratie und am derheiten zu finden sind. Und das ist auch gut so! Ich Ende zu immer höheren Kosten. möchte jedoch betonen, dass es mit dieser Initiative nicht darum geht, diesen Ländern unsere Erkenntnisse und Der Anteil der Direktinvestitionen aus dem In- und Überzeugungen aufzuzwingen. Es wäre allerdings un- Ausland sinkt in Deutschland nicht nur aufgrund der ho- glaubwürdig, im eigenen Land aus der Atomenergie aus- hen Kosten durch die Sozialsysteme. Ein wesentlicher zusteigen und gleichzeitig den Ausbau dieser Energieform Punkt sind gerade auch die Energiekosten für die Indus- finanziell den Nachbarländern zu subventionieren. Genau trie. Der Industriestrompreis hat in Deutschland nach Er- dies wäre der Fall, wenn wir die Aufstockung der folgen der Liberalisierungspolitik der Union Ende der EURATOM-Kreditlinie von 4 auf 6 Milliarden Euro zu- 90er-Jahre inzwischen nach Irland und Italien wieder ei- stimmen würden. Ich freue mich deshalb sehr, dass wir nen traurigen Spitzenplatz in Europa erreicht. Aber da- mit diesem Antrag eine klare Position benennen und mit nicht genug: Allen Warnungen und Argumenten zum möchte mich ausdrücklich bei der SPD-Fraktion und Trotz betreibt Rot-Grün den desaströsen Energiekurs dem Finanzminister für die konstruktive Zusammenar- weiter. Die erst im Februar in diesem Hause beratene En- beit bedanken. ergiewirtschaftsnovelle führt in der von Rot-Grün be- schlossenen Form zu einer weiteren Verstärkung der Aus der Opposition höre ich bereits den Vorwurf, wir Monopolstrukturen. Die Kosten durch das Erneuerbare- würden mit diesem Antrag die Sicherheit von Atom- Energien-Gesetz für Industrie und Verbraucher steigen anlagen vor allem in Osteuropa gefährden. Aber genau durch den zunehmenden Ausbau der installierten Leis- das Gegenteil ist der Fall. Sieht man sich bei der tung insbesondere bei Windkraft derzeit steil an. Allein EURATOM-Kreditlinie die Vergabepraxis der vergange- zwischen 2001 und 2002 ist eine Verdopplung dieser nen Jahre an oder betrachtet man die aktuelle Antrags- Kosten zu verzeichnen. KWK-Abgabe und Ökosteuer lage, fragt man sich schnell, wo denn der substanziell si- bewirken den Rest. cherheitsverbessernde Effekt dieses Instrumentariums bleibt. In Kozloduj 5 und 6 beispielsweise wird an Reak- Durch diese Politik werden die Bedingungen für In- toren russischer Bauart herumgedoktert, die selbst die vestitionen weiter verschlechtert. Dies verhindert nach- Regierung Kohl nach der Wiedervereinigung in Ost- haltig Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. deutschland aus guten Gründen zurückgebaut hat. Auch Die Union setzt alles daran, gegen diese für Deutschland wenn die bulgarischen Einzelmaßnahmen zur Aufrüs- schädliche Politik vorzugehen. Die Union lehnt daher tung von Teilkompartimenten führt, die Meiler blieben auch den jetzigen Antrag, der sich gegen die europäi- von jedem „TÜV-Sicherheitstempel“ meilenweit ent- (B) schen Verpflichtungen aus dem EURATOM-Vertrag fernt. Auf ein anderes Beispiel – die Fertigstellung der (D) stellt ab, ebenso wie das dahinterstehende energiepoliti- beiden ukrainischen Reaktoren K2/R4 – muss ich nicht sche Konzept der Regierungskoalition. Die Union tritt weiter eingehen, diese Debatte haben wir ja bereits aus- für die Einhaltung der in den Europäischen Verträgen führlich in der letzten Legislaturperiode geführt. Es sollte übernommenen Verpflichtungen ein. Insbesondere ist aber noch erwähnt werden, dass die Ukraine nicht einmal der EURATOM-Vertrag kein Auslaufmodell. Er leistet die Mindestsicherheitskriterien der Osteuropabank erfül- für die Integration der mittel- und osteuropäischen Bei- len konnte. Aus diesem Grund musste die Ukraine Ende trittsländer einen wichtigen Beitrag. Nicht zuletzt kann 2001 auf die Teilfinanzierung für K2/R4 durch jenes das Ziel der höchstmöglichen Sicherheit der kerntechni- multitlaterale Finanzinstitut verzichten. EURATOM, das schen Anlagen in unseren europäischen Nachbarstaaten für dieses Projekt mit 680 Millionen Euro weit mehr durch den Einsatz auch deutscher Hochtechnologie mit- Geld zur Verfügung stellen will, blieb von dieser Ent- tels der EURATOM-Anleihen gewährleistet werden. wicklung bislang unbeeindruckt und hält das Geld wei- Eine Abkehr – insbesondere von den sicherheitspoliti- terhin bereit. schen Interessen – ist unverantwortlich und mit der Union nicht zu machen. Daher lehnen wir den Antrag Der einzige Antrag auf einen EURATOM-Kredit, der von SPD und Bündnisgrünen ab und stimmen dem An- derzeit anhängig ist, ist der Bau des zweiten Reaktors im trag der FDP zu, der inhaltlich unserer Zielrichtung rumänischen Cernavoda. Ich habe noch nie verstanden, folgt. Hören Sie im Zeitalter der Globalisierung endlich was der Neubau eines Reaktors mit der Verbesserung der auf, mit angeblich neuen deutschen Wegen den Standort nuklearen Sicherheit zu tun haben soll, egal ob er russi- Deutschland von der internationalen Entwicklung abzu- scher Bauart ist oder wie in diesem Fall kanadischer koppeln! Dieser Weg schadet uns allen. Candu-Reaktor. Was dem Fass aber den Boden ausschlägt, sind die Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): erst kürzlich bekannt gewordenen Pläne, durch Der heute vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen EURATOM-Gelder die Fertigstellung von fünf russi- zur EURATOM-Kreditlinie ist ein klare Ansage: schen Atomreaktoren zu ermöglichen. Unter den ge- Deutschland wird gegen die Aufstockung und Auswei- nannten Projekten befindet sich auch das AKW Kursk 5, tung von EURATOM ein Veto einlegen und dafür auch ein Reaktor vom Tschernobyltyp. Ein AKW dieser Bau- bei anderen Ländern werben. Da die Entscheidung ein- art gilt selbst unter Atomhardlinern als „nicht nachrüst- stimmig zu erfolgen hat, ist klar, dass es nicht zu einer barer Hochrisikoreakor“; darüber hinaus kann er auch Aufstockung kommen wird. Allerdings wird es auch in für die Produktion von waffenfähigem Plutonium einge- dieser Frage keine isolierte deutsche Position geben. setzt werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2467

(A) Was ist von dem Vorschlag zu halten, EURATOM- erneuerbare Energieträger gedeckt. Bei aller Wertschät- (C) Gelder auch für die Abschaltung von AKWs zugänglich zung für erneuerbare Energien teile ich die Auffassung zu machen? Auch hier wäre es fatal, der EURATOM- der Wissenschaft: Diese Energien, sei es die gewonnene Kreditlinie eine heilbringende Wirkung beizumessen. elektrische Energie aus Windkraftanlagen, aus Fotovol- Der Rückbau von AKW ist mit den Statuten der taikanlagen, aus Biomasseanlagen usw., werden unseren EURATOM-Kreditlinie kaum zu vereinbaren. Außer- Energieverbrauch auch künftig nicht decken können. dem muss bei dieser Fragestellung das Rad ja nicht neu Würden wir alle Potenziale ausschöpfen, würden die erfunden werden: Die Osteuropabank verwaltet den ei- Menschen unseres Landes 30 Prozent ihres verfügbaren gens für diese Zwecke eingerichteten „Decomissioning Einkommens für Energie ausgeben müssen. Ich rede Fund“, der über ausreichend Gelder verfügt. heute einmal nicht über die bisherigen Auswirkungen der so genannten ökologischen Besteuerung von Energie. Sicherheitstechnisch stehen wir ohne die EURATOM- Kreditlinie deutlich besser da. Aber es gibt noch ein Wollen Sie von SPD und Grünen die Menschen unse- zweites Problemfeld, das ich in diesem Zusammenhang res Landes ausbluten lassen, um sie dann an den Tropf ansprechen möchte: den Wettbewerb. Der „neudeutsche“ Ihrer scheinbar sozialen Wohltaten zu hängen? Um allein Begriff des Level Playing Field umschreibt vielleicht am die Leistung der deutschen Kernkraftwerke von 23,6 Gi- besten die Wunschvorstellung, in einem liberalisierten gawatt zu ersetzen, bräuchten wir auf 2,2 Millionen Dä- Energiemarkt gleiche marktwirtschaftliche Bedingungen chern durchschnittlich 20 Quadratmeter Solarmodulflä- für die unterschiedlichen Energieanbieter und -formen chen – Kosten etwa 20 Milliarden Euro – 5 000 Windräder zu schaffen. Viele staatliche Subventionen wurden des- vor den Küsten unseres Landes mit jeweils mindestens halb im Zuge der europäischen Liberalisierungsbestre- 2 Megawatt Leistung, Kosten etwa 15 Milliarden Euro. bungen eingestellt. Dieser Antrag behebt also eine gern Allerdings müsste dann immer die Sonne scheinen und übersehene Schieflage: Eine Kreditlinie reserviert für le- Wind wehen. diglich eine spezielle Form der Energieerzeugung? Gäbe es ein solches Instrument auf nationaler Ebene, hätte sich Herr Fell hat es an den Reaktionen auf seinen jüngs- der Wettbewerbskommissar dem längst gewidmet. Nur ten Artikel in den „VDI-Nachrichten“ schmerzlich er- der Sonderstatus des EURATOMvertrages verhinderte in fahren müssen: Wer etwas von der