54. Jahrgang • Mai/Juni 2003 • ISSN 0032-3462

Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen

389 Gareth J. Evans Privatisierung der Außenpolitik: Neue Strategien im Internationalen Konfliktmanagement Das Politische Studien-Zeitgespräch Heinrich Neisser Machtgleichgewicht und Interessen- ausgleich zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Carlo Masala Probleme, Positionen und Perspektiven der italienischen EU-Präsidentschaft Schwerpunktthema: Die Säkularisierung in ihrer historischen Bedeutung mit Beiträgen von Alois Glück, Werner Goez, Harm Klueting, Roland Pietsch und Heinrich de Wall

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Peter Stein Editorial: Ein Stück lebendiger Sozialer Marktwirtschaft ...... 5

Gareth J. Evans Privatisierung der Außenpolitik: Neue Strategien im Internationalen Konfliktmanagement – Das Politische Studien-Zeitgespräch ...... 8

Schwerpunktthema: Die Säkularisierung in ihrer historischen Bedeutung

Bernd Rill Einführung ...... 21

Alois Glück Warum noch christliche Parteien in einem säkularisierten Zeitalter? .... 23

Werner Goez Legitimation weltlicher Herrschaft von Geistlichen im Abendland ..... 32

Harm Klueting Aufklärung als Säkularisierung? .... 44

Heinrich de Wall Auswirkungen der Säkularisation auf das Staatskirchenrecht ...... 52

Roland Pietsch Postmoderne als Korrekturversuch der Säkularisierung? ...... 61

Heinrich Neisser Machtgleichgewicht und Interessen- ausgleich zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten der Euro- päischen Union ...... 73 Carlo Masala Probleme, Positionen und Perspektiven der italienischen EU-Präsidentschaft ...... 83

Roland Höhne Der Algerienkrieg im historischen Gedächtnis der Franzosen ...... 91

Werner Gumpel Armut, Kriminalität und Fremden- hass – Russlands alte Plage ...... 105

Das aktuelle Buch ...... 117

Buchbesprechungen ...... 120

Ankündigungen ...... 134

Autorenverzeichnis ...... 135 Editorial: Ein Stück lebendiger Sozialer Marktwirtschaft

Peter Stein

Wenn in unserem Land über Arbeits- bewerbsfähige Arbeitsplätze für die von marktpolitik diskutiert wird, dann ge- Arbeitslosigkeit bedrohten Mitarbeiter schieht dies mancherorts in der klaren des Kraftwerkes zu schaffen – und zwar Absicht, wirksame arbeitsmarkt- und vor Ort in der Region –, hat die E.ON beschäftigungspolitische Maßnahmen AG ein Projekt zur Industrieansiedlung zu verhindern. Anstatt endlos darüber in der Gegend von Arzberg gestartet. zu reden, welche Reform man warum Gemeinsam mit Vertretern des Baye- lieber unterlassen sollte, kann man aber rischen Staatsministeriums für Wirt- auch einfach zur Tat schreiten; an- schaft, Verkehr und Technologie wurde statt über die Folgen des – unaufhalt- durch die E.ON AG mit den Akteu- samen – Strukturwandels zu lamentie- ren vor Ort (Arbeitsamt, Landratsamt, ren, kann man auch erfolgreiche Stadtverwaltung Arzberg und Berufs- Problemlösungen kommunizieren. bildungszentrum) unter Beteiligung der betroffenen Mitarbeiter ein Ar- In diesem Sinne ist beispielsweise das beitskreis gebildet. Bei diesem Arbeits- Center for Corporate Citizenship an der kreis handelte es sich allerdings nicht Katholischen Universität Eichstätt tätig. um eine „Kommission” nach Berliner Dort hat man es sich unter anderem Fasson, sondern eben um einen Ar- zur Aufgabe gemacht, Beispiele für bür- beitskreis, der am Ende des Tages auch gerschaftliches Engagement von Unter- tatsächlich einen beachtlichen Arbeits- nehmen zu sammeln und wissen- erfolg vorlegen konnte: „Das Ergebnis schaftlich auszuwerten. Es ist in der Tat ist frappierend“, berichten André Ha- interessant zu sehen, was passieren bisch und René Schmidpeter vom Cen- kann, wenn man angesichts einer ter for Corporate Citizenship: „Durch akuten Notlage auf die sonst üblichen die konzertierten Bemühungen konn- Schuldzuweisungen und etwaigen ten dreimal mehr Arbeitsplätze in der Rechtsmittel verzichtet, kurzerhand die Region geschaffen werden, als durch Initiative ergreift und die eigentliche Schließung des Kraftwerkes weggefal- Ursache der Notlage in Angriff nimmt. len sind. Die freigesetzten Arbeit- nehmer wurden (...) qualifiziert, und Zum Beispiel die Stilllegung des Kraft- traditionelle Arbeitsplätze konnten werkes Arzberg durch die E.ON AG:1 tendenziell durch zukunftsorientierte Um neue, zukunftsorientierte und wett- ersetzt werden.“2

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Der beste Kündigungsschutz besteht Das Problem ist nur: Wenn zwei sich eben nicht im drohenden Hammer des gütlich einigen, dann ärgert sich der Arbeitsrichters. Vielmehr kommt es Dritte – nämlich der Interessenvertreter, auch auf der gesamtwirtschaftlichen der dann nichts mehr zu vertreten hat. Ebene darauf an, Voraussetzungen zu Die hauptamtlichen Gewerkschafts- schaffen, unter denen neue Beschäf- funktionäre müssen also kraft des tigung entstehen kann, und diese Sessels, auf dem sie sitzen, für Stim- Voraussetzungen als sozialpolitisches mung sorgen, auf der Straße wie im Kapital nachhaltig abzusichern. Auf Parlament, und man braucht ein diesem Weg kann man gleichzeitig Gesellschaftskonzept, das seinem auch die erheblichen finanziellen Wesen nach immanent streitig ist. Ressourcen, die im Streitfall in den Außerdem braucht man ein Klientel, letztendlich nicht gerade „Wert- das man daran gewöhnt hat, lieber schöpfenden“ Konfliktregelungsme- streitbar Forderungen an Dritte zu chanismen des Arbeitsmarktes gebun- richten, anstatt zunächst über eigene den sind, begrenzen. Dies dient nicht Handlungspotenziale nachzudenken zuletzt dem Wohle der Steuersätze und und eigene Handlungskompetenzen dem Wohle produktiver Investitionen weiter zu entwickeln. Hieran wird sich und liegt damit im Interesse von auch bei allem Schönreden nie etwas Beschäftigung sowie darauf aufbauen- ändern, da die Institution vom Erhalt der sozialer Sicherheit. des sozialen Konfliktpotenzials in ihrer funktionalen Legitimation betroffen Besonders interessant an dem Fall- und damit letztendlich existenziell beispiel von André Habisch und René abhängig ist. Schmidpeter ist aber deren Schluss- folgerung: „Dies war nur möglich, weil Die Soziale Marktwirtschaft basiert durch die gemeinsamen Projekte eine aber im Sinne von Alfred Müller- Kooperationskultur zwischen den be- Armack auf einem „irenischen Ord- teiligten gesellschaftlichen Gruppen nungsgedanken“; sie ist also final gewachsen ist (...).“3 Genau dies ist der auf Aussöhnung ausgerichtet. Die entscheidende Punkt: eine Koopera- Umsetzung dieses Ordnungsgedan- tionskultur, die aus sich selbst heraus kens in der Nachkriegszeit ist sicher- wächst. Ist eine derartige Koopera- lich eine ganz besondere kulturelle tionskultur nicht ein Stück lebendiger Leistung unseres Gemeinwesens und Sozialer Marktwirtschaft, und beweist ein soziales Kapital, das heute wieder der Erfolg dieses Projektes nicht auch stärker aktiviert werden muss. Hier die ungebrochene Aktualität dieses zeigt sich auch ganz deutlich, dass es Leitbildes? Dabei sei ausdrücklich keinen Sinn hat, wenn die den festgehalten, dass „Kooperationskul- Gewerkschaften nahestehenden po- tur“ eine andere Qualität hat als litischen Kräfte immer mal wieder den nur „Kommunikationskultur“. Letzteres Versuch unternehmen, die Soziale ist zwar eine notwendige, aber keine Marktwirtschaft in Form eines soge- hinreichende Bedingung für Erfolg, nannten „Dritten Weges“ oder Ähn- denn am Arbeitsmarkt kommt es nicht lichem für sich zu vereinnahmen; es auf viele Worte an, sondern auf passt kulturell einfach nicht zu- Taten. sammen. Editorial: Ein Stück lebendiger Sozialer Marktwirtschaft 7

Anmerkungen 1 Vgl. Habisch, André/Schmidpeter, René: mente und Materialien zum Zeitgeschehen Unternehmen in der Aktiven Bürger- der Hanns-Seidel-Stiftung (in Vorberei- gesellschaft, in: Markus Söder/Peter Stein tung). (Hrsg.), Perspektiven eines sozial ver- 2 Ebd. antwortlichen Unternehmertums, Argu- 3 Ebd. Privatisierung der Außenpolitik: Neue Strategien im Internatio- nalen Konfliktmanagement Politische Studien-Zeitgespräch mit Gareth J. Evans

Gareth J. Evans ist seit Januar 2000 Präsident der International Crisis Group (ICG) in Brüssel. Die 1995 gegründete ICG ist eine private, unabhängige und gemeinnützige Vereinigung zur Prä- vention und Lösung von Konflikten. Derzeit ist ICG mit rund 90 Mitarbeitern in 35 Ländern der Welt aktiv. Jedes Jahr veröffent- licht ICG über 80 Berichte, um politischen Entscheidungsträgern geeignete Strategien zur Vorbeugung und Lösung von Konflikten an die Hand zu geben. Begleitend betreibt ICG eine umfangreiche politische Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit. Gareth J. Evans war u.a. von 1988 bis 1996 australischer Außenminister in den Labour Regierungen von Bob Hawke und Paul Keating, währenddessen er eine maßgebliche Rolle beim UN-Friedensprozess in Kambodscha spielte. Er hat in Melbourne und Oxford Jura und Politikwissen- schaft studiert. Gareth J. Evans ist Autor mehrerer Bücher und wurde wegen seiner Verdienste um Frieden und internationale Verständigung mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt.

Politische Studien: Vor Ausbruch des kontrollieren, als dies zur Stabilisierung jüngsten Irakkriegs waren Sie persön- der prekären Sicherheitslage objektiv lich sehr kritisch eingestellt gegenüber betrachtet notwendig ist, dann wird der Art und Weise, wie die Regierung dies sowohl im Irak als auch in der Bush und ihre Verbündeten die Irak- Region zu gewaltigen Protestaktionen krise gemanagt haben. Wie schätzen Sie gegen die nunmehr als Besatzer emp- die Zukunftsaussichten des Irak und des fundenen amerikanischen Truppen Nahen Ostens nach dem Ende der Ära kommen. Wir konnten diese anti-ame- Saddam Husseins ein? rikanischen Proteste bereits während der Militäroperationen gegen Saddam Gareth J. Evans: Ich denke, es ist sehr Hussein beobachten, ein Konflikt, der wichtig, dass die Nachkriegsverwaltung von vielen Menschen in der arabisch- des Irak so schnell als menschenmög- muslimischen Welt als ein Krieg der lich internationalisiert wird. Denn falls Kolonialisierung und nicht als ein Krieg dies nicht geschieht und die ameri- der Befreiung betrachtet wurde. Na- kanischen Soldaten das Land länger türlich wollten viele Iraker von Saddam

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Hussein befreit werden, aber zugleich internationaler Abstimmungs- und Ent- wollen sie auch, dass ihre Befreier den scheidungsprozess zu Grunde liegt. Das Irak sobald wie möglich verlassen, um soll jedoch nicht heißen, dass solche selbst wieder die Geschicke ihres Lan- internationalen Entscheidungsprozesse des in die Hand nehmen zu können. immer korrekt verlaufen. So hat zum Beispiel Russland während der Kosovo- Politische Studien: Sie plädieren also krise im Jahr 1999 im UN-Sicherheits- für eine starke Rolle der UN? rat mit seinem Veto gedroht, ein voll- kommen ungerechtfertigter Schritt Gareth J. Evans: Richtig. ICG hat angesichts der tatsächlichen Situa- sehr deutlich gemacht, dass sich die tion im Kosovo. Damals gab es aber Rolle der UN über die – zweifelsohne einen breiten internationalen Konsens sehr wichtigen – humanitären Aspekte darüber, dass die Aktionen von hinaus auch auf die politische Ver- Slobodan Milosevic – sofern man waltung des Irak erstrecken muss. Bei nichts dagegen unternahm – gravie- ihrem Treffen in Dublin im April rende Konsequenzen für den Balkan wiesen Bush und Blair der UN zwar und den Rest Europas nach sich ziehen eine „vitale Rolle“ zu, bei genauerer würden. Wir dürfen folglich ebenso Betrachtung sieht es aber eher so aus, wenig zu einem Gefangenen des UN- dass die UN im Irak nur eine marginale Sicherheitsrats werden. Wenn jedoch Rolle spielen soll. Falls diese Ent- ein klarer politischer Wille besteht, eine wicklung wirklich so stattfindet, wird bestimmte Krisensituation anzugehen es für die Amerikaner sehr schwer sein, – und genügend Zeit vorhanden ist –, die für die Neuordnung des Irak not- dann sollte den UN-Bemühungen der wendige innenpolitische und inter- notwendige Freiraum eingeräumt wer- nationale Unterstützung zu mobili- den. sieren. Die Tragik der Irakkrise liegt darin, dass Politische Studien: Wie wird der Ver- der durch die UN-Resolution 1441 lauf der jüngsten Irakkrise – insbeson- eingeleitete Prozess – dem meiner Auf- dere der Einsatz militärischer Gewalt fassung nach ein echter, ernsthafter ohne breite Unterstützung durch den internationaler Konsens zu Grunde UN-Sicherheitsrat – die Lösung zukünf- lag – so schnell auseinander gebrochen tiger Krisen beeinflussen? ist. Den Hauptgrund hierfür sehe ich in der amerikanischen Politik. Jedem war Gareth J. Evans: Die Welt ist heut- klar, dass den USA weniger an der Ein- zutage vor allem darüber besorgt, dass haltung von UN-Resolutionen durch wir in ein neues Zeitalter amerika- Saddam Hussein, sondern vor allem an nischen Unilateralismus eintreten einem Regierungswechsel im Irak ge- könnten. Insbesondere die Länder Iran legen war. Dieser Umstand machte es und Nordkorea könnten schon bald sehr schwierig, den 1441-Prozess am zum Ziel einer amerikanischen Mili- Leben zu erhalten. Auf der anderen tärintervention werden. Meiner Mei- Seite gibt es jedoch die Auffassung – vor nung nach ist es unerlässlich, dass allem unter den amerikanischen Ent- diesen wichtigen Entscheidungen über scheidungsträgern, mit denen ich Krieg und Frieden ein klar definierter gesprochen habe –, dass die Franzosen 10 Politische Studien-Zeitgespräch unter keinen Umständen im UN- Androhung von militärischer Gewalt, Sicherheitsrat für eine Militärinter- um auf extreme Verhaltensweisen zu vention gestimmt hätten – selbst bei reagieren. Der mögliche Einsatz von klarsten Verletzungen der Resolutionen Militärkräften ist sicherlich nicht das durch Saddam Hussein. Da mag etwas erste Mittel präventiver Diplomatie, dran sein, ich hege da aber meine muss jedoch Teil der Handlungs- Zweifel. Wenn man dem 1441-Prozess optionen sein. Es gibt schließlich einige Monate mehr Zeit gegeben hätte Situationen, in denen die Drohung – begleitet von klar definierten Bench- mit militärischen Mitteln die einzige mark-Tests, die Saddam Hussein hätte Möglichkeit ist, um die gewalttätige einhalten müssen –, dann wäre der Eskalation eines Konflikts zu ver- internationale Konsens in der Irakkrise hindern. Die Frühphase des Kosovo- wahrscheinlich länger aufrecht zu er- konflikts und die Krise in Montenegro halten gewesen. Dass dies nicht ge- sind klassische Beispiele, wo die An- schah, ist die wirkliche Tragödie. drohung einer internationalen Militär- intervention als ein effektives Instru- Politische Studien: Die ICG ist im ment der Krisenprävention wirkte. Die Bereich präventiver Diplomatie tätig. ICG ist somit dem „realistischen“ Ende Inwieweit hängt der Erfolg präventiver des breiten NGO-Spektrums zuzurech- Diplomatie von einer potenziellen nen und hat den Mut, stets die Maß- Androhung bzw. einem potenziellen nahmen und Strategien zu empfehlen, Einsatz präventiver Militärgewalt ab – die in einem bestimmten Konflikt nötig also genau jenes strategische Konzept, und angemessen sind. für das die Regierung Bush derzeit so scharf kritisiert wird? Politische Studien: Inklusive dem po- tenziellen Einsatz militärischer Gewalt? Gareth J. Evans: Der Werkzeugkas- ten präventiver Diplomatie besteht Gareth J. Evans: Ja. Solch eine aus mindestens vier Teilbereichen: Empfehlung sprechen wir natürlich 1. politisch-diplomatische Maßnah- nicht leichtfertig aus, aber der Einsatz men und Druckmittel; 2. rechtlich- militärischer Gewalt darf niemals als konstitutionelle Bestimmungen und Handlungsoption ausgeschlossen wer- Garantien zum Schutz der Menschen- den. Wenn es im Ruandakonflikt zu rechte – diese Maßnahmen sind vor Beginn der Auseinandersetzungen die allem dann wichtig, wenn es um die glaubhafte Androhung einer inter- Entschärfung von Konflikten mit eth- nationalen Militärintervention gegeben nisch-religiösen Minderheiten geht; hätte, wären heute unter Umständen 3. Wirtschafts- und Entwicklungshilfe die 800.000 Opfer noch am Leben. um den Ausbruch von Konflikten zu verhindern, die auf ökonomischen Dis- Politische Studien: Welche besonderen paritäten beruhen; und 4. militärische Eigenschaften und Fähigkeiten unter- Maßnahmen – dies umfasst sowohl scheidet ICG von anderen Akteuren im die Reform bestehender militärischer internationalen Konfliktmanagement, Kommandostrukturen (denn diese sind wie z.B. nationale Regierungen, inter- häufig, wie z.B. in Indonesien, die nationale Organisationen, humanitäre Ursache von Konflikten) als auch die Organisationen etc.? Politische Studien-Zeitgespräch 11

Gareth J. Evans: ICG ist in zweierlei Wir haben erstens Mitarbeiter in rund Hinsicht einzigartig. Zum einen sind 35 Ländern der Welt entsandt, um dort wir eine vollkommen unabhängige, Krisen und Konflikte direkt vor Ort zu multinationale Organisation und kön- analysieren. Alle ICG-Analysten sind nen deshalb Krisen und potenzielle mit dem jeweiligen Land, der Kultur Konflikte aus einer objektiven Perspek- und Sprache engstens vertraut. Wir tive heraus analysieren. Zum anderen rekrutieren dazu ehemalige Diplo- basiert unsere Methodologie auf einem maten, Journalisten, frühere Mitarbeiter einzigartigen Konzept, das uns von von humanitären Organisationen, Wis- allen anderen NGOs der Welt unter- senschaftler etc. Zweitens erstellt die scheidet: ICG ist weit mehr als nur ein ICG – basierend auf den Erkenntnissen gewöhnlicher Think Tank, der Berichte unserer Experten vor Ort – jedes Jahr und Analysen erstellt, mehr als nur eine rund 80 Reports mit konkreten, praxis- NGO, die Konflikte vor Ort aus einer relevanten, politischen Empfehlungen rein lokalen Perspektive analysiert; und zur Lösung von aktuellen Krisen und schließlich ist unsere Organisation auch Konflikten. Diese Empfehlungen wer- weit mehr als nur eine Lobbying- den dabei von Fachleuten gemacht, die Organisation, die versucht, Politiker, selbst langjährige außenpolitische Er- Medien und die breite Öffentlichkeit fahrung besitzen und deshalb wissen, zu Konfliktlösungsstrategien zu mobili- wie man realistische, politisch umsetz- sieren. ICG verbindet alle drei Elemente bare Handlungsoptionen entwickelt. auf einzigartige Weise. Ich selbst war acht Jahre lang Außen-

Gareth J. Evans (links) und Ulf Gartzke beim Hauptsitz der ICG in Brüssel. 12 Politische Studien-Zeitgespräch minister; die Leiterin des ICG-Büros in treffen die Mitarbeiter und Vorstands- New York war stellvertretende UNO mitglieder von ICG häufig mit po- Botschafterin Amerikas; der Direktor litischen Entscheidungsträgern zu- unseres Washingtoner Büros hat unter sammen. Letzte Woche war ich bei- anderem früher das U.S. Peace Corps spielsweise in den USA, wo ich sowohl geleitet. Es ist genau dieser große au- mit Kofi Annan bei der UNO in New ßenpolitische Erfahrungsschatz, der die York als auch mit der amerikanischen ICG so einzigartig macht. Viele NGOs, Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice Kommissionen und Think Tanks ent- zu Gesprächen im Weißen Haus zu- wickeln demgegenüber leider oft voll- sammengetroffen bin. Dieser Zugang kommen utopische Konfliktlösungs- zu Top-Entscheidungsträgern gehört zu strategien. Natürlich sind die Hand- den einzigartigen Stärken von ICG. lungsempfehlungen der ICG häufig Natürlich wird man nicht zu diesen recht visionär und gehen oft bewusst Gesprächen geladen, nur weil man über das hinaus, was in einer be- früher einmal Außenminister war. Viel- stimmten Konfliktsituation unmittelbar mehr erwarten die Politiker, dass die politisch akzeptabel zu sein scheint. ICG ihnen neue Perspektiven und Dennoch sind unsere Empfehlungen Empfehlungen vermittelt. stets fest in der politischen Realität und ihren potenziellen Möglichkeiten ver- Politische Studien: ICG ist also, um es ankert. Auch wenn es die jeweiligen in einem Satz zusammenzufassen, eine politischen Entscheidungsträger oft Art privates Außenministerium. nicht hören wollen, sagen wir ihnen klar, was sie zur Lösung eines Konfliktes Gareth J. Evans: Das ist ein sehr unternehmen müssten – wenn sie denn treffender Vergleich. Wir übernehmen hierzu den politischen Willen und Mut viele jener Funktionen, die traditionell aufbrächten. Das bringt mich zum von den Außenministerien selbst erfüllt dritten Bereich unserer Aktivitäten, die wurden. Als Folge massiver Personal- aktive Öffentlichkeitsarbeit sowie das und Budgetkürzungen haben Diplo- Lobbying von politischen Entschei- maten heutzutage jedoch viel weniger dungsträgern zur Umsetzung der ent- Zeit, um sich auf ihre traditionellen wickelten Konfliktlösungsstrategien. Aufgaben – die Beobachtung und Ana- Alle ICG Reports werden – abhängig lyse der politischen Verhältnisse direkt vom jeweiligen Konfliktfeld – per Post vor Ort – zu konzentrieren. In Zeiten an 2.000 bis 3.000 Entscheidungsträ- von Internet und Email herrscht häufig ger weltweit versandt. Weitere 20.000 leider der Irrglaube vor, man könne auf Exemplare verschicken wir per Email, eine starke diplomatische Präsenz vor und rund 800.000 unserer Reports Ort weitgehend verzichten und das werden jedes Jahr von der ICG Website Meiste per elektronischer Kommuni- [www.crisisweb.org] kostenlos herun- kation direkt aus den Außenministerien tergeladen. Daneben veröffentlichen erledigen. Diejenigen Diplomaten, die ICG Mitarbeiter regelmäßig Zeitungs- noch vor Ort im Ausland stationiert artikel, geben Kommentare und Ana- sind, fungieren hingegen oftmals eher lysen in Funk und Fernsehen, werden als Reiseführer von parlamentarischen als Experten bei parlamentarischen Delegationen, die sich zu Besuch im Anhörungen konsultiert. Schließlich Gastland aufhalten. Ein weiteres Hin- Politische Studien-Zeitgespräch 13 dernis sind die bestehenden Sicher- Menschenleben retten. Es gilt hierbei heitsrisiken. Viele der amerikanischen zwischen Konfliktprävention und Kon- Botschaften sehen z.B. heute wie fliktlösung zu unterscheiden. Beide sind Festungen aus, die Diplomaten trauen Teile desselben Kreislaufs. In der Prä- sich quasi nicht mehr auf die Straße ventionsphase baut sich der Konflikt und sind deshalb in ihrer Bewegungs- langsam auf, ist aber noch vermeidbar; freiheit im Vergleich zu den ICG- anschließend jedoch eskaliert die Si- Mitarbeitern sehr stark eingeschränkt. tuation, und es kommt zum Ausbruch Schließlich ist die ICG vollkommen von Gewalt; im nächsten Schritt, der unabhängig. Viele der offiziellen diplo- Konfliktlösungsphase, wird versucht, matischen Berichte und politischen den Konflikt zu lösen und die Span- Empfehlungen sind durch ein erheb- nungen abzubauen; nach dem Ende liches Maß an Selbstzensur gekenn- der gewalttätigen Auseinandersetzun- zeichnet. Diplomaten wissen häufig, gen kommt die Wiederaufbauphase, dass diese oder jene Position dem das so genannte Peace building. Zu Außenminister nicht gefallen würde diesem Zeitpunkt ist man aber schon oder die Beziehungen mit Verbündeten wieder zurück in der Krisenpräventions- berühren könnte. Es gibt also eine phase, um zu verhindern, dass alte Reihe von Faktoren, die dafür sorgen, Wunden wieder aufbrechen und der dass ein großer Teil an diplomatischer ganze schreckliche Kreislauf von vorne Analyse und Kreativität sehr früh anfängt. Dies ist mit wenigen Wor- herausgefiltert wird. Die ICG hingegen ten der Konfliktpräventions-Konflikt- ist unabhängig von diesen Beschrän- lösungs-Kreislauf. Jede Phase dieses kungen und kann deshalb Krisen- Kreislaufs erfordert sehr unterschied- situationen objektiver analysieren. liche Mittel und Herangehensweisen.

Politische Studien: Theoretiker und Ein potenzielles Engagement der ICG Praktiker der internationalen Bezie- in einem Konflikt hängt von drei Fak- hungen behaupten häufig, dass ein toren ab. Erstens, können wir über- Konflikt „reif“ sein muss, bevor externe haupt etwas zur Lösung des Konflikts Vermittlungs- und Interventionsbe- beitragen, sei es durch neue Ideen, sei mühungen Erfolg haben können. Was es, um den notwendigen politischen ist Ihre Einschätzung dieser Position? Druck aufzubauen? Unter Umstän- Gibt es Konflikte, in denen ICG be- den ist ja die Lösung eines Konflikts wusst nicht aktiv wird? wirklich offensichtlich, es fehlt je- doch der notwendige Druck, um die Gareth J. Evans: Nun, ich denke, es ist beteiligten Konfliktparteien zum Ein- einiges an dieser Behauptung dran, lenken zu bewegen. In solchen Si- doch die Meinungen werden darüber tuationen kann ICG durch seine auseinander gehen, wann ein Konflikt Lobbyarbeit helfen, den notwendigen „reif“ ist. Für manche bedeutet „Reife“ politischen Druck durch relevante nicht viel mehr als die totale Er- Drittstaaten bzw. internationale Or- schöpfung der Konfliktparteien. Oft ganisationen zu erzeugen. Die zweite können jedoch schon einige kreative Frage ist, ob ICG die notwendigen per- Konfliktlösungsstrategien zu Beginn sonellen und finanziellen Ressourcen der Auseinandersetzungen sehr viele hat, um Analysten ins Krisengebiet zu 14 Politische Studien-Zeitgespräch schicken und dort ein Büro aufzu- durch Empfehlungen zum Managen bauen. Drittens muss sichergestellt sein, des formalen Friedensprozesses als auch dass die ICG-Führungsspitze auch ge- durch die Ausarbeitung von kreativen nug Zeit hat, um ein weiteres Projekt Lösungsvorschlägen hinsichtlich der zu managen und die damit verbundene eigentlichen Konfliktthemen. Die ICG politische Lobbyarbeit zu leisten. Denn ist nicht direkt als Vermittler zwischen schließlich muss der hohe Qualitäts- den Konfliktparteien aktiv, dies wä- standard unserer Arbeit garantiert sein, re nicht kompatibel mit unserer akti- und das erfordert viel Zeit. Als ich im ven Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit. Januar 2000 meine Arbeit bei der ICG Dennoch haben unsere Teams vor Ort begann, hatten wir ein Jahresbudget gute, vertrauensvolle Beziehungen mit von zwei bis drei Millionen Dollar; allen beteiligten Konfliktparteien ent- heute stehen wir bei rund zehn wickelt. Wenngleich die Konflikte im Millionen Dollar. Ich denke, die ICG Sudan, Kongo und in Burundi noch hat nun ihre richtige Größe erreicht; weit von einer endgültigen Lösung ent- wir sind eine sehr schlanke und flexible fernt sind, so ist es dennoch ermu- Organisation. Eine weitere Expansion tigend, dass gute, kreative Ideen, ein unserer Aktivitäten birgt die Gefahr gutes Konzept, gute Lobbyarbeit letzt- einer ausufernden Bürokratisierung. lich von Erfolg gekrönt sein können. Bereits jetzt verbringe ich extrem viel Konfliktprävention ist immer eine sehr Zeit mit dem Sammeln von Spenden- schwierige Angelegenheit: Denn wenn geldern bzw. administrativen Ange- man Erfolg hat, dann passiert eben legenheiten, während ich eigentlich nichts! Sehr aktiv war die ICG auch viel lieber meine ganze Zeit den während der Krise in Montenegro und substanziellen Themen bzw. der poli- Mazedonien, sowohl in der Öffent- tischen Lobbyarbeit widmen würde. lichkeit als auch hinter den Kulissen. Wir haben versucht, die Situation zu Politische Studien: Was war bislang entschärfen und neue Strategien zu der größte Erfolg bzw. die größte entwickeln. Viele Leute haben diese Enttäuschung während Ihrer bisherigen Rolle gewürdigt. Aber was kann man Arbeit für ICG? schon am Ende vorweisen? Die ICG war wichtig, aber die Akteure X und Y Gareth J. Evans: Meines Erachtens ist waren auch wichtig. der größte Erfolg unserer bisherigen Arbeit die Tatsache, dass sich innerhalb Politische Studien: Und wo liegen die des letzten Jahres die Lage in drei be- Enttäuschungen und Misserfolge Ihrer deutenden afrikanischen Konflikten Arbeit? erheblich verbessert hat. Ich beziehe mich hierbei auf den Friedensprozess Gareth J. Evans: Allgemein gesprochen im Sudan, in Kongo sowie in Burundi. bedeutet jeder Mensch, der in einem In allen drei Fällen ging es um Kon- vermeidbaren oder lösbaren Konflikt fliktlösung und nicht um Konflikt- getötet wird, einen Misserfolg. Ich kann prävention. In allen drei Fällen sind die nicht behaupten, dass die ICG ein Spuren der Arbeit von ICG klar zu wichtiger Akteur in der jüngsten Irak- erkennen: Wir haben die Friedens- krise war. Ich hätte mir gewünscht, dass bemühungen aktiv unterstützt, sowohl wir eine der Stimmen gewesen wären, Politische Studien-Zeitgespräch 15 denen Gehör geschenkt worden wäre, definieren usw. Doch es gibt darüber doch letzten Endes hatte diese Krise hinaus noch eine Reihe ungelöster ihre eigene Dynamik. Mir fällt spontan Details. Die Strategie der ICG beruht aber kein Konflikt ein, in dem wir, trotz darauf, dass beide Seiten von vorn- starker Friedensbemühungen, über- herein klären müssen, welche Konzes- haupt keine Verbesserung der Situation sionen sie jeweils im Extremfall ein- vor Ort erzielt hätten. Am meisten bin zugehen bereit sind, um einen dauer- ich über den Mangel an substanziellen haften Frieden zu erzielen. Beide Seiten Fortschritten im arabisch-israelischen können alle Konfliktfelder auf ein- Konflikt frustriert, und dies trotz mal behandeln und Konzessionen in enormer internationaler Vermittlungs- einem Bereich durch Zugeständnisse bemühungen. Ich denke, dass die ICG, in anderen Bereichen ausgleichen. In mehr als alle anderen Akteure, eine einer solch transparenten Situation sind wichtige Rolle bei der Neudefinition Menschen viel eher in der Lage, zu der internationalen Debatte Anfang einer für beide Seiten akzeptablen Lö- 2002 gespielt hat. Die ICG war jene sung zu kommen, von Extremisten Organisation, die klar gesagt hat, einmal abgesehen. Die Herangehens- dass der stufenweise konzipierte Oslo- weise im Oslo-Prozess war hingegen: Friedensprozess keine Zukunft hat. „Ja, wir werden etwas aufgeben müs- Mittlerweile ist diese Position schon so sen, aber das muss noch verhandelt weit verbreitet, dass viele Leute die werden.“ intellektuellen Urheber dieser Ideen vergessen haben. Der graduelle, stu- Die ICG wurde im Schlusskommuniqué fenweise Oslo-Prozess – und die end- der Tagung der EU-Außenminister in losen Diskussionen darüber, ob man für Kopenhagen erwähnt, wo die Nah- einen dauerhaften Frieden zuerst ostpolitik Europas vis-a-vis Washing- Sicherheit für die Israelis oder lebens- fähige staatliche Institutionen für die Palästinenser benötigt – hat den Frie- densprozess ständig zur Geisel der Extremisten auf beiden Seiten gemacht. Der einzige Weg aus der Krise liegt darin, den angestrebten politischen Endzustand an den Anfang der Ver- handlungen zu setzen. Man muss einen umfassenden, detaillierten Friedensplan entwickeln, nicht nur ein halbes Dutzend inkohärenter Ideen. Die ICG hat deshalb drei umfangreiche Reports zum Endzustand im Nahen Osten veröffentlicht. Wir haben uns dabei vor allem auf die Details konzentriert. Denn alle stimmen darin überein, wie wichtig es ist, die zukünftigen Grenzen festzulegen, das Flüchtlingsproblem zu Gareth J. Evans: Australiens ehemaliger Außen- lösen, den Status von Jerusalem zu minister in neuer Mission. 16 Politische Studien-Zeitgespräch tons definiert wurde – für eine NGO Politische Studien: Die Achse des Bö- ist das sehr ungewöhnlich. Zudem hat sen? die ICG auch sehr aktives Lobbying im Nahen Osten betrieben. Ich selbst Gareth J. Evans: Genau. Es ist äußerst bin z.B. nach Saudi-Arabien gegan- wichtig, welche Politik die amerika- gen, um dort mit Kronprinz Abdullah, nische Regierung gegenüber diesen drei König Faisal, dem Außenminister etc. Ländern – Irak, Iran und Nordkorea – zu Gesprächen zusammenzutreffen. verfolgt. Weiterhin sollten wir auch Darüber hinaus habe ich auch Ägypten Syrien und Libyen im Auge behalten. und andere Länder in der Region Schließlich gibt es in der amerikani- besucht. Weiterhin unterhalten wir schen Regierung einflussreiche Per- auch sehr gute Beziehungen zu Tony sönlichkeiten, die darauf aus sind, den Blair, der die Arbeit der ICG im Nahen im Irak begonnenen Feldzug fortzufüh- Osten sehr zu schätzen weiß. Es besteht ren. Natürlich stellen alle genannten jedoch eine große Frustration darüber, Länder ernsthafte Sicherheitsprobleme dass die amerikanische Regierung – dar, die man angehen muss. Dennoch vom Außenministerium einmal abge- bin ich nicht sicher, ob militärische sehen – bislang nicht den notwendi- Mittel hierfür die beste Strategie bie- gen politischen Willen gezeigt hat, um ten. den Friedensprozess im Nahen Osten entscheidend voranzutreiben. Es ist Politische Studien: Was werden Ihrer bedrückend, dass jeden Tag Menschen Ansicht nach die Hauptursachen ge- in Israel und in den besetzten Gebieten walttätiger Konflikte im 21. Jahrhun- sterben, weil die internationale Ge- dert sein? meinschaft sich so passiv verhält. Doch die andere Bedeutung ist natürlich, dass Gareth J. Evans: Es wird eine Mi- der israelisch-palästinensische Kon- schung aus Gier und Hass sein. Gier flikt die größte Triebfeder für den aus nach Macht, Gier nach Geld sowie der der arabisch-muslimischen Welt aus- Hass, der daraus resultiert, dass sich gehenden Terrorismus darstellt. Menschen ausgeschlossen und unge- recht behandelt fühlen. Meiner Ansicht Politische Studien: Welcher Konflikt nach gibt es jedoch keinen Konflikt, bereitet Ihnen innerhalb des nächsten der nicht zu lösen wäre. Voraussetzung Jahres am meisten Sorge? hierfür ist aber die richtige Kombi- nation aus politischem Willen, Intel- Gareth J. Evans: Am meisten bin ich ligenz sowie den notwendigen Res- über Indien und Pakistan besorgt. Hier sourcen, um auf die Konfliktparteien handelt es sich um einen äußerst ge- einzuwirken. Was die Lösung von fährlichen Konflikt, der jederzeit Konflikten anbelangt, so sind die Jahre explodieren kann. Die Situation wird seit dem Ende des Kalten Krieges – dadurch verschärft, dass beide Seiten einmal abgesehen von den vor allem über Massenvernichtungswaffen, inklu- für die Europäer erschreckenden Bal- sive Atomwaffen, verfügen. Darüber kankonflikten – erstaunlich erfolg- hinaus mache ich mir Sorgen hin- reich. Auf der ganzen Welt werden sichtlich der Lage in Nordkorea und im Konflikte aller Art nunmehr viel Iran. systematischer und effektiver analy- Politische Studien-Zeitgespräch 17 siert und behandelt. Die Rolle von oftmals viel effektiver arbeiten können NGOs wird in diesem Zusammenhang als staatliche Regierungen. in Zukunft immer wichtiger werden. Denn es besteht kein Zweifel daran, Politische Studien: Herr Evans, wir dass Organisationen wie die ICG danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Ulf Gartzke, Associate des World Economic Forums in Genf.

Schwerpunktthema

Die Säkularisierung in ihrer historischen Bedeutung

Einführung

Bernd Rill

Am 25. Februar dieses Jahres hat sich Demütigung Österreichs auf der Ebene der Erlass des „Reichsdeputations- der Machtpolitik, andererseits die au- hauptschlusses“ durch den „immer toritätszerstörenden Ideen der Auf- währenden Reichstag“ in Regensburg klärung, die tatsächlich auch die Kaiser zum zweihundertsten Male gejährt. des Heiligen Römischen Reiches schon Dieses historische Ereignis ist an sich seit Jahrzehnten in ihren Bann gezogen schon bedeutsam genug, da es, ver- hatten, bewirkten insgesamt endgül- mittels der Liquidation der geistlichen tig die Vollziehung eines Schrittes, der Fürstentümer, auf eine endgültige Auf- dem Zeitgeiste nach schon überfällig lösung der Verfassung des altehrwür- geworden war. digen „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ hinauslief. Es kann So bietet dieser historische Gedenktag aber weit darüber hinaus auch als die den geeigneten Anlass, sich über den politisch spektakulärste Manifestation Prozess der Säkularisierung, der offen- eines Vorganges angesehen werden, der sichtlich ein wesentliches Element der im lateinischen Abendland über Jahr- lateinisch-abendländischen Kultur- hunderte hinweg zum Verschwinden entwicklung ist, auf grundsätzliche der politisch und kulturell gleicher- Weise klar zu werden. Die Beiträge für maßen verpflichtenden Kraft der christ- den thematischen Schwerpunkt dieses lichen Glaubenslehren und der diese Heftes spannen daher einen weiten repräsentierenden Amtskirche geführt historischen Bogen: von der Konsti- hat. Der so angesprochene Prozess der tuierung geistlicher Fürstentümer im Säkularisierung steht daher für die Wege der Verfassungsentwicklung im gesamte Dialektik im Spannungsbogen Mittelalter, als man – jedenfalls grund- zwischen Mittelalter und Neuzeit, ohne sätzlich – diese Herrschaftsform nicht deren Entfaltung ein quasi-revolu- in Frage stellte, über die hierarchie- tionärer Akt wie der Reichsdeputa- feindlichen Tendenzen der Aufklä- tionshauptschluss von 1803 überhaupt rungszeit bis hin zu den auch heute nicht denkbar gewesen wäre. Der re- noch wahrnehmbaren Konsequenzen publikanisch-demokratische Umsturz jener Umbruchszeit um 1800, auf po- der Französischen Revolution sowie die litisch-juristischer Ebene zum Staats- militärischen Siege der französischen kirchenrecht der Weimarer Republik Republik, verbunden mit einem diplo- und des Bonner Grundgesetzes und in matischen Zusammenspiel Napoleon philosophischer Hinsicht bis zu dem Bonapartes und des Zarenreiches zur Bestreben eines Teiles der Theoretiker

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 22 Bernd Rill der „Postmoderne“, den Verlust an Hier tritt unsere Thematik in einen verbindlicher Kraft der Religion, der Horizont ein, der zur Zukunft hin noch vom theologischen Nominalismus an vollständig offen ist. Ihre Bedeut- bis zu den forciert materialistischen samkeit wird also, von ferner Ver- Weltanschauungen der Moderne statt- gangenheit herkommend, auch mor- gefunden hat, gewissermaßen wieder- gen noch nicht erschöpft sein – ein gutzumachen, da die Katastrophen der weiterer Beleg dafür, dass es nicht zu Moderne zu lehren scheinen, dass der dramatisch formuliert ist, wenn wir die Mensch ohne „religio“ nicht sinnvoll Säkularisierung als ein Schicksalsthema leben kann. der abendländischen Welt bezeichnen. Warum noch christliche Parteien in einem säkularisierten Zeitalter?

Alois Glück

1. Christliche Parteien und noch davon sprechen, dass in Deutsch- schwindender Einfluss des land die Gruppen der Katholiken, der Christentums Protestanten und derer, die weder katholisch noch protestantisch sind, „Das christliche Menschenbild ist uns jeweils ein Drittel der Bevölkerung eine unverzichtbare Orientierung für ausmachen. Wenn sich die heute er- die politische Gestaltung unseres Zu- kennbaren Tendenzen fortsetzen, wird sammenlebens und unserer Zukunft.“ in spätestens 15 – 20 Jahren die dritt- (Positionspapier „Aktive Bürgergesell- genannte Gruppe bereits der Hälfte der schaft“ der CSU1). Bevölkerung entsprechen.

Der Aussage „Religion ist für mich Warum berufen sich politische Parteien der tragende Grund meines Lebens“ vor diesem Hintergrund heute noch stimmten in einer aktuellen Meinungs- so explizit auf das christliche Men- umfrage (nur mehr) 29 Prozent der schenbild als programmatische Grund- Befragten (zumindest „überwiegend“) lage? Wie passt das in die Zeit? Wie zu.2 Dieses Ergebnis passt zu einer seit passt das zu der Gesellschaftsordnung langem feststellbaren Entwicklung: des Grundgesetzes, zu dessen norma- Zwar gibt es zunehmend irrationale, tivem Rahmen der Grundsatz der re- esoterische Tendenzen, eine Art frei ligiösen Neutralität wesentlich gehört? schwebender Religiosität, der Zuspruch Dies schließt zwar Religionsfreiheit für zu Religionen aber, insbesondere zum den Einzelnen wie für Gruppen und die Christentum und zu den christlichen freie Betätigung der Kirchen und sämt- Kirchen, ist seit langem im Abnehmen. licher übrigen Religions- und Weltan- Durch die Deutsche Einheit 1990 hat schauungsgemeinschaften mit ein. sich das Verhältnis von Christen zu Aber politische Parteien sind eben Nichtchristen weiter deutlich verscho- keine Religionsgemeinschaften oder ben. Denn wie verschiedene Unter- Kirchen. suchungen zeigen, weisen die Neuen Bundesländer die wohl geringste Das Spannungsverhältnis einer Pro- Religiosität und religiöse Bindung grammatik, die sich auch am Christ- weltweit auf. Gegenwärtig kann man lichen ausrichtet, und einer Gesell-

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 24 Alois Glück schaft, in der der Einfluss des Christ- Reichsdeputationshauptschluss am 25. lichen kontinuierlich zurückgeht, ist Februar 1803 durch den „immer wäh- nicht neu. Es ist genau zweihundert renden Reichstag“ in Regensburg ver- Jahre her, dass Strukturen, Einfluss und abschiedet. Zum anderen waren die Besitz der christlichen Kirchen und Auswirkungen gerade in Bayern be- damit ihr politisch-gesellschaftlicher achtlich. Zu den Verlierern gehörten Einfluss wesentlich vermindert wurden. damals neben der Bischofstadt Freising Die damals von staatlicher Seite auf- zahlreiche Bistümer, darunter Bamberg genötigte Form der „Säkularisation“ hat und Passau. Ihre Besitztümer wurden sich seither in unterschiedlicher Ge- dem neuen Staat übereignet, Kirchen stalt fortgesetzt. Das „Jubiläum“ der dem Erdboden gleichgemacht. Viele Säkularisation in Deutschland, in Klöster wurden aufgelöst, die Mönche Bayern legt es nahe, sich einmal wieder mit Pensionen abgefunden und ver- mit der Frage zu befassen, warum es trieben. Ich nenne hier als Beispiele überhaupt noch christliche Parteien nur die Benediktinerklöster Benedikt- braucht in einem Land, das bereits vor beuern, Scheyern, Wessobrunn und zweihundert Jahren einen massiven Weltenburg. Der Staat übernahm auch Säkularitätsschub erfahren hat. Aufgaben, die bis dahin die Klöster erfüllten: Da ein Großteil des Schul- wesens bis zur Säkularisation in der 2. Säkularisierung – Hand der Klöster lag, wurde der Lehr- Säkularisation betrieb verstaatlicht und 1806 die allgemeine Schulpflicht in Bayern „Säkularisierung“, „Säkularisation“, eingeführt. Ebenso brachte die Säkula- „säkularisiert“ – mit diesen Worten ist risierung in der Landwirtschaft fun- der Umstand der „Verweltlichung“, des damentale Veränderungen. Die Bauern Lösens aus kirchlichen Bindungen waren bis dahin gut zur Hälfte Kloster- gemeint. Dabei lassen sich verschiede- bauern gewesen. Nun beschäftigte sie ne Sachverhalte unterscheiden: Vor meist der neue bayerische Staat wei- allem mit dem Wort „Säkularisation“ ter. ist die juristische Bedeutung der er- zwungenen Übereignung von Kirchen- „Säkularisation“ ist aber kein ein- gütern an die säkulare Staatsgewalt maliges historisches Ereignis. Spätestens gemeint, wie sie auf der Grundlage des seit dieser Zeit gibt es in Deutschland so genannten Reichsdeputationshaupt- darüber hinaus auch einen allgemeinen schlusses (1803) in Deutschland er- Prozess der Verdrängung der Religion folgte. Es wurden daraufhin durch den bzw. der christlichen Kirchen aus dem Staat in ganz Deutschland kirchliche öffentlichen in den privaten Raum. Hoheits-, Besitz- und Nutzungsrechte Verhaltensweisen und Denkstrukturen ohne Zustimmung der Kirche entzo- werden aus dem Einflussbereich religiös gen. Alle geistlichen Fürstentümer, bestimmter Vorstellungen gelöst, sie Klöster oder Stifte sollten aufgelöst werden verweltlicht, also „säkulari- werden. siert“. Welt- und Selbstverständnis des Menschen vollziehen sich zunehmend Bayern war hier in verschiedener Wei- ohne Rückgriff auf das Angebot christ- se betroffen: Zum einen wurde der licher Sinndeutung. Staat und Gesell- Warum noch christliche Parteien in einem säkularisierten Zeitalter? 25 schaft lösen sich von der Kirche. Die Hilfe des Argumentes einbringen. Wer Kirchen werden damit zu einem Teil- aber gute Argumente hat, wer sich bereich innerhalb der modernen Ge- überzeugend einmischt, mit Kompass, sellschaft. Damit schwindet ihr Ein- Kompetenz und Kompromissbereit- fluss. Wir haben also neben der Säku- schaft, wird auch Gehör finden. larisation als einmaligem historischen Ereignis einen langandauernden Pro- Der Prozess der Säkularisierung kann zess der „Entkirchlichung“ und „Ent- auch nicht so verstanden werden, dass christlichung“ in Deutschland, hin zu der Einfluss des Christlichen, das der „säkularisierten“ Gesellschaft unse- Christliche selbst ausschließlich im rer Tage. Schwinden begriffen sind. Die Entwick- lung der Säkularisierung ist deutlich komplexer. Religiöse Gehalte, Ideen 3. Rolle und Beitrag und Vorstellungen verschwinden näm- der Religion in der lich durch den Prozess der Säkulari- säkularisierten Moderne sierung nicht einfach. Sie werden vielmehr in die weltliche Sphäre über- Die Rolle christlicher Parteien in einer tragen, d.h. verändert, aber nicht säkularisierten Welt, in einem Land zwingend beseitigt. Ursprünglich reli- mit weiter abnehmendem Anteil giöse oder christliche Sprachformen, von Christen, hängt nun entschei- Vorstellungsgehalte und Verhaltens- dend davon ab, welche Rolle Reli- weisen können so weiterwirken oder gion und Kirchen, die christliche nach einer Übergangszeit in profaner, Botschaft überhaupt noch spielen eben „säkularisierter“ Gestalt wieder können. Haben sie überhaupt noch aufleben. Wer die christlich-religiösen eine Bedeutung? Was haben Christen Wurzeln solcher Phänomene (für die oder die Kirchen zu den gesellschaft- es in den USA den Begriff der „Civic lichen, politischen Debatten unserer Religion“, der „Zivilreligion“, gibt) Zeit beizutragen? nicht kennt, kann sie nicht verstehen, kann mit ihnen nicht angemessen Hier halte ich es zunächst für wichtig, umgehen. Ja, man muss sogar weiter- genau hinzuschauen. In einer säkulari- gehen: Möglicherweise können solche sierten Welt ist Religionsausübung „profanen“ Institutionen oder Vor- nicht mehr eine kollektive Pflicht, stellungen auf Dauer gar nicht bestehen sondern wird zu einer persönlichen ohne die regelmäßige Erneuerung Entscheidung, die die Mitglieder einer aus ihrer religiös-christlichen Quelle Gesellschaft freiwillig und bewusst heraus (die man dann aber kennen treffen oder eben nicht treffen. Sie muss). können sie aber nach wie vor im Sinne der Religion treffen. Eine säkularisierte So gründet sich der freiheitliche Ver- Welt ist auch nicht eine Welt ohne fassungsstaat auf die Überzeugung, dass Religion, sondern eine Welt, in der jedem Einzelnen eine Würde und Ein- keine religiöse Instanz – einfach weil maligkeit zukommt, vor der auch die sie Instanz ist – um ihrer selbst willen demokratisch legitimierte Mehrheit akzeptiert wird. Sie muss sich vielmehr Halt machen muss. Die Menschen- – wie andere Instanzen auch – mit würde, die unsere Verfassung als un- 26 Alois Glück antastbar voraussetzt und aus der sie 4. Wertorientierung statt Menschenrechte als Grundrechte be- reinem Pragmatismus gründet, leitet sich aber ab aus dem Transzendenzbezug des Einzelnen, aus Diese Zusammenhänge und Einsichten seiner Gottesebenbildlichkeit. Deshalb haben und hatten in Deutschland kann man mit gutem Grund der Auf- nicht immer Konjunktur: Jahrelang gab fassung sein, dass sie auch nur dann es die Prognose, Politik werde im- wirklich unantastbar seitens weltli- mer pragmatischer und orientiere sich cher Mächte ist, wenn ihre Begrün- immer mehr an Sachzwängen. Seit dung „transzendent“ bleibt (Bernhard längerem machen wir jedoch die Sutor3). Beobachtung, dass in alle politischen Parteien die Programmdiskussion zu- Ähnlich argumentiert der Philosoph rückkommt. Von zentraler Bedeutung Jürgen Habermas4: Ein Ausschluss der ist hier die jeweilige Leitvorstellung Religion aus der Öffentlichkeit würde vom Menschen, das jeweilige Men- „die Gesellschaft von wichtigen Res- schenbild. Was macht den Menschen sourcen der Sinnstiftung abschneiden. aus? Wie viel trauen wir uns zu? Wo (...) Der egalitäre Universalismus, aus und wie muss der Mensch geschützt dem die Ideen von Freiheit und soli- werden? Wie gewichten wir auf dieser darischen Zusammenleben entsprun- Grundlage Eigenverantwortung, Ge- gen sind, ist unmittelbar ein Erbe der rechtigkeit und Solidarität? jüdischen Gerechtigkeit und der christ- lichen Liebesethik. In der Substanz Es gibt genügend Beispiele für die unverändert ist dieses Erbe immer Relevanz dieser Fragen: Ich denke hier wieder kritisch angeeignet und neu an die Seuche der Gewalt in den interpretiert worden. Dazu gibt es bis vielfältigsten Erscheinungsformen, in heute keine Alternative.“ den Familien, in Kindergärten und Schulen bis hin zum Ausländerhass Eine säkulare Gesellschaft wie die un- und zur ethnischen Säuberung als sere steht deshalb, wie ich meine, politischem Programm. Auch dahinter immer wieder vor der großen Aufgabe, steht ein bestimmtes Menschenbild: sich nicht vorschnell und selbstzu- Der andere wird nicht als gleichrangig frieden mit einem platten Säkularismus und gleichwertig angesehen! Beispiele abzufinden. Anderenfalls würde sie sich hierfür finden sich in rechtsradikaler von ihren wichtigsten Lebensquellen Propaganda oder der Gewalt gegen abschneiden. Ausländer, politisch Andersdenkende, Obdachlose oder Behinderte gleicher- Auch auf diesen Zusammenhang be- maßen. zieht sich Ernst Wolfgang Böckenförde5 mit seiner mittlerweile klassischen Ein weiteres Beispiel für die Heraus- Feststellung: „Der freiheitlich säkulari- forderung des eigenen Menschenbildes sierte Staat lebt von Voraussetzun- sind die Fragen, die sich aus der Ent- gen, die er selbst nicht garantieren wicklung in der Biotechnologie und kann. Das ist das große Wagnis, das er, den Lebenswissenschaften ergeben. um der Freiheit willen, eingegangen Lange scheinbar fest gefügte Grund- ist.“ positionen im Verständnis mensch- Warum noch christliche Parteien in einem säkularisierten Zeitalter? 27 licher Existenz müssen neu begrün- So findet sich die Vorstellung, Mensch det werden. Beginn und Ende mensch- sei nur dasjenige Individuum, das über lichen Lebens geraten in die Dis- die „Fähigkeit zur freien, vernunftbe- kussion. Versuchungen zur Selektion gabten Selbstbestimmung“ (Reinhard und zur „Optimierung“ von Men- Merkel6) verfügt. Ferner: „Die Achtung schen werden zunehmen. Auch hier der Menschenwürde ist dort ange- stellen sich Fragen mit Bezug auf ein bracht, wo die Voraussetzungen erfüllt Menschenbild: Nach welchem Men- sind, dass ein menschliches Leben ent- schenbild handeln wir? Nach wel- würdigt werden, ihm seine Selbstach- chen Maßstäben handeln wir? Ins- tung genommen werden kann. Daher besondere: Nach welchen Leitbildern lässt sich das Kriterium der Menschen- soll menschliches Leben beeinflusst würde nicht auf Embryonen ausweiten. werden? Die Selbstachtung eines menschlichen Embryos lässt sich nicht beschädigen“ Diese kurzen Ausblicke zeigen: Eine (Julian Nida-Rümelin7). Weiter finden Wertorientierung ist unverzichtbar. Ein sich utilitaristische Ansätze, bei denen rein pragmatisches Vorgehen, das nur zur Maximierung des Gesamtnutzens auf den Einzelfall bezogen, nur an der großen Zahl einzelne Menschen konkreten Nützlichkeitserwägungen geopfert werden können. Wohin solche orientiert ist, reicht nicht aus. und andere Ansätze führen können, zeigen Aussagen des Nobelpreisträgers James D. Watson8: „Ähnlich starker 5. Menschenbild – Angebote Widerstand gegen Programme zur Ver- und Konsequenzen hinderung der Geburt schwer genetisch behinderter Kinder kommt von Men- Wenn eine Wertorientierung unver- schen, die glauben, dass alles mensch- zichtbar ist – welche Orientierungen liche Leben die Existenz Gottes finden sich in der säkularen und widerspiegelt und daher mit allen pluralen Gesellschaft, neben welchen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung „Angeboten“ muss sich die christliche stehen, versorgt und unterstützt wer- Antwort behaupten? den sollte. Diese Menschen glauben auch, dass erblich behinderte Föten die Als Orientierung, als Menschenbild gleichen existenziellen Rechte haben werden beispielsweise für die Frage- wie jene, denen ein gesundes und pro- stellungen der Bioethik und der duktives Leben gegeben ist.“ Watson Lebenswissenschaften verschiedenste stellt rhetorische Fragen: „Wird es in Ansätze angeboten. In der philoso- Zukunft als unmoralisch gelten, die phisch-ethischen Diskussion finden Geburt von Kindern mit gravieren- wir hier eine extreme Bandbreite. den genetischen Defekten zuzulassen?“ Unterschiede bestehen hier vor allem „Und können diese Kinder später hinsichtlich der Frage, ab welchem rechtlich gegen ihre Eltern vorgehen, Zeitpunkt, bei Vorliegen welcher weil diese nicht verhindert haben, dass Voraussetzungen dem Menschen die ihre Kinder mit nur einer kleinen volle Menschenwürde (mit allen da- Chance auf ein Leben ohne physisches mit verbundenen Konsequenzen) zu- und seelisches Leiden auf die Welt kommt. kamen?“ 28 Alois Glück

Kann sich, wer das Ziel eines humanen manen Kraft dieser Botschaft zu über- Zusammenlebens auch in Zukunft zeugen, braucht auch politische Par- anstrebt, mit solchen „Orientierungs- teien, die ihr Programm auf der Basis angeboten“ abfinden? Ich meine nein! dieser Botschaft aufbauen. Gerade solchen Lebens- und Gesell- schaftsentwürfen gegenüber, wie sie Ganz entscheidend hierbei ist, deutlich Watson vor Augen zu stehen scheinen, zu machen, dass sich für eine Politik wird die unverzichtbare Rolle der auf dem Boden des christlichen Men- christlichen Botschaft, des christlichen schenbildes auch einsetzen kann, wer Menschenbildes für eine humane Ge- selbst nicht gläubig ist. Drei Punkte sellschaft deutlich. scheinen mir hier wichtig: Politik auf der Grundlage des christlichen Men- schenbildes kann einen zentralen Bei- 6. Christen und Politik trag für eine humane Zukunft leisten. Weiter ist die christlich-europäische „Um die zeitliche Ordnung im Sinn Wertetradition über den persönlichen des Dienstes des Menschen christlich Glauben hinaus auch ein gemeinsames zu inspirieren, können die Laien nicht europäisches Erbe. Und damit im Zu- darauf verzichten, sich in die Politik sammenhang steht die bereits darge- einzuschalten. (...) Jeder Einzelne hat stellte Überlegung, dass die grundlegen- das Recht und die Pflicht, sich an den Prinzipien einer säkularen, plu- der Politik zu beteiligen“(Johannes ralen, modernen Gesellschaft (zu denen Paul II9). beispielsweise der Schutz der Men- schenwürde gehört) nur Bestand ha- Die christliche Botschaft mit ihrem ben, wenn wir sie nicht von ihren Potenzial für eine humane Zukunft wird religiösen Quellen abschneiden. nur wirksam, wenn es Menschen gibt, die sie selbst leben und die sich für sie – in allen Lebensbereichen – einsetzen. 7. C-Parteien – Die in einem demokratischen Staat un- Christliches Menschenbild verzichtbare Organisationsform für politisch interessierte und tätige Men- Grundlage für die politische Program- schen sind die politischen Parteien. Zur matik der C-Parteien in Deutschland ist Gestaltung unserer Welt nach christ- das Menschenbild der christlich-euro- lichen Maßstäben braucht es deshalb in päischen Wertetradition. Zu seinen einem säkularisierten Zeitalter christ- zentralen Punkten gehört: Menschliches liche Parteien, damit auch und gerade Leben ist unverfügbar. Jeder Mensch ist im Bereich der Politik für die grund- einmalig, jeder besitzt die gleiche legenden Wertvorstellungen des christ- unveräußerliche Würde und zwar nur lich-europäischen Menschenbildes mit deshalb, weil er ein Mensch ist. Mängel, all seinen Ausprägungen geworben Leiden, Schmerz sind ebenso Teil des wird. Gerade ein säkularisiertes Zeitalter, Lebens wie moralisches Versagen und in dem sich Christentum nicht mehr Schuld. Es geht um den Schutz des von selbst versteht, sondern in dem sein Menschenlebens in seinen vielfältigen Einfluss davon abhängt, wie weit es Erscheinungsformen. Es geht um die gelingt, die Menschen von der hu- Bewahrung der Menschenwürde jedes Warum noch christliche Parteien in einem säkularisierten Zeitalter? 29 einzelnen Menschen, auch in Grenz- verständnisse. Ich will hier zwei an- situationen des Lebens. Der Mensch sprechen: Dass eine Partei wie die darf nicht zum bloßen Zweck werden. CSU das „C“ in ihrem Namen führt, Es gibt keine Unterscheidung von le- heißt nicht, dass nicht in anderen benswertem und lebensunwertem politischen Parteien ebenfalls über- Leben. Der Mensch darf nicht auf seine zeugte Christinnen und Christen tätig Nützlichkeit reduziert werden. sein können. Die „C“-Parteien wollen und können hier kein Monopol be- Ein Vergleich mit den Konsequenzen anspruchen. Sie stellen sich aber dem unterschiedlicher Menschenbilder zeigt: Anspruch, Politik konsequent, für Ohne eine Werteorientierung, die die grundsätzlich alle Bereiche, auf der Sicht reiner Nützlichkeit überwindet, Grundlage des christlichen Menschen- die Begrenzungen menschlichen Le- bildes zu gestalten. Dies wird freilich bens, Leid und Schmerz als Teil der immer nur unvollkommen gelingen. menschlichen Existenz akzeptiert, ist eine humane Zukunft nicht denkbar. Weiter dürfen christliche Parteien nicht Das christliche Menschenbild ist die mit den christlichen Kirchen verwech- unverzichtbare Orientierung für die selt werden. Das christliche Menschen- Gestaltung einer humanen Zukunft, es bild verpflichtet als grundlegende sichert Stellung und Stellenwert Be- Wertorientierung auf den Einsatz für hinderter, Stellung und Stellenwert Menschenwürde und Lebensschutz. schwächerer Menschen und verhindert Allerdings gibt es nicht unmittelbar eine Tendenz zum grenzenlosen Be- fertige Antworten auf alles. So stellen mühen um eine „Optimierung“ des sich neue Fragen, beispielsweise solche, Menschen. die aus dem Zusammenhang mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt Ich will noch einmal betonen: Auch in herrühren. Weiter sind Abwägungen einem säkularisierten Zeitalter kann das nötig, weil sich auch aus dem christ- christliche Menschenbild in seinen lichen Menschenbild Anforderungen Ausprägungen auf eine hohe Akzeptanz ableiten, die zu Zielkonflikten führen rechnen. Es ist für Christen unter- können. Zudem leben wir eben in schiedlichster Konfession zentrale einem säkularisierten Zeitalter. Das Grundlage ihres Glaubens (wenn auch bedeutet, dass christlich formulierte, auf mit unterschiedlichen Schwerpunkt- dem Fundament der christlich-euro- bestimmungen). Wegen seiner Präge- päischen Wertetradition stehende Posi- kraft für eine humane Gesellschaft sind tionen nicht die einzigen sind. Es sind die ethischen Grundlagen des christ- also Kompromisse nötig. Für christliche lichen Menschenbildes auch für viele Politik gibt es Entscheidungssituatio- Nichtchristen akzeptabel. nen, in denen mit guten Gründen das kleinere Übel (das heißt aber immer noch ein Übel) gewählt werden muss. 8. C-Parteien und Hier haben Parteien eine andere Rolle „christliche“ Politik und Aufgabe als Kirchen.

