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DISFebruar 2009 PUT

Lothar Bisky, Gabi Zimmer: Vor dem Europawahlparteitag, vor der Europawahl Ulrich Maurer: Ist die Partei solidarisch genug, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden? Zu den Kommunalwahlen: Anspruchsvolle Ziele in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Last und Lust der Geschichte des Sozialismus. Die Vergangenheit bleibt gegenwärtig Mein Kind, der Nazi. Gespräch mit der Autorin Claudia Hempel

Protest und Widerstand gegen den Naziaufmarsch am 14. Februar in Dresden: Viele Mitglieder der LINKEN waren dabei. © Erich Wehnert © Erich 4 EUROPA : Europapolitik ist kein Selbstzweck 6 EUROPA Gabi Zimmer: Zur Bilanz der Abgeord- neten 8 BETRACHTUNG Ulrich Maurer: Hessenwahl – die Lehre ZITAT 10 KOMMUNE Raju Sharma kandidiert als Kieler Jede Wirtschaft beruht auf Oberbürgermeister dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der 11 DEMNÄCHST andere werde gepumptes Geld Wehnert © Erich 12 INTERVIEW zurückzahlen. Tut er das nicht, Die starken Seiten der behinderten Ruth Kretzer-Braun und Johannes so erfolgt eine sogenannte Menschen. Zu Besuch im Regenbogen- Kretzer über das Regenbogenhaus ›Stützungsaktion‹, bei der alle, haus. Seite 12 bis auf den Staat, gut verdienen. 16 KOMMUNAL Solche Pleite erkennt man daran, Nordrhein-Westfalen: 3.500 Kandida- 26 BILDUNG dass die Bevölkerung aufgefordert tInnen auf einen Streich Klasse mit Kasse? Warum Privat- wird, Vertrauen zu haben. schulen überwinden? Weiter hat sie ja dann auch meist 17 KOMMENTIERT nichts mehr. 18 KOMMUNAL 27 ENTSPANNUNG Wenn die Unternehmer alles Geld im Rheinland-Pfalz: Wahlkampf mit Herz Change heißt: NATO aufl ösen Ausland untergebracht haben, nennt 28 GESELLSCHAFT man dieses den Ernst der Lage. 20 WAHLKAMPF Mach mit, misch dich ein! Last und Lust der Geschichte des Kaspar Hauser (Kurt Tucholsky) in: Sozialismus Die Weltbühne, 15. September 1931 Der Aktivierungswahlkampf (Ausgewählte Werke, Band 6, Verlag 21 SERVICE 30 EUROPÄISCHE LINKE Volk und Welt, Berlin 1973, S. 412) Das »Ticket« zum Mitmachen Portugal: Der »Bloco« bläst zum Angriff 22 WAHLKAMPF Online auf drei Säulen 31 NACHBELICHTET 23 GESELLSCHAFT 32 POLITISCHE BILDUNG Zur Konferenz »60 Jahre Grundgesetz – Ganz ohne Frontalunterricht offen für eine neue soziale Idee« 33 FRAUEN 24 FEUILLETON Tribunal in Dortmund 34 GESELLSCHAFT Zurück zu den Wurzeln? Die Grünen 35 FRAUEN Konferenz in Potsdam 36 LITERATUR ZAHL DES MONATS Christa Wolf zum »80.« 38 REZENSION 2020 Zur Geschichte des »ND« 40 AUFKLÄRUNG Für das Jahr 2012 plant China die Mein Kind, der Nazi. Gespräch mit Landung eines Fahrzeuges auf dem der Autorin Claudia Hempel Mond. Ab 2015 will Russland eine ständige bemannte Mondstation 43 MEDIEN betreiben. Japan hat ähnliche Pläne. Akademie linker Medienmacher/innen Dagegen soll es erst ab 2020 möglich 44 BRIEFE sein, in den ICE-Zügen der Deutschen Bahn Fahrräder mitzunehmen. 46 BÜCHER Dies bestätigte ein Konzernsprecher 47 FEBRUARKOLUMNE am 11. Februar. Das Motto der DB:

»Zukunft bewegen«. Repro 48 SEITE ACHTUNDVIERZIG

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH, Weydingerstraße 14 – 16, 10178 Berlin REDAKTION Stefan Richter, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: (030) 24 00 95 10, Fax: (030) 24 00 93 99, E-Mail: [email protected] GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK MediaService GmbH BärenDruck und Werbung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407 REDAKTIONSSCHLUSS 16. Februar 2009

INHALT DISPUT Februar 2009 02 CAROLIN REITH 29 Jahre, hat Anglistik studiert und war Mitglied der Hochschulgruppe in Hannover. Derzeit wirkt sie im Koordinationskreis des Rosa-Luxemburg-Clubs Hannover sowie im Frauenpolitischen Ratschlag mit. Wohnt in Hameln in Nie-

dersachsen. Verbringt die Freizeit am liebsten im Kino oder beim Schwimmen. © privat

Was hat Dich in letzter Zeit am meisten überrascht? Dass die laut Medien jedes Jahr massiver werdende Grippewelle dieses Mal an mir vorbeigezogen ist und dass Obama ins Weiße Haus eingezogen ist. Beides positive Überraschungen!

Was ist für Dich links? Für die Menschen bestmögliche Bedingungen zu schaffen, damit sie die Freiheit haben, ihr Leben so gestalten zu können, wie sie es möchten, aber trotzdem untereinander solidarisch bleiben. Konkret heißt das, vor allem ein gutes Sozialsystem zu schaffen, sodass alle Menschen die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe bekommen und einer für sie sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen können – ob das Erwerbsarbeit sein muss, lasse ich hierbei offen.

Was war Dein erster Berufswunsch? Löwendompteurin

Wie sieht Arbeit aus, die Dich zufrieden macht? Sinnstiftend und leidenschaftserweckend. Sie trägt dazu bei, etwas Gutes für andere und sich selber zu erreichen: politisch, kulturell, menschlich. Dazu kommen die richtigen Arbeitsbedingungen, die Raum zur Entwicklung lassen, nicht hierarchisch sind und andere Bereiche des Lebens nicht vollständig erdrücken.

Wenn Du Parteivorsitzende wärst … … würde ich die erfolgreiche Arbeit von Lothar Bisky und Oskar Lafontaine fortsetzen und Lady Bitch Ray zur Ehrenvorsitzenden machen.

Was regt Dich auf? Dass Menschen Gegebenheiten, die veränderbar sind, als unausweichlich akzeptieren und sich teilweise im gepfl egten Pessimismus einrichten, anstatt Alternativen zu suchen.

Wann und wie hast Du unlängst Solidarität gespürt? Gestern: Jemand half einer alten Dame, ihren schweren Koffer aus dem Gepäckfach der S-Bahn zu heben. In den kleinen Gesten des Alltags fängt alles an.

Möchtest Du (manchmal) anders sein, als Du bist? Es gibt Tage, da mag ich mich, und andere, an denen es schwer ist, mich selbst auszuhalten. In der Regel überwiegt aber die Zufriedenheit.

Müssen Helden und Vorbilder sein? Da halte ich es mit David Bowie »we could be heroes just for one day«, obwohl es nicht immer nur ein Tag sein muss. Vorbilder sind wichtig, aber jede/r sollte an die eigenen Talente glauben, diese pfl egen und verwirklichen können.

Wann fühlst Du Dich gut? Wenn der Wecker nicht allzu früh klingelt.

Wo möchtest Du am liebsten leben? In der Nähe des Meeres. Wasser hat eine sehr beruhigende Wirkung auf mich und vermittelt das Gefühl von Freiheit und Kraft.

Welche Eigenschaften schätzt Du an Menschen besonders? Generell ist es spannend, die Besonderheiten an jedem Menschen zu entdecken. Guten Humor schätze ich aber besonders und Authentizität.

30 DISPUT Februar 2009 FRAGEZEICHEN Europapolitik ist kein Selbstzweck Gemeinsame Positionen beschließen, gemeinsam in den Wahlkampf gehen. Vor dem Bundesparteitag in Essen Von Lothar Bisky

Mitglieder der Europäischen Linken wa- der Krise«; dort sprachen selbst Mana- Arbeitswelt, für erneuerbare Energien, ren am 17. Januar in Athen. Im Gespräch ger von einer neuen Kooperation zwi- ökologische Arbeitsplätze, mehr und mit SchülerInnen und StudentInnen, schen Staat und Unternehmen. bessere öffentliche Dienstleistungen die sich selbst als die 600-Euro-Gene- Wirtschaftskrisen sind Gesellschafts- zu fragen. Außer dem Ausbau von Breit- ration bezeichnen, wurden die wilden krisen. Die Politik, die in die Krise ge- bandinternet lässt sich im Konjunktur- Demonstrationen vom Dezember leben- führt hat, darf nach der Krise nicht mehr programm der Großen Koalition nichts dig, die Wut und die Trauer über den Tod dieselbe sein wie zuvor. Das werden wir fi nden, was auf eine bessere Zukunft von Alexandros Grigoropoulos. Zugleich – gemeinsam mit der Europäischen Lin- nach dem Bundestagswahltag deutet. bekamen Besonnenheit und Gewaltfrei- ken – nicht nur in den Wahlkämpfen Die Große Koalition gibt die Serie heit des Protestes gegen eine existen- vertreten. Das gehört in den politischen des Retters aus der Krise. Bisher ste- zielle Erfahrung der Perspektivlosigkeit Alltag, in eine harte Opposition gegen- hen auf der einen Seite über 100 Milli- wieder die Oberhand. Die sozialen For- über Krisenkonjunkturpaketen, deren arden Euro Bürgschaft für die Real Esta- derungen gegen die Folgen einer Bil- Halbwertzeit kaum länger sein dürfte te und auf der anderen Seite 780.000 dungs- und Arbeitswelt, die von Dere- als ein Präsentkörbchen im Wahlkampf. Kurzarbeiteranmeldungen seit Oktober gulierung und Privatisierung geprägt ist, Teilverstaatlichung ohne Mitsprache, 2008. Die Prognosen über den Krisen- wurden konkret. Die Solidarität half, die Abwrackprämie ohne ökologische Auf- verlauf sehen den Verlust von weit über Gemeinsamkeiten des Widerstandes lagen, Bildungsinvestitionen in Be- einer halben Million Arbeitsplätze vor- und der Alternativen zwischen unter- ton – darin steckt schlichtweg zu we- aus. Doch hier waltet der Retter der ei- schiedlichsten Kräften hochzuhalten. nig Zukunft. Es ist die Aufgabe der LIN- genen politischen Versäumnisse, der Athen ist überall. Hier war ein selbst- KEN, jetzt deutlich nach den Impulsen nun, statt munter die Gewinne zu priva- verständlicher Ausgangspunkt auf der für strukturelle Veränderungen in der tisieren, hektisch die Verluste der eins- Suche nach politischen Lösungen ge- tigen Gewinner sozialisiert. gen Sozial- und Lohndumping, ge- Die Demokratie leidet, wenn das Ver- gen Bildungsprivatisierung und Auf- trauen in politische Lösungen immer rüstung, gegen ein Europa der Banken Wer und wann wird gewählt? und immer wieder enttäuscht wird. Ge- statt einem Europa der Bürgerinnen und Die Bürgerinnen und Bürger der 27 gen die Arbeitszeitrichtlinie der Europä- Bürger. Eine europapolitische Debat- Mitgliedsstaaten der Europäischen ischen Union gingen am 16. Dezember te in die Universität von Athen zu brin- Union wählen vom 4. bis 7. Juni 2009 Gewerkschafterinnen und Gewerkschaf- gen war das sprichwörtliche Eulen nach die Abgeordneten für das Europä- ter, Mitglieder linker Parteien Europas, Athen tragen. ische Parlament. Für die Legislatur- Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. periode bis 2014 werden insgesamt Die Mitglieder der deutschen Delega- Wirtschaftskrise ist 736 Mandate vergeben. Wahlberech- tion der GUE/NGL-Fraktion im Europä- Gesellschaftskrise tigt sind grundsätzlich alle Bürger/ ischen Parlament waren mit dabei, sie innen in EU-Europa, die am Wahltag haben mit dazu aufgerufen und mobili- Der Bundesverband deutscher Banken mindestens 18 Jahre alt sind – unab- siert. Die Solidarität zwischen ganz un- ist zutiefst beunruhigt. Wie er zum Jah- hängig davon, wo sie sich zum Zeit- terschiedlichen gesellschaftlichen Kräf- resauftakt herausfand, sind 40 Prozent punkt der Wahl aufhalten. Allerdings ten für ein soziales, demokratisches, der Deutschen der Meinung, dass sich gibt es in den Mitgliedsstaaten un- friedliches und ökologisches Europa die Marktwirtschaft nicht bewährt hat. terschiedliche Regeln, da das Wahl- stärkt die Demokratie. Doch sie braucht 60 Prozent der Bevölkerung, so stellte recht national bestimmt wird. Die Nahrung: konkrete Vorschläge. Die Lö- Allensbach fest, sind sogar für eine Ver- Briefwahl ist möglich. sungen globaler Konfl ikte, Antworten staatlichung der Energiekonzerne. Mit der Europawahl 2009 entsendet auf den Klimawandel, ein demokra- Nun meinte sicherlich auch die Mehr- Deutschland 99 Abgeordnete in das tisches Sozialmodell – nicht allein in heit der Bevölkerung bis vor einem vier- Europaparlament. Für die Wahl stel- Europa – stehen mindestens seit den tel Jahr, dass die Rufe nach dem Staat, len Parteien oder sogenannte poli- Diskussionen des Club of Rome seit dass das Projekt eines umfassenden tische Vereinigungen Listen mit ih- über 40 Jahren zur Debatte. Insofern ist Konjunkturprogramms eine Art Allein- ren Kandidatinnen und Kandidaten die aktuelle Krise auch eine Chance, um stellungsmerkmal der Politik der LIN- für das Europaparlament auf. Die überfällige Strukturentscheidungen an- KEN sei. Das hat sich gewandelt. Jetzt Bewerberinnen und Bewerber müs- zumahnen, die Kräfteverhältnisse in Eu- ist in allen politischen Lagern die staat- sen sich auf einer öffentlichen Mit- ropa gründlich zu verändern. liche Feuerwehr gefragt, damit jenes hö- gliederversammlung einem demo- In Lissabon werden nicht nur Ver- here Wesen, der Markt, wieder funktio- kratischen Auswahlverfahren stel- träge (ohne die Mitsprache von Bürge- niere. Wirtschaftsunternehmen, ja sogar len. Die Mitgliedschaft im Europä- rinnen und Bürgern) verhandelt. An die- die sogenannten Heuschrecken, schrei- ischen Parlament ist unvereinbar mit sem Ort traf sich die Partei der Europä- en nach jener Göttlichkeit, die ihre Ver- der Ausübung nationaler Mandate. ischen Linken am 6. Februar, um ihre luste sozialisieren soll. Im schicken Da- Für alle Parteien gilt eine bundes- Vorschläge aus der »neuen Krise eines vos tagte das Weltwirtschaftsforum zum weite Fünf-Prozent-Hürde. alten Systems« zu erörtern. Wir kamen Thema »Die Gestaltung der Welt nach zur Lissabonner Konferenz mit ordent-

PARTEITAG DISPUT Februar 2009 04 lichem Gepäck, haben wir doch den Krise, vom Dschungelcamp für einige Parlament Anfang Juni, das der Partei- Leitantrag zum Europaparteitag am 28. Manager; ansonsten wisse keiner, wo vorstand in Berlin am Montagabend be- Februar in der Partei und darüber hin- die Krise eigentlich stattfi ndet. Noch lie- schloss (Nun gut, liebe JournalistInnen, aus breit diskutiert. gen die Auswirkungen der Krise im Dun- dies beschließen immer noch Partei- Den gescheiterten Verfassungs- keln, im Schatten eines hartnäckigen, tage – L. B.), schlägt die Linke deutlich prozess haben wir lange als Ausdruck schleichenden Sozial- und Demokra- EU-freundlichere Töne an als im bishe- eines schwierigen Krisenprozesses po- tieabbaus der vergangenen zehn Jahre. rigen Entwurf. So fordert sie eine euro- litischer Handlungsfähigkeit diagnosti- Das ganze Ausmaß des Schlamassels päische Wirtschaftsregierung und eine ziert. Mit dem Lissabon-Vertrag fanden der Finanzkrise ist noch nicht klar. Ka- EU-Verfassung, die sich an Frieden und lifornien ist pleite. Was das für Arnold Demokratie orientiert. Den Vertrag von heißt, kann man sich ausmalen; was es Lissabon lehnt die Partei zwar weiterhin Wie stimmte Deutschland in Europa bedeutet, werden wir bald er- ab. Dies richte sich aber nicht gegen das 2004 ab? Ergebnisse in Prozent fahren. Auch die Wahlentscheidungen europäische Zusammenwachsen, heißt 2009 hängen davon ab. es im Wahlprogramm. Vielmehr wen- Wichtig wird sein, was wir für Ant- de sie sich gegen eine ›Militarisierung‹, Union 49 Sitze 44,5 worten geben, mit wem wir in die De- ›antidemokratische Bevormundung‹ batte kommen, wie unsere Rolle als und ein ›Europa des Kapitals‹«, so die SPD 23 Sitze 21,5 Partei der sozialen Gerechtigkeit, als Berliner Zeitung. Nun bin ich guter Hoff- Friedens- und Bürgerrechtspartei von nung, dass wir unsere gerade begon- Grüne 11,9 13 Sitze Wählerinnen und Wählern erkannt und nene europapolitische Debatte nicht eingefordert wird. Das gilt in Lissabon gleich wieder beenden. Es wäre neu bei FDP 6,1 7 Sitze und in Berlin, in Thüringen, im Saarland, der LINKEN, dass ihr die Lust am Strei- überall. ten ausginge. Doch es ist Zeit, dass die- PDS 6,1 7 Sitze se allbekannte Quantität linker Lebens- lust in eine neue Qualität umschlägt: DIE LINKE vor der Europawahl Wir werden gemeinsam in den Wahl- Die Verabschiedung des Leitantrages kampf gehen, mit gemeinsamen Positi- die Regierungen erneut keinen Ausweg für den Europaparteitag fi el in der Wo- onen, die wir in Essen auf dem Partei- aus der Legitimationskrise der EU. che des Wiedereinzugs der LINKEN in tag beschließen. Uns wird gemeinsam Gerade die deutsche Geschichte ist den hessischen Landtag. Sie fiel in sein, dass europäische Konjunkturpro- der bitterste Lehrmeister, wenn es um der Woche, in der Aretha Franklin beim gramme unsere Gesellschaften struktu- unbewältigte Krisen der Demokratie Amtsantritt Obamas sang. Und doch rell verändern müssen. geht. Die Weltwirtschaftskrise vor 80 bemerkte eine überregionale Zeitung: Deshalb setzen wir auf eine Been- Jahren hat in der deutschen Geschich- »Linke wird EU-freundlich (…) Die Partei digung des Lohn- und Sozialdumpings, te weder die demokratischen Kräfte ge- Die Linke hat den Streit über ihre Euro- auf einen europäischen Mindestlohn. stärkt noch die Solidarität zwischen papolitik vorerst beigelegt. In ihrem Pro- Deshalb verteidigen wir eine Politik, ganz unterschiedlichen gesellschaft- gramm für die Wahl zum Europäischen die Migration bewältigt, ein offenes Eu- lichen Kräften gefördert. Die gesell- ropa gestaltet, in dem alle an Bildung, schaftliche Katastrophe – Jahre nach Beschäftigung, an Kultur und Öffent- der Wirtschaftskrise – hat mit Ausch- Wer sitzt derzeit im lichkeit teilhaben. Die Geschichte Euro- witz die Möglichkeiten der großen In- pas und die Geschichte der EU hat die dustrie in ihr verbrecherisches Gegen- Europaparlament? Idee des Friedens immer als politisches teil verkehrt. Die Fraktionen im Europaparlament Projekt aufgegriffen. Es muss gelingen, Wie reagieren wir heute auf die Ur- 2004/09: nach dem Ende der Blockkonfrontation sachen der Krise? Strategisch ist die • Fraktion der Europäischen Volks- Europa als Faktor der zivilen Konfl iktlö- Antwort klar: Wir müssen europäisch partei (Christdemokraten) und sung in der Welt zu entfalten. Wir kön- handeln. Was in Athen und in Paris an europäischer Demokraten: nen unendliche Ansprüche an linke Po- Protesten schon spürbar ist, scheint 288 Abgeordnete litik formulieren, sie debattieren und in Deutschland noch kalt zu lassen. Ver- • Sozialdemokratische Fraktion im Beschlüsse gießen. Doch entscheidend besserte Kurzarbeiterregelungen durch Europäischen Parlament: ist, dass wir Politik machen: für die Men- das erste Konjunkturpaket der Bundes- 217 Abgeordnete schen in den ländlichen Regionen, für regierung lassen die Hoffnung aufkom- • Fraktion der Allianz der Liberalen die Beschäftigten und für die Menschen, men, wir werden die Absatzkrise – als und Demokraten für Europa: die in unsicheren Jobs oder erwerbslos eine vorübergehende – möglicherweise 100 Abgeordnete ihr Dasein gestalten, für Rentner/in- gut überstehen. Bisher hat die Mehrheit • Fraktion Union für das Europa der nen und Familien, für MigrantInnen, für der Bevölkerung so gut wie keine sinn- Nationen: 44 Abgeordnete Schüler/innen und StudentInnen, für liche Krisenerfahrung. Niemand muss • Fraktion der Grünen / Freie Europä- Menschen mit Behinderungen, für Men- Geldsäcke zum Bäcker tragen. Keiner ische Allianz: 43 Abgeordnete schen in Afghanistan und in Brasilien, steht vor verriegelten Banken. In Eur- • Konföderale Fraktion der Vereini- für Menschen, die auf eine gerechte Zu- opa droht zu Beginn des 21. Jahrhun- gten Europäischen Linken/Nor- kunft weltweit setzen. Auch Europapoli- derts nicht das Buenos Aires der neun- dische Grüne Linke: 41 Abgeordne- tik ist kein Selbstzweck. ziger Jahre. Es gibt keine Hamsterkäu- te (unter ihnen die sieben Vertre- fe, keine Vorratswirtschaft, an die sich ter/innen für DIE LINKE) [email protected] die Großmütter und Großväter noch • Fraktion Unabhängigkeit/Demo- erinnern. Der Chef-Entertainer des öf- kratie: 22 Abgeordnete fentlich-rechtlichen Fernsehens Harald • fraktionslos: 30 Abgeordnete Tagesordnung und Leitantrag des Schmidt spricht von der eingebildeten Parteivorstandes: www.die-linke.de

50 DISPUT Februar 2009 Links wirkt auch in Europa Zur Bilanz der Europaabgeordneten der LINKEN Von Gabriele Zimmer

In einigen Tagen entscheidet DIE LINKE, litik neu zu defi nieren und damit dem schärfung der Richtlinie zur Vorratsda- mit welchen inhaltlichen Zielstellun- Ausschuss und dem Parlament ein völ- tenspeicherung hätte es ohne die Ini- gen und mit welchen Kandidatinnen lig neues Gewicht gegenüber dem EU- tiativen und das Engagement von Ab- und Kandidaten sie in den Europawahl- Handelskommissar zu verleihen. geordneten unserer Delegationen so kampf 2009 ziehen will. Angesichts der politischen Mehr- nicht geben können. Wir, die jetzige Delegation der LIN- heitsverhältnisse freuen wir uns als Schließlich: Der schonungslosen KEN im Europaparlament, werden zum Linke durchaus über die Erfolge, die wir Kritik des Europaparlaments an der un- Europaparteitag in Essen unsere Bilanz parlamentarisch und in der Kooperati- genügenden Umsetzung der Grund- vorlegen, die zeigt: Links wirkt nicht on mit europäisch vernetzten sozialen rechte innerhalb der EU ging ein Be- nur in Thüringen, im Bundestag, in Nie- Bewegungen, Gewerkschaften, Frie- richt unseres italienischen Fraktions- dersachsen oder in den anderen Land- dens-, Umwelt- und Menschenrechts- kollegen Giusto Catania voran. Es war tagen, in denen wir vertreten sind. Die initiativen erreicht haben. unsere kleine Delegation der LINKEN, Abgeordneten André Brie, Sylvia-Yvon- Wir haben wesentlich dazu beige- die eine klare Mehrheit im Europapar- ne Kaufmann, Helmuth Markov, Tobias tragen, dass Rat und Kommission ih- lament dafür gewann, vom Rat und von Pfl üger, , Sahra Wagen- re Ziele bei der Dienstleistungsrichtli- den Mitgliedsstaaten der EU die Ein- knecht und Gabi Zimmer können nach- nie nicht vollständig umsetzen konn- führung von Mindestlöhnen und Min- weisen: Links wirkt auch in Europa. ten, die Chemikalienrichtlinie Reach desteinkommen oberhalb der Armuts- Linke Politik hat im Europaparla- ökologisch ausgerichtet wurde, der Rat grenze sowie konkrete Zielstellungen ment einen Namen. Das ist die Frakti- on GUE/NGL (Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nor- dische Grüne Linke). In ihr arbeiten 17 linke Parteien aus 14 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eng zusam- men. Trotz dieser Vielfalt ist es gelun- gen, unsere Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu rücken: für eine sozi- ale, demokratische und zivile Europä- ische Union, die ihrer gewachsenen Verantwortung für die Lösung glo- baler Konfl ikte und Krisen verantwor- tungsbewusst nachkommen muss. Vor allem , der GUE/NGL-Frak- tionsvorsitzende, hat viel dafür geleis- tet, dass gegenseitiger Respekt und To- leranz das Arbeitsklima in der Fraktion bestimmten.