Gesamtproblematik den vergangenen Jahrzehnten hier alle Reformversuche versteht, kann den idealistischen Heilsbotschaften von und somit jegliche Anpassung an die Entwicklung der einer Welt der regenerativen Energien nicht folgen. Ich Europäischen Union. Damit muss Schluss sein; eine Son- prophezeie bereits heute: Wir werden uns schneller, als derwirtschaftszone Atom, finanziert durch den deutschen es uns lieb ist, erneut Gedanken darüber machen, welche Steuerzahler, ist das Letzte was wir fortsetzen wollen. Rolle die Kernenergie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts (B) weiter spielen soll, vor allem vor dem Hintergrund der (D) Bekämpfung der globalen Erwärmung, der Versorgungs- Cornelia Pieper (FDP): Die europäischen Volkswirt- sicherheit und der nachhaltigen Entwicklung. Denn bei schaften, die der künftigen Mitgliedstaaten der Europä- all der Euphorie verlieren Sie Ihr umweltpolitisches Ziel, ischen Union und Russlands eingeschlossen, müssen in die Reduzierung von CO2, einem ausgemachten Klima- den nächsten zehn Jahren grundsätzliche Entscheidungen killer, aus dem Blickfeld. zu ihren Investitionen im Energiebereich treffen. Einer- seits betrifft das den Ersatz und die Steigerung bisheriger Weltweit arbeiten derzeit 436 Kernkraftwerke. Auf le- Kraftwerkskapazitäten, andererseits, vor dem Hinter- diglich 21 haben Sie im eigenen Lande direkten Zugriff. grund eines weltweit wachsenden Energiebedarfs, eine Die Kernkraftwerke in der europäischen Union decken Entscheidung für bestimmte Energieträger. 35 Prozent unseres Strombedarfs. Da diese Reaktoren, dank besserer Kenntnisse auf dem Gebiet der Werkstoff- Dass dieser Prozess nicht rein rational verläuft, son- festigkeit, eine längere Lebensdauer haben als ursprüng- dern von scharfen ideologischen Kämpfen überlagert ist, lich erwartet, ist der Kernenergiesektor wettbewerbsfähig führt uns der energiepolitische Alleingang der deutschen geworden und die Betreiber erwirtschaften beachtliche rot-grünen Bundesregierung zur scheinbaren Lösung der Erlöse. Sie benötigen keine staatlichen Beihilfen mehr Klima- und Energieprobleme deutlich vor Augen. Ich und nehmen im Übrigen keine EURATOM-Darlehen bin der festen Überzeugung, dieser Weg ist falsch. mehr in Anspruch. Diese Darlehen werden gegenwärtig zur Modernisierung der Anlagen in den Beitrittsländern Auch in unserer heutigen Debatte, in der es schein- Mittel- und Osteuropas eingesetzt und dringend ge- bar „nur“ um eine Zustimmung zu einer Erhöhung der braucht. Hier überzeugt mich die Argumentation des An- EURATOM Kreditlinie geht, kommen wir nicht umhin, trages von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über- den Tatsachen ins Auge zu blicken. Wenn wir es zulas- haupt nicht. sen, dass der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutsch- land in den nächsten Jahren in dem von SPD und Bünd- Nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass sowohl die Bei- nis 90/Die Grünen geplanten Tempo vonstatten geht, trittsländer Mittel- und Osteuropas als auch Russland auf werden wir ernsthafte Energieprobleme bekommen. Welt- die Kernenergie zur Sicherung ihres Energiebedarf set- weit wird der Energiebedarf um 40 Prozent bis 2050 stei- zen und sicherlich in Zukunft auch Elektroenergie aus gen. Heute wird weltweit der Energiebedarf zu 41 Prozent Kernenergie erzeugen werden. Ich halte die Eröffnung durch Erdöl, zu 22 Prozent durch Erdgas, zu 16 Prozent von Kreditlinien für die Modernisierung von Kernkraft- durch feste Brennstoffe – Steinkohle und Braunkohle –, werken in Mittel- und Osteuropa, die hauptsächlich rus- zu 15 Prozent durch Kernenergie und zu 6 Prozent durch sischer Bauart sind, für außerordentlich wichtig. Hier 2468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) sollten wir auf keinen Fall einen Rückzug der Europä- lich sterben 24 000 Menschen an den Folgen von Hun- (C) ischen Union unterstützen. Das bringen wir auch in un- ger und Armut. Wenn wir uns das vor Augen führen, serem Antrag zum Ausdruck. Vielmehr müssen wir alles dann wird klar, dass es in dieser Debatte nicht nur um daran setzen, dass die osteuropäischen Kernkraftwerke Agrarhandel und die Absicherung der europäischen durch den Einsatz deutscher und europäischer Sicher- Agrarindustrie geht – so wie die CDU/CSU dies in ihrem heitstechnik sicherer werden. Antrag formuliert, sondern es geht auch um Hunger, es geht um Menschenwürde und um Entwicklungschancen Es ist doch ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ge- für die Menschen in den ärmsten Ländern dieser Welt. rade Deutschland, was weltweit an der Spitze der Kern- energieforschung und der Kernenergiesicherheitsfor- Hohe Exportsubventionen und handelsverzerrende schung stand und auch die Systemführerschaft für Direktzuschüsse der Industrieländer zerstören die Märkte entsprechende Technologien inne hatte, sich von der welt- für Kleinbauern in den Entwicklungsländern. Gleichzei- weiten Entwicklung abkoppelt und nur noch als Zu- tig gehen den Entwicklungsländern durch die Importzölle schauer den Weg ehemaliger deutscher Höchsttechnologi- der Industrieländer circa doppelt so viele Einnahmen ver- eunternehmen auf internationaler Bühne verfolgen kann. loren, wie sie durch die öffentliche Entwicklungszusam- menarbeit erhalten. Diese ungerechte Welthandelsord- Natürlich müssen wir auch unsere übernommenen nung führt zu ländlicher Armut und zum Niedergang der Verpflichtungen gegenüber diesen Ländern erfüllen. Landwirtschaft in vielen Entwicklungsländern. Dass man Reaktoren russischer Bauart sicher machen kann, zeigt uns die Modernisierung der zwei finnischen Es gibt aber noch einen weiteren Effekt: Der Anbau Reaktoren. Mit dem EURATOM-Vertrag haben die Mit- von Coca- und Mohnpflanzen ist für viele Kleinbauern gliedsländer 1957 eine weitsichtige, von Verantwortung oftmals der einzige Ausweg, um die Familie zu ernäh- gezeichnete Politik gemacht. Die Zusammenarbeit hat ren. Mit dem Drogenhandel werden dann wiederum sich bis heute bewährt. Schließlich haben wir über den Guerrilla-, Mafia- und Terrororganisationen finanziert, EURATOM-Vertrag die Normen für den Gesundheits- was zur Destabilisierung ganzer Länder und – wenn ich schutz und den Strahlenschutz für die gesamte Europä- an Südamerika denke – auch ganzer Kontinente führen ische Union festgelegt und wir regeln über diesen Ver- kann. trag auch die Verwendung radioaktiver Stoffe in der Medizin, in der Forschung und natürlich auch in der In- Somit fällt die Ungerechtigkeit der Weltmarktord- dustrie. EURATOM sichert natürlich auch die Glaub- nung am Ende dann wieder auf uns zurück. Es ist also in würdigkeit der Europäischen Union im Hinblick auf die unserem eigenen Interesse bei der Reform des Welthan- Nichtverbreitung von Kernmaterial. Ein wiedererwa- delssystems auch für die Entwicklungschancen der ar- chendes Interesse für den EURATOM-Vertrag und die men und ärmsten Länder einzutreten. (B) (D) Tatsache, dass er eine Alternative für die Stromerzeu- Auch die heute Vormittag geführte Debatte über ein gung bietet, sorgen dafür, dass der Vertrag auch in der ge- Zuwanderungsgesetz und die Frage von Flüchtlingen genwärtigen Lage nichts von seiner Aktualität einbüßt. und armutsbedingter Migration ist nicht von der Frage Das bedeutet für mich auch, dass wir im EU-Konvent nach fairen Lebensbedingungen in allen Teilen dieser über seine künftige Bedeutung und über neue Formen der Welt zu trennen. Deshalb muss die Globalisierung fair demokratischen Verantwortung des Europäischen Parla- gestaltet und die WTO-Runde, wie in Doha angekündigt, ments für Fragen der Kernenergie und Kernenergiesi- tatsächlich zu einer Entwicklungsrunde werden. Wenn cherheit nachdenken müssen. wir das Ziel, die Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren, Ich appelliere an Sie: Erteilen Sie dem Antrag von erreichen wollen, müssen wir jetzt handeln. SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine entschiedene Ab- In unserem Antrag haben wir wichtige Vorschläge sage, und unterstützen Sie den von Weitsicht und Verant- formuliert, um die Armutsspirale zu stoppen. Exportsub- wortung gezeichneten Antrag der FDP. ventionen und handelsverzerrende Direktzuschüsse der Industrieländer für die Landwirtschaft müssen abgebaut werden. Dadurch werden zum einen wertvolle Mittel für Anlage 9 die notwendige Unterstützung einer ökologischen und Zu Protokoll gegebene Reden nachhaltigen Landwirtschaft bei uns frei. Zum anderen können wir mit einem Teil der frei werdenden Mittel zur Beratung der Anträge: auch die Entwicklungsländer in die Lage versetzen, ihre – Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen Landwirtschaft nachhaltig zu reformieren. Ziel ist es, gerechten Interessenausgleich bei den lau- nicht die Agrarindustrie, sonder die kleinen und mittle- fenden WTO-Verhandlungen ren bäuerlichen Betriebe bei uns und in den Entwick- lungsländern zu stärken. – WTO-Verhandlungen – Europäisches Land- wirtschaftsmodell absichern Zur besonderen Unterstützung von Kleinbauern in Entwicklungsländern wollen wir den bevorzugten Markt- (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord- zugang von Produkten aus fairem Handel erreichen. nungspunkt 9) Allerdings kann eine Ausweitung des Marktanteils fair gehandelter Produkte nur dann gelingen, wenn das Be- Dr. Sascha Raabe (SPD): Drei Viertel der Hungern- wusstsein der Verbraucher für die Problematik hierzu- den und Armen der Welt leben im ländlichen Raum, täg- lande geschärft wird. Deshalb ist es außerordentlich zu Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2469

