Vrije Universiteit Brussel

"Die Heiterkeit der Verzweiflung" Arteel, Inge

Published in: Germanistische Mitteilungen

Publication date: 2020

License: CC BY-NC-ND

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Citation for published version (APA): Arteel, I. (2020). "Die Heiterkeit der Verzweiflung": Annäherungen an Leben und Werk von George Tabori. Germanistische Mitteilungen, 45 (2019)(1-2), 7-14.

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Download date: 03. Oct. 2021

Inge Arteel “Die Heiterkeit der Verzweiflung”

Annäherungen an Leben und Werk von George Tabori

Als George Tabori am 23. Juli 2007 im Alter von 93 Jahren starb, hin- terließ er nicht nur an die 40 Theaterstücke, sondern auch etwa 70 Regie- arbeiten. Seit Mitte der 1970er und vor allem in den 1980er und 1990er Jahren war er als Dramatiker und Regisseur zu einer der führenden Per- sönlichkeiten in der deutschsprachigen Theaterlandschaft geworden, mit eigenen Ensembles in Bremen und Wien und langjährigen Aufträgen u.a. an den Münchner Kammerspielen, dem Wiener Akademietheater und dem Berliner Ensemble. Die Anerkennung als Theatermacher im deut- schen Sprachraum kam jedoch relativ spät in seiner Karriere. Und sie galt der Arbeit eines Remigranten, eines aus den USA nach Europa zu- rückgekehrten Briten ungarischer Herkunft, der zwar Deutsch sprach, aber nur auf Englisch schrieb – seit den 1970ern wurden nahezu alle sei- ne Dramen und anderen Schriften, oft direkt nach ihrem Entstehen, von Taboris dritter Ehefrau Ursula Grützmacher-Tabori ins Deutsche über- setzt.1 1992 war Tabori der erste auf Englisch schreibende Autor, der den Georg-Büchner-Preis erhielt. George Tabori wurde am 24. Mai 1914 als György Tábori in einer Fa- milie liberaler Juden in geboren, wo er zweisprachig – Unga- risch und Deutsch – aufwuchs.2 Während des Zweiten Weltkriegs arbei- tete er in Bulgarien, der Türkei, Palästina und Ägypten für den britischen

1 Auch die meisten Stücke, die vor Taboris Bekanntschaft mit Ursula Grützmacher entstanden, wurden von ihr nachträglich ins Deutsche übersetzt. Die Kannibalen liegt allerdings in einer Übersetzung (1969) von Peter Sandberg vor, Pinkville in einer Übersetzung (1971) von Peter Hirche. Die Forschung zu Tabori bezieht sich nahezu ausschließlich auf die deutschen Übersetzungen. Abgesehen von den Romanen und den Stücken Brecht on Brecht: An Improvisation (1967) und The Cannibals (1974, 1982) blieben die englischen Originale unveröffentlicht. 2 Das von Anat Feinberg verfasste Porträt enthält eine Fülle von Daten und Deutun- gen zu Taboris Leben und Werk. Aus diesem Buch stammen die nachfolgenden In- formationen. Feinberg, Anat: George Tabori. München: Deutscher Taschenbuch Ver- lag 2003.

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Geheimdienst und in London für die BBC; nebenbei schrieb er Romane und Erzählungen. Zwischen 1945 und 1951 erschienen vier Romane auf Englisch, die teilweise auf Taboris Erlebnisse im Exil im Nahen Osten und Nordafrika zurückgehen. Als er 1947 von London in die USA aus- wanderte, fing er an, Drehbücher zu schreiben, zunächst in Hollywood, ab 1952 in New York. New York und seine Theaterszene inspirierten Tabori schließlich auch zum Schreiben von Theaterstücken. Hier wurde 1952 sein erstes Stück, Flight into Egypt, in der Regie von Elia Kazan am Broadway uraufgeführt. Hier führte er auch zum ersten Mal Regie, und zwar 1956 bei der Inszenierung von Strindbergs Dramen Fräulein Julie