Aber auch unsere Delegation ist in Parlament LINKE. im Europäischen © DIE der bald zu Ende gehenden Legisla- Engagiert auch außerhalb des Parlaments tur ihrer politischen Verantwortung als zahlenmäßig größte Delegation in un- beim Versuch, die Begrenzung der wö- im Kampf gegen Armut und soziale serer kunterbunten Truppe der GUE/ chentlichen Arbeitszeit nach oben zu Ausgrenzung zu verlangen. NGL nachgekommen. verschieben, gestoppt wurde und ei- Sicherlich haben wir auch oft in Alle Abgeordneten der LINKEN ha- ne Mehrheit des Parlaments den Rat in wichtigen Entscheidungen den Kürze- ben für die Gesamtfraktion in ihren je- das Vermittlungsverfahren zwang. ren gezogen, standen nicht selten mit weiligen Hauptausschüssen die fach- Wichtig war uns auch die Verhinde- unseren Positionen allein im Parla- politische Arbeit koordiniert. Sylvia- rung der Liberalisierung von Dienst- ment. Manchmal verloren wir Abstim- Yvonne Kaufmann wurde in der ersten leistungen in Häfen, die Einführung ei- mungen knapp, weil zu einer parla- Hälfte der Legislatur zu einer der Vi- ner arbeitnehmerfreundlichen EU-wei- mentarischen Mehrheit von Linken, zepräsidentinnen des Parlaments ge- ten Regelung der Lenk- und Ruhezeiten Sozialdemokraten und Grünen eben wählt. Helmuth Markov wurde 2007 von Fernfahrern, die weitgehende Bei- rund einhundert Stimmen fehlen und zum Vorsitzenden des Ausschusses für behaltung der kommunalen Selbstbe- es nicht immer gelang, die notwendige Internationalen Handel gewählt. Er hat stimmung beim öffentlichen Personen- Zahl weiterer Stimmen aus anderen viel dafür getan, in diesem früher für nahverkehr oder auch die Kritik des Eu- Fraktionen dazu zu gewinnen. Manch- liberale Handelspolitik berüchtigten ropaparlaments gegenüber den völker- mal sehr klar, wenn vor allem die Sozi- Ausschuss ein allmähliches Umden- rechtswidrigen Aktivitäten der CIA im aldemokraten auch in wichtigen Fragen ken zu bewirken, die entwicklungspoli- sogenannten Kampf gegen den Terror. eines sozial ausgerichteten Europas tische Verantwortung in der Handelspo- Die in wichtigen Teilen erreichte Ent- oder in außenpolitischen Fragen sehr

INTERNATIONAL DISPUT Februar 2009 06 nahe an die Konservativen rückten. Un- ser eindeutiges – in der Delegation von sechs der sieben Abgeordneten vertre- tenes – NEIN zum Verfassungsentwurf, Der Essener Parteitag zum Lissabonner Vertrag hat uns platte Parteitag am 28. Februar (ab 10 Uhr) Vorwürfe eingebracht, wir würden die Vertreter/innenversammlung am 28. Februar und 1. März EU ablehnen, wollten das europäische Projekt zum Scheitern bringen. Die CCE Grugahalle, Messe Essen Mehrheit der Fraktion und unserer De- legation war immer darauf bedacht, die Der Europaparteitag am 28. Febru- DISPUT ab 12. März. Das Interesse am Ablehnung der neoliberalen und unso- ar wird sich mit der Arbeit der Europa- Parteitags-DISPUT wird erfahrungs- zialen Ausrichtung der wichtigsten Ver- abgeordneten der LINKEN befassen gemäß groß sein. Zusätzliche Bestellun- träge der EU und der wachsenden Mi- und das Europawahlprogramm 2009 gen, die über das Abonnement hinaus- litarisierung der EU aus linker Sicht zu diskutieren und beschließen. Außer- gehen, deshalb bitte rasch an: begründen, uns nicht in einen Topf mit dem geplant sind die Beratung und jenen werfen zu lassen, die aus natio- Entscheidung weiterer Anträge, [email protected] bzw. nalistischen und rechtspopulistischen darunter von Anträgen auf Satzungs- telefonisch (030) 24 00 95 10 oder Gründen die Verträge ablehnen. änderungen. an DISPUT, PSF 100, 10122 Berlin. Es ging uns immer darum, klar zu Die Vertreter/innenversammlung wird Preis: voraussichtlich 2,50 Euro. machen, dass die Alternative zu einem die Liste der Partei für die Europawahl von uns abgelehnten Superstaats- am 7. Juni wählen. modell EU nicht in der Nationalstaa- Alles Wichtige – Reden, Beschlüsse, terei besteht, sondern in einer de- Diskussion und, selbstverständlich, die mokratischen Union von Staaten mit Liste zur Europawahl – gibt’s im März- klaren Kompetenzzuordnungen, de- mokratischen und transparenten Ent- scheidungsprozessen und Kontrollen. Mit unseren parlamentarischen Ini- lung modernster Halbleitertechnik zu enfahrten von jungen Menschen zum tiative warben wir für ein soziales, de- erhalten. Beispiel nach Auschwitz und Mauthau- mokratisches und ziviles Europa – ge- Aktiv beteiligte sich die Delegation sen, die Jiddische Musik- und Theater- gen die Politik eines neoliberalen Wirt- an den Weltsozialforen in Porto Alegre, woche in Dresden, das Projekt »Men- schaftswachstums und der Privatisie- Bamako, Caracas, Nairobi und Belém, schen im Zaun« (in Vorbereitung auf rung öffentlicher Dienstleistungen, für den Europäischen Sozialforen in Paris, den G8-Gipfel 2008), Transportkosten die Verteidigung und die Stärkung von London, Athen und Malmö, den Alter- für Solidaritätsleistungen nach Kuba sozialen und Arbeitnehmerrechten, ge- nativgipfeln EU-Lateinamerika in Wien und Gaza oder die Teilnahme junger gen Armut und soziale Ausgrenzung, und Lima, beim G8-Gipfel in Heiligen- Menschen am Weltsozialforum in Nai- für die unmissverständliche Haltung damm, dem Welttreffen gegen Militär- robi und den Weltfestspielen in Vene- zur Asyl-, Flüchtlings- und Migrations- basen oder den Treffen des Foro Sao zuela. politik und für den Schutz vor jeglicher Paulo. Fazit: Die Delegation der LINKEN im Form von Diskriminierung. Abgeordnete der Delegation waren Europaparlament hat in den zurücklie- Linke Politik im Europaparlament an den Protesten zum WTO-Gipfel 2005 genden fast fünf Jahren intensiv gear- fand niemals unter einer Glasglocke in Hongkong beteiligt bzw. nahmen als beitet und für linke europäische Politik statt. Immer gehörte unsere Solida- Mitglied der Delegation des Europa- geworben. Wir haben längst nicht alles rität all jenen um ihre Arbeitsplätze parlaments an der parlamentarischen umsetzen können, was wir gern wollten, kämpfenden Belegschaften, den Men- Versammlung der WTO (Welthandels- aber wesentlich mehr als von außen, in schen, die sich, in welchem Mitglieds- organisation) teil. Kontakte und Bezie- Deutschland und auch in unserer eige- staat der EU auch immer, gegen Sozial- hungen insbesondere zum lateinameri- nen Partei wahrgenommen wird. Sie- abbau, Diskriminierung oder auch ge- kanischen und zum afrikanischen Kon- ben Abgeordnete haben für DIE LIN- gen die Stationierung von Raketenab- tinent konnten kontinuierlich ausge- KE in Brüssel, Strasbourg, auf europä- wehrsystemen wie in Tschechien zur baut werden. ischer Ebene Politik gemacht. Wehr setzten. Wesentliche Impulse für unsere in- Vor fünf Jahren hat unsere Partei ent- Es war unsere Delegation, die sich haltliche Arbeit brachte uns die enge schieden, genau diese sieben Abgeord- mit den Streikenden von Gate Gour- Kooperation mit dem Netzwerk »Wirt- neten ins Europaparlament zu schicken. met in Düsseldorf und der Telekom so- schaftswissenschaftlerinnen und Wirt- Sie hat dabei auf einen Mix aus erfah- lidarisierte und gemeinsam mit den schaftswissenschaftler für eine alterna- renen und aus neuen Abgeordneten ge- Abgeordneten anderer Delegationen tive Wirtschaftspolitik in Europa« (Euro- setzt. Es gibt keinen nachvollziehbaren der europäischen Linken Betriebsräte memo), dem linksgewerkschaftlichen Grund, auf die Erfahrung der Abgeord- von Alcatel, Nokia, Airbus oder Opel »Forum Soziales Europa«, dem Netz- neten nun fast völlig verzichten zu wol- in das Europaparlament einlud, um ih- werk gegen Prekarität, dem Europä- len, zumal aller Wahrscheinlichkeit DIE ren Forderungen auf europäischer Ebe- ischen Netzwerk gegen Armut (EAPN), LINKE gestärkt in das nächste Europa- ne Gehör zu verschaffen. Gerade jetzt mit Verbänden der Entwicklungskoope- parlament einziehen kann. drängen wir gemeinsam mit portugie- ration und der europäischen Friedens- sischen und deutschen Betriebsräten bewegung. Gabriele Zimmer ist Sprecherin der von Qimondo Kommission und die Re- Aus dem »Spendentopf« der Dele- deutschen Delegation in der Fraktion gierungen beider Länder zum schnel- gation unterstützten wir in dieser Legis- GUE/NGL im Europäischen Parlament. len Handeln, um den europäischen latur mit fast 50.000 Euro eine Vielzahl gabriele.zimmer-assistant@ Standort der Produktion und Entwick- von Projekten wie Bildungs- und Studi- europarl.europa.eu

70 DISPUT Februar 2009 Hessenwahl – die Lehre Ist diese Partei solidarisch genug, um ihrer historischen Aufgabe gerecht zu werden? Ich hoffe und glaube: ja Von Ulrich Maurer

Was lehrt uns die Wahl in Hessen? Zu- lerdings auch: Wenn es unseren zahl- nächst: Unsere Kernwählerschaft ist reichen Gegnern in Politik, Wirtschaft auch im Westen so zahlreich und stabil und Medienindustrie gelingt, diese un- geworden, dass nicht einmal der kon- terschiedlichen Milieus zu entzweien zentrische Angriff aller Parteien sowie und gegeneinander zu treiben, wird es der gesamten Medienindustrie und ih- gefährlich. rer Demoskopen uns unter Wasser drü- Genau dies ist in Hessen erstmals im cken konnte. großen Maßstab versucht worden. Der Zweitens: Dort wo die Partei struk- Versuch ist zwar gescheitert, aber es turell und personell schwach ist (wie werden erneute Angriffe auf dieser Li- in Nordhessen), kann sie einer solchen nie erfolgen. Interessanterweise sind Kampagne nicht standhalten. Dort wo die Leitmedien dieser Strategie exakt sie stärker ist (wie in Mittel- oder Süd- dieselben, die den neoliberalen Nie- hessen), legt sie unter diesem Druck so- dergang der SPD unter Schröder ausge- gar noch zu. löst und gestützt haben. Das neolibe- Drittens: Die Wählerschaft unserer rale Lager, das oberfl ächlich betrach- Partei – wie die Partei selbst – verkör- tet nur noch aus lauter Wendehälsen pert nach wir vor unterschiedliche Mi- besteht (Wer will sich denn auch an- lieus, Kulturen und Biografi en, die ge- gesichts des Zusammenbruchs des Fi- eint sind in der Auseinandersetzung mit nanzmarktkapitalismus noch als Neoli- der neoliberalen Ideologie, der Agenda beraler bekennen?), hat die Destruktion 2010 und in der Ablehnung des fi nanz- der LINKEN als letzte Chance begriffen. marktkapitalistischen Systems. Wer schon selbst ideell nichts mehr zu Im Umkehrschluss bedeutet dies al- bieten hat außer geronnenem Zynismus, © Stefan © Stefan Richter © Dietmar Treber © Dietmar

BETRACHTUNG DISPUT Februar 2009 08 © Stefan © Stefan Richter

mitspielen, sei es, weil sie sich persön- Klasse zu betreiben, oder bringt sie die Landtagswahl in Hessen, 2009 liche Vorteile davon versprechen, sei es, Kraft auf, die soziale Verteidigung zu or- Ergebnisse in Prozent weil sie ihre eigene ideologische Gefan- ganisieren, das Abgleiten in Demokra- genschaft über den Erfolg der Gesamt- tieabbau und autoritäre Strukturen zu partei stellen. bekämpfen und den Krieg als Mittel der CDU 37,2 Für DIE LINKE stellt sich eine ganz Politik zu ächten. einfache Frage: Will sie sich mitten im Also ist diese Partei solidarisch ge- SPD 23,7 Zusammenbruch des Finanzmarktkapi- nug, um ihrer historischen Aufgabe ge- talismus und mitten in einer Weltwirt- recht zu werden? Ich hoffe und glaube: FDP 16,2 schaftskrise mit absehbar furchtbaren ja. Aber lasst uns alle wachsam sein! Folgen für die Armen ebenso wie für die Grüne 13,7 abhängig Beschäftigten entlang ihrer Ulrich Maurer ist Parteibildungsbeauf- durchaus vorhandenen eigenen Wider- tragter und Mitglied des Geschäftsfüh- DIE LINKE 5,4 sprüche aufreiben, ist sie amoralisch renden Parteivorstandes. oder dumm genug, den Kampf in der [email protected] dem bleibt als letzte Karte die Destruk- tion des politischen Gegners. Welch ei- ne Chance! Man muss nur die Arbeitslo- sen gegen die Malocher, die sozial Be- wegten gegen die Gewerkschaftsfunk- tionäre, die angeblichen Fundis gegen die angeblichen Realos, die Frauen ge- gen die Männer, die ökologisch Den- kenden gegen die im Existenzkampf materiell Orientierten in Stellung brin- gen. Für den Osten dann noch eine Pri- se Geschichtsdebatte, für den Westen die Israel-Palästina Frage, und schon geht die Saat auf. Aber nur dann, wenn unsere Partei dumm genug ist, sich auf diese Art ent- zweien zu lassen. Nur dann, wenn Prot-

agonisten dieser Partei dieses Spiel Treber © Dietmar

90 DISPUT Februar 2009 Nicht König von Kiel … … aber Oberbürgermeister möchte Raju Sharma schon sein Von Wilfried Hille

Die Szenerie ist surreal. An einem düs- So wurde er Kieler Pressesprecher des 44-jährige, in Hamburg geborene Sohn teren Herbstmorgen steht die Kieler Bundesfi nanzministeriums. einer Deutschen und eines Inders nur Oberbürgermeisterin um acht vor dem Volquartz, die früher im Bundestag zögernd preis, dass er mit 14 Jahren heimischen Bahnhof und verteilt Bröt- saß und sich der Nähe der heutigen Vollwaise war und mit seinem Bruder chen. Alle sollen sehen, spüren und so- Kanzlerin rühmte, gegen Albig. Die unmittelbar vor der Einweisung in ein gar schmecken: Die soziale Kälte, die Oberbürgermeister-Wahl am 15. März Heim stand. »Wir hatten großes Glück, Angelika Volquartz (CDU) immer wie- 2009 drohte eine zwischen Kartoffeln als sich in letzter Minute doch noch ein der nachgesagt wird, entspricht nicht und Erdäpfeln zu werden. Beide ste- Cousin meines Vaters fand, der uns auf- der Realität. Ihre Brötchen wird sie los, hen für einseitige Interessenspolitik. nahm – in einer kleinen Wohnung am die Botschaft verhallt hingegen un- Soziale Belange werden nur in Fens- Rande eines Gewerbegebietes, ohne gehört. Den Passanten steht der Sinn terreden und mittels Klischees berück- heißes Wasser und mit einem Bade- nicht nach aufgesetzten Wahlkampfver- sichtigt. Rot müsse das Rathaus wieder zimmerfenster, das zur Hälfte aus ei- anstaltungen. Sie nehmen die Backwa- werden, so Albig. ner Spanplatte bestand.« ren, lassen ihre Oberbürgermeisterin »Dann aber richtig rot!«, entgegnet Später studierte er in Hamburg und dann aber einfach stehen. So kann sie Raju Sharma. Der ist Ministerialrat mit Bombay Jura. 1990 trat er in den schles- froh sein über das mangelnde Interes- Migrationshintergrund und jetzt auch wig-holsteinischen Landesdienst ein, se der Presse an diesem Termin. Nur OB-Kandidat der LINKEN. Seine Vita, bald darauf auch in die SPD. »Die Auf- ein Journalist, der sich alsbald kopf- seine Qualifi kation, die Konsequenz, bruchstimmung unter Björn Engholm schüttelnd verabschiedet, verirrt sich mit der er zu seinen Überzeugungen hat mich mitgezogen.« Es war die Zeit zu der frühen Show. steht, machen ihn zu einem Bewerber, nach Uwe Barschel, dem skandalum- Der SPD-Kandidat Torsten Albig hat dessen Eignung für das Amt offensicht- witterten CDU-Ministerpräsidenten, der ein ähnliches Problem. Er war schon mal lich ist. unter ungeklärten Umständen ums Le- Kämmerer der Stadt und hat dabei ei- »Ich weiß, wie sich Armut anfühlt«, ben kam. Engholm war dessen Nachfol- nen derart rigorosen Sparkurs gefahren, merkt er eher beiläufi g an. Seiner Her- ger und zugleich Hoffnungsträger der dass sein Ruf nachhaltig litt. Nur einer kunft schämt er sich nicht, er will damit Bundes-SPD. Seine Landespartei wur- fand Albig wirklich gut, Peer Steinbrück. aber auch nicht kokettieren. So gibt der de damals ihrem linken Ruf noch ge- recht. »Immer wieder standen wir im Widerspruch zur Bundespartei, sei es bei Atomkraftwerken, in der Asyl- oder in der Umweltpolitik«, erinnert sich Sharma. Sein beruflicher Weg entwickel- te sich vielversprechend. Leitenden Funktionen im Sozialministerium und beim Rechnungshof des Landes folgte »Ich möchte – »im nationalen Interesse«, so die of- OB einer fi zielle Begründung – eine vorüberge- Stadt sein, hende Abstellung zum Deutschen Fuß- die zu ihren ballbund zwecks Vorbereitung des Kul- Bürgerinnen turprogramms der WM 2006. Anschlie- und Bürgern ßend bezog er sein heutiges Büro als steht, gleich Referatsleiter in der Kulturabteilung der welches Kieler Staatskanzlei. Einkommen, Der Bruch mit der SPD kam schlei- welche chend. Vollzogen hat er ihn, nachdem Hautfarbe, Engholms Nachfolgerin Heide Simo- religiöse nis 2005 aus der eigenen Fraktion her- Überzeugung aus gestürzt wurde. »Die innerpartei- oder politische liche Empörung darüber war scheinhei- Gesinnung lig«, konnte Sharma aus nächster Nähe sie haben.« beobachten. »Ohne jede Klärung wurde weitergemacht, als sei nichts gewesen.« Die SPD wurde Juniorpartner der CDU. »Seither wird nur noch links geblinkt und rechts abgebogen.« Er selber bog links ab und wurde noch 2005 Mitglied der Linkspartei. Eine gezielte Karriere-

© Robert Bajela planung sieht anders aus. »Was hilft mir

KOMMUNE DISPUT Februar 2009 010 DEMNÄCHST

die Karriere, wenn ich nicht mehr in den Jubiläen und Jahrestage Termine Spiegel gucken kann?«, hält Raju Shar- ma dem entgegen. 18. Februar 1919 18./19. Februar »Die Spitze des Hauses frozzelt, die Schwarzrotgold als deutsche Sitzungstage im Europaparlament Kollegen ermuntern mich«, fasst er die Nationalfarben eingeführt Reaktionen am Arbeitsplatz nach Be- 21. Februar kanntgabe seiner Kandidatur zusam- 20. Februar Landes-Vertreter/innenversammlung men. Unmittelbare Nachteile erfahre er Welttag der sozialen Gerechtigkeit Mecklenburg-Vorpommern, Göhren- dort nicht. »Klar ist aber, dass ich mich (UN seit 2007) Lebbin auf andere Posten nicht mehr zu bewer- 21. Februar 1919 23. Februar ben brauche.« Sonderlich zu beküm- Kurt Eisner ermordet Sitzung Geschäftsführender Partei- mern scheint ihn das nicht. vorstand Größere Widerstände hätte er als 21. Februar OB, dem eine ihm nicht wohlgeson- Internationaler Tag der Mutter- 25. Februar nene Ratsmehrheit gegenüberstünde, sprache (Unesco) Politischer Aschermittwoch zu überwinden. »Verwaltung kann ich«, 28. Februar/1. März so Sharma selbstbewusst »und Verwal- 25. Februar 1999 Bundestagsmehrheit für Bereit- Europaparteitag und Vertreter/innen- tung kann eine Menge bewirken.« versammlung, Essen Beim Besuch des neuen städtischen stellung von 5.000 Bundeswehr- Bürgerhauses im Stadtteil Mettenhof, soldaten für KFOR-Truppen unter 2./6. März einem der sozialen Brennpunkte Kiels, NATO-Führung Sitzungswoche im Bundestag fi ndet er gleich ein Beispiel. Die Kan- 1. März 6. März tine des Hauses produziert täglich sie- Woche der Brüderlichkeit beginnt Sitzung Bundesrat benhundert Essen. Hier arbeiten fast nur Ein-Euro-Jobber. Das verstößt ge- 2. März 1919 6./7. März gen die Hartz-Gesetze, nach denen di- Kommunistische Internationale Konferenz 60 Jahre Grundgesetz, ese Jobs keine regulären Arbeitsplät- wird gegründet ze ersetzen dürfen. »Mit mir würde das 6. März 1984 nicht gehen.« Das gelte auch für Ver- 9. März Pastor Martin Niemöller gestorben träge der Stadt, die Passagen enthal- Sitzung des Geschäftsführenden Parteivorstandes ten, die nicht mal den Mitgliedern des 8. März Rates zugänglich sind. Solche gibt es in Internationaler Frauentag 9./12. März Kiel offensichtlich im Zusammenhang Sitzungswoche im Europaparlament mit Privatisierungen. »Gesetze sind im 8. März 1929 Sinne der Menschen und der demokra- erste drahtlose Fernsehsendung 14. März tischen Gepflogenheiten zu handha- (ohne Ton) in Deutschland Sitzung des Parteivorstandes, Berlin ben und nicht im Sinne privater Profi - 11. März 1999 16./20. März tinteressen. Dafür zeichnet ein OB ver- Oskar Lafontaine tritt von Sitzungswoche im Bundestag antwortlich.« sämtlichen Ämtern zurück »Der Oberbürgermeister ist nicht der 27./29. März König von Kiel«, habe aber als direkt 14. März 1879 Landesparteitag und Vertreter/ gewählter Verwaltungschef eine star- Albert Einstein geboren innenversammlung Thüringen, ke Stellung. »Ich will Akzente setzen.« Arnstadt 15. März Für soziale Gerechtigkeit, gegen Privati- Weltverbrauchertag 28./29. März sierungen und konsequent antifaschis- Landes-Vertreter/innenversammlung tisch. »Ich möchte OB einer Stadt sein, 16. März 1979 Nordrhein-Westfalen, Köln die zu ihren Bürgerinnen und Bürgern Die Grünen werden gegründet steht, gleich welches Einkommen, wel- 29. März che Hautfarbe, religiöse Überzeugung 18. März 1929 Landes-Vertreter/innenversammlung oder politische Gesinnung sie haben.« Christa Wolf geboren Bayern, München Die Unantastbarkeit der Würde des 21. März 4. April Menschen ist, das wird in Gesprächen Internationaler Tag zur Beseitigung Demonstration gegen NATO-Gipfel mit Raju Sharma zu den unterschied- der Rassendiskriminierung (UN seit lichsten Themen schnell deutlich, des- 1966) 4. April sen zentrales Anliegen. »Ich will dafür Landes-Vertreter/innenversammlung sorgen, dass dieser Verfassungsan- 24. März 1999 Rheinland-Pfalz, Grünstadt spruch für jeden Menschen in Kiel Wirk- Die NATO beginnt Luftangriffe auf lichkeit wird.« Jugoslawien Zusammenstellung: Daniel Bartsch

11 0 DISPUT Februar 2009 Ein Hotel, in dem Schwerbehinderte Arbeit und Anerkennung fi nden

Jeder Handgriff will gelernt sein. Im Regenbogen- haus vor allem in Gastronomie, Küche und Hauswirtschaft.