(A) begrüßen, dass die Bundesregierung öffentlichkeitswirk- rungswirtschaft – legen wesentliche Bedingungen für (C) same Kampagnen zugunsten des fairen Handels auswei- diese Entwicklung fest. Und unsere Landwirte und tet. Ich erinnere zum Beispiel an die vor wenigen Wochen Landwirtinnen leisten in den verschiedenen Regionen stattgefundene „Transfair goes global“-Kampagne an- Deutschlands schon jetzt mit einer standortgerechten lässlich der Einführung des neuen Fair Trade Logos. und auch ökologischen Produktionsweise einen Beitrag dazu. Es geht darum, im Sinne des Dreiklangs der Nach- Neben dem Abbau von Importzöllen insbesondere für haltigkeitskozeption die ökonomischen Kriterien mit weiterverarbeitete Produkte dürfen auch keine neuen dem Aufbau und Ausbau der Produktion, die ökologi- nichttarifären Hindernisse für die Entwicklungsländer sche Notwendigkeit für die Bewahrung der Schöpfung entstehen. Deshalb müssen wir die Entwicklungsländer und die sozialen Ziele der Sicherung der Lebensverhält- durch technische und finanzielle Hilfe aktiv unterstüt- nisse bei der Schaffung und dem Erhalt der Ernährungs- zen, damit sie unsere ökologischen und gesundheitlichen sicherheit zu berücksichtigen. Standards erfüllen können. Wenn deutlich ist, dass zum Beispiel durch die Ex- Mit der Aufnahme einer „development box“ im portsubventionierung von Milchpulverprodukten die WTO-Abkommen soll die Ernährungsbasis in den Ent- Entwicklung einheimischer Märkte, wie beispielsweise wicklungsländern gestärkt und die Bedingungen für die in Tansania und Jamaika geschehen, behindert wird, Entwicklung des ländlichen Raumes verbessert werden. dann muss man das im Kontext Ihrer Forderung nach Hierzu zählt auch, den Entwicklungsländern das Recht „Beibehaltung der Mengensteuerung bei Milch und Zu- zuzugestehen, ihren eigenen Agrarsektor insbesondere cker als vorhandenes Instrument zur Stabilisierung des im Bereich der Grundnahrungsmittel durch Außenschutz Weltmarktes“ bewerten. Dabei ist klar, dass es nicht von und interne Stützung schützen und fördern zu können. heute auf morgen möglich ist, bisherige Regelungen zu Ich will zum Schluss noch einmal auf die Frage der beenden. Kohärenz unserer Politik eingehen. Denn wie die Debatte heute zeigt, dürfen wir nicht durch falsche Weichenstel- Das Gleiche gilt für den Zuckerbereich, wo natürlich lungen in der Handelspolitik die Ziele der Entwicklungs- gegenüber dem Harbinson-Entwurf daraufhin gearbeitet politik gefährden. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat diesen werden muss, dass es zu einer Differenzierung etwa zwi- vernetzten Ansatz, wonach alle Ressorts in ihren Ent- schen „kleinen“ Zuckerproduzenten wie zum Beispiel scheidungen die Wirkungen für die Entwicklungsländer Mauritius oder auch Kuba und den großen am Zucker- berücksichtigen sollen, zur Leitlinie unserer Entwick- markt beteiligten Ländern wie Brasilien kommen muss. lungspolitik gemacht. Hier wird es – das sage ich auch mit Blick auf diese For- derung in Ihrem Antrag – natürlich zu Übergangs- und (B) Deshalb haben wir in der Koalition unseren Antrag auch Sonderregelungen für besonders schutzbedürftige (D) eng zwischen den Fachleuten für Landwirtschaft und kleinere, arme Länder kommen müssen, wie es sie in der Entwicklungspolitik abgestimmt. Das hätte dem Antrag Vergangenheit bereits gegeben hat. der Opposition vielleicht auch ganz gut getan. Ich finde nämlich keinen einzigen Namen eines Entwicklungspo- Das gilt auch für den Rindfleischbereich, wobei hier litikers der Union auf diesem Antrag. Es reicht eben klar sein muss: Deutschland wird sich mit seiner heuti- nicht, sich nur im Entwicklungsausschuss für die armen gen Produktionsweise und den damit verbundenen Men- Länder stark zu machen, sondern gerade auch in Han- gen in Zukunft nicht mehr so am Weltmarkt beteiligen delsfragen entscheidet sich, ob wir die große Kluft zwi- können, wie es zurzeit noch geschieht. schen Nord und Süd überwinden können. Welche Wege beschritten und welche Methoden im Entwicklungsländer wollen keine Almosen – Nah- Übergang praktiziert werden müssen, wird auch im Zu- rungsmittelhilfe, um Überschüsse loszuwerden, ist meist sammenhang der EU-Agrarreform noch unter quantitati- sogar kontraproduktiv –, sondern sie wollen in der Lage ven und qualitativen Aspekten zu entscheiden sein. Ich sein, selbstständig ihre Lebensgrundlage zu erwirtschaf- nenne nur Stichworte wie Mutterkuhhaltung, Entkopp- ten. Dies geht nur mit einer gerechten Welthandelsord- lung und damit Einzelelemente im Rahmen des Struktur- nung und einer fairen Ausgestaltung der Globalisierung. wandels. Dazu gehören sicher auch andere Bewirtschaf- Dies ist wiederum nur durch eine kohärente Entwick- tungsformen auf den Flächen, wo heute noch die lungspolitik zu erreichen. Deshalb bitte ich um Zustim- Grundlagen für die Zuckerproduktion vorhanden sind. mung zu diesem Antrag. Es geht also auf der einen Seite um eine Neuorientie- rung der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion Reinhold Hemker (SPD): Die Bemühungen Deutsch- im Sinne einer nachhaltigen Produktion sowie den damit lands im Rahmen des Strukturwandels in den ländlichen verbundenen Umwelt- und Qualitätskriterien, die ja auch Regionen sind Teil einer Entwicklung, die zu einem glo- im CDU-Antrag angesprochen sind, sowie auf der ande- balen Agrarkonzept führen muss. Dabei muss deutlich ren Seite um die Förderung der Entwicklungsziele der sein: Die Prinzipien der Kohärenz und Komplementari- Entwicklungsländer wozu Sascha Raabe noch etwas sa- tät sind richtungsweisende, globale Elemente einer ge- gen wird. samtpolitischen Ausrichtung der EU. Dieser Ausrich- tung ist auch Deutschland verpflichtet. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung – Frau Ministerin – unter Einbeziehung des europäischen Mo- Die laufenden WTO-Verhandlungen – nicht nur bezo- dells einer flächendeckenden, multifunktionalen und da- gen auf den Agrarteil in Kombination mit der Ernäh- mit standortgerechten Landwirtschaft auf einen fairen 2470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) Ausgleich bei den laufenden WTO-Agrarverhandlungen Die im EG-Vertrag festgelegte Gemeinschaftspräferenz (C) hinwirken wird. Dann wird es im September in Cancun würde dadurch unterhöhlt. Die EU-Zuckermarktordnung zu einem angemessenen Ergebnis kommen. Ich freue mit ihrem bewährten Quotensystem würde sozusagen mich auf die Fachdiskussionen auf der Basis der vorlie- durch Druck von außen gekippt. Die Deutsche Gesell- genden Anträge. schaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) hat erst kürzlich in einer Studie festgestellt, dass die ärmsten Albert Deß (CDU/CSU): Laut rot-grüner Koalitions- Länder der Welt bei einer Liberalisierung des Weltzu- vereinbarung will sich die Bundesregierung in den lau- ckermarktes zu den größten Verlierern zählen würden. fenden WTO-Verhandlungen betont uneigennützig ge- Hingegen würde der EU-Vorschlag einer durchschnittli- ben: Danach muss die neue Welthandelsrunde zur chen Zollsenkung um 36 Prozent wie in der Uruguay- „Entwicklungsrunde“ werden und die „Einkommen der Runde zu einer gerechteren Verteilung der Lasten unter Entwicklungsländer müssen sich verbessern“. Von den den Industrieländern führen und den Zugang von Dritt- Interessen der deutschen Wirtschaft, geschweige der ländern zum EU-Markt noch weiter verbessern. Die EU deutschen Landwirtschaft, ist in dieser Positionsaussage ist ja bereits der weltweit größte Importmarkt von land- mit keinem Wort die Rede. Auch wir halten eine stärkere wirtschaftlichen Erzeugnissen (2001: 60 Milliarden Dol- Berücksichtigung der Entwicklungsländer, vor allem der lar) und importiert insbesondere aus den Entwicklungs- ärmsten, für dringend notwendig, fordern aber im Inte- ländern mit 38 Milliarden Dollar im Jahr 2002 mehr als resse der europäischen und deutschen Landwirtschaft die