Winter Journals und Die Stärkere. Auch übersetzte er deutschsprachige Stücke ins Engli- sche: Dramen von und wurden in Taboris Übersetzung in New York aufgeführt. Vor allem Taboris Verbindung zum New Yorker Actors Studio von Lee Strasberg erwies sich als ent- scheidend für die Entwicklung seiner eigenen Theaterauffassung. Ähn- lich wie bei Strasberg kreist diese um eine Wahrhaftigkeit im Spiel – 3 for personal use only / no unauthorized distribution “Nicht vorzeigen, sondern sein” –, welche es mit Improvisationen so- wie körper- und stimmtechnischen Übungen zu erreichen gilt. 1969 wurde Tabori eingeladen, sein Stück Die Kannibalen in der Werk-

statt des Berliner Schillertheaters zu inszenieren. Nachdem er 1968Powered by TCPDF (www.tcpdf.org) zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder nach Deutschland ge- kommen war – als Teilnehmer an einer Brecht-Tagung im Berliner En- semble –, wurde diese Einladung zum Auftakt seiner definitiven Rück- kehr. Die Kannibalen ist Taboris Vater Cornelius Tabori gewidmet, der 1944 aus Budapest deportiert und in Auschwitz ermordet worden war. Wie in vielen nachfolgenden Dramen versucht Tabori, über den Tod des Vaters und das eigene Schuldgefühl wegen seiner damaligen relativ sorg- losen Londoner Existenz zu schreiben – und zwar auf eine Weise, die sentimentale Betroffenheit ebenso vermeidet wie realistische Dokumen- tation und das Theaterspielen als Ritual der Erinnerung gestaltet. In einem Streit um ein Stück Brot bringt eine Gruppe von KZ-Insassen einen Kameraden um. Ausgehungert bereiten sie die Leiche als Abend- mahl zu, schieben aber die Mahlzeit mit dem Erzählen von Geschichten und mit Rollenspielen – u.a. über Vater-Sohn-Beziehungen – immer wie- der hinaus. “Sie erproben”, so der Tabori-Experte Jan Strümpel, “spe-

3 Sommer, Maria/Strümpel, Jan: Nachwort. In: Tabori, George: Theater. Band 2. Göttin- gen: Steidl 2015. S. 561-581. Hier S. 567. Taboris gesammelte Theaterstücke liegen in dieser zweibändigen Ausgabe vor. Auch die Romane wurden 2015 von Steidl in deut- scher Übersetzung neu herausgegeben.

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zifisch sinnliche, im wahren Sinne des Wortes handgreifliche Formen der Erinnerung, die das ‘Unbegreifbare’ verstehbar, wenigstens erahnbar machen sollen.”4 Schließlich werden sie von einem SS-Kommandanten zum Essen gezwungen. Die zwei, die gehorchen, überleben; diejenigen, die sich weigern, werden in die Gaskammer geschickt. Das Stück wird von Tabori explizit als vermitteltes Zeugnis eingeführt, “mitgeteilt von den Nachgeborenen derer, die an dem Festmahl teilnahmen, sowie von den beiden Überlebenden, denen wir die Kenntnis der Fakten verdan- ken”.5 Damit spricht er die Unmöglichkeit an, direktes Zeugnis von den Morden abzulegen. Mit voller Wucht brachte Tabori mit dieser Inszenierung seine Aus- einandersetzung mit dem Holocaust auf die deutsche Bühne: den quälen- den Komplex von zufälligem Überleben und dem Gefühl der Mitschuld sowie die Notwendigkeit, die Schrecken nachzuspielen und so der Er- mordeten zu gedenken. Der Inhalt schockierte, aber mehr noch als die Thematik verstörte der groteske Humor, mit dem Tabori die Handlung darstellte, den damals in der Bundesrepublik herrschenden guten Ge- schmack. Auch jüdische Stimmen beschwerten sich über Taboris pietät- loses, tabubrechendes Lachen, diese “Schwarze Messe, bevölkert von den Dämonen meines eigenen Ich, damit ich mich und diejenigen, die diesen Alptraum teilen, davon befreien kann”.6 Dennoch erlebte Tabori die Uraufführung als seinen “ersten wahren” und “unerwarteten Erfolg”. Der Abend wurde für ihn zu jenem Moment, an dem “alle Themen mei- nes Lebens” zusammentrafen.7 Die Forschung8 hat sich mit dem vielschichtigen Bezug von Taboris Theater zum Holocaust eingehend auseinandergesetzt. Das Theater als