Ruth Kretzer-Braun ist Pädagogin und Vor- Johannes: Das Besondere ist, dass wir in unserem Hotel sitzende der Linksfraktion im Stadtrat von als schwerbehindert geltende Menschen ausbilden und in Ar- Freiberg in Sachsen. Johannes Kretzer ist beit gebracht haben beziehungsweise bringen. Normalerwei- Betriebswirt und Mitglied der Linksfrakti- se werden sie von der Agentur für Arbeit in Werkstätten für on im Kreistag von Mittelsachsen. Ihr größ- Behinderte beschäftigt. Diese sollen behinderten Menschen tes Projekt ist aber kein politisches. Es hört eine angemessene berufl iche Bildung und eine Beschäfti- auf den Namen Regenbogenhaus. Darüber gung zu einem angemessenen Gehalt ermöglichen. In einer sprach DISPUT mit ihnen. Werkstatt gibt es ganz unterschiedliche Beschäftigungsge- biete: Zuliefereraufgaben, Holz- und Metallbearbeitung bis Wir sitzen im Hotel Regenbogenhaus im sächsischen Frei- hin zu Schnürsenkel knüpfen. Alle – vor allem geistig – be- berg. Für dieses Hotel habt ihr bereits mehrere Auszeich- hinderten Menschen haben nach dem Abschluss der Schule nungen erhalten, zum Beispiel wurdet ihr zu Sachsens As- Anspruch auf einen Platz in der Werkstatt. Diese Werkstätten sen 2007 gekürt und mit dem Bürgerpreis 2008 der Stadt sind zwar eine wunderbare Sache, doch nicht für jeden ge- Freiberg geehrt. Was ist das Besondere am Regenbogen- eignet. Viele fühlen sich durch die Arbeit in diesen Werkstät- haus? ten unterfordert oder haben einfach keine Lust darauf. Wir

SOZIAL DISPUT Februar 2009 012 »Wir mussten darum kämpfen« Oder: Die starken Seiten des behinderten Menschen. ) Ruth Kretzer-Braun und Johannes Kretzer über das 4 Regenbogenhaus in Freiberg © Erich Wehnert ( Wehnert © Erich wollten ihnen deshalb die Möglichkeit bieten, in einer ande- Ruth: 1988 waren Johannes und ich als Dozenten in Äthi- ren Branche eine Tätigkeit zu fi nden, nämlich im Hotel-Ge- opien. Ich durfte an der Universität Lehrer ausbilden und Jo- werbe. Nach unseren Erfahrungen ist diese Branche dafür be- hannes hat Management unterrichtet. Dort gab es viele be- sonders geeignet. Hier können sie in drei unterschiedlichen hinderte Menschen. Sie hatten keine Chance, einen Roll- Bereichen eines Hotels arbeiten: in der Gastronomie, der Kü- stuhl zu bekommen. Sie hatten große Lederhandschuhe und che und der Hauswirtschaft. schleiften sich damit über die Höfe und kletterten Treppen Das Hotel Regenbogenhaus ist das einzige komplett bar- hoch. Fahrstühle gab es nicht. Viele Menschen sind auch auf rierefreie Hotel in ganz Sachsen. Man kann also sagen, dass uns zugekommen: Großeltern, deren Enkelkinder Augenfehl- wir mit unserem Hotel drei Ziele verfolgen: Wir sind Hotel, wir stellungen hatten und die glaubten, wenn wir eine Brille mit- beschäftigen behinderte Menschen und wir sind dabei, ein brächten, seien sie geheilt. Das hat uns sehr bewegt. Netzwerk mit anderen Unternehmen aufzubauen, die bei uns Eigentlich wollten wir drei Jahre in Äthiopien verbringen. ausgebildete behinderte Menschen in Arbeit nehmen. Leider war die militärische Situation vor Ort so, dass wir nach einem Jahr von unserem Urlaub zu Hause nicht mehr zurück- Wie kommt man auf die Idee, ein derart ehrgeiziges Projekt kehren konnten. Die fehlende Sicherheit ließ es nicht mehr zu beginnen? zu. Als wir wieder zurückkamen, war ja hier die Wende. Wir

13 0 DISPUT Februar 2009 Ruth Kretzer- Braun (Mitte): »Mich hat das nicht losgelassen.« mussten uns also überlegen, wie es mit uns weiterging. Mein Und irgendwann kam dann der Punkt, an dem es konkret Arbeitsplatz war anderweitig besetzt worden. Ich hatte nichts wurde … zu tun und bekam letztlich die Aufgabe, eine Schule für geis- Ruth: Im September 1997 hatten wir die Chance, im So- tig behinderte Menschen in Freiberg aufzubauen. So etwas zialministerium unsere Idee vorzustellen. Dort fand man un- gab es zu DDR-Zeiten nicht. Es gab in der DDR regionale Hilfs- sere Idee gut, meinte aber, wir müssten einen Verein grün- schulen, aber dort waren die geistig Behinderten nicht mehr den. Das haben wir getan und Johannes mit dazugenommen, dabei. Ich musste also mit diesen Inhalten ganz von vor- weil wir insgesamt sieben Mitglieder brauchten und einer ne beginnen. Ich wurde auch in die alten Bundesländer ge- sich um das Geld kümmern musste. Am 3. Dezember 1997 schickt, um zu schauen, wie die das da gemacht haben. Wir gründeten wir den Verein Regenbogenhaus e. V. Das ging haben uns Lehrpläne besorgt aus Bayern und Baden-Würt- recht schnell. Wir haben diverse Förderungsanträge gestellt, temberg. Dadurch kam ich mit vielen Menschen mit Behinde- so dass wir im Dezember 1998 die ersten schwerbehinder- rungen zusammen. Wir haben uns dann in Zusammenarbeit ten Menschen, die zum Teil noch heute bei uns arbeiten, in mit der Diakonie Freiberg eine Kindereinrichtung ausgesucht, eine Qualifi zierung bringen konnten. Diese wurde vom Ar- die zur heutigen Albert-Schweitzer-Schule ausgebaut wurde. beitsamt gefördert. In Brand-Erbisdorf bei Freiberg bauten Ich wollte dort eigentlich als Lehrerin arbeiten. Weil ich aber wir eine Etage eines Internats, das nicht mehr genutzt wur- nicht mehr Kirchenmitglied war, durfte ich das nicht. de, zu einem Übungshotel um. Wir begannen mit acht Schü- lerInnen und erhöhten ihre Anzahl 1999 auf 20. Das ist sehr schade. Johannes: Parallel dazu suchten wir ein passendes Haus Ruth: Ja. Aber daraufhin habe ich mir gesagt, dann müs- und fanden schließlich das jetzige Regenbogenhaus. Das sen wir eben ehrenamtlich was tun. Als Mitglied der Lebens- gehörte früher zu einem Kasernenkomplex. Das Haus bau- hilfe e. V. habe ich in Duisburg an einem Kongress teilgenom- ten wir zu einem in jedem Bereich barrierefreien Hotel um, men. Dort erlebte ich, wie Leute aus Hamburg ein Projekt vor- was einzigartig in Sachsen ist. Das Sozialministerium hat stellten: ein Hotel, in dem schwerbehinderte Menschen Ar- uns 1,85 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Den Rest ha- beit fanden. Da habe ich gesagt, so was machen wir jetzt ben wir über Spenden erbracht. Die Aktion Mensch hat uns auch in Freiberg! Man meinte nur zu mir: »Nein! Hamburg ist zum Beispiel mit 400.000 DM unterstützt. Dennoch mussten nicht Freiberg und Freiberg ist nicht Hamburg!« Aber mich hat wir einen Kredit aufnehmen, den wir heute noch abzahlen. das nicht los gelassen. Ich überlegte mir, ob es denn sinnvoll Die Rekonstruktion des Hauses konnten wir Juli 2001 been- ist, dass alle geistig behinderten Menschen nach der Schu- den. Ende August 2001 war die Eröffnung. le in eine Werkstatt kommen, oder ob es nicht sinnvoller ist, solche Menschen auch in der Hotel-Branche auszubilden und Ihr wurdet also von staatlicher Seite sehr gut unterstützt? sie dann in Arbeit zu nehmen. Johannes: Zu Beginn wurden wir sehr gut unterstützt. Der

SOZIAL DISPUT Februar 2009 014 damalige Referatsleiter und andere Mitarbeiter im säch- ten Menschen zu stärken. Wenn jemand also seine Stärken sischen Sozialministerium fanden unsere Idee gut und ha- in der Küche sieht, geht er für zwei Jahre in die Küche. ben uns sehr unterstützt. Dann wird es schwierig. Wir können nämlich niemanden mehr in Arbeit nehmen. Bisher konnten wir das, aber jetzt Zu Beginn? Hat sich später etwas daran geändert? haben wir genug Personal. Das sagen wir den Budgetneh- Johannes: In der Verwaltung des Sozialministeriums gab mern und ihren Eltern, bevor sie den Antrag bei der Agentur es wie so oft eine Rotation unter den Verantwortlichen. Und für Arbeit stellen. Sie gehen deshalb in einem anderen Un- die, die uns kannten und unser Projekt unterstützten, wa- ternehmen ins Praktikum. Und wir fragen das Unternehmen, ren plötzlich weg. Da gab es dann einen anderen Referats- ob sie sich vorstellen können, diese jungen Menschen spä- leiter, der wollte das plötzlich nicht mehr. Aber wir hatten ter in Arbeit zu nehmen. Glück: Wir hatten bereits eine schriftliche Zusage des Sozi- Ruth: Was wir machen, haben wir in einem Leistungsan- alministeriums. So konnte das doch in die richtigen Bahnen gebot zusammengefasst und den Eltern in die Hand gege- gelenkt werden. Doch wir mussten darum kämpfen. Und das ben. So können sie überprüfen, ob wir alles einhalten, was haben wir gemacht. wir versprechen. Das ist auch insofern wichtig, als dass die Agentur für Arbeit mit den Eltern eine Vereinbarung darüber Wie bekommt man als behinderter Mensch eine Ausbildung trifft, was ihre Kinder in diesen 2 ¼ Jahren schaffen müs- im Regenbogenhaus? sen. Das wird alle halbe Jahre überprüft. Wenn dabei her- Ruth: Also genaugenommen ist das, was wir hier machen, auskommt, dass die Budgetnehmer das nicht schaffen, wer- keine Ausbildung. Ausbildung ist ja immer ein duales Sys- den sie nicht weiter gefördert. Bisher hatten wir so einen Fall tem, bestehend aus Berufsschule und Praxis. Wir machen zum Glück noch nicht. eigentlich Berufsbildung anstelle von Werkstatt. Die Eltern kommen zu uns, wenn ihr Kind nicht in die Werkstatt will, Wie fi nanziert ihr euch? und fragen, ob es hier ein Praktikum machen kann. Die Kin- Johannes: Wir müssen uns selbstverständlich selbst fi - der werden dann in allen unseren Bereichen getestet: Wie nanzieren. Wir verkaufen ganz normale Hotelleistungen, sie sich dem Gast gegenüber verhalten, wie sie in den Zim- richten Feiern aus, bieten Räume für Seminare. Wir bekom- mern arbeiten, wie sie sich in der Küche einbringen können. men über die Schwerbehindertenausgleichsabgabe hinaus Manchmal müssen wir es leider ablehnen, dass jemand ei- einen besonderen Aufwand gezahlt. Diese Abgabe müssen ne Berufsbildung bei uns beginnt. alle Unternehmen zahlen, die zu wenige schwerbehinder- Im November 2006 haben wir bei der Agentur für Arbeit in te Menschen angestellt haben – bei großen Unternehmen Chemnitz durchgesetzt, dass wir als Leistungserbringer über muss das jeder Zwanzigste sein. ein persönliches Budget den Berufsbildungsbereich durchfüh- Im Übrigen macht das volkswirtschaftlich Sinn. Die Bun- ren können, analog zu einer Werkstatt. Das bedeutet, dass be- desarbeitsgemeinschaft Integrationsfi rmen, deren Mitglied hinderte Menschen ihre Berufsbildung bei uns machen kön- wir sind, macht in Sachsen gerade ein Monitoringprogramm. nen anstatt in einer Werkstatt. Wenn jemand bei uns diese Dafür müssen wir unsere Jahresabschlüsse und eine be- Berufsbildung durchführen will, muss man bei der Agentur triebswirtschaftliche Auswertung einreichen. Die erste Un- für Arbeit einen Antrag darauf stellen. Wird er bewilligt, be- tersuchung ergab, dass für jeden Euro Zuschuss, den ein In- kommt die Budgetnehmerin oder der Budgetnehmer von der tegrationsunternehmen in Sachsen erhält, 1,20 Euro zurück Agentur für Arbeit das Geld überwiesen, das für ihre oder sei- in die Sozialkasse fl ießen. ne Berufsbildung eigentlich an die Werkstatt gegangen wäre. Ruth: Für jeden schwerbehinderten Menschen bekom- Dieses Geld wird wiederum an uns überwiesen. Auf dieser Ba- men wir außerdem gemäß seines Unterstützungsbedarfs sis konnten wir im November 2006 vier junge Leute bei uns in Zuschüsse. Mit Hilfe dieser Unterstützung können wir gut die Berufsbildung nehmen. Inzwischen sind es sechs. 25 Prozent unserer Personalkosten decken. Das sind alles ) 3 © Erich Wehnert ( Wehnert © Erich

Wie läuft die Berufsbildung ab? Zuschüsse, die uns gesetzlich zustehen. Die bekommen wir Johannes: Die ersten drei Monate sind eine Einführungs- nicht, weil uns jemand sehr mag. Die bekommt jedes Unter- phase. Hier durchlaufen die Budgetnehmer unsere drei Be- nehmen, das mehr behinderte Menschen beschäftigt, als es reiche, also einen Monat sind sie in der Hauswirtschaft, ei- beschäftigen müsste. nen weiteren in der Küche und einen im Service. Danach ent- scheiden wir im Gespräch mit den Eltern und den Budget- Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg mit nehmern, in welchem Bereich sie am stärksten sind, in diesem tollen Projekt! welchem sie also weiter eingesetzt werden möchten. Wir ge- hen nach dem Prinzip vor, die starken Seiten des behinder- Interview: Dirk Schröter

15 0 DISPUT Februar 2009 3.500 auf einen Streich Vor den Kommunalwahlen 2009 in Nordrhein-Westfalen Von Ralf Michalowsky

Nordrhein-Westfalen, mit knapp 18 Mil- novationsfreie Zonen dahin; von un- Programmatischer Dreiklang lionen das einwohnerstärkste Bundes- ten kommt nichts mehr. Einige Tech- land, gliedert sich in 31 Kreise und 23 nokraten ohne Basisbezug versuchen, Unsere kommunalpolitische Arbeit hat kreisfreie Städte. Die Kreise umfassen das SPD-Fähnlein hoch zu halten. immer drei unaufl öslich verbundene wiederum 373 kreisangehörige Städte Die »roten« Rathäuser an der Ruhr Bestandteile: und Gemeinden. gehören der Vergangenheit an. Nur DIE LINKE. NRW hat sich inzwischen noch in einer einzigen Großstadt – in – Widerstand und Protest, zum viertstärksten Landesverband ge- Oberhausen – verfügt die SPD über ei- – den Anspruch auf Gestaltung sowie mausert. Mehr als achttausend Genos- ne absolute Mehrheit. Trotzdem sit- – über den Kapitalismus hinaus sinnen und Genossen zählt der Lan- zen die SPDler weiterhin auf einem ver- weisende Alternativen. desverband, und wöchentlich stoßen dammt hohen Ross und vertreten ih- 50 bis 60 neue Mitstreiter/innen da- re Agenda-Politik. Umfrageergebnisse, DIE LINKE wird gesellschaftlichen Pro- zu. Knapp 150 kommunale Mandats- die ihnen nochmals Einbrüche von ört- test, den Einsatz für soziale Verbesse- träger/innen aus PDS-Zeiten, aus uns lich über zwanzig Prozent vorhersagen, rungen, die Entwicklung von Reformal- nahe stehenden Wählergruppen und werden zumindest offiziell nicht zur ternativen unter den gegebenen kapi- durch Übertritte aus anderen Parteien Kenntnis genommen. Während es in talistischen Verhältnissen und die Ge- bilden die Ausgangsbasis für einen vielen Städten zaghafte Annäherungs- staltung von Entwicklungswegen, die großen Kraftakt: für die NRW-Kommu- versuche an DIE LINKE gibt, schaltet über die gegenwärtige Gesellschaft nalwahl 2009. die traditionell rechte Ruhrgebiets-SPD hinausweisen, zusammenführen. Kei- Wollte DIE LINKE alle Wahlkreise in meist auf stur. ner dieser drei Aspekte wird zugunsten Städten und Gemeinden durch eigene Lösungen hat die SPD so wenig pa- der anderen vernachlässigt werden. Mitglieder und offene Listen besetzen, rat wie die CDU, die sich neben der LIN- Der »politischen Kaste« in den Kom- müsste sie ca. 8.500 KandidatInnen KEN im Aufwind befi ndet. Die Wähler/ munen ist der Bezug zu den Menschen aufstellen und in allen Kommunen gut innen in den Arbeitermilieus setzen weitgehend verloren gegangen. Öf- organisiert sein. Soweit sind wir längst mehrheitlich auf den selbsternannten fentlichkeitswirksame Auftritte auf nicht. Deshalb ist es unser primäres »Arbeiterführer« Rüttgers (CDU), wie Massenveranstaltungen können nicht Ziel, in allen 29 Großstädten (mit über Forsa im Februar durch eine 1.000-Wäh- darüber hinwegtäuschen, dass Politik einhunderttausend EinwohnerInnen) ler-Stichprobe festgestellt haben will. ohne Rückkoppelung mit den betrof- und in allen Landkreisen anzutreten. Wer jedoch den Menschen im Ruhr- fenen Menschen stattfi ndet. Die vielen Dadurch wäre gewährleistet, dass alle gebiet die »Rente mit 67« verkaufen geplatzten Cross-Border-Leasing-Ge- Wähler/innen in NRW ihr Kreuzchen bei will, der muss früher aufstehen; den schäfte, die unseriöse und verlustrei- der LINKEN machen können, wenn sie Kumpeln kann man vieles nachsagen, che Zockerei der Kämmerer mit Steu- denn wollen. Dort, wo wir in kreisan- aber dumm sind sie nicht. ergeldern wie auch die unverhohlenen gehörigen Gemeinden gut aufgestellt Boykotte von Bürgerbegehren spre- sind, werden wir ebenfalls antreten – Für soziale Gerechtigkeit und chen eine deutliche Sprache. Mit Ta- im Kreis Recklinghausen zum Beispiel Demokratie vor Ort schenspielertricks wird die Öffentlich- in allen zehn Städten. Insgesamt wer- keit außen vor gelassen. Da gehören den es etwa 3.500 Kandidatinnen und Mehr als ein Jahr haben fast 200 Ge- zum Beispiel drei Prozent der Anteile Kandidaten sein, die für DIE LINKE zur nossinnen und Genossen am kommu- einer Wohnungsbaugesellschaft pri- Kommunalwahl 2009 antreten.1 nalpolitischen Rahmenwahlprogramm vaten Anteilseignern (Handwerksbe- der LINKEN gearbeitet. Der Landespar- triebe) und 97 Prozent der Stadt. Durch Unser Wahlziel: sieben Prozent teitag hat es als »Leitlinien zur Kom- die drei Prozent Fremdanteil ist die Öf- plus X munalwahl 2009« verabschiedet. Al- fentlichkeit ausgeschlossen. Selbst le Kreis- und Stadtverbände, in denen die Berichte des Ausschussvorsitzen- Unsere Wahlziele sind sieben Prozent ein Wahlantritt geplant ist, sind dabei, den (eines Ratsmitgliedes) hört nur, plus X im Bundesland und zehn Pro- eigene Kommunalwahlprogramme mit wer den nichtöffentlichen Teil von Rats- zent plus X in Ballungsräumen wie dem lokalen Schwerpunkten zu erstellen. und Ausschusssitzungen besuchen Ruhrgebiet. In der alten SPD-Hochburg Im November 2008 hat ein 20-köp- darf. Da ist man unter sich! bröckeln seit vielen Jahren die Mehr- figes Wahlkampfteam unter Leitung heiten – der einstigen »Arbeiterpartei« des ehrenamtlichen Landesgeschäfts- Dringende politische Vorhaben sind die Mitglieder und Wähler/innen führers Günter Blocks seine Arbeit auf- weggelaufen. Darüber wundert sich genommen. Dem Team gehören Mit- Arbeitslosenquoten von bis zu 20 Pro- eigentlich niemand, denn die frühere glieder des Landesvorstandes, Abge- zent in Ruhrgebiets-Großstädten, Ar- Rolle der SPD als Kümmererpartei, als ordnete aus NRW, regionale Vertreter/ mutsquoten von bis zu 50 Prozent in Netzwerk von den Falken über die IG innen der Kreisverbände, die Frauen- manchen Stadtteilen, Überalterung Bergbau, Chemie, Energie bis hin zum beauftragte des Landesverbandes so- mit einhergehender Altersarmut, ster- AWO-Seniorenheim ist hin. Die Orts- wie Vertreter/innen der Jugend- und bende Innenstädte und zerfallende In- vereine dümpeln inzwischen als in- Studierendenverbände an. frastruktur in den Vororten, Innovati-

KOMMUNAL DISPUT Februar 2009 016 onsstau im Bildungsbereich und, und, und deren Erledigung zu Löhnen, von KOMMENTIERT und! DIE LINKE wird damit beginnen denen man leben kann, muss eine vor- müssen, Notprogramme für die Ärms- dringliche Aufgabe der LINKEN sein. ten in den Städten zu entwickeln. Eines der wichtigsten Vorhaben ist DIE LINKE braucht Unterstützer/ das Sozialticket für den öffentlichen innen und jede erdenkliche Hilfe Personennahverkehr. Mobilität ist ein Grundrecht, das es einzufordern gilt, Auch achttausend Mitglieder kön- und zwar Mobilität für alle. Wenn man nen nicht den Personalbedarf decken, in seiner Nachbarschaft schon nicht den wir für die nächsten achtzehn Mo- Angesichts des äußerst bruta- len neonazistischen Überfalls auf zwei Reisegruppen aus Hessen und Nordrhein-Westfalen auf ei- ner Autobahnraststätte zwischen Gera und Jena betonte LINKE-Poli- tiker am 15. Febru- ar: »Hier zeigt sich das wahre Ge- sicht des Rechtsextremismus. Die- selben Neonazis, die in Dresden vermeintlich diszipliniert aufmar- schierten und die Medien glauben machen wollen, ihnen ginge es um Bombenopfer oder Meinungsfrei- heit, greifen auf der Rückfahrt Ge- gendemonstranten an und verlet- zen diese schwer.« Der Reisebus des DGB Mittel- hessen und der LINKEN Hessen sowie ein Reisebus aus Nordrhein-

© Norbert Arbeiter Westfalen waren auf der Rückrei- Gemeinsam für den Erhalt von Sozialberatungen: Mitglieder der LINKEN und des se von den Demonstrationen in Arbeitslosentreffs in Dorsten Dresden. Die Teilnehmer der Rei- segruppen wurden durch mehrere mehr zum Arzt gehen oder die nötigs- nate prognostizieren. Wir rechnen mit Neonazis angegriffen, die zuvor in ten Lebensmittel kaufen kann, dann 500 bis 600 MandatsträgerInnen in Dresden an dem rechtsextremen sollte wenigstens die Fahrt dorthin er- den Kommunen, darunter viele Frak- sogenannten Trauermarsch teil- schwinglich sein. tionsvorsitzende und stellvertretende nahmen. Mehrere Personen wur- Bürgermeister/innen. Jede Fraktion den verletzt. E inem Opfer wurde Suppenküchen als braucht Bürokräfte, wir werden Lei- nach Angaben der Kasseler Frie- Standortfaktor? tungsfunktionen in den Kommunen denskoordination die Schädel- besetzen, allein unser Einzug in den decke eingeschlagen, einem wei- Noch ist es nicht soweit, aber bald Landtag (im Mai 2010) erfordert einen teren Opfer wurden die Knieschei- könnte die Verteilungsdichte der Tafeln Bedarf von ca. 70 Abgeordneten und ben zertrümmert. e.V. zum Standortfaktor für verarmte FraktionsmitarbeiterInnen. Bodo Ramelow wünschte den Kommunen werden. Dabei könnte Und die Parteiarbeit darf nicht zu Betroffenen von ganzem Herzen ein zielgerichteter Mitteleinsatz für kurz kommen. Sie soll der politische rasche Genesung und ermutigte Beschäftigung, Nachfrage und Auf- Antrieb für alle sein. Die flächende- die GenossInnen und KollegInnen schwung sorgen. Doch die Kommunen ckende Infrastruktur aus Abgeordne- in Hessen und Nordrhein-Westfa- gebärden sich oft so, als würden wir tenbüros, Geschäftsstellen und haupt- len, angesichts dieser Nazigewalt in Wirtschaftswunderzeiten leben. In amtlichem Personal wird die Grundla- in ihrem Engagement nicht nach- Gladbeck beispielsweise werden der- ge unserer weiteren Verankerung in der zulassen. zeit 950.000 Euro für ein »Lutherfo- Gesellschaft sein. Denn Sozialismus Bodo Ramelow forderte die Po- rum« ausgegeben. 90 Prozent betra- geht nur mit den Menschen! lizei auf, schnell und nachdrück- gen die Zuschüsse der Stadt und des lich die Täter zu ermitteln. Für Landschaftsverbandes. Welchen wirt- Ralf Michalowsky ist den Politiker der LINKEN ist es je- schaftspolitischen Effekt die Teilreno- stellvertretender Landessprecher der doch unverständlich, dass ange- vierung einer leer stehenden und über- LINKEN in Nordrhein-Westfalen. sichts der Gefährdungslage an fl üssig gewordenen Kirche hat, weiß [email protected] diesem Tag die Raststätten nicht nur der Himmel. Aber Connections www.dielinke-nrw.de durch Polizeikräfte gesichert wa- müssen ja auch gepfl egt werden. ren. »Schon am Samstagvormit- Privatisierung findet weiterhin tag zeichnete sich ab, dass Demo- statt. Zunehmende Ausgliederung von 1 Nach Redaktionsschluss, am 18. Feb- kraten und Antifaschisten erheb- Dienstleistungen ist nicht so auffäl- ruar, verkündet das Landesverfassungs- lich gefährdet sind.« Ramelow lig wie die Verschacherung ganzer Be- gericht, ob der vorgesehene Wahltermin kündigt an, dass die Landtags- reiche. Hier müssen in den Kommunen am 7. Juni 2009 verschoben wird. Dann fraktion der LINKEN auch mit par- vor Ort Tendenzen beobachtet werden. würden die Kommunalwahlen an einem lamentarischen Anfragen diesen Die Re-Kommunalisierung von Arbeit Septembersonntag stattfi nden. Vorgang verfolgen wird.