Wenn von christlichen Parteien die Entscheidungen christlicher Politiker, Rede ist, so gibt es nicht selten Miss- die christliche Kirchen so nicht treffen 30 Alois Glück würden oder könnten, nehmen ihnen erst der Raum für ein eigenständiges aber nicht den Charakter des Christ- Wirken eröffnet. lichen. Dies hat Papst Johannes Paul II in der Enzyklika „Evangelium vitae“ Eine säkulare Gesellschaft braucht aber aus dem Jahre 1995 deutlich formu- meiner Meinung nach auch unbedingt liert. Bezogen auf gesetzliche Rege- christliche Parteien. Sie leisten einen lungen der Abtreibung heißt es dort, großen Beitrag dazu, dass die Grund- „(...) dass es einem Abgeordneten (...) lagen und Anforderungen des christ- dann, wenn die Abwendung oder voll- lichen Menschenbildes konsequent ständige Aufhebung eines Abtreibungs- im allgemeinen Bewusstsein gehalten gesetzes nicht möglich wäre, gestattet werden und eine zentrale Rolle im sein könnte, Gesetzesvorschläge zu Prozess der politischen Willensbildung unterstützen, die die Schadensbegren- spielen. Es sind die Parteien auf christ- zung eines solchen Gesetzes zum Ziel licher Grundlage, die immer wieder haben und die negativen Auswir- den Versuch unternehmen, die Anfor- kungen auf das Gebiet der Kultur und derungen des christlichen Menschen- der öffentlichen Moral vermindern“. bildes auf grundsätzlich allen Feldern in Politik umzusetzen. Sie werden sich in einer säkularen Gesellschaft aber 9. Christliche Parteien in einem immer wieder auch der Frage ausgesetzt säkularisierten Zeitalter sehen: Warum ist das denn so wichtig, was ihr da tut? Warum noch christliche Parteien in einem säkularisierten Zeitalter? Man Heinrich Böll10 hat für solche und kann mit einer Gegenfrage antworten: ähnliche Fragen eine eindringliche Wann bräuchte es denn sonst christ- Antwort formuliert: „Selbst die aller- liche Parteien? In einer nicht säkulari- schlechteste christliche Welt würde ich sierten Gesellschaft, die zwingend und der besten heidnischen vorziehen, weil ausschließlich auf christlicher Grund- es in einer christlichen Welt Raum gibt lage und nach christlichen Auffas- für die, denen keine heidnische Welt sungen organisiert ist, wären christliche je Raum gegeben hat, für Krüppel Parteien nämlich überflüssig. Erst in und Kranke, für Alte und Schwache. einer Zeit, in der das Christliche, das Und mehr noch als Raum gibt sie Religiöse eben nicht mehr selbstver- Liebe. Liebe für die, die in der ständlich ist, wird politischen Parteien heidnischen gottlosen Welt nutzlos auf christlicher Grundlage eigentlich erscheinen.“

Anmerkungen 1 Positionspapier der CSU, beschlossen auf komitees der Katholiken in Bayern, dem Parteitag 12./13. Oktober 2001. Juni 1997. 2 Generationenstudie 2002, Einstellungen 4 Zitiert nach Fürst, Gebhard: Säkula- zu Politik und Gesellschaft in Deutsch- risierung und Säkularisation, Vortrag land – ein Generationenvergleich, Son- Weingarten, 14.9.2002. derausgabe Politische Studien, Gründ- 5 Erstmals in „Die Entstehung des Staates wald 2003. als Vorgang der Säkularisation“, in: Sä- 3 Beitrag in „Kirche im demokrati- kularisation und Utopie, Ebracher Stu- schen Staat“, Broschüre des Landes- dien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburts- Warum noch christliche Parteien in einem säkularisierten Zeitalter? 31

tag, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1967, lisches Schreiben Christifideles Laici über S.75 –94. die Berufung und Sendung der Laien in 6 Zitiert nach Höffe, Otfried, in: Die Zeit, Kirche und Welt: deutsche Übersetzung, 6/2001. Leipzig 1989, S. 59. 7 Tagesspiegel, 3.1.2001. 10 Zitiert nach Deschner, Karl-Heinz: Was 8 FAZ, 26.9.2000. halten Sie vom Christentum?, München 9 Johannes Paulus: Nachsynodales aposto- 1957. Legitimation weltlicher Herrschaft von Geistlichen im Abendland

Werner Goez*

1. Freiheit der Kirche als Tyrrhenischen Meer bis zur Adria, von Legitimation der Paglia bis zum Volturno.

„Niemals wird besser für die Freiheit der Gerade um der Realisierungsmöglich- Kirche Sorge getragen, als wenn die keit der spirituellen, über die Zeit- Römische Kirche sowohl in geistlicher lichkeit hinausreichenden Aufgaben wie in weltlicher Hinsicht volle Freiheit des Apostolischen Stuhles willen hielt erlangt.“1 Mit diesen Worten begrün- Innozcenz eine eigene weltliche Herr- dete Innozcenz III. im Frühjahr 1198 schaftssphäre für notwendig, ebenso sein territorialpolitisches Programm: die wie viele seiner Nachfolger und die Realisierung kirchlicher Herrschafts- Mehrzahl der Kanonisten, obwohl man rechte in Mittelitalien, die sog. Re- sich dessen bewusst war, dass eine kuperationen. Zwar war für ihn die darauf gerichtete Politik durchaus in weltliche Macht des Papsttums prin- Spannung zur Botschaft Jesu stand, der zipiell dem religiösen Leitungsauftrag zu Pilatus, dem Repräsentanten der der Christenheit nachgeordnet; indes- römischen Staatsgewalt in Palästina, sen schien sie ihm für die Verwirk- gesagt hatte: „Mein Reich ist nicht lichung der „Civitas Dei“ auf Erden von dieser Welt.“3 Der Apostel Paulus und die Führung seines Amtes „über hatte in seinem zweiten Lehrbrief Völker und Reiche“2 unverzichtbar und an Timotheus ausdrücklich gewarnt: eben deshalb legitim. Die Gunst der „Keiner, der für Gott streitet, befasse Stunde nützend, da sich das Reich im sich mit weltlichen Angelegenheiten.“4 Thronstreit zwischen Staufern und Eine Paraphrasierung dieser Forderung Welfen zerfleischte, wurde der Segni- durch den griechischen Kirchenvater Papst damit zum „Neugründer des Origenes wurde im Abendland in der Patrimonium Petri“ in einer wesentlich lateinischen Übersetzung durch Rufi- erweiterten Gestalt gegenüber dem nus weit bekannt und vielfach zitiert: Römischen Dukat, dessen Herrschaft „Ohne Zweifel streitet jener am besten der Nachfolger Petri seit der Abschüt- für Gott, der sich nicht mit weltlichen telung der byzantinischen Oberho- Dingen beschwert.“5 Zwar ging es heit im 8. Jahrhundert beanspruchte. Origenes bei dem Satz vorrangig um Der Kirchenstaat reichte fortan vom die asketisch-monastische Lebensform,

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 Legitimation weltlicher Herrschaft von Geistlichen im Abendland 33 aber manche Kritiker der Verweltli- humanam“ erfolgt.8 Nicht nur nach chung der Kirche interpretierten ihn „dignitas“, sondern auch nach „anti- durchaus in einer allgemeineren, auch quitas“ überrage das „sacerdotium“ das die politische Sphäre und den Territo- „regnum“ bei weitem. Höheres Alter rialbesitz einbeziehenden Weise. bedeutete bekanntlich für das Mittel- alter stets zugleich ein rechtserhebliches Dass sich Innozcenz III. dabei durchaus Argument.9 Der Hinweis des Papstes der religiös-sittlichen Fragwürdigkeit besaß deshalb Gewicht. Er war aller- weltlicher Herrschaftsziele und einer dings nicht neu; gleichfalls unter darauf ausgerichteten Aktivität des Bezugnahme auf die Rebellion Israels Apostolischen Stuhles bewusst war, gegen das Königtum Gottes und die steht fest. Mehrfach zitierte er in die- daraufhin erfolgte Bestellung Sauls zum sem Zusammenhang selbstkritisch den Herrscher durch Samuel hatte bei- Bibel-Vers: „Wer Pech angreift, besudelt spielsweise Honorius Augustodunensis sich auch damit.“6 Doch wegen der im zweiten oder dritten Jahrzehnt des Gewährleistung der „libertas ecclesiae“ 12. Jahrhunderts in seiner viel ge- als einer Grundvoraussetzung für das lesenen „Summa gloria“ konstatiert: päpstliche Handeln zum Wohle der „Ursprünglich regierten allein die Christenheit in dieser Zeitlichkeit for- Priester das Volk Gottes, weil ein Kö- derte er entschieden jenen Freiraum nigtum gänzlich fehlte,“10 und daraus ein, den ein erweitertes Patrimonium Konsequenzen über das Verhältnis Petri garantieren sollte. Das Streben zwischen „sacerdotium“ und „regnum“ nach einer ausgedehnteren weltlichen gezogen. Da bot sich die Frage gerade- Herrschaft schien ihm notwendig und zu an: Entsprach eine weltliche Herr- deshalb grundsätzlich auch rechtens, schaft des Papstes wie eine solche zumal es dafür noch weitere Argumente von Bischöfen nicht unmittelbar der gab. ausschließlich auf Gott bezogenen, königslosen Lebensordnung in Israel, Für das kirchenpolitische Denken des wie sie von Moses und Aaron bis zu Papstes spielte in diesem Zusammen- Samuel und Saul bestand?11 hang die Erinnerung an eine Gelenk- stelle der Geschichte des Jüdischen Volkes eine nicht unbedeutende Rolle, 2. Legitimation nämlich die Abwendung Israels von durch Dotation der unmittelbaren Herrschaft Gottes, die „per ordinationem divinam“ durch Für die meisten Zeitgenossen weit das „sacerdotium“ von Hohenpriestern, schlüssiger und zugleich viel einfacher Richtern und Propheten realisiert wor- zu verstehen als alle politisch, theo- den war, und die Einsetzung Sauls als logisch oder biblisch argumentieren- des ersten Königs,7 wozu Innozcenz in den Rechtfertigungen kirchlicher An- einer Konsistorialansprache vor den sprüche auf eine Herrschaft „in Boten des staufischen Thronpräten- saecularibus“ war indessen der Ver- denten Philipp von Schwaben in An- weis auf die Legitimität und Korrekt- knüpfung an Samuel, 5–7 beziehungs- heit der mannigfachen Erwerbungen voll anmerkte, diese sei in Auflehnung der Kirchen, namentlich mittels des gegen den Schöpfer „per extorsionem Rekurses auf echte oder auch eigens 34 Werner Goez dafür gefälschte12 Schenkungs- und hielt – und diese Meinung war lange Erwerbungsurkunden, wie im Falle Zeit vorherrschend – fragte sich man- von Rom beispielsweise der Reihe cher: War die Schenkung des Westteiles der Kaiser-Pacta, beginnend mit der des Imperium Romanum mitsamt der Pippinischen Schenkung, deren Ori- Stadt Rom für die Papstkirche über- ginalausfertigung freilich frühzeitig haupt von Nutzen gewesen, oder hatte verloren gegangen war.13 Innozcenz III. sie ihr nicht in spiritueller Hinsicht hat mit besonderem Nachdruck Wert eher geschadet? Und war sie rechtens darauf gelegt, dass die deutschen erfolgt, da der „Imperator Augustus“ Herrscher dem Apostolischen Stuhl doch ein Mehrer, nicht ein Minderer seinen Besitz in aller Form garantierten, des Reiches sein sollte? Erinnert sei an jeweils schriftlich und möglichst mit die bekannten Verse Walthers von der einem Goldsiegel beglaubigt, sodass Vogelweide: kein Zweifel an der Rechtsgültigkeit bestehen konnte.14 Durch die Aus- „Künic Constantîn der gap sô vil, fertigung eines feierlichen Diploms zu als ich ez iu bescheiden will: Gunsten der Kurie erfolgte 1279 der dem stuol ze Rôme Verzicht Rudolfs von Habsburg auf die sper, kriuz und krône. Romagna15; 1310 musste auch Heinrich Zehant der engel lûte schrê: VII. Papst Clemens V. in der Lausanner Owê, owê, zem dritten wê.“23 „promissio“ den ungeschmälerten Be- sitz des Patrimoniums eidlich zusi- An der Echtheit des kaiserlichen chern.16 Schenkungsaktes zweifelte der Dich- ter offenbar nicht; aber die Folgen Eben um Rechtssicherheit zu schaffen schienen ihm zutiefst bedauerlich, und allen Zweifeln an der Legitimität weil er in der angeblichen Dotation päpstlicher Besitzrechte entgegenzu- einen Widerspruch zu Auftrag und wirken, stellte kurz vor 1200 der apos- Würde des christlichen Priestertums tolische Kämmerer Cencius zahlreiche und der Kirche sah. Dotationsinstrumente Dritter für Rom im „Liber censuum“ zusammen17; die Walther stand damit nicht allein. Wo Sammlung enthält auch den Text der immer im Mittelalter Kritik an der berühmten Schenkung der Markgräfin weltlichen Herrschaft von Geistlichen Mathilde von Canossa von 110218, um geübt wurde, hat man mit bemer- die es generationenlang zum Zank kenswert wenigen Ausnahmen nicht zwischen Kaisertum und Papsttum die Rechtsgültigkeit der Entstehung kam.19 Die umfänglichsten Territorial- der Besitzrechte angezweifelt, sondern ansprüche, welche die Kurie jemals man bedauerte das Faktum an sich, erhob, basierten bekanntlich auf dem indem man in den Vordergrund stellte, sagenhaften, in Wirklichkeit gefälsch- dass Reichtum und politische Macht ten „constitutum“ des Kaisers Kons- grundsätzlich in einem Gegensatz zum tantin20; bis ins 15. und 16. Jahr- wahren Wesen der Kirche stünden. hundert rieben und schieden sich an Diese Kritik betraf indessen womöglich dieser sogenannten „Konstantinischen noch stärker als das Papsttum, bezüg- Schenkung“ die Geister.21 Auch wenn lich dessen „dominium temporale“ die man sie gegen alle Zweifel22 für echt allgemeine Kritik meist verhalten blieb, Legitimation weltlicher Herrschaft von Geistlichen im Abendland 35 die Diözesen und Konvente, nament- im juristischen Schrifttum der Zeit lich in Deutschland und Reichsitalien. „immunis“ und „liber“ oftmals Syno- Als Beleg mag ein Papst zu Wort nyma. Der Sachverhalt nahm während kommen: Am 12. April 1111 erklärte der Reichskrise, welche durch die Paschalis II. in Sankt Peter zu Rom Völkerwanderung ausgelöst wurde, vor vor Heinrich V., den ihn begleitenden allem in den Städten weiter zu. In der weltlichen Großen, den Kardinälen allgemeinen Not fiel den Bischöfen ein und zahlreichen Angehörigen des erhebliches Maß an alltäglichen, welt- Episkopats: „In eurem Reich werden lichen Aufgaben zu, weil die staatlichen die Bischöfe und Äbte so sehr mit und kommunalen Behörden zu deren profanen Angelegenheiten beschäftigt, Bewältigung nicht mehr in der Lage dass sie beständig Gerichtshöfe auf- waren. Es gibt dafür zahlreiche Bei- zusuchen und Kriegsdienst zu leisten spiele; sie reichen von sozialen Hilfs- genötigt sind. (...) Die Diener des maßnahmen wie der Verproviantie- Altares sind zu Höflingen geworden, rung der Bevölkerung in Zeiten des weil sie von den Königen Städte, Her- Mangels bis zu politischer Repräsentanz zogtümer, Markgrafschaften, Münz- gegenüber dem fremden Feind, wo- stätten, Reichshöfe und all das, was für das (sagenhafte) Zusammentreffen zu den Königsrechten gehört, empfan- von Papst Leo dem Großen mit dem gen haben.“24 So grundsätzlich die Hunnenkönig Attila das berühmteste, Bilanz des Papstes formuliert war, – indessen keineswegs das einzige Bei- dass der Erwerb in der Regel in spiel ist.25 In der vielenorts ins Uner- korrekten Rechtsformen geschehen sei, trägliche gesteigerten Not hörte man bestritt selbst Paschalis nicht. Von den keineswegs ausschließlich wegen der Konsequenzen, die er aus dem Befund geistlichen Autorität der Bischöfe auf zog, und dem Echo, das er damit fand, ihr mahnendes oder ratendes Wort, soll an späterer Stelle die Rede sein. sondern gestand ihnen brachliegende Regierungskompetenzen zu, zumal vie- le aus den weltlichen Führungseliten 3. Legitimation durch stammten und entsprechende Quali- weltliche Leistung täten besaßen. Ihr Handeln zum Wohl der Bevölkerung blieb manchenorts un- Wie aber war es dazu gekommen? Es vergessen. Namentlich in der Po-Ebene ist bekannt, dass unmittelbar nach verehrt man heute noch in mehreren der „Konstantinischen Wende“ schon Städten Bischöfe der Völkerwande- durch den ersten Kaiser, der sich zum rungszeit als Stadtpatrone, Männer, die Christentum bekannte, dem Episko- keineswegs das Martyrium erlitten, sich pat in erheblichem Umfang staatliche aber in Zeiten extremer Kriegsgefahr Vergünstigungen zuteil geworden wa- und kollektiver Existenzbedrohung als ren. Innerhalb weniger Generatio- Führer der Bürgerschaften bewährt nen nahmen sie erheblich zu. Dazu hatten, wie beispielsweise San Petronio gehörte namentlich die „immunitas“: in Bologna, San Mercuriale in Forlì, San die Befreiung von personenbezogenen Gaudenzio in Novara und San Zeno in öffentlichen Lasten („munera per- Verona. Bisweilen übernahmen sogar sonalia“): von Steuern, Natural- und Mönche eine solche weltliche Lei- Dienstleistungen. Nicht zufällig bilden tungsfunktion. Gleich mehrere Belege 36 Werner Goez enthält die Vita des hl. Severinus, der Gewalt manchenorts bereits über welt- in Noricum den Zusammenbruch des liche Herrschaftsrechte verfügte. Eine Imperiums erlebte († 482). So heißt es wichtige Rolle spielte dabei die Ver- über sein Wirken in Lauriacum (Lorch leihung der Immunität durch die in Oberösterreich): „Vorausschauenden Krone, „immunitas“ nunmehr terri- Geistes bereitete der Knecht Gottes torial verstanden als Herauslösung (Severinus) die Bevölkerung darauf vor, eines bischöflichen oder abbatialen die gesamte geringe Habe innerhalb der Kerndistrikts aus der allgemeinen Mauern in Sicherheit zu bringen, damit Staatsverwaltung, was vornehmlich die Feinde auf ihrem (unmittelbar vermögensrechtlich und bezüglich bevorstehenden) schrecklichen Streif- der Gerichtsordnung relevant war, zug nichts vorfänden, was der Mensch sehr bald aber allgemeine adminis- zum Leben braucht“ und deshalb bald trative und militärische Folgen zeitigte. wieder abziehen müssten. „Und als es Die Quellenarmut lässt den Vorgang dämmerte, schickte er einen Mönch nur in schwachen Umrissen erkennen. (...) zu dem Ortsbischof Constantius Immerhin sei angemerkt, dass wir aus und dessen Mitbürgern und ließ ihnen der merowingischen Periode außer ei- ausrichten: Stellt in dieser Nacht Posten ner überaus großen Zahl von Fäl- auf den Mauern auf und haltet be- schungen immerhin elf in vollem sonders aufmerksam Wache; nehmt Umfang glaubwürdige Königsurkunden euch vor einem überraschenden feind- besitzen, durch welche einem west- lichen Überfall in acht.“26 fränkischen Bistum – Le Mans 673 – und acht Klöstern die Immunität ver- Bisweilen übernahmen Mitglieder des liehen wurde28, ferner elf Dokumente, Episkopats sogar persönlich die mili- welche die gleiche Bestimmung ent- tärische Führerschaft, weil sonst nie- halten, deren Wortlaut aber zu Teilen mand zur Verfügung stand. Namentlich manipuliert wurde und daher nicht in der Frankengeschichte des gallo- unbedingt glaubwürdig ist.29 Die Ver- römischen Bischofs Gregor von Tours leihung dieser Rechtsqualität sollte die gibt es dafür Belege, wenngleich der Empfänger gegenüber den Stadt- oder Autor selbst an solchem Verhalten Gaugrafen und damit gegen den sich heftige Kritik äußerte, weil es im neu formierenden und eigene Herr- Widerspruch zu Würde und Aufgabe schaftsrechte beanspruchenden Adel in des geistlichen Amtes stehe: „Es waren Schutz nehmen; er bedeutete – vor aber bei dieser Schlacht auch die (...) allem seit einer Umbildung, die wäh- Bischöfe Salonius (von Embrun) und rend der mittleren Karolingerzeit, Sagittarius (von Gap) zugegen, die namentlich unter Ludwig dem jedoch nicht das himmlische Kreuz als Frommen, zu beobachten ist – eine Ver- Waffen führten, sondern die weltlichen stärkung der unmittelbaren Bindung Waffen, Helm und Harnisch, und – was an die Krone. Gerade dieser Sachverhalt noch schlimmer ist – viele mit eigener wurde für die Folgezeit grundlegend. Hand getötet haben sollen.“27 Die ge- nannten Kirchenmänner führten übri- Denn es war in erster Linie das gens jeweils ihr eigenes Aufgebot in Königtum selbst, welches der Kirche den Kampf: ein deutliches Indiz dafür, eigene Herrschaftsrechte verlieh; wie in welchem Umfang die geistliche hätte man sie nicht für legitim halten Legitimation weltlicher Herrschaft von Geistlichen im Abendland 37 können? Aber die Krone verlangte Weltordnung nicht kennen, mit dem Gegenleistungen. An der Kontrolle des Einwand, wieso denn ein Bischof Karolingischen Reiches durch die „missi Politik getrieben und sich mit dem dominici“ wurde die Geistlichkeit gefährlichen Kriegshandwerk befasst beteiligt; bei der Rekrutierung für die habe, obwohl er doch ausschließlich Kriegszüge hatte sie ihren Beitrag zu die Sorge für das Seelenheil über- leisten. In so zahlreichen Fällen, dass nommen habe. Wenn sie bei Verstand man geradezu von einer generellen sind, gibt ihnen die Sache selbst hin- Regelung sprechen möchte, führten reichende Antwort, weil sie nur hin- Bischöfe, aber auch Äbte das Heeres- zuschauen brauchen, um zu sehen, wie aufgebot ihres Immunitätsdistriktes durch diesen Schützer und Lehrer des persönlich an. Das widersprach dem glaubenstreuen Volkes das hohe Gut Kirchenrecht30 und zeitweilig zugleich des Friedens weit im Land verbreitet den eigenen Rechtsetzungen der Herr- wurde. Dann werden sie aufhören, sich scher. 742 hieß es in einem Capitulare wie in einem lichtlosen Dunkel daran des Hausmeiers Karlmann, des Bruders zu stoßen.“35 Und Ruotger setzt hinzu: von Pippin dem Kurzen und Oheims „Auch war das gar keine neue Art und Karls des Großen: „Den Dienern Gottes den Lenkern der heiligen Kirche verbieten wir strikt und ausnahmslos, durchaus nicht ungewohnt, so die Welt Rüstungen zu tragen und persönlich im zu regieren. Wer Beispiele sucht, wird Heere mitzukämpfen oder auf Kriegs- sie leicht finden.“36 Woran der Autor zug zu ziehen.“31 Doch die Realität hier gedacht haben mochte, erläutert sah anders aus. Allein zwischen 880 eine Glosse von späterer Hand: „Nie- und 908 sind nicht weniger als zehn mand soll ihn (Erzbischof Bruno) des- Mitglieder des ostfränkischen Epis- halb schuldig sprechen, lesen wir doch, kopats im Kampf mit auswärtigen dass der heilige Samuel und andere Feinden gefallen.32 Über Erzbischof Priester zugleich auch Richter (im Sinne Herivaeus von Reims wird berichtet, er von: Regenten des Volkes) waren habe sich 919 mit 1500 Kriegern zum (...).“37 Heerbann des Königs Karl (des Ein- fältigen) begeben, „als dieser die Vor- nehmen des Frankenreiches zur Hilfe 4. Das ottonisch-frühsalische gegen die Ungarn aufrief.“33 An dem Reichskirchensystem epochalen Sieg Ottos des Großen über die Magyaren auf dem Lechfeld 955 Das Ausmaß an militärischer Hilfe waren auch Truppen beteiligt, welche durch die Kirchen des Reiches, auf geistlichen Großen unterstanden. In welches die Krone rechnen durfte, wird Augsburg selbst befehligte sie Bischof in einer Aufgebotsliste deutlich, die in Ulrich, der zeitgenössische Biograf hält einer Bamberger Handschrift erhal- es für sinnvoll, dabei besonders zu ten ist.38 Sie enthält den Voranschlag betonen, dass dieser nicht selbst die für ein Ergänzungsheer, das dem in Waffen führte.34 Anders Ruotger in Süditalien in Bedrängnis geratenen seiner Lebensbeschreibung des Erz- Kaiser Otto II. zu Hilfe eilen sollte. Die bischofs Bruno von Köln, des jüngeren einzelnen Kontingente sind genau Bruders Ottos des Großen: „Vielleicht aufgeführt; mit fast 1500 gepanzerten kommen manche, welche die göttliche Reitern sollten die geistlichen Großen 38 Werner Goez

Deutschlands – Bischöfe und Äbte – mann schien dies ein Extremfall, aber weit mehr als das Doppelte der Zahl in manchen anderen Diözesen sah es stellen, welche den Herzögen und ebenso aus: Die Seelenhirten waren Grafen abverlangt wurde. Dass es sich Reichsfürsten geworden, die gleich den lediglich um eine Verstärkung der Herzögen und Grafen an Hoftagen, bereits in Apulien operierenden Trup- Kriegszügen und Gerichtsversamm- pen handelte, setzt der Auswertung lungen der Krone teilnahmen. Man Grenzen. Dennoch wird deutlich, wie empfand dies durchaus als rechtens. erheblich die politisch-militärische Die Bischöfe waren durch die Kaiser Macht der Kirchen für das späte 10. reich geworden; dafür dankten sie der Jahrhundert einzuschätzen ist, obgleich Krone durch mannigfaltige Reichs- zu diesem Zeitpunkt die Ausbildung des dienste, weit zuverlässiger als die sog. „ottonisch-frühsalischen Reichs- Laienfürsten, auf deren tatkräftige kirchensystems“ erst in den Anfängen Unterstützung die Herrscher je länger, stand. desto weniger rechnen durften, wenn es nicht in deren Eigeninteresse lag. Ohne auf Näheres hier eingehen zu können, kann gesagt werden, dass dieses Ordnungskonzept, das für das 5. Heinrich V., hochmittelalterliche Imperium kenn- Papst Paschalis II. (1111) zeichnend ist, nicht so sehr durch eine und danach machthungrige Geistlichkeit, sondern durch die Krone selbst realisiert wurde. Eben dies war die Situation, welche Offenbar beteiligten sich 1002 erstmals Paschalis II. 1111 vorfand, mit den die Bischöfe gleichberechtigt an der bereits zitierten Worten kritisierte und Wahl des neuen Herrschers, Heinrichs die er damals mittels eines Radikalak- II.; damit wird dokumentiert, dass sie tes zu korrigieren gewillt war: Durch zu diesem Zeitpunkt vollberechtigte einen der Reichskirche anbefohlenen Teilhaber am Reich geworden waren. Verzicht auf alle Königsrechte, die an In zunehmender Zahl gelangten durch den Herrscher zurückfallen würden, königliches Privileg die unterschied- solle der Episkopat wieder frei werden lichsten Regalien an die Hochstifte und für seine eigentlichen spirituellen Reichsabteien: Immunitäten, Zoll-, Aufgaben: „Denn es gebührt sich, dass Markt-, Münz- und Forstrechte, endlich die Bischöfe, befreit von weltlichen ganze Grafschaften, übrigens weit mehr Sorgen, wieder die Fürsorge für das noch als jene 51, bezüglich derer Ver- ihnen anvertraute Kirchenvolk über- leihungsurkunden aus der Zeit zwi- nehmen und nicht länger (wegen des schen 960 und 1125 erhalten sind.39 Reichsdienstes) ihren Kirchen fern- Bei Adam von Bremen, einem vor- bleiben.“41 Nur bezüglich des Apos- züglich informierten Chronisten, der tolischen Stuhles sollten die beste- im Ausgang des 11. Jahrhunderts henden Verhältnisse erhalten bleiben, schrieb, heißt es über den Oberhirten Roms Prärogativen, die Besitzungen von Würzburg, „dass er alle Graf- in Mittelitalien, die Sonderrechte der schaften der Diözese besitze und als Kurie nicht angetastet, sondern viel- Bischof mit Herzogsgewalt seinen mehr von der Krone garantiert werden. Sprengel regiere.“40 Unserem Gewährs- Aber als die Regelung, die im Ge- Legitimation weltlicher Herrschaft von Geistlichen im Abendland 39 heimen mit den engsten Vertrauten herkömmlichen Begründung, der Kö- Heinrichs V. ausgehandelt worden war, nig sorge sich um das eigene Seelenheil. vom Papst einem unvorbereiteten, Namentlich aber wurde die Erwartung zutiefst überraschten Publikum in einer thematisiert, die Großzügigkeit des unbedingten Gehorsam heischenden Herrschers werde mit himmlischem Form bekannt gemacht wurde, löste sie Segen belohnt; von den Empfängern heftigste Empörung aus. Da waren die dürfe man indessen vermehrte Dienst- Altgregorianer, die darin eine rechts- bereitschaft erwarten. Als Otto III. im widrige, wenn nicht gar häretische Mai des Jahres 1000 dem Bistum Trier Entäußerung der Kirche von ihren zwei Grafschaften schenkte, geschah legitim erworbenen Rechten sahen, die dies „zur Kräftigung unseres Reiches deutschen Fürsten, die den Umsturz der und in Hoffnung auf die ewigen Freu- Machtverhältnisse im Reich zu ihren den.“43 Sowohl zur Vergebung seiner Ungunsten nicht hinnehmen und auf Sünden wie in Erwartung einer Ver- die Hochstiftsvogteien oder Kirchen- besserung der Lage des Reiches begabte lehen, die einen wesentlichen Teil ihrer er Ravenna mit zahlreichen weltlichen politischen wie wirtschaftlichen Potenz Rechten.44 Die gleiche Motivation darstellten, nicht verzichten wollten, enthält die Urkunde Heinrichs II., der und endlich die Bischöfe selbst, fast wie kein Zweiter die Kirchen des ausnahmslos aus vornehmem Hause, Reiches förderte, ihnen aber zugleich deren Selbstverständnis und glänzender mehr als je ein Herrscher zuvor Dienste Lebensstil durch die ihnen verschrie- abverlangte, als er Würzburg „zum bene Radikalkur zutiefst gefährdet war. Lobe und zur größeren Festigkeit un- Der Papst wich vor der allgemeinen seres Königtums“ die Immunität über- Empörung zurück, die verabredete ließ.45 Im „pravilegium“ von 1111, dem Säkularisation fand nicht statt; be- „Schandprivileg“, zu dessen Ausfer- züglich des Grundproblems eben der tigung Paschalis II. von Heinrich V. weltlichen Herrschaft der Bischöfe und gezwungen wurde, spricht der Aus- Reichsäbte blieb letztlich alles beim steller den Salier persönlich an: „Eure Alten.42 In den Augen des Saliers war Vorgänger haben die Kirchen ihres Paschalis damit allerdings wortbrüchig Reiches mit Verleihungen von vielen geworden, und er reagierte darauf mit Kronrechten huldvoll ausgestattet, brutaler Härte: er ließ ihn gefangen sodass dieses Reich jetzt durch die Hilfe nehmen. der Bischöfe und Äbte besonders gestärkt werden soll.“46 Die Einleitungs- Nach dem Reflexionsstand und der sätze zahlreicher Privilegen machen allgemeinen Meinung der Zeit war eine deutlich, dass die Herrscher fest damit derartige Reaktion zu erwarten ge- rechneten: „Wir folgen dem Beispiel wesen. Es ist schwierig, das politische unserer Vorgänger, der Könige und Kalkül Heinrichs V. zu durchschauen. Kaiser, wenn (...) wir unsere Getreuen Die nicht wenigen Urkunden, welche mit Lehen und Besitz erhöhen. Sie seine Kanzlei für Kirchen des Reiches werden später uns gegenüber deshalb ausstellte, sprechen eine durchaus umso wohlgeneigter und ergebener konventionelle Sprache. Die Neupri- sein, und wir zweifeln nicht daran, dass vilegierungen und Bestätigungen älterer dies der Ehre und dem Nutzen unseres Gnadenbriefe erfolgten zumeist mit der Reiches dienen wird.“47 40 Werner Goez

Auf dem Wege großzügiger Privile- wählern. 1431 sollten die geistlichen gierung durch die Krone sind die Reichsstände (ohne den Deutschen meisten deutschen Bischöfe und eine Orden) zum Kampf gegen die Hussiten Anzahl der Äbte Fürsten des Reiches 1891 „gleven“ (Reiter mit Gefolge) geworden. Im Norden der Apenni- stellen, die Herzöge, Grafen und Herren nenhalbinsel, dem „regnum Italiae“, mehr als 4000, die Reichsstädte 1000.53 verlief die Entwicklung anfänglich Die Zahlen belegen, welchen bedeu- kaum anders. Fromme Seelenhirten wie tenden militärischen Machtfaktor die beispielsweise Dionysius von Piacenza Kirche innerhalb des Reiches im Aus- oder Sichard von Cremona bezeich- gang des Mittelalters bildete. neten sich in ihren Urkunden als „episcopus et comes“, „Bischof und Entstanden war die weltliche Macht Graf“. Die Doppelformeln hören auf, der Kirchen in durchaus rechtmäßiger als sich die nach Freiheit strebenden Weise: Wie hätte man an der Le- Kommunen von der geistlich-welt- gitimität zweifeln können, da nach lichen Stadtherrschaft emanzipieren. dem Zeitverständnis das König- und Kaisertum die höchste Institution ir- Im Westen, in Frankreich und auf den discher Gerechtigkeit war? Zwar em- Britischen Inseln, verlief die Ent- pfanden manche nachdenkliche Zeit- wicklung ohnehin anders. Abgesehen genossen durchaus die harte, letztlich vom Papsttum, dessen Geschichte unaufhebbare Spannung zwischen dem spezifischen Prinzipien folgte, kannte Auftrag, den die Kirche Jesu den Bi- man nur in Deutschland die Ver- schöfen gab, und den Aufgaben eines fassungsform des geistlichen Landes- Fürsten und weltlichen Landesherren, fürstentums, das durch Kumulation dem die Hochgerichtsbarkeit oblag. In kaiserlich-königlicher Privilegien ent- eigener Person sollten sich die Geist- standen war. Daher stellte sich die Frage lichen nicht an der Verhängung und gar nicht erst, ob eine solche bi- beim Vollzug der Todesstrafe beteiligen. schöfliche oder abbatiale Doppelfun- Vor allem seit Beginn des 12. Jahr- ktion legitim sei. Im 12. Jahrhundert hunderts beschäftigten die aus der zählten in Deutschland 32 bis 35 Vermengung der Bereiche erwach- Bischöfe zum Fürstenstand.48 Ohne senden Probleme mehrere Synoden dass sich deren Rechtsstand positiv und auch die päpstliche Dekretalen- oder negativ verändert hätte, erkannte gesetzgebung54, ohne dass es zu einer Friedrich II. ihren Status in der be- klaren Entscheidung gekommen wäre. rühmten „Confoederatio cum princi- Mehrfach eskalierten die Spannungen, pibus ecclesiasticis“ von 1220 aus- die innerhalb der christlichen Reiche, drücklich an;49 das Privileg zu Gunsten vor allem aber zwischen Krone und der geistlichen Fürsten wurde von Tiara entstanden. Geradezu beschwö- König Adolf von Nassau 1292 wörtlich rend heißt es deshalb in einem Traktat, gleich lautend erneuert.50 Wie als Erster dessen Autoren 1109 damit einen der Sachsenspiegler Eike von Repgow Beitrag zur Überwindung des Investitur- bezeugt51 und die Goldene Bulle von streites leisten wollten: „Wer sich von 1356 ausdrücklich bestätigte52, ge- Konstantin an (...) der Ereignisse und hörten die Erzbischöfe von Mainz, Köln Rechtsbeschlüsse erinnert, dem wird und Trier zu den ständigen Königs- deutlich, dass die römische und die Legitimation weltlicher Herrschaft von Geistlichen im Abendland 41 anderen Kirchen des Erdkreises durch zwischen „regnum“ und „sacerdotium“ Kaiser, Könige und fromme Laien mit entstanden war, bei dem die deutschen Grundbesitz und beweglicher Habe Fürstbischöfe nicht neutral bleiben ausgestattet und reich gemacht worden konnten und sich für eine der sind. Deshalb sollen sich das königliche widerstreitenden Seiten entscheiden Schwert und die priesterliche Stola mussten, so 1076/80, 1159, 1239 oder gegenseitig zu Hilfe kommen wie zwei 1323. Aber ein Versuch, die geistliche Cherubim, die ihre Gesichter einander Landesherrschaft um ihrer inneren zukehren.“55 Was aber sollte geschehen, Zwitterhaftigkeit willen grundsätz- wenn eben kein Friede zwischen den lich zu beseitigen, wurde während Universalgewalten herrschte? des Mittelalters dennoch nur ein einziges Mal unternommen, 1111 Wiederholt erlebte man bittere Zer- durch Papst Paschalis II. Er ist kläglich reißproben, wenn ein offener Konflikt gescheitert.

Anmerkungen * Herrn Prof. Dr. Christoph Link, dem ver- henden Fragen geht Kirn nicht näher ein. dienstvollen Erforscher des Kirchenrechts 8 Regestum super negotio Romani imperii und der Verfassungsgeschichte, in 18, a.a.O., S.48–49. herzlicher Verbundenheit. 9 Vgl. dazu immer noch Kern, F.: Recht und 1 Hageneder, O./Haidacher, A. (Hrsg.): Die Verfassung im Mittelalter, Teil I, 1–6, HZ Register Innozcenz' III. 1. Pontifikatsjahr 120 (1919) S.1–79; ND Tübingen 1952, 1198/99, Graz-Köln 1964, Reg.I 27; vgl. Libelli III. Kempf, F.: Papsttum und Kaisertum bei 10 Honorius Augustodunensis, Summa glo- Innocenz III., Misc. Hist. Pont. XIX, Roma ria 14, MGH Ldl III, S.70: „A tempore 1954, S.1. autem Babilonicae (so irrtümlich statt: 2 Jer. 1,10: „Ecce, constitui te hodie super „Aegyptiacae“) transmigrationis soli gentes et super regna, ut evellas et sacerdotes populum Dei regebant, quia destruas et disperdas et dissipes, et regnum ex toto defecerat“. aedifices et plantes.“ Das keineswegs nur 11 Vgl. auch Hugo v. St. Viktor, De sacra- von Innozcenz im Zusammenhang mit mentis II, 2, 4, MPL 176, 418: „Quod dem päpstlichen Leitungs- und Macht- autem spiritualis potestas, quantum ad anspruch wiederholt zitierte Wort findet divinam institutionem spectat, et prior sich u.a. vier Mal im Regestum super sit tempore et maior sit dignitate.“ (Hin- negotio Romani imperii; ed. F. Kempf, weis auf das Zitat bei Kempf, Regestum Misc. Hist. Pont. XII, Roma 1947: Nr.2, super negotio Romani imperii, S.48, 18, 46 u. 180. Anm.12. 3 Joh. 18, 36. 12 Vgl. u.a. MGH Schriften 35: Fälschungen 4 2. Tim. 2, 4: „Nemo militans Deo impli- im Mittelalter 1–6, Hannover 1988–1990, cat se negotiis saecularibus“. Luthers insbes. Bde.3–4. Übersetzung: „Kein Kriegsmann flicht 13 Bezeugt durch Liber pontificalis, ed. L. sich in die Hände der Nahrung“ verfehlt Duchesne, Bd.1, 1886, XCIII: Vita den Sinn des Verses. Stephani II. 5 Baehrens, W. A.: (Hrsg.), Origines, Werke 14 Von Otto IV: MGH Const.2, Nr.16 (die 7, Homilien zum Pentateuch in Rufins dort gegebene Datierung 1198 Juni/Juli Übersetzung 2, Leipzig 1921, Homelia in ist irrig; die Ausstellung erfolgte offenbar Numeros XXV,4, S.238. vielmehr Anfang 1201) und 23; von 6 Eccl. (Jesus Sirach) 13,1: „Qui tetigerit Friedrich II. ebd. Nr.47, 48, 49 und 50. picem, inquinabitur ab ea“: Gesta Inno- 15 MGH Const. 3, Nr.222. centii c. 17; MPL 214. 16 MGH Const. 4,1, Nr.454. 7 Vgl. dazu generell Kirn, P.: Saul in der 17 Fabre, P./Duchesne L.: Le Liber censuum Staatslehre, in: Staat und Persönlichkeit, de l'église Romaine 1–2, Paris 1889–1910. FS Erich Brandenburg, Leipzig 1928, S.28 18 Goez, E./Goez, W.: Die Urkunden und – 47. Auf die hier im Vordergrund ste- Briefe der Markgräfin Mathilde von 42 Werner Goez

Tuszien, MGH, Laienfürsten- und Dynas- Mainz, 892 Arn v. Würzburg, 907 Theot- tenurkunden der Kaiserzeit II, Hannover mar v. Salzburg, Uto v. Freising und 1998, Nr.73. Zacharias v. Seben, 906 Rudolf v. Würz- 19 Vgl. u.a. Gross, Th.: Lothar III. und die burg. Vgl. E. Dümmler, Geschichte des Mathildischen Güter, Frankfurt a.M. Ostfränkischen Reiches III, Leipzig 1888 1990. S. 639, Anm. 1. Vgl. auch Waitz, G.: 20 Fuhrmann, H.: Das Constitutum Cons- Deutsche Verfassungsgeschichte 8, Kiel tantini, MGH Fontes iur. Germ. ant. 10, 1878, S.131. Hannover 1968. 33 Stratmann, M.: Flodoard von Reims, Die 21 Vgl. u.a. Setz, W.: Lorenzo Vallas Schrift Geschichte der Reimser Kirche IV, 14, gegen die Konstantinische Schenkung. MGH SS 26, Hannover 1998, S.417. Die (...) Zur Interpretation und Wirkungs- Zahl dürfte weit übertrieben sein. geschichte, Tübingen 1975, Bibl. des DHI 34 Vita sancti Oudalrici episcopi Augustani Rom 44. auctore Gerhardo cap.12, MGH SS 4. 22 Otto III. bestritt bekanntlich die Echtheit: 35 Ott, I.: Ruotgeri vita Brunonis, c. 23, MGH DO III 389. MGH Scr. rer. Germ. NS 10, Weimar 1951. 23 Lachmann, K./Kraus, C. von/Kuhn, H.: 36 Vita sancti Oudalrici, ed. Ott, ebd., Die Gedichte Walthers von der Vogel- teilweise nach der Übersetzung von weide,13 Berlin 1965, 25,11 = J. Schaefer, Kallfelz, H.: Lebensbeschreibungen einiger Walther von der Vogelweide, Werke, Bischöfe des 10.–12. Jahrhunderts, Darm- Darmstadt 1972, Nr.96, S.250. stadt 1973, Freiherr vom Stein-Gedächt- 24 MGH Const.1, Nr.90: „In regni autem nisausgabe 22. vestri partibus episcopi vel abbates adeo 37 Vita sancti Oudalrici, MGH, ebd., S.24, curis secularibus occupantur, ut comi- Anm.*. tatum assidue frequentare et militiam 38 MGH Const. 1, Nr. 436. exercere cogantur. (...) Ministri enim 39 Vgl. Santifaller, L.: Zur Geschichte des altaris ministri curie facti sunt, quia ottonisch-salischen Reichskirchensystems, civitates, ducatus, marchias, monetas, SB österreich. Akad, phil.-hist. Kl. 229,1, curtes et cetera ad regni servitium 2Wien 1964, mit allen Einzelnachweisen pertinentia a regibus acceperunt.“ bis 1056; Ergänzung bis 1125 bei: R. 25 Vgl. Caspar, E.: Geschichte des Papsttums Kloss, Das Grafschaftsgerüst des Deut- I, Tübingen 1930, S.556 u. 563f. schen Reiches, phil. Diss. Breslau 1940. 26 Noll, R.: Eugippius, Das Leben des 40 Bremen, Adam von: Hamburgische Kir- heiligen Severin, lateinisch und deutsch, chengeschichte III, 46, MGH Scr. rer. Passau 1963, c.31. Germ., 3Hannover-Leipzig 1917. 27 Gregor von Tours, Libri historiarum 41 MGH Const.1, Nr.90, am Ende. decem, IV, 42, MGH Scr. rer. Mer. I,1 42 Vgl. Meyer von Knonau, G.: Jahrbücher Hannover 1937. des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. 28 Kölzer, Th.: Die Urkunden der Mero- und Heinrich V., Bd.6, Leisszig 1907, winger 1–2, MGH, Hannover 2001, Nr. S.153ff. 110 (Le Mans), 80, 124, 131. 140, 142, 43 MGH DO III 366: „ad nostri imperii 144, 146, 150, 160, 166. stabilitatem et aeternae vitae gaudium.“ 29 Ebd., Nr.99, 108, 128, 134, 151, 163, 164, 44 MGH DO III 418: „perpetua nobis inde 179, 182, 184, 190. merces paratur et status nostri imperii a 30 Bischof Franko von Lüttich wollte wegen Domino sublimatur.“ der Kämpfe, die er gegen die Normannen 45 MGH DH II 248: „ad laudem et stabi- zu führen hatte, sein Amt niederlegen, litatem regni nostri.“ „sciens illicitum esse quemquam san- 46 MGH Const.I, Nr.98: „Praedecessores guineis manibus sancta tractare“. Denn enim vestri ecclesias regni sui (!) tantis er war lieber bereit, auf seine geistliche regalium suorum beneficiis ampliarunt, Würde zu verzichten als auf die Teil- ut regnum ipsum episcoporum maxime nahme am Krieg gegen die Landesfeinde; et abbatum praesidiis oportet commu- Folkwin, Gesta abbatum Lobiensium, niri.“ cap. 17, MGH SS 4, S.62. 47 Stumpf 3190: „Si fidelium nostrorum 31 MGH Capitularia I, Nr.10 §2. Vgl. auch dignis peticionibus benigne acquie- die weiteren Belege bei Waitz, G.: Deut- verimus, si beneficiis et prediis eos subli- sche Verfassungsgeschichte 4, 2Berlin maverimus, antecessorum nostrorum 1885, S.592, Anm.1. regum sive imperatorum exempla tene- 32 880 Theoderich v. Minden und Markward mus et eorum successores nobis v. Hildesheim, 882 Walo v. Metz, 886 benivolentiores et devotiores habebimus Wolfger v. Minden, 891 Sunderold v. idque ad honorem atque utilitatem nostri Legitimation weltlicher Herrschaft von Geistlichen im Abendland 43

regni provenire non dubitamus;“ hier 50 MGH Const.III, Nr.492. zitiert nach Hausmann, F./Gawlik, A.: 51 Sachsenspiegel III, 57,2. Arengenverzeichnis zu den Königs- und 52 MGH Fontes iuris Germanici antiqui 11. Kaiserurkunden von den Merowingern 53 Zit. nach Zeumer, K.: Quellensammlung bis Heinrich VI., MGH Hilfsmittel 9, zur Geschichte der deutschen Reichs- München 1987, Nr.2813. Die Arenga verfassung in Mittelalter und Neuzeit, findet sich mit geringen Abweichungen 2Tübingen 1913, Nr.161. nicht weniger als 23-mal in Privilegien 54 Vgl. u.a. CIC, „Ne clerici vel monachi zwischen 931 und 1190. Es gibt zahl- secularibus negotiis se immisceant“, X III reiche verwandte Prägungen. 50. 48 Vgl. Ficker, J.: Von Reichsfürstenstand 1, 55 Tractatus de investitura episcoporum, Innsbruck 1861, §200. ed. I. Krimm-Beumann, DA 33 (1977), 49 MGH Const.II, Nr.73. S.70f. Aufklärung als Säkularisierung?