4 Strümpel, Jan: Tabori, George. In: Kilcher, Andreas B. (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch- jüdischen Literatur. Stuttgart: Metzler ²2012. S. 493-495. Hier S. 494. 5 Tabori, George: Die Kannibalen. Übersetzt von Peter Sandberg. In: ders.: Theater. Band 1. Göttingen: Steidl 2015. S. 237-299. Hier S. 237. 6 Tabori, George: Schwarze Messe (1969). In: ders.: Bett und Bühne. Über das Theater und das Leben. Essays. Artikel, Polemiken. : Wagenbach 2007. S. 56-57. Hier S. 56. 7 Feinberg: Tabori, S. 76 und 82. 8 Die Tabori-Forschung ist recht umfangreich; hier sei nur eine exemplarische Aus- wahl aufgelistet. Monographien: Strümpel, Jan: Vorstellungen vom Holocaust. George Ta- boris Erinnerungsspiele. Göttingen: Wallstein 2000; Haas, Birgit: Das Theater des George Tabori. Vom Verfremdungseffekt zur Postmoderne. Frankfurt am Main: Peter Lang 2000; Feinberg, Anat: Embodied Memory: The Theatre of George Tabori. Iowa: U of Iowa P 1999 – Sammelbände und Sonderhefte: Kagel, Martin (Hg.): George Tabori. In: Nexus: Essays in German Jewish Studies 4 (2018); Castellari, Marco (Hg.): George Tabori. Napoli:

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Erinnerungsspiel und Dialog mit den Toten, aber auch Taboris grotesker Witz und sein ‘Lachen über Hitler’ stehen dabei im Mittelpunkt. Seine intertextuelle Gedächtniskunst, die sich in den Bezügen zu religiösen und mythologischen Erzählungen und Motiven zeigt, und seine Nachdich- tung älterer, kanonisierter Theaterstücke (von u.a. Euripides, Shakespea- re und Lessing) rücken sein Werk in die Nähe einer postmodernen Thea- terästhetik. Die Forschung wirft auch Fragen nach der jüdischen Identi- tät in seinen Texten auf, einer Identität, die Tabori selbst als eine ihm von außen, durch den Nationalsozialismus und das Exil aufgezwungene erlebt hat.9 Tatsächlich, so zeigen die Analysen, verstärkt sich in Taboris erfolgreichsten Dramen – vor allem in Mein Kampf (1987), Weisman und Rotgesicht (1990) und Goldberg-Variationen (1991) – seine Auseinanderset- zung mit der “Konfrontation von jüdischem Selbstbild und antijüdi- schem Ressentiment”.10 Weniger Aufmerksamkeit wurde dagegen Tabo- ris Lebens- und Schaffensphasen vor seiner Rückkehr nach Deutschland entgegengebracht. Auch die Mehrsprachigkeit und Interkulturalität sei-