170 DISPUT Februar 2009 Wahlkampf mit Herz Rheinland-Pfalz: Mindestens 100 Abgeordnete will DIE LINKE am 7. Juni in die Kommunalparlamente schicken Von Jochen Bülow

29 Kreis- und Stadtverbände mit knapp re persönlichen Probleme lösen sollen. nutzt Robert Drumm nur bedingt. Vor 1.700 Mitgliedern stehen vor der ersten Wir haben uns in den vergangenen Jah- Kurzem hing in seinem Kreisverband Bewährungsprobe: Am 7. Juni wählen ren dabei einige Glaubwürdigkeit erar- der Haussegen etwas schief: Einige die Rheinland-Pfälzerinnen und Rhein- beitet.« Mitglieder hatten Schwierigkeiten, sich land-Pfälzer für fünf Jahre neue Kom- Zehn Prozent plus X wollen Eschrich an satzungsgemäße Gepfl ogenheiten munalparlamente. Mindestens 100 und GenossInnen erkämpfen: »Vier zu halten, die Landesschiedskommis- linke Mandatsträger/innen soll es da- Mandate im Stadtrat sind das Ziel.« sion musste sich mit Einladungen und nach geben. Vor Ort arbeiten die Ge- Zwanzig Minuten nimmt sich Frank Widersprüchen beschäftigen. Jetzt aber nossInnen hart, um aus den Vorgaben Eschrich für unser Gespräch, dann will stehen die Wahllisten, und die Planung des Landesvorstandes politische Tat- er wieder »an die Front«. Weil mein für den Wahlkampf läuft auf vollen Tou- sachen zu machen. Laptop in seinem Büro steht, gehe ich ren. Als erfahrener Kommunalpolitiker »Einen Augenblick noch«, bittet mit. Schon einige Meter vor der Bürotür setzt Robert Drumm insbesondere auf Frank Eschrich, verdreht die Augen und hören wir das zornige Handy ... mehr Demokratie und direkte Mitbe- nimmt den Hörer des Telefons. »Der Knapp 60 Kilometer weiter nörd- stimmung der Bürgerinnen und Bürger. Stand ist seit Wochen genehmigt, da lich: Im Kreisverband Kusel ist Ro- »Wir wollen im Landkreis erste Schritte muss sich niemand drum kümmern. bert Drumm für den Wahlkampf ver- zu einem kommunalen Bürgerhaushalt Ihr müsst die Luftballons und Stellpla- antwortlich. Drumm ist ein erprob- gehen. Es kann nicht sein, dass die di- kate vorbereiten, die Genehmigung tes Schlachtross der Kommunalpolitik. rekte Demokratie beim Thema Finan- steht«, weist er den Anrufer kurz an- Lange Mitglied der SPD, trat er wegen zen aufhört«, nennt er eines der poli- gebunden in die Modalitäten eines ge- der von ihr verantworteten Kriegsbetei- tischen Alleinstellungsmerkmale der planten Informationsstandes ein. Wäh- ligungen aus und eroberte als Parteilo- LINKEN. Und um das »Interkulturelle rend er sich die Antwort anhört, fängt das Handy auf dem Tisch zornig an zu vibrieren ...

Glaubwürdigkeit erarbeitet Eine Viertelstunde später haben wir uns in ein nahes Stehcafé verkrümelt, vermutlich schellt das Telefon in Franks Büro seitdem unerhört und ununter- brochen. »Wahlkampf in Pirmasens ist Wahlkampf im Armenhaus von Rhein- land-Pfalz«, bringt Eschrich die Lage seiner Heimat auf den Punkt. »Jedes dritte Kind lebt unter Hartz IV. Wir ha- ben mit rund 15 Prozent die höchste Ar- beitslosenquote, die meisten Zwangs- versteigerungen, das geringste Pro- Kopf-Einkommen und deswegen jede Menge soziale Probleme«, skizziert der Gründer des Kreisverbandes und am- tierende Kreisvorsitzende die Situati- on. Doch Kommunalpolitik, so Eschrich, LINKE. Rheinland-Pfalz © DIE sei nicht machtlos. »Wir fordern eine Handy am Ohr, Wahlkampf im Blick: Frank Eschrich in Pirmasens kommunale Schulbeihilfe, gebühren- freie Kinderbetreuung und ein kosten- ser das Amt des Ortsbürgermeisters in Kompetenzzentrum Rheinland-Pfalz loses Mittagessen für alle Kinder. Die Ruthweiler. Seit seinem Eintritt in DIE Kusel GmbH« (Ikoku) wollen sich die Armut der Kinder ist vor allem die Ar- LINKE macht er immer wieder bundes- GenossInnen auch kümmern. Das Iko- mut der Eltern. Ein großes Problem sind weit Schlagzeilen als einziger rheinland- ku machte mit dubiosen Arbeitsver- die ständig steigenden Energiekosten. pfälzischer LINKER in kommunaler Ver- mittlungen nach Spanien Schlagzeilen. Wir fordern Sozialtarife für Strom und antwortung. So stimmt das zwar nicht Viele ALG-II-Empfänger/innen brachen andere Energieformen«, nennt er wich- ganz – mit dem Reichenbach-Stegener aus Kusel in Richtung vermeintlicher tige Punkte des Kommunalwahlpro- Bundestagsabgeordneten und Gemein- Arbeitsstellen in Spanien auf. Dort an- gramms. Nach seinen Worten ist das derat Alexander Ulrich gibt es einen gekommen, stellte sich das Vermitt- Echo bei den öffentlichen Veranstaltun- weiteren kommunalen Mandatsträger – lungsangebot jedoch vielfach als Flop gen positiv: »Die Leute haben verstan- , aber so genau nehmen es die Presse- heraus. Die Betroffenen wurden zwar den, dass wir Angebote machen, die ih- leute meistens nicht. Seine Prominenz inzwischen vom Landkreis Kusel ent-

KOMMUNAL DISPUT Februar 2009 018 schädigt, dennoch sieht DIE LINKE hier stehen«, beschreibt Heribert Schirm dringenden Handlungsbedarf. »Wir for- den Unterschied zu Europa- und Bun- dern Mitbestimmung und Betroffenen- destagswahlen. Der Aufbau der Partei Ich abonniere beiräte für die ARGE in Kusel und die liegt ihm am Herzen: »Die Kommunal- weiteren an der Arbeitsvermittlung be- wahlen sind deshalb so wichtig, weil DISPUT teiligten Trägergesellschaften. Der Iko- sie die Partei zusammenschweißen. ku-Skandal darf sich nicht wiederho- Die Mandatsträger werden die Partei len«, sagt Robert Drumm und setzt bei stabilisieren. Nach den Wahlen wird es den Kommunalwahlen ganz auf Bürger- nicht mehr so sein wie vorher.« nähe und örtliche Präsenz. Geplant ist In der Landeshauptstadt Mainz geht ein umfassender Straßenwahlkampf ein Gespenst um, schreibt die Frank- mit Infoständen, Verteilaktionen und furter Rundschau-Online: »Egal ob im Name, Vorname Bürgergesprächen. »In unserer ländlich Stadtrat oder auf Sitzungen von Verbän- geprägten Gegend kommt es vor allem den – im Hintergrund sitzt es und hört auf den direkten Kontakt mit den Wäh- zu. Die Rede ist von den Mainzer Lin- Straße, Hausnummer lerinnen und Wählern an. Großveran- ken. Mit der Kommunalwahl am 7. Ju- staltungen sind dafür weniger geeignet. ni werden sie voraussichtlich erstmals Deshalb werden wir uns auf den Stra- ins Stadtparlament einziehen. Vertreter PLZ, Ort ßenwahlkampf konzentrieren«, verrät anderer Parteien trauen ihnen mehr als Robert Drumm von den Wahlkampfpla- fünf der 60 Sitze zu.« nungen. »Das sind ganz nette Vorschuss- Ich bestelle ab sofort Exemplar(e) lorbeeren«, fi ndet Dieter Hofem, der der Zeitschrift DISPUT im Mainzer Kreisvorsitzende und Spitzen- Die Motivation stimmt kandidat. Aber Dieter Hofem ist klar, Halbjahresabonnement zum Preis von Zehn Zentimeter hoch liegt der Schnee dass Prognosen noch kein Wahlergeb- 12,00 Euro inkl. Versandkosten schon auf dem Pausenhof der Grund- nis sind. Und er weiß, dass die Medien schule in Engers, einem Stadtteil von am Wahlabend besonders auf das Er- Jahresabonnement zum Preis von Neuwied. Mitglieder des Kreisver- gebnis in Mainz schauen werden. Des- 21,60 Euro inkl. Versandkosten bandes stecken in einer zugigen Aula wegen ackern die Mainzer zielstrebig die Köpfe zusammen und planen den ihr Wahlkampfkonzept ab. Den Schwer- und nutze den vorteilhaften Bankeinzug Wahlkampf und dessen Themen. Die punkt nimmt dabei die von der LINKEN Wahllisten sind aufgestellt, die Kan- so bezeichnete Mainz AG ein. Gemeint didatInnen werden auf die verschie- ist die schleichende und immer weiter denen Verbandsgemeinden verteilt: fortschreitende Privatisierung der öf- Geldinstitut Plakate sind aufzuhängen, regelmä- fentlichen Verwaltung. Die Folge der von ßig zu überprüfen, und die Flyer sol- allen im Stadtrat getragenen »Enteig- len auch in möglichst vielen Briefkäs- nungspolitik« ist der Verlust von Trans- Bankleitzahl ten landen. Das wird kein Zuckerschle- parenz und parlamentarischer Kontrol- cken in einem so großen Kreisgebiet le sowie eine geradezu manische Über- und mit einer überschaubaren Zahl von schuldungsstrategie, die dem Stadtrat Aktiven. »Klar, das ist ein Kraftakt. Das alle Handlungsspielräume raubt. »Was Kontonummer schaffen wir nur, wenn wirklich mög- hier geschieht, ist die Vorbereitung ei- lichst alle ihren Teil beitragen«, stellt ner Weltwirtschaftskrise im städtischen oder Heribert Schirm, aktiver Gewerkschaf- Haushalt«, schimpft Hofem über die ter und Vorsitzender im Kreisverband »Meenzer Hondkees-Mafi a«, der Hand- bitte um Rechnungslegung (gegen Neuwied, fest. käse-Mafi a. Die hat ein undurchschau- Gebühr) an meine Adresse. Zuversichtlich ist er, dass der Wahl- bares Gefl echt von privatisierten Un- antritt ein Erfolg wird. »Wir hatten im ternehmen entstehen lassen, und das vergangenen Jahr eine Oberbürger- wollen die LINKEN nicht weiter wuchern meisterwahl in Neuwied, und unser lassen: »Wenn schon viele Privatisie- Das Abonnement verlängert sich automatisch um den angegebenen Zeitraum zum gültigen Bezugszeitraum, Kandidat hat, obwohl völlig chancenlos, rungen nicht mehr rückgängig zu ma- falls ich nicht 15 Tage (Poststempel) vor dessen Ablauf gut fünf Prozent der Stimmen bekom- chen sind, dann wollen wir zumindest schriftlich kündige. men. Das ist bei einer reinen Personen- das weitere Verschleudern öffentlichen wahl ein tolles Ergebnis – und wir wer- Eigentums verhindern.« den es bei den Kommunalwahlen noch Rund drei Dutzend Aktive wollen vor übertreffen«, meint Heribert Schirm. allem im Face-to-Face-Wahlkampf den Datum, 1. Unterschrift Er ist sicher, und darin sind sich alle Kontakt mit den Wählerinnen und Wäh-

Kreisvorsitzenden einig: Die Motivation lern suchen. »Plakate und Stellwände Ich habe zur Kenntnis genommen, dass ich die Bestellung stimmt. »Es geht ja um die Politik vor sind eine tolle Sache. Aber viel wich- innerhalb von 10 Tagen widerrufen kann. Ort. Um das, was wir selber täglich er- tiger ist es, die Menschen persönlich Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung des leben und was wir auch ändern können. anzusprechen. Wir werden einen Wahl- Widerrufs. Das ist ein Vorteil gegenüber einer Bun- kampf mit Herz machen – und das destagswahl, die sich irgendwie immer Herz schlägt links!«, verspricht Dieter ein bisschen in der Ferne abspielt. Bei Hofem. Datum, 2. Unterschrift

Kommunalwahlen ist das auch deshalb Coupon bitte senden an: Parteivorstand DIE LINKE, anders, weil viele Kandidatinnen und [email protected] Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin Kandidaten im eigenen Wahlkampf www.die-linke-rheinland-pfalz.de Bestellungen auch möglich unter: www.die-linke.de

190 DISPUT Februar 2009 Mach mit, misch dich ein! Der Aktivierungswahlkampf verlangt viel, er verspricht aber auch viel für die Zukunft der Partei Von Lars Kleba und Luigi Wolf

Wir hatten als LINKE mit dem Wieder- Impulse geben. Wir werben daher ge- wurden, die sie in ihrer Nachbarschaft einzug in den hessischen Landtag ei- zielt für aktives Engagement für die ei- verteilen wollen. nen erfolgreichen Start. Dieses Ergeb- genen Interessen, natürlich auch über Die Wahlen bedeuten für diese nis kommt aber nicht von ungefähr. In den Wahltag hinaus. Unsere Mitglied- Menschen eine Phase intensiver ge- den Wochen vor der Wahl zeigten wir schaft und noch mehr unsere Wähler- sellschaftlicher Auseinandersetzung kein vollständig geschlossenes Bild. In- schaft stellen ein riesiges Potenzial für über die Zukunft ihres Landes. Da wer- nerparteiliche Auseinandersetzungen, einen sehr aktiven Wahlkampf dar. den sie in die Debatte eingreifen und der Austritt von Mitgliedern und kri- Nehmen wir Nordrhein-Westfalen: selbst Wahlkampf machen wollen. Sie tische Stimmen zur strategischen Aus- Dort werden uns für die Bundestags- werden mit ihren KollegInnen, Freun- richtung der Partei bzw. den Machtver- wahlen bei Umfragen über neun Pro- dInnen und Familienangehörigen dis- hältnissen wurden in der hessischen zent (972.000 Wähler/innen) prognos- kutieren. Der Wahlkampf könnte sie Regionalpresse und in überregionalen tiziert. Dieser möglichen Wählerschaft in Bewegung setzen. Sie könnten der Medien thematisiert. Doch direkt vor steht eine Mitgliedschaft von aktuell kommunikative und handelnde Aktiv- Ort erlebten wir einen gut organisier- 8.000 Mitgliedern gegenüber. Auf ein posten des Wahlkampfes sein – wenn ten und praktischen Wahlkampf, der Mitglied kämen 121 Wähler/innen. Im sie denn angesprochen werden und die von unseren Mitgliedern und Sympha- historischen Vergleich ist das sehr un- Möglichkeit dazu bekommen. tisantInnen getragen wurde. An den gewöhnlich. Üblicherweise zeichneten Laternen hingen Plakate, und während sich linke Parteien immer durch eine Über den Wahltag hinaus wir Flyer in Briefkästen verteilten, stan- hohe Anzahl Mitglieder pro Wähler/in den die GenossInnen des Kreises am aus. Wir stehen vor der enormen Her- Diese Möglichkeiten werden in den ers- Infostand auf dem örtlichen Markt. Al- ausforderung, mit 8.000 Mitgliedern ten Kreisverbänden geboten und ge- les bekannte Wahlkampfformen. Sie eine um ein Vielfaches größere poten- nutzt. Und auch die ersten Direktkan- wirkten, trotz Presseignoranz. In Frank- zielle Wählerschaft zu erreichen. Ande- didatInnen scharen um sich ihre Ver- furt am Main arbeiteten einige schon rerseits bedeutet dies aber auch ein en- bündeten weit über Parteigrenzen hin- mit einem neuen Element des Wahl- ormes Potenzial. Denn wer sind denn aus. Viele Dinge, die wir hier anwenden, kampfes. Für Mario Wolf, dem 25jäh- diese 972.000 Menschen in NRW, die sind nicht neu und praktizieren wir teil- rigen Wahlkampfleiter in der hes- vorhaben, uns zu wählen? Viele von ih- weise schon. Aufgaben gibt es genug. sischen Bankenmetropole, setzte der nen sind bereits jetzt aktive Wahlkämp- Gemeinsam werden wir zeigen, dass Aktivierungswahlkampf einiges in Be- fer/innen – nur eben ohne es zu wis- Wahlkämpfe nicht zu rein medialen Er- wegung: »Wir hatten in der Endpha- sen: Sie sind Elternvertreter/innen, Er- eignissen verkommen werden, sondern se so viele aktive Wahlkämpfer/innen werbslose, Betriebsräte oder Klassen- dass sie durch den klassischen Stra- wie noch nie – und das, obwohl wir den sprecher/innen, die in ihrem Umfeld ßen- bzw. Basiswahlkampf gewonnen vierten Wahlkampf in Folge machen tätig sind. All diese Menschen sind werden können. Unsere Stärke sind un- mussten und die politische Gesamtla- Kommunikations-ExpertInnen. sere Mitglieder und unsere Sympathi- ge in und außerhalb der Partei nicht ge- Und das Konzept funktioniert. Seit santInnen. Sie sind auch der Schlüssel rade einfach war.« Beginn des Jahres haben sich schon für unsere Wahlkampagne, welche die über 850 Menschen für DIE LINKE ak- Basis nutzt und ausweitet. Sie ist nur tiviert. Dabei wird klar, welche span- schwer aus der Bahn zu werfen. Begeistert und mit eigenen Ideen nenden MultiplikatorInnen in unserer Gleichzeitig ist dies der Grundstein Mario versuchte als Erster, Methoden Mitgliedschaft schlummern. Menschen, für eine nachhaltige Organisations- des Aktivierungswahlkampfes syste- die konkrete Aufgaben im Wahlkampf entwicklung über den Wahltag hin- matisch anzuwenden. Mit Erfolg. Ein für DIE LINKE übernehmen wollen und aus. Denn wenn wir unsere Inhalte im Beitrag lag darin, viele Parteimitglieder, schon jetzt weitere Unterstützer/innen Wahlkampf aktiv verbreiten und neue aber auch Nicht-Mitglieder zu Wahl- aus ihrem Umfeld, Freunde, Verwand- Kontakte knüpfen, legen wir damit die kampfaktivistInnen gemacht zu haben. te und KollegInnen ansprechen werden Grundlage für den weiteren nachhal- So hatte Mario ein Aktivierungsformu- und diese ebenfalls für einen Wahl- tigen Aufbau unserer Partei. Die Ener- lar entworfen und für den Wahlkampf kampf begeistern können. Besonders gie, die im Wahlkampf in die Mitglied- genutzt (jetzt wird es in ähnlicher Form interessant ist, dass viele Mitglieder schaft und die Gewinnung und Aktivie- bundesweit eingesetzt). Jene, die sich das Feld für eigene Ideen auch nutzen. rung der Wählerschaft gesteckt wird, daraufhin meldeten, motivierten dann Da gibt es zum Beispiel den Taxifahrer, kann nach dem Wahlkampf in Form natürlich ihrerseits die mitunter bereits der ein »LINKE-Fähnchen« für sein Auto von stärkeren Strukturen vor Ort ver- ausgepowerten Wahlkämpfer/innen. sucht, und den Besitzer eines Ladens, vielfacht werden. Wir wollen im Wahlkampf neue Ak- der bei sich gern Wahlzeitungen ausle- zente setzen, den traditionellen Wahl- gen will. Dass diese Menschen schon Lars Kleba und Luigi Wolf sind kampfi nstrumenten ein neues hinzu- jetzt loslegen wollen, zeigt sich unter Mitarbeiter im WahlQuartier und dort für fügen und ihm durch eine möglichst anderem daran, dass von den rund 500 Aktivierung/Mobilisierung zuständig. große Aktivierung unserer Mitglieder AktivistInnen, die sich per Post gemel- [email protected] und SympathisantInnen zusätzliche det haben, 50.000 Zeitungen bestellt [email protected]

WAHLKAMPF DISPUT Februar 2009 020 Hier bin ich. Ich mache mit Ich möchte im Wahlkampf aktiv werden und meine Ideen, beim mein Engagement und mein Wissen einbringen. Gern können mich die Wahlkampf-Aktiv-Teams vor Ort oder Wahlkampf 2009! auf Bundesebene über Wahlkampfaktivitäten informieren.

Vorname, Name Straße

Postleitzahl Ort

Telefon/Festnetz Telefon/Mobil

E-Mail-Adresse Beruf/Tätigkeit

Datum, Ort Unterschrift

Ich möchte …

beim Plakatieren helfen.

Zeitungen in meiner Nachbarschaft verteilen. Bitte schickt mir: 50 100 200 400 Zeitungen.

bei großen Verteilaktionen helfen.

allein/mit anderen auf einem Wochenmarkt/auf öffentlichen Plätzen etc. für DIE LINKE Flugblätter/ Zeitungen verteilen.

bei Infoständen mitmachen.

vor einer Schule/Berufsschule/Universität für DIE LINKE Flugblätter/Zeitungen verteilen.

vor dem (Groß)Betrieb in meiner Nachbarschaft oder in der Nähe meines Arbeitsplatzes für DIE LINKE Fluglätter/Zeitungen verteilen.

Wann? Das Formular bitte ausschneiden und Ich habe Zeit … per Fax an immer abends früh (eher) am Wochenende (eher) in der Woche. (030) 24 00 95 41 oder per Post an DIE LINKE Kleine Alexander- Auto? straße 28 Ich habe einen Führerschein. 10178 Berlin schicken. Ich besitze ein Auto und wäre auch bereit, dieses für den Wahlkampf einzusetzen.