Harm Klueting

1. Säkularisation und nisierung gebrochen erscheinen lässt, Säkularisierung und die lebensweltliche Erfahrung, dass Entkirchlichung und Entchristlichung Von „Säkularisation“ ist – mit Hermann nicht den Verlust jeglicher religiöser Lübbe1 u.a. – „Säkularisierung“ zu un- Wertorientierung bedeuten muss. Doch terscheiden. Säkularisierung meint wird von einigen Religionssoziologen Verweltlichung der Kultur und der auch dieser Sicht widersprochen, die Lebenszusammenhänge und im wei- darauf hinweisen, dass der Zulauf zu testen Sinne das, was Max Weber 1905 neuen religiösen Bewegungen nur „Entzauberung der Welt“2 nannte. einen Bruchteil des Ausmaßes der Während der Begriff „Säkularisation“ Entkirchlichung erreiche, während es wahrscheinlich auf den Westfälischen sich bei der Skepsis gegenüber dem Friedenskongress und auf das Jahr 1646 Konzept Säkularisierung, wenn diese zurückgeht,3 kam der Begriff „Säkula- mit dem Hinweis auf außerkirchliche risierung“ erst in der Mitte des 19. bzw. außerchristliche religiöse Energien Jahrhunderts bei denjenigen auf, die argumentiere, um eine Beruhigungs- das Ende der geistlich-kirchlichen Do- formel für Interessierte handele.6 minanz begrüßten (Antiklerikalismus, Forderung nach Trennung von Staat Der Prozess der Verweltlichung reicht und Kirche). Doch hatte schon der aber weit vor das 19. Jahrhundert zu- Philosoph G.W.F. Hegel von „Verwelt- rück. In gewisser Hinsicht waren christ- lichung“ als geschichtsphilosophi- licher Glaube – und jüdischer und schem Prozessbegriff gesprochen, was muslimischer Monotheismus – gegen- der evangelische Theologe Richard über dem antiken wie dem altorien- Rothe als „Säkularisierung“ wieder gab.4 talischen oder germanischen Pantheis- mus „Entgötterung der Welt durch Neuerdings werden Zweifel an der Gott“.7 Das späte Mittelalter kannte mit Kategorie der Säkularisierung geäußert dem lateinischen Averroismus seit dem und deren Ersetzung oder Ergänzung 13. Jahrhundert und mit dem Nomi- durch „Dechristianisierung“ vorgeschla- nalismus seit dem 14. Jahrhundert, der gen.5 Dahinter steht die historische den Gegensatz von Glauben und Ver- Erkenntnis, die den Prozess der Säku- nunft betonte und Kirche und Staat als larisierung als vielfach durch Prozesse voneinander getrennte, eigenständige der Resakralisierung oder Rechristia- Gebilde unterschied, in Theologie und

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 Aufklärung als Säkularisierung? 45

Philosophie säkularisierende Elemente, – war eine im 17. Jahrhundert ent- wenn das auch ein Phänomen kleinster standene, mit ihren Wurzeln weiter Intellektuellenkreise blieb. Danach war zurückreichende Geistesbewegung, die das Welt- und Menschenbild der Re- im 18. Jahrhundert fast ganz Europa naissance und des Humanismus Aus- unter Einschluss Russlands und der druck eines Lösungsprozesses aus den überseeischen Kolonialgebiete der euro- Bindungen christlich-theozentrischen päischen Mächte in Nord- und Süd- Denkens und der Grundlegung einer amerika erfasste und im späteren 18. säkular-anthropologischen Weltsicht. Jahrhundert auch die Gestalt einer Doch sieht man heute das christlich- sozialen Bewegung annahm. Beschrei- katholische Element in der Renaissance ben lässt sich die Aufklärung als Prozess viel stärker als das antik-pagane. Das der Emanzipation des Menschen von bibelhumanistische wiederum erscheint den Mächten und Bindungen der Reli- heute im Humanismus viel deutlicher, gion und der Tradition. Dabei gehörte als es einem noch immer von Jacob zur Aufklärung zentral, dass sie die Burckhardt (1860) geprägten Renais- Eigentümlichkeit des Menschen in der sancebild entspricht. Eigenschaft der Vernunft (des Verstan- desgebrauchs) sah – was das bedeutet, Die „Scientific Revolution“8 der Ent- wird deutlich, wenn man sich vor stehung der modernen Naturwissen- Augen führt, dass für Martin Luther schaft zwischen Nikolaus Kopernikus, 200 Jahre vor den deutschen Aufklä- Galileo Galilei und Isaac Newton und rungsphilosophen Christian Thoma- der „Prozess der theoretischen Neu- sius, der 1691 eine „Einleitung in gierde“9 brachten die Legitimation der die Vernunft-Lehre“ publizierte, und „curiositas“ (Neugierde) und die Eman- Christian Wolff die Eigentümlichkeit zipation der Naturerkenntnis von der des Menschen darin bestanden hatte, Theologie.10 War das ein entschei- ein erlösungsbedürftiger Sünder zu dender Schub des Prozesses der Ver- sein.13 Emanzipation und Vernunft- weltlichung und die Hauptursache der prinzip als Wesensmerkmale der Auf- Aufklärung, so war die Aufklärung – klärung finden sich verdichtet zur auch hier sind heute, wie bei Renais- Definition der Aufklärung in Immanuel sance und Humanismus, die christ- Kants Antwort auf die Frage „Was ist lichen Elemente deutlicher als früher – Aufklärung?“ von 1783: „Aufklärung ist Teil jenes Prozesses der Säkularisierung, der Ausgang des Menschen aus seiner den man mit Max Weber auch im Zu- selbst verschuldeten Unmündigkeit. sammenhang mit dem abendländi- Unmündigkeit ist das Unvermögen, schen Rationalisierungsprozess11 sehen sich seines Verstandes ohne Leitung kann. eines anderen zu bedienen. Selbstver- schuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel 2. Aufklärung des Verstandes, sondern an der Ent- schließung und des Mutes liegt, sich 2.1. Was war Aufklärung? seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. (...) Habe Mut dich deines Die Aufklärung12 – genauer: die euro- eigenen Verstandes zu bedienen!, ist päische Aufklärung im 18. Jahrhundert also der Wahlspruch der Aufklärung“.14 46 Harm Klueting

Die Aufklärung postulierte die Vernunft Bereich von Religion und Theologie als höchstes Prinzip und ließ nur das ausgriff und von der Literatur- und gelten, was die Prüfung vor dem Forum Kunstkritik bis zur Staats- und Ge- der Vernunft bestehen konnte. Dieser sellschaftskritik reichte. Mit der Reli- Herrschaftsanspruch der Vernunft rich- gionskritik verbunden war die An- tete sich zunächst gegen Kirche und nahme einer „natürlichen Religion“ Religion, weil sich das aufgeklärte jenseits der kirchlichen Glaubenslehren Bewusstsein zuerst im Gegensatz zur und gelöst von der Offenbarungs- religiösen Offenbarung, d.h. zu der auf religion. Nur wenige Glaubenssätze wie Gott zurückgeführten, dem Menschen die Existenz Gottes durften bestehen verborgenen Wirklichkeit, und vor bleiben. Auch die Ausbildung eines den Widersprüchen von Vernunft und „vernünftigen“ Selbstbewusstseins, das Offenbarung seiner Selbstständigkeit sich auf die Autonomie des Denkens bewusst geworden war. Doch wandte gründete, der Zug zur systematischen sich die Kritik der Vernunft bald gegen und enzyklopädischen Erfassung und jede Tradition und Autorität. Ordnung der materiellen Welt, eine „vernünftige“ Begründung der Moral Das alles galt jedoch nur für eine kleine und der Gesellschaft und eine „ver- intellektuelle Elite. Die Aufklärung nünftige“ Lehre der Lebensführung – begann um 1690 – in Deutschland mit Verbindungen zur aufgeklärten nicht später als in England oder Pädagogik – gehörten zu den Grund- Frankreich – als Phänomen weniger zügen der Aufklärung. Von zentraler Gelehrter. Diese intellektuelle Elite Bedeutung war die Anthropozentrik, wurde zwar im Laufe des 18. Jahr- mit der der Mensch und seine irdische hunderts allmählich breiter und ver- Glückseligkeit in den Mittelpunkt suchte durch Popularisierung der rückte, während der alte Mittelpunkt Aufklärung auch die bildungsferne des theozentrischen Weltbildes, Gott, Bevölkerung zu erreichen, blieb sich zurücktrat. dabei aber zumeist ihrer elitären Bildungsqualifikation bewusst. So er- Galilei hatte mit dem Prinzip des Ex- klären sich das Interesse der Aufklärer periments als Beweisgrundlage die an Pädagogik und ihr Einsatz für moderne Physik begründet. Damit Schulreformen ebenso wie die Ansätze wurde die Naturphilosophie des Mit- zu einer Volksaufklärung. Dennoch telalters fragwürdig. Diese hatte statt traten die Wirkungen der Aufklärung mit dem Experiment mit Analogien in der breiten Bevölkerung erst im gearbeitet, nach denen der Mensch 19. Jahrhundert, teilweise sogar erst im und alle Erscheinungen der Natur 20. Jahrhundert ein, d.h. zu einer Zeit, Gott nachahmten und ein Bild Gottes in der antiaufklärerische Tendenzen (imago Dei) in sich enthielten. Statt- mächtig wurden und Erscheinungen dessen arbeiteten Galilei und die ihm hervortraten, die kaum etwas mit der nachfolgenden Physiker mit der Zahl Aufklärung zu tun hatten, jedenfalls und mit dem Messen quantitativer nicht direkt. Größen in Raum und Zeit. Die Welt und alle Erscheinungen wurden von Als Grundtendenz der Aufklärung er- nun an grundsätzlich als messbar und scheint die Kritik, die bald über den zählbar betrachtet. Die Naturerkenntnis Aufklärung als Säkularisierung? 47 bediente sich der methodisch stren- bleibt aber festzuhalten: Ein geistiger gen Ableitung ihrer Sachverhalte aus Zusammenhang zwischen Aufklärung vorausgesetzten Prinzipien. Diese Prin- und Christentum blieb – trotz aller zipien, Annahmen oder naturwissen- Religionskritik – zumeist bestehen, wie schaftlichen Gesetze traten an die ja auch viele Aufklärer selbst Pfarrer Stelle, die im alten Weltbild Gott als oder Theologen waren oder zumindest Quelle für Existenz, Wesen und Ord- in Klosterschulen erzogen oder durch nung der Dinge eingenommen hatte. ein Theologiestudium hindurchge- Das führte zu einem neuen philo- gangen waren. Das gilt besonders für sophischen Selbstbewusstsein, mit dem die Aufklärung in Deutschland – und die autonome Vernunft in Konkurrenz hier vor allem für die katholische zu Gott trat. Die Vernunft schien den Aufklärung15 –, wo sie seit ihren An- Zugang zu öffnen zu allen Fragen der fängen durch die konfessionelle Spal- Natur und des menschlichen Lebens. tung einen eigenen Akzent erhalten hatte und eine gewisse theologische Hinzu traten – hier nur zu erwähnen – Prägung niemals verlor. Das religions- das schon aus Antike und Mittelalter kritische Moment, das auch in Deutsch- bekannte Naturrechtsdenken, das im land nicht fehlte, war in der deutschen 17. Jahrhundert durch Hugo Grotius, Aufklärung weit weniger bedeutsam als Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf in der französischen Aufklärung.16 Da- einen neuen Aufschwung erfuhr, die rüber hinaus war auch der schärfste geschichtliche Kritik und die kritische Religionskritiker insofern noch immer Geschichtswissenschaft seit Pierre Bayle religiös, als er die Religion wichtig und die Begegnung Europas mit frem- genug fand, um sie zu kritisieren. Bei den Kulturen, vor allem in Persien, aller Anthropozentrik sahen die Auf- China und Japan, mit ihren Folgen für klärer nicht nur in Deutschland – mit das kulturelle Selbstbewusstsein in Ausnahme der radikalen französischen Europa, schließlich die Konfessio- Materialisten wie Julien Offray de nalisierung Europas im 16. Jahrhundert Lamettrie, Claude Adrien Helvétius und und das Nebeneinander mehrerer Paul Heinrich von Holbach – den Men- christlicher Kirchen und verschiedener schen noch im christlichen Sinne als Sondergruppen. Seit dem letzten Jahr- „Ebenbild Gottes“ und nicht – wie spä- zehnt des 17. und im Laufe des 18. tere Zeiten – als bloßes Naturwesen. Jahrhunderts bündelten sich diese Faktoren – unter dem gemeinsamen Nur an einem Kapitel aus der Ge- Nenner „Vernunft“ – und kamen nun schichte der Aufklärung – Aufklärung zur Auswirkung. Dazu trug ihre Ver- und Naturwissenschaft – sollen die hier breitung in Literatur und Popular- aufgeworfenen Fragen erörtert werden. philosophie, im expandierenden Zeit- schriftenwesen, in Aufklärungsgesell- schaften und durch die aufgeklärte 2.2. Physik und Pädagogik bei. Physikotheologie

Neben der Aufklärung als Elitephäno- Man kann die Geburtsurkunde der men und dem nur ganz allmählichen Aufklärung in jenem Brief Galileis an Aufkommen einer Volksaufklärung den Benediktiner Benedetto Castelli 48 Harm Klueting vom 21. Dezember 1613 sehen, auch Newton erwarb. Zu Newtons Leis- wenn es danach noch Jahrzehnte tungen gehörte die Entdeckung des dauerte, bis sich die Aufklärung zu- Gravitationsgesetzes, die Zerlegung des nächst als elitäre Intellektuellenbe- Lichtes in Spektralfarben, die Emis- wegung formierte. In diesem Brief sionstheorie des Lichtes und die Ent- stellte Galilei die Gleichwertigkeit von wicklung des Spiegelteleskops sowie die Theologie und Naturwissenschaft und Entwicklung der Fluxationsrechnung die Überlegenheit der naturwissen- als Bestandteil der Differenzialrech- schaftlichen Forschungsergebnisse ge- nung, wobei jedoch Gottfried Wilhelm genüber der theologischen Bibelaus- Leibniz mit der Erfindung des Infi- legung fest und forderte, dass die nitesimalkalküls der entscheidende Theologie die Aussagen der Bibel in Durchbruch gelang. Auf Newton geht Übereinstimmung mit den natur- die Annahme des Existenz eines ab- wissenschaftlichen Erkenntnissen inter- soluten Raumes, einer absoluten Zeit pretieren müsse. Doch spielten das und einer absoluten Bewegung zurück, ganze 17. Jahrhundert hindurch Astro- die erst im 20. Jahrhundert von Albert logie und Alchimie noch immer eine Einstein erschüttert wurde. Die Natur- große Rolle. Zugleich wurden die Prin- wissenschaft Galileis und Newtons zipien der modernen Naturwissen- bestätigte mit ihren Ergebnissen die schaft aber auch außerhalb von Physik Erkenntnisfähigkeit der menschlichen und Astronomie herrschend. Das gilt Vernunft. Diese Bestätigung war die u.a. für die Medizin und die Ent- wichtigste Ursache der Aufklärung. deckung des doppelten Blutkreislaufes durch William Harvey im Jahre 1628, Das 18. Jahrhundert kannte eine Gat- ebenso für die Anatomie und besonders tung theologischer Literatur, die um für das Wirken des Andreas Vesalius, den Dialog mit der modernen Natur- mit dem der menschliche Körper der wissenschaft bemüht war, Erkenntnisse wissenschaftlichen Neugierde geöffnet der Naturwissenschaften in theolo- und seine Erforschung zur Grundlage gische Aussagen integrierte und auch der wissenschaftlichen Heilkunde wur- selbst zu naturwissenschaftlichen Er- de. Große Bedeutung besaßen die ana- kenntnissen gelangte. Gemeint ist die tomischen Forschungen des Holländers Physikotheologie.17 Der Begriff „Physi- Jan Swammerdam, die zur Entdeckung kotheologie“ wurde von dem Eng- der roten Blutkörperchen und der länder William Derham geprägt und Lymphgefäße führten, und die Be- findet sich im Titel seines Werkes nutzung des Mikroskops und die Ent- „Physiko-Theology“ von 1713. Der deckung der Bakterien durch den Untertitel zeigt, worum es der Physi- Holländer Antoni van Leeuwenhoeck. kotheologie ging: „A demonstration of So erstreckte sich die wissenschaftliche Beeing and Attributes of God from his Neugierde ebenso auf den Mikrokos- works of creation“.18 Die Physiko- mos der Bakterien wie auf den Makro- theologie war die „innere Konsequenz kosmos der Astrophysik. 1662 entstand der apologetischen Situation“19 und der in London mit der „Royal Society“ das Versuch, christlichen Glauben und wichtigste naturwissenschaftliche For- naturwissenschaftliche Erkenntnis, Of- schungszentrum der Zeit, dessen Mit- fenbarung und Vernunft, zu harmo- gliedschaft zehn Jahre später Isaac nisieren.20 Die englischen Physiko- Aufklärung als Säkularisierung? 49 theologen traten an, um „das theis- sche Naturbetrachtung für den Erweis tische Prinzip apologetisch zu retten“.21 der Providentia zu verwerten“.23 Der Das gilt nicht nur für Derham, sondern kosmologische und der teleologische auch für den Botaniker und Theolo- Gottesbeweis24 und damit der mittel- gen John Ray mit seinem Werk „The alterliche Versuch, den Glauben an Wisdom of God manifested in the Gott rational durch Gottesbeweise25 zu Works of Creation“ von 1691, den stützen, der ohnehin mit dem refor- Botaniker Nehemia Grew mit seinem matorischen Akzent auf der Schrift- physikotheologischen Werk von 1701, offenbarung Gottes als Quelle des den Theologen John Hancock mit Glaubens unverträglich war – die seinen „Arguments to prove the Being Physikotheologie war ein Gewächs auf of God“ von 1707 oder William protestantischem Boden – , wurde im Whiston mit seinen „Astronomical Fortgang der Aufklärung fragwürdig. principles of a religion, natural and Das galt schon für Johann Albert revealed“ von 1717. In den Nieder- Fabricius, der in seiner „Hydrotheo- landen war der wichtigste Physiko- logie“ von 1734 der von ihm bis dahin theologe der Doktor der Medizin gepflegten Physikotheologie alten Stils Bernhard Nieuwentijt mit seinem 1732 eine Absage erteilte und ihr die Sicht ins Deutsche übersetzten physikotheo- entgegenstellte, dass nur dem Glauben- logischen Werk von 1715, dessen den die Offenbarung einsichtig sei.26 deutsche Fassung den Titel trägt: „Die Erkenntnis der Weisheit, Macht und So war die Physikotheologie zwi- Güte des göttlichen Wesens aus dem schen Galileis Brief an Castelli von 1613 rechten Gebrauch der Betrachtungen und Kants „Kritik der reinen Vernunft“ aller irdischen Dinge dieser Welt, zur von 1781, mit der der Königsberger Überzeugung der Atheisten und Un- Philosoph die Naivität des Vernunft- gläubigen“. Aus Deutschland ist neben prinzips der Aufklärung ebenso über- anderen vor allem Johann Albert Fa- wand wie 1734 der Hamburger bricius als Physikotheologe zu nennen. Physikotheologe Fabricius die Naivität der Physikotheologie, Teil der Bewegung Die Physikotheologie war nicht nur der Aufklärung und das Bemühen eine Erscheinung der Zeit der Auf- darum, „fides“ und „curiositas“ zu har- klärung22 – vor allem der Frühauf- monisieren. Dabei ist die Physikotheo- klärung –; vielmehr waren die Physiko- logie nur ein Beispiel von vielen. Andere theologen des 18. Jahrhunderts selbst finden sich u.a. im Bereich der Aufklä- Aufklärer. Sie waren begeistert von der rungstheologie oder in dem der Auf- modernen Naturwissenschaft. Doch klärungspädagogik. Diese Beispiele zei- war diese Begeisterung eingebunden in gen, dass die Aufklärung so säkularisiert die apologetische Situation, vor deren nicht war, wie es der Blick allein auf die Hintergrund die Physikotheologie die französische Aufklärung oder gar nur Bestätigung der Existenz und der Güte auf deren radikal-materialistischen Gottes in der Natur mit den Mitteln der Flügel anzunehmen nahe legt. Naturwissenschaft suchte. Mit diesem Programm ist die Physikotheologie Übrigens hatte auch Isaac Newton eine gescheitert. Es erwies sich als „unmög- theologische Seite. Er verfasste theo- lich, irgendwie eine kausalmechani- logische Schriften, die zu seinen Leb- 50 Harm Klueting zeiten unveröffentlicht blieben.27 Wenn die Menschen des beginnenden 21. Newton mit der Trinitätslehre auch ein Jahrhunderts, sind viel säkularisierter Zentraldogma des christlichen Glaubens als unsere Vorfahren im 18. Jahr- verwarf, so zeigt sein Beispiel doch, wie hundert. Und während im Jahrhundert sehr die Aufklärung noch theologisch der Aufklärung herausragende Intel- geprägt und mit Theologie und lektuelle es für angezeigt hielten, christlichem Glauben beschäftigt war. Religionskritik zu üben, begegnen heute Herr und Frau Jedermann den Kirchen und den christlichen Glau- 3. Aufklärung und benslehren oft nur noch mit Gleich- Säkularisierung gültigkeit. Inwiefern das Entkirchli- chung, Entchristlichung oder darüber Die Aufklärung hat ihren Platz im hinausgehende Säkularisierung ist, ist Prozess der Säkularisierung. Wir aber, hier nicht zu erörtern.

Anmerkungen 1 Lübbe, Hermann: Säkularisierung. Ge- 7 So der – in anderem Zusammenhang schichte eines Ideenpolitischen Begriffs, formulierte – Gedanke bei Weizsäcker, Freiburg/München 19732. Carl Friedrich von: Die Tragweite der 2 Weber, Max: Die protestantische Ethik Wissenschaft, Bd.1: Schöpfung und Welt- und der Geist des Kapitalismus [1905], in: entstehung. Die Geschichte zweier Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Begriffe, Stuttgart 19906, S.46. Religionssoziologie, Bd.1, Tübingen 1988, 8 Harman, Peter M.: The Scientific Re- S.17–236, Zitat S.114. volution, London/New York 1983; Hall, 3 Älter ist der ordensrechtliche Säkulari- Alfred Rupert: The Revolution in Science, sationsbegriff, der die dauernde Ent- 1500-1750, London/New York 1983 [zu- lassung eines Regular- oder Ordens- erst 1954]. – Die umfangreiche Literatur klerikers in die Weltgeistlichkeit (Sä- bis in die jüngste Zeit zu diesem Thema kularklerus) als „saecularisatio“ bezeich- kann hier nicht ausgebreitet werden. net. 9 Blumenberg, Hans: Die Legitimität der 4 Zabel, Hermann: Art. Säkularisation, Neuzeit, Frankfurt am Main 19772 [zuerst Säkularisierung, in: Otto Brunner/Werner 1966]; Blumenberg, Hans: Der Prozess Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Ge- der theoretischen Neugierde [= erweiterte schichtliche Grundbegriffe, Bd.5, Stutt- u. überarbeitete Neuausgabe von Teil 3 gart 1984, S.809–829, hier S.812f. der „Legitimität der Neuzeit“], Frankfurt 5 Lehmann, Hartmut (Hrsg.): Säkulari- am Main 1973. sierung, Dechristianisierung, Rechristia- 10 Mit zahlreichen Literaturhinweisen nisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz Klueting, Harm: Von der ‚Göttlichen und Perspektiven der Forschung, Göt- Ordnung' zur ‚Entgötterung der Welt tingen 1997; Lehmann, Hartmut: De- durch Gott'. Fides und curiositas in der christianisierung, Säkularisierung und Begegnung von Glaube und Wissen in Rechristianisierung im neuzeitlichen der Neuzeit, in: Schöpfungsglaube – von Europa, in: Hartmut Lehmann, Religion der Bioethik herausgefordert, Erlangen und Religiosität in der Neuzeit. His- 2001, S.69–117. torische Beiträge, Göttingen 1996, S.278 11 Schluchter, Wolfgang: Die Entwicklung –285 [zuerst 1994]; Lehmann, Hartmut: des okzidentalen Rationalismus. Eine Protestantisches Christentum im Prozess Analyse von Max Webers Gesellschafts- der Säkularisierung. Göttingen 2001., geschichte, Tübingen 1979; Vahland, 6 Pollack, Detlef: Entzauberung oder Wie- Joachim: Max Webers entzauberte Welt, derverzauberung der Welt? Die Säku- Würzburg 2001. larisierungsthese auf dem Prüfstand, in: 12 Müller, Winfried: Die Aufklärung, Mün- Eckart von Vietinghoff/Hans May (Hrsg.), chen 2002; Möller, Horst: Vernunft und Zeitenwende – Wendezeiten, Hannover Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 1998, S.125–150. 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main Aufklärung als Säkularisierung? 51

1986; Pütz, Peter: Die deutsche Auf- Tentamina Physico-Theologica, Oxford klärung, Darmstadt 19792; Schneiders, 1665, und in Deutschland Moller, Jo- Werner: Zum Selbstverständnis der hann: Similitudines Physico-Theologicae. deutschen Aufklärung, Freiburg (Brsg.) Das sind (...) nützliche und Geistliche 1974; Stuke, Horst: Art. Aufklärung, in: Gleichnisse, Frankfurt am Main/Lübeck Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.1, Stutt- 1665. gart 1972, S.243–342; Valjavec, Fritz: 19 So mit dem Blick auf den Physiko- Geschichte der abendländischen Auf- theologen Johann Peter Süßmilch und klärung, Wien/München 1961. in Anlehnung an Barth, Hans-Martin: 13 Dabei war Luther der Vernunftbegriff Atheismus, S.240f; Dreitzel, Horst: J.P. (ratio) als solcher nicht fremd, so in der Süßmilchs Beitrag zur politischen Dis- lateinischen Fassung seiner Erklärung auf kussion der deutschen Aufklärung, in: dem Reichstag von Worms am 18. April Herwig Birg (Hrsg.), Ursprünge der 1521: „Nisi convictus fuero testimoniis Demografie in Deutschland. Leben und scripturarum aut ratione evidenti ...“ Werk Johann Peter Süßmilchs (1707– (Luther, Martin: Werke. Kritische Ge- 1767), Frankfurt am Main 1986, S.29– samtausgabe [Weimarer Ausgabe], Bd.7, 141, Zitat S.55. Der Begriff „apologeti- Weimar 1897, S.838, Zeile 4). sche Situation“ bei Barth, Hans-Martin: 14 Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung? Atheismus, S.311. Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, 20 Wenn Krolzik, Udo: Art. Physikotheo- Göttingen 19752, S.55. logie, S.591 den apologetischen Charakter 15 Klueting, Harm (Hrsg.): Katholische der Physikotheologie leugnet, so ist dem Aufklärung – Aufklärung im katholischen zu widersprechen. Deutschland, Hamburg 1993. 21 Wolfgang Philipp: Das Werden der Auf- 16 Möller, Host: Vernunft und Kritik, S.26, klärung in theologiegeschichtlicher Sicht, 30; Scholder, Klaus: Grundzüge der Göttingen 1957, S.34. theologischen Aufklärung in Deutsch- 22 Doch gab es physikotheologische Werke land. Unterschiedlicher Charakter der auch vor dem 17./18. Jahrhundert, so Aufklärung in Deutschland und West- Raimund de Sabundes (gest. nach 1436) europa, in: Franklin Kopitzsch (Hrsg.), auch als „Theologia Naturalis“ bezeich- Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum neten „Liber creaturarum“, den Johann in Deutschland, München 1976, S.294– Albert Fabricius 1732 auf Deutsch als 318, bes. S.295f. „Physiko-Theologie oder Natur-Anleitung 17 Krolzik, Udo: Art. Physikotheologie, in: zu Gott“ herausbrachte. Theologische Realenzyklopädie 24 (1996), 23 Büttner, Manfred: Wechselseitige Be- S.590–596; Barth, Hans-Martin: Athe- ziehungen, S.6. ismus und Orthodoxie. Analysen und 24 Kosmologischer Gottesbeweis: Von der Modelle christlicher Apologetik im 17. Existenz der Welt ist auf den Urheber Jahrhundert, Göttingen 1971; Büttner, derselben zu schließen; teleologischer Manfred: Wechselseitige Beziehungen Gottesbeweis: Von der Zweckmäßigkeit zwischen Theologie und Naturwissen- und Ordnung der Welt ist auf einen schaft (insbesondere Klimatologie) im allweisen Weltbaumeister zu schließen. 18. Jahrhundert. Physikotheologie als 25 Gottesbeweise des Mittelalters: onto- praktische natürliche Theologie, in: logischer, psychologischer, kosmologi- Manfred Büttner/Frank Richter (Hrsg.), scher, teleologischer, moralischer und Forschungen zur Physikotheologie im voluntaristischer Gottesbeweis. Aufbruch I, Münster 1995, S.3–58. 26 Klueting, H.: Von der „Göttlichen Ord- Weitere Literatur bei Klueting, Von der nung“ (wie Anm. 10), S.99 ‚Göttlichen Ordnung' (wie Anm.10), S. 27 Petry, Michael John: Art. Isaac Newton, 89, Anm.89. in: Theologische Realenzyklopädie 24 18 Vor Derham schon Parker, Samuel: (1994) S.422–429, hier S.425–427. Auswirkungen der Säkularisation auf das Staatskirchenrecht

Heinrich de Wall

1. Einleitung Territorium, – modern gesprochen – die Staatsgewalt. Dagegen ist die Ver- Als „Staatskirchenrecht“ wird seit Ende mögenssäkularisation die Einziehung des 19. Jahrhunderts die Summe der kirchlichen Eigentums und anderer Regelungen des staatlichen Rechts über vermögenswerter Rechte zu Gunsten das Verhältnis des Staates zu den Kir- des Staates. Die Herrschaftssäkulari- chen und anderen Religionsgemein- sation ist mit dem völkerrechtlichen schaften bezeichnet. Dass Säkula- Vorgang einer Annexion zu verglei- risationen – also die Einziehung kirch- chen, die Vermögenssäkularisation lichen Vermögens und anderer ist ein besonderer Fall einer Ent- kirchlicher Rechte durch den Staat – eignung. Beide Arten der Säkularisation, dieses Verhältnis betreffen, ist evident. wie sie im RDH angeordnet waren bzw. Der „Reichsdeputationshauptschluss“ ermöglicht wurden, dienten dem Aus- vom 25. Februar 1803 (RDH) ist – gleich von Verlusten, die weltliche nach heutiger Terminologie – ein staats- Landesherrn in den Auseinander- kirchenrechtlicher Vorgang gewesen. setzungen mit dem revolutionären und Er hat über die damalige Situation napoleonischen Frankreich auf der hinaus das Staatskirchenrecht nach- linken Rheinseite hinzunehmen hat- haltig beeinflusst.1 Freilich ist zu- ten. Beide hatten auch nachhaltigen nächst der Begriff der Säkularisation zu Einfluss auf das Staat-Kirche-Verhält- klären. Der RDH ordnete unter- nis. schiedliche Maßnahmen an, die als „Säkularisation“ bezeichnet werden. Säkularisationen in erheblichem Dabei ist zwischen der Herrschafts- Umfang hat es nicht erst im Zusam- säkularisation und der Vermögens- menhang mit dem RDH gegeben. säkularisation zu unterscheiden.2 Herr- Säkularisationen im Gefolge der Re- schaftssäkularisation ist die Aufhe- formation führten insbesondere zum bung der landesherrlichen Gewalt eines Verlust katholischen Kirchenguts.3 geistlichen Reichsfürsten und die Ein- Dagegen war von der Säkularisation zu verleibung seines Gebietes in ein Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem weltliches Reichsfürstentum. Sie be- das katholische Kirchenvermögen zieht sich auf die Hoheitsgewalt im betroffen.

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 Auswirkungen der Säkularisation auf das Staatskirchenrecht 53

2. Veränderungen der konfes- und die Säkularisationen haben auf sionellen Zusammensetzung den ersten Blick mit Religionsfreiheit der Territorien nichts zu tun. Die Forderung nach Religionsfreiheit speist sich aus dem Der RDH hat zu einer „Flurbereinigung“ Gedankengut der Aufklärung, wie sie nicht nur der politischen Landkarte in der französischen Menschenrechts- geführt, deren Auswirkungen bis heute erklärung und in den amerikanischen sichtbar sind, sondern ebenso zu be- Menschenrechtsgarantien zum Aus- deutenden Verschiebungen der konfes- druck kommen, aber auch aus älteren sionellen Zusammensetzung der be- Entwicklungslinien. Dennoch haben günstigten Staaten. Die durch ihn die Säkularisationen auch Bedeutung angeordneten Herrschaftssäkularisa- für die Gewährleistung der Religions- tionen bedeuteten, mit unbedeutenden freiheit in Deutschland gehabt.4 Es und vorübergehenden Ausnahmen, das wäre kaum vorstellbar gewesen, in Ende der geistlichen Fürstentümer im den Gebieten der ehemals katholischen Heiligen Römischen Reich. Durch die geistlichen Fürstentümer, die ganz Herrschaftssäkularisation gerieten ca. überwiegend unter protestantische 2,4 Mio. Untertanen geistlicher Terri- Herrscher kamen, nach dem Grundsatz torien unter die Obrigkeit weltlicher „cuius regio, eius religio“ den Protes- Fürsten. Dabei kamen vor allem in tantismus zur einzig zulässigen öf- großer Zahl Katholiken unter die Herr- fentlichen Religion zu erklären und den schaft protestantischer Landesherren. Katholizismus auf die Möglichkeit der Wenn man die Mediatisierungen der Hausandacht zu beschränken. Entspre- Reichsstädte einbezieht, die ebenfalls chendes gilt natürlich auch für den durch den RDH angeordnet wurden, umgekehrten Fall unter katholische gab es auch den umgekehrten Fall – Herrschaft gekommener evangelischer namentlich in Bayern. Wenn man sich Gebiete und Städte. § 63 RDH be- nicht auf den Reichsdeputations- stimmt demgemäß, dass die bisherige hauptschluss beschränkt, sondern die Religionsausübung eines jeden Landes Ereignisse bis zum Wiener Kongress gegen Aufhebung und Kränkung aller einbezieht, erhöht sich dieser Anteil Art geschützt sein sollte. Dies stellt unter anderem durch die fränkischen zunächst nichts anderes dar als eine Markgrafschaften und die Reichsstadt Neufassung der bereits aus dem West- Nürnberg. Erst seit Beginn des 19. Jahr- fälischen Frieden bekannten sog. „Nor- hunderts gab es nennenswerte Zahlen maljahresregelung“. Während dort die von Protestanten im bayerischen Staat. Religionsausübung nach dem Stande Seit dieser Zeit ist der Anteil der Protes- des Jahres 1624 geschützt wurde, sollte tanten an der bayerischen Gesamt- hier diejenige des Jahres 1803 gesichert bevölkerung mit ca. einem Viertel sein. Dies bedeutet noch nicht indi- weitgehend konstant geblieben. viduelle Religionsfreiheit, sondern eine örtlich beschränkte Garantie der je- weiligen Konfession. Dass dies zur 3. Säkularisation und Integration und zur Gewährleistung des Religionsfreiheit Rechtsfriedens in den um die neuen Territorien erweiterten Staaten nicht Der Reichsdeputationshauptschluss ausreichen würde, ist nicht verborgen 54 Heinrich de Wall geblieben. § 63 RDH geht daher weiter, anderen Religionsgemeinschaften als indem er den Landesherren ermöglicht, korporatives Recht zukommt und andere Religionsverwandte zu dulden durch die Garantie der kirchlichen und ihnen den vollen Genuss bür- Selbstbestimmung in Art. 140 GG i. V. gerlicher Rechte zu gestatten. Damit m. Art. 137 Abs. 3 WRV nur wiederholt wurde es den Landesherren reichs- und erweitert wird, war man zu Beginn rechtlich freigestellt, in ihren Terri- des 19. Jahrhunderts von der Vor- torien eine weit gehende individuelle stellung einer Freiheit der Kirchen weit Religionsfreiheit einzuführen, aller- entfernt. Für die evangelischen Kir- dings beschränkt auf die reichsrecht- chen, die unter dem landesherrlichen lich anerkannten Konfessionen der Kirchenregiment weitgehend in die Lutheraner, Reformierten und Römi- staatliche Verwaltung integriert waren, schen Katholiken. galt dies ohnehin. Die Territorialherren haben nun im Anschluss an den RDH Von dieser Möglichkeit wurde dann im versucht, auch die katholischen Kir- Folgenden auch Gebrauch gemacht. chen in ihren Ländern zu katholi- Die Deutsche Bundesakte von 1815 hat schen Landeskirchen umzuformen. – als einzige religionsverfassungsrecht- Damit sind sie indes gescheitert. Die liche Regel – in Art. 16 diese Linie Auseinandersetzungen zwischen Staat fortgeführt und bundesrechtlich be- und katholischer Kirche im 19. Jahr- stimmt, dass „die Verschiedenheit der hundert mit ihrem Höhepunkt im christlichen Religionsparteien in den Kulturkampf sind auch als Konflikte auf Ländern und Gebieten des Deutschen dem Weg zu kirchlicher Selbstbe- Bundes keinen Unterschied in dem stimmung gegenüber dem Staat zu Genuss der bürgerlichen und politi- verstehen. Für die katholische Kirche schen Rechte“ begründen kann. Die konnte sie rascher gewonnen werden durch die Säkularisationen verursach- als für die evangelischen Kirchen, die ten Verschiebungen der konfessionellen erst durch die Weimarer Reichsver- Zusammensetzung der Bevölkerung in fassung mit dem Ende des landes- den einzelnen Staaten haben damit die herrlichen Kirchenregiments in den Gewährleistung von Religionsfreiheit Genuss der Unabhängigkeit vom Lan- begünstigt. Untrennbar verbunden ist desherrn kamen. damit in unserem konfessionell ge- spaltenen Land die religiöse Gleichheit, Trotz dieses verschlungenen und mit in die zunächst freilich ebenfalls nur Verzögerungen verbundenen Weges hat die nach altem Reichsrecht anerkann- der RDH auch für ein neues Verständ- ten Bekenntnisse einbezogen waren. nis der Rolle der Kirchen und ihrer Unabhängigkeit erhebliche Bedeutung gehabt.5 Mit dem Fortfall der geist- 4. Wandlungen lichen Fürstentümer schieden Amts- der Rolle der Kirche träger der römisch-katholischen Kirche, die geistlichen Reichsfürsten, als un- Dies waren jedoch allein Garantien zu mittelbare Akteure auf der verfassungs- Gunsten des Individuums. Während politischen Ebene für das Reich und heute die Religionsfreiheit des Art. 4 später den Deutschen Bund aus. Stände Abs. 1 und 2 GG auch den Kirchen und des Heiligen Römischen Reiches, Staa- Auswirkungen der Säkularisation auf das Staatskirchenrecht 55 ten des Deutschen Bundes und des durch Reichsstände repräsentiert wer- auch noch sehr bündisch geprägten den. Vielmehr hat das Staatskirchen- Kaiserreiches waren nur weltliche recht die Aufgabe, das Verhältnis des Inhaber territorialer Herrschaft und Staates zu den Religionsgemeinschaften freie Städte. Die Akteure der Verfas- gerade in ihrer Funktion als solchen zu sungspolitik sind Inhaber von Terri- regeln. torialgewalt bzw. später Souveränität. Der Reichskirche zuzurechnende In- Ausdruck des gewandelten Verständ- haber von Territorialgewalt oder Sou- nisses im Sinne eines Gegenüber von veränität gab es nach der Herrschafts- Staat und Kirche ist auch die neue säkularisation nicht mehr. Damit sitzen Bedeutung konkordatärer Vereinba- Repräsentanten der Kirche bei der rungen zwischen Staat und Kirche zu Diskussion um die Reichsverfassung Beginn des 19. Jahrhunderts, die im nicht mehr am Verhandlungstisch bzw. napoleonischen Konkordat von 1801 verhandeln insofern mit den Souve- ihr Vorbild haben. Für Deutschland ist ränen nicht mehr auf gleicher Au- an erster Stelle das Bayerische Kon- genhöhe. Was für die evangelischen kordat von 1817 zu nennen. Daneben Landeskirchen unter dem landes- sind auch die Bistumsverhältnisse in herrlichen Kirchenregiment bereits protestantischen Staaten auf der vorher galt, wird auch auf die katho- Grundlage von Vereinbarungen mit lische Reichskirche ausgeweitet. dem Heiligen Stuhl geregelt worden. Sie wurden aber nicht formell durch Damit entfiel die eigentümliche Macht- Konkordate, sondern durch päpstliche position der Kirche in diesem Bereich. Circumskriptionsbullen („de salute Umgekehrt bedeutete dies allerdings animarum“ von 1821 für Preußen, auch, dass die Kirche in der Reichs- „Impensa Romanorum Pontificum“ verfassungspolitik nicht mehr durch, von 1824 für Hannover; „Provida wenn auch geistliche, Reichsfürsten mit sollersque“ von 1821 für die Ober- ihren spezifischen, auch dynastischen rheinische Kirchenprovinz)6 festgelegt Interessen vertreten wurde. Damit sind und mit staatlicher „Billigung und aber auch kirchliche Interessen und Sanktion“ umgesetzt, nicht ohne Kon- Territorialinteressen nicht mehr mit- flikte und Schwierigkeiten im Einzel- einander verbunden. Daher kann die fall.7 geistliche Funktion der Kirche, ihre Eigenschaft als Religionsgemeinschaft, In vielen weiteren Hinsichten sind die umso mehr in den Vordergrund treten. Säkularisationen für die innere Ord- Ihre politischen Interessen und ihre nung der Katholischen Kirche – und politische Legitimation sind inhaltlich damit für das Substrat des Staatskir- auf kirchlich-religiöse Aspekte zentriert. chenrechtes – von entscheidender Davon ist unsere Grundvorstellung Bedeutung gewesen. Hier soll nur vom Staatskirchenrecht auch heute pauschal auf den Wandel der sozialen geprägt. Wir verstehen das Staatskir- Zusammensetzung des Klerus verwie- chenrecht nicht als Regelung der Be- sen werden, nachdem die Reichskirche ziehung zweier Mächte mit territoria- ihre Funktion als Versorgungsanstalt lem Gewicht. Es ist nicht Ausgleichs- für die nachgeborenen Söhne fürstli- ordnung von „Religionsparteien“, die cher Häuser und für den sonstigen Adel 56 Heinrich de Wall verloren hatte. Ebenso pauschal ver- (1648) geregelt worden, die als wiesen sei auf die bereits erwähnte „Reichsgrundgesetze“ bezeichnet wur- Neuordnung der Bistumsorganisation den. Wesentliche Rechte fielen dabei im 19. Jh. und vor allem auf die aber gerade den Territorialherrschern ebenfalls durch die Säkularisation zu. Kernbestand des Staatskirchen- begünstigte Hinwendung des deut- rechts, wenn man diesen Begriff ein- schen Katholizismus zum Heiligen mal übertragen möchte, ist gerade das Stuhl und den darauf beruhenden er- bei den Landesherren liegende ius heblich erweiterten Einfluss des Hei- reformandi gewesen. Davon abgesehen ligen Stuhles auf die kirchlichen Ver- endete die Enthaltsamkeit der Zen- hältnisse in Deutschland. All dies wirkt tralebene in staatskirchenrechtlichen natürlich auch auf das heutige Staats- Fragen mit der Weimarer Reichsver- kirchenrecht fort. fassung. Zwar treten als Verhandlungs- partner der Kirchen und Religionsge- meinschaften in erster Linie nicht der 5. Kompetenzrechtliche Folgen Zentralstaat, sondern die Länder auf. der Säkularisationen Das gilt aber nicht ausschließlich, wie das Reichskonkordat von 1933 zeigt Als Wirkung der Säkularisation und der und wie sich erst neulich beim Ab- übrigen Regelungen des Reichsdeputa- schluss des Vertrages des Bundes mit tionshauptschlusses kann auch das dem Zentralrat der Juden wieder er- Ende des Reichskirchenrechts als Staats- wiesen hat. Vor allem aber sind in den kirchenrecht auf Reichsebene gesehen Regelungen der WRV und des Grund- werden.8 Die Kompetenz für das Staats- gesetzes die wichtigsten Rahmenda- kirchenrecht ist mit bis heute andau- ten für das Staatskirchenrecht gesetzt. ernder Wirkung auf die Territorien, die Insofern ist die Kompetenz der Länder Einzelstaaten bzw. die Länder über- im geltenden Recht doch erheblich gegangen. Allerdings gilt dies nur mit eingeschränkt. Einschränkungen. So sieht etwa § 62 des Reichsdeputationshauptschlusses eine neue Diözesan-Einrichtung durch 6. Die vermögensrechtlichen Reichsgesetz vor, wozu es allerdings Fortwirkungen der Säkulari- nicht gekommen ist. Die eigentliche sation „Übertragung“ der staatskirchenrecht- lichen Kompetenzen auf die Bundes- 6.1 Säkularisation und staaten wird erst in der deutschen Staatsleistungen Bundesakte von 1815 deutlich, die sich insofern der Regelungen fast voll- Die konkretesten Auswirkungen der ständig enthält. Freilich lag auch im Säkularisation im Staat-Kirche-Verhäl- Alten Reich die Regelung der Fragen, tnis mit bis heute reichenden Nach- die wir heute dem Staatskirchenrecht wirkungen sind vermögensrechtlicher zurechnen würden, durchaus nicht Art.9 Dass nicht nur Herrschaftsrech- ausschließlich auf der Reichsebene. te, sondern auch das Vermögen der Zwar sind die konfessionellen Streitig- geistlichen Fürstentümer auf den je- keiten durch die Frieden zu Augsburg weils begünstigten Staat übergehen (1555) und zu Osnabrück/Münster sollten, wird in einer Reihe von Auswirkungen der Säkularisation auf das Staatskirchenrecht 57

Vorschriften des Reichsdeputations- Ausstattung der Domkirchen, welche hauptschlusses angeordnet. Neben die- werden beibehalten werden, und sen unmittelbar angeordneten Säku- der Pensionen für die aufgehobene larisationen enthielt der RDH eine weit Geistlichkeit“. Während der Unterhalt gehende Ermächtigung für weitere der aufgehobenen Geistlichkeit sich Säkularisationen. § 35 ermöglichte es nur auf die unmittelbar betroffenen nämlich den Territorialherren, die Personen bezog und daher mit deren „Güter der fundierten Stifter, Abteien Ableben auch keine staatliche Ver- und Klöster und zwar sowohl in den pflichtung mehr bestand, ist der Vor- alten als auch in den neuen Besit- behalt der „festen und bleibenden zungen“ der entschädigten Territorial- Ausstattung der Domkirchen“ Grund- herren, und sowohl katholischer als lage für fortdauernde staatliche Leis- auch evangelischer Konfession, sofern tungspflichten geworden, z.B. in Form über sie nicht unmittelbar im RDH ver- von Dotationen für Bischöfe und fügt wurde, zu enteignen. Dadurch Domkapitel. Deren Umfang ist etwa im wurde das nicht reichsunmittelbare Bayerischen Konkordat von 1817 auf Kirchengut mit Ausnahme des Ver- vertraglicher Basis geregelt worden. mögens der einzelnen Pfarrkirchen, das Entsprechende Regelungen sind auch durch § 63 RDH geschützt war, dem in den genannten Vereinbarungen über Zugriff der Territorialherren freige- die Bistumszirkumskription getroffen geben. Davon haben sie intensiven worden. Dadurch sind die zu Grunde Gebrauch gemacht. Als besonders ra- liegenden Verpflichtungen des Reichs- biat war dabei die bayerische Säku- deputationshauptschlusses umgesetzt larisationspolitik bekannt.10 Die zur und erneuert worden. Sie wurden in Säkularisation freigegebenen Güter Bayern durch das spätere Bayerische werden in § 35 RDH „der freien und Konkordat von 1924 und entspre- vollen Disposition der respektiven chende gesetzliche Regelungen den Landesherren, sowohl zum Behuf des veränderten wirtschaftlichen und recht- Aufwandes für Gottesdienst und andere lichen Bedingungen angepasst. gemeinnützige Anstalten als zu Erlei- chterung ihrer Finanzen überlassen“. Die Säkularisationen sind Grundlage Sie durften also durchaus zu fiskali- für zahlreiche Leistungsverpflichtungen schen Zwecken enteignet werden. geworden. Ihre Vielfalt und die erheb- Dabei gingen freilich, auf der Grund- lichen Schwierigkeiten bei der Ermitt- lage verschiedener Vorschriften, die lung der Leistungsverpflichtungen ha- Lasten des enteigneten Vermögens ben dazu geführt, dass in vertragli- ebenfalls auf den Staat über. Der chen Abmachungen seit dem 19. Jahr- Umfang und die Art der überge- hundert bis in die jüngste Zeit solche gangenen Verpflichtungen waren und Leistungen pauschaliert wurden. Der sind aber umstritten. Dennoch liegt u.a. Reichsdeputationshauptschluss hat je- hier eine Wurzel für den Übergang von denfalls heute kaum noch unmittel- Kirchenbaulasten oder von Verpflich- bare Bedeutung für das Staatskir- tungen zur Hilfe bei der Besoldung von chenrecht. Dennoch ist er historische Geistlichen auf den Staat. Überdies Grundlage für Leistungsverpflichtun- enthält § 35 RDH den „bestimmten gen des Staates, deren Ablösung die Vorbehalt der festen und bleibenden Weimarer Reichsverfassung in Art. 138 58 Heinrich de Wall

Abs. 1 zwar zum Auftrag gemacht hat, Kirchensteuer besteht freilich nicht. die aber mangels des ebenfalls in der Auch dies muss betont werden, denn WRV dafür vorgesehenen Reichsgesetzes bisweilen wird argumentiert, dass die bzw. heute Bundesgesetzes bis heute Kirchen schon durch die Einführung fortbestehen, wie dies auch in Art. 173 der Kirchensteuern für die Säkulari- WRV angeordnet wurde. Freilich be- sationen entschädigt seien. Dem ist ruhen die heutigen Staatsleitungen entgegenzuhalten, dass es bereits an keinesfalls ausschließlich auf den einem zeitlichen Zusammenhang zwi- Säkularisationen. Insbesondere Staats- schen den Säkularisationen und der leistungen an die evangelischen Kirchen Einführung der Kirchensteuer fehlt. Es beruhen auch auf dem Vorgang der fehlt allerdings auch an einen un- Trennung der Kirchen vom Staat, bei mittelbaren sachlichen Konnex. Die dem der Staat sich nicht gleichsam kirchlichen Einnahmen insgesamt, ohne Kompensation seiner Aufgaben zu nicht nur die von der Säkularisation Lasten der Kirche entledigen wollte. betroffenen, unterlagen im 19. Jh. vielfältigen Reformen, wurden abge- löst oder sogar abgeschafft, einge- 6.2 Die Kirchensteuer schränkt bzw. verloren auf Grund veränderter wirtschaftlicher Umstände Als Fortwirkung der Säkularisation ihren Wert.11 Im Anbetracht der auf im heutigen Staatskirchenrecht kann der anderen Seite erheblich gestiege- in einem sehr weiten Sinne auch die nen Anforderungen bedurfte daher die Einführung der Kirchensteuer im Ver- Finanzierung der kirchlichen Aufgaben laufe des 19. und 20. Jh. verstanden einer neuen und erweiterten Grundlage werden. Wegen des Verlustes erheb- – unabhängig von den Säkularisatio- licher Vermögensgüter und der damit nen, denen ja immerhin die bereits verbundenen Einnahmen stellte sich erwähnten Leistungspflichten des Staa- die Aufgabe, die Kirchenfinanzierung tes gegenüberstanden. Vor diesem Hin- auf eine neue Grundlage zu stellen. Da tergrund ist dann die sukzessive und infolge des Bevölkerungswachstums zum Teil sich noch lang hinziehende und erheblicher Bevölkerungswande- Einführung der Kirchensteuer zu ver- rungen sowie wegen eines gewandel- stehen. Sie ist daher keinesfalls als ten Verständnisses über den Umfang Ersatz für säkularisiertes Kirchenver- kirchlicher Aufgaben der Finanzbe- mögen zu verstehen, noch weniger darf erheblich stieg, war es nur zu ver- vermag ihre Einführung den Charakter ständlich, dass der Staat, der die Lasten einer Quasiablösung von Staatsleis- der Kirchenfinanzierung in erheb- tungen zu gewinnen. lichem Maße zu tragen hatte, diese auf eine neue Grundlage stellen wollte. Es Weitere Fortwirkungen der Säkularisa- war nahe liegend, die Kirchen auch tionen vermögensrechtlicher Art ließen durch finanzielle Beiträge ihrer eigenen sich ergänzen. Erwähnt sei hier nur der Mitglieder zu finanzieren und diese in Wandel des Schutzes des Kirchen- Form einer Steuer aufzuerlegen. gutes.12 Art. 138 Abs. 2 WRV, der wie Art. 138 Abs. 1 WRV gem. Art. 140 GG Ein unmittelbarer Zusammenhang zwi- auch weiterhin gilt, verhindert heute schen den Säkularisationen und der Säkularisationen. Allerdings schützt er Auswirkungen der Säkularisation auf das Staatskirchenrecht 59 das Kirchengut in seiner spezifischen mehr von unmittelbar staatskirchen- Funktion für Kultus-, Unterrichts- und rechtlicher Relevanz, sie prägt aber des Wohltätigkeitszwecke und nicht all- personelle und sachliche Umfeld, die gemein. Das übrige Vermögen der Regelungsgegenstände des Staatskir- Kirchen wird vielmehr – wie das Ver- chenrechts. Ein anderes Beispiel für mögen aller Bürger – durch Art. 14 GG solche Wirkungen ist der Bereich der vor entschädigungsloser Enteignung Wohlfahrtspflege. Mit der Säkularisa- geschützt. Diese Teilung beruht auch tion der Stifte und Klöster und mit der auf dem durch die Säkularisation mit- Verstaatlichung mildtätiger Stiftungen verursachten Wandel der Stellung der mussten die durch diese wahrge- Kirchen, die, wie erwähnt, auf der poli- nommenen Aufgaben der Pflege sozial tischen Bühne nunmehr gerade in ihrer Bedürftiger neu geregelt werden und spezifischen Rolle als Religionsgemein- gingen zum Teil in die Sorge des Staates schaften gesehen wurden. Darin spie- über. Zu einem anderen Teil wurden sie gelt sich Gedankengut der Aufklä- durch Anfänge des wohltätigen Ver- rung. einswesens übernommen. Die beson- dere, vereinsmäßige Organisation der kirchlichen Wohlfahrtspflege fußt 7. Fortwirkungen der auf Entwicklungen und historischen Säkularisation im Kultur- Voraussetzungen, zu denen auch die und Sozialwesen Säkularisationen gehören.

Ganz erhebliche Auswirkungen hatten Die genannten Beispiele, denen sich die Säkularisationen im Gefolge des weitere hinzufügen ließen, verdeut- Reichsdeputationshauptschlusses auch lichen, dass unser Staatskirchenrecht auf den Bereich der Kultur.13 Das reicht auf einem Erbe beruht, zu dem auch von der Übernahme der Archive säku- der Reichsdeputationshauptschluss und larisierter kirchlicher Einrichtungen die Säkularisationen gehören. Heute durch den Staat über die Tatsache, dass sind diese Fortwirkungen allerdings zahlreichen Domschulen nunmehr die eher mittelbarer Natur. Insofern teilen materielle Grundlage entzogen wurde, auch die Säkularisationen das Schicksal bis hin zur Verhökerung und Zer- aller historischen Vorgänge, nämlich störung unermesslicher Kunstschätze. dass sie Historie sind. Die Vergan- Das katholische Bildungswesen gehört genheit ist zwar in vielem noch ge- zu den Hauptleidtragenden der Säku- genwärtig, man kann aber die gegen- larisationen und ihrer Nachwirkun- wärtigen Zustände, auch im Staats- gen. So wurden in der Folge achtzehn kirchenrecht, nicht allein auf einen katholische Universitäten aufgehoben, bestimmten historischen Vorgang zu- verlegt, umgewandelt oder verloren rückführen. Das ändert jedoch nichts ihren Charakter als katholische Uni- daran, dass die Säkularisationen unser versität. Die Auflösung der katholi- Staatskirchenrecht erheblich beeinflusst schen Universitäten ist zwar nicht haben. 60 Heinrich de Wall

Anmerkungen 1 Im Anbetracht der Fülle der Literatur sind deputationshauptschluss vom 25. Februar die Angaben hier sehr selektiv gehalten. 1803 und seine Bedeutung für Staat und Allgemein zum Thema Strätz, Hans- Kirche, Tübingen 1969, S.96–100. Wolfgang: Die Säkularisation und ihre 6 Alle wieder gegeben bei Huber, Ernst nächsten staatskirchenrechtlichen Folgen, Rudolf/Huber, Wolfgang (Hrsg.): Staat in: Albrecht Langner (Hrsg.), Säkulari- und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, sation und Säkularisierung im 19. Jahr- Bd.I, Berlin 1973, S.170, 204, 246, 299. hundert, München, Paderborn, Wien 7 Ebd., Bd.I, S.257ff. 1978, S.31–62; Hömig, Klaus Dieter: Der 8 Krings, Günter: Das Alte Reich am Ende Reichsdeputationshauptschluss vom 25. – der Reichsdeputationshauptschluss Februar 1803 und seine Bedeutung für 1803, Juristenzeitung 2003, S.177; Strätz, Staat und Kirche, Tübingen 1969. Hans-Wolfgang: Die Säkularisation, S.43. 2 Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfas- 9 Dazu ausführlich Hömig, Klaus Dieter: sungsgeschichte seit 1789, Bd.1, 1957, Der Reichsdeputationshauptschluss vom S.40–61 (43). 25. Februar 1803, S.100ff. 3 S. Heckel, Martin: Das Problem der „Säku- 10 Schmiedl, Joachim: Vor und Nach dem larisation“ in der Reformation, in: Irene Reichsdeputationshauptschluss, in: Rolf Crusius (Hrsg.), Zur Säkularisation Decot (Hrsg.), Säkularisation der Reichs- geistlicher Institutionen im 16. und im kirche 1803, Mainz 2002, S.87–105 mit 18./19. Jahrhundert, Göttingen 1996, weiteren Nachweisen. S.31–56; Klueting, Harm: Enteignung 11 Hammer, Felix: Rechtsfragen der Kir- oder Umwidmung? Zum Problem der chensteuer, Tübingen 2002, S.30–34. Säkularisation im 16. Jahrhundert, ebd., 12 Heckel, Johannes: Kirchengut und Staats- S.57-83; Brendle, Franz: Säkularisationen gewalt (1952), in: ders., Das blinde, un- in der Frühen Neuzeit, in: Rolf Decot deutliche Wort „Kirche“, 1964, S.341ff.; (Hrsg.), Säkularisation der Reichskirche Hömig, Klaus Dieter: Der Reichsdepu- 1803, Mainz 2002, S.33–55 mit weiteren tationshauptschluss vom 25. Februar Nachweisen. 1803, S.100–105. 4 Dazu Strätz, Hans-Wolfgang: Die Säku- 13 Dazu nur Raab, Heribert: Auswirkungen larisation, S.48–50; Hömig, Klaus Dieter: der Säkularisation auf Bildungswesen, Der Reichsdeputationshauptschluss vom Geistesleben und Kunst im katholischen 25. Februar 1803, S.91–100. Deutschland, in: Albrecht Langner 5 S. dazu Hömig, Klaus Dieter: Der Reichs- (Hrsg.), Säkularisation, S.63–95. Postmoderne als Korrekturversuch der Säkularisierung?