Università degli Studi Suor Orsola Benincasa 2016; Höyng, Peter (Hg.): Verkörperte Geschichtsentwürfe: George Taboris Theaterarbeit / Embodied Projections on History: George Ta- bori’s Theatre Work. Tübingen: Francke 1998; Strümpel, Jan (Hg.): George Tabori. In: Text+Kritik 133 (1997); Bayerdörfer, Hans-Peter/Schönert, Jörg (Hg.): Theater gegen das Vergessen: Bühnenarbeit und Drama bei George Tabori. Tübingen: Niemeyer 1997 – Aufsätze: Kagel, Martin: Walking the Dead: George Tabori’s Refraiming of Bertolt Brecht’s The Jewish Wife. In: Brecht Yearbook/Das Brecht-Jahrbuch 42 (2018), S. 103-119; Feinberg, Anat: Against ‘False Piety’: George Tabori and the Merchant of Venice. In: Shakespeare Jahr- buch 149 (2013), S. 104-116; Kagel, Martin: Ritual Remembrance: George Tabori’s The Can- nibals in Transnational Perspective. In: Martinson, Steven/ Schulz, Renate (Hg.): Trans- cultural German Studies: Building Bridges/Deutsch als Fremdsprache: Brücken bauen. Bern: Peter Lang 2008; Mueller, Kerstin: Laughing at Hitler? The German Reception of George Tabori’s Mein Kampf (1987) and Dani Levy’s Mein Führer (2007). In: Twark, Jill (Hg.): Strategies of Humor in Post-Unification German Literature, Film, and Other Media. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars 2013, S. 330-362; Bolterauer, Alice: Wir sind ja alle Flüchtlinge, Fremde. Zur Migrationserfahrung bei George Tabori. In: Germanica 38 (2006), S. 1-13; Diedrich, Antje: Talent is the Ability to Be in the Present: Gestalt Therapy and George Tabori’s Early Theatre Practice. In: New Theatre Quaterly 18.4 (2002), S. 375-391. Für weitere Titel der Sekundärliteratur verweise ich auf die beiden nachfolgenden Beiträge, die zahlreiche themenspezifische Publikationen zu Tabori auflisten. 9 In einem Aufsatz aus dem Jahre 1989 zum Thema “100 Jahre Hitler” schrieb Tabori: “Vorher war ich Mensch und zufällig jüdisch”. Tabori, George: Ich habe ihn besiegt (1989). In: ders.: Bett und Bühne, S. 61-62. Hier S. 62. Und 2005 sagte er in einem Ge- spräch: “Meine Eltern waren liberale Menschen, ich wurde nicht jüdisch erzogen. Ich war nie in einer Synagoge. Erst die Deutschen haben mich zum Juden gemacht.” Tabori, George; o.T. – Gespräch mit Peter Teuwsen (2005). In: ders.: Bett und Bühne, S. 45. 10 Strümpel: Tabori, S. 495.

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nes Werkes – zum Beispiel die Dynamiken des sprachlichen Transfers zwischen Englisch und Deutsch und des kulturellen Transfers zwischen den USA und den deutschsprachigen Ländern – stellt noch ein großes Forschungsdesiderat dar. Taboris biographische Ortlosigkeit ging mit einem profunden Fremd- heitsempfinden einher. So nannte er sich in seiner Büchnerpreis-Rede (1992) selbst “den Fremden unter Eingeborenen; zum Beispiel einen Ju- den unter Deutschen” und führte diesen Gedanken folgendermaßen wieter: Der Fremde ist nicht unbedingt ein Ausländer, aber meistens ein Emi- grant, der sein Asyl in der Autonomie und in der Gnade sucht. […] Solch ein Fremdling ist, wie die deutsch-amerikanische Gertrude Stein meinte, wie ein Detektiv, der in dieser Zeit des Verbrechens, dem Opfer und dem Täter auf der Spur, versucht, beide zu verstehen, indem er sich nicht weigert, etwas von beiden in sich zu finden.11 Zwar werden Ortlosigkeit und Fremdheit für Tabori zu produktiven Voraussetzungen für seine Kunst, “weil er damit sein drittes Ohr bewah- ren kann, so dass er, mit der Neugier des Fremden, die Wörter wörtlich nehmen und so wieder in den Eingeweiden der Sprache wühlen kann”.12 Aber die existentielle Fremdheitserfahrung wird nicht um ihretwillen ge- feiert: Sie ist die Folge von Gewalt und Mord und verbindet den Ort- losen unweigerlich mit der “Zeit des Verbrechens”, der Dialektik von Opfer und Täter und immer wieder mit dem Tod. Ebenso ist Taboris “Literatur ohne festen Wohnsitz”13 weniger Lebenskunst als Kunst des Überlebens, deren “Heiterkeit” aus der “Verzweiflung” herrührt.14 Die Vorläufigkeit der Wohn- und Lebensumstände – “Ich brauche nur 1 Bett, 1 Bad, 1 Stuhl, 1 Tisch zum Schreiben und Essen”15 – korrespon- diert mit der Mobilität von Taboris Poetik, die sich nicht kategorisch auf eine geschlossene Form festlegen lässt, sondern Regeln, Traditionen und