21 Online auf drei Säulen DIE LINKE ist im Internet dort vertreten, wo sich Menschen für Politik interessieren und mit der Partei in Kontakt treten wollen Von Mark Seibert

An Barack Obama kommt man als Wahl- Die Online-Kampagne der LINKEN online vorgenommen hat, ist zwar um- kämpfer/in in diesem Jahr nicht vor- steht auf drei Säulen. Mitte Januar wur- fangreich, konzentriert sich aber ledig- bei. Dem US-Präsidenten ist in seinem de erstens die Website der LINKEN lich auf einen Teil dessen, was »Web Wahlkampf offenbar gelungen, was al- (www.die-linke.de) behutsam überar- 2.0« an Möglichkeiten bietet. Die Aus- le anderen auch gerne schaffen wür- beitet. Sie bietet den NutzerInnen zu- wahl der Instrumente orientierte sich den: Eingeschworene Nichtwähler/in- sätzlich zum bisherigen Angebot mehr daran, ob sie nützlich und authentisch nen begeisterten sich plötzlich ebenso redaktionell betreute und auch mul- sind. So nutzen wir nur solche Diens- für Obamas Präsidentschaftskampag- timediale Inhalte wie die Video-Serie te, die direkte Kommunikation verein- ne wie junge Menschen sich politisier- »60plus«, in der jeden Freitag Politike- fachen oder ermöglichen. Man kann ten und für »ihren« Kandidaten Klinken rinnen und Politiker der LINKEN in 60 auch sagen: DIE LINKE ist im Internet putzten. Ein wenig Obama-Feeling hät- Sekunden Stellung zu aktuellen poli- dort vertreten, wo sich Menschen für ten auch die deutschen Parteien gerne tischen Themen nehmen. Die Website Politik interessieren und mit der Partei in ihrer Wahlkampagne. www.die-linke.de ist sozusagen ein in Kontakt treten wollen. Hubertus Heil, Generalsekretär der Basisangebot, das einlädt, sich mittels Das zweite Kriterium, Authentizität, SPD, versuchte es beispielsweise, in- Audio, Video, Foto und Text über die ist ebenso wichtig. Damit beschreiten dem er die Teilnehmer einer Konferenz Partei und ihre Politik zu informieren. wir einen anderen Weg als beispiels- seiner Partei zu rhythmischen »Yes we Zweitens startete DIE LINKE eben- weise die SPD, die, wie eingangs er- can«-Rufen aufforderte – und sich bla- falls bereits Mitte Januar ihre Depen- wähnt, manchmal den Obama-Wahl- mierte. Darüber hinaus wollen alle Par- dancen bei verschiedenen Online- kampf abkupfert, indem sie ihre Ge- teien neue Medien in ihre Kampag- Diensten. So können Interessierte sich nossInnen »Yes we can« rufen lässt. nen einbauen. Es wird getwittert und gebloggt, bei Youtube gibt es Videos, Online-Communities werden von vir- tuellen Infoständen belagert. Parteien haben für sich das entdeckt, was man »partizipatives Internet« oder »Web 2.0« nennt. Gemeint sind damit Online- Angebote, die von den BenutzerInnen nicht nur passiv konsumiert werden, sondern die es ermöglichen, Inhalte wie Texte, Fotos, Videos oder Audio-Da- teien selbst herzustellen, zu veröffent- lichen, miteinander zu verknüpfen, zu- sammenzuführen, zu diskutieren.

Den Kampagnenmachern in deut- Schwarz © Frank schen Parteizentralen ist dieses »Web Bitte recht freundlich! Das Wahlquartier in Berlin hat seine Arbeit begonnen 2.0« oft noch suspekt. Wenn statt der RedakteurInnen die Nutzer/innen selbst Videos der LINKEN bei Youtube nicht Die Blamage war groß, weil dabei bloß Inhalte erstellen, verbreiten und disku- bloß anschauen und abonnieren, son- ein »No we can’t« herauskam. Oder wie tieren, bedeutet das für die Parteien Ver- dern sie auch kommentieren oder auf Thorsten Schäfer-Gümbel, der nach der lust von Kontrolle. DIE LINKE wird sich anderen Homepages anzeigen. Bei Hessen-Wahl viel Vertrauen verspielte, auf das Experiment einlassen und ihre den Online-Communities Facebook als herauskam, dass seine Beiträge Online-Aktivitäten ausweiten. Die Ein- und Myspace ist DIE LINKE mit eigenen bei dem Online-Dienst Twitter nicht beziehung der Nutzer/innen und die di- Seiten und Profi len vertreten und dis- aus seiner Feder stammen, sondern rekte Kommunikation auf Augenhöhe kutiert mit den Web-Gemeinschaften aus der eines PR-Mannes der Internet- ist nicht nur ein kommunikatives Risi- über Politik, informiert über Veranstal- Agentur Barracuda. ko. Viel mehr besteht die Chance, Kom- tungen und sammelt vor allem Unter- Derlei Blamagen sind bei der LIN- munikation zu demokratisieren, indem stützerinnen und Unterstützer für DIE KEN ausgeschlossen. Wo DIE LINKE jede und jeder, die oder der will, mitre- LINKE und den Wahlkampf. draufsteht, ist auch DIE LINKE drin. Das den und mitmischen darf. Vor allem er- An der dritten Säule der Online-Kam- gilt online wie auch offl ine. reichen Blogs oder Communities viele pagne wird noch fl eißig gearbeitet. Im Menschen, die sich nicht allein per Zei- April wird DIE LINKE eine eigene Online- tung oder Rundfunk über Politik infor- Community starten. Dort können sich DIE LINKE bei youtube: mieren wollen. »Web 2.0« heißt, Infor- Mitglieder und Freunde der LINKEN regis- www.youtube.com/dielinke mationen gestalten, selbst verbreiten trieren, sich mit Gleichgesinnten vernet- DIE LINKE bei Flickr: und so bei der Kampagne mitmischen. zen, Wahlkampfaktionen organisieren, www.fl ickr.com/photos/die_linke/ Das hört sich gut an und passt zum poli- Fotogalerien anlegen und vieles mehr. DIE LINKE bei Myspace: tischen Anspruch, den DIE LINKE vertritt. Das Programm, das sich DIE LINKE www.myspace.de/die_linke

WAHLKAMPF DISPUT Februar 2009 022 Geschichte, die verbindet Vor der Konferenz »60 Jahre Grundgesetz – offen für eine neue soziale Idee« am 6. und 7. März 2009 in Leipzig Von Halina Wawzyniak

Die »Wende« oder die »friedliche Revo- schaft war und ist. Was haben wir in zialismus« und Robert Misik (Journalist lution« beherrscht das Jahr 2009. Doch diesem Kampf erreicht? Wo haben wir und politischer Schriftsteller, Bruno- es gibt nicht nur diesen Jahrestag. Die falsch gelegen? Welche Fragen sind für Kreisky-Preis 1999 und 2000, Österrei- Betrachtung der Ereignisse von 1989 eine emanzipatorische Linke noch un- chischer Staatspreis für Kulturpublizis- droht, die anderen historischen Ereig- geklärt? Was wollen wir in Zukunft ver- tik 2008) zum Thema »Die Linke und nisse in den Hintergrund zu drängen. ändern? All diese Fragen sollen Gegen- die Freiheit – kritische Bestandsaufnah- Dabei sind sie nicht weniger bedeut- stand der Konferenz: »60 Jahre Grund- me« debattieren. sam für die Entwicklung der Bundes- gesetz – offen für eine neue soziale Am Samstag (7. März) diskutieren republik Deutschland und die Entwick- Idee« am 6. und 7. März 2009 in Leip- Wolfang Neskovic zum Thema »Das lung linker Politik: Vor 90 Jahren trat zig sein. Grundgesetz und der Sozialstaat« und die erste republikanische Verfassung Die Partei DIE LINKE wirkt als Mit- Marcus Hawel zur Demokratiekonzepti- in Deutschland in Kraft. Vor 70 Jahren glied der Partei der Europäischen Lin- on des Grundgesetzes. Am Nachmittag überfi el Nazi-Deutschland Polen. Vor 60 ken in Europa und sie wirkt in der Bun- wird es unter dem Motto »1989 – Her- Jahren, am 23. Mai, wurde das Grund- desrepublik Deutschland. Die Europä- ausforderung, Niederlage oder hoff- gesetz verkündet, vor 60 Jahren im ische Union hat noch keine Verfassung. nungsloser Fall – welche Erfahrungen September konstituierten sich der ers- DIE LINKE will die Bundesrepublik ver- und Vorschläge sind heute noch aktu- te Deutsche Bundestag und der Bun- ändern und auch die neoliberale Poli- ell« mit Dieter Segert, Dieter Klein und desrat, wurden der erste Bundeskanz- tik in Europa überwinden. Was gibt das Joachim Perels spannend. Wir wollen ler und der erste Bundespräsident ge- Grundgesetz für eine solche Verände- die Konferenz dokumentieren, freuen wählt. Und vor 60 Jahren gründete sich rung her? Was gab es her, bevor es von uns zugleich über jeden Besucher und die Deutsche Demokratische Republik. den etablierten Parteien der Alt-BRD ge- jede Besucherin. Wir wissen um die Vor 20 Jahren begann der Anfang vom schleift wurde, und was kann eine lin- Schwäche, nur männliche Referenten Ende der DDR. ke Kraft aus den Erfahrungen von 1989 bieten zu können, vielleicht ein Hin- Schon dies zeigt: Das Jahr 2009 bie- lernen, um das Grundgesetz für demo- weis darauf, dass auch die Frage der tet die Möglichkeit, die Geschichte der kratisch-sozialistische Veränderungen gleichen Rechte und Chancen für Män- LINKEN in Ost und West miteinander zu zu nutzen? Muss das Grundgesetz er- ner und Frauen diskutiert gehört, insbe- verbinden. Und wer kann das besser als weitert und verändert werden? – Dar- sondere im Bereich der Wissenschaft. die jüngste Partei Deutschlands, unse- über wollen wir diskutieren, um die Er- Für uns ist 1989/90 nicht das En- re Partei DIE LINKE? gebnisse auch für eine Debatte für ei- de der Geschichte, im Gegenteil: Dies Vor 20 Jahren benannte sich die SED ne europäische Verfassung verwenden war die Zeit des Aufbruchs und neuer in SED-PDS und schließlich PDS um. Da- zu können. Hoffnung für die Verwirklichung sozi- mit machte sich eine unserer Quellpar- Im Mittelpunkt soll dabei die Frage aler und emanzipatorischer Lebensbe- teien auf den Weg von der Staatspar- stehen, welche Fortschritte für die de- dingungen. Dass diese Hoffnungen wei- tei zur emanzipatorischen linken Par- mokratischen und sozialen Rechte der testgehend unerfüllt blieben, hat mehr tei. Wir in der Partei DIE LINKE haben großen Mehrheit der Bevölkerung, für mit der alten Bundesrepublik zu tun unsere Wurzeln aber nicht allein in der die Verbesserung ihrer Lebensverhält- als mit der alten DDR. Bei aller notwen- SED, wir kommen auch aus einem brei- nisse erreicht wurden. Dies muss sich digen Kritik an der DDR und dem Staats- ten Spektrum der Linken West. Dieses das Grundgesetz fragen lassen, dies sozialismus ist eines entscheidend: Es reicht von der Sozialdemokratie bis hin muss sich die praktische Politik in der ist heute notwendiger denn je, für ei- zu diversen K-Gruppen und außerparla- Bundesrepublik fragen lassen, dies nen demokratischen Sozialismus ein- mentarischen Linken. muss sich die DDR-Verfassung und die zutreten. Demokratischer Sozialismus DIE LINKE ist damit eine Partei mit ei- DDR-Realität fragen lassen. Es geht ist nicht Rückkehr zur DDR, demokra- ner langen und großen Geschichte. Die- nicht um einen Vergleich nach den Kri- tischer Sozialismus bedeutet: Die Wür- se Geschichte ist widersprüchlich, und terien »gut« und »schlecht«, es geht um de des Menschen ist unantastbar, Ei- dennoch lässt sich aus ihr vieles für die eigene Ansprüche von Linken an Gesell- gentum verpfl ichtet und die Verpfl ich- Zukunft ableiten. Wir stehen in der Tra- schaften. tung zum Sozialstaat. dition der Arbeiterbewegung und ihres Auf unserer Konferenz werden wir in- Kampfes für die demokratische und so- teressante Debattenbeiträge haben, da- Halina Wawzyniak ist stellvertretende ziale Emanzipation der Arbeiterklasse für sprechen die Referenten. Am Freitag Parteivorsitzende. der letzten hundertfünfzig Jahre. Wir (6. März) werden unter der Überschrift [email protected] stehen in der Tradition von Gewerk- »Am Beginn des 21. Jahrhunderts – Die schaften, anderen emanzipatorischen Wurzeln der Linken oder Was bleibt vom Anmeldungen bitte an: Bewegungen und politischen Parteien Sozialismus des 20. Jahrhunderts?« Lu- Bundesgeschäftsstelle Partei DIE LINKE der vergangenen anderthalb Jahrhun- ciano Canfora (Professor für griechische zu Händen Silke Bartsch derte, deren Kernanliegen die Durch- und lateinische Philologie in Bari, Her- Kleine Alexanderstraße 28 setzung und Behauptung der gleichen ausgeber des geschichtswissenschaft- 10178 Berlin sozialen und demokratischen Rechte lichen Fachjournals »Quaderni di Sto- Telefon: (030) 24 00 93 20 aller in einer demokratischen Gesell- ria«) zum Thema »Demokratie und So- [email protected]

230 DISPUT Februar 2009 GESELLSCHAFT Berlin, Schönhauser Allee, fotografi ert von Erich Wehnert

DISPUT Februar 2009 024 WINTER 2009

rei Bankautomaten spucken Kohle aus. Allerdings nur, D wenn man vorher welche gebunkert hat. Auf dem Fußboden vor der Hei- zung liegen zwei »arme Hunde«. Deren Konto ist seit Langem leer. Man weiß, wie das geht: Der Be- trieb macht Pleite, ein neuer Job ist nicht in Sicht, der Schnaps soll trösten, die Frau schließt die Tür zu, die Obdachlosen kriegen Zu- wachs. In Berlin sind es 8.000. Die könnten alle Bankfi lialen be- setzen! Aber das riecht nach Ter- rorismus. Dann käme die Polizei. Ordnung muss sein! Doch was für eine Ordnung ist das? Die Übernachtung des Ob- dachlosen in der Bankhalle ist Notwehr gegen die soziale und saisonale Kälte. Der Mann, der nichts verdient, verdient eigent- lich ein Verdienstkreuz, weil er in- mitten der Vertrauenskrise der Banken beweist, dass das ge- meinnützige Einrichtungen sind. Das sind sie aber nicht, wie man inzwischen weiß. Sie schä- digen im Rudel das Gemeinwohl. Sie haben zwar fl eißige Angestell- te, aber die handeln mit faulen Wertpapieren. Der Fußboden ist blitzblanker Marmor, aber die Mo- ral der Vorstände ist dreckige Gier. Sie haben die Banken zu Spielca- sinos gemacht und das Geld ih- rer Kundschaft verzockt. Was der Staat zur Sanierung bereitstellen muss, ist die Jahresleistung des ganzen Landes. Zahlen müssen die Bürger, ihre Kinder und Enkel. Das ist Geiselhaft, eine Spielart des Terrorismus! Und der kommt von oben, nicht von dem Mann da unten. Lasst ihn ausschlafen. Aber besser wäre, wenn alle aufwa- chen würden. Denn die Banken- krise erweist sich als Systemkrise. Die heilige Marktwirtschaft wurde zum faulenden Wertpapier. Jens Jansen

25 0 DISPUT Februar 2009 Klasse mit Kasse? Wieso DIE LINKE für die Überwindung von Privatschulen sein sollte … Von Fabian Bünnemann und Niema Movassat

Etwa sieben Prozent der Schüler/innen Eltern abhängen. Wir dürfen nicht zu- Mei-Pochtler gefragt, ob man mit Schu- in Deutschland besuchen Privatschu- lassen, dass geschäftliche Interessen len Geld verdienen dürfe. Sie antwor- len, Schulen, die sich nicht in staatli- die pädagogischen und sozialen Inter- tete: »Wieso nicht?«. Mei-Pochtler ist cher, sondern in freier Trägerschaft be- essen verdrängen oder dominieren. Seniorpartnerin der Boston Consul- fi nden. Der höchste Anteil ist mit 11,4 ting Group, einer der weltweit größten Prozent in Sachsen, der niedrigste in Einfl uss von Schulträgern auf Unternehmensberatungen. Sie gehört Schleswig-Holstein mit 3,3 Prozent zu Schüler/innen dem Investorenkreis der Phorms-AG, verzeichnen. Dies geht aus einer Ant- deren Prinzip vorsieht, dass alle Schu- wort der Bundesregierung auf eine klei- Träger von Privatschulen sind meistens len als gemeinnützige GmbHs fungie- ne Anfrage der Bundestagsfraktion DIE kirchliche Organisationen, 80 Prozent ren, also keine Gewinne erwirtschaften. LINKE. hervor. Damit sind Privatschu- dieser Schulen werden von der evan- Die Phorms-AG erzielt ihre Einnahmen len ein zahlenmäßig bedeutender Teil gelischen oder katholischen Kirche ge- über Dienstleistungen, die die einzel- des deutschen Schulsystems, und der führt. Träger sind aber auch Vereine, nen Phorms-Schulen von ihr beziehen. Anteil an SchülerInnen hier nimmt ste- Gesellschaften und sonstige Privatper- Das Schulgeld bei ihnen liegt bei 200 tig zu. Statistisch gesehen entstehen je- sonen. bis 900 Euro im Monat. Auch sonst de Woche ein bis zwei neue privat be- Zwar gibt es staatliche Vorgaben, sind von den Eltern horrende Summen triebene Schulen. Dies gibt Grund, sich dennoch besteht eine weitgehen- zu begleichen, wenn ihr Kind in den Ge- damit zu beschäftigen, was in einem de Unabhängigkeit und Freiheit. Die- nuss der vermeintlich besseren Bildung emanzipatorischen, von der LINKEN ge- se Freiheit kann sich durchaus positiv kommen soll. forderten Schulsystem aus diesen wer- äußern, beispielsweise in fortschritt- Wenn aber Bildung Geld kostet, ja den soll. licheren pädagogischen Konzepten sogar damit Geld verdient wird, soll- und in besserer Wissensvermittlung. te DIE LINKE sich dem entgegenstellen. Aber diese Freiheit bedeutet auch die Bildung darf nicht zur Ware werden, sie Warum es Privatschulen gibt Möglichkeit von Einfl ussnahme auf die muss vielmehr kostenfrei und frei zu- Unser Schulsystem deckt nicht die Be- Schüler/innen. Gerade weil die Kontrol- gänglich für jede und jeden sein. dürfnisse der Schüler/innen ab. Es ist le viel geringer ist, gerade weil bei vie- in vielerlei Hinsicht mangelhaft, wie len Trägern ideologische Gründe für die Lösungsmöglichkeiten PISA - und IGLU-Studien gezeigt haben. Schaffung einer Privatschule eine Rol- Dies führt dazu, dass besserverdienen- le spielen, besteht die Gefahr, dass Nach unserer Ansicht kann nur ein de Eltern denken, sie könnten für ihr Kinder dort manipuliert werden. Dies staatliches Bildungssystem die vor- Kind gute Bildung kaufen. Die Privat- bedeutet dann jedoch eben keine Er- handenen Gräben überwinden und ei- schulen erscheinen in diesem Kontext ziehung hin zu mündigen, kritischen ne Zweiklassengesellschaft in der Bil- als Lösungsmöglichkeit. Sie sollten sich Menschen, sondern eine ideologisch dung verhindern. Nicht die Privatschu- allerdings nicht der Illusion hingeben, gefärbte Erziehung. Das soll nicht be- len, sondern die öffentlichen Schulen dass erkaufte Bildung grundsätzlich deuten, dass dies immer der Fall sein brauchen daher mehr Geld. Privatschu- besser ist, denn auch bei PISA schnit- muss – aber nur öffentliche Schulen len sind unsozial und ungerecht, weil ten die Privatschulen nicht wesentlich bieten die Voraussetzungen für die Er- der Geldbeutel der Eltern so zum Weg- besser ab. Wenn überhaupt, ist es die ziehung hin zum mündigen Menschen. weiser der Schullaufbahn wird. Als lin- unterschiedliche Schüler/innenschaft, Gerade bei konfessionellen Schulen ke Partei sollten wir gegen Privatschu- die den Unterschied ausmacht. Denn kommt die Frage der Trennung von Kir- len sein, weil diese immer eine Zunah- Privatschulen ziehen, allein schon auf- che und Staat hinzu und die Forderung, me der sozialen Auslese bei gleich- grund des vielfach erhobenen Schul- dass Bildung nicht religiös, sondern zeitiger Elitenbildung bedeuten. Erste geldes, eher finanzstarke Eltern an. weltlich sein sollte. Bildung muss reli- Schritte dahin können die Abschaffung Und wenn wir etwas aus PISA gelernt giös neutral sein, wenn sie Kindern die der steuerlichen Absetzbarkeit von haben, dann ist es, dass in Deutsch- Möglichkeit geben will, dass diese spä- Schulgeld und strengere Aufl agen für land die soziale Herkunft immer noch ter selbst entscheiden können, was sie Privatschulen sein. maßgeblich über den Bildungserfolg weltanschaulich für richtig oder falsch Ein einheitliches, kostenfreies und entscheidet. Privatschulen verstärken halten. Eine schulische Prägung ist hier ausreichend staatlich fi nanziertes Bil- diesen Trend, sie verschärfen die Se- kontraproduktiv und anti-emanzipato- dungssystem ist der Grundstein, um Pri- lektion. risch. vatschulen überfl üssig zu machen. Nur Dabei muss das staatliche Schulsys- so kann Chancengleichheit hergestellt tem so gut sein, dass Eltern ihre Kinder Privatschulen als Investitions- und zur Überwindung gesellschaftlicher unbesorgt zur nächsten Schule schi- mittel? Unterschiede beigetragen werden. cken können. Das kann durch mehr In- vestitionen in die Schulen und ein neu- Nicht immer sind es weltanschauliche Niema Movassat ist jugendpolitischer es Schulsystem, das die Bedürfnisse al- Gründe für die Schaffung von Privat- Sprecher im Parteivorstand, ler Kinder deckt, erreicht werden. Denn schulen. In einem Interview mit der Fabian Bünnemann ist Landessprecher Bildung darf nicht vom Geldbeutel der konservativen FAZ wurde Antonella der Linksjugend [’solid] NRW.