USA, Kanada, Australien und Neuseeland zusam- eine gerechte Lastenteilung insbesondere unter den ent- men. Beim verbesserten Marktzugang für Entwicklungs- wickelten Industrieländern. Wir können nur hoffen, dass länder unterscheidet die EU in ihrem Verhandlungsange- diese WTO-Passage in der Koalitionsvereinbarung – wie bot mit Recht nach dem Grad der Entwicklung und andere vorher – Makulatur bleibt und die Bundesregie- schlägt deshalb für Importe aus den am wenigsten entwi- rung nach ihrer Arbeitsmethode „Versuch und Irrtum“ ckelten Ländern Zollfreiheit vor. noch den richtigen Weg findet. Bei den Exportsubventionen hat die EU mit Vorlage Wenig Klarheit zum deutschen Interessenstandpunkt ihres WTO-Angebots Ende Januar 2003 einen weitrei- in den WTO-Agrarverhandlungen bringen auch die ent- chenden Vorschlag gemacht, nämlich Abbau aller For- sprechenden Aussagen im Agrarbericht 2003 der Bun- men von Ausfuhrsubventionen um 45 Prozent. Demge- desregierung vom 5. Februar dieses Jahres. Umso dring- genüber sieht das Harbinson-Papier die Reduzierung der licher ist eine Klärung der deutschen Haltung. Denn Ende Exportsubventionen in einem Zeitraum von fünf bis März sollen in Genf für die laufende WTO-Runde, die neun Jahren und schließlich die Abschaffung vor. Der wegen der scharfen Interessengegensätze und des daraus wettbewerbsverzerrende Charakter der anderen Formen (B) folgenden Disputes in der Öffentlichkeit häufig nur als der Ausfuhrförderung zum Beispiel der Exportkredite (D) Agrarverhandlung wahrgenommen wird, wichtige Wei- der USA, der Nahrungsmittelhilfe und der Tätigkeit von chen gestellt werden: Die über 140 Teilnehmerstaaten ha- Staatshandelsunternehmen, die ein Exportmonopol be- ben sich auf der Ministerkonferenz im November 2001 in treiben, wird vom WTO-Vorschlag kaum ins Visier ge- Doha/Katar auf einen straffen Zeitplan geeinigt. Danach nommen. Die technischen Eingrenzungsformeln lassen sollen bis Ende März 2003 die so genannten Modalitäten zu viel Schlupflöcher offen, als dass von einer Gleichbe- festgelegt werden, also Grundsätze über Verfahren und handlung der EU-Erstattungen und der Exportförde- Umfang der Verpflichtungen des angestrebten neuen rungsmaßnahmen anderer WTO-Länder wie zum Bei- WTO-Agrarübereinkommens. spiel der USA gesprochen werden könnte. Die US- Exportkredite müssen aber den gleichen mengen- und Diese „Modalitäten“ sind der Dreh- und Angelpunkt wertmäßigen Abbauschritten unterworfen werden wie der WTO-Agrarverhandlungen, weil sie bestimmen, wie die EU-Beihilfen. das endgültige Ergebnis der aktuellen Agrarhandels- runde aussehen wird. Deswegen ist es so wichtig, dass Auch sollte die EU prüfen, ob nicht die interne Men- wir heute über Stand und Perspektiven der WTO-Agrar- gensteuerung bei Milch und Zucker mithilfe des Quoten- verhandlungen und insbesondere über die Vorschläge zu systems dadurch erhalten werden kann, dass sie gegen- den „Modalitäten“ diskutieren. über den WTO-Partnern auf Exportförderung verzichtet und die Produktion auf den EU-Binnenmarkt be- Der erste Entwurf eines solchen Modalitäten-Papiers, schränkt. Denn Freihandel soll ein Instrument zur Wohl- das der Vorsitzende des WTO-Agrarausschusses, Stewart standssteigerung sein, nicht aber eine Ideologie. Wo die- Harbinson, Mitte Februar in Genf vorlegte, kann nur als ses Instrument nicht zu angemessenen Erzeugerpreisen unausgewogen und einseitig zugunsten von Ländern mit und stabilen Märkten führt, sollten durch die ordnende großen Ausfuhrinteressen zurückgewiesen werden. Den Hand der großen Welthandelspartner stabilere und ge- Vorteil eines solchen Verhandlungsschemas hätten vor rechtere Lösungen gefunden werden. Welch schlimme allem die exportorientierten Staaten der Cairns-Gruppe, Auswirkungen die Freihandelsideologie für Millionen die USA und weit fortgeschrittene Entwicklungsländer. von Kleinbauern und Landarbeitern in den Entwick- lungsländern hat, zeigt zum Beispiel der sprunghafte Die im Kapitel Marktzugang vorgeschlagenen Zoll- Preisverlauf auf den Weltmärkten für Kaffee, Kakao und senkungsraten von 40 bis 60 Prozent über fünf Jahre Baumwolle. würden in der EU bei wichtigen Produkten wie Zucker, Milch und Rindfleisch fast jeglichen Außenschutz weg- Im Bereich der internen Stützung soll nach dem Mo- nehmen und dort Produktionseinschränkungen erzwingen. dalitäten-Papier von Harbinson die so genannte green Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2471

(A) box grundsätzlich beibehalten werden. Danach wären dass die EU-Kommission ihre Verhandlungsposition ins- (C) staatliche Hilfen, die nicht an die Produktion gebunden besondere gegenüber den USA und der Cairns-Gruppe sind und den Handel nicht verzerren, wie zum Beispiel durch die kürzlich vorgestellten Vorschläge für eine wei- Ausgleichszahlungen für Umweltauflagen oder für be- tere, die dritte Reform der gemeinsamen Agrarpolitik nachteiligte Gebiete, weiterhin grundsätzlich erlaubt. nach der Reform von 1992 und den Agenda-2000-Be- Diese Position ist nach der Logik der Handelsliberalisie- schlüssen von 1999 selbst schwächt. Sie wiederholt da- rung eine pure Selbstverständlichkeit und kann nicht als mit denselben taktischen Fehler wie in der Uruguay- großes Entgegenkommen gefeiert werden. Ein Fort- Runde, wo auch parallel zu den Handelsverhandlungen schritt aber ist es, wenn Ausgleichszahlungen für Tier- von der damaligen EU-Kommission eine EU-Agrarre- schutzauflagen ebenfalls in die green box einbezogen form betrieben wurde. Zwar hat die EU zu Recht Ende werden sollen. Dagegen ist jedoch im bisherigen WTO- Januar 2003 in Genf ein konkretes Angebot für die Vorschlag zu kritisieren, dass die Ausgleichszahlungen WTO-Agrarverhandlungen in den Bereichen Marktzu- für Agrarumweltprogramme und Tierschutz nur teil- gang, Exportförderung und interne Stützung vorgelegt. weise als zulässig angesehen werden. Damit konnte sie vermeiden, als Bremser in den WTO- Verhandlungen dazustehen, die sich ja auch noch auf an- Ebenfalls kritisch zu hinterfragen sind die bis jetzt be- dere große Sektoren wie den Handel mit gewerblichen kannt gewordenen WTO-Vorschläge im Bereich der bis- Gütern und Dienstleistungen erstrecken. Diese nach au- lang bedingt erlaubten staatlichen Direktzahlungen, die ßen gerichtete Position wird aber unterhöhlt, wenn man als so genannte blue-box-Maßnahmen bezeichnet wer- fast zeitgleich intern für die gemeinsame Agrarpolitik den, und der abzubauenden produktionsgebundenen di- eine so tiefgreifende Reform in Angriff nehmen will, wie rekten Stützungsmaßnahmen der so genannten yellow sie in den Legislativvorschlägen der EU-Kommission box. Die Deckelung des Stützungsniveaus in der blue vom 22. Januar 2003 enthalten ist. Die internen EU-Re- box auf dem Durchschnittsniveau der Jahre 1999 bis formvorschläge mit dem Kernstück der „Entkoppelung“ 2001 würde für die EU die Zulässigkeit der Getreideaus- und den über die Agenda-Beschlüsse hinausgehenden gleichszahlungen ausschließen, die durch die Agenda Stützpreissenkungen bei Getreide und Milch werden von 2000 hinzukamen. Zu begrüßen ist, dass die staatlichen den WTO-Verhandlungspartnern stillschweigend als Zahlungen im Rahmen der so genannte de-minimis-Re- vorgezogene Zugeständnisse wahrgenommen, für die sie gelung abgebaut werden sollen. Von diesem Schlupfloch kaum mehr eine Gegenleistung erbringen wollen. Eine haben bislang die USA stark profitiert, da Agrarsubven- taktisch kluge Verhandlungsführung hätte es bei einem tionen von weniger als 5 Prozent des Wertes der Erzeu- Verhandlungsangebot auf der Grundlage der Agenda- gung bei der Berechnung der Senkungsverpflichtungen Beschlüsse belassen. Wenn dann im Laufe der Verhand- nicht angerechnet wurden. Über diese Ausnahmerege- lungen zusätzliche Zugeständnisse nötig werden sollten, (B) lungen zahlen die USA derzeit 8 Milliarden Dollar jähr- (D) reichte es aus, diese Kompromisse nach Verhandlungs- lich an wettbewerbsverzerrenden Agrarsubventionen. ende durch eine Anpassung der gemeinsamen Agrarpoli- Deswegen muss die EU ihre Forderung nach Beseiti- tik umzusetzen. Dieser Meinung war EU-Kommissar gung dieses Schlupfloches mit Nachdruck weiterverfol- Fischler selbst noch vor einiger Zeit. So erklärte er auf gen. Nur so können für alle Industrieländer gleiche Wett- der Konferenz Agra-Europe am 29. Juni 1999 in Brüssel, bewerbsbedingungen geschaffen werden. dass durch die Agenda-Beschlüsse die EU für die weite- Nicht hinnehmbar in den bisher bekannt gewordenen ren WTO-Verhandlungen gerüstet und ein Konsens für WTO-Vorschlägen ist schließlich für die EU das fast völ- das europäische Agrarmodell erreicht sei, das nunmehr lige Fehlen ihrer nicht handelsbezogenen Anliegen. Mit konsolidiert werden müsse. Ausnahme der schwachen Berücksichtigung der Aus- gleichszahlungen für Tierschutz fehlt jeglicher Hinweis Ich kann mich nur der massiven Kritik des französi- auf geographische Ursprungsbezeichnungen, das Vorsor- schen Staatspräsidenten Chirac zu den kürzlich vorge- geprinzip im Verbraucherschutz und verbesserte Kenn- legten EU-Reformvorschlägen anschließen, der auf der zeichnungsmöglichkeiten. Die EU muss ihr volles Ver- Eröffnung der Internationalen Landwirtschaftsmesse in handlungsgewicht einsetzen, um Fördermaßnahmen zum Paris am 22. Februar dieses Jahres wörtlich erklärte – ich Schutz der Umwelt, der traditionellen Landschaften, der zitiere die Übersetzung in der Zeitschrift „Agra-Eu- Tiere, der biologischen Vielfalt sowie für die ländliche rope“: „Ich habe nicht verstanden, warum Kommissar Entwicklung und für die Lebensmittelsicherheit in vol- Dr. Fischler mit einer Dickköpfigkeit, die bester Absicht lem Umfang in die Kategorie der zulässigen öffentlichen würdig wäre, es für notwendig befunden hat, neue Vor- Hilfen, das heißt in die green box, zu bringen. Nur so schläge zu unterbreiten und die Entscheidung des Euro- kann es gelingen, das europäische Agrarmodell einer päischen Rates in beeindruckender Weise zu ignorieren.