Roland Pietsch

Der Mensch der „modernen“ Ge- auflösung. Angesichts dieser be- genwart ist in eine tiefe Sinnkrise drohlichen Prozesse spricht man schon geraten, aus der er verzweifelt nach seit längerem vom Ende der Ge- Auswegen sucht. Die Geschichte dieser schichte, vom Ende der Neuzeit, vom Krise beginnt mit der europäischen Ende der Moderne, von Spätmoderne Aufklärung und den sie begleitenden und Postmoderne und versucht, die Säkularisierungsprozessen. Diese Pro- ideologischen Voraussetzungen der zesse „sind nicht nur Prozesse der Modernisierungsprozesse zu ergrün- gesellschaftlichen Entmächtigung und den und ihre Folgen darzustellen und Auflösung traditioneller Religionsfor- zu erklären. Innerhalb dieser Versu- men, sie entpuppen sich immer mehr che, namentlich in der Postmoderne- auch als Prozesse der Entmächtigung Bewegung, ist inzwischen das Scheitern und Auflösung des Menschen, wie er und damit das Ende des Projekts der uns bisher vertraut und anvertraut war Moderne verkündet worden. Mitten und wie ihn die Aufklärung unbe- in diesen ideologischen Um- und Zu- schädigt unterstellen konnte. Immer sammenbrüchen gibt es aber Bemü- weniger, so scheint es heute, ist dieser hungen, die nihilistische Sinnkrise der Mensch noch sein eigenes Gedächtnis, Gegenwart durch Rückkehr zur Reli- immer mehr nur noch sein eigenes gion zu überwinden. Diese Rückkehr Experiment. Alles wird technisch re- darf jedoch nicht als Beseitigung der produzierbar, am Ende auch der produ- durch die Aufklärung erlangten Frei- zierende Mensch selbst. Die europäi- heitsrechte des Menschen missver- schen Modernisierungsprozesse ma- standen werden, sondern vielmehr als chen, wo sie sich undialektisch einem ihre Verankerung in der Religion. Eine vermeintlichen Stufengang des Fort- Rückkehr zur Religion ist indessen schritts überlassen, den Menschen in nicht möglich ohne eine Korrektur an seinem Subjektsein, in seinen zwi- den durch die Aufklärung bewirkten schenmenschlichen Beziehungsfähig- Säkularisierungsprozessen. Um in der keiten und seinem Geschichtsbe- hier gebotenen Kürze die Frage be- wusstsein nicht eigentlich stärker, antworten zu können, ob sich in sondern schwächer“1 und führen ihn der Postmoderne Ansätze für einen letztendlich in eine nihilistische Selbst- Korrekturversuch der Säkularisierung

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 62 Roland Pietsch finden, muss zuerst der Begriff der Ideologie verwindet“4 und auf diese Postmoderne geklärt und jene post- Weise ein neues Verständnis der moderne Hauptrichtung kurz aufge- Gesamtwirklichkeit schaffen will. Als zeigt werden, in der die Vorausset- wichtigste Vertreter dieser Richtung zungen für eine mögliche Korrektur der gelten Peter Koslowski und mit Ein- Säkularisierung gegeben sind. Außer- schränkungen auch Robert Spaemann. dem ist es notwendig, die vielfältigen Dem postmodernen Essenzialismus Bedeutungen von Säkularisierung kurz geht es „um die Wiedergewinnung der zu erklären. gesamten geistigen Vermögen und Wissensformen des Menschen, die über die kommunikative Kompetenz und 1. Über den Begriff die analytische Vernunft hinausge- der Postmoderne hen“.5 Dazu gehört die gesamte Tra- dition, die auch das Erbe der Antike Der aus der Literaturwissenschaft und und des Mittelalters umfasst. Der post- Architektur stammende Begriff Post- moderne Essenzialismus „nimmt die- moderne2 wird in vielen verschiedenen ses Erbe auf nach dem Durchgang und zum Teil sogar widersprüchlichen durch die Moderne und ihr Prinzip der Bedeutungen verwendet und hat bisher Subjektivität und individuellen Frei- noch keine eindeutige klare Bestim- heit. Postmodern ist der philosophische mung gefunden. Mit dieser Unbe- Essenzialismus, weil er die Trennun- stimmtheit hängt auch seine weit- gen und Ausdifferenzierungen der gehend beliebige Verwendung und Moderne, das Schlechte, was Kunst, Verwendbarkeit zusammen. Trotzdem Wissenschaft und Religion in ihrer gibt es auch Versuche, das Phänomen Isolierung voneinander hervorgebracht der Postmoderne genauer zu beschrei- haben, nicht als das letzte Wort, son- ben. Im Wesentlichen können in der dern als eine zu überwindende Fehl- philosophischen Postmoderne-Diskus- entwicklung ansieht, der eine neue sion zwei Hauptrichtungen unter- Integration dieser drei Bereiche des schieden werden: die anarcholiberale Geistigen in der Lebenswelt entgegen- dekonstruktivistische Richtung und die gesetzt werden muss“.6 essenzialistische Richtung, die auch als postmoderner Essenzialismus oder Schließlich ist auch die Bewahrung der Neoaristotelismus bezeichnet wird.3 Menschenrechte und der Rechtsstaat- lichkeit, die zu den großen Errungen- Während die dekonstruktivistische schaften der Moderne gehören, eine Postmoderne, die vor allem von fran- wichtige Aufgabe des postmodernen zösischen Denkern vertreten wird, die Essenzialismus. Weil von allen post- gesamte abendländische Metaphysik modernen Richtungen allein der post- durch eine radikale Übersteigerung der moderne Essenzialismus die Moderne (Aufklärungs-) Moderne niederreißen als Ideologie und damit auch die Sä- will, strebt der postmoderne Essen- kularisierung kritisiert und zu „über- zialismus durch Überwindung der winden“ strebt, ist er Grundlage und dekonstruktivistischen Position „zu Ausgangspunkt für die Beantwortung einem essenzialistischen Begriff von der Frage, ob in der Postmoderne An- Postmodernität, der die Moderne als sätze für eine Korrektur der Säkula- Postmoderne als Korrekturversuch der Säkularisierung? 63 risierung enthalten sein könnten. Bevor chengeschichtlichen Begriff der ‚Ver- diese Ansätze aufgezeigt werden, zu- weltlichung' in seinen ‚Vorlesungen nächst noch einige kurze Anmer- über die Geschichte der Philosophie' kungen zum Begriff Säkularisierung. bei der Darstellung der mittelalterlichen Kirche: Sie ist ganz weltlich geworden und hat dadurch den Unterschied des 2. Über den Begriff Göttlichen und Weltlichen ausgegli- der Säkularisierung chen, aber nicht auf eine vernünftige Weise, sondern für die Kirche auf eine Der Begriff der Säkularisierung bzw. Weise, welche Verdorbenheit ist. Dem Säkularisation hat vielfache Bedeutun- entspricht das Versagen der Scholastiker gen.7 Im Grunde genommen können gegenüber der durch die Geschichte drei Hauptbegriffe von Säkularisierung gestellten Aufgabe. Sie haben den bzw. Säkularisation unterschieden kirchlichen Lehrbegriff einerseits tief werden. 1. Säkularisierung ist ursprüng- behandelt, ihn andererseits durch ganz lich ein Begriff des kanonischen Rechts, ungeeignete äußerliche Verhältnis- der den Übergang vom Status des Or- se verweltlicht ..., sodass hier der densgeistlichen zum Status des Welt- schlechteste Sinn der Weltlichkeit ist, geistlichen regelt. Dieser Begriff hat den man nehmen kann. Durch die dann 2. eine Erweiterung zum staats- Anwendung endlicher Prinzipien auf kirchenrechtlichen Begriff erfahren, der einen unendlichen Inhalt wurde die die rechtmäßige oder unrechtmäßige übersinnliche Welt ruiniert, dies führte Überführung von geistlichem Eigentum zur Verweltlichung des an und für sich und Hoheitsrechten in weltlichen Be- seienden, absoluten Inhalts. Erst in der sitz zum Gegenstand hat. Außerdem neueren Zeit, beginnend mit der gibt es 3. einen geisteswissenschaft- Reformation, ist es gelungen, die das lichen bzw. geschichtsphilosophischen Mittelalter kennzeichnende Entzwei- Begriff von Säkularisierung, der sich ung aufzuheben und die Idee zur auf das Phänomen der Verweltlichung Versöhnung mit der Wirklichkeit zu (Entchristlichung) und das Selbstver- führen. Das Prinzip der Freiheit tritt in ständnis der Moderne bezieht, und in die Wirklichkeit ein und vollendet so dieser Bedeutung wird er auch in der die Realisierung des Geistigen zur Frage nach seiner postmodernen Kor- allgemeinen Wirklichkeit. – Auch in rektur angewendet. seiner ‚Philosophie der Geschichte' zeigt Hegel, wie sich das christliche Dieser Begriff hat vielfältige Ausprä- Prinzip zum Prinzip der Welt entwickelt gungen erfahren. Von Verweltlichung und wie sich die Wahrheit der christ- im Sinne einer Fehlentwicklung der lichen Lehre in die Welt hineinbildet.8 mittelalterlichen Kirche und ihrer Scholastik ist bereits in der protes- Diese Verweltlichung ist, so inter- tantischen Kirchengeschichtsschrei- pretiert Carl Ludwig Michelet die bung des 18. Jahrhunderts die Rede. Geschichtsphilosophie seines Lehrers Eine geschichtsphilosophische Bedeu- Hegel, „die vollendete Realisierung des tung hat dieser Begriff im 19. Jahr- im Menschengeschlecht enthaltenen hundert bei Hegel bekommen. Zu- göttlichen Begriffs, auf dass die Einheit nächst befasst er sich mit dem kir- der menschlichen und göttlichen Natur 64 Roland Pietsch in ewiger Gegenwart erscheine“.9 In dung in ihren unheiligen Gestalten dieser Einheit hat für Michelet die aufgedeckt werden. Die Kritik des Philosophie offensichtlich ihren Zweck Himmels verwandelt sich damit in die erreicht, denn „in dieser Einsicht findet Kritik der Erde, die Kritik der Religion der Geist seine Befriedigung und in die Kritik des Rechts, die Kritik der Versöhnung mit der Wirklichkeit. Er Theologie in die Kritik der Politik.“11 weiß, dass, was geschieht, nicht nur nicht ohne Gott geschieht, sondern Der Begriff der Verweltlichung bzw. dessen eigene Verwirklichung ist. Säkularisierung bezeichnet sowohl bei Durch diese Erkenntnis ist die Zeit Feuerbach als auch bei Marx den Vor- getilgt, und der Himmel zur Erde gang der Emanzipation des Menschen herabgestiegen: der Einzelne aber darin von Religion und Theologie und kann des ewigen seligen Lebens gewiss.“10 deshalb auch als religionskritische Emanzipationskategorie bezeichnet Während Hegel und Michelet noch am werden. Dieser Säkularisierungsbegriff Bezug zwischen moderner Welt und liegt auch dem Projekt der Moderne, ihrer christlichen Herkunft festhalten das von Jürgen Habermas mit der und die Moderne als verweltlichende Aufklärung gleichgesetzt wird, zu Verwirklichung der christlichen Subs- Grunde. tanz verstehen, wenden sich die Links- hegelianer Ludwig Feuerbach und Karl Marx gegen Hegel und werfen ihm vor, 3. Postmoderne Ansätze die Verweltlichung nicht konsequent zur Korrektur der zu Ende gedacht zu haben. Feuerbach Säkularisierung stellt fest, dass Hegel die theologischen Inhalte zwar rationalisiert habe, aber Grundlegende Voraussetzung für mög- diese Inhalte seien trotzdem immer liche Korrekturversuche an der Säku- noch eine Theologie. Er fordert des- larisierung als geisteswissenschaftlicher halb die Fortsetzung der Verweltlichung Interpretationskategorie ist vor allem durch radikale Enttheologisierung und eine gründliche Kritik der Moderne, die vollständige Auflösung der Theo- deren Kennzeichen ja unter anderem logie in Anthropologie. auch die Säkularisierung ist oder die sogar mit der Säkularisierung gleich- Und Karl Marx „fordert die Überwin- gesetzt werden kann. dung des durch die Religion ver- mittelten falschen Selbstbewusstseins Eine Kritik an der Moderne setzt eine des Menschen. Er versteht den Kampf Klärung dessen voraus, was Moderne gegen die Religion mittelbar als Kampf bedeutet. Peter Koslowski spricht von gegen jene Welt, deren geistiges Aroma drei Begriffen der Moderne, und Robert die Religion ist. Er bezeichnet es als Spaemann führt sieben Kennzei- Aufgabe der Geschichte, nachdem das chen an, die das moderne Bewusst- Jenseits der Wahrheit verschwunden sein oder die Modernität charakte- ist, die Wahrheit des Diesseits zu risieren. Der erste Begriff von Moder- etablieren. Nachdem die Heiligengestalt ne, den Koslowski nennt, bezieht sich der menschlichen Selbstentfremdung auf das christliche Saeculum, das im entlarvt ist, muss die Selbstentfrem- Gegensatz zur heidnischen Antike das Postmoderne als Korrekturversuch der Säkularisierung? 65 neue Zeitalter der christlichen Heils- ferenz des Supernaturalen zum nur geschichte bezeichnet. Der zweite Be- Naturhaften, keine Differenz zwischen griffe der Moderne setzt im Wesent- Gott und Welt. Die Weltgeschichte ist lichen die Epoche der Moderne der vielmehr für die Moderne der radikal Epoche der Neuzeit gleich. Während verweltlichte Gott. Weil die Weltge- diese beiden Begriffe von Moderne für schichte das Weltgericht und die letzte eine postmoderne Kritik ohne Belang Instanz ist, weil allein der Erfolg in der sind, wird der dritte Begriffe der Mo- Geschichte zählt, ist der Erfolg der derne Gegenstand einer ausführlichen wahre Gott der Moderne.“13 Die Mo- Kritik. Dies ist der ideologische Begriff derne in diesem Sinne „ist die voll- der Moderne als „Projekt der Moderne“. ständige Verweltlichung des Göttli- chen und Supernaturalen, das Absolute Dieses Projekt wird von Jürgen ist in der absoluten Logik Hegels Habermas mit dem Programm der vollständig immanentisiert und dem Aufklärung gleichgesetzt. „Es besteht Fortschreiten der Dialektik unter- ihm zufolge in dem vollständigen worfen. Die Dialektik als Grundprin- Reflexivwerden von Tradition. In dieser zip der Moderne erzeugt ein stähler- Totalreflexion der Moderne habe nichts nes Gehäuse und ehernes Entwick- mehr naturwüchsig Geltung, sondern lungsgesetz der Geschichte, das weder alles rechtfertige sich vor der dis- dem Absoluten noch der menschlichen kursiven Vernunft. Vernunft werde Individualität es noch erlaubt, sich zum Äquivalent für die vereinigende gegen die absolute Logik des Prozesses Kraft der Religion. Die Vernunft tritt zu behaupten.“14 hier als die Göttin der Moderne wie der Aufklärung auf.“12 Dieses stählerne Gehäuse der Mo- derne, das mit der Säkularisierung Habermas steht damit in der Nachfolge gleichgesetzt werden kann, wird von eines linkshegelianisch reduzierten der Postmoderne radikal in Frage Hegel. „'Die Moderne' als Programm ist gestellt. Der postmoderne Essenzialis- der Hegelianismus in seinen verschie- mus Koslowskis zeigt einen Ausweg denen Ausprägungen als Lehre vom in und damit auch eine Korrektur an der und an der Welt werdenden Absoluten. Säkularisierung an, indem er die Die Moderne ist das Projekt einer voll- Rückkehr zur Philosophie Franz von ständigen Immanentisierung und Ver- Baaders fordert, der mit seiner Hegel- geschichtlichung Gottes beziehungs- Kritik „ein Potenzial der Moderni- weise des Absoluten in der Welt. Die tätskritik (darstellt), das für die ge- Weltgeschichte wird nicht nur zum genwärtige Diskussion über das Ende Weltgericht, sondern zum Prozess der der Moderne und die Anfänge der Post- Theogonie, zum Prozess der Gott- (Nach-)Moderne fruchtbar gemacht werdung, wie Ludwig Feuerbach es werden kann“.15 formulierte. Die Weltgeschichte ist das werdende Absolute und der absolute Ein anderer wichtiger Vertreter des Maßstab des Guten und Bösen. Es gibt postmodernen Essenzialismus ist Ro- keine Differenz zu diesem Prozess bert Spaemann, der sich aber selbst mehr, keine Differenz des Individuums nicht als postmodernen Denker aus- Mensch zur Menschheit, keine Dif- gegeben hat. Er untersucht und kri- 66 Roland Pietsch tisiert das moderne Bewusstsein oder Mit Verankerung in Einsichten von die Moderne aus der Perspektive der weiterher meint Spaemann eindeutig christlichen Religion und ihres Wahr- die Rückkehr zur christlichen Religion. heitsanspruchs. „Das moderne Bewusst- Diese Rückkehr bewirkt eo ipso auch sein, die moderne Kultur befindet sich eine Korrektur der Säkularisierung. im Verhältnis zum Christentum in Spaemann charakterisiert die Moderne einer besonderen schwierigen und durch sieben Kennzeichen: zweideutigen Lage. Sie ist nicht so- zusagen unschuldig-heidnisch mit dem ● Freiheit als Emanzipation, Evangelium konfrontiert, sondern sie ● Mythos vom notwendigen und ist einerseits Produkt des Christentums, unendlichen Fortschritt, andererseits aber der Emanzipation ● progressive Beherrschung der Natur, vom Christentum. Aber auch diese ● Objektivismus, Emanzipation ist nur eine halbe.“16 ● Homogenisierung der Erfahrung, Diese Emanzipation ist ein Kenn- ● Hypothetisierung, zeichen jenes Säkularisierungspro- ● naturalistischer Universalismus. zesses, der mit der europäischen Aufklärung beginnt. Sie ist ein Kenn- Spaemann entnimmt diesen Kenn- zeichen der Moderne, die „sich wesent- zeichen auch Indizien für das Ende der lich im Gegensatz zu aller bisheri- Moderne. Besonders seine Kritik am gen Geschichte (definiert). Sie ist so- homogenisierten Erfahrungsbegriff so- zusagen ein offenes, unabschließba- wie am naturalistischen Universalismus res Projekt, dessen Beendigung und enthält seiner Auffassung nach Ansät- Ablösung durch eine neue Epoche ze für eine Korrektur der Säkularisie- gleich bedeutend mit ihrem Scheitern rung. wäre.“17 Bevor diese Ansätze untersucht werden, Die Verteidiger dieser Moderne, zu soll zunächst die Einstellung der Mo- denen in erster Linie Jürgen Habermas derne zur Religion deutlich gemacht zählt, interpretieren diese Ablösung, werden, wie sie Spaemann vor allem in Überholung oder ihr Scheitern als den Kennzeichen „Hypothetisierung“ Rückfall in prämoderne Zustände und und „naturalistischer Universalismus“ Zeiten. Indessen kann nicht bezweifelt herausgearbeitet hat. Mit „Hypothe- werden, dass die Moderne als Ideologie tisierung“ beziehungsweise „hypothe- zu Ende geht. Für Spaemann bedeutet tischem Denken“ charakterisiert Spae- dieses Ende des modernen Bewusstseins mann nicht nur die moderne Wis- oder der Moderne aber nicht die „Preis- senschaft im engeren Sinn, sondern er gabe ihrer positiven Errungenschaften“, sieht darin einen „bestimmten Zug des sondern dieses Ende könnte sogar modernen Bewusstseins überhaupt“.19 bedeuten, „die echten Gehalte huma- Hypothetisches Denken ist gleich ner Selbstverwirklichung ... in Ein- bedeutend mit funktionalistischem sichten zu verankern, die von weiterher Denken. „Funktionalistisches Denken sind, und diese gegen ihre moder- ist Denken in Äquivalenten. Eine Sache nistische Deutung und damit gegen die durch ihre Funktion bestimmen heißt immanente Tendenz zur Selbstauf- nicht fragen, was sie an sich selbst ist, hebung zu verteidigen“.18 sondern in welchem funktionalen Postmoderne als Korrekturversuch der Säkularisierung? 67

Zusammenhang sie steht, welche Metaphysik ist nicht im Stande, sich Funktion sie erfüllt. Das aber heißt ihre Religion intellektuell anzueig- zugleich fragen, durch welches Äqui- nen.“24 valent sie in dieser Funktion allenfalls ersetzbar ist.“20 Ein weiteres Kennzeichen des mo- dernen Bewusstseins oder der Moderne, Funktionales Denken ist indessen an dem deren Einstellung zur Religion durchaus bis zu einem gewissen Grad abgelesen werden kann, ist der natu- bestimmend für den Menschen. Wenn ralistische Universalismus. Die moderne aber zwischenmenschliche Beziehun- Universalität als die eine universale gen, Ethik und Religion dieser Denk- Weltzivilisation ist durch Wissenschaft weise unterworfen werden, droht und Technik begründet worden. Das Nihilismus. „Die Unangemessenheit Entstehen dieser einen Welt „ist ein jeder funktionalen Deutung der Re- vermutlich irreversibles Werk der ligion lässt sich auf die einfache Formel europäischen Zivilisation der Neuzeit, bringen, dass die Relativierung des das Werk der wissenschaftlich-tech- Absoluten gleich bedeutend ist mit nischen Zivilisation“.25 Zu dieser dessen Verschwinden.“21 Deshalb sind Zivilisation gehört auch der Gedanke das Absolute und die damit verbun- von der Gleichheit der Menschen. Ein denen unbedingten Überzeugungen kurzer Blick auf die Geschichte zeigt, „in einer durch funktionales Denken dass im Christentum die Gleichheit gekennzeichneten hypothetischen Zi- relativ war und eschatologisch ver- vilisation ein Fremdkörper“.22 standen wurde. Aber auch die eman- zipierte Vernunft der Aufklärung Die Philosophie des funktionalen Den- konnte keine Gleichheit unter den kens ist der „kritische Rationalismus“. Menschen herstellen, und dieser Demgegenüber machen die Religionen Gedanke ist Utopie geblieben. Wahrheitsansprüche geltend. „Wittgen- stein schrieb: ‚Wenn das Christentum Der Universalismus der westlichen die Wahrheit ist' – und Wittgenstein Zivilisation spiegelt die scheinbar wünschte, dass es die Wahrheit sei –‚ prinzipielle Offenheit der neuzeitlichen dann ist alle Philosophie darüber Wissenschaft wider. Er „beruht nicht falsch.' Das gilt freilich nur, wenn man auf der Dogmatisierung bestimmter den skeptischen Philosophiebegriff Überzeugungen, sondern darauf, dass Wittgensteins zu Grunde legt.“23 Die alle öffentlichen Geltungsansprüche Philosophie des funktionalen Denkens sich in einem prinzipiell unbegrenzten ist der so genannte „kritische Ratio- Diskurs behaupten und als konsens- nalismus“, der in der Tat nicht im fähig herausstellen müssen. Darüber Stande ist, den Wahrheitsanspruch der hinaus aber gibt es eine Art still- Religionen zu verstehen. „Die Wahr- schweigender Vorentscheidung dar- heitsansprüche der christlichen Reli- über, welche Art von Argumenten in gion sind, wenn philosophisch, dann dem universellen Diskurs überhaupt nur in ontologischen Kategorien in- zugelassen sind und welche Art von terpretierbar. Sie erfordern als kog- Ergebnissen er überhaupt zu allge- nitives Interpretationsinstrumentarium meiner Geltung bringen darf. Es sind eine Metaphysik. Eine Zivilisation ohne prinzipiell nur naturalistische Argu- 68 Roland Pietsch mente zugelassen, d.h. Argumente, die eine Folge der neuzeitlichen Säkulari- sich auf die empirische Bedürfnisnatur sierung, die mit der Kritik der Auf- des Menschen beziehen. Auch die klärung am Offenbarungsglauben28 Legitimation von Religion muss in der und an der göttlichen Offenbarung modernen Welt die der Religion selbst begonnen und damit auch den eigentlich ganz fremde Form eines neuzeitlichen Atheismus29 hervorge- Bezugs auf ‚religiöse Bedürfnisse' an- bracht hat. nehmen. Nur als deren Befriedigung kann sie einen Platz beanspruchen. Das Unbeeindruckt von allen philosophi- Geltendmachen eines Anspruchs Got- schen und theologischen Argumenten, tes an den Menschen wäre system- die gegen den Atheismus aufgestellt fremd und auch dann nicht zugelassen, wurden, hat die sich seit Beginn der wenn für eine große Mehrheit gerade Aufklärung herrschende „moderne“ dies der zentrale Inhalt ihrer Über- Auffassung durchgesetzt, die in der zeugung wäre.“26 Wissenschaft die eigentliche und maßgebende „Wahrheit“ sieht und die Nachdem deutlich geworden ist, dass als Szientismus bezeichnet wird. „Das die Moderne auf Grund der Reduktion, entscheidende Argument zu Guns- d.h. Säkularisierung nicht im Stande ist, ten des Szientismus war bisher die die Religion in ihrem Wahrheitsan- wachsende Macht des Menschen über spruch zu verstehen, sondern lediglich die Natur, die Ermächtigung des funktional als Bedürfnis, sollen kurz die Menschen zu immer vielfältigeren und Ansätze herausgearbeitet werden, die ausgreifenderen Zwecken.“30 Dieser zur Korrektur an dieser Säkularisierung Optimismus ist erst durch die so führen können. Sie finden sich vor genannte ökologische Krise, die wei- allem in Spaemanns Betrachtungen ten Kreisen die Begrenztheit der über die Krise der Modernität. Naturbeherrschung deutlich gemacht hat, empfindlich gestört worden, ob- Spaemann stellt grundsätzlich fest, wohl schon seit langem auf die „dass die neuzeitliche Wissenschaft Tatsache hingewiesen wurde, „dass wesentlich reduktionistisch ist. Solange wachsende Naturbeherrschung immer ihr Status im Gesamtzusammenhang auch wachsende Menschenbeherr- unseres In-der-Welt-seins ein begrenzter schung bedeutet, dass der Mensch sich ist, muss das kein Schaden sein. Erst selbst schließlich zum bloßen Objekt dort, wo Wissenschaft als die eigent- einer anonymen Wissenschaft redu- liche Wahrheit, als Offenbarung des ziert“.31 Jedenfalls hat die ökologische ‚onto–s on', der wirklichen Welt gilt und Krise große Zweifel an der weiteren wo das Bewusstsein der Zeit seine Realisierbarkeit des Projekts der Mo- paradigmatische Form von dieser Wis- derne aufkommen lassen, das in senschaft empfängt, da findet eine tief Wirklichkeit auch das Projekt der gehende Deformation des Menschen progressiven Naturbeherrschung durch durch Realitätsverlust statt. Die Philo- despotische Vergegenständlichung der sophen – Leibniz, Kant, Fichte, Hegel, Natur und schließlich des Menschen Husserl, Heidegger oder Wittgenstein – ist. Spaemann macht mit diesem haben diesen Realitätsverlust immer Hinweis auf den Szientismus und sein schon bemerkt.“27 Das ist ohne Zweifel Scheitern des Projekts der Moderne Postmoderne als Korrekturversuch der Säkularisierung? 69 einen wichtigen Aspekt der neuzeit- würdigkeit seines Freundes vergewissern lichen Säkularisierung deutlich. wollte, der könnte eben die Erfahrung von Freundschaft nicht machen.“33 Solche Ansätze finden sich vor allem in Spaemanns Ausführungen über den Es geht also um eine Erfahrung, die fast homogenisierten Erfahrungsbegriff. keine Anforderungen an den stellt, der Seiner Auffassung nach war in diesem sie machen will. „Das Registrieren von Begriff beziehungsweise in dessen Sinnesdaten in einem vorher genau Durchführung das ganze Programm der definierten experimentellen Rahmen neuzeitlichen Aufklärung zusammen- gilt als einzige Erfahrung, der Wirk- gefasst worden. Der homogenisierte lichkeitscharakter, d.h. Objektivität Erfahrungsbegriff hat indessen nichts zugesprochen wird.“34 „Die Reduktion mit der ursprünglichen etymologischen von Erfahrung auf das kontrollierte Bedeutung des deutschen Wortes Experiment“35 ist an ihr Ende gekom- „Erfahrung“ zu tun. „Das deutsche men, weil mit ihr selbst ungeplante Wort ‚Erfahrung' kommt von ‚fahren'. Erfahrungen gemacht werden. Spae- Es meint zunächst das Herumkommen mann stellt fest: „Das Experiment selbst in der Welt und das, was man dabei ist kontrollierbar und wiederholbar. lernt. Wenn wir von einem Menschen Was jedoch unter der Herrschaft des mit großer Erfahrung sprechen, dann wissenschaftlichen Weltbildes aus der legen wir diesen Erfahrungsbegriff zu Welt im Ganzen wird, ist ein weder Grunde. Ein zweites Merkmal der kontrollierbares noch wiederholbares Erfahrung ist, dass sie Erwartungen Geschehen. Es hat den Charakter eines enttäuscht und dass sie, wenn sie tief unvorhersehbaren Schicksals, d.h. es geht, den Menschen verwandelt. Um handelt sich hier um eine ‚Erfahrung' bestimmte Erfahrungen zu machen, im ursprünglichen Sinne des Wortes. muss man freilich schon verwandelt Nicht eine experimentelle Erfahrung, sein. Nicht jeder kann jede Erfahrung sondern eine Erfahrung mit dem machen. So ist der Bildungsprozess, experimentellen Denken. Dieses selbst wenn er richtig verstanden wird, nicht erscheint nun plötzlich nicht mehr ein Prozess der Anhäufung von In- alternativlos.“36 formationen, sondern der Erweiterung von Erfahrungsmöglichkeiten.“32 Die Relativierung des homogenisierten Erfahrungsbegriffs hat in den letzten Die Homogenisierung der Erfahrung Jahrzehnten zu einer Anarchie geführt, dagegen bedeutet „die Domestizierung die auch von maßgeblichen Vertre- der Erfahrung. Es ist diejenige Erfah- tern der anarcholiberalen Postmoderne rung, bei der das Erfahrungssubjekt verkündet und verbreitet wurde. Die- jederzeit ‚Herr der Lage' bleibt, weil es se anarchischen Tendenzen „werden zuvor die Rahmenbedingungen der letzten Endes selbst rational verwaltet Erfahrung fixiert und die Fragen for- und schließlich sogar manipuliert und muliert hat, auf die allein mit Ja oder gesteuert werden. Dabei wird die Nein geantwortet werden darf. Die wissenschaftliche Rationalität sich experimentelle Situation macht daher selbst durchaus öffnen für solche bestimmte Erfahrungen unmöglich. Erfahrungsweisen, die sie selbst in den Wer sich experimentell der Vertrauens- Griff zu bekommen hoffen kann.“37 70 Roland Pietsch

In diesem Zusammenhang stellt hen, dass das Leben einen Sinn hat.“41 Spaemann nachdrücklich fest, dass die Moderne nicht durch spektakuläre Die Möglichkeit indessen, einen Er- Eingriffe zu Ende gebracht werden fahrungsbegriff zu gewinnen, der kann. „Der bloße Aufstand gegen die für den Glauben an Gott offen ist, Modernität zieht allemal den Kürzeren erschließt sich freilich erst dann, wenn und lässt sich selbst in den Dienst der „die Krisenerfahrung der Modernität Konsolidierung der Modernität stellen, die Gestalt der Wiederherstellung einer ebenso wie die äußeren Ausdrücke von nichtmedialisierbaren, nicht verwalt- Jugendprotest und Alternativkulturen baren und nicht funktionalisierbaren rasch vermarktet und ins System Unbedingtheit gewinnt, der Unbe- integriert werden.“38 Die Moderne wird dingtheit des Religiösen, des Sittlichen vielmehr auf eine lautlosere und und des Künstlerischen, dann erst kann unscheinbarere Weise überwunden von einer Wiederherstellung eines werden. integralen Erfahrungsbegriffs gespro- chen werden. Und das erst wäre jener „Die wirklich nicht homogenisierbare Schritt aus der Modernität, der deren Erfahrung ist die Erfahrung der Welt als Errungenschaften bewahrte, die vom begrenztes Ganzes, die Erfahrung von modernen Bewusstsein selbst nicht be- Einmaligkeit eines Dinges, der Ein- wahrt werden, weil dieses Bewusstsein maligkeit jedes Menschen, der Ein- sich selbst nicht versteht.“42 maligkeit und einmaligen Bedeutung jeder Situation, der Einmaligkeit des Universums. Diese Erfahrung ist mit 4. Zum Abschluss der Erfahrung der Ähnlichkeit und Wiederholbarkeit von allem, die der Nach diesem kurzen und fragmen- Wissenschaft zu Grunde liegt, in- tarischen Überblick über die „post- kommensurabel. Sie widerspricht ihr moderne“ Kritik an der Moderne bzw. nicht, aber sie kann von dieser aus an der Säkularisierung kann zunächst überhaupt nicht verstanden werden. festgestellt werden, dass wesentliche Sie entzieht sich ihr.“39 Argumente dieser Kritik schon Jahr- zehnte vor der Postmoderne-Bewegung Weiter: „Die Erfahrung der Welt als verwendet wurden. Die auf dieser Kritik begrenztes Ganzes wird von Witt- gründenden Korrekturen an der Sä- genstein als das Mystische bezeichnet. kularisierung bestehen im Wesent- Nun kann man darüber streiten, ob mit lichen in Hinweisen und Rückgriffen dieser Erfahrung tatsächlich schon auf die christliche Tradition.43 Robert Mystik gegeben ist. Es gilt aber, dass, Spaemann beruft sich auf den Wahr- wer die Welt im Ganzen als kon- heitsanspruch des Christentums, wäh- tingentes Faktum sieht, bereits einen rend Peter Koslowski den Begriff Sinn voraussetzt, der dieses Faktum „postmodern“ ausdrücklich auf die übergreift. Damit ist schon eine christliche Philosophie Franz von religiöse Aussage gemacht.“40 Und Baaders und die Theosophie Jacob Spaemann zitiert anschließend folgen- Böhmes zurückverweist. Die Freiheit, den Satz aus den Tagebüchern Witt- in der und mit der diese Rückgriffe gensteins: „An Gott glauben heißt se- erfolgen, ist eine Errungenschaft der Postmoderne als Korrekturversuch der Säkularisierung? 71

Moderne, die kein Wahrheitsliebender der, wenn er wirklich wahr ist, zugleich mehr missen möchte; freilich ist diese auch frei sein muss. Eine Korrektur an Freiheit auch durch die Moderne und der Moderne bzw. Säkularisierung kann ihre zunehmenden Zwänge gefährdet. in der Tat nur auf der Grundlage jener Deshalb ist vor allem die Religion mit Wahrheit erfolgen, welche die Men- ihrem Wahrheitsanspruch gefordert, schen frei macht.

Anmerkungen 1 Metz, Johann Baptist: Wider die zweite Diss. Phil., Münster 1968; Ruh, Ulrich: Unmündigkeit – zum Verhältnis von Säkularisierung als Interpretationska- Aufklärung und Christentum, in: Jörn tegorie, Freiburg i.Br. 1980; Zabel, Her- Rüsen/Eberhard Lämmert/Peter Glotz mann: Säkularisation, Säkularisierung, in: (Hrsg.), Die Zukunft der Aufklärung, Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Frankfurt am Main 1988, S.81. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grund- 2 Über die Geschichte des Begriffs Post- begriffe. Historisches Lexikon zur po- moderne vgl. Köhler, Jürgen: Postmo- litisch-sozialen Sprache in Deutschland, derne. Ein begriffsgeschichtlicher Über- Band 5, Stuttgart 1984; Lehmann, Hart- blick, in: Amerikastudien 22, 1977, S.8 mut (Hrsg.): Säkularisierung, Dechristiani- –18. Welsch, Wolfgang: Unsere postmo- sierung, Rechristianisierung im neuzeit- derne Moderne, Weinheim 1987 und lichen Europa. Bilanz und Perspektiven Welsch, Wolfgang: Postmoderne. Genea- der Forschung., Göttingen 1997. logie und Bedeutung eines umstrittenen 8 Zabel, H.: Säkularisation, S.812f. Begriffs, in: „Postmoderne“ oder Der 9 Michelet, Carl Ludwig: Entwicklungs- Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse geschichte der neuesten deutschen Philo- in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, sophie mit besonderer Rücksicht auf den Frankfurt am Main 1988; Marramao, gegenwärtigen Kampf Schellings mit der Giacomo: Die Säkularisierung in der west- hegelschen Schule, Berlin 1843, S.305. lichen Welt, Frankfurt am Main 1999. 10 Ebd., S.306. 3 Vgl. Koslowski, Peter: Die Prüfungen der 11 Zabel, H.: Säkularisation, S.814. Neuzeit, in: Peter Engelmann (Hrsg.), 12 Koslowski, P.: Die Prüfungen der Neuzeit, Über Postmodernität – Philosophie der S.24. Außerdem dazu Habermas, Jürgen: Geschichte, Metaphysik, Gnosis, Wien Dank, in: Friedenspreis des Deutschen 1989, S.42. Diese Einteilung findet sich Buchhandels 2001 – Jürgen Habermas. auch in Kersting, Wolfgang: Politik- Ansprachen aus Anlass der Verleihung, wissenschaft zwischen Moderne und Frankfurt am Main 2001, S.37–56. Postmoderne, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), 13 Koslowski, P.: Die Prüfungen der Neuzeit, Lexikon der Politik, Bd.2, München 1994, S.70. S.322. Außer den philosophischen post- 14 Ebd., S.76f. modernen Richtungen kann noch eine 15 Koslowski, Peter (Hrsg.): Die Philosophie, Vielzahl von postmodernen theologi- Theologie und Gnosis Franz von Baaders, schen Entwürfen und Versuchen unter- Spekulatives Denken zwischen Aufklä- schieden werden. Vgl. dazu Möde, Erwin: rung, Restauration und Romantik, Wien Offenbarung als Alternative zur Dialektik 1993, S.27. Über Baaders Hegel-Kritik auf der Postmoderne, München 1994. der Grundlage von Jacob Böhme vgl. 4 Koslowski, P.: Die Prüfungen der Neuzeit, Pietsch, Roland: Hegels Dialektik aus der S.18. Sicht Jacob Böhmes. Eine Begegnung – 5 Ebd., S.41. vermittelt durch Franz von Baader, in: 6 Ebd., S.45. Reinhard Breymayer (Hrsg.), Suevica – 7 Die wichtigsten Arbeiten über die viel- Beiträge zur schwäbischen Literatur- und fältigen Bedeutungen von Säkularisierung Geistesgeschichte, Bd.4, Stuttgart 1987, bzw. Säkularisation sind: Lübbe, Her- S.157–173. mann: Säkularisierung. Geschichte ei- 16 Spaemann, Robert: Die christliche Reli- nes ideenpolitischen Begriffs, Freiburg/ gion und das Ende des modernen Be- München 1965; Zabel, Hermann: Ver- wusstseins, in: Internationale katholi- weltlichung/Säkularisierung. Zur Ge- sche Zeitschrift „Communio“, 8.Jg. 1979, schichte einer Interpretationskategorie, S.252. 72 Roland Pietsch

17 Spaemann, Robert: Ende der Modernität, all'ateismo moderno, 2 Bde., Rom 1968. 30 in: Peter Koslowski/Robert Spaemann/ Spaemann, R.: Ende der Modernität, Reinhard Löw (Hrsg.), Moderne oder Post- S.31. 31 moderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Ebd., S.31. 32 Zeitalters, Heidelberg 1986, S.20. Ebd., S.25f. 33 18 Ebd., S.20. Ebd., S.26. 19 Ebd., S.27. 34 Ebd., S.26. 20 Ebd., S.27. 35 Ebd., S.35. 21 Spaemann, Robert: Funktionale Reli- 36 Ebd., S.35. gionsbegründung und Religion, in: Peter 37 Ebd., S.35f. Koslowski (Hrsg.), Die religiöse Di- 38 Ebd., S.36. mension der Gesellschaft – Religion und 39 Ebd., S.36. ihre Theorien, Tübingen 1985, S.17. 40 Spaemann, R.: Funktionale Religionsbe- 22 Spaemann, R.: Ende der Modernität, S.28. gründung, S.20. 23 Spaemann, R.: Funktionale Religions- 41 Wittgenstein, Ludwig: Schriften Bd.1, begründung, S.22. Frankfurt am Main 1960, S.167. 24 Ebd., S.22. 42 Spaemann, R.: Ende der Modernität, S.36. 25 Spaemann, R.: Ende der Modernität, 43 Ein hervorragendes Beispiel für die Ab- S.28f. kehr von der Moderne im nichtchrist- 26 Ebd., S.30. lichen Bereich ist der Rückgriff und die 27 Ebd., S.31. Rückkehr zum islamischen Denken und 28 Vgl. dazu: Seckler, Max/Kessler, Michael: zu Platon, wie sie der jüdische Denker Leo Die Kritik der Offenbarung, in: Walter Strauss vollzieht. Vgl. dazu Tamer, Geor- Kern (Hrsg.), Handbuch der Fundament- ges: Islamische Philosophie und die Krise altheologie, Bd.2, Freiburg i.Br. 1985, der Moderne. Das Verhältnis von Leo S.29–59. Strauss zu Alfarabi, Avicenna und Aver- 29 Vgl. dazu: Fabro, Cornelio: Introduzione roes, Leiden/Boston/Köln 2001. Machtgleichgewicht und Interessenausgleich zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten der Europäischen Union

Heinrich Neisser

1. Gleichheit als Spannungsfeld 2. Alle Mitglieder erfüllen, um ihnen in internationalen allen die aus der Mitgliedschaft er- Organisationen wachsenden Rechte und Vorteile zu sichern, nach Treu und Glauben die 1.1 Allgemeine Perspektiven Verpflichtungen, die sie mit dieser Charta übernehmen.“ Internationale Organisationen sind im Regelfall Zusammenschlüsse von In der institutionellen Gestaltung wird gleichberechtigten souveränen Staaten. dieser Gedanke der Gleichheit jedoch Gleichberechtigung bedeutet, dass je- mehrfach relativiert. In der General- des Mitgliedsland gleiche Rechte und versammlung der Vereinten Nationen Pflichten hat, d.h., dass es in gleicher sind alle Mitgliedstaaten vertreten, bei Weise an der Erreichung der gesetzten Abstimmungen besitzt jeder Staat eine Ziele mitwirken muss und an den Stimme.1 Die Funktionen und die Zu- Entscheidungsprozessen in gleicher sammensetzung des Sicherheitsrates Weise beteiligt ist. Der Gedanke der spiegeln jedoch in mehrfacher Weise Gleichheit ist ein Strukturprinzip in- eine Rücksichtnahme auf Machtstruk- ternationaler Zusammenarbeit. Dies turen wider, die zumindest im Zeit- wird etwa am Beispiel der bedeu- punkt der Gründung der Vereinten tendsten Weltorganisation, nämlich Nationen relevant waren. Die Tren- der Vereinten Nationen, sichtbar. Im nung in ständige und nicht ständige Artikel 2 der Satzung der Vereinten Mitglieder sowie die Möglichkeit eines Nationen werden zu Beginn zwei Vetos der ständigen Mitglieder2 ver- Grundsätze besonders hervorgestri- anschaulichen deutlich, dass in vielen chen: internationalen Organisationen der Grundsatz der Gleichheit der Mit- „1. Die Organisation beruht auf dem gliedstaaten ein Wesensmerkmal ist, Grundsatz der souveränen Gleich- dass allerdings in den Entschei- heit aller ihrer Mitglieder. dungsstrukturen Größenrelationen be-

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 74 Heinrich Neisser stimmend sind, die das gleiche Mit- der Europarat eine Einrichtung, die spracherecht erheblich relativieren. vom Prinzip der Gleichheit und der Gleichheit als idealtypisches Konzept Gleichwertigkeit geprägt ist. Die Mit- verstanden, würde bedeuten, dass jeder gliedstaaten besitzen gleiche Gestal- Mitgliedstaat unabhängig von seiner tungsmöglichkeiten, sie nehmen in Größe die gleichen Mitspracherechte gleicher Weise am Erfolg teil und tragen besitzt. Ein solches Modell ist zumin- die gleiche Verantwortung für den dest in den bedeutenden interna- Erfolg und Misserfolg. Intergouver- tionalen und supranationalen Organi- nementalität sichert Gleichberechti- sationen der Gegenwart nicht ver- gung. wirklicht. Einen gewissen Kontrapunkt zu dieser Entwicklung ist die Gründung der 1.2. Die Entstehung ersten drei sektoriellen Gemeinschaf- internationaler und ten, die auf der Basis der Suprana- supranationaler tionalität geschaffen worden sind.3 Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg Damit wurden Teile der staatlichen Souveränität auf eine höhere Ebene Viele Politiker sahen nach der Ka- übertragen, das bisher souveräne Al- tastrophe des Zweiten Weltkrieges in leinentscheidungsrecht der Mitglied- den ersten Nachkriegsjahren in der staaten wurde durch ein Mitentschei- Gründung internationaler Handlungs- dungsrecht ersetzt. Im Anfangsstadium gemeinschaften ein wesentliches Ele- der europäischen Integration bestand ment, um eine Wiederholung der bar- ein Gleichgewicht zwischen großen barischen Ereignisse zu verhindern. und kleinen Staaten. Die sechs Grün- In diesem Denken spielte die Einigung derstaaten verteilten sich auf die Ka- der europäischen Staaten eine wichtige tegorie der großen und der kleinen Rolle. Der im Jahr 1948 in Den Haag Staaten in gleicher Weise. Zu den abgehaltene Europakongress setzte größeren Staaten zählten Frankreich, Signale für konkrete Schritte. Ein Jahr Deutschland und Italien, zur Kategorie später erfolgte die Gründung des Euro- der kleineren und mittleren Staaten die parates, der allerdings gegen die er- BENELUX-Staaten. Im Laufe der zahl- klärte Absicht der Föderalisten „nur“ als reichen Erweiterungsschritte verschob intergouvernementale Organisation sich das Verhältnis zwischen den bei- geschaffen wurde, an der die Mitglie- den Kategorien zu Gunsten der klei- der als souveräne Akteure teilnehmen. neren und mittleren Staaten. Nachdem Diese Organisation diente der För- zuletzt erfolgten Erweiterungsschritt am derung und Stabilisierung der euro- 1. Januar 1995 können von den 15 päischen Demokratie; sie schuf bereits Mitgliedstaaten fünf zu den größeren, im Jahr 1950 mit der Unterzeichnung der Rest zu den kleineren Staaten der Europäischen Konvention der gezählt werden. Die bevorstehende Menschenrechte und Grundfreiheiten nächste Erweiterung am 1. Mai 2004 einen Markstein in der europäischen wird zehn neue Mitgliedstaaten in die Menschenrechtspolitik. Als intergou- Union bringen, wodurch die Relation vernementale Einrichtung symbolisiert zwischen den Kategorien der kleinen Machtgleichgewicht und Interessenausgleich innerhalb der EU 75 und mittleren Staaten und der größeren 2. Die Rolle der Kleinstaaten Staaten zu Gunsten der ersteren weiter in der internationalen verstärkt werden wird. Staatenwelt

Das Verhältnis zwischen großen und 2.1. Kleinstaaten kleinen Mitgliedstaaten schien zu- als Kategorie nächst eher unproblematisch zu sein. Die Gründungsstaaten waren von dem Eine Beschreibung der Rolle von Klein- Gedanken der Gleichwertigkeit und der staaten verlangt zunächst einmal Über- Gleichberechtigung aller Mitglied- legungen, was unter diesem Begriff staaten überzeugt, in der institutio- überhaupt zu verstehen ist. Obwohl die nellen Entwicklung wurde – wie noch Begrifflichkeit nur schwer in einer zu zeigen sein wird – eine maßvolle exakten Definition erfasst werden proportionale Struktur verankert. kann, lassen sich doch gewisse Ele- mente ausmachen, die für eine Typi- Die Situation änderte sich bereits in sierung von Kleinstaaten geeignet sind. den Fünfzigerjahren und wurde bei der Gründung der Politischen Union durch Die so genannte UNITARY-Study4 hat den Vertrag von Maastricht besonders als Parameter für einen Größenver- deutlich. Sowohl im Entscheidungs- gleich drei Variablen angegeben: die prozess, etwa bei der qualifizierten Größe des Gebietes, die Bevölkerungs- Mehrheit bei Ratsabstimmungen, als zahl sowie den Umfang des Brutto- auch im Bereich der Politikfelder wie sozialproduktes. In der politikwissen- etwa bei der Gemeinsamen Außen- und schaftlichen Literatur wird im Be- Sicherheitspolitik, wurden die Inte- sonderen der Umstand hervorgehoben, ressensdisparitäten zwischen beiden dass kleine Staaten unfähig seien, ihre Kategorien von Mitgliedstaaten deut- Interessen durch Machtpolitik zu lich. Den bisherigen Höhepunkt in schützen und dadurch größere Si- dieser Entwicklung brachte das Ringen cherheitsprobleme haben.5 Katzenstein6 um ein Ergebnis bei den Verhand- betont die wirtschaftlichen Besonder- lungen über den Vertrag von Nizza, bei heiten von Kleinstaaten in ihrem dem die Dominanz mitgliedstaatlicher Verhältnis zur europäischen Integra- Interessen sehr stark in Erscheinung tion: Kleinstaaten müssen mehr wirt- trat. schaftliche Offenheit besitzen und flexibler sein; für die Erhaltung des In besonderer Weise wurde das sozialen Friedens ist die Sozialpart- Spannungsfeld zwischen den Interessen nerschaft ein zweckmäßiges Sys- der großen und der kleinen Mitglied- tem, um überschaubare Konflikte zu staaten sichtbar, das wohl auch in lösen. Zukunft die Auseinandersetzungen erheblich beeinflussen wird. Ob der Der starke Korporatismus der Klein- Zukunftskonvent der Europäischen staaten kann vom schwachen Korpo- Union zu diesem Problemfeld Ent- ratismus der großen Industriestaaten scheidendes beitragen kann und wird, unterschieden werden. Im Regelfall ist lässt sich im Augenblick schwer be- die Sozialpartnerschaft eng mit dem antworten. Parteiensystem verbunden. 76 Heinrich Neisser

Inwieweit diese theoretischen Unter- und Estland ihre Unabhängigkeit, die scheidungsperspektiven auf den euro- Tschechoslowakei und Ungarn – Letz- päischen Einigungsprozess tatsächlich teres unter den Auflagen des Vertrages angewendet werden können, soll im von Trianon – entstanden ebenfalls als Weiteren kurz überlegt werden. Im Kleinstaaten. bisherigen Entwicklungsprozess und wahrscheinlich noch mehr in der Die Periode des sowjetischen Imperia- weiteren Folge spielt die europäische lismus nach dem Zweiten Weltkrieg Kleinstaatenstruktur eine entscheiden- veränderte diese politische Ordnung de Rolle. erheblich. Allerdings führte der im Jahr 1989 beginnende Transitionsprozess in Mittel- und Osteuropa zu einem Wie- 2.2. Handlungsspielräume deraufleben der europäischen Klein- kleinstaatlicher Politik staatlichkeit.

Die politische Landkarte des Mittel- Die meisten Mitgliedstaaten der Euro- alters war durch eine weit reichende päischen Union haben eine Einwoh- Fragmentierung gekennzeichnet. Wei- nerzahl, die zwischen drei und 15 te Teile Europas, beginnend bei den Millionen liegt. Niederlande liegt mit Niederlanden im Norden über die etwa 16 Millionen Einwohnern über Territorien auf beiden Seiten des diesem Rahmen, Luxemburg mit einer Rheins, Elsass und Lothringen, bis Einwohnerzahl von 450.000 als Klein- Süddeutschland, die Schweiz und staat darunter. darüber hinaus Oberitalien, setzten sich aus zahlreichen kleinen Ländern zu- Die folgenden acht Staaten haben eine sammen. Manche von ihnen, wie etwa Bevölkerungszahl zwischen drei und die Niederlande, überlebten über Jahr- zehn Millionen: Griechenland, Portu- hunderte neben den großen Reichen, gal, Belgien, Schweden, Österreich, wie Frankreich oder dem Heiligen Dänemark, Finnland, Irland. Römischen Reich. Auch die bevorstehenden Neu-Bei- Der Prozess der Entstehung von tritte zur Europäischen Union wer- Kleinstaaten setzte sich im 19. den zu einer beträchtlichen Zunah- Jahrhundert fort. 1930 entstand Belgien me der Kleinstaaten führen. Einige von nach seiner Trennung von den ihnen wie etwa Malta, Zypern, Est- Niederlanden als selbstständiger Staat. land, Slowenien und Lettland ha- 1866 wurde Luxemburg ein unab- ben weniger als drei Millionen Ein- hängiger Kleinstaat. Der Berliner wohner. Kongress führte im Jahre 1878 zur Anerkennung von Rumänien, Serbien Zur Kategorie der Kleinstaaten zwischen und Montenegro und nach dem Zerfall drei und zehn Millionen Einwohnern der Habsburger Monarchie bzw. im gehören Litauen, Slowakei, Bulgarien, Zeitpunkt ihrer Auflösung entstanden Ungarn und die Tschechische Republik. Kleinstaaten im mittel- und osteuro- Lediglich Polen, Rumänien und die päischen Bereich. 1917/18 erklärten die Türkei sind der Gruppe der größeren Baltischen Staaten Litauen, Lettland Länder zuzuordnen. Machtgleichgewicht und Interessenausgleich innerhalb der EU 77

Population size for European Union member countries and candidate countries Less than 3 million 3 – 15 million Over 15 million EU member countries Luxembourg (0.4 mil.) Ireland (3.8 mil.) Spain (39.9 mil.) Finnland (5.2 mil.) Italy (57.5 mil.) Denmark (5.3 mil.) France (59.5 mil) Austria (8.0 mil.) Great Britain (59.5 mil.) Sweden (8.8 mil.) (82.0 mil.) Portugal (10.0 mil.) Belgium (10.3. mil.) Greece (10.6 mil.) Netherlands (15.9 mil.)

Candidate countries Malta (0.4 mil.) Lithuania (3.7 mil.) (22.4 mil.) Cyprus (0.8 mil.) Slovakia (5.4 mil.) Poland (38.6 mil.) Estonia (1.4 mil.) Bulgaria (7.9 mil.) Turkey (67.6 mil.) Slovenia (2.0 mil.) Hungary (9.9 mil.) Latvia (2.4 mil.) Czech Republic (10.3 mil.)

Switzerland (7.3 mil.)

Source: United Nations, Population Division, Department of Economic and Social Affairs (2001) Population, Environment and Development.