11 Tabori, George: Liebe (1992). In: ders.: Bett und Bühne, S. 21-26. Hier S. 21 und 24. 12 Ebd., S. 24. 13 Der Untertitel von Ottmar Ettes kulturwissenschaftlicher Publikation ZwischenWelten Schreiben, die sich mit Figuren von Bewegung und Mobilität in der Literatur ausein- andersetzt, lautet Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos 2005. In diesem Buch kommt Tabori allerdings nicht vor. 14 Tabori, George: Die Heiterkeit der Verzweiflung (1991). In: ders.: Bett und Bühne, S. 155- 156. Hier S. 156. 15 Tabori zitiert in: Roos, Peter/Weiss, Maurice: Tabori zieht um. Eine Groteske in 21 Auf- zügen. Weitra: publication PN°1 – Bibliothek der Provinz 2004. S. 12.

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Überlieferungen variiert und neu schreibt. Diese Poetik führt nicht zu Formlosigkeit, sondern gestaltet Texte als mehrschichtige, mobile Struk- turen, die die singuläre Erfahrung mit der kollektiven Geschichte und den tradierten Mythen verbinden.16 Taboris langes und produktives Leben an vielen Orten und in mehre- ren Sprachen hätte zweifelsohne ausreichendes Material für eine umfang- reiche (Auto)Biographie geliefert. Aber das Schreiben einer Autobiogra- phie war dem Autor suspekt, nicht nur weil seiner Meinung nach ohne- hin alles Bedeutungsvolle in seine Stücke, Prosa und Interviews Eingang gefunden hatte, sondern auch weil er als Überlebender der Monumenta- lität, die eine Autobiographie mit sich bringen kann, zutiefst abgeneigt war. Als er sich schließlich gegen Ende seines Lebens doch dazu durch- ringen konnte, entstanden fragmentarische Erinnerungsnotizen, deren erster Teil 2002 unter dem Titel Autodafé. Erinnerungen publiziert wurde. Dieser Teil endet mit der Reise von Vater und Sohn Tabori nach Berlin im Jahre 1932. Nach dem Willen Cornelius Taboris sollte sein Sohn dort ein Praktikum im Hotelgewerbe absolvieren. George Tabori schließt den Rückblick auf diese gemeinsame Reise und die Erfahrungen in Berlin mit einer Vorausblende ab, in der er von seinem erst 60 Jahre später erfolg- ten Besuch in Auschwitz berichtet. Beim Besuch des Vernichtungslagers treibt ihn die verzweifelte Hoffnung, vor Ort eine Spur, ein Zeichen des Vaters zu finden. Als sich weder Spuren noch Zeichen finden lassen, stellt sich angesichts der Absolutheit der Auslöschung eine schreckliche Leere im Bewusstsein des Autors ein. Er flieht und erbricht sich. Ebenso wenig, wie der Besuch in Auschwitz irgendeine closure, ir- gendeinen Abschluss ermöglicht, lassen die Erinnerungen in Autodafé ein schlüssiges und abschließendes autobiografisches Erzählen zu. Immer wieder betonen die Fragmente die Distanz von siebzig Jahren zu den er- zählten Erlebnissen und die daraus folgende Lückenhaftigkeit und Unzu- verlässigkeit des Erinnerns. Und als ob der Autor diese Qualität noch steigern möchte, erzählt er mit Vorliebe Gerüchte und Anekdoten vom Hörensagen. Oder er steigert sich in die phantastische Beschreibung von Personen oder Situationen hinein und legt sich selbst eine andere Perso- na, eine Maske zu. Schon im Berlin der Jahre 1932 bis 1934 rührt dieses

16 Vgl. die Metapher des mobilen Koordinatensystems, mit der Ottmar Ette die Beweg- lichkeit in der “Literatur ohne festen Wohnsitz” zu erfassen versucht. Ette: Zwischen WeltenSchreiben, S. 11. Bei Taboris Dramen fallen die Variationen komödienhafter und populärer Dramenformen auf, wie auch aus den Gattungsbezeichnungen hervorgeht, die Tabori den Titeln mancher seiner Dramen hinzufügt, so zum Beispiel: Familien- komödie, Farce oder auch Ein jüdischer Western.