“ multifunktionalen und wettbewerbsfähigen Landwirt- Chirac fuhr dann fort, dass die Initiative der EU-Kom- schaft durchzusetzen. Die europäische Landwirtschaft mission missraten sei, da sie gegen die Brüsseler Gipfel- soll nicht nur Lebensmittel und Rohstoffe produzieren, beschlüsse verstoße, sie sei zugleich vergeblich, da sie sondern auch die Kulturlandschaft erhalten und pflegen, keine Chance habe, angenommen zu werden. Die Boden, Wasser und Luft schützen sowie die Artenvielfalt Agenda-Beschlüsse seien auf dem EU-Gipfeltreffen im bewahren. Oktober 2002 bestätigt worden, sodass jegliche Ände- rung vor 2006 ausgeschlossen sei. Die EU-Kommission hat das WTO-Modalitäten-Papier zu Recht als unausgewogen und unzureichend kritisiert. Ich hoffe, dass diese deutliche Aussage des französi- Wir unterstützen diese Kritik, müssen aber hinzufügen, schen Staatspräsidenten auch von den WTO-Partnern 2472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) verstanden wird. Sie sollen sich keine Hoffnung machen, Standards für Umwelt- und Verbraucherschutz an den in- (C) dass die Kommissionsvorschläge zur Reform der ge- ternationalen Börsen gehandelt werden? meinsamen Agrarpolitik bereits vorgezogene EU-Zuge- ständnisse bedeuten, die nicht mehr durch Gegenleistun- Europa steht heute für ein Modell einer umwelt- gen honoriert werden müssten. Die europäischen und freundlichen, nachhaltigen multifunktionalen und flä- damit auch die deutschen Landwirte haben also einen chendekkenden Landwirtschaft mit hohen Standards in Anwalt in Paris. Bei der eigenen rot-grünen Bundesre- den Bereichen Gesundheits-, Tier- und Umweltschutz. Unsere Landwirtschaft ist es, die den ländlichen Raum gierung sind die Anliegen der deutschen Landwirte we- seit Jahrhunderten prägt und gestaltet und zu ihrer wirt- der bei der Diskussion um die erneute EU-Agrarreform schaftlichen und kulturellen Stabilisierung beiträgt. Es noch bei den laufenden WTO-Verhandlungen gut aufge- liegt an uns, besonders an der Bundesregierung, dieses hoben. Frau Künast hat an den EU-Reformvorschlägen Modell jetzt und heute zu verteidigen und abzusichern. wenig auszusetzen und begrüßt sie grundsätzlich. In gleicher Weise verkennt die rot-grüne Bundesregierung Seit letztem Monat liegen die Vorschläge des Vorsit- auch ihre Aufgaben in der derzeitigen WTO-Runde, wie zenden der WTO-Agrarverhandlungsgruppe, Steward die blutleeren Aussagen zu den WTO-Verhandlungen im Harbinson, in der aktuellen WTO-Runde auf dem Tisch. rot-grünen Koalitionsvertrag beweisen. Dieses Papier hat den Europäern sozusagen die Schuhe ausgezogen. Ein Aufschrei aller Agrarminister durchfuhr Frau Künast, die sich so gern des guten Einverneh- Europa. So voller Eintracht hat man die Ministerrunde mens mit ihrem französischen Kollegen Gaymard rühmt, lange nicht mehr erlebt. Diese Harbinson-Vorschläge sollte dann aber auch dessen gutes Beispiel in der Inter- kommen den Forderungen der so genannten Cairns- essenvertretung nachahmen. So reiste der französische Gruppe und den USA deutlich mehr entgegen als der eu- Landwirtschaftsminister Gaymard Ende Januar 2003 für ropäischen Landwirtschaft. Die Vorschläge sind unaus- zwei Tage nach Washington und traf mit allen amerika- gewogen. Sollten sie so durchkommen, geht es um Sein nischen Gesprächspartnern zusammen, die im Agrar- oder Nicht-Sein der europäischen Landwirtschaft. und Handelsbereich wichtig sind, nämlich mit der ameri- kanischen Landwirtschaftsministerin Ann Veneman, Die WTO-Agrarverhandlungen wurden entsprechend dem US-Handelsbeauftragten Robert Zoellick, der für Art. 20 des Übereinkommens über die Landwirtschaft die USA die WTO-Verhandlungen führt, mit dem Präsi- Anfang 2000 aufgenommen. Nach den Beschlüssen der dentenberater für Agrarfragen, Chuck Conner, sowie mit Ministerkonferenz in Doha im November 2001 zum zuständigen Senatoren und Kongressabgeordneten. In Agrarhändel gab es klare Leitlinien. Die WTO-Mitglie- diesen Gesprächen konnte er für die Erhaltung des euro- der waren gehalten, ihre Verhandlungsvorschläge im päischen Agrarmodells und die Durchsetzung der nicht Agrarbereich bis Ende des Jahres 2002 vorzulegen. Die (B) (D) handelsbezogenen Aspekte in den WTO-Verhandlungen Kommission ist dieser Verpflichtung im Januar 2003 werben. Leider werden wir bei Frau Künast vergeblich nachgekommen. Bis Ende März sollen nun die so ge- auf einen solchen Einsatz für die europäischen und deut- nannten Modalitäten eines neuen WTO-Agrarüberein- schen Agrar- und Verbraucherschutzinteressen warten kommens im September 2003 festgelegt werden. müssen. Denn wer wie Frau Künast – und das auch noch Die EU ist der zweitgrößte Agrarexporteur der Welt. entgegen der ausdrücklichen Bitte des Bundeskanzlers Der Zugang zu internationalen Märkten ist für sie von an die Mitglieder seines Kabinetts – auf Demonstratio- großer Bedeutung. Der amerikanische Markt für Milch- nen hinter Transparenten und Schildern herläuft, auf de- produkte ist beispielsweise für die Exporte der EU noch nen der amerikanische Präsident diffamiert wird, dürfte verschlossen. Japan lässt noch nicht so viel Schweine- sich schon schwer tun, einen Gesprächstermin beim fleisch auf seinen Markt, wie die EU liefern könnte. Die Handelsattaché der amerikanischen Botschaft in Berlin EU-Exporte an verarbeitenden Nahrungsmitteln werden zu bekommen. immer noch durch viele hohe Zölle behindert. Der Schutz und die Anerkennung von Produkt- und Her- Die CDU/CSU-Fraktion wird aber nicht ablassen, die kunftsangaben sind in der WTO noch unbefriedigend ge- deutschen Bauern darüber aufzuklären, dass die Ein- regelt. fluss- und Einwirkungsmöglichkeiten der rot-grünen Bundesregierung gegenüber unserem wichtigsten über- Die EU hat aber auch Vorleistungen erbracht und in seeischen Handelspartner durch grob fahrlässige Brüs- der Vergangenheit selbst den Liberalisierungsprozess kierung gegen Null tendieren und wer dafür die Verant- durch den Abbau von Zöllen und des Außenschutzes be- wortung trägt. Die Folgen werden leider auch die sonders unterstützt: Nach den Vereinbarungen der Uru- deutschen Landwirte zu tragen haben. Doch werden wir guay-Runde sind im Zeitraum 1995/96 bis 2000/2001 alles in unserer Macht Stehende tun, der deutschen der Außenschutz von Agrarprodukten um insgesamt Land- und Ernährungswirtschaft auch in und nach den 36 Prozent, die subventionierten Exporte mengenmäßig laufenden WTO-Verhandlungen eine Perspektive zu er- um 21 Prozent, budgetmäßig um 36 Prozent sowie die halten. internen Stützungsmaßnahmen um 20 Prozent zurückge- führt worden. Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): Haben Die EU wird sich nun einer weiteren Öffnung der ei- Sie schon einmal davon gehört, dass es einen freien genen Märkte im Rahmen der laufenden WTO-Verhand- Weltmarkt für Kulturlandschaften gibt? Haben Sie schon lungen auch nicht verschließen. Die Kommission muss einmal davon gehört, dass Kulturlandschaften, dass sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, mit ihrem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2473