Die vorstehende Übersicht zeigt sehr hebliche Impulse ausgeübt. Erwähnt deutlich die zahlenmäßige Dominanz soll hier nur der zum ersten Mal erar- von Kleinstaaten im europäischen beitete Plan einer Europäischen Wäh- Einigungsprozess. Es braucht nicht be- rungsunion durch den früheren Minis- sonders betont zu werden, dass die terpräsidenten Pierre Werner im Jahr Bevölkerungszahl eines Landes keinen 1970 werden. Irland hat sich durch sei- zwingenden Aufschluss über die po- nen Beitritt zur Gemeinschaft von der litische Rolle in einem System der Abhängigkeit Großbritanniens gelöst supranationalen und der intergou- und gilt auch heute noch – trotz seines vernementalen Zusammenarbeit gibt; negativen Referendums zum Vertrag doch wird zu untersuchen sein, ob die von Nizza – als Musterland der Inte- Kleinstaaten eine Interessensgemein- gration. Auch die Niederlande haben schaft besonderer Art bilden und wel- in entscheidenden Phasen Entschei- che Auswirkungen diese Strukturen dendes geleistet (siehe den Vertrag von besitzen. Die Beiträge von kleinen Amsterdam). Sie haben über Jahre hin- Staaten zum europäischen Integra- weg ein politisches und soziales System tionsprozess waren teilweise bemer- repräsentiert, das Modellcharakter zur kenswert. So konnte Luxemburg als Lösung sozialer Konflikte hatte. Ratspräsident viele Erfolge aufweisen, dieses kleinste Mitgliedsland der Eu- Kleinstaaten – das zeigt die Geschichte ropäischen Union besitzt nicht nur der europäischen Integration – können hervorragende Ressourcen für ein durchaus ihrer Rolle als „honest „diplomatisches Management“, eine broker“ gerecht werden. Sie müssen Grundvoraussetzung für eine erfolg- allerdings Glaubwürdigkeit, Europa- reiche Präsidentschaft, sondern hat begeisterung mit Augenmaß und eine auch durch qualifizierte Politiker er- besondere Umsicht besitzen. 78 Heinrich Neisser

Man wird berechtigterweise die Frage 3. Der institutionelle Rahmen stellen können, ob man überhaupt der Europäischen Union Vorteile und Nachteile von Kleinstaaten generell analysieren kann. Ein ge- 3.1. Machtverteilung in schichtlicher Rückblick zeigt unter- Entscheidungsprozessen schiedliche Erfahrungen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Klein- Sir Leon Brittan, jahrelanger Kommissär staaten eine zum Teil ausgezeichnete und Vizepräsident der Europäischen Entwicklung. Sie erwiesen sich als Kommission, hat einmal das Verhalten flexibel durch Wirtschaftssysteme, die von Groß- und Kleinstaaten innerhalb ökonomisch und politisch rasch re- der Europäischen Union in recht bild- agierten. Ihre Mitgliedschaft in inter- hafter Weise beschrieben: „Stopping nationalen Organisationen brachte the big fish from eating the small fry ihnen Vorteile, weil sie im Regelfall and preventing the small fry from dieselben Rechte haben wie die ganging up on the big fish.“8 Großen. Der Vergleich mit Haien und Heringen Auf der anderen Seite sind die Klein- mag überzeichnet sein, er spiegelt aber staaten in einem besonderen Maße eine Grundstruktur der Macht inner- abhängig, dies vor allem in ihren halb der Union wider: Kein einzelner ökonomischen Beziehungen. Es ist für Staat, ob groß oder klein, kann Macht sie schwierig, Profil in politischer, ohne Allianz mit anderen ausüben. ökonomischer und kultureller Hinsicht Allianzen sind für die Entscheidungen zu gewinnen. Sie sind sich deshalb im Rat wichtig, aber auch in der Zu- ihrer Grenzen und Möglichkeiten mehr sammenarbeit mit der Kommission bewusst als große Staaten und haben oder mit Gruppen des Europäischen ein besonderes Interesse an der fried- Parlaments. Man befindet sich auf der lichen Lösung von Konflikten, an der ständigen Suche nach Verbündeten für Achtung von Werten und an der seine Interessen, Ziele und Aktionen. Verpflichtung zur Solidarität. Hier können kleine Staaten eine be- deutsame Rolle spielen. Vor allem Kleinstaaten sind in besonderer Wei- Kleinstaaten, die zu den Gründer- se vom Umfeld abhängig und müssen staaten gehörten, zeigten hier Profil. sich Entwicklungen anpassen. Wasch- Luxemburg ist – das wurde bereits kuhn hat hervorgehoben, dass Ent- hervorgehoben – ein anschauliches wicklungen wie die wachsende Glo- Beispiel dafür. Das bedeutet allerdings balisierung im Wirtschaftsbereich nicht, dass Wirtschaftsstärke, militä- und die Beschleunigung des Integra- rische Bedeutung und politische Kultur tionsprozesses in Europa die Klein- keine maßgeblichen Faktoren sind. Sie staaten zu größerer internationaler sind aber keine zwingende Voraus- Zusammenarbeit gezwungen haben, sie setzung, um im europäischen Eini- mussten einen Paradigmenwechsel gungsprozess eine initiative Rolle zu von der Selbstgenügsamkeit zur Inter- spielen. Ein besonderes europapoli- dependenz und von der absoluten tisches Engagement erscheint ebenso zur relativen Souveränität vorneh- wichtig zu sein. In eine solche Rolle men.7 kann man hineinwachsen. So spielt Machtgleichgewicht und Interessenausgleich innerhalb der EU 79

Spanien seit seiner Mitgliedschaft im setzung stattfand. Der letztlich erzielte Jahr 1986 eine immer stärkere Rolle in Kompromiss war Ausdruck eines den politischen Entscheidungspro- „political bargaining“, das mit Recht zessen. als „Bazar“ bezeichnet werden kann.10 Drei Kernpunkte bestimmten den Es wäre übertrieben, von einer Soli- Konflikt um institutionelle Fragen: darität der Kleinstaaten in der Euro- päischen Union zu sprechen. Gerade ● die mögliche Ausweitung der quali- die Notwendigkeit für Allianzen, auch fizierten Mehrheitsentscheidungen große Partner zu finden, verhindert im Rat, eine exklusive Zusammenarbeit zwi- ● eine Neubestimmung der Stimm- schen den Kleinstaaten. Allerdings gibt gewichtung im Rat sowie es Momente, wo Kleinstaaten auch ● die Größe und Zusammensetzung näher zusammenrücken. Als 14 Mit- der Kommission. gliedstaaten der Europäischen Union im Januar 2000 anlässlich der öster- In einigen Punkten konnten die Klein- reichischen Regierungsbildung be- staaten Erfolge erzielen. So wurde der sondere „Maßnahmen“ beschlossen, französische Vorschlag, eine Höchstzahl bestand bei vielen Kleinstaaten ein für die Kommission festzusetzen und Unbehagen; man sah darin einen das neue System bis zum Jahr 2010 unfreundlichen Akt gegenüber einem umzusetzen, von den Kleinstaaten Mitgliedstaat der Union, der gegenüber dadurch verhindert, dass keine der- großen Mitgliedstaaten wohl kaum artige Festlegung für die Kommission denkbar gewesen wäre. erfolgen soll, bevor nicht die Union 27 Mitgliedstaaten umfasst. Die im Januar 2000 beginnende nächste Amtszeit der 3.2. Der „Bazar“ von Nizza Kommission wird nur mehr einen Kommissär pro Mitgliedstaat zulassen Der im Dezember 2000 in Nizza ab- – und nicht wie bisher zwei bei den gehaltene EU-Gipfel war der Schluss- größeren Staaten möglich machen. punkt einer Regierungskonferenz, die Wenn zwölf neue Staaten der EU vor allem eine institutionelle Anpas- beigetreten sind, wird die Zahl der sung an die bestehende große Er- Kommissäre einstimmig festgelegt weiterung herbeiführen sollte. Der werden. Gipfel stand unter dem Druck der französischen Präsidentschaft, die die Die Frage der Kommissionsgröße war Agenda der Institutionenreform un- eng mit einer Neugewichtung der bedingt erledigen wollte. Allerdings Stimmen im Rahmen der qualifizierten wurde hier die Spannung zwischen Mehrheitsentscheidung verknüpft. Das großen und kleinen Staaten sichtbar, bisherige System, wonach die Stim- die eine Konsensfindung in der Vor- mengewichte zwischen den größten bereitungsphase des Gipfels unmöglich und den kleinsten Mitgliedstaaten gemacht hatte.9 Dadurch wurden we- zwischen zehn und zwei verteilt waren sentliche Entscheidungen auf den (Gesamtzahl 87), sollte geändert wer- Gipfel verschoben, auf dem eine den. Als die französische Präsident- teilweise turbulente Auseinander- schaft einen Vorschlag vorlegte, wo- 80 Heinrich Neisser nach die Gewichte für die vier größten päischen Union. Kleine Staaten haben Staaten verdreifacht, die der Klein- in der Kommission gleichsam einen staaten jedoch nur verdoppelt oder mit natürlichen Verbündeten. Die Kom- einem geringeren Faktor aufgewertet mission ist ein Anwalt der Gemein- werden sollten, sprach der portugie- schaftsmethode, die den kleinen sische Ministerpräsident von einem Staaten Mitsprache und Schutz vor „institutionellen Staatsstreich“. Die Übervorteilung gewährleistet. Das erzielte Einigung hat für die größeren Streben nach einer mächtigen Kom- Staaten eine leichte Verbesserung mission und einem starken Euro- gebracht: ihre Stimme wird in Zukunft päischen Parlament müsste eine mit 29 gewichtet, die des kleinsten Wunschvorstellung sein, die bei Mitgliedstaates Luxemburg mit 4. Kleinstaaten eine breite Unterstützung Damit ist für die 15 Mitglieder die findet. Im Interesse der Kleinstaaten Gesamtzahl von 87 auf 237 erhöht liegt auch eine Stärkung der Rolle der worden. Im Falle einer Erweiterung um Kommission dadurch, dass deren 12 neue Mitgliedstaaten wird die Präsident durch das Europäische Par- Gesamtsumme 345 betragen.11 lament gewählt wird und eventuell einer Bestätigung durch den Euro- Es besteht Grund zur Annahme, dass päischen Rat bedarf. Ebenso verständ- diese Diskussion eine Fortsetzung lich erscheint der Widerstand gegen die finden wird, wenn die nächsten Er- Einführung des Amtes eines Unions- weiterungsschritte verwirklicht wurden. präsidenten als einer dauerhaften Funktion. Die Gleichbehandlung beim Vorsitz ist ein essenzielles Recht der 3.3. Perspektiven einer Gleichheit aller Mitgliedstaaten und Institutionenreform widerspricht allen Vorstellungen, die eine EU-Präsidentschaft für einen Der Vertrag von Nizza hat in der längeren Zeitraum bei einem Staat (in Institutionenreform lediglich eine der Praxis bedeutet dies bei einem Übergangslösung gebracht. Die Ver- großen Staat) ansiedeln möchte. knüpfung der Zusammensetzung der Kommission mit der qualifizierten Mehrheitsentscheidung ist schwerlich 4. Europäische Zukunfts- als ein Modell für weitere Entwick- perspektiven für Kleinstaaten lungen anzusehen. Allerdings wird auch das Prinzip der mechanischen Die Rolle der Kleinstaaten im Haus Anpassung, das bei Erweiterungsrunden Europa ist im geschichtlichen Rückblick bisher gehandhabt wurde, keine Ant- gesehen eine durchaus relevante und wort auf zukünftige Herausforderungen für die Entwicklung der europäischen sein.12 Zu den Kernfragen einer zu- Integration wesentlich. Es ist anzu- künftigen Institutionenreform wird die nehmen, dass die Kleinstaaten auch in Debatte über die Zusammensetzung der Zukunft ihre Rolle wahrnehmen Aufgaben der Kommission gehören. werden. Die am 1. Mai 2004 wirksam Die Kommission ist für kleine Staaten werdende Osterweiterung wird der ein Schlüsselproblem der künftigen Kleinstaatenfrage in der Union neue institutionellen Architektur der Euro- Akzente verleihen. Die zukünftigen Machtgleichgewicht und Interessenausgleich innerhalb der EU 81

Mitgliedstaaten zeichnen sich weniger spezifische Bedeutung gewinnen wer- durch ein hohes wirtschaftliches den. Zu nennen sind hier vor allem die Niveau aus, sie haben jedoch einen engen Verbindungen der baltischen hohen Grad an unterschiedlichen Länder zum skandinavischen Raum. Interessen, und zwar in ökonomischer, Aber auch die Visegrád-Länder können sozialer, politischer und kultureller durchaus der Kern einer mitteleuro- Hinsicht. Diese Heterogenität wird päischen Zone werden. Und nicht auch eine Herausforderung für Brüssel zuletzt bestehen Chancen einer süd- sein. Dabei geht es nicht nur um eine osteuropäischen Zusammenarbeit, die Änderung der Entscheidungsmecha- zu einem Näherrücken der Nachbarn nismen. Es wird vielmehr die Frage zu führen kann. stellen sein, ob und wie die Klein- staaten das Gesamtbild der Euro- Schließlich ist die Frage zu stellen, ob päischen Union ändern können. Und es zu vermehrten Versuchen einer vor allem auch, was die Perspektiven Allianzbildung zwischen Staaten mit der Kleinstaaten für die europäische gleichen oder ähnlichen politischen Zukunft sein werden. Interessen kommen wird. Der gegen- wärtig tagende Konvent über die Hier seien nur wenige Aspekte erwähnt. Zukunft der Europäischen Union wird Es ist offenkundig, dass die grenz- möglicherweise in seinem Endergebnis überschreitende regionale Zusammen- Positionen deutlich machen. Es wäre arbeit in der Union immer mehr an dies zumindest wünschenswert. Bedeutung gewinnen wird. Diese interregionale Zusammenarbeit ist für Eine letzte Bemerkung soll sich noch Kleinstaaten eine besondere Heraus- auf die Rolle beziehen, die Kleinstaaten forderung. Die Regionen wachsen zu- in einer künftigen europäischen Si- sammen und bilden neue Einheiten. cherheitspolitik spielen werden. Wenn Das wird zur Folge haben müssen, dass die gemeinsame Verteidigungspolitik die Kleinstaaten den Regionen mehr von ihnen als Notwendigkeit erkannt Gewicht geben müssen. und akzeptiert wird, müssten sich vor allem neutrale Staaten (Schweden, Es stellt sich weiter die Frage, inwieweit Finnland, Österreich) zu einer Neu- innerhalb der Europäischen Union Orientierung ihrer sicherheitspoliti- neue Räume entstehen, die als Zonen schen Vorstellungen entschließen.

Anmerkungen 1 Vgl. Artikel 9 und 18 der Satzung der Ver- Atomgemeinschaft (EURATOM). Diese einten Nationen. Verträge sind am 1. Januar 1958 in Kraft 2 Vgl. Artikel 23 und 27 der Satzung der getreten. Vereinten Nationen. 4 Rapaport, Jacques/Muteba, Ernst/Thera- 3 Diese drei Gemeinschaften waren die till, Joseph J.: Small States and Territories. Europäische Gemeinschaft für Kohle und States and Problems, New York 1971. Stahl (EGKS), deren Vertrag am 25. Juli 5 Siehe dazu Pollak, Johannes/Puntscher- 1952 in Kraft getreten ist sowie die durch Riekmann, Sonja: Small States – Big die so genannten Römischen Verträge States: Who has the Political Clout in the geschaffene Europäische Wirtschaftsge- European Union, in: Günter Bischof/ meinschaft (EWG) und die Europäische Anton Pelinka/Michael Gehler (Hrsg.), 82 Heinrich Neisser

Austria in the European Union, Con- von einer „stunning obsession with temporary Austrian Studies, vol.10, New national power interests“, S.24. Brunswick/London 2002, S.67–91. 10 Vgl. Pollack/Puntscher-Riekmann: Small 6 Katzenstein, Peter J.: Small States in States – Big States, S.73ff. World Markets, Industrial Policy in 11 Vgl. ebd., S.74 und 75. Im Falle der Er- Europe, Ithaca/London, Cornwall Uni- weiterung wird Malta mit drei Stimm- versity Press 1985. punkten als kleinster Staat eingestuft 7 Waschkuhn, Arno: Strukturbedingungen werden. und Entwicklungsprobleme des Klein- 12 Unter dem Prinzip der mechanischen staates, in: Schweizerisches Jahrbuch für Anpassung ist eine Anpassungsstrategie Politische Wissenschaft, 30/1990, S.137– zu verstehen, die bei jedem Erweiterungs- 155. schritt eine institutionelle Anpassung 8 Brittan, Leon: Europe. The Europe we neuer Mitgliedstaaten unter Berück- need, London 1994, S.232. sichtigung einer gewissen Proportionalität 9 „The Economist“ schrieb am 16.12.2000 vorgenommen hat. Probleme, Positionen und Perspektiven der italienischen EU-Präsidentschaft

Carlo Masala

1. Einleitung Präsidentschaft stehen.4 Doch mit der Zuspitzung der Irak-Krise Anfang 2003 Es ist wohl nicht übertrieben, wenn sowie mit der – im Vorfeld des Irak- man sagt, dass Italien, sobald es am Krieges – zutage getretenen Spaltung 1. Juli turnusgemäß die Präsidentschaft der Union in eine deutsch-französisch- in der Europäischen Union übernimmt, belgische Achse, mit Ausläufern nach vor kaum lösbaren Aufgaben (zumin- Moskau und Peking sowie in einen von dest nicht im Rahmen seiner Ratspräsi- Großbritannien angeführten Gegen- dentschaft) stehen wird. Die Mitglieds- block, mit Ankerplatz in Washington, staaten der Union haben sich über die ist eine der zentralen Fragen der euro- Irak-Frage fundamental auseinander päischen Integration nach dem Ende dividiert und es ist gegenwärtig nicht des Ost-West-Konflikts erneut bestim- abzusehen, wie die aufgerissenen Grä- mend auf die Agenda europäischer ben zukünftig wieder zugeschüttet oder Politik zurückgekehrt: die nach der zumindest überbrückt werden können.1 zukünftigen Orientierung Europas. Die Ob gerade Italien, das zu den Mitunter- – zugespitzten – Alternativen lauten zeichnern des Briefes der Acht gehört, gegenwärtig: amerikanischer Wurm- in der Lage ist, die „Spaltungsten- fortsatz oder eigenständiger euro- denzen in der EU zu überwinden“, wie päischer Pol.5 Italien selbst hat, nach- es Staatspräsident Ciampi formulierte2, dem sich die Regierung unter Premier erscheint mehr als zweifelhaft. Silvio Berlusconi anfänglich ohne Wenn und Aber auf die Seiten der Das „europäische Schisma“3 (so ein Vereinigten Staaten geschlagen hat und italienischer Diplomat) tritt zu einem zu den Mitunterzeichnern des Briefes Zeitpunkt zutage, in dem die Union der Acht gehörte, in den vergangenen historisch zu nennende Aufgaben zu Wochen – unter dem Eindruck zu- vollziehen hat. Es ist zum einen die nehmender innenpolitischer Proteste Erweiterung der Union sowie zum (auch bei den kleinen katholischen anderen der Abschluss der Konvents- Regierungsparteien6) sowie der bevor- beratungen. Beide Aufgaben sollten, so stehenden EU-Präsidentschaft seine war es noch Anfang des Jahres vor- grundsätzlich pro-amerikanische Posi- gesehen, im Zentrum der italienischen tion nicht revidiert, jedoch sich sicht-

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 84 Carlo Masala bar mit öffentlichen Äußerungen zu- trument des nation building, wie es rückgehalten und die italienischen Federico Romero 1995 treffend for- Streitkräfte auch nicht an der Opera- muliert hat.8 In einem politischen Sys- tion „irakische Freiheit“ beteiligt. „Un- tem, das zutreffend als „blockierte sere Politik, so formulierte es Außen- Demokratie“ bezeichnet wurde, da minister Franco Frattini, fußt auf den seine Funktionsfähigkeit und -tüchtig- zwei Säulen des Zusammenhaltes der keit von der Kooperation aller gro- EU und der starken Beziehungen zu ßen politischen Strömungen abhängig den USA.“7 war9, waren Fortschritte im politischen und ökonomischen Leben der Tiber- Dies ist – grob vereinfacht – der Hin- republik, ohne deren Einbindung in tergrund, vor dem Italien die Präsi- die Strukturen der europäischen Inte- dentschaft in der EU übernehmen wird. gration und ohne die Stimuli, die von Was kann die italienische Präsident- dieser Integration ausgegangen sind, schaft, was will sie angesichts dieser nicht möglich. Wer nicht teilnahm Rahmenbedingungen leisten? Der fol- an der Auseinandersetzung zwischen gende Beitrag versucht, die grund- „Schwarz und Rot“10, fand eine Art sätzlichen Positionen und Perspekti- Ersatzidentität in Europa.11 Mit der so ven, die die italienische Regierung oder genannten zweiten Revolution der einzelne Minister dieser Regierung im Jahre 1989 bis 1996, die eine Folge des Vorfeld der Übernahme der Präsident- Endes des Ost-West-Konflikts war, und schaft bereits artikuliert haben, zu- die eine völlige Neuordnung des Par- sammenzutragen und zu analysieren. teiensystems Italiens hervorbrachte12, Dabei gilt es die Frage zu beantworten, entfiel für Italien diese Funktion der welche Interessen Italien während europäischen Integration. Es blieb hin- seiner Präsidentschaft verfolgen wird gegen das zweite Leitmotiv italienischer und welche Prioritäten der Präsi- Europapolitik und nimmt heute eine dentschaft zu erwarten sein werden. Da noch stärkere Stellung in der italieni- Interessen und Prioritäten jedoch nicht schen Europapolitik ein, als dies in der auf der Tabula rasa artikuliert werden, Vergangenheit der Fall war. Dieses sondern stets in Auseinandersetzung Leitmotiv lässt sich – wie ich dies be- mit der Umwelt in die ein Staat ein- reits an anderer Stelle ausführlich gebettet ist sowie mit der eigenen dargestellt habe – mit dem Schlagwort Staatsräson, gilt es in einem ersten „Gleichberechtigung durch Integra- Schritt zu fragen, welche langfristigen tion“ umschreiben.13 Dass die euro- Interessen Italien bislang in der euro- päische Dimension, wie Aldo Rizzo in päischen Integration verfolgt hat. seiner Studie zu „Italien zwischen Maastricht und Afrika“ zu Recht schreibt, einen so fundamentalen Platz 2. Italien in der eingenommen hat, dass es dazu keine Europäischen Union Alternative gibt14, liegt – neben dem Faktum, dass die Verflechtungen der Seit Gründung der EGKS erfüllte die italienischen Wirtschaft mit den europäische Integration für alle italie- übrigen EU-Volkswirtschaften so stark nischen Regierungen zwei Funktionen. sind, dass eine Rückkehr zu einer Zum einen war sie bis 1990 ein Ins- protektionistischen Wirtschaftspolitik Probleme und Perspektiven der italienischen EU-Präsidentschaft 85 nur unter enormen ökonomischen anderen Seite im Januar 2003 zuneh- Verlusten realisierbar wäre – vor allem mend eskalierten, wurden die Über- an den politischen Gewinnen, die legungen der italienischen Regierung Italien aus der Integration zieht. Denn zu ihrer Präsidentschaft im Wesent- im Rahmen der europäischen Integra- lichen von den bevorstehenden Ereig- tion gehört Italien – zumindest formal nissen der Erweiterung und des Ab- – zu den „Großen Vier“ (neben der schlusses der Konventsberatungen dik- Bundesrepublik, Großbritannien und tiert. Als eigenständiger italienischer Frankreich). Ohne die Einbindung in Schwerpunkt sollte die Intensivierung die Strukturen der EU würde Italien des Barcelona-Prozesses vorangetrieben wichtige Mitspracherechte im Verhält- werden, die engere Anbindung Russ- nis zu den anderen drei Großen in lands an die EU bewirkt sowie – und Europa verlieren und Handlungs- dies schien ein Lieblingskind der spielräume in der internationalen italienischen Regierung bereits im Vor- Politik einbüßen. Die Vertiefung der feld der Übernahme der Präsidentschaft Union und der dadurch betriebene zu sein – eine „Erklärung der Grün- Ausbau ihrer globalen Handlungs- dungsländer der Europäischen Ge- fähigkeit sind somit Ausdruck eines meinschaften“ zum 25. März 2003, ureigensten nationalen Interesses, das dem Jahrestag der Unterzeichnung der Italien an der europäischen Integration Römischen Verträge, veröffentlicht wer- hat. den.15 In dem im Februar zirkulierten italienischen Entwurf dieser Erklä- Gleichberechtigung zu den anderen rung sollten – soweit der Entwurf in Führungsmächten der Union ist somit der Presse bekannt wurde16 – die sechs ein Leitmotiv italienischer Europa- Gründungsstaaten der Europäischen politik, an dem sich über die vergan- Gemeinschaften ihre Treue zu den genen 50 Jahre nichts geändert hat. Werten bekunden, die dem Aufbau Die italienischen Regierungen wandten Europas zu Grunde liegen und sich für sich stets gegen jede Politik, die Italien ein Europa einsetzen, das in der Welt in die zweite Liga der europäischen einen Wohlstands- und Stabilitätsfaktor Staaten verweisen wollte und es der darstellt und seiner politischen, sozia- Mitsprache und Kontrollmöglichkeiten len und ökonomischen Verantwor- in bestimmten Politikbereichen be- tung gerecht wird. Die Grundzüge der rauben wollte. Formen differenzierter institutionellen Struktur, so stand in Integration sind für die italienischen dem Entwurf zu lesen, sollten erhalten Regierungen nur dann akzeptabel, und die Ausgewogenheit zwischen den wenn sie Italien als Mitglied vorsehen. Institutionen bei gleichzeitiger Stärkung sowohl des Parlaments als auch der Kommission gewahrt bleiben. 3. Die italienische Präsidentschaft Obgleich dieser Entwurf in seinen in- haltlichen Aussagen recht oberflächlich Bevor die Auseinandersetzungen zwi- bleibt und seitens der italienischen schen den Vereinigten Staaten und Regierung dazu gedacht war, möglichen Großbritannien auf der einen Seite und zentrifugalen Tendenzen im Zuge der Deutschland und Frankreich auf der Erweiterung entgegenzuwirken und die 86 Carlo Masala

Option für ein „Kerneuropa der Grün- zifizierte, „zentrale Rolle“ in der Au- dungsstaaten“ (Sergio Romano) offen ßenpolitik einnehmen und zwischen zu halten, wurde er von den restlichen den Mitgliedsstaaten der Union die fünf Gründungsstaaten zurückhaltend, Funktion eines Konsenssuchers über- ja sogar ablehnend aufgenommen, was nehmen soll. Er soll bei seiner Tätigkeit weniger auf dessen Inhalt zurückzu- durch ein eigenes, ihm unterstelltes führen ist, als vielmehr auf die Tat- Büro unterstützt werden. Zusammen sache, dass Italien als einziges Grün- mit fünf oder sechs anderen Staats- und dungsmitglied den „Brief der Acht“ Regierungschefs, welche die anderen mitunterzeichnet hat.17 Dennoch hält Bereiche der Unionspolitik nach außen die italienische Regierung an der Per- repräsentieren, bildet er ein Präsi- spektive fest, dass die Beratungen über dium.19 Interessanterweise ist es genau einen europäischen Verfassungsvertrag diese Konstruktion, die vom Konvents- während ihrer Präsidentschaft zu einem präsidenten Giscard d'Estaing unlängst Ende kommen und dann im Frühjahr in die Debatte geworfen wurde und 2004 in die feierliche Unterzeichnung unter den Mitgliedsstaaten – ins- in Rom, dem Ort der „Römischen Ver- besondere den kleineren – für große träge“, münden sollen. Dieser Termin Verstimmung sorgte.20 ist aus der Sicht des italienischen Außenministers besonders wichtig, da Als Amato diesen Vorschlag in Grund- er vor den nächsten Wahlen zum zügen äußerte, nahm man davon in Europäischen Parlament liegt, welches der Öffentlichkeit kaum Kenntnis. dann auf einer neuen Grundlage – und Außenminister Frattini hat Amato für möglicherweise mit erweiterten Kom- diesen Vorschlag die Unterstützung petenzen – seine Arbeit aufnehmen der italienischen Regierung zugesagt, könnte.18 betont allerdings, dass ein Außen- minister der Union, der in Personal- union Mitglied der Kommission und 4. Die institutionelle Struktur Hoher Repräsentant der GASP sein soll, besser geeignet sei, die Außenvertretung Was die Vorstellungen zur künftigen der Union in Fragen der Außen- und institutionellen Struktur der Union Sicherheitspolitik zu übernehmen.21 anbetrifft, so lassen sich erhebliche Der italienische Parlamentspräsident Divergenzen zwischen den italieni- Pera dagegen hat eher eine umfassende schen Konventsmitgliedern unterei- Reduzierung der Kompetenzen und nander sowie zwischen der italieni- Aufgabenbereiche der Union im Sinn, schen Regierung und einigen Kon- wenn er fordert, dass die EU sich zu- ventsmitgliedern, die nicht in Regie- künftig nur noch mit Fragen der rungsverantwortung stehen bzw. keiner inneren und äußeren Sicherheit sowie der Regierungsparteien angehören, mit dem Binnenmarkt beschäftigen konstatieren. Giuliano Amato, der Vize- sollte.22 präsident des Konvents, hat sich un- längst in einem Interview im Corriere Realistischer als Pera entwarf das zweite della Sera dezidiert für einen „Vollzeit“- italienische Konventsmitglied, der stell- Präsidenten der Union ausgesprochen, vertretende Ministerpräsident Gian- der eine, von Amato nicht näher spe- franco Fini, im Namen der italienischen Probleme und Perspektiven der italienischen EU-Präsidentschaft 87

Regierung seine Vorstellung von der christlichen Wurzeln dieser Gemein- zukünftigen Aufgabenverteilung der schaft.25 Alles andere, so sagte es Fini Union. auf einer Konferenz der Alleanza Na- zionale, würde nur den Befürwortern Demnach soll die institutionelle Ba- einer „supranationalen sozialistischen lance zwischen Kommission, Rat und Union“26 in die Hände spielen. Mithin Parlament sowie die Balance zwischen lässt sich deutlich erkennen, dass die intergouvernementalen Kooperations- italienische Regierung sehr zurück- bereichen und supranational organi- haltend sein wird, wenn die Ergebnisse sierten Politikbereichen auch zukünftig der Konventsberatungen darauf abzie- aufrechterhalten werden. Der Idee eines len sollten, den supranationalen Cha- Präsidenten der Union steht die ita- rakter der Union zu stärken. Was lienische Regierung aufgeschlossen Berlusconi und Fini (so wie auch gegenüber, lässt jedoch im Unklaren, Frattini) vielmehr vorschwebt, ist eine ob dieser von den Staats- und Re- Stärkung der Rolle der Nationalstaaten gierungschefs oder von den Staats- im Prozess der Integration. bürgern der Mitgliedsstaaten der Union gewählt werden soll. Auch das von Amato in die Debatte eingebrachte 5. Beziehungen zu Russland Büro zur Unterstützung der Arbeit des Präsidenten findet bei Fini Unter- Hinsichtlich der Beziehungen zu Russ- stützung, allerdings in veränderter land macht sich die italienische Re- Zusammenstellung. Laut Fini sollen gierung den Vorstoß der griechischen sechs Mitgliedsstaaten – auf rotieren- Präsidentschaft zu Eigen, die ein be- der Basis – Vertreter in dieses Büro ent- sonderes Augenmerk auf die zu- senden, die den Präsidenten bei seinen künftigen Beziehungen der Union mit Aufgaben unterstützen.23 Was die der Rußländischen Föderation legen Kompetenzverteilung zwischen der wollte. In der italienischen Vorstellung Union und den Mitgliedsstaaten an- soll – möglichst noch während der belangt, so ist die italienische Regie- italienischen Präsidentschaft – ein EU- rung daran interessiert, der Union nur Russland-Kooperationsrat auf ständiger komplementäre Kompetenzen zuzu- Basis eingerichtet werden. Bereits im weisen und nicht, wie es im Konvent Januar wurde anlässlich des Staats- diskutiert wurde, die primären Kom- besuchs von Berlusconi in Moskau eine petenzen.24 italienisch-russische Arbeitsgruppe ein- gerichtet, die hierzu einen Vorschlag Fini äußerte sich bei anderer Ge- ausarbeiten soll.27 Dass diese Initiative legenheit auch zu der Frage der Fi- im Vorfeld nicht mit der Kommission nalität der Europäischen Union. Im abgesprochen war, kann man den Be- Gegensatz zu anderen Mitgliedsstaa- merkungen des Sprechers der Kom- ten hat die italienische Regierung nicht mission, Jonathan Faull, entnehmen, das Ziel einer bundesstaatlichen Or- der von einer „interessanten Idee“ ganisation Europas vor Augen, sondern sprach und zugleich die Ansicht der insistiert auf einer engen Kooperation Kommission äußerte, dass die beste- der Völker und Nationalstaaten Euro- henden Konsultationsmechanismen pas unter direkter Bezugnahme auf die mit Russland gut funktionieren wür- 88 Carlo Masala den, es mithin aus Sicht der Kom- 6. Die Euro-Mediterrane mission keinen Bedarf an neuen Partnerschaft Konsultationsmechanismen gebe.28 Andere Mitgliedsländer stehen dem Was die Beziehungen zu den Part- italienischen Wunsch nach einer nerstaaten des Euro-Mediterranen Dia- engeren institutionellen Anbindung loges sowie der EMP selbst anbelangt, Russlands an die EU ebenfalls skeptisch so hat sich die italienische Regierung gegenüber, äußern die Vorbehalte ge- bislang nur vage geäußert. Zwar hat genüber dem italienischen Anliegen Fini gesagt, dass die Euro-Mediterrane jedoch nicht öffentlich.29 Mit ihrem Partnerschaft zu einem Euro-Medi- Schwerpunkt auf Verbesserung der terranen Nukleus33 weiterentwickelt Beziehungen zu Russland hat sich die werden müsse, wie dies in concreto italienische Regierung bei den mittel- jedoch geschehen soll, ließen er wie und osteuropäischen Staaten keine auch andere Mitglieder der Regierung Freunde gemacht.30 bislang offen. Konkrete Initiativen und Projekte gibt es hierzu gegenwärtig Es wäre jedoch falsch, daraus die nicht. Ob Berlusconi versuchen wird, Schlussfolgerung zu ziehen, dass die sein einstmaliges Lieblingsprojekt, die alten italienischen Bedenken gegen Entwicklung eines Marshallplans für eine Erweiterung der Union erneut die den Nahen und Mittleren Osten,34 Agenda italienischer Politik bestimmen erneut zu lancieren, bleibt offen, er- werden. Italien hat mit der Erweiterung scheint jedoch angesichts der Lage in seinen Frieden geschlossen und ge- der Region und der Spaltung Europas winnt ihr mittlerweile sogar positive über den Irak-Krieg eher fragwür- Seiten ab. Denn im Zuge der Irak-Krise dig. wurde die italienische Regierung der Tatsache gewahr, dass die zukünftigen Dass der Mittelmeerraum eine hohe neuen Mitglieder mehrheitlich die Priorität einnehmen wird, ist aber atlantische Position der italienischen evident, da die von den USA ge- Regierung stärken und somit die aus wünschte und nach einem Irak-Krieg italienischer Sicht existierende Gefahr in Angriff zu nehmende Neuordnung einer deutsch-französischen Hegemonie des Mittleren und Nahen Ostens in der Union sowie einer Union, die möglicherweise in die italienische sich in Abgrenzung zu den Vereinigten Präsidentschaft fallen wird. Und da Staaten entwickeln könnte, abgewehrt Europa an dieser Neuordnung beteiligt werden kann.31 Zieht man noch in sein will, wird es der italienischen Betracht, dass die Osterweiterung der Präsidentschaft zufallen, hier nach Union für Italien bereits mit der Beteiligungsmöglichkeiten zu suchen. Entscheidung zur Südosterweiterung Gegenwärtig gibt es bei den kleineren und zur Erweiterung um Malta und katholischen Koalitionsparteien der Zypern erträglicher wurde, so sieht die Regierung die Befürchtung, dass der italienische Regierung mittlerweile – Irak-Krieg den prognostizierten Kampf im Gegensatz zu den 90er-Jahren – in der Kulturen hervorrufen könnte und der Erweiterung der Union eher eine Italien als mediterraner Frontstaat Stärkung als eine Gefahr für die alles dafür tun müsse, um diesen zu italienischen Interessen.32 verhindern.35 Probleme und Perspektiven der italienischen EU-Präsidentschaft 89

7. Italien und die Vorschlag erklärte ein Sprecher des „Spaltung Europas“ französischen Verteidigungsministe- riums, dass die französische Regierung Eine der größten Herausforderungen diesem Vorschlag aufgeschlossen ge- der italienischen Präsidentschaft wird genüber stünde, die Verantwortung darin bestehen, die an der Irak-Frage jedoch bei der belgischen Regierung entstandene „Spaltung Europas“ zu liege. Diese wiederum hat bislang dazu überwinden bzw. abzumildern. Die keine Stellung bezogen. Voraussetzungen, die die italienische Regierung dafür mitbringt, sind aller- Großbritannien hingegen, das dem dings denkbar ungünstig. Durch die Treffen ablehnend gegenübersteht, hat deutliche Positionierung Italiens an der bereits erklärt, dass es an Beratungen Seite Großbritanniens und Spaniens zur Sicherheits- und Verteidigungspo- haben die italienisch-französischen litik nur dann teilnehmen werde, wenn Beziehungen, die historisch betrachtet alle EU-Mitglieder dazu eingeladen nie besonders gut waren, einen „ab- würden.38 soluten Tiefpunkt“ erreicht, wie es der italienische Botschafter in Paris for- Bereits hier zeigen sich deutlich die mulierte.36 Grenzen der kommenden italieni- schen Präsidentschaft. Die Meinungs- Berlusconi hat sehr deutlich erkannt, verschiedenheiten zwischen den Mit- dass es eine der Hauptaufgaben der gliedsstaaten der Union sind in Folge italienischen Präsidentschaft sein muss, des Irak-Krieges so tief gehend, dass die Rolle eines Vermittlers einzuneh- Italien, selbst wenn es die Rolle eines men, um die zentrifugalen Kräfte, die Mediators einnimmt, nicht in der Lage sich in der Union abzeichnen, zu sein wird, in substanziellen Fragen diese stoppen. Einen ersten Schritt hierzu hat Meinungsverschiedenheiten zu über- die italienische Regierung bereits un- winden. ternommen. So hat sie die griechische Präsidentschaft dazu aufgefordert, auf die belgische Regierung einzuwirken, 8. Fazit das für den 29. April geplante Treffen zwischen Frankreich, Deutschland, Italien tritt seine Präsidentschaft in Belgien und Luxemburg auch für einer für die Union kritischen Phase andere EU-Mitgliedsstaaten zu öffnen. an.39 Denn zum einen stehen wichti- Aus italienischer Sicht wäre ein ex- ge zukunftsweisende Entscheidungen klusiver Vierer-Gipfel ein „Fehler“ und wie die Erweiterung und die Ausar- würde das Risiko in sich bergen, dass beitung des Verfassungsvertrages an, die ohnehin schon vorhandenen und zum anderen hat die Irak-Krise die Divergenzen zwischen den EU-Mit- Mitgliedsstaaten der Union zutiefst gliedsstaaten vertieft werden.37 Das gespalten. Es ist höchst zweifelhaft, ob Treffen sollte zumindest, so lautete die die italienische Präsidentschaft ange- offizielle italienische Position, auf die sichts dieser Herausforderungen in der sechs Gründerstaaten der Gemein- Lage sein wird, Impulse zu setzen und schaft ausgeweitet werden. In einer substanzielle Beiträge zur Bewältigung ersten Reaktion auf den italienischen dieser Herausforderungen zu leisten. 90 Carlo Masala

Anmerkungen 1 Vgl. FAZ vom 22.3.2003 Fini, Rappresentante der Governo italiano 2 Vgl. Financial Times vom 18.2.2003. alla Convenzione Europea, al progetto di 3 Corriere della Sera vom 21.3.2003 articoli dal 24 al 33 del nuovo trattato 4 Vgl. Programma operativo del Consiglio costituzionale, Bruxelles, 8.3.2003, unter: per il 2003 presentato dalle presidenze http://www.europa2004.it. greca e italiana, Brüssel 20.12.2002, 24 Vgl. Emendamenti proposti da Gian- 15881/02. franco Fini, Rappresentante del governo 5 Für das Erstere hat zuletzt wortgewaltig italiano alla Convenzione Europea, al Alexander Schuller plädiert: „Wir brau- progetto dei primi 16 articoli di trattato chen das Imperium Americanum“, in: costituzionale, Bruxelles, 17.02.2003, un- FAZ am Sonntag vom 9.3.2003; die zweite ter: http://www.europa2004.it. Option wird vertreten von Vannahme, 25 Vgl. ebd. Joachim Fritz/Pinzler, Petra: Die gefal- 26 Relazione di apertura del 2 Congresso di lenen Sterne, in: Die ZEIT vom 6.2.2003. Alleanza Nazionale del Presidente Gian- 6 La Civiltà Cattolica vom 24.3.2003. franco Fini, Bologna 4.4.2002, unter: 7 Zitiert nach: Il Mattino vom 18.2.2003. http:www.europa2004.it. 8 Romero, Federico: L’Europa come stru- 27 Vgl. Interfax News Service vom 16.1. mento di nation-building, in: Passato e 2003. Presente 36, 1995, S.12–28. 28 Vgl. Agence Europe vom 5.2.2003. 9 Vgl. Masala, Carlo: Italien, in: Werner 29 Diese Information beruht auf einem per- Weidenfeld (Hrsg.): Europa-Handbuch, sönlichen Gespräch des Verfassers mit 2.Aufl., Gütersloh 2002, S.163–171, S.163 einem Diplomaten. –165. 30 Vgl. zusammenfassend IHT vom 4.3.2003. 10 Hinterhäuser, Helmut: Italien: Zwischen 31 Vgl. das Editorial des Corriere della Sera Schwarz und Rot, München 1960. vom 12.4.2003, sowie: Mennitti, Pierluigi: 11 So der Tenor der Studie von Palombara, La Nuova Europa sorge ad Est, in: Idea- Joseph La: Die Italiener oder Demokratie zione 82, 2003, unter: http://www. als Lebenskunst, München 1992. ideazione.com 12 Zu diesem Zusammenhang vgl. Morlino, 32 Vgl. Il Sole 24 Ore vom 4.11.2002. vgl. Luigi: Crisis of Parties and Change of Ebenfalls: Ludovico Incisa di Camerana: Party System in Italy, in: Party Politics La guerra, L'Italia e la „nuova Europa“, 1/1996, S.5–30. in: Ideazione Nr. 83, 2003, unter: http:// 13 Vgl. Masala, Carlo: Italia und Germania. www.ideazione.com Die deutsch-italienischen Beziehungen 33 Vgl. L’Espresso vom 10.1.2003. 1963–1969, 2.Aufl., Köln 1998. 34 Vgl. Interview mit Berlusconi in Financial 14 Rizzo, Aldo: L’Italia in Europa. Tra Times vom 18.1.2002. Maastricht e l’Africa, Bari 1996. 35 Vgl. die fast beschwörende Rede des Eu- 15 Vgl. Agence Europa vom 14.2.2003. ropaministers Rocco Buttiglione vor den 16 Nachfolgende Aussagen beziehen sich auf Ausschüssen für Auswärtige Politik und Corriere della Sera vom 15.2.2003 und Europafragen der Kammer und des Senats La Repubblica vom 16.2.2003. am 26.2.2003. Camera dei Deputati. XIV 17 Il Sole 24 Ore vom 18.2.2003. Legislatura – Comm. Riun. III-XIV-C-3A 18 So Frattini in seiner Rede vor der fran- -Giun. Aff. Eur.-S – Seduta del 26. Feb- zösischen Nationalversammlung am braio 2003, S.10–12. 26.2.2003. Der Text der Rede findet sich 36 So zitiert bei Mennitti, Pierluigi: Europa: unter http://www.affariesteri.it. Parigi-Berlino, l'asse del nulla, in: Idea- 19 Vgl. Corriere della Sera vom 6.2.2003. zione 80, 2003, unter: http://www. 20 Vgl. FAZ vom 24.4.2003. ideazione.com. 21 Vgl. das Interview mit Frattini in: Il Sole 37 So Rocco Buttiglione gegenüber Reuters 24 Ore vom 1.3.2003. am 1.4.2003. 22 So in seiner Rede am 8.6.2002 in Madrid, 38 Vgl. ebd. unter http://www.europa2004it. 39 So Frattini in einer Anhörung des Senats 23 Proposta di emendamento di Gianfranco am 29.1.2003. Der Algerienkrieg im historischen Gedächtnis der Franzosen

Roland Höhne

In Frankreich spielt die Erinnerung an und führte damit zum Verlust Alge- die eigene Geschichte eine zentrale riens, sondern zwang auch Frankreich, Rolle bei der Legitimation politischer sich aus seinen beiden nordafrika- Herrschaft. Als nationale Sinnstiftung nischen Protektoraten Marokko und ist sie von fundamentaler Bedeutung Tunesien sowie aus seinen schwarz- für die Existenz der Staatsnation. Erst afrikanischen Kolonien zurückzu- durch die gemeinsame Erinnerung bil- ziehen. Der Krieg besiegelte so das den die Bürger eine nationale Identität Schicksal des französischen Kolonial- aus und werden so zu einer politischen reiches und damit Frankreichs als Gemeinschaft. Erinnerung fußt auf Ge- Kolonialmacht. Rund 1,5 Millionen schichte, also auf Geschehen, ist jedoch französischer Soldaten, überwiegend mit dieser nicht identisch. Vielmehr ist Wehrpflichtige und Reservisten, waren sie ein mentaler Prozess, der von po- an ihm beteiligt, etwa 20.000 verloren litischen und sozialen Akteuren voran- dabei ihr Leben. Er prägte dadurch getrieben wird. Sie ist immer selektiv das Bewusstsein einer ganzen Gene- und spiegelt die sozio-kulturellen ration.2 Ferner zerstörte er die Machtverhältnisse einer Gesellschaft Lebenswelt der französischen Siedler wider. Die Analyse von Erinnerung in Algerien, die dort seit Generatio- erfordert daher sowohl die Analyse nen gelebt hatten. Fast alle Siedler ihres Inhaltes als auch ihrer Trä- verließen nach dem Krieg das Land. ger.1 Mit ihnen flohen auch Algerier, die mit den Franzosen eng zusammenge- Zentrale Elemente historischer Erin- arbeitet hatten, unter ihnen etwa nerung bilden Kriege, so besonders die 20.000 bis 40.000 Hilfskräfte der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. französischen Armee, die Harkis. Rund Der Algerienkrieg unterschied sich 100.000 Harkis, die in Algerien zu- zwar von beiden durch Ursachen und rückblieben, wurden von algerischen Folgen, Charakter und Dimension, Nationalisten ermordet. Schließlich Dauer und Verlusten, ist jedoch eben- führte der Krieg 1958 zu einem Regime- falls von großer Bedeutung für das wechsel in Frankreich, der die Rück- kollektive Gedächtnis der Franzosen. Er kehr General de Gaulles an die Macht endete nicht nur mit einer Niederlage erlaubte.3

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 92 Roland Höhne

1. Die Verdrängung den Massenmedien. Sie mussten aber der Erinnerung seine Lasten tragen. Der Krieg war da- her nie populär, auch wenn er zunächst Im Gegensatz zur Erinnerung an die mehrheitlich gebilligt wurde. Mit der beiden Weltkriege wurde die Erinne- Zeit wurde er von vielen mehr und rung an den Algerienkrieg jahrzehnte- mehr als Anachronismus empfunden. lang verdrängt. Der Staat bemühte sich Die meisten Franzosen wollten ihn da- zwar intensiv um die Beseitigung der her nach 1962 so schnell wie möglich Kriegsfolgen, nicht jedoch um die vergessen. Die Modernisierung des Lan- mentale und emotionale Aufarbeitung des und die Früchte des Wohlstandes des Krieges. waren ihnen wichtiger als die Erin- nerung an einen verlorenen Krieg ohne Die Algerienflüchtlinge wurden rasch Helden und Siege. Die Prosperität der in die französische Gesellschaft in- Sechzigerjahre und die Prestigepolitik tegriert, die Putschisten und OAS- de Gaulles förderten das Vergessen. In Aktivisten schrittweise amnestiert,4 die den Siebziger- und Achtzigerjahren Veteranen des Krieges denen der beiden beherrschten dann soziale, kulturelle Weltkriege rechtlich gleichgestellt, der und ökonomische Probleme das öffent- Kriegsopfer in lokalen Zeremonien liche Interesse. „Die sozialen Rahmen- gedacht. Jedoch wurde eine kritische bedingungen für ein kollektives Ge- Auseinandersetzung mit dem Krieg in dächtnis, das die Toten ehrt, dem Opfer den Schulen, im Kino und im Fern- Sinn verleiht und die Nation zusam- sehen5 behindert, und eine wissen- menhält, (waren) nach 1962 denkbar schaftliche Erforschung des Krieges ungünstig.“7 wurde durch eine restriktive Regelung des Zugangs zu den Archiven er- Nur eine kleine Minderheit von In- schwert.6 Der Staat gedachte auch nicht tellektuellen, Publizisten und Histori- in feierlichen Zeremonien des Krieges kern machte sich an seine Aufarbei- wie der beiden Weltkriege. Lediglich tung. Bereits während des Krieges Giscard d'Estaing nahm am 16. Oktober berichtete Henri Alleg, der Direktor der 1977 an der Bestattung der sterblichen algerischen Tageszeitung „Alger Répub- Überreste eines unbekannten Soldaten licain“, über die Foltermethoden der des Algerienkrieges in Notre-Dame de französischen Polizei, die er am eigenen Lorette (Picardie) teil. Es blieb jedoch Leib erfahren hatte8, und der liberale bei dieser einmaligen Geste. Bis heute Journalist Jean-Jacques Servan-Schreiber erinnert daher kein offizieller Feiertag schrieb über seine Kriegserfahrungen an den Algerienkrieg wie der 11. No- als Leutnant in Algerien.9 Aber auch vember an den I. und der 8. Mai an Schriftsteller nahmen gegen den Krieg den II. Weltkrieg. Stellung.10 Nach dem Krieg wuchs dann die Zahl der Publikationen kon- Die Haltung des Staates entsprach den tinuierlich. Unter ihnen nahmen die Bedürfnissen der meisten Franzosen. Kriegserinnerungen einen breiten Platz Diese hatten den Algerienkrieg nicht ein. Besonders der Bericht des Fall- wie den II. Weltkrieg unmittelbar er- schirmjägergenerals Massu über die lebt, da er außerhalb des Mutterlandes „Schlacht von Algier“, d.h. die Säube- stattfand, sondern kannten ihn nur aus rung der Altstadt von Algier im Jahre Der Algerienkrieg im historischen Gedächtnis der Franzosen 93

1957, erregte 1971 großes Aufsehen.11 gefühl. Sie bildeten demzufolge mental Aber auch er löste keine breite öffent- keine einheitliche Gruppe wie die liche Debatte über den Krieg aus. Noch Veteranen des „Großen Krieges“.15 Zu- 1992 beklagte der Zeithistoriker Ben- nächst schwiegen sie über ihre Erleb- jamin Stora das mangelnde Interesse nisse. Sie fühlten sich nicht verant- der Öffentlichkeit an einer Aufarbei- wortlich für einen Krieg, den sie nicht tung des Krieges.12 gewollt hatten, und waren sich auch keiner Schuld bewusst, da sie im guten Glauben an eine gerechte Sache ge- 2. Erinnerungsgruppen kämpft hatten. Vom Staat verlangten sie vor allem die Anerkennung als ehe- Die Erinnerung an den Algerienkrieg malige Frontkämpfer und damit die wurde daher in jenen Jahren nur von rechtliche Gleichstellung mit den jenen gepflegt, die unmittelbar vom Weltkriegsveteranen. Zur Durchsetzung Krieg und von den Kriegsfolgen be- ihrer Forderungen schlossen sie sich troffen waren: den Kriegsveteranen – wie ihre Väter und Großväter in Berufssoldaten, Wehrpflichtige, Reser- Veteranenverbänden zusammen. Der visten –, den Algerienfranzosen und größte von diesen, die Union nationale den algerischen Flüchtlingen. Diese des Combattants d'Afrique du Nord drei Großgruppen waren jedoch in der (UNC-AFN), knüpft an die nationale zentralen Frage der Erinnerung, der Tradition der unmittelbar nach dem Sinnfrage des Krieges, gespalten. Sie I. Weltkrieg gegründeten UNC an und generierten daher keine einheitliche betrachtet den Algerienkrieg vor allem Erinnerung. Dies gilt ganz besonders als Tragödie, d.h. als Kampf für eine für die größte Gruppe, die Kriegsvete- gerechte, aber verlorene Sache. Der ranen. zweitgrößte Veteranenverband, die Fédération nationale des Anciens Combattants en Algérie, Tunisie et 2.1 Kriegsveteranen Maroc (FNACA), steht dagegen in der linksrepublikanischen Tradition der Die große Mehrheit der französischen in den Zwanzigerjahren gegründeten Kriegsteilnehmer, etwa 1,3 Millionen, Union fédérale. Im Gegensatz zur UNC- waren Wehrpflichtige und Reservis- AFN verurteilt sie den Krieg und tritt ten.13 Sie rekrutierten sich wie die Sol- für eine französisch-algerische Verstän- daten der beiden Weltkriege aus allen digung ein. Der Gegensatz zwischen sozialen Schichten und kulturellen beiden Verbänden manifestiert sich Milieus und spiegelten so die Vielfalt besonders in den Auseinandersetzun- der französischen Gesellschaft wider. gen um einen nationalen Gedenktag Obwohl sie den Krieg in ähnlicher für den Algerienkrieg.16 Die FNACA Weise erlebten, wie die zahlreichen befürwortet die Wahl des 19. März, den Kriegserinnerungen bezeugen,14 wur- Tag des Waffenstillstandes von 1962, den sie nicht wie ihre Großväter im analog zum 11. November und 8. Mai, I. Weltkrieg durch das Fronterlebnis zu um der Opfer zu gedenken und an den einer Frontgeneration zusammenge- Frieden zu mahnen. Statt eines Helden- schweißt und entwickelten daher auch gedenktags will sie einen Volkstrauer- kein starkes Zusammengehörigkeits- tag. Die UNC-AFN lehnt dagegen den 94 Roland Höhne