BILDUNG DISPUT Februar 2009 026 Change heißt: NATO aufl ösen Über den Jubiläumsgipfel der NATO, die neue NATO-Strategie, die Proteste dagegen und den ersten Europabesuch von Barack Obama Von Christine Buchholz und Wolfgang Gehrcke

Anfang April werden in Straßburg und In Afghanistan führt die NATO mitt- offi zielle Papier »Towards a new Grand Baden-Baden die Feierlichkeiten anläss- lerweile einen brutalen Krieg, der im- Strategy«. Es enthält scharfe Warnungen lich des 60. Jahrestages der NATO statt- mer mehr Zivilisten das Leben kostet. Er an die OPEC-Staaten und Russland und fi nden. Im Zentrum stehen eine neue droht nach Pakistan überzugreifen. So- behält sich das Recht vor, Atomwaf- NATO-Strategie und die Festigung der gar das selbst erklärte Ziel der NATO, die fen gegen Staaten einzusetzen, die im NATO als globale Ordnungsmacht. Krieg militärische Abstützung des Wiederauf- Verdacht stehen, sich Atomwaffen be- und Besatzung in Afghanistan sind da- baus, ist zur Nebensache geworden. Es schaffen zu wollen. Globale Militärinter- für ihr Referenzprojekt. geht inzwischen offen um Aufstandsbe- ventionen sollen auch ohne UN-Man- Besondere Weihe soll der NATO-Gip- kämpfung. dat durchgeführt werden können. Das fel durch einen prominenten Gast be- Dabei ging es der NATO nicht um die Konsensprinzip im NATO-Rat soll ab- kommen: Barack Obama wird den Feier- Befreiung der afghanischen Bevölke- geschafft werden, sodass jederzeit ei- lichkeiten bei seinem ersten Europabe- rung, nicht um Demokratie oder Frauen- ne »Koalition der Willigen« unter Rück- such als neuer US-amerikanischer Präsi- rechte. Ihr Ziel ist es, in Afghanistan ih- griff auf NATO-Kapazitäten Krieg führen dent beiwohnen. re Interessen gegenüber Russland und könnte. Vorangetrieben von der Bun- 60 Jahre NATO sind für uns kein desregierung, will die NATO die »strate- Grund zum Feiern. Die NATO steht in un- gische Partnerschaft« mit der EU stärker aufl öslichem Zusammenhang mit dem Eine Woche des Protestes verankern. Kalten Krieg. Die Philosophie der nu- Obama hatte bereits im Wahlkampf 28. März klearen Abschreckung gehört zu die- angekündigt, die NATO-Mitglieder da- Demonstration gegen die Folgen der ser Geschichte genauso wie der Rüs- für zu gewinnen, mehr Truppen für Wie- Wirtschaftskrise in Frankfurt am Main tungswettlauf. Treibende Kraft der NA- deraufbau und Stabilisierungseinsätze und Berlin TO sind die USA, die in ihr ein wichtiges bereitzustellen und die Entscheidungs- Instrument zur Durchsetzung der eige- 1. April prozesse innerhalb des Bündnisses zu nen Machtinteressen sehen. Sie konn- Eröffnung des Protest-Camps in vereinfachen, um den NATO-Komman- ten als nukleare »Schutzmacht« von An- Straßburg deuren mehr Flexibilität im Feld zu ge- fang an eine dominierende Stellung im 2. April ben. Das heißt: Auch unter Obama wer- Bündnis einnehmen und bis heute be- Anhörung der Bundestagsfraktion den NATO-Kriege wie der in Afghanistan haupten. Auch die Umbrüche 1989/90, DIE LINKE. zu Afghanistan in Baden- fortgeführt, die Besatzungen erhalten die bisweilen aufbrechenden Konfl ikte Württemberg ein »zivil-militärisches« Gesicht. Nicht und Krisen in der Allianz, zum Beispiel 3. April Obamas Ziel unterscheidet sich von dem im Falle des US-Krieges gegen den Irak, Internationale Gegenkonferenz zur der Neokonservativen, sondern nur der haben nichts daran geändert. Eine en- NATO in Straßburg Weg dorthin. Auch personell steht Oba- ge Abstimmung zwischen der EU-Außen- mas Team für Kontinuität: Robert Gates und -Sicherheitspolitik und der NATO ist 4. April ist Verteidigungsminister; James Jones, strukturell gesichert. Mithilfe der NATO morgens Aktionen des zivilen ein Verfechter der Osterweiterung der stellt auch die Bundesrepublik ihre mili- Ungehorsams, ab 13 Uhr internationale NATO, ist Obamas Sicherheitsberater. tärische Handlungsfähigkeit her. Demonstration in Straßburg Gemeinsam mit der Friedensbewe- Nach 1990 hat sich die NATO verän- 5. April gung in den USA und mit Millionen Men- derten Aufgaben zugewendet. Bereits Internationale Gegenkonferenz in schen, die hoffen, dass Obama eine auf dem Gipfel in Rom 1991 hatte die NA- Straßburg bessere Welt bringt, bestehen wir dar- TO ein neues strategisches Konzept ver- auf, dass »Change« heißt, die Truppen abschiedet. Neue Bedrohungen wurden aus Afghanistan zurückzuziehen, die ausgemacht: Terrorismus, die Weiterver- den aufstrebenden Wirtschaftsmächten NATO-Osterweiterung zu stoppen, die breitung von Massenvernichtungswaf- in Südostasien durchzusetzen. nukleare Erstschlagsoption aufzugeben fen und die Unterbrechung vitaler Res- Die Osterweiterung der NATO bringt und die NATO aufzulösen. sourcen. Daraufhin strukturierte die NA- neue Kriegsgefahren. Jüngstes Beispiel TO ihre Streitkräfte komplett um und be- war der Krieg im Kaukasus im Sommer schloss, künftig »Out of area«-Einsätze 2008. Eine Aufnahme von Georgien und DIE LINKE unterstützt die Proteste, die durchführen zu können. 1999 führte die der Ukraine in die NATO wäre eindeu- von einem internationalen Bündnis Allianz in Jugoslawien ihren ersten Krieg tig gegen Russland gerichtet und würde getragen werden (www.no-to-nato.org). außerhalb des Bündnisgebietes. Erst- den Konfl ikt ausweiten, in dem es auch Der Schwerpunkt der Mobilisierung liegt mals hat die NATO nach den Terroran- um die Kontrolle der Verteilung von Öl auf der Großdemonstration. schlägen vom 11. September 2001 den und Gas und um den Zugang zu den Material der LINKEN ist über die Landes- Bündnisfall ausgerufen. Alle Mitglieds- zentralasiatischen Staaten geht. geschäftsstellen zu beziehen, staaten verpfl ichteten sich, den USA im Im Januar 2008 verfassten fünf rang- Infos: www.die-linke.de/nein_zur_nato Krieg gegen den Terror Beistand zu leis- hohe NATO-Militärs – unter ihnen der Material des Bündnisses ist zu beziehen ten. Zentrales Projekt ist der Krieg und ehemalige Generalinspekteur der Bun- über www.friedenskooperative.de oder die Besatzung in Afghanistan. deswehr Klaus Naumann – das nicht www.no-to-nato.org

270 DISPUT Februar 2009 ENTSPANNUNG Die Vergangenheit bleibt gegenwärtig Last und Lust der Geschichte des Sozialismus Von Stefan Bollinger

Linke, auch die in der gleichnamigen GenossInnen und BürgerInnen ebenso wirtschaft. Für Linke sind diese Jubilä- Partei, sind hin- und hergerissen zwi- notwendig war wie die Entscheidung en eher zum Nachdenken und sollten schen einem radikalen Sozialismus des des Außerordentlichen SED-Partei- zur Wiedergeburt verschütteten dialek- 21. Jahrhunderts und dem eher hand- tages im Dezember 1989, mit dem Sta- tischen Denkens nötigen. Denn weder werklichen, reformerischen Reiten des linismus als System zu brechen. Man- die bürgerlich-demokratische Revoluti- Tigers Kapitalismus, um hier und heu- che Westlinke hatten ihnen diese Ein- on 1918/19 noch die doppelte Staats- te den Menschen zu helfen, ohne sie sicht lange voraus. Zum anderen mei- gründung unter zwar antifaschistischen zu sehr zu verunsichern und vor exis- nen immer mehr Funktionsträger wie und demokratischen Vorzeichen in West tenzielle Herausforderungen zu stel- einfache Mitglieder und Sympathisan- wie Ost 1949, jedoch auf konträre ord- len. Es ist der alte, immer weniger aus- tInnen, dass der Anspruch, in der mo- nungspolitische und Blocksysteme aus- gesprochene Streit zwischen Maximal- dernen bürgerlichen Gesellschaft BRD gerichtet, noch antistalinistische Revo- und Minimalforderungen einer Kraft, agieren zu können, den Bruch mit der lution und prokapitalistische Reorgani- die den Kapitalismus überwinden und versuchten realsozialistischen, über- sation eines nunmehr wieder weltweit letztlich eine sozialistische Zukunft will. haupt links-klassenkämpferischen Ver- agierenden Kapitalismus 1989/91 hal- Schon hier fängt es an vage zu werden, gangenheit verlangt. Schließlich ist zu fen, jene Verhältnisse wirklich umzu- ist nicht immer klar, was von sozialis- berücksichtigen, dass mit einstigen So- werfen, »in denen der Mensch ein er- tischen Zielen, gar Utopien heute noch zialdemokraten oft ein antikommunisti- niedrigtes, ein geknechtetes, ein ver- jenseits der Schlagworte Gerechtigkeit, sches, aber durchaus staatsorientiertes lassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Solidarität, Demokratisierung aller Le- radikales Sozialismuserbe in die Partei Sie brachten Fortschritte, bürgerlich-de- bensbereiche zu halten ist. Seitdem hineinkommt. mokratische Errungenschaften des Ka- nicht wenige linke Politiker die Freiheit pitalismus, waren Folgen von Klassen- in ihrer individuell-staatsbürgerlichen kämpfen. Noch mehr aber zeugten sie Jahrestage zum Nachdenken Dimension wiederentdecken, verliert von erfolgreicher Modernisierung und sich zu oft, wie sie mit sozialen Frei- Gegenwärtig laufen – auch durch DIE Manipulierung durch eine gewiefte heiten und Rechten, gar Macht zusam- LINKE und ihre Stiftungen – intensive herrschende Klasse, die aus ihren Nie- menhängen. Programmatik heute wird geschichtspolitische Aktivitäten um die derlagen zu lernen vermochte, um ihre wieder und wieder die Geschichte be- Jahrestage 1919–1949–1989. Konträre Plusmacherei zu verewigen. fragen müssen. Denn die Linken stehen Akteure hoffen, unter diesen Daten die – wie alle anderen politischen Akteure – Geschichte nach ihrem Gustos zu inter- DDR und Sozialismus in einem historischen Kontext. Aber ob pretieren und heutiges Handelns zu le- dieser Geschichte sind sie sich nach ih- gitimieren. Allerdings geht es jetzt nicht Die Linke hat in diesem Streit die Not rer fundamentalen Niederlage weniger mehr um wirkliches Neuschreiben von wie die Chance, nicht allein Last und denn je sicher. Geschichte, wie dies nach dem Ende Resultate des Kampfes bundesdeut- Fast jede der heutigen, nicht nur lin- der Blockkonfrontation möglich und scher Gewerkschafter, Sozialdemo- ken politischen Diskussion ist mit den notwendig geworden war. Die Ostar- kraten und pluraler Linker um soziale überkommenen Resultaten wie auch Er- chive haben ihre Geheimnisse preisge- und demokratische Errungenschaften fahrungen verknüpft – egal ob der Staat geben. Stereotype und Vorurteile konn- kritisch zu durchleuchten. Denn der Ka- als Wirtschaftsakteur, die Zielrichtung ten bestätigt oder beerdigt werden, un- pitalismus blieb, der Wegfall des kon- von Sozialpolitik oder die Zusammen- erfreuliche, auch verbrecherische Fak- kurrierenden Widerparts DDR öffnete arbeit mit politischen Konkurrenten. ten liegen fast allesamt auf dem Tisch. auch mit SPD-Agenda-Hilfe den Neoli- Vorbelastungen lassen zurückschre- Die parallel einsetzende nüchterne Auf- beralen Tür und Tor. cken, manche Wege scheinen sich als arbeitung des westlichen Kalten Krieges Sie muss genauso und noch mehr Irrtum zu bestätigen. Die Bezugnahme wirkt jedoch nicht vergleichbar zerstöre- 45 Jahre die radikale Linke an der Macht, auf die eigene Geschichte bleibt pro- risch auf den historischen Nimbus des den verwirklichten DDR-Sozialismus kri- blematisch. Zum einen haben die heu- einstigen Contraparts und heutigen Tri- tisch überprüfen. Für den rechts-kon- tigen linken Formationen – in Deutsch- umphators. Sicher auch, weil der Kapi- servativen Zeitgeist eine leichte Übung, land zumindest die PDS und Teile der talismus sowieso nur als blutbefl eckt weil er nur einen Irrweg von Anfang an, aus ihr hervorgegangenen Partei DIE erinnerlich ist und sich Ostpropaganda ein Unrechts- und Terrorregime zu er- LINKE – ihre Daseinsberechtigung aus nun aus Westarchiven bestätigt – vor kennen vermag. Denn hier ging es dem Kritik und Ablehnung des praktizierten allem aber, weil Siegern niemand un- Kapital an den Kragen, oft genug um ei- Sozialismus in der DDR, seines stalinis- bequeme Fragen stellen mag. nen hohen Preis. Auch wenn es in der tischen oder spätstalinistischen Mo- Für die alt-neuen Besitzstandswah- Geschichtsschreibung mittlerweile dif- dells erringen müssen. Sie hatten in der rer West sind diese Jahrestage nicht ferenziertere Sichten auf die durch- überwiegenden Mehrheit erst fünf vor schlecht, weil sie mit Fakten, Klischees herrschte Gesellschaft mit ihren viel- zwölf begriffen, dass dieser Realsozia- und Medienmacht ihre Themen beset- fältigen Facetten von Fürsorge-Dikta- lismus ein Verrat an den sozialistischen zen: bürgerliche Demokratie und Ord- tur bis Eigen-Sinn gibt, sind Linke ge- Idealen der Vorvorderen darstellte und nung, Triumph von Demokratie und fordert. Nicht (nur), weil es immer noch eine Entschuldigung bei den eigenen Marktwirtschaft über Diktatur und Plan- Miterbauer dieser nichtkapitalistischen

GESELLSCHAFT DISPUT Februar 2009 028 Gesellschaft gibt, die links wählen und Sog mitriss. Weder in Moskau noch in schieden werden und alle vernünftigen die ob einst vergossenen Herzbluts und Berlin wurden die Partei, auch nicht die Bedürfnissen nachgehen, in der grünes Schweißes, ob Enthusiasmus’ und Mu- Reformer, Herr der inneren Widersprü- Denken bestimmend ist und patriacha- tes keinesfalls verprellt werden dür- che. Der Sieg des Westens im Kalten le Rollenmuster lange überwunden sind. fen. Aber egal, ob manch politisch Ver- Krieg bedurfte nur geringer, wenn auch Es geht auch nicht um den lange in der antwortlicher sich von dieser DDR dis- zielgebender äußerer Impulse. Arbeiterbewegung diskutierten Tag nach tanzieren will oder nicht, Bezugspunkt Damit steht die Frage, was dieser der Revolution, heute vielleicht den Tag für Abgrenzung oder Bekenntnis, für neue Sozialismus leisten müsste, wo er nach einer gewonnen Wahl mit ersten Lernen aus der Geschichte und Suche auf dem Realsozialismus aufsetzt und radikalen Umverteilungen des gesell- nach Alternativen bleibt deren Politik. womit er brechen muss – weil es kein schaftlichen Reichtums, mit außerpar- Egal, ob gut oder schlecht – diese DDR Sozialismus war durch seine undemo- lamentarischen Strukturen demokra- bleibt auf Dauer Synonym für einen so- kratischen Strukturen, weil er mit den tischer Willensbildung und -durchset- zialistischen Versuch. fortgesetzten, sich wandelnden Repres- zung in Staat, Kommune und Betrieb. Unzweifelhaft müsste sein, dass sionen nicht mehr zeitgemäß war, weil Spannend ist der lange zweite Tag, die DDR und SED 1989/90 von BürgerInnen er stagnierte und ideologisch verödete, Mühen der Ebenen einer Gesellschaft wie Parteimitgliedern mehrheitlich so seine Ideale verriet. im Übergang. Denn hier entschied und nicht mehr gewollt wurden. Für die DDR Sozialismus, so die Erfahrung, kann entscheidet sich, ob im Alltag die He- gemonie der prosozialistischen Kräfte Massen bewegt und sie von ihr getra- gen wird. Genau hier birgt die Geschich- te der DDR ihre Erfahrungen, hier geht es nicht nur um ein Erbe, das angenom- men oder ausgeschlagen werden kann, sondern um Traditionen, Erfahrungen, Lehren ob der Bedeutung von Leistungs- orientierung und Effi zienz, des Aufbre- chens sozialer Verkrustungen zu Lasten der Privilegierten und Besitzenden, die Schaffung eines sozial gerechten, allen gleichermaßen Zugang gewährenden Bildungs- und Gesundheitssystems, die tagtägliche Organisierung gesellschaft- licher Teilhabe bis in den Arbeitssphä- re. Es bleibt die leidige Frage, wie mit denen umgegangen wurde, die sich ge- gen diese neue Gesellschaft stellten – weil sie sich dagegen wehrten, etwas abgeben zu müssen, aber auch mit je- nen, denen das Vorgehen zu radikal er- schien, die (auch linke) Alternativen wollten; überdies alles in einer wesent- lich feindlichen Umwelt. Alte Kamellen? Wohl kaum, wenn radikale Schnitte auf der Tagesordnung bleiben, eine antika- pitalistische Welt gewollt ist. Zur Tragik und Komplexität der Lin- ken gehörte, dass sie sich über die We- ge dorthin uneins war. Die SED verwirk- lichte den radikalen Weg, wenn auch

© Erich Wehnert © Erich fl exibel und sich entwickelnd. Was un- »… der Streit zwischen Maximal- und Minimalforderungen« mittelbar unter dem Eindruck von Krieg und faschistischem Terror erklärbar war, stellte die Krise 1989 (wie bereits 1956 nicht auf Diktatur, Forcierung eines neu- seine moralische Berechtigung zu ha- in Ungarn, 1968 in Prag, 1970–80 in Po- en Menschen, Solidarität und Vertagen ben schien, musste schon damals ge- len und schleichend über die 1950-80er der Bedürfnisbefriedigung auf die Zu- messen an den sozialistischen Idea- Jahre nach dem XX. Parteitag, in der sich kunft basieren. Problem wie Lehrstoff len fragwürdig erscheinen und war und wandelnden Ost-West-Auseinanderset- des Realsozialismus, erst recht der ei- ist es ohne Zweifel gemessen an den zung, den sozialstrukturellen und wirt- gentlich modernen, in den 1960er Jah- heutigen Ansprüchen und den Erfah- schaftlichen Folgen der Produktivkraft- ren experimentierfreudigen DDR, sind rungen der Niederlage, die vor allem revolution) einen erneuerten, endlich die ungemeisterten Widersprüche ei- ein Bruch mit der Praxis und Unaufrich- demokratisierten Sozialismus auf die ner Übergangsgesellschaft. Was für ein tigkeit dieses Versuchs verbunden war Tagesordnung. Die Perestroika war da- sozialistisches Programm politisch am und ist. mals dessen letzter umfassender An- wenigsten zählt, ist der dritte, der uto- lauf, obwohl ihre Praxis enttäusch- pische Tag der Revolution, die Verhei- Dr. Stefan Bollinger ist Politikwissen- te und die Sowjetunion ob Führungs- ßung von Gleichheit, in der die Wirt- schaftler und Mitglied der Historischen schwäche und aufbrechender Konfl ikte schaft im Überfl uss fl oriert, in der alle Kommission beim Parteivorstand der kollabierend Osteuropa, die DDR in den Fragen vom Volk und ihren Räten ent- Partei DIE LINKE.

290 DISPUT Februar 2009 Die Kräfte sammeln Portugals »Bloco« bläst zum Angriff auf unsoziale Politik Von Dominic Heilig

Der sechste Parteitag des portugie- der »Bloco« erneut die Kräfte sammeln. Beim Parteitag war Alegre zwar – sischen Linksblocks fand am 7. und 8. Ziel ist es, Kommunisten, außerparla- entgegen allen vorherigen Gerüchten – Februar in Lissabon statt. In der am Te- mentarisch Aktive und linke Sozialis- nicht anwesend, seinen Namen konnte jo gelegenen Hauptstadt liefern sich ten in einen gemeinsamen Block zu in- man jedoch in allen Ecken der Halle hö- Anfang Februar Sonne und böige Win- tegrieren. Die erste Hürde soll mit der ren. Einem neuen, breiten Linksbünd- de ein fortwährendes Wechselspiel. Europawahl 2009 genommen werden. nis werden derzeit in den Umfragen Auch dem öffentlichen Sektor im Vergleichbar mit der Situation in zehn bis zwölf Prozent zugeschrieben. Land, dem schlecht ausgestatteten So- Deutschland unmittelbar vor den Neu- Die Kommunistische Partei Portugals zial- und Gesundheitssystem schlägt (PCP) hatte zwar bereits vor dem Par- nicht allein in Zeiten der Finanz- und teitag eine direkte Beteiligung ausge- Wirtschaftskrise starker Wind entge- schlossen. Dennoch wolle man weiter- gen. Verantwortet wird dieser durch ei- hin gemeinsam im Parlament und in ne »Sozialistische Regierung«, ein Phä- der Europafraktion arbeiten. Ein Signal nomen, das in Deutschland seit Schrö- hierfür war die Anwesenheit des Vorsit- der und Agenda 2010 nicht unbekannt zenden der kommunistischen Gewerk- ist. Anders als in Deutschland, werden schaft CGTP, Carvalho da Silva, auf dem politische Alternativen zu Neolibera- Parteitag. lismus und Sozialabbau in der Gesell- Die Zeichen für ein neues Bündnis schaft derzeit stärker wahrgenommen. stehen trotz der ausstehenden Antwort So verwundert es nicht, dass das Me- der »Alegristen« nicht schlecht. Der diengerangel auf dem Parteitag des Vorsitzende der Europäischen Links- Linksblocks groß war. Zum ersten Mal partei (EL), Lothar Bisky, verwies in Lis- übertrug das Fernsehen die Rede des sabon in seinem Grußwort auf die un- Parteivorsitzenden Francisco Louçã in terschiedlichen Traditionen und Erfah- voller Länge. rungen der Linken: »Diese haben uns bereichert. Und es ist uns ein großer Schritt mit der gemeinsamen Wahl- Starke Anziehungskraft plattform der EL zu den Europawahlen Louçã ging in dieser Rede zum Angriff gelungen.« auf die Sozialistische Partei (PS) und deren Regierung Sócrates über. »Es ist Neue Krisen eines alten Systems Zeit, den Menschen wieder etwas zu- rück zu geben. Wasser, Energie, Bil- Dass dieser Schritt nicht abstrakt, son- dung und Arbeitsplätze müssen durch dern konkret weiter verfolgt wird, konn- den Staat garantiert werden: Für je- te man am Vorabend des Parteitages den und für jede! Ohne Hürden!«, rief beobachten. EL und der »Bloco« hatten er unter dem Jubel der 600 Delegierten zur Konferenz »Neue Krisen eines al- aus. »Die Regierung glaubt ernsthaft, ten Systems« und zum Austausch über sie könne eine Euro-Münze in einer linke Alternativen zur aktuellen Wirt- Schachtel verschließen, um sie nach schafts- und Finanzkrise eingeladen. einiger Zeit wieder zu öffnen und einen Vertreterinnen und Vertreter von

Zwanzig-Euro-Schein herauszunehmen. Heilig © Dominic 16 Parteien der Europäischen Linken Damit wird man die Krise nicht lösen«, machten deutlich, dass die Lösung der so Louçã. wahlen 2005, wächst die Unzufrieden- Krise nicht allein im nationalen Rah- Mit ihrem Parteitag macht sich die heit mit der durch Sozialbbau und Pri- men, sondern europäisch und global Partei nun zum zweiten Mal auf, das vatisierung geprägten Regierungspoli- erfolgen muss. »Die Bewältigung der verkrustete politische System Portu- tik der PS. Mitglieder des linken Partei- Krise wird nur über die Lösung der so- gals durcheinanderzubringen. Das ers- fl ügels sympathisieren offen mit einem zialen Frage gelingen«, erklärte Fran- te Mal gelang dies mit der Gründung Neubeginn. Aushängeschild dieser cisco Louçã. Und Lothar Bisky ergänz- des »Bloco do Esquerda« vor genau Gruppe ist der PS-Abgeordnete Manuel te: »Wir wollen ein anderes Europa. Ein zehn Jahren. Damals schlossen sich Alegre. Der Dichter, unter Salazar zeit- Europa des Friedens, der Demokratie, Ex-Kommunisten, verschiedene linke weise inhaftiert, machte 2006 durch der sozialen Gerechtigkeit und der So- Parteien und Mitglieder sozialer Bewe- seine Kandidatur für das Präsidenten- lidarität. In diesem Verständnis stehen gungen zusammen. amt von sich reden. Damals trat er als wir für die europäische Integration, im Der Zulauf, vor allem durch Jünge- Einzelbewerber gegen den offi ziellen Interesse der Menschen. Die Krise hat re und Linksintellektuelle, war stark. PS-Kandidaten Mario Soares an und die Menschen verunsichert, und wir Die Partei etablierte sich im nationalen verwies diesen mit über 20 Prozent gar müssen uns dieser Verunsicherungen wie europäischen Parlament. Nun will auf den dritten Platz. stellen.«

EUROPÄISCHE LINKE DISPUT Februar 2009 030 © Erich Wehnert © Erich

NACHBELICHTET

Von Arthur Paul ■ ■ Charlie und dass »die Bourgeoisie durch die ehrter Herr Petrus, zwar haben wir Er- sein Kumpel frieren. Ihr Monument Ausbeutung des Weltmarktes die Pro- denmenschen Ihre Wetterküche in ge- war zu DDR-Zeiten in Berlin aufge- duktion und Konsumtion aller Länder wissenloser Weise mit giftigen Abfällen stellt. Da hatten sie schnell mal Kin- globalisiert.« versaut, so dass Ihr Wetter immer häu- der auf dem Schoß und auf der Schul- dass das Kapital für 300 Prozent fi ger zum Unwetter wird. Und gewiss ter als Schnappschuss fürs Familienal- über Leichen geht und »jeder weiß, haben die Linken einen gewissen An- bum. Sie hatten den Palast der Repu- dass in jeder Aktienschwindelei das teil daran, gottlos und mittellos wie sie blik im Rücken. Jetzt pfeift ihnen der Unwetter einmal einschlagen muss.« sind. Aber gewissenlos sind sie nicht. Wind ins Kreuz. Wenn dort das Kaiser- dass »das Bankwesen durch die pri- Vater Engels hatte schließlich gemahnt, schloss wieder ersteht, wird es für die- vatkapitalistische Verteilung des Ka- dass sich die Natur für jeden vermeint- se beiden noch ungemütlicher. Dabei pitals ... eines der wirksamsten Vehi- lichen Sieg des Menschen rächen wird. war das Jahr 2008 ihr Jahr! Nie in den kel der Krisen und des Schwindels« ist. Heute könnte man sachlich feststellen: vergangenen zwei Jahrzehnten wurden Und so weiter. Die grünsten Grünen sind die Roten! sie so oft genannt und zitiert wie 2008 Zwar hatte ein Norbert Blüm vor 25 Also, lassen Sie unsere beiden Vor- als Kronzeugen der Krise des kanniba- Jahren in Danzig gekräht: »Marx ist denker nicht erfrieren, deren Gedanken lischen kapitalistischen Systems. Diese tot!« – Nun sind seine Renten verscha- so frisch geblieben sind. Denn wenn tausendmal totgesagten Vordenker der chert. die Anderen, die sich fromm geben, un- Linken hatten doch tatsächlich schon Da möchte man schon eine SMS an ter sich wären, dann würden bald alle vor 160 Jahren geschrieben: den Wetterheiligen Petrus senden: Ver- Lichter auf dieser Erde erlöschen.