(A) weit gehenden Fischler-Vorschlag an die WTO Herrn in Europa nichts übrig bleiben. Der EU-Vorschlag würde (C) Harbinson zu seinen erstaunlichen Thesen ermutigt zu dagegen eine Senkung der Zölle von 36 Prozent bedeu- haben. Nach Überlegungen der EU-Kommission sollen ten. Dies würde den Zugang von Drittländern zum EU- – an die Vereinbarung der Uruguay-Runde anknüpfend – Markt erleichtern, auf der anderen Seite aber auch zu ei- die Importzölle auf landwirtschaftliche Erzeugnisse in ner fairen Lastenverteilung der Industrieländer führen. der laufenden WTO-Runde durchschnittlich um 36 Pro- Der Zollabbau darf beim EU-Außenschutz nicht weiter- zent, die Ausgaben für Ausfuhrerstattungen um 45 Pro- hin einseitig zulasten der EU gehen. zent und die interne handelsverzerrende Agrarstützung um weitere 55 Prozent reduziert werden. Zweitens. Kapitel Exportsubventionen: Das Harbinson- Papier sieht zunächst eine Reduzierung in einem Zeit- Der Vorschlag beinhaltet auch spezifische Maßnah- raum von fünf bis neun Jahren vor und schließlich ihre men, den Entwicklungsländern deutlich bessere Bedin- Abschaffung. Bei den Exporthilfen sollten allerdings alle gungen einzuräumen: zollfreier Zugang aller Agraraus- Formen wie Exportkredite, Nahrungsmittelhilfen, Staats- fuhren ohne Mengenbeschränkung für die ärmsten handelsunternehmen gleichwertig mit einbezogen wer- Länder der Welt. Die Kommission schlägt einen Zollsatz den, um wettbewerbsverzerrende Entwicklungen zu un- Null für mindestens 50 Prozent aller Agrareinfuhren der terbinden. So müssen zum Beispiel die US-Kredite den Industrieländer aus Entwicklungsländern vor sowie eine gleichen mengen- und wertmäßigen Abbauraten unter- so genannte Box Ernährungssicherheit, um eine Förde- liegen wie die Exportbeihilfen der Europäischen Union. rung der Entwicklung zu ermöglichen und die für die Le- bensmittelversorgung wichtigen Anbaukulturen durch Drittens. Kapitel Interne Stützung: Mit größter Sorge besondere Schutzklauseln zu erhalten. Besonders betont müssen die WTO-Vorschläge zur so genannten Blue Box der Vorschlag noch einmal die wichtige Rolle nicht han- betrachtet werden. Diese betrifft die Direktbeihilfen der delsbezogener Anliegen wie Umweltschutz, Entwick- Landwirte der EU. Hier ist ein Abbau um 50 Prozent in- lung des ländlichen Raumes und Tierschutz. nerhalb von fünf Jahren vorgesehen. Die Folgen für die landwirtschaftlichen Betriebe wäre verheerend. Der Ab- Die Vorschläge der Kommission gehen in einigen Be- bau der in der Gelben Box zusammengefassten Preisstüt- reichen über die Möglichkeiten der Agenda 2000 hinaus. zungsmaßnahmen um 60 Prozent ist ebenso abzulehnen. Die Kommission hat zu früh Verhandlungsspielräume Damit wird dem unterschiedlichen Grad an handelsver- aufgegeben. Es war abzusehen, dass mit diesem konkre- zerrender Wirkung nicht ausreichend Rechnung tragen. ten Angebot der Kommission die Richtung eines weite- Völlig unberücksichtigt blieben zudem die von Kommis- ren Abbaus der Tarife vorgezeichnet war, ohne dass ein sion gemachten jüngsten Reformvorschläge für weitere nennenswerter Fortschritt bei den nicht handelsbezoge- Getreide- und Milchsenkungen sowie die von der EU (B) nen Aspekten als Ausgleich für die vielfältigen, Kosten verfolgten handelsbezogenen Anliegen wie der Schutz (D) verursachenden Auflagen, denen die europäischen Bau- von geographischen Ursprungsbezeichnungen oder die ern unterliegen, absehbar war. Zudem scheinen die Verankerung des Vorsorgeprinzips im Verbraucherschutz. WTO-Verhandlungspartner die neuen EU-Reformvor- schläge des Kommissars Franz Fischlers zur Landwirt- Der Entwurf stellt, die gemeinsame Agrarpolitik in schaft als gegebene Zugeständnisse hinzunehmen, für weiten Bereichen grundsätzlich infrage. Die EU könnte die sie keine Gegenleistung erbringen wollen. die vorgeschlagenen Senkungsverpflichtungen weder mit der geltenden gemeinsamen Agrarpolitik erbringen Der freie Welthandel, Abbau von Zöllen und anderer noch auf Grundlagen der von der EU-Kommission neu Handelshemmnisse, die Verflechtung der Weltwirtschaft vorgelegten Vorschläge zur Halbzeitbewertung der zur Förderung des Wohlstands in der Welt sind Ziele der Agenda 2000. Letztendlich würden die Harbinson-Vor- Welthandelsorganisation. – Ziele, die es zu unterstützen schläge dazu führen, dass viele Betriebe in der EU nicht gilt. Aber ich muss es deutlich sagen: Der Liberalisie- mehr existenzfähig wären und aufgeben müssten. Eine rungsprozess muss unter fairen Bedingungen erfolgen. flächendeckende Landbewirtschaftung wäre nicht mehr Ich möchte einige Eckpunkte des Harbinsons-Papiers möglich, die ländlichen Räume nicht mehr lebensfähig. nennen, die eine Gefahr für unser europäisches Land- Insgesamt würde mit dem Vorschlag von Harbinson die wirtschaftsmodell bedeuten würden: Gestaltung einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Landwirtschaft, die unter hohen Standards im Umwelt-, Erstens. Kapitel Marktzugang: Der Außenschutz der Tier- und Verbraucherschutz wirtschaftet, verhindert. gemeinsamen Agrarpolitik wird durch das Harbinson- Papier infrage gestellt. So sollen besonders hohe Ein- Das Harbinson-Papier soll in den folgenden Wochen fuhrzölle in einem rasanten Tempo bis zu 60 Prozent überarbeitet werden. Es muss daher auf jeden Fall ver- vermindert werden. Hiervon wären insbesondere Zucker, hindert werden, dass sich die Kommission in den Ver- Milch und Rindfleisch betroffen. handlungen der folgenden Wochen auf einen Kompro- miss zulasten der Landwirte einläßt. Ich möchte die Konsequenzen an einem Beispiel deutlich machen: Zucker. Zucker, der nicht aus AKP- Die Bundesregierung steht hier in einer öffentlichen Ländern kommt, wird zurzeit von der EU mit einem Verantwortung. Nun ist die Frau Ministerin Künast und Wertzoll von rund 180 Prozent belegt und müsste nach ihr Einsatz gefragt. Im Länderbeobachterbericht zum Rat dem Harbinson-Vorschlag innerhalb von fünf Jahren auf aus Brüssel, wo die Harbinson-Vorschläge zur Diskus- 72 Prozent vermindert werden. Sollte dieser Vorschlag sion standen, konnte man leider folgendes über die deut- so realisiert werden, wird von der Zuckermarktordnung sche Ministerin lesen: 2474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) „Frau Künast, die, wie ihre Vorredner, einige Haupt- tenzen vieler Unternehmen in der Land und Forstwirt- (C) kritikpunkte an dem Harbinson-Papier ansprach, gab schaft gefährdet. Die rot-grüne Politik der nationalen Al- aber auch (vorsichtig) zu bedenken, die Landwirtschaft leingänge verursacht gerade diese Entwicklung. Die sei nur einer von mehreren Bereichen bei den WTO-Ver- deutsche Landwirtschaft ist aber nur dann wettbewerbs- handlungen, man müsse eine Balance finden zwischen fähig, wenn sie sich auch im Kostenwettbewerb interna- der Liberalisierung und den berechtigten, mittelfristigen tional behaupten kann. Anliegen der Gesellschaft.“ Liberalisierung, Globalisierung sind immer nur Mittel Eine solche Aussage kann man wohl nicht als verant- zum Zweck. Der Erhalt unserer Kulturlandschaft und wortungsvolles Handeln für die deutsche und europäi- hohe Standards sind aber Werte, die unseren ganzen Ein- sche Landwirtschaft bezeichnen. satz fordern. Für unsere Kinder soll das Leben und Wirt- schaften auf dem Hof im Dorf, Ackerbau, bestellte Fel- Die Franzosen zeigen da einen ganz anderen Einsatz. der und Viehzucht nicht zu Bilder aus Büchern Der französische Landwirtschaftminister Herve Gaymard vergangener Tage werden. wies das Harbinson-Papier als „inakzeptabel und völlig unausgeglichen“ zurück. Das nenne ich einen klaren Landwirtschaft wird auch mit agriculture übersetzt. Standpunkt. Verantwortungsvolles Händeln ist gefragt: für ein euro- päisches Landwirtschaftsmodell, zur Zukunftssicherung Die Landwirtschaft darf in den WTO-Verhandlungen der landwirtschaftlichen Betriebe und für den Erhalt der nicht als Wechselgeld für die Interessen anderer Ressorts Kulturlandschaft in Deutschland. benutzt werden. Das europäische Landwirtschaftsmodell steht auf dem Spiel. Es ist von größter Dringlichkeit, dass das hohe europäische Niveau des Gesundheits-, Thilo Hoppe (Bündnis 90/Die Grünen): Was wir hier Tier- und Umweltschutzes in dem neuen Welthandelsab- zu nächtlicher Stunde diskutieren, ist kein Randthema kommen integriert wird. Das heißt auch, dass die in die sondern betrifft das wichtigste Menschenrecht überhaupt EU importierten Produkte unseren Standards entspre- – das Recht auf Leben, auf Überleben, das Recht auf chen oder verständlich gekennzeichnet werden. Die hö- ausreichend Nahrung. heren Kosten für strengere europäische Produktions- Es ist ein Skandal ersten Ranges, dass mehr als 800 standards müssen zudem in der WTO ausgleichsfällig Millionen Menschen auf dieser Welt dieses elementare werden. Menschenrecht vorenthalten wird. Mehr als 800 Millio- Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die Interessen nen Menschen hungern, nicht etwa weil die Äcker dieses der Entwicklungsländer verstärkt berücksichtigt werden begrenzten Globus nicht mehr hergeben, nicht weil es müssen und ihnen eine Präferenzbehandlung in einer fai- weltweit zu wenig Nahrungsmittel gibt, sondern weil et- (B) (D) ren