19. März strikt ab, denn er verkörpert nicht nur materielle Interessen, son- für sie in erster Linie eine Niederlage. dern pflegen auch die Erinnerung an Sie will an einem nationalen Gedenk- die verlorene Heimat.20 Dadurch üben tag vor allem die Gefallenen ehren. Der sie einen erheblichen Einfluss auf die 11. November erscheint ihr dafür Erinnerung des Krieges aus. Behindert am besten geeignet. Damit stellt sie wurde ihre Erinnerungsarbeit durch die den Algerienkrieg in die Tradition des beträchtlichen sozialen, mentalen und „Großen Krieges“. regionalen Unterschiede zwischen ih- nen. Sie waren zwar alle französische Staatsbürger, aber unterschiedlicher 2.2 Algerienfranzosen Herkunft21 und hatten in Algerien kein gemeinsames Bewusstsein besessen. Zu Ebenfalls direkt vom Algerienkrieg einer Schicksalsgemeinschaft wurden betroffen waren die Algerienfranzosen, sie erst durch Krieg und Vertreibung. In die Pieds noirs.17 Sie besaßen in der ihrer Erinnerung war Algerien ein algerischen Kolonialgesellschaft eine blühendes Land, in dem Europäer und privilegierte Stellung und engagierten Algerier friedlich zusammenlebten, sich daher bis auf wenige Ausnahmen ehe die algerischen Nationalisten es für die integrale Aufrechterhaltung zerstörten.22 Diese hätten sich nach der französischen Herrschaft. Zu den dem Krieg unfähig gezeigt, das Land wenigen Ausnahmen gehörte Albert wieder aufzubauen. Vielmehr sei dieses Camus, der sich für eine Verständigung in Chaos, Armut und Bürgerkrieg ver- mit den muslimischen Algeriern ein- sunken. Eine Aussöhnung mit den setzte.18 Die algerischen Siedler waren algerischen Nationalisten sowie eine bevorzugte Opfer des FLN-Terrors und Rückkehr in ihre alte Heimat unter bangten daher nach Kriegsende um ihr algerischer Herrschaft lehnen die meis- Leben. Fast alle verließen bis 1965 das ten Algerienfranzosen ab. Sie unter- Land, etwa 400.000 unmittelbar nach stützen daher mehrheitlich die UNC, dem Waffenstillstand unter drama- eine aktive Minderheit den Front tischen Umständen. Der Staat half national. Nur wenige befürworten eine ihnen zwar bei der sozialen Integration französisch-algerische Aussöhnung. in die Gesellschaft des Mutterlandes, ließ sie jedoch bei der Bewältigung ihrer mentalen Probleme allein. Sie 2.3 Algerische Flüchtlinge fühlten sich nicht nur als Opfer der algerischen Nationalisten, die ihre Schlimmer als den Algerienfranzosen Lebenswelt zerstört hatten,19 sondern erging es den Algeriern, die eng mit auch als Opfer des französischen Staa- Frankreich zusammengearbeitet hatten: tes, speziell de Gaulles, der Algerien Lehrer, Intellektuelle, Abgeordnete, aufgegeben hatte und so an ihrem Notabeln, Großgrundbesitzer, Verwal- Elend schuld sei. Sie forderten deshalb tungsangestellte, Soldaten, Hilfswillige. moralische und materielle Wieder- Wer sich von ihnen nicht rechtzeitig in gutmachung für das erlittene Unrecht. Sicherheit bringen konnte, wurde von Zur Durchsetzung ihrer Forderungen den algerischen Nationalisten nach schlossen sie sich in zahlreichen dem Krieg ermordet. So erging es vor Verbänden zusammen. Diese vertreten allem den militärischen Hilfskräften der Der Algerienkrieg im historischen Gedächtnis der Franzosen 95 französischen Streitkräfte, den Harkis. So verglich der algerische Staatsprä- Diese kämpften an der Seite der Fran- sident Bouteflika bei seinem Staats- zosen, weil sie fest überzeugt waren, besuch in Frankreich im Juni 2000 im diese würden den Krieg gewinnen und französischen Fernsehen die Harkis mit dann die Algerier an der Machtaus- den französischen Kollaborateuren übung beteiligen.23 Sie wurden beson- während der deutschen Besatzung der ders bei Repressalien gegen die Zivil- Jahre 1940–1944,30 die algerischen bevölkerung eingesetzt und zogen sich Medien kritisierten heftig die Ehrung dadurch den Hass der FLN zu. Ihre der Harkis durch Staatspräsident Chirac französischen Offiziere hatten ihnen und bezeichneten seine Rede als arro- zwar versprochen, sie auf keinen Fall gante Kritik an der FLN.31 Eine solche in Stich zu lassen, auf ausdrückliche Belastung aber wollten bisher alle Anweisung der politischen Führung französischen Regierungen vermei- wurden die meisten von ihnen jedoch den.32 Die Harkis selbst aber waren bei Kriegsende nicht nach Frankreich bisher zu schwach und zu zersplittert, evakuiert, sondern in Algerien schutzlos um sich öffentlich Gehör zu ver- zurückgelassen.24 Sie fühlen sich da- schaffen.33 Sie besitzen keine mäch- her als doppelte Opfer, nicht als Tä- tigen Verbände wie die Veteranen und ter.25 die Algerienfranzosen und fallen zah- lenmäßig als Wähler kaum ins Ge- In Frankreich lebten die Harkis mit wicht. Erst in jüngster Zeit ist es ihren ihren Familien zunächst in Lagern und Kindern gelungen, sich öffentlich wurden erst nach deren Auflösung Gehör zu verschaffen.34 Sie beklagen 1976 allmählich in die französische das Schicksal ihrer Väter und verlangen Gesellschaft integriert.26 Ihr Engage- vom französischen Staat, dass er sich ment für das französische Algerien zu seiner Verantwortung bekennt.35 wurde ihnen nicht gedankt.27 Erst im Dies löste eine kontroverse Debatte in Oktober 2001 würdigte dies Staats- den Medien aus.36 Einige ihrer ehema- präsident Jacques Chirac in einem ligen französischen Offiziere ergriffen offiziellen Staatsakt28 und ernannte im nun offen für sie Partei.37 Seit- Mai 2002 den Sohn eines Harkis, her spielen auch sie eine aktive Rolle Mekachera, zum Staatssekretär für An- in der französischen Erinnerungsde- gelegenheiten der Kriegsveteranen. batte. Aber zu mehr konnte auch er sich (bisher) nicht entschließen. Bis heute Die Erfahrungsgruppen, insbesondere gibt es daher für die Harkis weder einen die Veteranen und die Algerienfran- Erinnerungsort noch einen Erinne- zosen, haben zunächst erheblich die rungstag.29 Ein öffentliches Gedenken Erinnerung an den Krieg geprägt. Seit an ihr Engagement und ihr Leiden der Kulturrevolution vom Mai 1968 würde den französischen Staat zwin- verloren sie jedoch zunehmend an gen, sich zu seiner Verantwortung für publizistischem Einfluss. Die Aufar- ihr Schicksal zu bekennen, es würde beitung des Algerienkrieges wurde nun aber auch die französisch-algerischen mehr und mehr von liberalen Mo- Beziehungen belasten, denn die al- ralisten und linken Antikolonialisten gerischen Nationalisten betrachten sie beherrscht. Diese verglichen die Kriegs- noch immer als Mörder und Verräter. verbrechen französischer Soldaten wäh- 96 Roland Höhne rend des Algerienkrieges mit den Men- bewegung FLN (Front de Libération schenrechtsverletzungen des Vichy- nationale) die Trennung Algeriens von Regimes während des II. Weltkrieges.38 Frankreich anstrebte, verteidigte diese Allerdings hat bisher keines der beiden in Algerien seine territoriale Integrität Lager die Deutungshoheit über die und nationale Einheit. Der Algerien- Vergangenheit gewinnen und so ihre krieg war daher aus französischer Sicht partikulare Erinnerung zur herrschen- kein Krieg, sondern nur eine Polizei- den Erinnerung machen können, wie aktion zur Wiederherstellung der öf- dies das „Freie Frankreich“ de Gaulles fentlichen Ordnung im eigenen Lande. bzw. die Widerstandsbewegung gegen Was aber offiziell kein Krieg war, kann die deutsche Besatzung während des auch vom Staat nicht als Krieg erinnert II. Weltkrieges nach Kriegsende ver- werden. mochten. Um die Gestaltung des kol- lektiven Gedächtnisses ringen daher De facto aber war Algerien eine Ko- heute immer noch mehrere partikulare lonie, da seine innere Ordnung auf Erinnerungen. einem System politischer, sozialer, rechtlicher, ethnischer und kultureller Ungleichheit beruhte. Nur etwa 10 3. Ursachen von Prozent seiner Bewohner, die rund Verdrängung und 950.000 Algerienfranzosen, besaßen gespaltener Erinnerung die französische Staatsbürgerschaft. Die große Mehrheit der algerischen Be- Die jahrzehntelange Verdrängung des völkerung, die etwa 9 Millionen mus- Krieges sowie die gespaltene Erinne- limischen Algerier, war dagegen zwar rung an ihn waren bzw. sind eine Folge steuer- und wehrpflichtig, aber nicht der Ambivalenz, der Methoden, des Ver- wahlberechtigt und konnte daher laufs, der innenpolitischen Auswir- weder direkt noch indirekt ihr Schicksal kungen und des Ausgangs des Krieges selbst bestimmen. Sie war jedoch sozial, sowie der politischen und gesellschaft- ökonomisch und kulturell in die lichen Entwicklung nach dem Kriege. französisch dominierte Kolonialge- sellschaft eingebunden. Zwischen den ethnischen Gemeinschaften Algeriens 3.1 Die Ambivalenz des Krieges bestand daher ein komplexes Be- ziehungsgeflecht.41 Der Algerienkrieg Das seit 1830 schrittweise von den hatte daher einen Doppelcharakter. Es Franzosen eroberte Algerien war recht- war ein Krieg zur Aufrechterhaltung der lich weder eine Kolonie wie der Senegal französischen Kolonialherrschaft, aber noch ein Protektorat wie Tunesien und gleichzeitig auch ein Krieg zur Ver- Marokko, sondern seit der II. Republik teidigung der staatlichen Einheit Frank- (1848–1852) verfassungsrechtlich ein reichs. Er war daher kein klassischer integraler Bestandteil des französischen Kolonialkrieg wie der Indochinakrieg Staates und erhielt in der III. Republik (1946–1954), sondern ein Krieg sui (1870–1940) den Status von franzö- generis.42 Dies macht es schwierig, sich sischen Departements,39 die zeitweilig seiner zu erinnern, aber noch schwie- direkt von Paris aus verwaltet wurden.40 riger, ihm einen eindeutigen Sinn zu Da die algerische Unabhängigkeits- geben. Der Algerienkrieg im historischen Gedächtnis der Franzosen 97

3.2 Die Methoden der Republik verteidigen. Der Krieg wurde Kriegsführung daher zu Beginn von allen relevanten politischen Kräften sowie der großen Der Algerienkrieg wurde auf beiden Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Seiten nicht entsprechend den Regeln Es bildete sich so eine nationale Ein- des Völkerrechts, sondern entsprechend heitsfront von den Nationalisten bis den Gesetzen des Partisanen- bzw. hin zu den Kommunisten. Im Gegen- Kolonialkrieges geführt.43 Die algeri- satz zum Kalten Krieg, aber auch zum schen Nationalisten überfielen fran- Indochinakrieg einte er dadurch zu- zösische Polizeistationen, zündeten nächst die Franzosen. Nur eine kleine Bomben in Restaurants und Cafés, Minderheit, die so genannten „Koffer- ermordeten französische Siedler und träger“, befürworteten im Namen des algerische Zivilisten, vermieden jedoch Selbstbestimmungsrechts der Völker die den offenen Kampf mit französischen Unabhängigkeit Algeriens und halfen Truppen. Diese antworteten auf den als Kuriere auch direkt den Aufstän- Terror der FLN mit Gegenterror, u.a. dischen.46 mit der systematischen Anwendung der Folter, mit der Zwangsumsiedlung und Je länger der Krieg dauerte, umso mehr Internierung von Zivilisten und mit schwand jedoch in der französischen Repressalien gegen die Zivilbevöl- Bevölkerung die Bereitschaft, dessen kerung.44 Sie vermochten dadurch die Lasten zu tragen. Besonders unter den Kontrolle über das Land zu behaupten, Wehrpflichtigen und den Reservisten diskreditierten sich jedoch moralisch. wuchs die Kriegsmüdigkeit. Die Re- Die Methoden der französischen Kriegs- gierung suchte daher den Krieg durch führung, insbesondere die Folter, spal- die Gewährung einer begrenzten Auto- teten daher bereits während des Krieges nomie für Algerien zu beenden. Gegen die öffentliche Meinung und belasten diese Absicht putschte im Mai 1958 die bis heute die Erinnerung an den Krieg Algerienarmee und ermöglichte da- schwer. An ihrer moralischen Proble- durch die Rückkehr de Gaulles an die matik scheiden sich nach wie vor die Macht. Geister.45 Dieser wollte zwar zunächst ebenfalls die französische Herrschaft über Al- 3.3 Verlauf und innerfranzösische gerien erhalten, entschied sich aber Auswirkungen des Krieges sehr bald für die Unabhängigkeit. Am 16. September 1959 erkannte er das Der Doppelcharakter des Krieges als Recht der Algerier auf Selbstbe- nationaler Krieg und als Kolonialkrieg stimmung an und nahm im Juli 1960 ermöglichte es sowohl der Rechten als Kontakte zur FLN auf. Dadurch spal- auch der Linken, ihn zu befürworten. teten sich die politische Klasse, die Beide Lager ließen sich dabei jedoch Armee und die französische Bevöl- von unterschiedlichen Motiven leiten. kerung in Anhänger und Gegner seiner Die Rechte wollte das französische Algerienpolitik. Sie wurde von der Lin- Kolonialreich als Grundlage des fran- ken und der Mehrheit der Gaullisten zösischen Großmachtstatus erhalten, unterstützt, von einer Minderheit der die Linke die universellen Werte der Gaullisten, der national-konservativen 98 Roland Höhne und nationalistischen Rechten be- Frankreich verlor mit Algerien seine kämpft. Am 21. April 1961 putschten letzte größere Kolonie. Die Unabhän- abermals in Algerien Armeeeinheiten gigkeit Algeriens bedeutete daher das unter der Führung von vier Generälen. Ende seines Status als Kolonialmacht, Da der Putsch diesmal nicht wie der auf dem sein Großmachtanspruch von 1958 von den Wehrpflichtigen unter anderem beruhte. Die Niederlage unterstützt wurde, scheiterte er nach wurde so zum Symbol für den macht- wenigen Tagen. Daraufhin bildete sich politischen Niedergang Frankreichs. Da aus militanten Anhängern des fran- Algerien ein integraler Bestandteil der zösischen Algeriens eine militäri- „einen und unteilbaren Republik“ war, sche Widerstandsorganisation, die OAS wurde seine Unabhängigkeit von vielen (Organisation de l'Armée Secrète), Franzosen als territorialer Verlust und welche die Unabhängigkeit Algeriens nationale Kränkung empfunden. Die gewaltsam verhindern wollte. Sie wur- Unabhängigkeit Algeriens wurde zwar de jedoch rasch zerschlagen, da sie von den französischen Bürgern in keinen nennenswerten Rückhalt in der einem Referendum mit überwältigen- Bevölkerung fand.47 Der Algerienkrieg der Mehrheit (90,7%) gebilligt, bewies führte somit zu bewaffneten inner- aber, dass die Republik sehr wohl teilbar französischen Auseinandersetzungen, war. Der Sieg der algerischen Befrei- einer neuen „guerre franco-française“ ungsbewegung bedeutete einen Sieg wie während der Besatzungsjahre des des ethnischen Partikularismus über II. Weltkrieges, wenn auch mit anderen den republikanischen Universalismus, Protagonisten.48 Die Wunden dieses durch den sich der französische Staat Bürgerkrieges sind bis heute nicht seit 1789 legitimiert. Er beschädigte vernarbt und spalten daher die Fran- daher nachhaltig das nationale Selbst- zosen noch immer. verständnis. Er führte ferner zur Mas- senflucht der Algerienfranzosen, die dort seit Generationen gelebt hatten. 3.4 Der Ausgang des Krieges De Gaulles Bestreben, den erlittenen Machtverlust durch das Engagement Der Algerienkrieg endete für die Fran- für die Länder der Dritten Welt po- zosen mit einer bitteren Niederlage. litisch zu kompensieren, war nur be- Obgleich die französischen Streitkräfte grenzt erfolgreich. Es gelang Frankreich die in Algerien operierenden Kampf- daher nicht, die Niederlage nachträg- gruppen der ALN (Armée de Libération lich in einen Sieg umzumünzen. nationale) fast vollständig aufrieben und die Infrastruktur der FLN weit gehend zerschlugen, vermochten sie 4. Die Rückkehr der Erinnerung nicht, den Widerstand der Unabhän- gigkeitsbewegung zu brechen. Frank- Erst im Laufe der Neunzigerjahre nahm reich sah sich daher im März 1962 das öffentliche Interesse am Algerien- gezwungen, mit dieser einen Waffen- krieg wieder zu, wie die zahlreichen stillstand zu schließen und innerhalb Neuauflagen von Augenzeugenbe- von drei Monaten das Land zu räu- richten, Pamphleten und Zeugnissen men.49 Am 3. Juli 1962 erkannte es offi- aus den Fünfzigerjahren,50 aber auch ziell die Unabhängigkeit Algeriens an. die vielen Neuerscheinungen zum Der Algerienkrieg im historischen Gedächtnis der Franzosen 99

Thema belegen. So berichten Veteranen engagierte Intellektuelle verkörperte er über ihre Kriegserlebnisse51, Historiker die Kontinuität französischer Repres- beschäftigten sich erneut mit der sionspolitik. Haltung der Franzosen zum52 sowie mit der Erinnerung an den Krieg,53 unter- Auch das Fernsehen griff nun verstärkt suchten die Ursachen des Krieges,54 das Thema auf. Ab 9. Februar 1990 beschrieben die Kriegserlebnisse von wurde eine fünfteilige belgisch-briti- Wehrpflichtigen in Algerien,55 kriti- sche Serie von Peter Batty, „La Guerre sierten die Funktionsweise der fran- d'Algérie“, ausgestrahlt.59 Obwohl diese zösischen Justiz während des Krieges56 eindeutig für die FLN und gegen die und brandmarkten die systematische Verfechter des „französischen Alge- Anwendung der Folter.57 Gemeinsam riens“ Partei ergriff, wurde sie 1991 von ist diesen jüngeren Arbeiten der mo- Antenne 2 und 1995 von Planète wie- ralische Impetus, die Verurteilung des derholt. Eine neue Qualität erreichte Krieges und der Kriegsführung. die Aufarbeitung des Krieges im Fern- sehen 1991 mit der dreiteiligen Serie Diese Konzentration jüngerer Publi- „Les années algériennes“ von Benjamin kationen auf die moralischen Aspekte Stora. In dieser bemühte sich der Autor des Algerienkrieges ist eine Folge der um eine objektive Aufarbeitung des intensiven Auseinandersetzung der Geschehens. Es folgten Dokumenta- Franzosen mit dem Vichy-Regime seit tionen zur Algerienpolitik de Gaulles,60 den Achtzigerjahren. Im Falle von ein Film über die Wehrpflichtigen und Vichy stand die Frage nach der in- die Reservisten61 sowie eine zweiteilige dividuellen Verantwortung für Ver- Reportage über die Harkis.62 Im Zuge brechen gegen die Menschlichkeit im der neuaufgeflammten Debatte über Vordergrund. Einzelne Personen, so der die französischen Kriegsverbrechen Milizchef Touvier oder der Verwal- beschäftigte sich dann im Jahre 2002 tungsbeamte Papon, mussten sich André Gazut mit der individuellen deshalb noch in den Neunzigerjahren Verantwortung für Verletzungen der für ihre Taten im II. Weltkrieg ver- Menschenrechte.63 antworten. Beim Prozess gegen Maurice Papon im Jahre 1998 kam jedoch nicht Beherrscht wird die gegenwärtige nur dessen Mitverantwortung für die Erinnerungsdebatte vor allem von Judendeportationen im Jahre 1942, linken Intellektuellen, Historikern und sondern auch für die Repressionen in Publizisten wie Benjamin Stora64, Pierre Algerien sowie in Frankreich während Vidal-Naquet,65 Jean-Luc Einaudi66, des Algerienkrieges zur Sprache, denn Henri Alleg67. Sie findet jedoch diesmal Papon war als Generalinspekteur Ost- ein Echo nicht nur in der liberalen algeriens 1956 für die öffentliche Öffentlichkeit, sondern auch bei den Sicherheit und als Polizeipräfekt von Kindern und Enkeln der nordafri- Paris am 17. Oktober 1961 für das kanischen Einwanderer. Diese haben brutale Vorgehen der französischen zwar den Algerienkrieg selbst nicht Ordnungskräfte gegen algerische De- erlebt, kennen ihn aber aus den monstranten verantwortlich, durch das Erzählungen ihrer Väter und Großväter Dutzende von Personen, wenn nicht und werden mit seinen mentalen mehr, ihr Leben verloren.58 Für viele Folgen täglich in der französischen 100 Roland Höhne

Gesellschaft konfrontiert. So ist z.B. die Algerienkrieges im kollektiven Ge- Jugendarbeitslosigkeit unter ihnen dächtnis der Franzosen und damit um doppelt so hoch wie bei ihren fran- die Einordnung des Kolonialismus in zösischen Altersgenossen, und der das nationale Geschichtsbewusstsein. soziale Aufstieg ist ihnen weitgehend Die nationale Rechte, unterstützt von versperrt. Sie machen dafür die vielen Veteranen, Algerienfranzosen psychologischen Nachwirkungen des und Harkis, betrachtet ihn nach wie Kolonialismus, insbesondere aber des vor als Tragödie, die universalistische Algerienkrieges verantwortlich.68 Sie Linke als Unrecht, ja als Verbrechen. verlangen deshalb eine kritische Die Debatte um die Erinnerung an den Auseinandersetzung mit der kolonialen Algerienkrieg spiegelt so im Kern den Vergangenheit.69 Trotz der Diskurs- weltanschaulichen Grundkonflikt zwi- hoheit der Antikolonialisten und Mo- schen der nationalen Rechten und der ralisten melden sich jedoch auch die universalistischen Linken wider. Verteidiger des „französischen Al- geriens“ weiterhin zu Wort. Sie loben Die alten Gegensätze bestehen somit das französische Aufbauwerk in Al- weiter. Im Gegensatz zu den vorran- gerien,70 erinnern an den Terrorismus gegangenen Jahren ist der Umgang mit der FLN,71 rechtfertigen die Repression dem Algerienkrieg jedoch heute ge- als ein notwendiges Mittel im Kampf lassener geworden. Am 10. bzw. 5. gegen den Terrorismus72 und kritisieren Oktober 1999 beschlossen die Mit- die Algerienpolitik de Gaulles.73 Unter glieder beider Häuser des französischen den Verteidigern des Algerienkrieges Parlaments fast einstimmig, dass in erregte besonders General Aussaresses Zukunft die Kampfhandlungen in großes Aufsehen, der in seinen Me- Algerien der Jahre 1954–1962 in allen moiren die damalige Folterpraxis recht- offiziellen Texten als „Algerienkrieg“ fertigte.74 Die intellektuelle Linke re- bezeichnet werden.76 Damit wird die agierte empört, die Presse, vor allem Fiktion einer Polizeiaktion zur Auf- Le Monde, griff das Thema erneut auf, rechterhaltung der öffentlichen Ord- und das Fernsehen zeigte eine Dis- nung aufgegeben und der Krieg auch kussionsrunde zwischen Anklägern und beim Namen genannt. Als der al- Verteidigern der Folter. Die meisten gerische Staatspräsident Abdelaziz Politiker sowie die Interessenverbände Bouteflika während seines Staats- der Erfahrungsgruppen des Krieges besuches in Frankreich am 14. Juni schwiegen dagegen, da sie die alten 2000 vor der französischen National- Geschichten nicht wieder aufrühren versammlung sprach, boykottierten nur wollten. Lediglich die inzwischen wenige Abgeordnete aus Protest gegen hochbetagten Generäle Bigeard und dessen Ehrung die Sitzung.77 Massu, die im Algerienkrieg eine füh- rende Rolle gespielt hatten, äußerten Das neuerwachte Interesse am Al- sich öffentlich. Bigeard rechtfertigte gerienkrieg ergibt sich vordergründig erneut die Anwendung der Folter als aus dem algerischen Bürgerkrieg der kriegsnotwendig, Massu bedauerte sie Neunzigerjahre, in dem sich algerische dagegen.75 Vordergründig geht es bei Nationalisten und muslimische Fun- dieser Debatte um moralische Fragen, damentalisten gegenüberstehen. Die im Kern aber um die Stellung des Fernsehberichterstattung über ihn er- Der Algerienkrieg im historischen Gedächtnis der Franzosen 101 innert die Franzosen an ihren eigenen Chirac die Aussöhnung mit der ehe- Krieg vor vierzig Jahren. Der eigentliche maligen Kolonie. Gleichzeitig schenkte Grund aber bildet die Furcht vor einem er Bouteflika die Memoiren de Gaulles Übergreifen des islamischen Funda- und stellte sich so in die Kontinuität mentalismus auf die rund sechs Mil- der gaullistischen Algerienpolitik. In lionen in Frankreich lebenden Moslems einer gemeinsamen Deklaration ver- überwiegend nordafrikanischer Ab- kündeten beide Staatschefs ihre Ab- stammung.78 Diese sind nur teilweise sicht, die Kooperation zwischen beiden in die französische Gesellschaft inte- Ländern zu verstärken und eine echte griert und könnten sich radikalisieren. Partnerschaft analog der deutsch-fran- So musste z.B. das Fußballspiel zwi- zösischen Partnerschaft zu entwickeln. schen der algerischen und der fran- Dieser Weg in die Zukunft soll von zösischen Nationalmannschaft im einer Aufarbeitung der Vergangenheit Stade de France in Paris am 6. Oktober begleitet werden, um das „Erbe der 2001 abgebrochen werden, weil junge Vergangenheit zu wahren“.80 Franko-Maghrebiner die französische Nationalhymne auspfiffen und nach Die gegenwärtige Debatte über den den anwesenden französischen Ehren- Algerienkrieg ist somit in erster Linie gästen, unter ihnen Staatspräsident eine Reaktion auf inneralgerische und Chirac, mit Bierdosen warfen.79 innerfranzösische Entwicklungen, erst in zweiter Linie auf die algerisch- Das verstärkte Interesse am Algerien- französische Annäherung. Sie wird krieg ergibt sich aber auch aus der weitgehend entsprechend traditio- französisch-algerischen Annäherung nellen Interpretationsmustern geführt, der letzten Jahre. Im Juni 2000 be- hat sich jedoch versachlicht. Gefördert suchte der algerische Staatspräsident wird sie durch den Generationswechsel. Abdelaziz Bouteflika, ein Repräsentant Heute besetzen Personen Führungs- des FLN, Frankreich und sprach vor der positionen in Staat und Gesellschaft, französischen Nationalversammlung, die entweder direkt am Algerienkrieg im März 2003 erwiderte der franzö- teilgenommen haben, wie Staatsprä- sische Staatspräsident Jacques Chirac sident Jacques Chirac, oder ihn erlebt den Staatsbesuch. Er wurde von einer haben, wie viele der älteren Parlamen- jubelnden Menschenmenge in Algier tarier. Für sie war das prägende Erlebnis begrüßt, die sich von einer Verbes- nicht mehr der II. Weltkrieg wie für die serung der algerisch-französischen vorangehende Generation, sondern der Beziehungen eine Erleichterung ihrer Algerienkrieg. Die ihnen folgende Ge- desolaten sozio-ökonomischen Lage neration kennt den Algerienkrieg nur verspricht. Chirac überreichte dem noch vom Hörensagen bzw. aus Ge- algerischen Staatspräsidenten als sym- schichtsbüchern. Die zeitliche Distanz bolische Geste das Siegel des Dey von zu diesem erleichterte es ihnen, sich Algier, Hussein Pascha, das dieser 1830 nun offen mit ihm zu beschäftigen. den französischen Eroberern als Zei- Es besteht damit die Chance, dass chen der Unterwerfung gegeben hatte. sich allmählich eine gemeinsame Mit der Rückgabe des Symbols der Erinnerung an den Algerienkrieg bil- algerischen Souveränität besiegelte det. 102 Roland Höhne

Anmerkungen 1 Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis des Sciences Politiques, Paris 1977. und seine sozialen Bedingungen, Frank- 16 Vgl. Rouyard, Frédéric: La bataille du 19 furt a.M. 1985. mars, in: Jean-Pierre Rioux (Hrsg.), La 2 Die Reservisten und Wehrpflichtigen Guerre d'Algérie et les Français, Paris gehörten überwiegend den Jahrgängen 1990, S.544-552. 1932–1943 an. 17 Die Bezeichnung stammt von den 3 Vgl. Stora, Benjamin: Histoire de la guerre schwarzen Stiefeln der französischen d'Algérie: 1954–1962, Neuauflage, Paris Soldaten bzw. schwarzen Schuhen der 2002; Slama, Alain-Gérard: La guerre Europäer und verbreitete sich erst wäh- d'Algérie. Histoire d'une déchirure, Neu- rend des Algerienkrieges im Mutterland. auflage, Paris 2000; Miquel, Pierre: La 18 Vgl. Jurt, Joseph: Albert Camus et guerre d'Algérie, Paris 1993. l'Algérie, in: Joseph Jurt (Hrsg.), Algérie – 4 Stora, Benjamin: La gangrène et l'oubli. France – Islam, Paris 1997, S.97–109. La mémoire de la guerre d'Algérie, Paris Dazu kritisch Albes, Wolf-Dieter: Albert 1992, S.214ff. Camus und der Algerienkrieg – die 5 Erst 1982, ein Jahr nach dem Wahlsieg Auseinandersetzung der algerienfran- der Linken, brachte der staatliche Fern- zösischen Schriftsteller mit dem „direc- sehsender Antenne 2 die erste Serie teur de conscience“ im Algerienkrieg über den Algerienkrieg unter dem Titel (1954–1962), Tübingen 1990. „Guerre d'Algérie, mémoire enfoui d'une 19 Vgl. Goinard, Pierre: Algérie: l'oeuvre génération perdue“ von Denis Chegaray. française, Nice 2001. Vgl. Guibbert, Pierre: La guerre d'Algérie 20 Vgl. Hureau, Joëlle: Associations et sur les écrans français, in: Laurent souvenir chez les Français rapatriés Gerverau/Jean-Pierre Rioux/Benjamin d'Algérie, in: Rioux, Jean-Pierre (Hrsg.), La Stora (Hrsg.), La France en guerre guerre d'Algérie et les Français, Paris 1990, d'Algérie. Novembre 1954-Juillet 1962, S.517-525. Paris 1992, S.247–255. 21 Ihre Vorfahren kamen überwiegend aus 6 Vgl. Combe, Sonia: Archives interdites. Spanien, Italien, Malta und Frankreich. Les peurs françaises face à l'histoire 22 Baldacci, Aimé: Souvenirs d'un Français contemporaine, Paris 1994, S.240ff.; d'Algérie, Bd.7, Paris 1994f.; Bd.8, Paris Faivre, Maurice: Les archives inédites de 1996. la politique algérienne: 1958–1962, Paris 23 Vgl. Hamoumou, Mohand: Et ils sont 2001. devenus harkis, Paris 1993. 7 Hüser, Dietmar: Vergangenheitspolitik 24 Pervillé, Guy: Guerre d'Algérie: L'abandon und Erinnerungskulturen in Frankreich – des harkis, in: Charles-Robert Agéron Vom zersplitterten Gedenken an den (Hrsg.), L'Algérie des Français, Paris 1993, Algerienkrieg seit 1962, in: Frankreich S.303–311; Azni, Boussad: Harkis, crime Jahrbuch 2000, Opladen 2000, S.109. d'Etat: généalogie d'un abandon, Paris 8 Alleg, Henri: La Question, Paris 1958 2002. (Neuauflage 2001). 25 Vgl. Méliani, Abb-el-Aziz: Le drame des 9 Vgl. Servan-Schreiber, Jean-Jacques: Lieu- Harkis: la France honteuse, Paris 1993 tenant en Algérie, Paris 1958. (Neuauflage 2001). 10 Roman, Joël: Ecrire contre la guerre 26 Hamoumou, Mohand: Les harkis: une d'Algérie: 1947–1962, Paris 2002. double occultation, in: Gilles Ferréol 11 General Massu: La vraie bataille d'Alger, (Hrsg.), Integration et exclusion dans la Paris 1971. société française contemporaine, Lille 12 Vgl. Stora, B.: La gangrène et l'oubli (FN 1993, S.79–104. 4). 27 Vgl. Roux, Michel: Les harkis ou les 13 Vgl. Bail, René: Appelés en Algérie, Paris oubliés de l'histoire, Paris 1991. 2001. 28 Vgl. France-Harkis. Les oubliés à l'hon- 14 Vgl. Bergot, Erwan: La guerre des appelés neur, in: Le Point, 1515, 2001, S.84–85. en Algérie: Document, Paris 2002; dazu 29 Vgl. Agéron, Charles-Robert: Le „Drame kritisch: Mémoire et vérité des com- des Harkis“, Mémoire ou Histoire?, in: battants d'Afrique française du Nord: livre Vingtième siècle, 68/2000, S.3–16. blanc, Paris 2001. 30 Vgl. Le Monde, 17.6.2000. 15 Zur Geschichte der französischen Ve- 31 Vgl. Gilzner, Mechtild: Frankreich und teranenverbände vgl. Prost, Antoine: Les der Algerienkrieg: Eine Nation erinnert Anciens Combattants et la Société fran- sich, in: Grenzgänge, Heft 17, 9/2002, çaise, Presse de la Fondation Nationale S.117–126, bes. S.123. Der Algerienkrieg im historischen Gedächtnis der Franzosen 103

32 Vgl. Benoît, Bertrand: Le Syndrôme de la soif et de la peur: carnets d'Algérie Algérien. L'imaginaire de la politique 1957–1959, Paris 2001; Bail, René: algérienne de la France, Paris 1995. Appelés en Algérie, Paris 2001; Huther, 33 Vgl. Muller, Laurent: Le silence des harkis, Pierre: Génération Djebels: guerre d'Al- Paris 1999. gérie 1954–1962, Ostwald 2000. 34 Hamoumou, Mohand/Jordi, Jean-Jacques: 52 Vgl. Rioux, J.-P.: La Guerre d'Algérie et Les harkis, une mémoire enfouie, Paris les Français (FN 16). 1999. 53 Vgl. Stora, B.: La gangrène et l'oubli (FN 35 Vgl Azni, Boussad: Harkis, crime d'Etat: 4). généalogie d'un abandon, Paris 2002. 54 Vgl. Rey-Goldzeiguer, Annie: Aux origines 36 Vgl. u.a. Agéron, Ch.-R.: Le „Drame des de la guerre d'Algérie, Paris 2002. Harkis“, S.3–16 (FN 29). 55 Vgl. Mauss-Copeaux, Claire: Appelés en 37 Vgl. Luca, Robert: Harkis, mes frères de Algérie, Paris 1999. combat, Paris 2000. 56 Vgl. Thénault, Sylvie: Une drôle de 38 Vgl. Grosser, Alfred: Le crime et la mé- justice, Paris 2001. moire, Paris 1990. 57 Vgl. Branche, Raphaëlle: La torture et 39 Vgl Agéron, Charles-Robert: Histoire de l'armée pendant la guerre d'Algérie l'Algérie contemporaine, Bd.II., 1871– 1954–1962, Paris 2001; Vittorio, Jean- 1954, Paris 1979. Pierre: On a torturé en Algérie, Paris 2000. 40 Ebd. 58 Vgl. Einaudi, Jean-Luc: Octobre 1961: un 41 Vgl Stora, Benjamin: Histoire de l'Algérie massacre à Paris, Paris 2001. coloniale, 1830–1954, Paris 1991. 59 Vgl. Hennebelle, Guy: La guerre d'Algérie 42 Vgl. Planchais, Jean: L'Empire Embrasé à l'écran, Condé-sur-Noireau 1997; Albes, 1946–1962, Paris 1990, S.19–115 u. 221– Wolf Dietrich: Das französische Trauma 325; Slama, Alain-Gérard: La guerre Algerienkrieg, in: Französisch heute, d'Algérie. Histoire d'une déchirure, Paris 3/1996, S.175. 1996. 60 „De Gaulle et l'O.A.S“ von Piere Abra- 43 Vgl. Jauffret, Jean-Charles: Militaires et movici 1990 auf TF, „De Gaulle et l'Al- guérilla dans la guerre d'Algérie: Actes du gérie“ von Tom Weidlinger 1991 auf M 6. colloque de Montpellier des 5 et 6 mai 61 „La Guerre sans nom“ von Patrick Rot- 2000, Brüssel 2001. man und Bertrand Tavernier, zunächst 44 Vgl. die Untersuchung der Säuberung der 1992 im Kino, im März 1993 dann im Altstadt von Algier durch französische Fernsehen (Canal Plus). Fallschirmjäger 1957. Dazu Pellissier, 62 „Les Harkis“ von Alain Sédouy und Eric Pierre: La bataille d'Alger, Paris 2002. Deroo auf F3 im Dezember 1993. 45 Vgl. die Dokumentation von Barrat, D. et 63 „Pacification en Algérie“ von André R: Algérie, 1956. Livre Blanc sur la Ré- Gazut von 2002, Wiederholung am pression, préfacé par P. Vidal-Naquet, 12.2.2003 und 19.2.2003 in Arte. postfacé par B. Etienne, Paris 2001; ferner 64 Stora, Benjamin: Algérie: Une justice de zur Haltung des französischen Regie- guerre, in: Le Monde, 14.9.2001. Stora rungschefs der Jahre 1956/57, des So- macht auch den Algerienkrieg mitver- zialisten Guy Mollet: Lefebvre, Denis: antwortlich für den gegenwärtigen alge- Guy Mollet face à la torture en Algérie: rischen Bürgerkrieg. Siehe hierzu Stora, 1956–1957, Paris 2001. Benjamin: La guerre invisible. Algérie, 46 Vgl. Ulloa, Marie-Pierre: Francis Jean- années 90, Paris 2001. son: un intellectuel en dissidence: de la 65 Vidal-Naquet, Pierre: Les crimes et l'armée Résistance à la guerre d'Algérie, Paris française en Algérie 1954–1962, Paris 2001; Jeanson, Francis: Notre guerre, Paris 2001; ders.: La raison d'Etat, Paris 2002 2001. 66 Einaudi, Jean-Luc: France-Algérie: le con- 47 Vgl. Planchais, J.: L'Empire Embrasé 1946/ flit des mémoires, in: Jean-Pierre Bacot 1962, S.221–325 (FN 42). (Hrsg.), Travail de mémoire 1914–1998. 48 Vgl. Kauffer, Rémi: OAS: histoire de la Une nécessité dans un siècle de violence, guerre franco-française, Paris 2002. Paris 1999, S.149–154. 49 Vgl. Lacouture, Jean: Algérie 1962, la 67 Alleg, Henri: Retour sur „la question“: guerre est finie, erweiterte und über- quarante ans après la guerre d'Algérie, arbeitete Neuauflage, Brüssel 2002. Pantin 2001. 50 Vgl. Buron, Robert: Carnets politiques de 68 Vgl. Stora, Benjamin: Le transfert d'une la guerre d'Algérie: 1954-1962, Paris 2002. mémoire: de l' „Algérie française“ au 51 Vgl. u.a. L'Algérie, nous y étions ...: té- racisme anti-arabe, Paris 1999. moignages et récits d'anciens com- 69 Vgl. Stora, Benjamin: La mémoire re- battants, Paris 2001; Faure, Jean: Au pays trouvée de la guerre d'Algérie?, in: Le 104 Roland Höhne

Monde, 19.3.2003, S.1–18. mehr gerichtlich belangt werden. Er und 70 Vgl. Goinard, Pierre: Algérie: l'oeuvre sein Verleger wurden jedoch im April française, 2.Aufl., Nizza 2001. 2003 wegen der Verherrlichung von 71 Vgl. Rey, Benoist: Les égorgeurs, Paris Kriegsverbrechen zu hohen Geldstrafen 1999; Muelle, Raymond: 7 ans de guerre verurteilt. en France: quand le FLN frappait en 75 Vgl. Le Monde, 20., 22. und 23.6.2000. métropole, Neuauflage, Monaco 2001. 76 Vgl. Journal Officiel de la République 72 Vgl. Schmitt, Maurice: Alger – été 1957: Française, Lois et décrets, 20.10.1999. une victoire sur le terrorisme, Paris 2002. 77 Vgl. Le Monde, 16.6.2000. M. Schmitt bezieht sich auf die Säu- 78 Vgl. Köfer, Christine: Die Algerienkrise: berung der Altstadt von Algier von FLN- Ursachen, Entwicklungen und Perspek- Kämpfern durch französische Truppen, tiven sowie ihre Auswirkungen auf die so genannte „bataille d'Alger“. Frankreich, Frankfurt am Main u.a. 1997. 73 Vgl. Bigeard, Marcel: J'ai mal à la France, 79 Vgl. Le Monde, 8.10.2001, S.1 Ostwald 2001. 80 „Tout en assumant pleinement le legs du 74 Aussaresses, Pierre: Services Spéciaux – passé et soucieuses d'inscrire leurs rela- Algérie 1955–1957, Paris 2000. Aussa- tions dans une vision novatrice résolu- resses leitete im Algerienkrieg Spezial- ment tournée vers le progrès et l'avenir, einheiten der Sicherheitskräfte (services adossée aux valeurs d'amitié, de solidarité spéciaux), die systematisch ihre Ge- et de coopération, la France et l'Algérie fangenen folterten und ermordeten. Da veulent s'engager dans la construction seine Taten unter die Generalamnestie d'un avenir partagé“ heißt es in der von 1962 fielen, konnte er dafür nicht Deklaration. Vgl. Le Monde, 3.3.2003. Armut, Kriminalität und Fremdenhass – Russlands alte Plage

Werner Gumpel

Armut, Kriminalität und Fremdenhass großen Städten für weite Bevölke- sind in Russland eine Erscheinung, die rungskreise ein akzeptables Ausmaß nicht erst mit der Transformation des angenommen hat, herrscht in den politischen und wirtschaftlichen Sys- meisten Regionen bittere Armut. Das tems zu Demokratie und Marktwirt- trifft besonders auf die entlegenen schaft entstanden sind. Dennoch ha- Gebiete zu. Aber auch in den Städten ben sie in unseren Tagen ein Ausmaß gibt es eine Vielzahl von Armen und angenommen, das nicht allein der Obdachlosen, was nicht zuletzt auf die russischen Führung Anlass zu ernster starke Zuwanderung aus den armen Besorgnis gibt. In welch großem Um- Regionen des Landes und aus den ehe- fang die damit verbundenen Probleme maligen Sowjetrepubliken zurückzu- das Land beherrschen, zeigt ein Stu- führen ist. Deren Selbstständigkeit hat dium der russischen Presse. Ziel dieses dort nicht nur zu keinem wirtschaft- Aufsatzes ist es, die bei uns relativ lichem Aufschwung, sondern zu einem wenig bekannte und diskutierte Proble- Niedergang geführt. Das Ergebnis sind matik anhand der Meldungen und starke Migrationsströme nach Russland, Berichte russischer Publikationen und vor allem in die größeren Städte. Sie Internet-Dienste darzustellen und zu werden verstärkt durch eine große Zahl systematisieren. von vor allem afrikanischen und asia- tischen Migranten, die Russland als Zwischenstation auf ihrem Weg nach 1. Soziale Lage Westeuropa benutzen. Im Jahr 2001 und Kriminalität sollen nach russischen Angaben etwa 30 Millionen Menschen die Grenzen Noch immer lebt gut ein Drittel der des Landes überschritten haben, ge- russischen Bevölkerung unter oder am genüber „nur“ zehn Millionen im Jahr Rand der Armutsgrenze. Offiziell sind 1992.1 Ein großer Teil von ihnen kam die Realeinkommen der Russen zwar aus den Kriegsgebieten des Kaukasus, ein wenig gestiegen, die Situation in aus Tschetschenien, Inguschetien, Os- den verschiedenen Regionen des Lan- setien, Abchasien, Adsharien und aus des ist jedoch sehr unterschiedlich. Dagestan. Alle tragen sich in der Während der Lebensstandard in den Hoffnung, vor allem in Zentralrussland

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 106 Werner Gumpel ein besseres Leben zu finden. Für die unvollkommenen Statistiken. Auch russischen Migrationsbehörden stellt Mord und Totschlag werden nur dann die Wanderungsbewegung aus dem gesondert gemeldet, wenn es sich Kaukasus eines der belastendsten von um hochrangige Persönlichkeiten aus ihnen zu lösenden Probleme dar. Da- Wirtschaft, Politik und Wissenschaft neben ist aber auch die Funktion oder um Journalisten-Kollegen handelt. Russlands als „russischer Korridor“ eine Dabei spielen bestellte Morde, die in kaum zu lösende Aufgabe, zumal die allen Teilen des Landes vorwiegend an existierenden russischen Migrations- sog. „Businessmeny“ oder auch an gesetze nur geringe Ansatzpunkte zur Journalisten, die es wagen Skandale Bekämpfung der Probleme geben. und Korruptionsfälle aufzudecken, eine sehr große Rolle in der Statistik der Die desolate Wirtschaftslage, verbun- Gewaltverbrechen. Im Jahr 2001 wur- den mit dem Migrationsproblem, ist den 34.000 Morde gemeldet. Auf eine der wichtigsten Ursachen für die 100.000 Einwohner entfielen 24,2 ge- erschreckend hohe Zunahme der Kri- meldete Morde. Bei 19.000 Menschen minalität im Lande. Sie ist auch zumin- konnte die Todesursache nicht fest- dest teilweise für den erschreckenden gestellt werden. Und noch immer steigt Stand an Korruption verantwortlich, die Zahl der Gewaltverbrechen.2 die das wirtschaftliche und soziale Le- ben in allen seinen Bereichen be- herrscht. Direkt und indirekt können 1.1 Organisierte Kriminalität aber auch die zunehmende Fremden- feindlichkeit und der weit verbreitete Ein großer Anteil der Gewaltverbrechen Antisemitismus in ihren irrationalen entfällt auf die organisierte Krimina- Erscheinungsformen auf sie zurück- lität. Allein in Moskau gibt es heute geführt werden, wobei der Mangel an mehr als 100 organisierte Verbrecher- Integrationswillen und fehlende Inte- gruppierungen jede mit 20 bis 250 grationsbemühungen der Behörden Mitgliedern. Sie sind entweder nach zweifellos eine Mitschuld tragen. Ar- dem Territorialprinzip aufgebaut, ihre mut, Kriminalität und Fremdenhass „Kämpfer“ kommen also jeweils aus sind in Russland seit alters her eine bestimmten Regionen des Landes, oder Plage, doch sprengt ihr Ausmaß in der nach dem Nationalitätenprinzip, sie Gegenwart alles bisher gekannte. organisieren also jeweils Tschetschenen, Armenier, Aserbaidschaner, Dagestaner Den einzelnen Bürger belastet zweifel- usw. zu einer kriminellen Gruppe. In los am meisten die alltägliche Krimi- Moskau gibt es etwa 100 kriminelle nalität, die Unsicherheit zu Hause und „Autoritäten“, wobei auf eine slawische auf der Straße. In den Zeitungen wird fünf aus dem Kaukasus zugereiste darüber nur noch berichtet, wenn kommen. Ähnlich ist die Lage in an- prominente Persönlichkeiten betroffen deren großen Städten, wie St. Peters- sind. Ein Einbruch bei einem Politiker burg. Die kriminelle Welt wird als oder einem prominenten Künstler ist eine „Parallelwelt“ oder „Parallelgesell- eine Meldung wert, der kleine Mann schaft“ beschrieben, die in den von von der Straße jedoch erscheint höchs- ihr beherrschten Gebieten sogar ei- tens als Ziffer in einer der ohnehin ne eigene Gerichtsbarkeit mit allen Armut, Kriminalität und Fremdenhass – Russlands alte Plage 107 zugehörigen formalen Attributen er- Fußballer fiel einem gezielten Mord richtet oder soziale Einrichtungen, wie zum Opfer.5 Erholungslager für Kinder oder Be- ratungsstellen für verzweifelte und Präsident Putin hat sich in verschie- ausgestoßene Bürger schafft. Damit denen Verlautbarungen äußerst besorgt gewinnt sie Einfluss und Vertrauen bei über die Situation im Lande geäußert. den einfachen Bürgern, was sie wieder Er sprach davon, dass im Jahr 2001 drei für ihre kriminellen Aktivitäten zu Millionen Verbrechen registriert wor- nutzen versteht, mit denen sie ihre den seien – ein Bruchteil derer, die „Wohltaten“ finanziert.3 tatsächlich stattgefunden haben, dass aber Hunderttausende von Verbrechern Dem Bereich der organisierten Krimi- nach wie vor frei herumlaufen, dar- nalität sind aber auch zumeist die unter 7.000 Mörder, weil man ihrer mittlerweile zum russischen Alltag nicht habhaft werden kann.6 gehörenden Auftragsmorde zuzuord- nen. Ihnen fallen vor allem Geschäfts- leute, die lästige Konkurrenten sind, 1.2 Armutskriminalität immer mehr aber auch Politiker zum Opfer, wobei die Politiker nur allzu Die überwiegende Zahl krimineller häufig mit den Strukturen der orga- Vergehen ist jedoch wenig spektakulär. nisierten Kriminalität verwoben sind. Es handelt sich um einen Bereich, der Nach russischen Angaben gibt es rein als „Armutskriminalität“ bezeichnet politische Morde in Russland nicht, werden kann: Der von der Armut vielmehr ist fast stets auch ein „wirt- aufgezwungene Kampf ums Überleben schaftlicher“ Hintergrund erkennbar. zwingt die Menschen zu Diebstahl und „Hinter jedem Mord an einem Politiker Raub, was, häufig ungewollt, mit steht das Business,“ sagen Experten. Die Totschlag endet. In diese Gruppe von Zahl der bisher ermordeten Duma- Straftaten fallen aber auch jene, die im Abgeordneten wurde im Oktober 2002 alkoholisierten Zustand verübt werden. auf acht beziffert, die Zahl der er- Der Alkoholismus, stets eine Geisel mordeten Abgeordneten von Regional- Russlands, wächst mit der Armut, was parlamenten dürfte in die Dutzende insbesondere in den entlegenen Ge- gehen. Im Oktober 2002 wurde sogar bieten des Landes mit ihrer furchtbaren der Gouverneur von Magadan am hell- Trostlosigkeit der Fall ist. Viele der lichten Tag vor dem Haus der Ver- autochthonen Völker des Nordens, wie tretung Magadans in Moskau auf dem Tschuktschen, Evenken und Chanten, Neuen Arbat erschossen. Im Hinter- drohen am Alkoholismus zu Grunde zu grund dieses Mordes stehen wahr- gehen. „In einigen nördlichen Regio- scheinlich die Goldminen Kolymas.4 nen haben Trunksucht und Alko- Journalisten, die versuchen, die Ver- holismus unter den autochthonen quickung von Politik, Mafia und Völkern ein kritisches Ausmaß er- Wirtschaft zu entlarven, haben zumeist reicht, das ganze Ethnien mit dem keine lange Überlebenschance. Aber Aussterben bedroht,“ schrieb die auch berühmte Professoren und Wis- Zeitung „Izvestija“ im Januar 2002.7 senschaftler sind ihres Lebens nicht Die Sterblichkeit durch Alkoholismus sicher. Selbst ein berühmter russischer beläuft sich dort auf das Sechzehnfache 108 Werner Gumpel des ohnehin nicht niedrigen russischen Gleiches wird aus anderen Städten und Durchschnitts. In den letzten zehn für den Winter 2002/2003 gemeldet.10 Jahren hat die Sterblichkeit sich um das Anderthalbfache erhöht. Die Lebenser- wartung liegt zehn Jahre unter dem 1.3 Das Problem der russischen Durchschnitt. In Trun- verwahrlosten Kinder kenheit begangenen Gewaltdelikten kommt dort eine entsprechend große Ein besonderes Problem stellen in Bedeutung zu. diesem Zusammenhang die sog. „Besprizornye“ dar. Es handelt sich um Obwohl nur ein Bruchteil der verübten verwahrloste Kinder, die, teilweise von Straftaten vor Gericht endet, weil sie den Eltern ausgesetzt, teilweise zu nicht gemeldet oder auch mit behörd- Hause weggelaufen sind (oft wegen licher Hilfe vertuscht werden (die dort unhaltbarer Zustände), oder bei Kriminalstatistik soll schließlich nicht denen es sich um Vollwaisen handelt, allzu schlecht ausfallen, oft ist auch um die sich niemand mehr kümmert. Korruption im Spiel), weist Russland Auch dies ist ein altes russisches die weltweit größte Zahl von Sträf- Problem, das Stalin löste, indem er lingen, berechnet pro 100.000 der die Kinder wie wildernde Hunde Bevölkerung auf. Mit 780 Gefangenen erschießen ließ. Heute ist hauptsächlich pro 100.000 Einwohnern übertrifft es das MVD (Innenministerium) damit sogar die USA, bei denen es „nur“ 709 beauftragt, sich mit dieser Frage zu sind. Für Deutschland und die Schweiz befassen und Lösungen zu finden, doch lautet die Vergleichszahl neunzig.8 geschieht nichts oder nur sehr wenig. „Nicht eine einzige Institution im Land Das hohe Ausmaß der Armutskri- kümmert sich um diese Kinder,“ minalität wird verständlich, wenn be- äußerte der russische Generalstaats- rücksichtigt wird, dass es soziale Leis- anwalt Ustinov vor der Duma. Ihre tungen, wie sie in den zentraleuro- Zahl wird auf zwei bis drei Millionen päischen Ländern für sozial Schwache geschätzt. Allein in Moskau sollen 40- erbracht werden, in Russland praktisch 50.000 verwilderte Jugendliche leben. nicht gibt. Die Lage der Armen ist Genaue Angaben kann niemand ma- besonders desolat, weil viele von ihnen chen. Doch scheint die Gesamtzahl unter den Unbilden des russischen erheblich über den Schätzungen zu Klimas auf der Strasse leben müssen. liegen. Allein die Zahl jener Heran- Wenn sie Glück haben, finden sie im wachsender dieser Gruppe, die im Jahr Winter in der Kanalisation oder 2001 wegen „Rechtsverletzungen“ zur ähnlichen Plätzen einen Unterschlupf, Polizei gebracht wurden, beläuft sich doch gilt dies nur für vergleichs- auf mehr als 1,140 Millionen. Vor zehn weise wenige. Während eines Kälteein- Jahren, so bemerkte Ustinov vor der bruchs in der zweiten Dezemberhälfte Duma, waren es 50 Prozent weniger. Im 2001 sind in Moskau täglich 15–20 selben Jahr wurden fast 97.000 Ver- „Bomshi“ (russische Abkürzung für brechen an Minderjährigen von der „Personen ohne festen Wohnsitz“) Miliz registriert, mehr als 4000 Her- erfroren, unter ihnen allerdings viele anwachsende wurden ermordet, 4.600 unter dem Einfluss von Alkohol.9 erlitten schwere Verletzungen und Armut, Kriminalität und Fremdenhass – Russlands alte Plage 109

24.000 Kinder sind einfach ver- Gefängnisse und die Krankenhäuser schollen.11 Auch dies sind nur die zu füllen. Das heutige Problem der offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer verwahrlosten Kinder gleicht in seinem liegt, den Umständen entsprechend, Ausmaß dem, wie es zur Zeit des erheblich höher. Nach den Wor- Bürgerkrieges und nach dem Großen ten Ustinovs werden gerade die Vaterländischen Krieg bestanden hat.“12 „Besprizornye“ in immer stärkerem Maße wirtschaftlich und sexuell aus- Aber auch die Gewalt unter Kindern gebeutet. Der Handel mit Kindern nimmt, wie leider auch in Westeuropa, nimmt laufend zu. Er muss als laufend schlimmere Formen an. „In Sklavenhandel verstanden werden. den großen Städten ist es für Kinder Heranwachsende werden immer mehr gefährlich auf die Straße zu gehen“, in das kriminelle Geschäft einbezogen titelte im Juni 2002 die Zeitung und für Erpressungen und Prostitu- „Izvestija“, und berichtete, dass fast tion missbraucht, besonders aber für jeder Jugendliche zumindest einmal in das Geschäft mit harten Drogen. Sie seinem Leben das Opfer von Erpres- überfallen Erwachsene, bestehlen sung und Gewalt durch Gleichaltrige Kaufhäuser und berauben auch ihre wird. Bandenbildung ist auch an den Schicksalsgefährten. Da es in ganz Schulen Normalität, und allein um zu Russland nur 94 Aufnahmestellen für überleben müssen sich die jungen „Besprizornye“ gibt und praktisch nie- Menschen in irgendeiner Form mit den mand an ihnen interessiert ist, die jugendlichen kriminellen Strukturen Behörden sich teilweise sogar an der arrangieren. Auch hier stehen Staat und Ausbeutung der Rechtlosen beteiligen, Behörden dem Problem hilflos gegen- wird sich an dem elenden Leben dieser über, zumal sich die Eltern wegen Kinder in absehbarer Zukunft nichts mangelnden Vertrauens nur selten an ändern. die Polizei oder die Gerichtsbarkeit wenden. Hier üben sich die Kriminellen Wie schwer wiegend dieses in Euro- der Zukunft.13 pa nie angesprochene Problem ist, demonstriert ein Brief, den Aleksandr Solshenizyn gemeinsam mit neun 2. Fremdenfeindlichkeit anderen Schriftstellern und Künstlern an den Präsidenten der Industrie- und 2.1 Zuwanderungsängste Handelskammer der Russländischen Föderation geschrieben hat, mit der Eines der besonderen Probleme der Bitte, Wohlfahrtsorganisationen zur großen Städte ist die Zuwanderung. Hilfe für die verwahrlosten Kinder zu Wie erwähnt, strömen Menschen vor schaffen. Darin heißt es: „Eines der allem aus den unterentwickelten Teilen schmerzlichsten Probleme im heutigen Russlands, aus dem Kaukasus sowie aus Russland sind die Kinder, die ihrer den Staaten der GUS, aber auch aus Familie beraubt, die auf die Straße vielen Ländern Afrikas und Asiens in geworfen sind. Das sind diejenigen, die die russischen Städte und suchen dort eine elende Existenz in bitterer Armut nach Arbeit oder aber sie stärken die führen, die dazu verdammt sind in die kriminellen Strukturen. Letzteres wird Welt des Verbrechens abzutauchen, die vor allem den Menschen aus dem 110 Werner Gumpel