310 DISPUT Februar 2009 Ganz ohne Frontalunterricht Was ist und was will DIE LINKE? Ein Seminarkonzept für neue Mitglieder Von Heinz Hillebrand

DIE LINKE kann im Gegensatz zu den an- Politikerfahrung, einer manchmal 20-, deutet keine Geringschätzung der Er- deren Parteien ein erfreuliches Wachs- 30jährigen linken Geschichte und den in fahrungen der DDR-Bürger/innen oder tum vorweisen. Vor allem in den westli- dieser Zeit erworbenen politischen Vor- der alten BRD-Linken. Diese historische chen Bundesländern kommen ständig stellungen, die durchaus manchmal ein Zäsur war die Voraussetzung dafür, dass neue Mitglieder zu uns, in Nordrhein- »Update«, eine Auffrischung vertragen es überhaupt zur Gründung der LINKEN Westfalen zum Beispiel sind es 40 bis könnten. Auf der anderen Seite haben gekommen ist. 50 pro Woche. Die neuen Mitglieder ha- wir Menschen, die nicht nur linke Poli- Der zweite Teil beschäftigt sich ben unterschiedliche Motivationen für tik nicht kennen, sondern denen auch damit, warum die Bundesrepublik den Parteieintritt. Einige haben sich von Kenntnisse über das politische System Deutschland (und vorher DDR und Alt- der SPD und den Grünen gelöst, aktive insgesamt fehlen. Hinzu kommt die Ost- BRD) so geworden ist, wie sie ist. Es Gewerkschafter/innen und Betriebsräte West-Problematik. Für das Verständnis werden drei Zeitabschnitte behandelt: sehen in der LINKEN eine gute Möglich- der LINKEN ist die Kenntnis der beiden Sozialismus und soziale Marktwirt- keit, die Interessen der Arbeiter und An- Quellparteien vonnöten. Für viele West- schaft – Wirtschaftswunder und Kal- gestellten zu vertreten. Es kommen aber deutsche war die DDR aber Terra in- ter Krieg; Protest, Reform und Restau- auch viele, die schlichtweg mit ihrer so- cognita, Meinungen über die östlichen ration; Kohl, Schröder, Merkel – Neo- zialen Situation unzufrieden sind. Bundesländer sind oft von Unkenntnis liberalismus im Dreierschritt. Hier sol- Leider ist die Arbeit mit neuen Mit- oder dem alten Antikommunismus der len historisches Verständnis entwickelt gliedern bundesweit noch unterentwi- Bundesrepublik geprägt. und die unterschiedlichen politischen ckelt. Vielfach wird noch nicht einmal Das Seminarkonzept orientiert sich Kräfte und wirtschaftlichen Interessen das Gespräch mit ihnen gesucht. Dabei am Vorwissen neuer Mitglieder mit ge- verdeutlicht werden. Mit einem Lehr- ist der persönliche Kontakt notwendig, ringer politischer Erfahrung. Es trägt gespräch wird in die einzelnen Zeitab- um den sogenannten Drehtüreffekt zu auch der Tatsache Rechnung, dass das schnitte eingeführt. Fotos und Plakate vermeiden: auf der einen Seite hinein Lesen längerer Texte nicht wenigen Mit- dienen als Unterstützung. Durch Fragen und auf der anderen hinaus. Diese Ar- gliedern Schwierigkeiten bereitet. werden die einzelnen Zeitabschnitte in beit ist umso wichtiger, wenn die Mit- Arbeitsgruppen vertieft. gliederversammlungen unattraktiv oder Der Aufbau des Neumitglieder- Der dritte Teil beschäftigt sich mit mehr von Querelen als von politischer seminarkonzepts Strategie und Krise des Neoliberalis- Diskussion geprägt sind. mus. Drei Texte werden mit konkreten Ein sehr effektives Mittel der Arbeit Das Seminar besteht nach einer Ori- Beispielen bearbeitet: die Verände- mit neuen Mitgliedern können Neumit- entierungs- und Kennenlernphase aus rungen in einem schwäbischen Betrieb, gliederseminare sein. Dort geht es um fünf Teilen. nachdem McKinsey dort eingestiegen grundlegende Informationen zu Fragen Der erste Teil beschäftigt sich da- ist, eine fiktive Haushaltsrede in ei- wie: Wie ist DIE LINKE entstanden? Wie mit, wie DIE LINKE entstanden ist. Be- ner Kommune sowie die Arbeit von Pri- sieht sie die Gesellschaft? Was will sie ginnend mit dem Jahr 1989 sollen so- vat Equity Fonds am Beispiel der Über- kurz- und langfristig erreichen? Dane- wohl gesellschaftliche Entwicklungen nahme von Tank und Rast. Durch diese ben können solche Treffen dazu dienen, als auch die direkte parteipolitische exemplarischen Fälle sollen neoliberale den »Neuen« zu verdeutlichen, was den Vorgeschichte der LINKEN beleuchtet Strategien erkannt werden, die auf an- bunten Haufen DIE LINKE, in der ganz werden. Die Teilnehmer/innen erhal- dere Praxisfelder übertragbar sind. unterschiedliche linke Politikansätze ten Fotos und Zeitungsausschnitte und Die Teile 4 und 5 beschäftigen sich versammelt sind, eigentlich zusammen- sollen diese Zeitabschnitten zuordnen. mit den inhaltlichen Positionen der LIN- hält. Nicht zuletzt lernen sich die Ge- Dabei entsteht eine Zeittafel, die wäh- KEN. Im vierten Teil geht es um Grund- nossinnen und Genossen besser ken- rend des gesamten Seminars präsent satzpositionen. An Hand zweier be- nen, und ein bisschen Spaß am Abend ist. Das Ausbleiben blühender Land- kannter Marx- Zitate »alle Verhältnisse schadet sicherlich auch nicht. schaften und die Demütigung der Ost- umzuwerfen, in denen der Mensch ein Um dem vielfach geäußerten Bedürf- deutschen wird in Beziehung zum PDS- erniedrigtes, ein geknechtetes, ein ver- nis nach Neumitgliederseminaren ent- Plakat »Kopf hoch und nicht die Hände« lassenes, ein verächtliches Wesen ist« gegenzukommen, ist ein Seminarleitfa- gesetzt, die Montagsdemonstrationen (Kritik der Hegelschen Rechtsphiloso- den mit dem Titel »Was ist und was will zur Gründung der WASG. Das Verständ- phie) und »An die Stelle der alten bür- DIE LINKE« erstellt worden, der hier nä- nis der Verbindung von gesellschaft- gerlichen Gesellschaft mit ihren Klas- her erläutert werden soll. lichen Entwicklungen und (partei-)poli- sen und Klassengegensätzen tritt ei-

tischen Auswirkungen soll geweckt wer- Anzeige Voraussetzungen der den. Anhand von Dokumenten wie der Neumitgliederseminare Kandidatur von Stefan Heym für die PDS soll die Veränderung der SED-Nachfol- Die Unterschiedlichkeit der neuen Mit- gepartei deutlich werden. Die Teilneh- Weydingerstraße 14–16 glieder stellt die Seminarleiter/innen mer/innen (vor allem aus dem Westen) 10178 Berlin vor keine leichte Aufgabe. Auf der einen sollen Vorurteile widerlegen können. Telefon (030) 24 72 46 83 Seite kommen zu uns Menschen mit Der Beginn mit dem Jahr 1989 be-

POLITISCHE BILDUNG DISPUT Februar 2009 032 ne Assoziation, worin die freie Entwick- FRAUEN lung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Kommunis- tisches Manifest) soll sich eine offene Diskussion im Plenum entwickeln. In Arbeitsgruppen setzen sich die Teilneh- mer/innen dann mit Auffassungen über die Programmatik der LINKEN auseinan- der. Hier wird auf Teile der »Programma- tischen Eckpunkte« Bezug genommen. 7. März 2009 in Teil 5 beschäftigt sich mit aktuellen politischen Forderungen der LINKEN. Dortmund: Tribunal Eines der Ziele lautet, dass die Teilneh- »Wer macht eigentlich mer/innen diese erst einmal genauer die ganze Arbeit?« kennenlernen. Im aktuellen Materi- al sind dies: Abzug deutscher Truppen In der Krise sind sie die Ersten, die aus Afghanistan, rentenpolitische For- rausfliegen: die sogenannten pre- derungen und die Finanzkrise. Die Fra- kären Beschäftigten. Gegenüber gen sollen erweitert werden, so dass den »Normalbeschäftigten« sind sie immer aktuelle Beispiele ausgesucht ständig im Nachteil, und sie werden werden können. Aufgabe ist stets ein oft noch nicht einmal zur Belegschaft konkretes Ergebnis mit Nutzen für die gezählt. Sie dienen als personeller politische Arbeit: Argumente für den In- Puffer, damit Unternehmen in Zeiten fostand, Thesenpapiere, die Beantwor- höheren Arbeitsaufkommens heuern tung von Fragen und Ähnliches. und bei Produktionsrückgang schnell wieder feuern können. »Prekär ar- beiten« bedeutet für die betroffenen Methoden des Seminars

Menschen einen ständigen Wechsel Repro Das Seminar lebt stark von der Eigen- zwischen Zeiten mit und ohne Arbeit, aktivität der Teilnehmer/innen. Frontal- ein Leben in ständiger Geldnot und stand gehen. Sie werden ihr Leben unterricht fi ndet nicht statt, und auch Herabwürdigung. In Beschäftigungs- als Leiharbeiterin, befristet Beschäf- die bekannte Power-Point-Präsentati- formen ausgedrückt handelt es sich tigte, als schlecht bezahlte Arbeite- on wird sparsam eingesetzt. Lehrge- um Leiharbeitnehmer/innen, befris- rin usw. darstellen. Sie werden deut- spräche und Arbeit in Gruppen bestim- tet Beschäftigte, Minilöhner/innen, lich machen, wie sich ihr persönlicher men das Seminar. Methodenwechsel Teilzeitbeschäftigte, ständig bedroht Lebensalltag, ihr Familienleben, ihre und verschiedene Präsentationstech- durch Hartz IV mit dem Zwang zur 1- gesamten sozialen Kontakte durch niken gehören natürlich dazu. Euro-Arbeit und die Aussicht, noch ihre Arbeit verändert haben. Sie wer- Das Seminar ist bewusst als Wo- weiter abzurutschen. Frauen sind un- den aber auch zeigen, wie sie sich chenendseminar angelegt. Trotz der ter den Betroffenen eine besonders wehren und für ihre Rechte kämp- bekannten Einwände – »Es ist nicht zu große Gruppe. fen. Dazu kommen Psychologen, Ar- fi nanzieren«, »Zwei Tage ja, aber oh- beitsmarktforscher/innen, Gewerk- ne Übernachtung«, »Kann man daraus schaftsvertreter/innen, ÄrztInnen Wir klagen an! nicht drei Tagesseminare machen?«, al- und andere, die als Sachverständi- les verständliche Argumente – spricht Dass immer mehr dieser Beschäfti- ge auftreten. Das Kapital und die Re- sehr viel für ein komplettes Wochenen- gungsverhältnisse entstehen konn- gierung, beide national und interna- de. Nicht nur, weil die Teilnehmer/in- ten, ist das Ergebnis einer profi tge- tional handelnd, setzen wir auf die nen sich besser kennenlernen und das steuerten Personalpolitik in Betrie- Anklagebank. Sie sollen sich für die Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt ben und Verwaltungen einerseits Folgen ihres Handelns verantworten. wird. Auch deshalb, weil wichtige Lern- und dem Handeln der den Unterneh- Ihnen werfen wir vor, dass sie ihre In- prozesse am Abend nach dem Seminar men überaus freundlich gesonnenen teressen am Profi t über die Interes- stattfi nden. Beim Bier oder Wasser wird SPD-Grünen-CDU/CSU-Regierungen sen der Menschen gestellt und eine weiter diskutiert. andererseits. Gesellschaft der zwischenmensch- Arbeitnehmerschutzrechte wur- lichen Kälte, der Angst und der Kon- den gekappt unter dem scheinhei- kurrenz herbeigeführt haben. Ausblick ligen Vorwand, Arbeitssuchende kon- Im Tribunal werden alle Rollen Für das Seminar haben bisher zwei Tea- kurrenz- und dadurch arbeitsmarkt- eines üblichen Gerichtsverfahrens mer/innen-Ausbildungen stattgefun- fähig zu machen. Die anhaltend hohe besetzt sein. Das Tribunal ist öffent- den. Sie führten dazu, dass auch das Arbeitslosigkeit wurde nicht wirklich lich, und auch die Zuschauer/innen Konzept weiter verändert wurde. Im angegangen. Dass Menschlichkeit – das ist anders als in der Gerichts- März gibt es die ersten Pilotseminare in keine Rolle in der Arbeitswelt spielt, wirklichkeit – werden eine Rolle be- drei Landesverbänden. Neumitglieder- ist ein Skandal. Aus diesen Gründen kommen. Es wird spannend werden, seminare sollten zum festen Bestand- klagen wir an! also Termin vormerken und auf nach teil der Arbeit der LINKEN werden. Am 7. März 2009 veranstaltet DIE Dortmund! LINKE in Dortmund ein halbtägiges Heinz Hillebrand ist Mitarbeiter der Tribunal zum Internationalen Frau- Ulrike Zerhau ist stellvertretende Bundesgeschäftsstelle. entag. Von prekärer Arbeit betrof- Vorsitzende der Partei DIE LINKE. [email protected] fene Frauen werden in den Zeugen- [email protected]

330 DISPUT Februar 2009 Zurück zu den Wurzeln? Vor dreißig Jahren betraten die Grünen die politische Bühne. Was aus ihnen geworden ist Von Jochen Weichold

»Sonstige Politische Vereinigung (SPV) – bau« von 1983 niederschlug, und die vor dem Hintergrund eines Paradig- Die Grünen«. Unter diesem Label – ein Veränderung der politischen Rahmen- menwechsels in der Weltpolitik: Der glattes Understatement – trat vor drei- bedingungen in der BRD, insbesonde- Ost-West-Gegensatz schwand mit dem ßig Jahren eine neue politische Forma- re die Ablösung der SPD-FDP-Regierung Zusammenbruch des sogenannten real tion zur Europawahl am 10. Juni 1979 durch eine CDU/CSU-FDP-Koalition im existierenden Sozialismus, die Welt ge- an. Sie erzielte mit der charismatischen Herbst 1982, brachten den Grünen die riet unter die Dominanz der verbliebe- Petra Kelly als Frontfrau aus dem Stand für den Einzug in Bundestag und Eu- nen Supermacht USA. Die Rahmenbe- 3,2 Prozent der Stimmen. Damit begann ropaparlament notwendige breitere dingungen für grüne Politik veränderten die Formation, noch bevor sie sich im Wählerbasis. Mit 5,6 Prozent gelang ih- sich entscheidend, warfen neue Fragen Januar 1980 in Karlsruhe offi ziell als nen bei der Bundestagswahl 1983 der auf, auf die auch Die Grünen (noch) kei- Partei Die Grünen gründete, die poli- Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde ne Antworten hatten. Dies belebte die tische Landschaft der alten Bundes- in den Bundestag und mit 8,2 Prozent innerparteilichen Debatten über die zu- republik aufzumischen. Die neue Par- 1984 ins Europaparlament. künftige Entwicklungsrichtung der Or- tei schillerte wahrlich in allen Farbtö- In zum Teil scharfer Konfrontation ganisation: reformökologisch-bürger- nen des politischen Regenbogens: Da mit dem sozial-konservativen »Wende«- rechtlich oder linksökologisch-antika- schlossen sich die Grüne Aktion Zu- Kurs der Bundesregierung entwickelte pitalistisch? kunft des früheren CDU-Abgeordneten die grüne Partei in den folgenden Jah- Im Kontext dieser Debatten verlie- Herbert Gruhl, die rein ökologisch ori- ren ihre Politik und Programmatik wei- ßen die als Ökologische Linke fi rmie- entierte Grüne Liste Umweltschutz, die ter. Mit dem Programm »Umbau der In- renden RadikalökologInnen, Ökosozia- rechtsradikale Volksbewegung für Ver- dustriegesellschaft« (1986) erteilte die listInnen, Feministinnen und Ökoanar- nunft und Verantwortung, Teile der von Parteimehrheit nun fundamentaloppo- chistInnen 1990 und 1991 Die Grünen. radikalen Linken dominierten Hambur- sitionellen Konzeptionen eines »Aus- Damit ging der Bundespartei ein linkes ger Bunten Liste und ähnliche Gruppie- stiegs aus der Industriegesellschaft« Korrektiv verloren. Das politisch gemä- rungen, Kräfte aus der autonomen Frau- eine klare Absage und erklärte, einen ßigte Linke Forum rückte so automa- enbewegung und aus Dritte-Welt-Grup- Prozess einleiten zu wollen, »der die in- tisch an den linken Rand der Partei, und pen sowie verschiedene Bürgerinitiati- dustriekapitalistische Wirtschaftsweise seine auf Integration der verschiedenen ven zusammen. schrittweise überwindet«. Die Grünen Strömungen gerichteten Vorschläge ge- Schon der Versuch, eine Wahlplatt- strebten an, die Macht der multinatio- rieten unter einen stärkeren Druck der form oder gar ein Wahlprogramm zu for- nalen Konzerne zu brechen, und woll- Parteirechten. Die Bundesdelegierten- mulieren, musste die gegensätzlichen ten Produktionsmittel und Banken in konferenz 1991 in Neumünster bedeu- politischen Standpunkte aufeinander- »neue gesellschaftliche Formen des Ei- tete eine Richtungsentscheidung für die prallen lassen. Dennoch gelang es be- gentums« überführen. Das Umbaupro- grüne Partei: für eine reformökologisch- reits im ersten halben Jahr des Beste- gramm machte deutlich, dass sich Die bürgerrechtliche Organisation. Damit hens der Grünen, derartig wichtige Do- Grünen seit ihrer Konstituierung von ei- war für die folgenden Jahre ein Abglei- kumente zu verabschieden. Verbindend ner vorrangig von ökologischen Motiven ten der Gesamtpartei in Richtung der war das Projekt eines ökologischen Um- ausgehenden politischen Bewegung Mitte des politischen Parteienspekt- baus der Gesellschaft, um die Mensch- zu einer radikal-demokratischen Par- rums in Deutschland programmiert. heit vor dem ökologischen Suizid zu ret- tei entwickelten, die vielfach als linkes In Neumünster schlossen Vertreter ten. Getragen von der fundamentalisti- Druckpotenzial auf die SPD wirkte. des sogenannten realpolitischen Flü- schen Idee des »Ausstiegs aus der In- Trotz der immer wieder mit großer gels und des Linken Forums eine Art dustriegesellschaft«, postulierten sie Heftigkeit ausgetragenen Flügelkämp- Burgfrieden, mit dem die Flügelkämpfe, ihre Gegnerschaft zu den sogenannten fe, in denen sich die fortbestehende in- die ein Jahrzehnt lang das Bild der Grü- Industriegesellschaften in West und nere politische Differenziertheit der Par- nen in der Öffentlichkeit geprägt hatten, Ost. tei entlud, gelang es den Grünen bei der relativ beigelegt wurden. Die Meinungs- Bundestagswahl 1987, die Anzahl ih- unterschiede blieben zwar in vielen Fra- rer Mandate von 28 auf 44 zu erhöhen. gen bestehen, wurden aber moderater Radikal anders sein Bei der ersten gesamtdeutschen Bun- ausgetragen. Damit und mit der Verei- Die Grünen traten mit dem Anspruch destagswahl im Dezember 1990 erlit- nigung mit dem ostdeutschen Bünd- an, radikal anders zu sein als die etab- ten Die Grünen allerdings eine schwe- nis 90 (Mai 1993) wurde der Grundstein lierten Parteien. Bewusst defi nierten re Wahlniederlage. Mit 4,8 Prozent der gelegt für den erneuten Einzug als ge- sie sich quer zum politischen Parteien- Stimmen scheiterte die Öko-Partei auf samtdeutsche Partei in den Bundestag. spektrum: »Wir sind weder rechts noch dem westlichen Wahlgebiet knapp an Bei der Bundestagswahl im Septem- links, sondern vorn!« der Fünf-Prozent-Hürde. Die Grünen ber 1994 erzielten Die Grünen 7,3 Pro- Das wachsende Engagement der Par- hatten das alles beherrschende The- zent der Stimmen. Bereits bei der Euro- tei in der Friedensbewegung, das Auf- ma deutsche Einheit unterschätzt und pawahl im Juni 1994 hatten sie 10,1 Pro- greifen brennender sozialer Fragen, wie stattdessen die drohende Klimakatas- zent der Stimmen erreicht. es sich vor allem im »Sofortprogramm trophe zum Hauptthema erkoren. In den 90er Jahren fand ein gewal- gegen Arbeitslosigkeit und Sozialab- Die Wahlniederlage ereignete sich tiger personeller Umschlag in der Partei