Welthandelsordnung zusteht. So muss zum Beispiel was faul ist im internationalen Agrarhandel, in den garantiert werden, dass die Agrarproduktion in den Ent- Strukturen der Weltwirtschaft, und hinzu kommen kata- wicklungsländern nicht durch subventionierte Agrarex- strophale Fehlentscheidungen, „bad governance“ einzel- porte in diese Länder gefährdet wird. Auf der anderen ner Regierungen. Simbabwe ist dafür ein besonders Seite muss der unterschiedliche Entwicklungsgrad ein- krasses Beispiel. zelner Länder berücksichtigt werden. Geschieht dies wie Diese Fehler, die auf das Konto von einigen unfähi- im Harbinson-Papier nicht, werden Schwellenländer mit gen Regierungen im Süden gehen, dürfen aber nicht dar- extrem kostengünstigen Produktionsweisen bevorteilt, über hinwegtäuschen, dass die meines Erachtens größten die Umwelt-, Tierschutz- und Sozialstandards keine Be- Ursachen für den Hunger in der Welt eher bei uns zu su- achtung schenken. chen sind. Sie lagen früher im Kolonialismus und sie lie- Ich fordere den Einsatz der Regierung für die Land- gen heute in den ungerechten Strukturen der Weltwirt- wirtschaft und den ländlichen Raum auf internationalem schaft. Parkett. Die reicheren Länder dieser Welt, die 27 OECD-Staaten, sub- Das Engagement für die heimische Landwirtschaft ist ventionieren ihre Landwirtschaft jährlich mit weit mehr als ja durchaus begrenzt: Die starken Einkommensrück- 300 Milliarden Dollar. Ich hatte bei meiner Rede im No- gänge in der Landwirtschaft können doch nur als Resul- vember ein Zahlenspiel mit der subventionierten europä- tat der rot-grünen Politik gewertet werden. ischen Kuh angeführt. Ich muss das korrigieren. Meine Zahlen waren nicht korrekt. Die wahren Werte sind noch Rot Grün beschränkt ihre Politik auf 3 Prozent der krasser. Laut Weltbank wurde im letzten Jahr jede Kuh Ökobetriebe und plant dann an 97 Prozent der restlichen in Europa mit 2,5 Dollar pro Tag subventioniert – wäh- Landwirtschaft vorbei. Rot- Grün projiziert in der Öf- rend die Hälfte der Menschheit mit weniger als 2 Dollar pro Tag fentlichkeit Schwarz-Weißgemälde mit Schlagwörtern auskommen muss. wie „Klasse statt Masse“ und propagiert damit eine Agrarpolitik, die ausschließlich auf Marktnischen setzt. Besonders verheerend für die Entwicklungsländer Sie vernachlässigen damit den Rest der Landwirtschaft wirken sich die Exportsubventionen im Agrarbereich und das Problem ihrer internationalen Wettbewerbsfä- aus. Ich will das mit einem Beispiel illustrieren, das mir higkeit. Im Koalitionsvertrag .wird von einer wettbe- in Brasilien begegnete: Da gibt es einen Ort mit dem Na- werbsfähigen Landwirtschaft gesprochen. Rot-Grün be- men Withmarsum – ich hätte glauben können, wieder in lastet sie dann, aber mit immer mehr Steuern, Auflagen meiner ostfriesischen Heimat angelangt zu sein – einen und Bürokratie. So werden Arbeitsplätze und die Exis- Ort, geprägt von deutschen Auswanderern, in dem es Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2475

(A) noch eine gut funktionierende bäuerliche Landwirtschaft Wir möchten, dass sich die EU in diesem Sinne enga- (C) gibt – nein gab, muss man jetzt bald sagen. Dort sind giert und mit dazu beiträgt, dass die so genannte Doha- schwarzbunte Kühe zu sehen, die eine qualitativ hoch- Runde wirklich zu einer Entwicklungsrunde wird. Es wertige Milch geben, mit der der regionale Markt be- geht uns um eine Agrarwende weltweit, die sowohl un- dient wird. sere Landwirtschaft als auch die Landwirtschaft in den Ländern des Südens auf eine solide Grundlage stellt – Die Region könnte sich für Renate Künasts Wettbe- die sowohl hier als auch dort die Bauern in die Lage ver- werb „Regionen aktiv“ bewerben. Doch in letzter Zeit setzt, das „täglich Brot“ zu liefern und die Menschen mit wird auch in Withmarsum der Markt überschwemmt mit ausreichender und gesunder Nahrung zu versorgen. H-Milch – gemixt aus brasilianischem Leitungswasser und Milchpulver aus der Europäischen Union, hoch sub- ventioniert und deshalb extrem billig, sodass die With- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Das Ergebnis marsumer Bauern nicht mehr mithalten können und bald der WTO-Verhandlungen gestaltet wichtige Bereiche des vor dem Ruin stehen. Agrar-Welthandels für die kommenden Jahre. Die Ver- antwortung aller Teilnehmer ist groß und sollte getragen Und ähnliche Vorgänge sind überall in der so genannten werden vom gemeinsamen Interesse an einer einer glo- Dritten Welt zu sehen. Auch das, was mit Projekten der balen Entwicklung, die allen Menschen Zukunftsper- Entwicklungszusammenarbeit aufgebaut wird – funktio- spektiven bietet. nierende ländliche Strukturen, die der Versorgung der Be- völkerung mit Grundnahrungsmitteln dienen –, wird durch Im Interesse einer friedlichen und nachhaltigen Ent- Dumping aus Europa oder den USA wieder zerstört. wicklung weltweit wollen wir einerseits erreichen, dass Rahmenbedingungen erhalten werden, die eine flächen- Es gibt – und jetzt werden wir hoffentlich bald sagen deckende Landwirtschaft in Europa ermöglichen, und können: es gab mit Blick auf die europäische Entwick- andererseits wollen wir den Entwicklungsländern den lungs- und Agrarpolitik ein erhebliches Kohärenzprob- Zugang zu unseren Märkten öffnen und verhindern, dass lem: Was die eine Hand aufbaute, wurde von der anderen in den ärmsten Ländern der Welt die eigenen bäuerlichen wieder eingerissen. Strukturen durch subventionierte Importe zerstört wer- Ich bin deshalb sehr froh, dass es gelungen ist, Agrar- den. Dies ist ein äußerst schwieriger Balanceakt. und Entwicklungspolitiker an einen Tisch zu bekommen. Wir wollen den Hunger in der Welt mindern, das Der Antrag, der heute eingebracht wird, ist ein Plädoyer Recht auf Nahrung verwirklichen helfen, den Entwick- für eine nachhaltige Agrarpolitik, die dem Umwelt- und lungsländern mehr Chancen für Entwicklung durch Auf- Landschaftsschutz gerecht wird, den Verbraucherschutz bau einer eigenen Landwirtschaft geben. Gleichzeitig (B) berücksichtigt und weltweit zur Ernährungssicherheit, müssen wir dafür Sorge tragen, dass der Strukturwandel (D) zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung, beiträgt. in unserer Landwirtschaft sich nicht weiter beschleunigt In der WTO wird ein neues Agrarabkommen verhan- und mehr Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen ver- delt. Die Vorschläge, die bisher auf dem Tisch liegen – be- nichtet, als neue in den verschiedenen Wirtschaftsberei- sonders der Vorschlag des WTO-Landwirtschaftssekre- chen geschaffen werden. tärs Stuart Harbinson –, gehen in die falsche Richtung, Die Landwirtschaft wird, mit wenigen Ausnahmen, weil sie sowohl die Agrarwende in Europa, den Trend weltweit subventioniert. Das ist keine Entschuldigung hin zu einer nachhaltigen, umweltgerechten Landwirt- für weitere Subventionen, aber dies muss beachtet wer- schaft, gefährden – als auch, weil sie den berechtigten den, wenn an die eigene Landwirtschaft die Forderung Interessen der Entwicklungsländer nicht gerecht werden. gerichtet wird, auf staatliche Hilfen völlig zu verzichten. Wir wollen, dass sich Deutschland aktiv dafür ein- Die WTO-Verhandlungen brauchen einen fairen Aus- setzt, dass sich auch die Europäische Kommission bei gleich der teilweise sehr unterschiedlichen Interessen der den WTO-Agrarverhandlungen noch weiter bewegt und 145 WTO-Staaten. Nach Auffassung der FDP sollten einen überzeugenden Beitrag zur Überwindung des Hun- folgende Ansätze verfolgt werden: Die Öffnung der gers leistet. Die Kernforderungen unseres Antrags, bei Märkte soll einen besseren Wettbewerb ermöglichen und dem Agrar- und Entwicklungspolitiker an einem Strang den Entwicklungsländern Zugang zu unseren Märkten ziehen: drastischer Abbau der Agrarexportsubventionen verschaffen. Die EU will ihre hohen Standards in der Le- (und zwar mit der Perspektive „auf null“), Schaffung an- bensmittelsicherheit, im Umweltschutz und im Tier- derer Förderkulissen, die sich nicht handelsverzerrend schutz sichern; die Entwicklungsländer brauchen auswirken. Wenigstens ein Teil der durch den Wegfall Schutzräume, um durch Verbesserung ihrer wirtschaftli- der Agrarexportsubventionen frei werdenden Gelder soll chen Strukturen die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte in die Entwicklungszusammenarbeit fließen – und zwar zu erhöhen. in die Stärkung der Landwirtschaft und die Weiterverar- beitung von Agrarprodukten in den Ländern, die am Dies bedeutet für die WTO-Verhandlungen: Die han- meisten unter Hunger zu leiden haben. Ja zu einer „deve- delsverzerrenden Exportsubventionen, Schutzzölle, lopment box“ für die Entwicklungsländer, damit diese Marktbeschränkungen müssen sukzessive abgebaut wer- im Hinblick auf die Ernährungssicherung ihre Märkte den. Dies muss für alle gelten, auch die von den USA schützen können vor dumping. Und schließlich: substan- unter dem Deckmantel der „De-Minimis-Regeln“ einge- zielle Öffnung unserer Märkte für Agrarprodukte aus führte Agrarförderung. Um die Europäischen Interessen den Entwicklungsländern. durchzusetzen, braucht die EU eine starke Position. Da- 2476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