Kaukasus unterstellt, die sich unter den Ferganabecken im Jahr 1989 in den Russen einer besonders geringen Kuban geflohen waren, mit Charter- Wertschätzung erfreuen. Sie sind nicht maschinen nach Kasachstan „verfrach- nur Konkurrenten auf dem Arbeits- ten“.15 „Die Gesellschaft hat sich als markt, bei nach wie vor vor allem in für die Aufnahme eines Stromes von den Provinzstädten hoher Arbeitslosig- Migranten, wie er in den letzten keit, sie beherrschen auch die Märkte Jahren Russland überflutet, als nicht und den „Flohhandel“ und viele der vorbereitet erwiesen,“ schreibt die mafiösen und kriminellen Organisa- „Izvestija“.16 Die Migranten aus dem tionen. Immer wieder kommt es zu Kaukasus werden im Behördenchargon gewaltsamen Auseinandersetzungen abschätzig „als Personen kaukasischer zwischen ihnen und den heimischen Nationalität“ bezeichnet und unter- Russen, die sie seit jeher nicht mögen, liegen den Schikanen von Polizei und wie die abwertenden Bezeichnungen Behörden, aber auch und gerade der für sie in der russischen Umgangs- Bevölkerung, um sie aus den Städten zu sprache zeigen. In einzelnen Regionen ekeln. Doch können sie viel vertra- Russlands, die besonders stark vom gen. Flüchtlingsstrom betroffen sind, so im Bezirk Krasnodar im Kuban, werden die Migranten zunächst in sog. 2.2 Pogrome und Filtrationslager gebracht und dann in Rechtspopulismus ihre Heimatrepublik deportiert. Die- sen ethnischen Migranten, also Verschiedentlich nehmen die Angriffe Mescheten, Kurden, Armeniern und auf „Personen kaukasischen Ausse- den anderen kaukasischen Ethnien, hens“ pogromartige Züge an, wie im wird dort jeglicher legaler Status Juli 2002 in der vor Moskau gelegenen verwehrt. Dabei spielt zweifellos auch Stadt Krasnoarmeisk. Hier wurde ein die Furcht vor terroristischen An- vorwiegend von Armeniern bewohnter schlägen dieser Bevölkerungsgruppe Stadtteil überfallen. Häuser wurden eine Rolle.14 In Archangelsk setzt man geplündert und die Bewohner derart die unerwünschten Flüchtlinge in verprügelt, dass viele in das Kranken- Eisenbahnwagons und verfrachtet sie haus eingeliefert werden mussten. Am nach St. Petersburg, welches nun das Tag darauf demonstrierten die russi- Problem zu lösen hat. Auch die Haupt- schen Bewohner der Stadt mit der stadt Moskau versucht Migranten Forderung, alle Kaukasier zu verjagen17 „nichtslawischen Aussehens und Ähnliche Fälle werden auch aus an- nichtslawischer Herkunft“ abzuschie- deren Städten und andere Nationali- ben – allerdings mit wenig Erfolg. täten betreffend gemeldet. Schikanen Ähnlich wird in vielen Regionen mit und Überfälle auf Kaukasier und den Zigeunern verfahren, die jetzt sogar insbesondere Tschetschenen haben seit von den Staatsorganen verfolgt und der Geiselnahme von Moskau fühlbar einer besonderen Registrierung unter- zugenommen. zogen werden. Im Bezirk Krasnojarsk will der Gouverneur 13.000 turk- Wenn es allerdings darum geht billige stämmige Mescheten, die während der Arbeitskräfte zu bekommen, sind die ethnischen Auseinandersetzungen im Menschen aus dem Kaukasus und aus Armut, Kriminalität und Fremdenhass – Russlands alte Plage 111

Zentralasien gerne gesehen. Sie sind viele von ihnen nicht mehr allein bereit zu jedem Lohn zu arbeiten und auf die Strasse und zu öffentlichen werden häufig sogar um ihren Billig- Veranstaltungen wagen. Auch Diplo- lohn betrogen, da sie zumeist illegal in maten fühlen sich zunehmend ge- den Städten leben und sich an keine fährdet, nachdem eine Anzahl von Behörde oder an kein Gericht um Hilfe ihnen überfallen, ermordet oder aus- wenden können. Folgt man russischen geraubt oder „nur“ verprügelt worden Presseberichten, so leben diese Men- ist. Nach offiziellen Angaben wurden schen unter unvorstellbar schlechten in der Zeit von Mai 2000 bis September Bedingungen. Diejenigen, die Arbeits- 2002 Bürger aus 25 Staaten überfallen. plätze finden oder im Handel Geld In 120 Fällen mussten die Opfer mit verdienen, werden von Polizei und schweren Verletzungen in Kranken- anderen Amtspersonen erpresst und häuser eingeliefert werden, unter ihnen abkassiert.18 viele Diplomaten oder deren Fami- lienangehörige. Vier Afrikaner starben Der Rechts außen und Populist an den Folgen des Überfalls.20 Diese Zhirinowsky erfasst die Stimmung Entwicklung hat im Mai 2002 zu einem unter der slawischen Bevölkerung, offiziellen Protest einer Reihe von wenn er in einem Interview sagt: „Es ist Botschaften geführt. Bei einem speziell offensichtlich, dass die Einreise von angesetzten Treffen mit Außenminister Personen, die nicht dem autochthonen Ivanov brachten sie einen „kollektiven russischen Volk angehören, begrenzt Protest gegen die Welle von Rassismus werden muss, d.h. von Personen, die vor, der das Land überschwemmt“. Die einen eigenen Titularstaat haben. Die Protestaktion wurde von der Mehrheit Russen haben keine andere Heimat als der in Moskau akkreditierten Diplo- Russland. Alle anderen Nationen haben maten unterstützt. Die Botschafter der ihren eigenen unabhängigen Staat. afrikanischen Staaten hatten bereits Warum sollen sie in einem solchen Fall gegen Ende von 2001 beim russischen mit Leichtigkeit die Grenzen Russlands Außenministerium gegen die Vielzahl überschreiten und sich bei uns auf von Übergriffen gegen ihr Personal lange Jahre, für immer niederlassen protestiert.21 dürfen? – Das russische Volk hat das Recht, Herr im eigenen Land zu bleiben.“19 3. Antisemitismus

Doch gilt der Hass nicht nur den Besonders stark breitet sich in Russland Migranten aus der GUS und den auch der Antisemitismus aus. Er war Asylanten. Alle Menschen nicht weißer dort schon immer stark entwickelt, Hautfarbe sind grundsätzlich vor erfährt aber in den letzten Jahren eine Angriffen nicht sicher, wobei immer erneute Verstärkung. Überfälle auf Ju- mehr sog. „Skinheady“ aber auch als den und Plakat-Aktionen mit anti- „Neofaschisten“ bezeichnete Personen semitischen Aufschriften wie „Schlagt eine unrühmliche Rolle spielen. Be- die Juden“, wobei für das Wort „Jude“ sonders afrikanische und chinesische der abwertende Terminus „Shid“ ge- Studenten werden überfallen, und zwar braucht wird, und die Schändung in einem solchen Ausmaß, dass sich jüdischer Friedhöfe sind eine häufige 112 Werner Gumpel

Erscheinung. Verschiedentlich sind Dedovschtschina, die Unterdrückung derartige Transparente und Schilder mit der jüngeren Soldaten durch die alt- Sprengsätzen versehen worden, die gedienten, die unter Anwendung denjenigen, die sie entfernen wollten, physischer Gewalt erfolgt und häufig teilweise schwere Verletzungen zuge- mit Totschlag endet. Allein in den fügt haben.22 Die Duma hat, um dem ersten zehn Monaten des Jahres 2002 wachsenden Antisemitismus gegenzu- wurden im Zuge von Verbrechen in der steuern, am 6. Juni 2002 ein Gesetz Armee 531 Soldaten getötet, weitere angenommen, das „extremistischen zwanzigtausend erlitten schwere Ver- Aktivitäten“ entgegenwirken soll und letzungen und Verstümmelungen. harte Strafen vorsieht – nur kann ein Allein am 29. November 2002 wurden Gesetz allein hier wohl kaum eine in Karatschaj-Tscherkessien (Nord- Änderung bewirken. kaukasus) 11 Soldaten und Unter- offiziere von einem Zeitsoldaten er- Fremdenfeindlichkeit und Rassismus schossen, der sich, wie vermutet wird, stellen eines der dunklen Kapitel im für die erlittenen Demütigungen ge- Russland der Gegenwart dar. Sie haben rächt hat.23 Auswirkungen auch auf die dringend benötigten ausländischen Investitio- Die Einkommen der Soldaten sind so nen und beeinträchtigen daher den niedrig, die Wohnverhältnisse der Of- angestrebten wirtschaftlichen Auf- fiziere so desolat, dass nichts anderes schwung, wobei nicht nur der innere übrig bleibt, als sich zusätzliche Friede gefährdet wird. Auch die Einnahmen zumeist auf illegalem Weg Außenbeziehungen des Landes werden zu beschaffen. Ein Oberst mit 25 beeinträchtigt. Dienstjahren erhielt beispielsweise bis zum Mai 2002 einen monatlichen Sold in Höhe von umgerechnet 159 Dollar, 4. Die Armee als ein Hauptmann nach siebenjährigem kriminelle Gefahr Dienst 93 Dollar. Ab 1. Juni 2002 wurde der Sold erhöht, beläuft sich aber auch 4.1 Armut und Kriminalität jetzt in den aufgeführten Beispielen auf innerhalb der Armee nur 226 bzw. 162 Dollar – eine erhebliche Erhöhung, aber nach wie Als Herd wachsender Kriminalität er- vor zu wenig, um ein einigermaßen weist sich auch die russische Armee. anständiges Leben führen zu kön- Hier muss zwischen der Kriminalität nen. innerhalb der Armee und den Wir- kungen nach außen unterschieden Während unter den Soldaten vor allem werden. Ursächlich ist auch hier die die Erpressung der Kameraden und allgemeine Armut bzw. Unterbezahlung Diebstahl zu Hause sind, haben die von Mannschaften und Offizieren, Offiziere subtilere Möglichkeiten sich denen häufig ihr Sold oder die ver- zu bereichern. Sie „verleihen“ bei- sprochenen Zuschläge (z.B. im Tsche- spielsweise die ihnen unterstellten tschenieneinsatz) nicht gezahlt werden, Dienstgrade an Wirtschaftsunterneh- aber auch die zunehmende Gewalt men und Privatpersonen und behalten unter den Soldaten, wie die sog. die dafür gezahlten Gelder für sich. Die Armut, Kriminalität und Fremdenhass – Russlands alte Plage 113

Soldaten werden damit zu modernen 4.2 Waffenhandel und Sklaven. Der Chef des Generalstabs Gewalt nach außen der russischen Streitkräfte, Anatolij Kvaschnin, bekannte anlässlich einer Besondere Gefahren bringt der illegale Konferenz: „Die russische Armee wird Handel mit gestohlenen Waffen und überschwemmt von Diebstahl und Munition. Von der Pistole bis hin zu Raub. Das Offizierskorps glaubt, sich Granatwerfern, Raketen und Panzern alles erlauben und verzeihen zu kann in Russland alles gekauft werden. können.“ Als ein noch eher harmloses Ein großer Teil dieser Waffen geht in Beispiel führte Kvaschnin an, dass in die kriminellen Strukturen des Landes, einem Fall von 170 Tonnen Silber, das ein anderer Teil wird von mafiösen der Armee zugeteilt wurde, 21 Tonnen Organisationen ins Ausland verkauft, gestohlen wurden. Ein General und wobei besonders die Entwicklungs- vier Oberste haben, wie eine staats- länder Afrikas und Lateinamerikas anwaltliche Untersuchung ergab, im bedacht werden.27 Aber auch die Sommer 2001 innerhalb von nur Kämpfer in Tschetschenien werden zwei Monaten Ingenieur-Ausrüstun- zum großen Teil mit Waffen aus der gen und Technik im Wert von 14 Armee versorgt, von den selben Leuten, Millionen Rubel (ca. 437.500 Dollar) die ihre Soldaten in den Kampf mit den gestohlen. Aufständischen schicken. Ein beson- derer Skandal, der nur durch seine „Menschen mit Schulterstücken“, so Dimension bekannt wurde, ist die der Internetdienst grani.ru, „stehlen Zündung einer Mine anlässlich der staatliche Gelder, lassen sich bestechen, Feiern zum Jahrestag des Sieges über und betätigen sich im Nebenberuf als Hitlerdeutschland am 9. Mai 2002 in bezahlte Killer. Im Suff töten sie auch der Stadt Kaspiisk: Damals wurden 45 ohne Bezahlung.“24 Die Lage in den Menschen getötet, viele verletzt. Die Streitkräften beschrieb Kvaschnin als Mine war von dagestanischen Terro- „kritisch“. Auf der gleichen Konferenz risten bei einer im Tschetschenienkrieg verkündete der Hauptmilitärstaats- eingesetzten motorisierten russischen anwalt, dass allein im ersten Halbjahr Schützeneinheit erworben worden. Als 2002 in den Streitkräften 28.000 un- Verkäufer wurden zwei Feldwebel, ein terschiedliche Rechtsverstöße aufge- Hauptmann und ein Oberstleutnant deckt und 700 Strafverfahren einge- ermittelt. leitet wurden.25 Der Kommandeur und einige Offiziere Als besonders schlimm werden die der Leningrader Marinebasis machten Zustände in der Nordflotte beschrieben. ein einträgliches Geschäft mit der Dort sei zwar auch früher gemordet Vermietung von Teilen der Hafen- und gestohlen worden, jedoch nicht in anlagen der Baltischen Flotte an private dem Masse wie das jetzt der Fall sei. Da Firmen. Der Stabschef der Marine, wird dann auch schon mal dem Admiral Igor Chmelnov, und der Kommandeur eine Bombe unter den Chef der Hauptmilitärinspektion der Sessel gelegt (und gezündet), um an Schwarzmeerflotte, Konstantin Kobez, den Panzerschrank mit dem Geld zu wurden ebenfalls wegen illegaler kommen.26 kommerzieller Aktivitäten vor Gericht 114 Werner Gumpel gestellt. Doch ist dies die Ausnahme. ist, dass auch die Zahl der desertierten Die Mehrzahl der höheren Offiziers- Offiziere ständig zunimmt, obwohl sie, ränge ist Träger staatlicher Auszeich- vor allem wenn sie mit einer Waffe nungen, hat Dienst an den „heißen fliehen, eine zehnjährige Haftstrafe Punkten“ des Landes geleistet oder sich erwartet, falls sie wieder eingefangen durch andere „Verdienste vor dem werden. Vaterland“ ausgezeichnet und kann deswegen stets mit Amnestierung rechnen. 5. Die Korruption als allgegenwärtiges Phänomen Ist die zivile Bevölkerung von den geschilderten Vorgängen nur indirekt Ein eigenes Kapitel der Kriminalität in betroffen (ausgenommen sie wird Russland stellt die Korruption dar, Opfer eines mit gestohlenem Spreng- die zu einer allgegenwärtigen Geisel stoff durchgeführten Terroranschlags), geworden ist. Ob Behörde (dort be- so wirken sich Waffendiebstahl und sonders ausgeprägt), Hochschule, Justiz, Desertion oftmals direkt auf sie aus. Die Wirtschaft, Polizei oder Militär und Zahl der Deserteure aus der russischen Gesundheitswesen: Es gibt keinen Armee ist hoch und fast immer fliehen Bereich, der nicht von Bestechung und die zumeist geschundenen und ge- Erpressung geprägt wäre. Sogar der demütigten Soldaten unter Mitnahme Vicegouverneur des Bezirks Krasnojarsk, von Waffen. Sie benutzen sie, um sich Stellvertreter des im April 2002 bei bei Überfällen Geld und Lebensmittel einem Hubschrauberunglück ums Le- zu beschaffen, besonders aber, um ihre ben gekommenen Aleksander Lebed, Verfolger oder kontrollierende Polizis- wurde ertappt, als er ein „kleines“ ten unter Anwendung von Waffen- Bestechungsgeld in Höhe von 250.000 gewalt von sich abzuhalten. Immer Dollar in seinem Dienstzimmer ent- wieder berichtet die Presse von durch gegennahm. Ähnliche Summen werden Deserteure getöteten Polizisten oder auch anderen hochrangigen Persön- Armeeangehörigen. „Unsere Armee lichkeiten gezahlt, wobei es häufig um ist zu einer Gefahr für das ganze die Umgehung von Umweltbestim- Land geworden,“ schrieb die Zeitung mungen besonders beim Fischfang oder „Izvestija“ im Februar 2002. Umbaugenehmigungen und Ähnliches geht.28 Die Summe der Gelder, die im Fliehen die einfachen Soldaten vor „Wirtschaftssektor“ Korruption fließen, allem wegen der sog. “Dedovscht- entsprechen, so das Ergebnis einer im schina“, der schlechten Behandlung Auftrag der Weltbank erstellten wis- durch die Offiziere oder weil sie senschaftlichen Untersuchung, fast den generell mit den Schwierigkeiten des Gesamteinnahmen des Staatshaus- russischen Wehrdienstes nicht zurecht halts der Russländischen Föderation. kommen, so desertieren Offiziere und Sie beläuft sich auf geschätzte 37 Mrd. Unteroffiziere hauptsächlich wegen der Dollar.29 schlimmen Lebensverhältnisse: Nie- driger Sold, unzureichender und dazu Besonders durchdrungen von der schlechter Wohnraum, niedriges Pres- Korruption ist die Wirtschaft. 82 tige in der Bevölkerung. Beunruhigend Prozent aller Unternehmen zahlen Armut, Kriminalität und Fremdenhass – Russlands alte Plage 115

Schmiergelder. Davon gehen 75 10.000 Dollar in Moskau und 3.000 bis Prozent an die örtlichen Behörden, 20 5.000 Dollar in der Region.30 Prozent an regionale Institutionen, und nur 5 Prozent fließen zu den födera- Natürlich haben auch das Bestehen len Behörden. Anscheinend sind die von Prüfungen und die Vergabe guter Ergebnisse der Bestechung gut: Nur 5 Noten ihren Preis: Auch die Aufgaben Prozent der Geldgeber empfinden, dass der für die Aufnahme in die Univer- sich das Verhalten der Beamten nach sitäten und Akademien abzulegenden der Bestechung nicht verbessert. Am Prüfungen können gekauft werden. Ausmaß der Korruption hat sich ent- Gegen ein Entgelt von 500 bis 1.000 gegen anders lautenden offiziellen Ver- Dollar werden die bereits abgegebenen lautbarungen, auch unter der Präsident- Prüfungsarbeiten den Kandidaten zur schaft des KGB-Obersten Putin nichts Verbesserung der Fehler ausgehändigt geändert. Im Gegenteil: Russland hat und nach erfolgter Korrektur wieder vor der Korruption kapituliert. Schon zurückgenommen. Die Zahl derjenigen, zu Sowjetzeiten stark verbreitet, ist sie die bereit sind zu zahlen, ist groß und heute ein in der Gesellschaft fest wächst, so wie sich auch die Preise verankerter Bestandteil der russischen nach oben entwickeln.31 Wirklichkeit. Unter den gegebenen Umständen stellt Dies betrifft auch die Hochschulen und sich die Frage, wie es in Russland wei- Universitäten, nicht zuletzt wegen der tergehen soll. Schließlich strebt das Knappheit der zur Verfügung ste- Land auch in die Europäische Union henden Studienplätze. Hier gibt es so und ist der NATO nähergerückt. Von etwas wie eine Tabelle mit Angaben, europäischen Standards ist Russland welche Schmiergelder für die einzelnen jedoch noch weit entfernt und es ist Leistungen zu zahlen sind, wobei sich kaum Aussicht darauf, dass sich die diese nach Stadt und Region und geschilderten Zustände in absehbarer Fakultät unterscheiden. Um in die Zeit ändern, auch wenn Präsident Putin Juristische Fakultät der Universität darum bemüht ist. Selbst wenn es ge- Moskau aufgenommen zu werden, lingt, die Armut zurückzudrängen und belief sich der „Preis“ im Jahr 2002 auf das Land in einen bescheidenen Wohl- 12.000–25.000 Dollar. In der Region stand zu führen, werden die kriminellen sind die Studienplätze billiger: 8.000– Strukturen in ihren verschiedenen 20.000 Dollar. Schmiergeld in gleicher Bereichen kaum noch zu beseitigen Höhe ist für die Aufnahme in die sein: Sie haben sich in viel zu starkem medizinische Fakultät oder eine me- Maße über das Land ausgebreitet, sind dizinische Akademie zu entrichten. Das zu tief in alle sozialen Schichten der Studium der Wirtschaftswissenschaften Bevölkerung eingedrungen und haben kommt erheblich billiger: 5.000 bis sich dort zu sehr verfestigt.

Anmerkung 1 Izvestija, 14.6.2002. 2002. 2 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.11. 3 Izvestija, 21.6.2001. 116 Werner Gumpel

4 Vgl. hierzu Izvestija, 27.8.2002 und 17.10. 17 Izvestija, 13.7.2002; www.grani.ru, 12.7. 2002 sowie Neue Zürcher Zeitung, In- 2002. Ein Pogrom an der aserbaidscha- ternationale Ausgabe, 19./20.10.2002; nischen Minderheit fand am 1.8.2002 in Izvestija, 1910.2002. dem bei Moskau gelegenen Zelenograd 5 Stellvertretend für eine Vielzahl von statt. www.lenta ru, 2.8.2002. Weitere Berichten hierzu: www.lenta.ru/most/ Beispiele finden sich laufend in der 2002/10/23 sowie Izvestija, 21.11.2002. russischen Presse. 6 www.lenta.ru/russia/2002/02/11/ 18 Izvestija, 18.6.2002. collegium 19 www.ldp.ru, 12.6.2002 sowie www.lenta. 7 Izvestija, 19.1.2002. ru 12.6.2002. 8 Izvestija, 19.7.2000. 20 Izvestija, 9.11.2002. 9 Izvestija, 20.12.2001. 21 Izvestija, 18.5.2002; www.lenta.ru, 18.5. 10 www.gazeta.ru/novosti/2.12.2002. 2002. 11 Izvestija, 16.1.2002 und 21.2.2002. 22 S. z.B. www.grani.ru, 8.7.2002 und 12 Izvestija, 21.2.2002 und 24.6.2002. Izvestija, 9.7.2002. 13 Izvestija, 19.6.2002 und 24.6.2002. 23 Izvestija, 27.11.2002 und www.gazeta.ru/ 14 Izvestija, 20.3.2002 und 23.4.2002. 2002/11/30 15 Die Mescheten waren im Jahr 1944 aus 24 www.grani.ru, 31.1.2002. Georgien nach Usbekistan deportiert 25 Izvestija, 14.6.2002. worden. Georgien weigert sich, sie in ihre 26 Izvestija, 18.1.2002. angestammte Heimat zurückkehren zu 27 Vgl. hierzu: Soversenno Sekretno, Nr.10 lassen. Im Fergana-Tal waren sie 1989 (161) 2002, S.3-5. Pogromen durch die usbekische Bevöl- 28 Izvestija, 17.6.2002 und 28.1.2003. kerung ausgesetzt. Vgl. Izvestija, 14.11. 29 Izvestija, 22.5.2002. 2002. 30 Izvestija, 28.6.2002 und 6.9.2002. 16 Izvestija, 12.6. und 17.7.2002. 31 Izvestija, 28.7.2002. Das aktuelle Buch

Tibi, Bassam: Im Schatten Allahs. Der Islam tisches religiös-politisch-rechtliches Gegen- und die Menschenrechte. München: Ullstein- konzept, das die „Entwestlichung“ der Welt Verlag, 2003, 623 Seiten, 2 9,95. anstrebt. Die westliche Infragestellung der eigenen Werte potenziert dabei noch die Dieses Buch des bekannten Göttinger So- Erfolgsaussichten der vormodernen Funda- ziologen ist bemerkenswert und wichtig, weil mentalismen und ethnischen Nationalismen, es mit mancherlei Illusionen, die sich deutsche argumentiert Tibi. „Gutmenschen“ aus Politik und Wissenschaft über Wesen und Realität des Islam machen, Ungeachtet dessen setzt das Buch auf die aufräumt. Es ist eine eindringliche Warnung Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten vor Entwicklungen, denen gegenüber west- unter einer Bedingung: Es muss zu einer liche Eliten, wie Tibi feststellt, „radikalen Religions- und Rechts- eine beklagenswerte Kapitu- reform“ im Islam kommen. lationsbereitschaft zeigen. Hier ist kritisch anzumerken, dass Der Autor sagt es in aller Deut- das Phantom eines Reform- oder lichkeit: „Schriftgläubig ortho- Euro-Islams derzeit leider nur im doxer Islam und Islamismus sind Bewusstsein einiger westlich im- mit den individuellen Menschen- prägnierter muslimischer Intellek- rechten nicht vereinbar“ (S.92). tueller irrlichtert. Aus der Sicht der Im politischen Sinn „kann die gegenwärtigen Mehrheitsströ- Schari'a (d.h. islamische Rechts- mungen im Islam wäre ein sol- ordnung) eine Willkürherrschaft, cher, die Schari'a ablehnender aber niemals eine legale, also Euro-Islam aber nichts anderes rechtsstaatliche Herrschaft be- als Blasphemie und Verirrung. gründen“ (S.369). Diese Fest- stellung gewinnt ihre Brisanz, Bassam Tibi selbst ist das Bei- weil sie sich auf die Schari'a als spiel für einen Reform-Muslim, eines der unverzichtbar erscheinenden Fun- der unbeirrt und idealistisch die Modernisie- damente des Islam bezieht. Tibi hat den Mut, rungsfähigkeit des Islam beschwört, obwohl dies zu tun, und riskiert dabei als Muslim, wie er die Übermacht der strukturellen und re- er zu Recht befürchtet, sein Leben. Er sieht ligiös-politischen Widerstände in seinem Buch den schari'atischen Pflichtenkatalog im Wider- absolut schonungslos beim Namen nennt. spruch zu den individuellen Rechten des Gerade auch deshalb kann er nicht mehr in Menschen. Ein Begriff wie „individuelle Frei- sein Geburtsland Syrien – auf dem Papier heit“ sei dem Islam fremd (S.376f.); Schari'a übrigens ein laizistischer Staat – reisen. und Menschenrechte verhielten sich wie Wasser und Feuer. Hieraus folgt, dass das Ein gehöriger Schuss von wohlmeinender Festhalten an der Schari'a die Integrations- Naivität ist während der Lektüre des Buches bereitschaft der Muslime in Europa und öfter zu spüren. Auf die entscheidende Frage, Deutschland stark vermindert bzw. ganz wie ein solcher Reformprozess durchgeführt verhindert. Es fragt sich, ob ein Muslim die werden soll, gibt es nämlich keine überzeu- Gültigkeit der Schari'a überhaupt in Frage gende Antwort. Immerhin fanden Reform- stellen kann. Beibehaltung und Anwendung bemühungen in der islamischen Welt bereits der Schari'a aber bedeuten Entfernung von seit zwei Jahrhunderten statt. Wo sind die westlichen Rechtsnormen. Ergebnisse?

Tibi, der immer wieder leitmotivisch die Gül- Gegenwärtig müssen die Zweifel daran über- tigkeit der universalen Menschenrechte fordert, wiegen, ob die islamische Welt mit den muss bekennen, dass er „große Angst vor der westlichen Menschenrechten überhaupt kom- schleichenden Einführung der Schari'a durch patibel sein will oder dazu fähig ist. europäische Gutmenschen“ hegt (S.299). Tibi trotzt den Geboten der politischen Kor- Der Autor sieht in aller Deutlichkeit – ähnlich rektheit, wenn er eindringlich davor warnt, wie Huntington – einen sich steigernden mittelalterliche Islam-Formen nach Europa zu Konflikt der Weltanschauungen voraus. An importieren und „auf der Basis einer in- Stelle universal gültiger Menschenrechts- differenten Multi-Kulti-Toleranz“ und Werte- standards setzt der Islam sein kollektivis- beliebigkeit die Schari'a zuzulassen. Damit

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 118 Das aktuelle Buch würden „Minderheitenrechte zu Kollektiv- lichungen über islamische Themen positiv rechten für eine parallelgesellschaftliche Islam- absetzen. Diaspora pervertieren“. Im Zeichen weltweiter Migrationsströme aus anderen Zivilisationen Der so oft vorgebrachten Dialog-Worthülse, ist nach Tibi das Weiterbestehen der po- der Islam sei kein „monolithischer Block“, setzt litischen Kultur der Aufnahmeländer, sprich Tibi die präzisere Unterscheidung zwischen Europas, gefährdet. Tibi scheut sich nicht, vor der „religiös-kulturellen Vielfalt“ in der isla- den von islamistischen Kräften betriebe- mischen Welt und der „zivilisatorisch ein- nen Strategien zur Islamisierung Europas heitlichen Weltanschauung“ des Islam ent- zu warnen, die die frühere Dschihad-Gewalt gegen, die er „totalitär“ nennt. Entscheidend ersetzt haben. Er schreibt: „Ziel der Islamis- ist, dass die dogmatische Festlegung auf ten ist es, den Westen mit seinen eigenen Koran, Prophetentradition und Pflichtenlehre Waffen zu schlagen – hier mit dem Kul- allen Muslimen gemeinsam ist. Die islamische turrelativismus, der dem Neoabsolutismus Einheit von Religion und Politik, die von vormoderner Kulturen Rückendeckung bie- manchen deutschen „Islam-Experten“ absur- tet. Die postmodernen Ideen im Westen, wel- derweise bestritten wird, kann in der isla- che die eigene zivilisatorische Identität und mischen Welt nur unter Lebensgefahr kritisiert jede Objektivität verleugnen, aber die Identi- werden. tät der anderen schützen, sind die Camouflage des Islamismus. Mit Hilfe des Kulturrela- Immer wieder tadelt Tibi zu Recht die Blau- tivismus setzt sich also der Absolutismus äugigkeit und Faktenresistenz der werte- durch.“ (S.240f.) Die multikulturelle Gesell- beliebigen deutschen „Gutmenschen“, zu schaft ist nach Meinung Tibis nichts ande- denen leider auch manche Fachwissen- res als der „Fetisch“ des Kulturrelativismus schaftler der Orientalistik zu zählen sind. De- (S.252). ren „multikulturelle Toleranz bedeutet nichts anderes als Gleichgültigkeit gegenüber der Das Buch zeigt ein Dilemma auf: Während die undemokratischen und menschenverach- westlichen Menschenrechte einen universellen tenden Einstellung vormoderner Kulturen“, Anspruch erheben, bezieht sich die islamische urteilt Tibi. Dazu passt, dass der Autor selbst Version der Menschenrechte – mehr kollektive bisweilen die Menschenrechte gegen seine Pflichten als individuelle Rechte – ausschließ- deutschen Studenten verteidigen muss, weil lich auf die Umma (islamische Gemeinschaft). diese „hinter deren universellem Anspruch Tibi fordert vom Islam die Anerkennung des bloßen Kulturimperialismus“ vermuten. Pluralismus der Religionen und Kulturen an Stelle seines antisäkularen Absolutheitsan- Auch der Mythos vom „Weltethos“ stößt bei spruches. Diesem Anliegen steht entgegen, Tibi auf Ablehnung: „Weltethos“ sei nur ein dass die strukturelle Globalisierung zuneh- „Schreibtischelaborat weltfremder christlicher mend von kultureller Fragmentation begleitet Theologen“, und der westlich-christlich-isla- wird. Die Akzeptanz westlicher Einflüsse in der mische Dialog beruhe auf „Verlogenheiten“. islamischen Welt beinhaltet eben leider nicht Die kulturrelativistische Toleranz leiste der die universellen Menschenrechte. Hier ist Etablierung eines anti-aufklärerischen Islam Pessimismus durchaus angebracht. Die Vorschub. Es gibt erheblichen Widerstand von islamische Revolte gegen den Westen ist nach muslimischer Seite gegen die Integration in Tibi geradezu eine Folge der Globalisierung. säkulare westliche Gesellschaften. Anderer- Indirekt wird den Thesen von Huntington seits können, wie Tibi richtig feststellt, „nur Recht gegeben, denen zufolge ein weltweiter identitätsstarke Gesellschaften Fremde inte- Zusammenstoß (nicht unbedingt Krieg) der grieren“ (S.193). Hier sollten sich die Leugner Kulturen droht. einer deutschen Leitkultur direkt angesprochen fühlen. Beinahe resignierend stellt Tibi fest, mit In den zwölf Kapiteln des Buches werden u.a. einer so müden Generation im Westen könne der universelle Anspruch des Islam, die Uni- man weder Menschenrechte noch Demokratie versalität der Menschenrechte versus Parti- gegen den aggressiven Islam verteidigen. kularität der Kulturen, die weltanschaulichen Konflikte zwischen dem Westen und dem Das Buch sei einem jeden empfohlen, der Islam, die Unvereinbarkeit von islamischer jenseits des in manchen Kreisen beliebten Schari'a und Menschenrechten und die Zitierens von selektiven Versatzstücken aus Probleme der islamischen Zuwanderung nach dem Koran, die zu einem einseitig idealisierten Europa behandelt. Dabei gelingen ihm immer Islam-Bild führen, die Realität einer Weltreli- wieder wichtige Erkenntnisse und mutige gion und Weltkultur kennenlernen will. Tibi Schlussfolgerungen, die sein Buch von vielen prognostiziert für Europa um das Jahr 2050 anderen inflationär gewordenen Veröffent- die Zahl von 50 – 75 Mio. Muslimen, und das Das aktuelle Buch 119 im Kontrast zur dramatischen Schrumpfung rechte“ oder ein Dokument, wie es die „Isla- der ursprünglichen europäischen Bevölkerung. mische Charta“ des Zentralrats der Muslime Schon allein aus diesem Grund werden in Deutschland darstellt, wertet Tibi als un- innerislamische Entwicklungen zu einem glaubwürdig. Die letztendlich erstrebte be- existenziell wichtigen Thema für Europa. dingungslose Durchsetzung des islamischen Solange der Islam zwischen der Scylla isla- Rechtssystems der Schari'a – für viele der mistisch-orthodoxer Extremismen und der eigentliche Kern des Islam – stellt nicht nur die Charybdis permanent scheiternder Reform- universelle Gültigkeit der Menschenrechte in bemühungen hin- und hergeworfen wird, kann Frage, sondern beschwört für den identi- es zu keiner Konfliktlösung kommen. tätsschwachen Westen die Gefahr der Isla- misierung herauf. Maßgebliche Stimmen der islamischen Ge- meinschaft im Westen betonen, dass sie sich Tibi sagt es klar und deutlich: Es gehe nicht, nur so lange an die bestehenden demo- in Europa zu leben und gleichzeitig des- kratischen Verfassungen halten werden, so sen Identität zu verleugnen (S.501). Es wird lange sie in der Minderheit sind. Der Gefahr letzten Endes um die „Europäisierung des des Entstehens ethnisch-religiöser Parallel- Islam“ oder um die „Islamisierung Europas“ gesellschaften mit kollektiven Sonderrechten gehen. Wenn die Integration im Sinn des Euro- kann nach Meinung Tibis mit einer „quan- Islam nicht gelingt (dem Rezensenten sei titativ-qualitativen restriktiven Einwande- es erlaubt, an dieser Stelle seinen tiefen rungspolitik“ begegnet werden, immer aber ist Pessimismus auszudrücken), drohen Bürger- eine „wehrhafte Demokratie“ gegen den Isla- kriege. So weit geht Tibi in seiner Prophe- mismus gefordert. Der rot-grüne Entwurf des zeihung (S.475). neuen Einwanderungsgesetzes genüge nicht. Die Verkündigung „islamischer Menschen- Rainer Glagow Buchbesprechungen

Faltlhauser, Kurt: Finanzpolitik der Zukunft erhielt die einer „optimistischeren Klempner- – Das Prinzip Nachhaltigkeit. München: mentalität“ (S.38) entstammende Vorstellung Olzog-Verlag 2002, 168 Seiten, 2 19,–. der wirtschaftlichen Globalsteuerung durch „antizyklische Finanzpolitik“ in Deutschland Der bayerische Staatsminister der Finanzen, Gesetzeskraft und mit Artikel 115 GG sogar Prof. Dr. Kurt Faltlhauser, hat eine Monografie Verfassungsrang. Trotzdem muss der damit vorgelegt, die in kompakter Form vor dem begründeten Politik mittlerweile nach Ansicht ausgezeichnet erfassten und wieder gegebe- des Autors ein „totaler Misserfolg“ (S.41) be- nen Hintergrund der internationalen wissen- scheinigt werden. Der historischen Fairness schaftlichen Diskussion die aktuellen finanz- halber sei an dieser Stelle aber darauf hin- politischen Herausforderungen beschreibt, gewiesen, dass von einigen Verfechtern der politische und wissenschaftliche Positionen antizyklischen Fiskalpolitik das Problem des und Leitlinien zu ihrer Bewältigung markiert längerfristigen Budgetausgleichs durchaus und Handlungsstrategien einer zukunftsfähi- gesehen und ernst genommen wurde. (Vgl. gen Finanzpolitik entwirft. Als Anknüpfungs- hierzu etwa die Schrift von F.J. Strauß aus punkt dient ihm dabei das ursprünglich aus dem Jahre 1967: „Die deutsche Finanzpolitik der Umweltpolitik bekannte Konzept der im Zeichen von Stabilität und Wachstum“.) Nachhaltigkeit, das sich als Anwendung des kategorischen Imperativs von Kant auf den Durch das Scheitern des Keynesianismus in intergenerationellen Kontext begreifen lässt: den 1970er-Jahren wurde zunächst in der Jeder Generation sind gemäß des Nachhaltig- Wissenschaft und dann in der Politik ein keitsgrundsatzes nur solche Handlungen „Paradigmenwechsel“ eingeleitet, der in dem gestattet, die dann auch allen zukünftigen so überschriebenen Kapitel C. erörtert wird. Generationen in gleichem Maße offen stehen Auf der Ebene der Wissenschaft hat sich und die deren Handlungsspielraum in diesem dieser Wandel im Denken in erster Linie im Sinne nicht beeinträchtigen. In der Regel wer- Vordringen stärker wachstumsorientierter den die zukünftigen Generationen durch die angebotsökonomischer Konzepte (der „Supply mit der Staatsverschuldung einhergehenden Side Economics“) und etwas später in der Zinsbelastungen aber dazu gezwungen, gestiegenen Aufmerksamkeit für intergene- Steuern zu erhöhen oder staatliche Leistungen rationelle Verteilungsstudien im Rahmen von zu kürzen. Auf diese Weise vermindern sich Generationenbilanzen („Generational Accoun- ihre Handlungsoptionen, sodass eine Ver- ting“) geäußert. Auf politischer Ebene macht schuldungspolitik des Staates in offen- der Autor den Trend zur Abkehr vom Schul- sichtlicher Weise zu einer Verletzung des denstaat zunächst anhand der Entwicklungen Nachhaltigkeitspostulats führt. im Bundeshaushalt der USA während der 1990er-Jahre deutlich: Teilweise als Folge Nachdem im Kapitel A. „Nachhaltigkeit: ein gesetzlicher Defizitbeschränkungen und v.a. Begriff wird Programm“ dieser Grundzu- unterstützt von einem kräftigen Wirtschafts- sammenhang erläutert und ein Überblick über wachstum gelang es dort, die ursprünglich die zentralen Aussagen des Buches gegeben noch sehr hohe Nettoneuverschuldung bis worden ist, wird im Kapitel B. „Theorien und 1998 sogar in einen Budgetüberschuss zu ihre Folgen“ erläutert, wie es durch eine verwandeln. In Deutschland hatte sich bereits Kombination von fehlgeleitetem ökonomi- in den 1980er-Jahren ein allerdings bei weitem schen Denken und naivem bis opportunis- nicht so spektakulärer Konsolidierungserfolg tischem politischen Handeln überhaupt erst ergeben: Nach permanent hohen Nettoneu- zur Aufweichung der fiskalischen Disziplin und verschuldungsquoten während der sozial- damit zur Verletzung des Nachhaltigkeits- liberalen Koalition unter Schmidt (bis 1982) gedankens in der staatlichen Haushaltspolitik konnte von der christlich-liberalen Regierung kommen konnte. Dabei wird v.a. auf die unter Kohl bis 1989 zumindest das strukturelle negativen Einflüsse der „General Theory“ von (d.h. das um konjunkturelle Einflüsse berei- Keynes und des Keynesianismus verwiesen, nigte) Defizit im Bundeshaushalt zum Ver- durch die sich „bei Politikern der verführe- schwinden gebracht werden. Durch die finan- rische Gedanke (verfestigte), konjunkturelle ziellen Belastungen in Folge der Wiederver- Krisen mit Hilfe einer extensiven Nutzung des einigung wurde der Konsolidierungsprozess Instruments der Staatsverschuldung zu be- in Deutschland allerdings gestoppt. In den wältigen“ (S.36). Zur Zeit der großen Koalition 1990er-Jahren nahm die Staatsverschuldung (unter dem wirtschafts-/finanzpolitischen Duo wieder zu, ohne aber bei der Neuverschuldung Schiller und Strauß) in den 1960er-Jahren die Extremwerte der 70er-Jahre zu erreichen.

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 Buchbesprechungen 121

Erst in Vorbereitung auf die Europäische Wäh- recht detaillierten Erörterung der Steuerreform rungsunion und unter dem Druck der Kon- in den USA von 1986 und ihren positiven vergenzkriterien des Vertrags von Maastricht Wachstums- und Beschäftigungseffekten, sowie des Stabilitäts- und Wachstumspakts einer Rückschau auf die von der damaligen wurden in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre christlich-liberalen Koalition in Deutsch- erneut sichtbare Erfolge bei der Verminderung land zwischen 1986 und 1990 durchgeführten staatlicher Budgetdefizite erzielt, die in „Großen Steuerreform“ und einer recht Deutschland allerdings wesentlich geringer als heftigen Kritik an der Steuerpolitik der in vielen anderen EU-Staaten ausfielen. Der derzeitigen rot-grünen Koalition legt der Autor Autor mahnt deshalb bei der Bundesregierung seine eigenen steuerpolitischen Vorstellungen eine höhere Haushaltsdisziplin und die strikte umfassend dar. Im Mittelpunkt steht dabei Beachtung der in der EU gültigen Defizitregeln die Forderung nach einer starken Absenkung an. Besonders interessant sind in diesem der Grenzbelastung der Einkommen durch Zusammenhang seine Ausführungen zur For- Steuern und Sozialabgaben, um auf diese mulierung eines Stabilitätspakts auf nationaler Weise den Faktor Arbeit zu entlasten, Sparen Ebene, der seiner Ansicht nach sogar in eine und Investieren zu fördern und die Position prinzipielle Neuordnung der Finanzbeziehun- Deutschlands im internationalen Standort- gen zwischen den Einzel- und Gebietskörper- wettbewerb zu stärken. Daneben plädiert er schaften münden sollte. für eine radikale Vereinfachung des Steuer- systems, lehnt aber – für mich etwas über- Mittel und Wege zur Vermeidung staatlicher raschend – die Ersetzung des linear-progres- Budgetdefizite stehen im Mittelpunkt der siven Einkommensteuertarifs durch einen in beiden anschließenden Kapitel D. und E. In den meisten anderen Ländern gebräuchlichen Kapitel D. „Der Weg zu einem ausgeglichenen Stufentarif ab. Weiterhin werden – trotz eines Haushalt“ wird nach einer etwas knappen (und prinzipiell positiv bewerteten Steuerwett- insbesondere wegen der festgestellten Last- bewerbs – Mindeststeuersätze bei der Be- verschiebung auf die Länder recht kritischen) steuerung mobiler Produktionsfaktoren im Diskussion der Konsolidierungspolitik auf Rahmen der EU, eine allerdings nicht weiter Bundesebene ausführlich erörtert, was die konkretisierte Reform der Gewerbesteuer so- Verwirklichung des Nachhaltigkeitspostulats wie ganz generell mehr Berechenbarkeit und für die Haushaltspolitik im Freistaat Bayern Konstanz in der Steuerpolitik gefordert. konkret bedeutet. Obwohl die Haushaltslage in Bayern sowohl im Vergleich zu den anderen Das Schlusskapitel F. „Auf was es ankommt“ Bundesländern als auch zum Bund sehr fasst die Ergebnisse der Studie in thesenhafter günstig ausfällt, konstatiert der Autor auch hier Form nochmals klar zusammen. Der Autor einen nicht unbeträchtlichen Anpassungs- endet mit der inständigen Forderung gerade bedarf zur Erreichung eines vollständigen an junge Politiker, durch ein konsequentes Budgetausgleichs, der in Bayern durch den Beharren auf einer nachhaltigen Haushalts- neu eingeführten Artikel 18 der bayerischen politik die politische Handlungsfähigkeit auf Haushaltsordnung sogar rechtlich geboten ist Dauer zu sichern und den vielfach mit kost- und bis 2006 verwirklicht werden soll. Hin- spieligen Wahlkampfversprechen geführten dernisse und Gefahren auf dem Weg zur politischen Kampf um Wählerstimmen durch völligen Vermeidung staatlicher Defizite sieht einen „Soliditäts-Wettbewerb“ zu ersetzen. der Autor bei der Entwicklung der Personal- ausgaben und der Versorgungslasten, bei Die in der Arbeit vorgebrachten Überlegungen schwer oder nicht vermeidbaren zusätzlichen befinden sich zum größten Teil in Überein- Staatsausgaben (insbesondere im Bereich der stimmung mit der herrschenden wissen- Familienförderung und der inneren Sicherheit), schaftlichen Lehrmeinung, sodass ich mich im der zunehmenden Verlagerung von finanziellen Folgenden weitgehend darauf beschränken Lasten auf Länder und Kommunen sowie kann, die Ausführungen der Arbeit an der natürlich bei einem anhaltend ungünstigen einen oder anderen Stelle zu ergänzen: Konjunkturverlauf und einem zu geringen Wirtschaftswachstum. 1. Als „Sündenbock“ im Zusammenhang mit der dramatischen Zunahme der Staatsver- An den letztgenannten Punkt knüpft das schuldung gilt Keynes und der Keyne- Kapitel E. „Wachstum und Steuerpolitik“ an. sianismus. Diese Auffassung ist in der Fach- Dort wird nämlich danach gefragt, wie die welt gängig und im Prinzip auch richtig. steuerlichen Rahmenbedingungen beschaffen Wichtig erscheint mir in diesem Zusam- sein müssen, um das für einen dauerhaften menhang dennoch, Keynes selber vor zu Budgetausgleich erforderliche Wirtschafts- platten Interpretationen vieler seiner Apolo- wachstum tatsächlich zu erreichen. Nach einer geten in Schutz zu nehmen. Die „General 122 Buchbesprechungen

Theory“ von Keynes mit ihrer eingängigen mechanismus gibt, der allen Eventualitäten Darstellung des Einflusses von Erwartungen gerecht wird. Angesichts der Unregelmäßigkeit auf das Wirtschaftsgeschehen ist ein noch der Konjunkturzyklen und der Überlappung heute lesenswertes Buch. Die völlig berech- von Konjunktur- mit Wachstumsproblemen tigte Kritik an der mit völlig überzogenen muss damit gerechnet werden, dass der Erwartungen verbundenen und viel zu me- allgegenwärtige Konflikt zwischen verlässlicher chanischen antizyklischen Fiskalpolitik bleibt Regel und berechtigter Ausnahme im Zu- davon unberührt. Die konjunkturpolitischen sammenhang mit der staatlichen Haus- Vorstellungen des Keynesianismus waren in haltspolitik sogar besonders ausgeprägt ist. den 1960er-/1970er-Jahren auch nicht das Auch Kriege, die bislang außerhalb des einzige Einfallstor für das Vordringen der Erwartungshorizonts lagen, können zu außer- Staatsverschuldung. Vielmehr erhoffte man gewöhnlichen Belastungen des Staatshaus- sich von der teilweisen Finanzierung von halts führen. Der Konflikt zwischen Glaub- Staatsausgaben eine dauerhafte – und somit würdigkeit und Flexibilität könnte möglicher- mit dem Nachhaltigkeitspostulat vereinbare – weise dadurch entschärft werden, dass man Erhöhung des staatlichen Ausgabenspiel- bei der Formulierung von Haushaltsregeln das raums, ohne dabei auf wohlfahrtsschädliche Gewicht weg von gerade in konjunkturellen Steuern zurückgreifen zu müssen. Zugleich Schwächephasen bindenden Defizitgrenzen sollten durch die Staatsverschuldung für den auf die Verpflichtung zum Budgetausgleich bei privaten Sparer vermehrt Anlagealternativen prosperierender Wirtschaft und höheren mit sicherer Rendite geschaffen werden. Ob Steuereinnahmen verlagert. Die Planungs- ein solches „Ponzi-Spiel“ mit einer immer sicherheit der politischen Entscheidungsträger weiteren Verschiebung der mit der Staats- würde auf diese Weise weniger beeinträchtigt, verschuldung einhergehenden Zins- und und die Möglichkeit, auf unerwartete Ein- Tilgungslast in die Zukunft auf Dauer wirklich nahmeausfälle (im Sinne einer passiven funktioniert, hängt jedoch ganz entscheidend Stabilisierungspolitik) angemessen reagieren von empirischen Gegebenheiten (und zwar zu können, bliebe gewahrt. konkret vom Verhältnis von Zinssatz und Wachstumsrate) ab. Gleich zu Anfang der 3. Die gegenüber anderen Bundesländern Arbeit (in Abschnitt B.1. „Staatsverschuldung recht günstige Haushaltslage im Freistaat und Nachhaltigkeit“) wird dieses wichtige Bayern wird mit guten Gründen an einigen Teilthema unter Bezugnahme auf das be- Stellen der Arbeit hervorgehoben. Bayern kannte Domar-Modell (und eine wichtige Ar- erscheint damit zu Recht als Vorbild bei einer beit von Blanchard et al.) kurz angerissen. Zur am Ziel der Nachhaltigkeit orientierten Finanz- Verdeutlichung des Zusammenhangs von politik. In diesem Zusammenhang wäre es Staatsverschuldung und Nachhaltigkeit wäre interessant, die Gründe für diese positive eine Vertiefung gerade an dieser Stelle viel- Entwicklung zu erörtern. Dabei bietet es sich leicht hilfreich gewesen. an, die in der Literatur zur ökonomischen Theorie der Politik vielfach angeführten Gründe 2. Die Arbeit präsentiert eine Vielzahl formaler zur Erklärung einer mehr oder weniger hohen Regelungen zur Begrenzung staatlicher Haus- Verschuldung in einzelnen Staaten auch auf haltsdefizite, die sich insbesondere dadurch Bayern anzuwenden: Wenn die Mehrheits- unterscheiden, dass sie mehr oder weniger verhältnisse in einem Land klar sind und die „harte“ Stabilitätskriterien vorsehen. Grund- Notwendigkeit zur Koalitionsbildung zwischen sätzlich besteht ein Dilemma zwischen einer verschiedenen Parteien somit entfällt, lassen wirklich glaubwürdigen Bindung („Wir müssen sich die ansonsten bei Koalitionsverhand- uns an den gegebenen Kriterien fest halten – lungen vielfach nötigen Zugeständnisse an das ist einer unserer wichtigsten Pluspunkte Koalitionspartner vermeiden, die zur Belastung beim Bürger“ (S.75)) und einer auch aus des Staatshaushalts und somit zukünftiger wirtschaftspolitischen Gründen gebotenen Generationen führen. Eine auf längere Sicht Flexibilität der staatlichen Haushaltsführung, gesichert erscheinende Einparteien-Regierung die ein absolutes Verbot der staatlichen führt zudem zu einer Verlängerung des Zeit- Kreditaufnahme „aus pragmatischen Gründen“ horizonts bei den Politikern, was zu einer als wenig sinnvoll erscheinen lässt (S.112). stärkeren Berücksichtigung der Folgekosten Dem in der EU gültigen Stabilitäts- und der Staatsverschuldung im politischen Kalkül Wachstumspakt wird von vielen ein in dieser führt und den Anreiz zur Kreditaufnahme Hinsicht zu großes Maß an Starrheit vorge- senkt. Schließlich müssen in diesem Falle die worfen, was manchmal sogar paradoxerweise regierenden Politiker auch weniger befürchten, Zweifel an der Dauerhaftigkeit dieses Vertrags- dass die von ihnen in einer Legislaturperiode werks weckt. Die grundlegende Schwierigkeit erreichten Konsolidierungserfolge nach einem dürfte darin bestehen, dass es keinen Regel- Machtwechsel zur Erfüllung kostspieliger Buchbesprechungen 123

Wahlversprechen des politischen Gegners und die historischen Umstände des „ehrenvollsten zur Verschleierung der Folgen einer verfehlten Tages in unserer Geschichte“, wie der Schrift- Wirtschaftspolitik missbraucht werden. Eine steller Rolf Hochhuth in seiner Rede zum in der Arbeit von Herrn Faltlhauser implizit Gedenken an den Volksaufstand in der DDR enthaltene Botschaft wird somit durch wissen- ausdrückte, ausführlich darzustellen und aus schaftliche Ansätze überzeugend bestätigt: vielfältigen Perspektiven zu bewerten. Ein Politische Stabilität liefert eine gute Aus- Quellenwerk, das sich mit der Reaktion der gangsbasis für die Erreichung fiskalischer wichtigsten in- und ausländischen Akteure Solidität. beschäftigt, ist vor kurzem erschienen und bietet eine Fülle von bemerkenswerten Ein- Die Monografie von Herrn Faltlhauser liefert drücken und aufschlussreichen Einsichten aus insgesamt einen kenntnisreichen und de- jenen Tagen, in denen die sowjetische Führung taillierten Überblick über die wichtigsten ihre geostrategische Einflusszone mit Waffen- Probleme, mit denen staatliche Haushalts- gewalt abzusichern versuchte. politik in Deutschland und auch in Bayern konfrontiert ist. Trotz Kritik am politischen Christian F. Ostermann, Direktor des Cold War Gegner ist die vorliegende Arbeit alles andere International History Projects am Washingtoner als eine politische Streitschrift. Dies gilt schon Woodrow Wilson Center, hat sich die Mühe allein deshalb, weil die Seitenhiebe auf die gemacht, ein Kompendium aus 95 offiziellen politischen Gegner gemessen am Gesamt- Dokumenten zu erstellen, das seines Gleichen umfang der Studie nur einen eher begrenzten sucht. Diplomatische Depeschen, Geheim- Umfang einnehmen. Wohl haben sich mittler- dienstberichte, Partei- und ZK-Protokolle, weile auch die Meinungsunterschiede im Briefe, Radiomitschnitte, Kommentare sowie Hinblick auf die Leitideen staatlichen Haus- handschriftliche Notizen geben ein beredtes haltens zwischen verschiedenen politischen Bild von den Ursachen des Volkaufstandes, Lagern abgeschliffen, wobei gerade ein baye- dessen Verlauf und den drakonischen Folgen rischer Finanzminister mit gewissem Recht die für die direkt involvierten Akteure wie auch das Durchsetzung der eigenen „Philosophie“ für gesamte deutsche Volk. sich reklamieren könnte. Positiv fällt auch auf, dass die Arbeit auf die Wiederholung des in Das Werk beginnt mit einer chronologischen Politikerreden häufig zu findenden, wissen- Abfolge, die über den Zeitraum 1945 bis 1955 schaftlich aber eher unergiebigen allgemeinen die Ambivalenz sowjetisch- (ost-) deutscher ordnungspolitischen Mantras verzichtet, son- Beziehungen beleuchtet, gefolgt von einer dern stattdessen konsequent auf finanz- prägnanten Einführung zu den Ursachen des politische Fragen konzentriert bleibt und bei Aufstandes, die der Herausgeber in dem von deren Behandlung auf die Erkenntnisse der Moskau propagierten, beschleunigten Aufbau modernen ökonomischen Forschung syste- des Sozialismus und der Kollektivierung matisch Bezug nimmt. Auch der Nicht-Fach- feststellte. Ostermann beginnt seinen Reigen mann erhält auf diese Weise einen zugleich an ernüchternden Dokumenten mit dem fundierten und gut verständlichen Einblick in Protokoll von Geheimgesprächen in Moskau die Thematik, der ihm ein besseres Urteil über zwischen dem sowjetischen Diktator Josef die Fragen der staatlichen Haushaltspolitik Stalin mit den SED-Parteifunktionären Wilhelm erlaubt. Aus diesen Gründen wünsche ich der Pieck, Walter Ulbricht und Otto Grotewohl vorliegenden Publikation von Faltlhauser die vom 1. und 7. April 1952. Diese Gespräche ihr zustehende große Aufmerksamkeit. fanden einen Monat nach der „Stalin-Note“ zur Wiedervereinigung Deutschlands statt und Wolfgang Buchholz machen deutlich, wie der konsequente Aufbau eines unabhängigen, sozialistischen Staates erforderlich war, der die Demarkationslinie zwischen Ost und West zu einer „Grenze“ ausbauen sollte. Ostermann, Christian F. (Hrsg.): Uprising in East Germany, 1953: The Cold War, the Aufmerksamen Politstrategen konnte nicht German Question, and the First Major verborgen geblieben sein, dass der beschleu- Upheaval Behind the Iron Curtain (National nigte Aufbau des Sozialismus unmittelbare Security Archive Cold War Readers). Konsequenzen auf das Wohlwollen der Be- Budapest: Central European University Press, völkerung hatte, diese Utopie mitzutragen. Die 2001, 451 Seiten, 2 30,21. Enteignung von bürgerlichen Leistungsträgern, die Kollektivierung der Bauern gepaart mit der Der 17. Juni 1953 jährt sich in diesem Jahr Unterbindung politischer Freiheiten führte zu zum fünfzigsten Mal. Ein geeigneter Anlass, einer prekären Versorgungslage, diese durch 124 Buchbesprechungen die staatlich verordnete Erhöhung von Ar- standes mehr als unzureichend waren und der beitsnormen zu Protesten und Streiks, die am Ernst der Lage nur von wenigen erkannt 17. Juni im Aufstand eskalierten. wurde. Zahlreiche Beispiele illustrieren mit welcher ideologischen Prinzipienlosigkeit Vorboten des Unheils gab es viele. Da waren Funktionäre ihr Heil in Anbiederung und un- zum einen diejenigen, die „rüber machten“; realistischen Zugeständnissen gegenüber den nach DDR-Statistiken verließen trotz scharf streikenden Arbeitern und Bauern suchten. bewachter innerdeutscher Grenze im Jahre Besonders scharf wurde die aktive Beteiligung 1951 über 166.000, 1952 über 182.000 und in von SED-Funktionären und Parteimitgliedern den ersten vier Monaten des Jahres 1953 über an den Streiks und dem Aufstand konstatiert 122.000 Menschen die DDR. Der Druck, das (Dok.47). Schlupfloch Berlin ein für alle mal zu stopfen, war enorm und sollte 1961 mit dem Bau der Der Aufstand und seine blutige Niederschla- Berliner Mauer erfolgen. gung löste große Unruhe in der Tschechos- lowakei und Polen aus. Bürgerliche Grup- Zum anderen war die sowjetische Politik nach pierungen witterten Morgenluft, nachdem es dem Tod Stalins am 5. März in eine Evalu- Anfang Juni Streiks in Pilsen gegeben hatte, ierungsphase getreten. Der Machtkampf hofften auf ein Überschwappen der Unruhen zwischen Malenkow, Chruschtschow und und mussten sich schnell mit der Ausweg- Berija im Kreml war noch nicht entschieden, losigkeit ihrer Situation abfinden (Dok.49). In über eine politische Neubewertung sowje- Polen wurden umfangreiche Vorsichtsmaß- tischer Interessen in Ostdeutschland wurde nahmen eingeleitet, um Streikaktionen in Folge intensiv gerungen. In Kenntnis der desolaten der allgemeinen Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage in der DDR gewährten ökonomischen Situation im Keim zu ersticken die sowjetischen Machthaber am 18. April den (Dok.50). SED-Genossen zusätzliche Wirtschaftshilfe, reduzierten die Höhe der zu leistenden Repa- Wie groß die Unzufriedenheit unter der ost- rationen und streckten deren Zahlungstermine. deutschen Bevölkerung war, wollte die SED- Wenige Wochen später, am 13. und 14. Mai Führung unmittelbar nach der Niederschla- beschließt das SED-Zentralkomitee eine gung des Aufstandes durch Gespräche zehnprozentige – freiwillige – Anhebung der zwischen Parteimitgliedern mit normalen DDR- Arbeitsnormen. In Folge wurde diese Zwangs- Bürgern erfahren. Welche authentische Ein- maßnahme in den Partei- und Gewerk- stellung haben die Menschen, worin bestehen schaftsgremien „vermittelt“, ohne auf große die persönlichen Hauptinteressen und wie Gegenliebe zu stoßen. kann die Regierung Vertrauen wieder gewin- nen? Dazu sollten nach Ansicht der SED- Die Streiks der Tabakarbeiter in Bulgarien Führung unverdächtige Gespräche in Kneipen Anfang Mai und die Protestaktionen der und Trinkhallen geführt werden. (Dok.54). Industriearbeiter in der Tschechoslowakei Anfang Juni waren nicht nur Vorboten des Auch ohne Kenntnis dieser laienhaften Infor- Aufstandes in Ost-Berlin, sondern auch in ihrer mationssammlung konstatierte der britische Bedeutung sträflich von der SED-Führung Außenminister Selwyn Lloyd in seinem Bericht unterschätzt. So ist die Ignoranz der SED- an Winston Churchill die völlige Diskreditierung Parteiführung nicht weiter erstaunlich, wie sie des Regimes in der Sowjetzone. Die Ent- der Einschätzung des KGB Funktionärs Iwan wicklung habe gezeigt, dass die sowjetische Fadejkin zu entnehmen ist, die entsprechende Politik gescheitert sei. Dies sei wahrscheinlich Warnungen vor Zusammenrottungen nicht der größte Triumph im Kalten Krieg seit der ernst nehmen wollten (Dok.46). Abspaltung von Josef Tito (Dok.58).