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Versteckspiel von einer existentiellen Erfahrung her. Hier erlebt sich Tabori zum ersten Mal als Fremder, was er mit einem aussagekräftigen Detail veranschaulicht: Berlin ist für ihn die Stadt der Schnauzbärte. Überall tauchen sie auf, bei seiner Gastfamilie und auf der Straße. Und obwohl der Erzähler sie abschätzig beurteilt – “Die Schnäuzer in Berlin, eine Art Neuheit, schienen ein Zeichen von Naivität oder schlichter Dummheit zu sein”,17 – fängt er selbst an, sich “einen Schnäuzer wach- sen zu lassen, und [ich] bin dabei geblieben, sogar heute noch, etwa sieb- zig Jahre später”.18 Wie in Taboris Dramen öffnen sich auch in diesen flüchtigen Memoiren, die die großen politischen Ereignisse auf scheinbar witzige Details und intime Anekdoten reduzieren, die abgründigen Ver- brechen der Judenverfolgung. Vor allem halten sie die Erinnerung an die eigene Verwicklung darin wach. Denn der Schnauzbart macht den jun- gen Tabori nicht nur äußerlich den Berlinern ähnlich, der Text suggeriert auch, dass er deren “Naivität” und “Dummheit” übernimmt. Hinter der Maske des Autobiografischen scheint mit anderen Worten die Wahrheit auf.

Die drei nachfolgenden Beiträge stellen jeweils eine spezifische themati- sche, theoretische oder mediale Annäherung an Taboris Schreiben in den Mittelpunkt. In ihrem Beitrag Vom Tribunal zum Ritual analysiert Alice Le Trionnaire-Bolterauer Taboris Theaterstücke aus kulturanthropologi- scher Perspektive im Hinblick auf die Allgegenwart von Gewalt. Sie zeigt, wie Tabori der Geschichte des Dramas immer wieder andere dra- maturgische Strukturen und Modelle entnimmt, um unterschiedliche Ausprägungen erlittener oder auch begangener Gewalt nachzuspielen und sich damit auseinanderzusetzen. Tabori verspricht sich vom Spiel nicht das Ende der Gewalt; gerade im rituellen Theater und dessen dra- maturgischer Konstellation des Opfermahls, die er als Versatzstücke auf- greift, lässt sie sich aber vielleicht momentweise aufschieben. Monika Szczepaniak analysiert in “Eiskalte Engel adieu”. Gefühle und Stimmungen in George Taboris Theater drei seiner Theaterstücke aus dem Blickwinkel des emotional turn in den Kulturwissenschaften. Ihre Lektüre untersucht, wie die “emotionale Wärme” in Taboris Stücken aus einer besonderen Af- fektstrategie seiner Dramaturgie hervorgeht. Bestimmte Räumlichkeiten und Landschaften – wie der Friedhof, die Wüste oder das Restaurant –

17 Tabori, George: Autodafé. Erinnerungen. Aus dem Amerikanischen von Ursula Grütz- macher-Tabori. Berlin: Wagenbach 2002. S. 42. 18 Ebd., S. 43.

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erzeugen ambivalente Stimmungen und Atmosphären. In und mit ihnen konstituieren sich die widersprüchlichen Identitäten der Figuren. Irrita- tion und Verunsicherung kennzeichnen folglich auch die Rezeption der Stücke, da sich die Rezipienten in diesem affective trouble nicht bequem einrichten können. Die Hörspieladaption eines Prosatextes steht im Mit- telpunkt des Beitrags Radio, Spiel und Welt von Inge Arteel. Unter Bezug auf Forschungsergebnisse der Audionarratologie vergleicht sie gattungs- und medienspezifische Aspekte der Erzählung Erste Nacht letzte Nacht und des daraus entstandenen gleichnamigen Hörspiels. Erste Nacht letzte Nacht erzählt von den Proben zu einem Theaterstück mit tödlichem Ausgang. Der Beitrag untersucht, was das Hörspiel als radiophone Gattung über die in der Erzählung thematisierte Mitschuld am tödlichen Spiel aussagt, wobei den medienspezifischen Elementen der Erzählstim- me und der Soundscape eine besondere Bedeutung zukommt.

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