(A) her sollten wir bei der Reform der Agenda 2000 keine Qualitätsproduktion sowie für die Entwicklung ländlicher (C) Vorleistungen erbringen, die bei den WTO-Verhandlun- Räume. So ist eine Stärkung des Verbraucherschutzes er- gen nicht angerechnet werden. Das bedeutet, dass eine forderlich, ich nenne nur die Stichworte „klare Regeln Beschlussfassung über die Fischler-Vorschläge erst er- zum Vorsorgeprinzip“ und „stringente Kennzeichnungs- folgen kann, wenn die WTO-Verhandlungen abgeschlos- regeln mit Auskünften über Produktionsprozesse“. sen sind. Die Harbinson-Vorschläge sind unausgewogen und daher ungeeignet, bei den WTO-Verhandlungen als Zum Anderen müssen die Ergebnisse der Agrarver- Grundlage zu dienen. Ihre Umsetzung wäre das Ende der handlungen in Einklang mit den Bemühungen der Staa- flächendeckenden, multifunktionalen Landwirtschaft in ten stehen, ihre Entwicklungsziele zu erreichen. So muss Europa. Wir brauchen Sonderregelungen für Entwick- das Recht auf Nahrung sowie das Ziel, die Zahl der Hun- lungsländer, die sich an deren Entwicklungsstand orien- gernden bis zum Jahr 2015 mindestens zu halbieren, tieren. durch die Beschlüsse im Rahmen der WTO befördert werden. Das Ergebnis der WTO-Verhandlungen wird an die Zukunft der Agrarförderung in Europa besondere Anfor- Die Stichworte, um eine erfolgreiche Verhandlung zu derungen stellen, denen die Reform der Agenda 2000 führen, sind hierbei folgende: gerecht werden muss. Das Ergebnis der Verhandlungen muss zu einem ge- Die FDP ist darauf vorbereitet. Wir haben mit unse- rechten Interessenausgleich zwischen Nord und Süd bei- rem Modell einer Kulturlandschaftsprämie einen Vor- tragen, muss zu einer vermehrten Marktöffnung auch für schlag zur Diskussion gestellt, der die Agrarförderung Agrarprodukte aus Entwicklungsländern führen, um auf eine neue Grundlage stellt: Die staatliche Förderung neue Einkommensmöglichkeiten für diese zu schaffen, der Landwirtschaft wird von der Produktion entkoppelt muss zum Abbau von Agrarexportsubventionen und ver- und vermeidet damit die Nachteile des bestehenden Sys- gleichbaren Förderinstrumenten von Industrieländern tems, die Leistungen der Landwirtschaft in der Kultur- beitragen, muss besondere Regeln schaffen zum Schutz landschaftspflege werden honoriert, die hohen europäi- des ländlichen Raums in Entwicklungsländern, Stich- schen Standards in der Lebensmittelsicherheit, im wort „Development Box“. Dies gilt vor allem für die Umweltschutz und im Tierschutz finanziell abgegolten. ärmsten Entwicklungsländer. Doch auch Schwellenlän- Die Kulturlandschaftsprämie ist der Grünen Box zuzu- der werden, angesichts gewaltiger Handelsbilanzdefizite rechnen und unterliegt damit nicht den Abbauverpflich- zu ihren Ungunsten, hart für ihre Interessen streiten. Wer tungen, die für die Blaue Box gelten. Gleichzeitig ge- hier nicht kompromissfähig ist, nimmt in Kauf, das die winnen Landwirte ein Stück Unabhängigkeit von ganze WTO-Runde zum Scheitern verurteilt ist. (B) politischen Entscheidungen – dem größten Risiko, dem Der Bundeskanzler hat in Johannesburg die Bedeu- (D) landwirtschaftliche Unternehmer heute begegnen müs- tung der WTO-Verhandlungen in seiner Rede aufgegrif- sen. fen und Folgendes gesagt: „Mindestens so wichtig wie Finanzmittel ist der freie , Parl. Staatssekretär bei der und ungehinderte Zugang der Entwicklungsländer zu Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung den Weltmärkten. Dazu gehört ausdrücklich auch der und Landwirtschaft: Die WTO-Agrarverhandlungen Abbau von marktverzerrenden Subventionen im Agrar- sind in eine entscheidende Phase getreten. Bis Ende bereich.“ März 2003 sollen in Genf die Grundsatzentscheidungen über die weiteren Liberalisierungsverpflichtungen im Deshalb müssen Exportsubventionierungen der In- Landwirtschaftsbereich fallen. Die Agrarverhandlungen dustrieländer zügig reduziert werden mit dem Endziel ei- sind Teil der laufenden Welthandelsrunde. Diese ist ex- ner kompletten Abschaffung. Wenn wir eine doppelte plizit als eine so genannte Entwicklungsrunde – Doha Agrardividende erzielen wollen, tun wir gut daran, die Development Agenda – vereinbart worden. Noch ist of- frei werdenden Mittel auch für die Förderung ländlicher fen, ob sie diesem Anspruch auch gerecht wird. Klar ist Entwicklung in Entwicklungsländer einzusetzen. allerdings, dass die Agrarverhandlungen als ein Schlüs- selthema für Erfolg oder Misserfolg der gesamten Runde Die Äußerungen des französischen Staatspräsidenten anzusehen sind. Chirac, der in diesem Zusammenhang auf dem Afrika- Gipfel ausdrücklich auf die Problematik der Exportstüt- Aus meiner Sicht müssen deshalb zwei Ziele gleich- zungen der entwickelten Länder, so auch der EU, hinge- rangig im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen: wiesen hat, sollten eine Ermunterung sein, dieses Instru- ment ebenso zu verhandeln wie den Abbau von Zum Einen geht es darum, die internationale Agrarpo- ähnlichen Instrumenten, von den Exportkrediten bis zu litik und den Agrarhandel kohärent zu den Zielen einer problematischen Formen der Nahrungsmittelhilfe. Wir Neuorientierung der Landwirtschaft und der Lebensmit- alle wissen, dass Dumping von Agrarprodukten mithilfe telproduktion in Europa zu organisieren. Die Ergebnisse unterschiedlicher Instrumente erfolgen kann. dürfen also nicht dem widersprechen, was wir bei uns und in Europa auf den Weg gebracht haben oder bringen Ein EU-Vorschlag auf dem kommenden G-8-Gipfel wollen. In den Mittelpunkt der deutschen und europäi- zur Bekämpfung des Hungers böte hier die Chance einer schen Agrarpolitik rücken dabei mehr und mehr die ge- doppelten Dividende: einerseits der Abbau von Agrarex- sellschaftlichen Anforderungen an die Landwirtschaft porterstattungen und zum Anderen die Stärkung der Ent- für Tier- und Umweltschutz, für Verbraucherschutz und wicklungshilfe für die besonders vom Hunger betroffe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2477

(A) nen ländlichen Räume in Entwicklungsländern. Wie Die Sonderregelungen für Entwicklungsländern sind (C) Kompromisse bei den Agrarverhandlungen aussehen grundsätzlich zu begrüßen, auch wenn sie im Detail können, steht noch in den Sternen. Der vorliegende Vor- noch nicht genügend im Hinblick auf den unterschiedli- schlag – das so genannte Harbinson-Modalitäten-Papier – chen Entwicklungsgrad der Länder differenziert sind. ist trotz einiger guter Ansätze jedenfalls nicht ausrei- chend, weder bezogen auf die Landwirtschaft in Ent- Bei aller Skepsis gegenüber dem vorliegenden Ent- wicklungsländern noch auf eine multifunktional ausge- wurf müssen wir jedoch bedenken, dass es einen Erfolg richtete Landwirtschaft in Deutschland und Europa. Der der gesamten WTO-Runde nur dann geben kann, wenn Entwurf wird dem Leitbild einer global nachhaltigen alle Beteiligten – also auch die EU – im Agrarbereich Entwicklung der Landwirtschaft nicht gerecht. Er ge- nicht unerhebliche Zugeständnisse machen. Wir müssen fährdet das europäische Modell einer multifunktionalen, also weiter konstruktiv an einer Einigung arbeiten. flächendeckenden Landwirtschaft. Die von der EU ver- Die Bundesregierung setzt sich für einen Erfolg der folgten nicht handelsbezogenen Anliegen werden völlig WTO-Verhandlungen ein. Die Verhandlungen müssen unzureichend reflektiert, zum Beispiel die Verankerung des Vorsorgeprinzips und der Tierschutz. Der Gedanke, aber zu einem ausgewogenen Ergebnis führen. Am Ende der WTO-Verhandlungen muss eine Balance zwischen Umweltschutz und moderne Agrarpolitik miteinander zu Handelsliberalisierung und berechtigten wirtschaftlichen verknüpfen, fällt hinten runter. und gesellschaftlichen Anliegen aller WTO-Partner ge- Während er auf der einen Seite deutliche Einschnitte funden werden. Wir wollen ein Verhandlungsergebnis bei Zöllen, Exportsubventionen und Stützungsmaßnah- erzielen, das unseren gemeinsamen Leitvorstellungen ei- men vorgesehen sind, was unvermeidlich und richtig ist, ner global nachhaltig wirtschaftenden Landwirtschaft sind auf der anderen Seite die Forderungen an die USA unter Berücksichtigung aller berechtigten handels- und oder andere Industrieländer mehr als moderat ausgefallen. nicht handelsbezogenen Anliegen gerecht wird.

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44 ISSN 0722-7980