Folglich hagelte es seitens der sowjetischen Siebzehn Vorschläge enthielt der Bericht von Machthaber massive Kritik nach der Nieder- Wasilij Sokolowskij, Wladimir Semjonow und schlagung des Aufstandes, über dessen Pawel Judin vom 24. Juni, der zu den be- Verlauf hier nicht näher eingegangen werden deutendsten und aufschlussreichsten Doku- muss, an der SED-Führung, Regierungs- menten dieser Sammlung zu zählen ist. Die mitgliedern und nachgeordneten Funktions- Autoren sprechen vorbehaltlos und analytisch trägern. die Konsequenzen der sowjetischen Besat- zungspolitik an. Neben einer rapiden Verbes- Die Berichte der KGB-Mitarbeiter aus Ost- serung der Versorgungslage sollte umgehend Berlin lassen keinen Zweifel aufkommen, dass die Höhe der Reparationszahlungen an die die Konfliktprävention gänzlich versagte, die Sowjetunion diskutiert werden wie auch die Maßnahmen vor und im Verlauf des Auf- unselige Vermischung der Zuständigkeiten im Buchbesprechungen 125

Staatsapparat der DDR zwischen Regierung Die amerikanische Politik war in mehrfacher und SED-Zentralkomitee. Die formulierten Hinsicht durch die Entwicklung in Ostberlin Vorschläge sprechen sich auch für eine betroffen. Mit den Erkenntnissen über das substanzielle Überprüfung der Polizeiorgane, Ausmaß der Demonstrationen in der DDR und ihrer Ausstattung, Organisation und ihres in den anderen sozialistischen Ländern wuchs Stationierungsortes aus, die künftig in der die Gewissheit, von der Destabilisierung des Lage sein müssten, ohne sowjetische Un- kommunistischen Regimes profitieren zu terstützung die öffentliche Ordnung in der DDR können. Die „deutsche Frage“ stand wieder aufrecht zu erhalten. Hier war der Wunsch auf der Tagesordnung. Die amerikanische Vater des Gedankens. Antwort auf die Erwartungshaltung der DDR- Bevölkerung war ein großzügiges Lebens- Wie zerstritten das Politbüro des ZK der SED mittelhilfeprogramm von – angesichts der währenddessen nach einer Lösung für die machtpolitischen Rahmenbedingungen – brennenden wirtschaftlichen Probleme suchte, außerordentlich großem Propagandawert. Die wird aus einem weiteren Bericht aus sow- so genannten „Eisenhower-Pakete“ gab es für jetischer Feder über die Politbürositzung vom DDR-Bürger in Westberliner Verteilungsstellen. 9. Juni deutlich (Dok.70). Die unübersehbaren Das Programm lief bis Anfang Oktober; Fehlentwicklungen der Planwirtschaft – so insgesamt wurden 5.5 Millionen Lebenspakete habe die Schwerindustrie nur ca. 40% der sehr zum Unbill der DDR-Führung verteilt erforderlichen Rohstoffe zur Verfügung – sei (Dok.86). nicht durch einen Investitionsstopp in Höhe von 1,3 Mrd. DDR-Mark zu erreichen. Im Die politischen Kosten blieben unkalkuliert. Es Gegenteil, nur ein Ausbau der Schwerindustrie sollte bis in die Novembertage des Jahres offeriere die Chance, die Versorgungslage zu 1989 dauern, bis der DDR-Führung die verbessern und den Lebensstandard zu er- Rechnung präsentiert wurde. Diesmal standen höhen. Bemerkenswert wie der Minister für keine sowjetischen Streitkräfte mehr zur Außenhandel der DDR, Gregor, die ideolo- Verfügung, um die Montagsdemonstranten gische Orientierungslosigkeit der Wirtschafts- nieder zu schießen, geschweige denn der Mut, planung bewertet: „Das ist kein Politbüro, die SED-Diktatur mit Waffengewalt aufrecht sondern ein Irrenhaus.“ zu erhalten. In der Tat, die DDR-Sozialisten hatten auf der ganzen Linie abgewirtschaftet. Dass Ulbricht, 1. Sekretär der SED, durch seine schwache, unzureichende Führung und Der heldenhafte Aufstand vom 17. Juni 1953 den von Personenkult geprägten, streng blieb dennoch ambivalent, sowohl im Osten hierarchisch strukturierten Führungsmethoden wie auch im Westen, wie der Herausgeber in in der Partei ein gerütteltes Maß an Schuld an einem Epilog deutlich macht. Dem Aufstand der Situation hatte, gab Anlass zu kritischen folgten Jahre der tiefen Resignation. Die Bemerkungen über die Chancen einer Enttäuschung über die Passivität des Westens nachhaltigen Verbesserung der Stimmung in förderte eine DDR-typische Nischengesell- der Bevölkerung. Offiziell war der Westen am schaft, deren sozioökonomischen Rahmen- Aufstand Schuld. Provokateure, der RIAS und bedingungen den Rückzug in eine apolitische Agenten westlicher Geheimdienste hätten die Privatsphäre begünstigte. Verstärkt wurde Proteste geschürt, wie aus der Untersuchung dieser Trend durch einen ausufernden Kontroll- des Ministeriums für Inneres hervorging und Repressionsapparat, der so gut war, dass (Dok.72). es bis 1989 dauern sollte, bis das Maß abermals erfüllt war. Andererseits wurde ein Die Erkenntnisse des amerikanischen Ge- modus vivendi mit den „Arbeitern“ etabliert, heimdienstes CIA waren zum Zeitpunkt des niedrige Arbeitsnormen, hohe Löhne und Aufstandes eher dürftig. Verlässliche Angaben angemessene Produktivitätszuwächse. über das Ausmaß der Protestaktionen in den Bezirken standen nicht zur Verfügung (Dok.61). Die Lehren des 17. Juni waren für die DDR- Allein die Aktivitäten der sowjetischen Streit- Führung klar, wie ihr Verhalten und Einsatz bei kräfte konnten dokumentiert und zahlenmäßig der gemeinsamen Unterdrückung der Aufstän- erfasst werden: Über 25.000 Rotarmisten de in Ungarn, Polen und Tschechoslowakei in würden in Ostberlin patrouillieren und auch in den Folgejahren zeigten. Die Drohung, mit andern ostdeutschen Städten Protestaktionen einer Militärintervention gegen das eigene Volk unterbinden. Es gäbe keine Hinweise darauf, vorzugehen, sollte es sich abermals gegen das dass die sowjetischen Truppen die militärische Regime auflehnen, war immer präsent. Mit der Bekämpfung der Aufständischen als Vor- Gorbatschowschen Reformpolitik verlor das wand für einen Angriff gegen den Westen SED-Regime zu einem Zeitpunkt die macht- planten. politische Autorität, als die ökonomische Lage 126 Buchbesprechungen nicht mehr zu kaschieren war und die der Große so ausgesehen hat, wie er uns in Stimmung im Volk sich der vom Frühjahr 1953 hellenistischen Skulpturen überliefert ist), dort annäherte. Realismus bis hin zum Ausspielen des Häss- lichen (Kaiser Vespasian soll laut Sueton Der Dokumentenband ist ein probates Mittel immer einen verkniffenen Gesichtsausdruck gegen Legendenbildung. All jenen, die sich mit gehabt haben: Das entspricht ganz der von diesem deutsch-deutschen Kapitel näher ihm tradierten Porträtbüste!). beschäftigen möchten, sei es empfohlen, wie auch den politischen Entscheidungsträgern in Nun beginnt gemäß Hegel sich die griechische der Bundesrepublik, die noch immer kein Philosophie erst seit Sokrates und Platon mit adäquates Denkmal in Erinnerung an die der menschlichen Selbsterkenntnis zu be- Opfer, die für ein besseres Leben, Freiheit und schäftigen. Dementsprechend wird der nationale Einheit starben, zu Stande gebracht Analyse der platonischen Dialoge vom Autor haben. breiter Raum gegeben. Die Pointe dabei ist, dass Sokrates als Gipfel der Selbsterkenntnis Olaf Mager eigentlich nur wusste, dass er nichts wusste. Das ist an seiner „Apologie“ festzumachen, die Platon schon wenige Jahre nach der Hinrichtung des Meisters geschrieben haben dürfte. Der Sokrates der späteren Werke Göbel, Christian: Griechische Selbster- Platons jedoch bekennt sich darüber hinaus kenntnis – Platon, Parmenides, Stoa, zur Unsterblichkeit der Seele, etwa im Aristipp. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2002, „Phaidon“, also zu einem sehr elaborierten 324 Seiten, 2 35,–. Ergebnis von Selbsterkenntnis. All dies ist, jedenfalls in solch knapper Zusammenfas- Der Autor, wissenschaftlicher Assistent an der sung, nichts Neues, und der Rezensent päpstlichen Lateran-Universität in Rom, führt erinnert sich dessen auch noch ganz gut aus in dieser souveränen, überaus sorgfältigen, seinem Griechisch-Unterricht an der Oberstufe kenntnisreichen und – angesichts des philo- des Gymnasiums. sophischen Themas besonders hervorzu- heben – gänzlich natürlich, verständlich und Doch findet sich bereits in der Biografie des unverquast geschriebenen Studie den Nach- Pythagoras, verfasst von dem spätantiken weis, dass die antike Philosophie keinesfalls Neuplatoniker Iamblichos, die Bemerkung, um ein abgetanes Thema von nur noch seminar- menschliche Selbsterkenntnis sei es auch mäßiger Relevanz ist. Denn in ihr geht es im schon vor Sokrates gegangen. Einer der ori- Wesentlichen um die rechte Lebenskunst und ginellsten Gedanken des Autors besteht nun nicht um irgendwelche abstrakte, von darin, diese allgemeine Aussage an einem der unbeweisbarer Metaphysik gesättigte „Sys- Vorsokratiker festzumachen, an Parmenides teme“. Das Wort „System“ wendet der Autor aus Elea. Hatte doch schon Heraklit eine zwar auf die Lehre des Aristippos von Kyrene Generation vor Parmenides gesagt: „Ich er- an, aber nur in Anführungszeichen. „Der forschte mich selbst.“ Bekanntlich besteht die gemeinsame Horizont von Urfragen über- Quintessenz der Lehre des Parmenides darin, brückt den Abgrund der zweitausendfünf- dass alles im „Sein“ seine Einheit hat, womit hundertjährigen Geistesgeschichte.“ dieser Begriff in die Philosophie eingeführt ist, um bis heute nicht aus ihr zu verschwinden. Ausgangspunkt der Darstellung ist die be- Die Einheit des Seins erkennt man nicht mit kannte Aufforderung des delphischen Apollon den Sinnen, denn diese sehen überall Vielfalt, „Erkenne dich selbst“. Daraus darf nicht ohne und sie sehen dabei auch ein beständiges weiteres der Schluss gezogen werden, dass Werden und Vergehen. Die Einheit des Seins die Antike sich schon um individuelle Psy- erkennt man mit dem Geist, und man erkennt chologie bemüht hätte, ähnlich dem neu- dabei zugleich auch seine eigene Erkenntnis- zeitlichen Existenzialismus oder Individualis- fähigkeit. In der Erkenntnis begegnet der mus. Das Wort Goethes „Höchstes Glück der Mensch dem Göttlichen, denn sofern die Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit“ hätte Erkenntnis eindeutig und unumstößlich ist, hat nicht in die Antike gepasst, da der Mensch sie an der Ewigkeit der göttlichen Sphäre teil. dort als Gattungswesen in seiner Wesen- Da ferner unendliche Denkmöglichkeiten haftigkeit begriffen wurde. Der Unterschied ist bestehen, erschließt der erkennende Geist etwa der wie zwischen einer griechischen auch die Unendlichkeit. Das Erkennen ist Porträtbüste und einem römischen Kaiser- mithin ein göttlicher Akt, dessen Möglichkeit porträt: hier Idealisierungstendenzen (wir der Mensch in sich trägt. Die perfekte Vernunft können wirklich nicht wissen, ob Alexander ist also das Göttliche schlechthin. Oder auch: Buchbesprechungen 127

Gott ist die Wahrheit. Denn die falsche philosophischen Abteilung der UNESCO Meinung und die Erkenntnis des Wahren entwickelt worden ist, u.a. mit Hilfe des liegen so weit auseinander, dass letztere Theologen Hans Küng, und das, auf göttlich sein muss. Das Sein selbst ist – „Urgemeinsamkeiten im menschlichen Sein“ wohlgemerkt – nicht göttlich, wohl aber ist es aufbauend, einen Versuch darstellt, der wirt- die Fähigkeit, das Sein in seiner Einheit zu schaftlichen, politischen und militärischen erkennen. Der Spruch des delphischen Globalisierung eine der Ethik an die Seite zu Apollon war stets auch in dem Sinne gedeutet stellen. worden, der Mensch solle den Unterschied zwischen sich und der Gottheit erkennen. Da man die Stoa üblicherweise mit einem Parmenides definiert auf die skizzierte Weise weitherzigen Kosmopolitismus gleichsetzt, und hoch intellektualisiert das Verhältnis zur könnte sie bereits in der Antike ein solches Gottheit neu. „Weltethos“ entwickelt haben. Doch der Autor widerspricht dem: Dazu hätte es der grund- Für dieses Verhältnis ist allerdings auch sätzlichen Annahme der Gleichheit der Men- grundlegend, dass die Menschen im Unter- schen bedurft. Dem stand jedoch entgegen, schied zu den Göttern nicht unsterblich sind, dass in der Antike eine Sklavenhalter-Ge- der Mensch also mit dem Problem des Todes sellschaft herrschte, die erst durch das fertig werden muss. Dies bezeichnet der Autor Christentum aufgelöst werden musste, um das als eine existenzielle Frage, die bereits im Sklaventum nicht mehr als die natürlichste altgriechischen Mythos (Prometheus) und bei Sache der Welt zu betrachten. Zwar gab es Hesiod anklingt, wenn auch in mythisch immer wieder Autoren, die Sklaven und Herren verschlüsselter Sprache. Martin Heidegger gleichermaßen als Menschen anerkannten, die sprach im 20. Jahrhundert vom „Sein zum bekanntesten davon Seneca in einem seiner Tode“, während Wittgenstein, damit einen „Briefe an Lucilius“ und Epiktet mit seinem Gedanken Epikurs aufgreifend, die Irrelevanz Ausspruch: „Wir sind alle Brüder und haben des Todes für das menschliche Denken in gleicher Weise Gott zum Vater.“ Doch behauptet. Parmenides, der gemäß einer Notiz entsprach derart noblen Gesinnungen keinerlei des Diogenes Laertios, eines spätantiken gesellschaftspolitisch relevantes Handeln. Die Sammlers philosophischer Behauptungen und Stoa entwickelte ein großartiges Ethos der Anekdoten, ungeachtet seiner unerbittlich Einzelpersönlichkeit, aber die Grundlage logischen Seinslehre im Grunde nach dem dieses Ethos war geradezu, dass man eine rechten Seelenfrieden suchte, negierte den gegebene Situation als prinzipiell unverän- Tod, hierin wahrscheinlich von der Unsterb- derlich hinnahm. So konnte aus stoischem lichkeitslehre des Pythagoras beeinflusst. Da Denken eine Art Frühform von biedermei- alles Sein ist, gibt es kein „Nichtsein“, also erlicher Innerlichkeit ohne Bezug zu den auch den Tod in diesem Sinne nicht, auch politischen Realitäten werden. Ein guter Beleg nicht für den Menschen, sofern er sich dafür sind die „Selbstbetrachtungen“ des vermittels seines Geistes als einen Teil des Kaisers Mark Aurel: Diese Aphorismen wurden Seins erkennt. „So ist Werden ausgelöscht auch schon als eine „innere Zitadelle“ be- und verschollen der Untergang“, resümiert der zeichnet, mit denen der vielgeprüfte Kaiser Eleate und legt damit den „Grundstein aller sein Gemüt gegen die Zumutungen zu im- Metaphysik der folgenden Jahrtausende“ munisieren versuchte, die ihm sein hohes Amt (Göbel). auferlegte, während er es gleichzeitig, wie bekannt, mit diesem aber äußerst gewissen- In den beiden folgenden Teilen wendet sich haft nahm. Aber die äußere Welt des Poli- der Autor der hellenistischen und römischen tischen und die der Innerlichkeit berührten sich Stoa sowie dem Philosophen Aristippos von ausschließlich in diesem unerschütterlichen Kyrene zu, der als Schüler des Sokrates galt. Pflichtgefühl, sonst nicht. Hier interessiert ihn besonders die sozial- ethische und politische Seite der Aufforderung Die römische Stoa schließlich, so der Autor, Apollons zur Selbsterkenntnis. Gianbattista habe eine Veräußerlichung und Verflachung Vico, der Geschichtsdenker aus dem barocken der von den Griechen überkommenen Leit- Neapel, habe als Erster darauf hingewiesen, ideen gebracht. Damals habe man ange- dass zwischen diesen Themen ein Zusam- fangen, einfach den für „human“ zu halten, der menhang bestehe, während man eine auf der zum Genuss der schönen Künste und der Grundnatur des Menschen aufbauende intellektuellen Reize der Philosophie fähig war Sozialmoral üblicherweise erst mit dem – eine Formalisierung der Bildung, die Apollon Aufkommen des Christentums annehme. doch für die gesamte menschliche Persönlich- Einen aktuellen Parameter findet der Autor keit gewünscht hatte, und wie sie auch – in dem „Projekt Weltethos“, das in der notwendigerweise – durch die Verschulung, 128 Buchbesprechungen

Verbeamtung und ministerielle Kurrikula- ihren wesentlichen Bezugshorizont versenkt, risierung im modernen „Humanistischen fehle ein „objektives Widerlager“, wie es in der Gymnasium“ befördert worden ist. All das Antike jedoch vorhanden war. Eingehend und habe in der Antike nur für die Gebildeten bewegend stellt der Autor ein solches Bedeutung gehabt, und deshalb habe auf dem „objektives Widerlager“ an den nicht an- Boden römischer Aristokratie und römischer ders als religiös zu bezeichnenden inneren Waffenmacht, also im römischen Reich, kein Schauern dar, die Parmenides artikuliert, da wirkliches „Weltethos“ entstehen können. er der Wahrheit des Seins ansichtig geworden Schließlich habe die Stoa zwar den Blick ist. Das Aufgehen der Erkenntnis, die ihm noch entschieden aus dem Stadt- und Polis-Bereich dazu von einer Göttin, zu der er aufgefahren auf das Weltganze geweitet, den Einzelnen ist, verkündet wird, bleibt ihm ein letztlich zum „Weltbürger“ im vom Logos durchwal- unerklärliches Erlebnis, und: „der Schauder ist teten Kosmos erklärt, doch habe es ihr an der Menschheit bestes Teil“. Aber Goethe Akzeptanz anderer Weltanschauungen gefehlt. bestätigt den Autor noch besser, denn in „Barbaren“ waren nun nicht mehr einfach die „Makariens Archiv“, einer Spruchsammlung, Nicht-Griechen und Nicht-Römer, sondern die in den Roman „Wilhelm Meisters Wan- diejenigen, die sich dem philosophischen derjahre“ eingefügt ist, heißt es: „Erkenne dich „mainstream“ nicht anschlossen, so etwa die selbst (...) ganz einfach: Gib einigermaßen Acht Anhänger orientalischer Mysterienreligionen. auf dich selbst. (...) Hierzu bedarf es keiner Und als sich diese Einstellung zu ändern psychologischen Quälerein; jeder tüchtige begann, war das schon ein Symptom für die Mensch weiß und erfährt, was es heißen soll.“ beginnende Auflösung des Reiches. Die Stoa Der delphische Apoll hat immerhin die war also durchaus nicht „Multi-Kulti“, sondern griechische Philosophie nachhaltig angeregt, eine gesinnungsfeste Tochter der klassischen und doch überfordert er niemanden! Antike. Bernd Dieter Rill Der Autor stellt uns Aristippos von Kyrene, über den die Sekundärliteratur noch spärlich ist, originellerweise als einen Denker vor, der das antike „Weltethos“ hätte entscheidend fördern können. Denn für ihn war das jeweilige Lesen im Wandel – Leistung und Enga- Selbst der ethische Ausgangspunkt, was man gement in den OECD-Ländern – Ergebnisse „pluralistischen Individualismus“ nennen kann der PISA-Studie 2000 (Programme for oder auch eine „Ethik des Sein-Lassens“, International Student Assessment). OECD- fundiert durch eine subjektivistische (allerdings Berlin/Paris/Bonn, Januar 2003, 200 Seiten, nur aus Sextus Empiricus zu entnehmende) 2 24,–. ISBN 92-64-09926-3 Bezugsadresse: Erkenntnislehre, die eine „deskriptiv-phäno- Turpin Distribution Services Ltd. Letchworth, menologische Beobachtung des Faktischen“ GB Originaltitel: „Reading for Change“ erklärt. Aristippos habe den Akzent auf gelebte Menschlichkeit gelegt, anstatt starre De- Die neue Lese-Leistungs-Studie der OECD finitionen des „eigentlichen“ Menschseins zu (2003) und der „Technische Bericht“ zu PISA liefern. Er müsse also insgesamt differenzierter – 2000 (hrsg. von Ray Adams und Margaret gesehen werden als bisher, da er nur als Wu, 2002) gehören inhaltlich zusammen. Im raffinierter Hedonist galt, der sich z.B. dem Zentrum der nachfolgenden zusammenfas- Tyrannen Dionysios I. von Syrakus andiente senden Würdigung steht allerdings die neue und auf die asoziale Ungeselligkeit und Studie „Lesen im Wandel“ (Reading for affektierte Bedürfnislosigkeit der zeitgenös- Change). Wichtige Schlüsselbegriffe sind: die sischen Kyniker, z.B. des berühmten Diogenes Internationalisierung der Bildungssysteme, die von Sinope (der in der Tonne wohnte), als künftige Wissensgesellschaft, die Globali- Prediger der Sinnenlust herabsah. sierung der Wirtschaft, die Zusammenhänge zwischen Fachwissen, Bildungswissen und So ergibt sich die anhaltende Jugendfrische Lebenswissen sowie das „lebenslange Lernen der griechischen Philosophie daraus, dass in für alle“. Die Abschnitte eins bis sieben sind ihr – siehe Parmenides – spekulative Theorie bereits durch die Internationale Lesestudie der und Lebenspraxis noch ziemlich nahe bei- OECD (Beteiligung von insgesamt 32 Ländern) einander wohnen. Der Autor empfiehlt dem- bekannt. Informativ ist die Verknüpfung zwi- nach die Rückbesinnung auf die antike schen PISA und der Lesestudie bei Erwach- Weisheit als „Korrektiv für zeitbedingte senen (International Adult Literacy Survey – Engführungen“. Der modernen Selbsterkennt- IALS). Die zentrale Frage lautet: Gibt es nis, etwa der der Freud'schen Psychoanalyse, zwischen der Lesefähigkeit bei 15-Jährigen die sich in die Abgründe des Individuums als (PISA) und der Lesefähigkeit bei Erwachsenen Buchbesprechungen 129

(IALS) Verbindungen und Zusammenhänge? die Fähigkeit, gedruckte, schriftliche Infor- An der Untersuchung zur Feststellung der mationen im Alltag, in der Freizeit, am Arbeits- Lesefähigkeit der Erwachsenen (IALS) haben platz und in der Gesellschaft zu verstehen, an- sich 20 OECD-Länder und Erwachsene zwi- zuwenden und zum Erreichen persönlicher schen 16 und 65 Jahren beteiligt. Insgesamt Ziele und zur Entwicklung der eigenen Kennt- fünfzehn Aufgaben sind in beiden Studien nisse und Möglichkeiten zu verwenden. In der (PISA und IALS) gemeinsam, d.h. sie bilden Lese-Studie heißt es: „Reading literacy is eine Schnittmenge zwischen beiden Studien. understanding, using and reflecting an written Sowohl bei PISA als auch bei IALS werden text, in order to achieve one's goals, to fünf Stufen in der Lesefähigkeit unterschieden. develop one's knowledge and potenzial and Stufe eins steht für Personen mit minimaler to participate in society“. Die einmal er- Lesefähigkeit, Stufe zwei für Personen mit worbene Lesefähigkeit muss also durch einer bescheidenen Lesefähigkeit, Stufe drei aktiven Gebrauch erhalten und laufend weiter- beschreibt Personen, die über ein Mindestmaß entwickelt werden. In der Wissensgesellschaft an Lesefähigkeit verfügen, welche zur Be- sollte die Lesefähigkeit und die Lesekultur wältigung der Anforderungen im Alltag und auch am Arbeitsplatz gefördert werden. Die Beruf erforderlich sind. Die Stufen vier und fünf Lesekultur ist eine wichtige Komponente des erreichen 15-Jährige (bei PISA) und Er- „lebenslangen Lernens“. wachsene (bei IALS), die über ein gutes bis sehr gutes Informationsverarbeitungssystem Die bescheidene oder minimale Lesefähigkeit (Sinnerfassung und Interpretation) verfügen. der Stufe eins und zwei erreicht in Deutsch- Die Berichterstatter stellen in dem neuen land ein Drittel der befragten Erwachsenen. In Bericht Folgendes fest: Irland und Großbritannien ist es mehr als die Hälfte und in Polen sogar drei Viertel der 16 „The results reveal considerable variation bis 65 Jährigen. Zwischen einem Viertel und between countries in the percentages of PISA drei Viertel der Erwachsenen in den befragten students performing at the various levels of OECD-Ländern erreichen nicht das Mindest- the IALS prose literacy scale. These percen- maß an Lesefähigkeit (Stufe drei), welches für tages range at level 1 from approximately 3 die Bewältigung des modernen Alltags- und per cent in Korea and Japan to 33 per cent in Arbeitslebens erforderlich ist. Luxembourg. At level 4 and 5, percentages range from 30 per cent for Finland to only 1,4 Es besteht ein weiterer Zusammenhang zwi- per cent in Brazil“, d.h. die Lesestufen eins bis schen dem Fernsehkonsum und der Lese- fünf variieren bei den Erwachsenen in der fähigkeit der Bevölkerung. Mit dem Anstieg IALS-Untersuchung ganz erheblich. des Fernsehkonsums hängt zugleich die Abnahme der Lesebereitschaft zusammen, ein Festzustellen ist, dass die Wissensgesellschaft erhöhter Fernsehkonsum hat eine Verringerung eine „Lesegesellschaft“ sein sollte. Leider ist der Lesebereitschaft zur Folge. dies nicht so. Immer weniger Menschen lesen immer intensiver und wissen immer mehr, Lesefähigkeit und Weiterbildungsbereitschaft immer mehr Menschen lesen immer weniger stehen in Wechselbeziehung zueinander. Etwa und verfügen über unzureichendes Lebens- die Hälfte der Erwerbspersonen mit Hoch- wissen. Je mehr die Menschen in einer schulabschluss nimmt in den beteiligten Gesellschaft wissen, umso geringer ist die OECD-Ländern jedes Jahr an beruflichen und Gefahr, arbeitslos zu werden, je weniger sie anderweitigen Weiterbildungsveranstaltungen wissen, umso größer wird die Gefahr, ar- teil. Personen mit niedrigeren Bildungsab- beitslos zu werden oder gar keine Arbeit zu schlüssen zeigen eine wesentlich geringere bekommen. Darüber hinaus kann man fest- Weiterbildungsbeteiligung. Deutsche Fach- stellen, dass es einen Zusammenhang zwi- arbeiter nutzen z.B. ihre Lesefähigkeit intensiv schen der Lesefähigkeit in der Wissens- am Arbeitsplatz. Dies trifft nicht für polnische gesellschaft und dem sozialen Status gibt. Facharbeiter zu. Besonders besorgniserregend ist die Fest- stellung, dass diejenigen Erwachsenen, die Lesefähigkeit kann auch zur Qualitätsstei- Probleme mit dem Lesen haben, ihre Kinder gerung beitragen. Die bessere Lesefähigkeit nicht zum Lesen motivieren und auf die erhöht das Selbstvertrauen der Mitarbei- Lesefähigkeit wenig Wert legen. Die Lese- terinnen und Mitarbeiter am Arbeitsplatz. fähigkeit hängt mit der Lernbereitschaft zu- Darüber hinaus bringen sie ihr Wissen und sammen. Es gibt einen Beziehungszusam- Können besser und intensiver in die Ar- menhang zwischen Lesen, Lernen, Wissen beitsprozesse ein. Auf diese Weise entsteht und Können. In der Studie wird die „Lese- ein Feed-back, das die Produktivität und die fähigkeit“ wie folgt beschrieben: Es geht um Produktqualität positiv beeinflusst. Unter- 130 Buchbesprechungen nehmen fördern und fordern daher immer stellen fest: „Fifteen-year-olds should have a stärker die Lesefähigkeit und Lesebereitschaft solid foundation of literacy skills in order to der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der continue learning and to participate fully in a künftige Arbeitsmarkt bietet vor allem den changing world where information is growing besser Befähigten mehr Chancen. Der Ab- at a rapid rate and where the ability to access, stand zwischen „ungebildet“ und „gut manage and evaluate this information will be gebildet“ hat erhebliche Auswirkungen auf den increasingly important. Economists point out sozialen Zusammenhang in allen OECD- that technological change is currently the most Ländern, die sich an der IALS-Untersuchung powerful driver of income inequalities Accor- beteiligt haben. Geringere Lesefähigkeit ding to a recent study from the Institute for bedeutet für den Einzelnen abnehmende Be- International Economics, technological change schäftigungschancen und geringere Verdienst- was perhaps five times more powerful than möglichkeiten. Der Mangel an Grundfertig- trade in widening income inequality in the keiten des Lesens, Schreibens und Rechnens United States between 1973 and 1993“ (Cline, in der jeweiligen Erwerbsbevölkerung bedeutet 1997). geringere Chancen auf dem nationalen und internationalen Arbeitsmarkt. Die Entwicklung Zusammenfassend ist nochmals zu betonen, der Lesefähigkeit und die Förderung einer dass die Lesefähigkeit und die Lesekultur in vielfältigen Lesekultur im jeweiligen OECD- einer Gesellschaft mit der „intellektuellen Wäh- Land ist nicht nur eine Aufgabe der Schule, rung“ verglichen werden kann. Die Lese- sondern aller Bildungseinrichtungen. fähigkeit gehört zu einer der bedeutenden intellektuellen Ressourcen jedes OECD-Lan- Neuerdings ist sogar ein Zusammenhang des. Ist sie nur begrenzt entwickelt und auf zwischen Kriminalität und Lesefähigkeit niedrigem Niveau ausgebildet, so verschlech- (Untersuchung von Lewis, 2002) festgestellt tert sich gleichzeitig die „intellektuelle Wäh- worden. Die Hälfte aller männlichen er- rung“. Daraus ergeben sich mittelfristig und wachsenen Gefängnisinsassen in den be- langfristig einschneidende Konsequenzen für teiligten amerikanischen Bundesgefängnissen die Ziele im sozialen, politischen, bürgerlichen waren Analphabeten. Inzwischen ist auch und ökonomischen Bereich. In der heutigen bekannt, dass Jugendliche im Alter von Wissens- und Informationsgesellschaft kann fünfzehn Jahren, die nur über eine minimale es sich kein Land leisten, die Lesefähigkeit auf oder geringe Lesefähigkeit (Stufe eins und hohem Niveau als eine wichtige intellektuelle zwei) verfügen, durch Arbeitslosigkeit be- Ressource unausgeschöpft zu lassen. Diese sonders gefährdet sind. „It is perhaps more Schlussfolgerung ergibt sich sowohl aus der important to note that, once in the labour PISA-Studie zur Lesefähigkeit der Fünfzehn- force, young people who perform at IALS jährigen wie aus der IALS-Studie zur levels one and two an the prose literacy scale Lesefähigkeit der Erwachsenen. face an increased likelihood of being un- employed“. In der OECD-Studie „The Well Gottfried Kleinschmidt Being of Nations“ (Paris/Berlin 2001) ist eine Wechselbeziehung zwischen dem Human- kapital und der Lesefähigkeit festgestellt worden. Wichtige Komponenten des Human- kapitals sind die Kriminalitätsrate, die Ge- Weißeno, Georg (Hrsg.): Politikunterricht im sundheitsdienste, die Qualität der Fortbil- Informationszeitalter: Medien und neue dungsangebote und die Wertpositionen in der Lernumgebungen. Schwalbach/Taunus: Gesellschaft. Eine weitere wichtige Kom- Wochenschau-Verlag, 2002, 328 Seiten, ponente ist die Lesekultur. Sowohl in der 2 19,50, ISBN 3-87920-635-X PISA-Studie wie in der IALS-Untersuchung wird der Stufe drei der Lesefähigkeit be- Verlage spielen nach einer Untersuchung des sondere Bedeutung in der Lesekultur bei- Börsenvereins von 1995 im Publikumsbereich gemessen. Diese Lesestufe ist erforderlich, fast keine Rolle bei der Entscheidungsfindung damit die Menschen in einer Gesellschaft als des Buchkäufers. Dennoch haben sich einige Mitbürger am öffentlichen Leben partizipieren Häuser im politikwissenschaftlichen Bereich können. In Deutschland besteht diesbezüglich ein beträchtliches Renommee erarbeitet und ein erheblicher Aufhol- und Nachholbedarf. stehen für ein bestimmtes Programm. Bei Nur vierzig Prozent der deutschen Bevöl- Politik- und Sozialkundelehrern sowie allen, kerung verfügt über die Lesestufe drei und die in der praktischen politischen Bildungs- besser (Lesestufe vier oder fünf). Die Bericht- arbeit tätig sind, gilt dies insbesondere für den erstatter (I. Kirsch, J. de Jong, D. Lafontaine, Wochenschau-Verlag. Zunächst im Zeitungs- J. McQueen, J. Mendelovits und Ch. Monseur) format, erschien der erste Jahrgang der Buchbesprechungen 131

Wochenschau bereits 1949/50. Sie war das erziehung und -nutzung erörtert und der erste aktuelle Lehr- und Lernmittel für Sozial- Stand der Theoriediskussion gesichtet. Der kunde und verstand sich immer als Vorreiter Überschrift des zweiten Teils „Der Einsatz von innovativer politischer Bildungskonzepte. Medien im Unterricht“ (S.143–316) folgen Dabei wirkte die Wochenschau entscheidend 14 zeitgemäße Vorschläge für die Unter- an der Curriculum-Entwicklung der politischen richtsarbeit mit alten und neuen Medien. Den Bildung mit. Auch in den letzten Jahren trug sozusagen modernen thematischen Schwer- der gleichnamige Verlag den veränderten punkten wie Videokonferenz, Internet und Rahmenbedingungen der Informationsge- Intranet stehen dabei gleichberechtigt tra- sellschaft wissenschaftlich-publizistisch Rech- ditionelle Medien wie Schulbuch und Spielfilm nung. Es erschienen im Wochenschau-Verlag gegenüber. Dieser zweite Abschnitt bietet in mehrere lesenswerte Publikationen zu politik- gut lesbarer Form praxisverwertbare Beispiele und mediendidaktischen Themen, die sich zu fast allen zentralen Unterrichtsmedien. speziell auch dem Einfluss neuer Medien auf Neben grundlegenden Informationen über die schulische und außerschulische Bildungs- Arrangements von Lernumgebungen erhöhen welt widmeten. Viele wichtige Vertreter der dazu Bilder, Schaubilder, Grafiken und Bei- Politikdidaktik und Pädagogik haben seither spiele den pädagogischen Nutzwert und dort veröffentlicht. Auch der vorliegende zeigen ganz konkret, wie der Unterricht Sammelband vereint wieder 27 meist nam- aussehen kann. Exemplarisch sei hierzu der hafte Autoren aus Wissenschaft, Schule und Beitrag von Kurt Lach „Das Tafelbild als politischer Bildungspraxis. Baustein im Unterrichtsprozess“ (S.198–209) empfohlen, der die didaktischen Chancen der Banal klingend, aber deswegen nicht minder scheinbar veralteten Wandtafel anschaulich richtig ist die einleitende Feststellung des darstellt. Dem Band ist im dritten Teil eine CD- Herausgebers Georg Weißeno, wonach der ROM „Wegweiser durch das Internet für den Einzug der neuen Medien in den Unterricht für Politikunterricht“ mit gedruckter Erläuterung alle Lehrenden eine Reihe von „Veränderungen (S.319–326) beigefügt. Diese elektronische in der Gestaltung und Veranstaltung von Quellensammlung bietet eine Fülle von Ori- Unterrichtsprozessen“ (S.11) ergeben hat. So ginal-Internetseiten offline an, die für die seien Medien ein zentrales bildungspolitisches Vorbereitung und Durchführung des Unter- Thema und auch für den Politikunterricht richts genutzt werden können. müsse über die Möglichkeiten der neuen Lernformen und -mittel nachgedacht werden. Karl Heinz Keil Mit dieser Aussage wird bereits nach wenigen Seiten der Lektüre Richtung und Ziel dieser Publikation erkennbar: Die einzelnen Aufsätze entwerfen keine utopischen Szenarien einer total vernetzten virtuellen Bildungswelt, son- Böhme, Jörn/Gröthe, Hermann/Moosbauer, dern sie versuchen vielmehr im interdis- Christoph/Perthes, Volker (Hrsg.): Deutsche ziplinären Dialog, die Integration medialer Nahostpolitik. Interessen und Optionen. Möglichkeiten in pädagogische Konzepte Schwabach: Wochenschau Verlag, 2001, 190 sinnvoll zu unterstützen und zu fördern. So Seiten, 2 13,40. stellt Weißeno fest, dass „Medientechniken selbst keine pädagogische Wertigkeit“ be- Auch wenn die deutsche Nahostpolitik im sitzen und dass die Bedeutung des com- Zuge ihrer rüden innenpolitischen Instru- puterunterstützten Lernens in der Schule noch mentalisierung seit dem Herbst 2002 in den nicht endgültig geklärt ist. Letztlich komme es Strudel transatlantischer Verstimmungen ge- darauf an, was die Lehrerinnen und Lehrer aus raten ist, so sind die Ursachen dieser Ver- den neuen Lernmöglichkeiten machen. stimmungen doch nicht nur im tages- politischen Kontext allein zu suchen. Identisch Die Publikation, im Übrigen entstanden auf der waren die Interessen Washingtons, Berlins und Basis und in Ergänzung zu einer Experten- Paris' im Nahen Osten noch nie. Und so hat tagung der Bundeszentrale für politische auch mit der Diskussion um einen Krieg im Bildung, zeichnet sich durch eine klare Irak kein so tief greifender Paradigmenwechsel Struktur aus. Diese Struktur und die zumeist in den nahost-politischen Konzeptionen der prägnanten Aufsatztitel ermöglichen eine Europäer stattgefunden, wie die aktuellen und schnelle inhaltliche Orientierung und lassen von der Regierung Schröder aus opportunem sogar über ein fehlendes Stichwortregister Anlass provozierten Misstöne vermuten las- hinwegsehen. Der Band gliedert sich in drei sen. Wer sich über die Hintergründe dieser wesentliche Teile: Im ersten (S.19–142) wer- europäisch-amerikanischen – bzw. wohl eher: den fachdidaktische Aspekte der Medien- französisch/deutsch-amerikanischen – Un- 132 Buchbesprechungen stimmigkeiten informieren will, der ist gut Auch andere Beiträge wie die von Volker beraten, eine Studie wie die von Volker Perthes reflektieren grundsätzliche 'europäi- Perthes herausgegebene zu den Interessen sche' Positionen. Was die Lösung nahöstlicher deutscher Nahostpolitik heranzuziehen, zu der Konflikte anbetrifft, wird allgemein konzidiert, neben Perthes Bundestagsabgeordnete aller dass hier nur die USA „der wesentliche power Parteien beigetragen haben. Er kann dabei broker“ bleiben werden. Den „Hauptbeitrag feststellen, welche Konstanten eben dieser Europas“ in der Frage von Sicherheit und Interessenlage auch schon vor dem Herbst Stabilität in der Region sehen Perthes, Moos- 2002 im Gegensatz zu den Positionen der bauer und Hermann Gröhe von der CDU USA standen. Und er wird sich auch fragen, sowie Christian Sterzing von Bündnis 90/Die ob die 'gemeinsame europäische Außenpolitik' Grünen in einer gemeinsamen Einführung in Bezug auf den Nahen Osten in weiten Teilen auch in der Zukunft nur „im Bereich der nicht immer schon eine Schimäre war. 'weichen' Sicherheitspolitik“. Volker Perthes erkennt in seinem Beitrag über „Die Chancen So hat der nun von seiner eigenen Partei, der der Komplementarität: Europa und die USA bayerischen SPD, auf das politische Abstell- im Nahen Osten“ die „unterschiedlichen Struk- gleis rangierte Nahost-Experte Christoph turen und Fähigkeiten“ der Akteure diesseits Moosbauer in seinem Beitrag über die „Mög- und jenseits des Atlantiks, die aber nicht lichkeiten einer kohärenten Politik gegenüber zwangsläufig zu „diametral entgegengesetzten dem Irak“ jene gegensätzlichen Positionen nahostpolitischen Interessenlagen“ führen beschrieben, die in dieser Frage nicht nur über müssen. So will er eine europäische Nahost- den Atlantik hinweg, sondern auch innerhalb politik als 'komplementäres' Element zu der 'Europas' bestanden haben. So hat er darauf der USA verstanden wissen. Zwar setzt sich hingewiesen, dass z.B. der „eklatante Gegen- Perthes dafür ein, Friedensprozesse in der satz zwischen den Positionen Großbritanniens Region durch wirtschaftliche Aufbauhilfen zu und Frankreichs (...) eine Einigung auf ein unterstützen. Eine Arbeitsteilung, im Rahmen gemeinsames Vorgehen europäischer Staaten“ derer die Europäer aber nur als „payer“ neben in der Irak-Politik „scheinbar unmöglich“ den USA als „player“ stehen würden, lehnt er macht. Welche Gräben zwischen seinen wie andere Autoren in diesem Band ab. Eu- eigenen 'europäischen' Vorstellungen und ropa sei sehr wohl zu einem eigenen denen der USA schon seit jeher bestanden konstruktiven Beitrag in Nahost in der Lage. haben, wird deutlich, wenn Moosbauer – wie Und wenn auch die USA die Region aus ihrer andere Autoren in diesem Band auch – von „globalen Perspektive“ betrachten würden und der 'europäischen' Grundannahme ausgeht, die Europäer als 'Nachbarn' einen „regionalen dass irakische Waffen keine direkte Bedrohung Ansatz“ bevorzugten und ihr „primäres Inte- für Regionen außerhalb des Nahen Ostens resse“ das an „regionaler Stabilität“ sei, darstellen. Trotz der Feststellung, dass das während die USA sich darüber hinaus auch „konventionelle militärische Drohpotenzial des noch um „die Sicherheit und das Wohlergehen Irak (...) heute so gering wie schon lange nicht Israels“ sowie um den „Fluss des Öls“ küm- mehr“ ist, konzidiert aber auch er, dass „die mern müssten, so stellen für Perthes diese Frage des Entwicklungsstands und der Ver- „unterschiedlichen Akzente (...) an sich kein fügbarkeit irakischer Massenvernichtungs- Hindernis für transatlantische Kooperation“ mittel und Raketentechnik“ „ungeklärt“ ist und dar. Die politischen Beiträge Europas aber auch, dass im Falle einer „bedingungslosen würden in erster Linie „auf weniger spekta- Aufhebung der Sanktionen eine relativ schnelle kuläre“ Weise stattfinden, auf „einem niedri- Aufrüstung und ein Wiedererstarken des Irak“ geren diplomatischen Niveau“, im Bereich der zu „befürchten“ wäre. So schlägt er vor, an die 'stillen' Diplomatie. Stelle der bisher ineffektiven Sanktionen ein System von „intelligenten Sanktionen“ u.a. im Die von Perthes erwähnten „unterschiedlichen militärischen Bereich zu setzen. Doch stellt Fähigkeiten“ begrenzen auch die Möglichkei- sich die Frage, inwieweit einzelne Punkte wie ten Deutschlands/Europas, auf den israelisch- die „Verschärfung der persönlichen Sanktionen palästinensischen Konflikt einwirken zu kön- gegen die Regimeelite“ oder die „Errichtung nen. So gehen auch Christian Sterzing und eines internationalen Strafgerichtshofs für die Jörn Böhme – ebenfalls Bündnis 90/Die Grü- Köpfe des Regimes“ Saddam wirklich be- nen, in ihrem gemeinsamen Beitrag davon eindrucken könnten, wenn letztlich militärische aus, dass der „ultimative Friedensplan“ hier Handlungsoptionen gegen Bagdad aus- von der EU nicht „einzufordern“ ist, „sondern geschlossen bleiben. Auch bleibt unklar, konstruktive Beiträge zur Deeskalation in einer welchen Charakter die von Moosbauer vor- verhandlungslosen Zeit“. Deutschland, das, geschlagenen „Strafmaßnahmen“ z.B. „bei wie Andreas Reinicke in seiner Abhandlung einer Bedrohung Kuwaits“ annehmen könnten. erwähnt, der „nach den USA (...) zweit-wich- Buchbesprechungen 133 tigste Außenhandelspartner“ Israels ist und diese Sätze vor dem 11. September 2001 das gleichzeitig – wie Perthes in seinem niedergeschrieben wurden. Diese Sätze Aufsatz über die „Beziehungen zur arabischen stehen vielmehr für die fatale Tendenz in den Welt“ betont, innerhalb der EU der „größte deutschen Orientwissenschaften, Gefahren, einzelne Geber finanzieller Unterstützung für die von islamistischen Gruppen ausgehen das palästinensische Gemeinwesen“ ist, könnten, konsequent herunterzuspielen. Zu könnte, so Reinicke, seine „engen Beziehun- hinterfragen bleibt auch der Ansatz, das gen zu Israel“ dazu nutzen, auf die Politik in Phänomen des Fundamentalismus mono- Jerusalem einzuwirken, während es sich, wie kausal einzig und allein als Ausdruck „sozio- Sterzing und Böhme finden, als „Geberland“ ökonomischer Probleme“ zu sehen, wie dies in den Autonomiegebieten, was die demo- auch Perthes tut. So weit diese sozialen kratischen und rechtsstaatlichen Defizite dort Probleme auch erklären, warum Fundamen- anbetrifft, „kritisch einmischen“ sollte. Eine talismen in den betroffenen Gesellschaften „Lösung“ des Nahostkonfliktes ist jedoch von und hier unter den Benachteiligten Unter- den Europäern nicht zu erwarten. Die dennoch stützung finden, so wenig erklären sie für sich aber oft allzu überschwänglichen Einschät- allein genommen ein Phänomen wie Osama zungen europäischer Einwirkungsmöglich- bin Laden. Somit muss man sich mit solchen keiten auf das israelisch-palästinensische Positionen auch und gerade jetzt auseinander Verhältnis, die sich nicht erst jetzt mit der setzen, denn auch noch nach den Anschlägen gegenwärtigen Eskalation als geradezu von New York und Washington verharren viele illusorisch erwiesen haben, werden an einer Islamwissenschaftler bei diesen monokausalen Stelle von Perthes' Feststellung gekrönt, dass Erklärungsmustern und damit in einem Zu- „eine Regelung des arabisch-israelischen stand zwanghafter Lernverweigerung. Konflikts zumindest mittelfristig absehbar ist“. Doch neben diesen Einzelpunkten überwiegt Die Geschichte war bereits zum Zeitpunkt des für den gesamten Band dessen positiver Redaktionsschlusses für dieses Buch über Informationsgehalt. Mit der Thematik des solche Aussagen hinweggegangen. MENA-Raumes beschäftigen sich mehrere Beiträge und Sterzing setzt sich auch mit der Auch die in von Volker Perthes in seinem Auf- Problematik deutscher Rüstungsexporte aus- satz über den „Barcelona-Prozess“ erhobene einander. Bei der Auswahl der Autoren bleibt Forderung, die EU-Staaten sollten keinesfalls eine gewisse politische Einseitigkeit zu be- „eine liberale Asylpraxis aufgeben, die mängeln, die den Eindruck hinterlässt, als nötigenfalls auch islamistischen Regime- gäbe es nur wenig außenpolitische Experten gegnern Schutz gewährt“ – weil gerade auch in den Reihen der Opposition. Für denjenigen Deutschland „bislang“ erfolgreich und „eher aber, der mit der Thematik „Nahost“ befasst unaufgeregt mit politisch islamischen Grup- ist, bleibt das Buch Pflichtlektüre. pen“ „umgegangen ist“ – kann in dieser Form wohl nicht damit entschuldigt werden, dass Peter Ludwig Münch-Heubner Ankündigungen

Folgende Neuerscheinungen aus unseren Publikationsreihen können von Interessenten bei der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Lazarettstraße 33, 80636 München (Tel: 089/1258-260/266) bestellt werden:

● Berichte & Studien – Die islamische Herausforderung – Illusionen und Realitäten (Schutzgebühr 2 5,00)

● aktuelle analysen – Terrorismus – Bedrohungsszenarien und Abwehrstrategien – Mehr Sicherheit oder Einschränkung von Bürgerrechten – Die Innenpolitik westlicher Regierungen nach dem 11. September 2001

● Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen – Neue Wege in der Prävention – Italien im Aufbruch – eine Zwischenbilanz – Qualifizierung und Beschäftigung

● Studies and Comments – Integrating Regional and Global Security Cooperation

● Sonstiges – Bayerische Lebensbilder 1 Otto Seeling, Richard Jaeger, Hanns Seidel, Jochen Wilke (Schutzgebühr 2 5,00) – Untersuchungen und Quellen zur Zeitgeschichte 6 Die Europapolitik des Freistaates Bayern – Von der Einheitlichen Akte bis zum Amsterdamer Vertrag (2 18,00)

Über den Buchhandel zu beziehen: ● Reinhard C. Meier-Walser/Susanne Luther (Hrsg.): Europa und die USA. Transatlantische Beziehungen im Spannungsfeld von Regionalisierung und Globalisierung, München 2002. (ISBN 3-7892-8079-8)

● Tilman Mayer/Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.): Der Kampf um die politische Mitte. Politische Kultur und Parteiensystem seit 1998, München 2002. (ISBN 3-7892-8095-X)

Politische Studien, Heft 389, 54. Jahrgang, Mai/Juni 2003 Autorenverzeichnis

Evans, J. Gareth Masala, Carlo, PD Präsident der Internatio- Dr. nal Crisis Group (ICG), Lehrstuhlvertreter für In- Brüssel ternationale Politik am Geschwister-Scholl-Ins- titut der LMU München

Glück, Alois, MdL Neisser, Heinrich, Vorsitzender der CSU-Fraktion im Baye- Prof. Dr. rischen Landtag und der Grundsatz- Institut für Politikwis- kommission der CSU, München senschaften, Universität Innsbruck Goez, Werner, em. Prof. Dr. Universität Erlangen Pietsch, Roland, Prof. Dr. Gumpel, Werner, Nationale Universität „Kiewer Mohyla em. o. Prof. Dr. Akademie“/Ludwig-Maximilians-Uni- Lehrbereichsvertreter versität München der Hochschule für Po- litik, München Rill, Bernd Referent für Recht, Staat, Europäische Integration, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Höhne, Roland, München Prof. Dr. Landeswissenschaft Stein, Peter, Dr. Romanistik, Universität Referent für Wirtschafts-, Finanz- und Kassel Sozialpolitik, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München

Klueting, Harm, Wall de, Heinrich, Prof. Dr. Prof. Dr. Historiker und Theolo- Juristische Fakultät, Uni- ge, Universität zu Köln versität Erlangen