ANALYSE DISPUT Februar 2009 034 statt. Viele Mitglieder aus den Anfangs- dergeschlagen, das Die Grünen auf ih- FRAUEN jahren kehrten ihr enttäuscht den Rü- rem Europa-Parteitag in Dortmund En- cken. Mehr als die Hälfte der heutigen de Januar 2009 beschlossen haben und Mitglieder trat erst nach 1990 in die Par- mit dem sie zur Europawahl am 7. Juni tei ein und brachte neue Wertorientie- 2009 antreten. Dieses Programm stellt rungen und Lebenserfahrungen mit, die Umwelt- und Wirtschaftspolitik in den zum Teil auch neoliberalen Ideen einen Vordergrund. Es plädiert für einen Poli- Nährboden bieten. tikwechsel – weg vom Neoliberalismus Nach ihrem Eintritt in die Bundesre- und hin zu einem sozialen und ökolo- gierung 1998 veränderten Die Grünen gischen Europa. Mit einem »Green New Am Vorabend des Frauentages füh- ihre Positionen auf wesentlichen Poli- Deal« aus Investitionen und Reformen ren wir am 7. März eine internatio- tikfeldern bis zur Unkenntlichkeit (Au- sollen Wirtschafts-, Klima- und Hunger- nale Frauenkonferenz in Potsdam ßenpolitik, Atompolitik, zum Teil neo- krise bekämpft, ökologische Verantwor- durch. Seit 1975 wird dieser Tag liberale Positionen in der Wirtschafts- tung und soziale Gerechtigkeit durchge- von der UNO als ein Tag der Men- und Sozialpolitik) und verloren zum setzt und nicht zuletzt die EU demokra- schenrechte begangen. Wir wol- großen Teil den Kontakt zu den sozialen tisiert werden. Eine intelligente Klima- len – besonders in Vorbereitung Bewegungen. Die Realität grüner Regie- und Energiepolitik und eine insgesamt der Europawahlen – aufzeigen, rungsbeteiligung führte zu einer tiefen nachhaltig ausgerichtete Wirtschafts- dass wir Frauen mithelfen werden, Enttäuschung der AktivistInnen der au- politik sollen neue Arbeitsplätze schaf- die richtigen Entscheidungen für ßerparlamentarischen Bewegungen. fen und Europa zum Vorreiter für einen ein soziales, solidarisches, fried- umfassenden internationalen Klima- liches und gerechtes Europa zu schutz machen. treffen. Neoliberaler Touch Die Grünen nehmen für sich in An- Frauen sind zur Gestaltung der Im März 2002 nahmen Die Grünen ein spruch, die Europapartei schlechthin zu Politik unverzichtbar. Wir gestal- neues Grundsatzprogramm an, das das sein, und befürworten prinzipiell – bei ten das Leben aktiv mit, da es um Saarbrücker Programm von 1980 ablös- Kritik im Detail – den Lissabon-Vertrag. unsere ureigensten Angelegen- te und zugleich einen Weg nachvollzog, Sie demonstrierten in Dortmund ein den die Schrägstrich-Partei in der poli- klares Bekenntnis zur europäischen In- tischen Praxis längst gegangen war. In tegration: »Wir wollen die EU weiterent- INTERNATIONALE ihm bekannten sich Die Grünen zu ei- wickeln, ökologisch, sozial, demokra- 7. März 10 bis 17 Uhr Potsdam Altes Rathaus ner »ökologischen und sozialen Markt- tisch, friedlich.« wirtschaft« als Ziel ihrer Wirtschafts- Die BDK in Dortmund stand insge- FRAUENKONFERENZ politik. Während im Bundesprogramm samt deutlich in der Kontinuität der vor- von 1980 mit dem apokalyptischen Pa- angegangenen Parteitage in Göttingen, heiten geht. Mit Mut, Engagement, thos der Gründergeneration grundsätz- Nürnberg und Erfurt. Das betrifft so- Wissen um die politischen Zusam- lich jegliches quantitatives Wirtschafts- wohl die inhaltliche Ausrichtung der menhänge kämpfen wir um unsere wachstum abgelehnt wurde, erklärten Beschlüsse als auch die Abgrenzung Rechte sowie um gesellschaftliche Die Grünen nun, Wettbewerb sei Motor gegenüber allen anderen Bundestags- Veränderungen in unserem Land für Wachstum und Wohlstand. Der neo- parteien. Mit der Wahl von attac-Mitbe- und in Europa. Das betrifft beson- liberale Touch des neuen Grundsatzpro- gründer und von Barba- ders die aktive Einbeziehung al- gramms war unverkennbar. ra Lochbihler von amnesty internatio- ler Frauen und Mädchen in das ge- Zu Recht schlugen Die Grünen nach nal auf sichere Listenplätze wurde das sellschaftliche Leben. Dazu ist es der Rückkehr in die Opposition 2005 Signal des Schulterschlusses, das Die notwendig, dass die Situation der eher leise Töne an. Eine Kehrtwende Grünen bereits von ihrem Parteitag in Frauen auf dem Arbeitsmarkt so um 180 Grad hätten ihnen die Wähler/ Erfurt im November 2008 an die sozi- gestaltet wird, dass jede Frau un- innen und Anhänger/innen ohnehin alen, globalisierungskritischen Bewe- abhängig und frei ihr Leben gestal- nicht abgenommen. Erst auf dem Köl- gungen gesandt hatten, bekräftigt. Die ten kann. Dazu gehören die Gleich- ner Parteitag 2006 wurden von der Par- Grünen hoffen auf den Zugpferd-Cha- berechtigung und die fi nanzielle teilinken kritischere Töne angeschla- rakter der beiden Kandidaten in einem Gleichstellung zwischen Mann und gen, begann nach einer Schamfrist eine Wählerspektrum, das auch von der LIN- Frau, die gute schulische Bildung, deutlichere Abgrenzung von der Großen KEN umkämpft wird. eine gute berufl iche Qualifi kation Koalition. Mit dem Sonderparteitag in Begeben sich Die Grünen also zu- und eine soziale Absicherung. Es Göttingen (September 2007), auf dem rück zu ihren Wurzeln? Werden sie wie- kann nicht sein, dass Frauen stän- sich Die Grünen für den (schrittweisen) der so wie in ihren Anfangsjahren? Wohl dig von Armut und häuslicher Ge- Ausstieg der Bundeswehr aus Afgha- kaum. Schon der griechische Philosoph walt bedroht sind. nistan entschieden, wurde aber das Heraklit wusste, dass man nicht zwei- Die Probleme im Land Branden- Ende der von Joschka Fischer geprägten mal in denselben Fluss steigen kann. burg und in Deutschland treten außen- und sicherheitspolitischen Linie Die Grünen besinnen sich aber wieder auch in vielen europäischen Län- der Öko-Partei markiert, und mit ihrem auf die außerparlamentarischen Bewe- dern auf. Daher ist es in dieser Zeit Nürnberger Parteitag (Ende 2007) und gungen, aus denen sie einst entstan- sehr wichtig, dass wir Frauen uns den dort gefassten Beschlüssen, die ei- den sind, und hoffen, aus dem Schul- verständigen, Lösungsvorschlä- ne Abkehr der Partei von neoliberalen terschluss mit ihnen neue Kraft saugen ge unterbreiten und unsere For- Elementen in ihrer Wirtschafts- und So- zu können. derungen gemeinsam durchset- zialpolitik bedeuten, kamen Die Grünen zen. Das Ziel ist, dass wir uns für in der Opposition an. Dr. Jochen Weichold ist Bereichsleiter in eine starke linke Fraktion im Euro- Diese politischen Positionen haben der Rosa-Luxemburg-Stiftung. päischen Parlament einsetzen. sich nun auch im Wahlprogramm nie- [email protected] Rosemarie Kaersten

35 0 DISPUT Februar 2009 LITERATUR

as Jahr ist voll von Jubiläen. Eines nicht guthieß, fand meist keinen Weg in davon fällt auf Christa Wolf: Sie Schreiben die öffentliche Diskussion. Christa Wolf D wird 80 Jahre alt. Man muss sie wusste das, selbst Mitglied dieser Par- nicht vorstellen, weder im Osten noch tei, setzte sie immer wieder auf Verän- im Westen – oder doch? Wie präsent ist für eine derung. »Kein Ort. Nirgends« (1979) – jemand, dessen Bücher man gelesen ein fi ktives Treffen zwischen Heinrich hat, sei es als Schullektüre oder aus ei- von Kleist und Karoline von Günderode, genem Antrieb, von dem man zu jedem unteilbare war nur ein scheinbarer Rückzug aus der runden Geburtstag große Artikel in den realen Gegenwart. Dabei ging es um ei- Medien fi ndet, dessen Name immer fällt, ne schmerzlich empfundene Alternativ- wenn es um die Literatur eines unterge- Welt losigkeit. Längst münzten Leser in der gangenen Landes geht, um den Zwie- DDR alle literarischen Sätze auf die eige- spalt zwischen Loyalität und Dissiden- Die Schriftstellerin Christa ne Befi ndlichkeit um, egal wer sie sagte. tentum? Gern wird Christa Wolf neben »Ich kann in gut und böse die Welt nicht Günter Grass gestellt. Bilder bezeugen, Wolf wird am 18. März teilen; nicht in zwei Zweige der Vernunft, oft standen sie auch vertraut beieinan- 80 Jahre alt Von Ingrid Feix nicht in gesund und krank.« Das war we- der – so ist das wohl ein passender Ver- nige Jahre nach der von Christa Wolf un- gleich: zwei weltbedeutende Schriftstel- terstützten Protesterklärung gegen die ler, Repräsentanten des in Ost und West Ausbürgerung Wolf Biermanns, als im- geteilten Deutschlands. Vieles ähnelt mer mehr Freunde und Kollegen den sich, bei beiden verlaufen die Grenzen Weg in den Westen wählten, sich unter zwischen Leben und Literatur fl ießend, 1968 von einer Schulfreundin eines der den Kulturschaffenden eine ziemliche mediale Anfeindungen und hohe Aus- wenigen in den Verkauf gelangten Bü- Lethargie verbreitete. Die Wolfs blieben zeichnungen inbegriffen (nur der No- cher »Nachdenken über Christa T.« un- in der DDR, fuhren aber zu zahlreichen bel-Preis, lediglich für den einen, stört ter dem Siegel der Verschwiegenheit ge- Gastvorträgen ins Ausland, nach Schwe- noch die Gleichgewichtigkeit). Doch was borgt bekam und sogleich abzuschrei- den, Finnland, Frankreich, in die USA. bringen schon solche Vergleiche, zumal ben begann. Was so politisch verwerf- Christa Wolfs Bücher erschienen in bei- im 20. Jahr des Mauerfalls, in dem noch lich an einem Buch sein sollte, das vom den Teilen Deutschlands und in vielen häufi g die Welt und ihre Werte in Ost Tod einer Leukämie-Kranken erzählt, Ländern der Welt. »Kassandra« (1983) und West eingeteilt werden. Christa Wolf, war mir zunächst unverständlich. Dass weitete das Verständnis für Probleme, die längst vor 1989 auch im Westen als ihre Auseinandersetzungen mit der ge- die über das kleine Land hinausreich- gesamtdeutsche Schriftstellerin gefei- sellschaftlichen Realität ihren Tod zu- ten, Frieden und was ihn stört. Im Wes- ert wurde, wird inzwischen öfter mit der mindest befördert hatten, sie also auch ten war es ein Buch über Frauenemanzi- Beifügung ihrer ostdeutschen Zugehö- an der DDR gestorben ist, war mehr eine pation. »Störfall. Nachrichten eines Ta- rigkeit bedacht. Der Weg zum Weltbür- Sache der Interpretation. Dass das Buch ges« (1987) machte die Katastrophe von ger ist in Deutschland nicht leichter ge- bis 1975 nicht erscheinen durfte, blieb Tschernobyl zum Thema, das in der DDR worden. für jemanden, der gelernt hatte, dass eher verschwiegen wurde. Immer wenn * keine Entwicklung ohne Widersprüche es um Literatur geht, und darum geht vor sich geht, unverständlich. Aber die es bei Christa Wolf am meisten, geht Oft sind es ganz persönliche Dinge, die Neugier auf alles, was in der DDR als po- es auch um die wichtigen Dinge dieser einem Bücher näher bringen. Christa litisch anrüchig galt, war geweckt. Das Welt, die für sie unteilbar ist. Wolf, 1928 in Landsberg an der Warthe sind nicht unsere Themen, so sind un- * im heutigen Polen geboren, gehört zur sere Menschen nicht. Der Sozialismus Generation meiner Eltern. Aus Chris- braucht Optimismus. Forderungen die Es verwunderte niemanden, dass sie ta Wolfs »Kindheitsmuster« (1976) er- nicht nur Christa Wolf zu hören bekom- am 4. November 1989 bei der Großde- fuhr ich, wie es meinem Vater gegangen men hatte. Das waren Stimmen aus ein monstration zur Beerdigung der DDR sein muss, der als Kind mit Mutter und und derselben Elterngeneration. auf dem Alexanderplatz dabei war und Schwester Hals über Kopf seinen tsche- eine Rede über die »Sprache der Wen- chischen Geburtsort verlassen musste. * de« hielt. Dass es von ihr nicht nur so Aus den Trümmern des Krieges auf den dahin gesagt war, man solle am besten Straßen und in den Köpfen sollten und Spätestens seit dem 11. Plenum des ZK das Wort »Wende« durch »revolutionäre wollten sie eine neue Zukunft schaffen. der SED von 1965, auf dem eine neue Erneuerung« ersetzen, unterstrich sie Der schwere Anfang beim Aufbau des kulturpolitische Linie festgelegt und fast einige Tage später mit dem Aufruf »Für Sozialismus – das war Schulstoff. »Der eine ganze Jahresproduktion an DEFA- unser Land«. Darin ging es um den Er- geteilte Himmel« (1963), also die aus- Filmen verboten worden waren, hörte halt der DDR und gegen die »Vereinnah- einander gerissene Familie, war bei uns man von Christa Wolf auch öffentlich mung« durch die Bundesrepublik. Aber mehr Realität als Roman. Spannender kritische Töne. Die Wahrnehmung in der das überhörten viele im Osten, und im wurde es, als ich im aufwühlenden Jahr DDR war eingeschränkt, was die Partei Westen nahm man ihr das übel. Mit

DISPUT Februar 2009 036 »Ja, ich begnüge mich nicht mit Privatem. Die Kunst hat die Aufgabe, seismo- grafi sch wahrzu- nehmen, wenn sich die Gesell- schaft in einer tiefen Krise befi ndet, die ihre leitenden Vertreter nicht wahrnehmen. Ich glaube, jetzt ist es wieder so. Aus DDR-Erfahrung weiß ich, was es bedeutet, wenn man nur noch zwischen falschen Alterna- tiven wählen kann.« Christa Wolf in einem »Zeit«- Gespräch im Februar 2002

In einer Akade- mieveranstaltung,

Berlin, 1985 Wehnert © Erich

»Was bleibt« (1990), worin es um ihre Krise und Zusammenbruch der DDR. Der was sie vierzig Jahre lang immer am 27. Überwachung durch das Ministerium für Roman zeigt, wie stark sich gesellschaft- September notiert hat. Es geht vor allem Staatssicherheit geht, kam es zu einer liche Veränderungen in ein mensch- um kleine, banale Dinge, die das Leben, Debatte um die Arrangements der DDR- liches Leben eingraben können. den Alltag ausmachten. Selbsterfahrung Künstler und -Intellektuellen mit der heißt ihre Maxime, die sie in die Litera- Macht. Eine alte Stasiakte wurde aus- * tur einbringt. Dass sie in der Lage oder gegraben, drei frühe Jahre als IM ausge- besser unter dem Zwang steht, auch spielt gegen 20 späte Jahre der Bespit- Inzwischen haben sich Biografen be- körperlich zu leiden an dem, was falsch zelung. Plötzlich in einer Verteidigungs- müht, Christa Wolf als Mensch und als läuft oder sich als unabänderlich er- situation, trat Christa Wolf den Rückzug Schriftstellerin zu erforschen. Wer aber weist, lässt sich in ihren Büchern nach- von der politischen Bühne, kaum dass könnte besser für sie sprechen, als ihre lesen. Nicht Leidenslust, sondern Ver- sie sie betreten hatte, in die Literatur an. Bücher. Sie, die stets nach den Wurzeln antwortung nennt sie, was ihr mancher Obwohl, die literarische Arena hatte sie des Unbewussten, nach Erklärungen Kritiker als Gejammer auslegte. Diese sowieso nie verlassen, Erzählungen und für Gefühle und Verhaltensmuster Verantwortung aber kommt aus der Lust Ehrungen gab es auch in dieser Zeit so sucht, fi ndet ihren Lebensort stets neu am Leben. Mit ihren Büchern wie auch einige. Mit »Medea« (1996) ist es wie- im Schreiben. Wer nach Wurzeln sucht, mit manchem Ratschlag spricht sie de- der eine antike Sagenfi gur, die den Blick landet unweigerlich in der Vergangen- nen Ermutigung zu, die ihrer bedürfen. über alle Grenzen wirft. In »Leibhaftig« heit. Das Bewahren von Erinnerung sei Es gab bisher viele Widerstände, denen (2002) geht es um die lebensbedro- ihr wichtig, so sagte sie im Zusammen- Christa Wolf trotzte, sie blieb sich stets hende Erkrankung einer Frau, die Verin- hang mit dem 2003 erschienenen Band treu. Dass das so bleibt, ist ihr und uns, nerlichung gesellschaftlicher Konfl ikte, »Ein Tag im Jahr«. Darin veröffentlicht sie, ihren Lesern, zu wünschen.

370 DISPUT Februar 2009 Das »ND« Im Verlag »Das Neue Berlin« ist eine Geschichte des »Neuen Deutschland« erschienen Von Ronald Friedmann

Im Grunde haben Zeitungen keine Honecker, den Macherinnen und Ma- das »Kahlschlagplenum« geschildert, wirklich eigene Geschichte. Das »Neue chern der Zeitung immer engere Fes- das es in kulturpolitischer Hinsicht Deutschland« macht da keine Ausnah- seln an. Dass Chefredakteure wie Her- auch war. Dass es aber als solches me, auch wenn die Autoren Burghard mann Axen, Joachim Herrmann oder nicht konzipiert gewesen war, sondern Ciesla und Dirk Külow ihrem Buch »Zwi- Günter Schabowski selbst in der engs- erst durch die persönliche »Initiative« schen den Zeilen» den Untertitel »Ge- ten Führung der SED saßen, steht dazu Honeckers dazu gemacht wurde, der schichte der Zeitung ›Neues Deutsch- keineswegs im Widerspruch. im »Bericht des Politibüros« seine ei- land‹« gegeben haben. Letztlich liefern Den Autoren ist es nicht wirklich genen kulturpolitischen Attacken ritt, die Autoren selbst den Beweis für die- gelungen, den sich aus dieser Verqui- bleibt ungesagt. se These, denn buchstäblich jede Sei- ckung ergebenden methodischen Kon- Auch in anderer Hinsicht hat das

Das Politbüro tagt 1950. Das einzige Foto von einer solchen Sitzung, das im ND veröffentlicht wurde.

Rotation. In der Druckerei, um 1960 te ihres Buches macht deutlich, dass fl ikt zu lösen. Bei den Berichten über die »Geschichte der Zeitung ›Neues Ereignisse der Zeitgeschichte verlieren Deutschland‹« bis in das Jahr 1990 hin- sie sich immer wieder in der Schilde- ein eigentlich nur eine mehr oder we- rung von Details, die mit dem ND nichts niger gebrochene Widerspiegelung der oder nur wenig zu tun haben, so bei der Geschichte der SED und der DDR war. viel zu ausführlichen Darstellung der Was immer in der Zeitung in jenen Jah- Vorgänge in der engeren DDR-Führung ren zu lesen war, was immer in den Re- vor dem 13. August 1961. daktionsstuben geschah: Von ganz we- Bei anderen Fragen beschränken sie nigen Ausnahmen abgesehen wurden sich auf die Wiedergabe von Klischees, alle wesentlichen Entscheidungen da- die offensichtlich dem Zeitgeist ge- zu andernorts – zumeist im Politbüro schuldet sind, obwohl ein etwas gründ- oder im Sekretariat des Zentralkomi- licherer Blick in das ND eine ganz an- tees der SED – getroffen. dere Wahrheit ans Licht gebracht hätte: Dem ND blieb die Aufgabe, die Vor- Walter Ulbricht reduzierte seine Kritik gaben der »Partei- und Staatsführung« an Stalin im Jahre 1956 eben nicht dar- in das Zeitungsformat zu übersetzen, auf, ihn nicht mehr zu den »Klassikern »kollektiver Propagandist, Agitator und des Marxismus-Leninismus« zu zählen, Organisator« zu sein, wie es Lenin einst wie die Autoren das in ihrer Darstellung in einem ganz anderen Sinne formu- der – weitgehend aus dem Stegreif ge- liert hatte. Auch dass es dabei in jour- haltenen – Rede Ulbrichts vor dem Ber- nalistischer Hinsicht Höhen und Tiefen liner Parteiaktiv am 3. März 1956 glau- gab, über die die Autoren sehr ausführ- ben machen wollen. Bei zahlreichen lich und lesenswert berichten, war we- anderen Gelegenheiten griff Ulbricht niger den Mitarbeiterinnen und Mitar- das Thema und seine eigenen Darle- beitern des ND als vielmehr den poli- gungen an diesem 3. März 1956 kri- tischen Verhältnissen in der DDR ge- tisch und selbstkritisch auf, nachzule- schuldet. Sie ließen zeitweise größere sen beispielsweise im ND vom 1. Au- oder kleinere Spielräume zu, legten gust 1956. aber, und das insbesondere seit 1971, Das 11. Plenum des ZK der SED im dem Jahr des Machtantritts von Erich Dezember 1965 wird ausschließlich als

MEDIEN DISPUT Februar 2009 038 Buch Schwächen, was sich vor allem an und ausnahmsweise nicht im »Großen großen Räume für nur eine Feier gab? Themen zeigen lässt, die von den Au- Haus«, dem Sitz des ZK. Äußerst informativ hingegen sind die toren nicht oder nur am Rande behan- Schilderungen zu den technologischen delt wurden. Ein Beispiel dafür ist die Prozessen, insbesondere in der Druck- Saalnot und Treuhandzwang im Mai 1953 vom damaligen Kulturre- technik. Es wird noch einmal deutlich, dakteur des ND, Wilhelm Girnus, losge- Über weite Strecken ist das Buch auch dass die DDR in diesem Bereich an der tretene Diskussion um das von Hanns und vor allem eine Betriebsgeschich- Weltspitze mitspielte und dass schon Eisler verfasste Textbuch einer deut- te von Redaktion, Verlag und Drucke- deswegen – aus Sicht der Treuhandan- schen Nationaloper »Johann Faustus«, rei des ND, die in dieser Form eigentlich stalt und ihrer Auftraggeber – die po- mit dem, so Girnus, Eisler dem »deut- nur für (ehemalige) Mitarbeiterinnen lygraphische Industrie der DDR nach schen Nationalgefühl ins Gesicht ge- und Mitarbeiter und deren Angehörige 1990 zerstört werden musste. schlagen« habe. Es entwickelte sich interessant ist. Denn für wen ist es bei- Bedauerlicherweise widmen die Au- daraus eine der erbittertsten kultur- spielsweise wirklich wichtig zu wissen, toren den Ereignissen nach 1990 nur politischen Debatten in der Geschich- dass es im Frühjahr 1956, zum zehnten wenige Seiten. Ausführlich werden zwar te der DDR. Doch auch dieses Ereig- Jahrestag der Zeitung, wegen der inzwi- die Machenschaften der Treuhandan- nis fi ndet bei Ciesla und Külow nicht schen deutlich gestiegenen Größe der stalt und der dem Bundesinnenminis- statt, was schon deswegen zu bemän- Belegschaft notwendig war, zwei Be- terium unterstellten sogenannten Un- geln ist, weil diese Diskussion tatsäch- triebsfeiern durchzuführen, weil es in abhängigen Kommission zur Überprü- lich im ND ihren Ausgangspunkt hatte, Berlin zu jener Zeit keine ausreichend fung des Vermögens der Parteien und © aus dem Buch © aus

Das ND heute. Massenorganisationen der DDR gegen Sitzung mit das »Neue Deutschland« dargestellt. Chefredakteur, Doch wichtige Entwicklungen, die das 2008 Selbstverständnis der Zeitung und ih- rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betrafen und betreffen, werden besten- falls erwähnt. Für den Leser wäre es je- doch durchaus interessant zu erfahren, welche unmittelbaren und längerfristi- gen Wirkungen beispielsweise die Be- rufung des »Wessis« Jürgen Reents als Chefredakteur hatte und hat. Doch hier Letzter Bleisatz, ist der zeitliche und sonstige Abstand 1. Dezember 1990 der Autoren zu den Akteuren und den Ereignissen und Entwicklungen wahr- scheinlich einfach zu knapp. Nicht nur in dieser Frage, und das sei die versöhnliche Bilanz, bleibt künftigen Historikern und Politikwis- senschaftlern also noch genug zu tun, wenn es um die »Geschichte der Zei- tung ›Neues Deutschland‹« geht. Und noch eines: Spannend bis zur letzten Seite sind die zahlreichen Ab- bildungen, die das Buch eigentlich zu einer »Illustrierten Geschichte des ND« machen.

Burghard Ciesla und Dirk Külow: Zwischen den Zeilen: Geschichte der Zeitung »Neues Deutschland«. Das neue Berlin, 256 Seiten, 24,90 Euro

390 DISPUT Februar 2009 Mein Kind, der Nazi Ein Gespräch mit Claudia Hempel über Notwendigkeiten, Versäumnisse und das fatale Schweigen

ben ein individuelles Problem mit Ih- rem Kind, aber das können wir nicht lö- Eltern berichten sen.« Am Ende ist verständlicherweise Warum gerade ich? Warum ge- eine große Scham und Zurückhaltung rade mein Kind? Warum hilft mir im Spiel. Wenn ich als Elternteil solche keiner? Drängende Fragen von Erfahrungen gemacht habe, rede ich Müttern und Vätern, deren Kin- doch erst recht nicht mehr mit jeman- der Neo-Nazis sind. In ihrem dem über mein Problem. Buch »Wenn Kinder rechtsex- trem werden« (208 Seiten, Ver- Es ist interessant, in den von Ihnen ge- lag zu Klampen) lässt die Dres- sammelten Berichten zwischen den dner Journalistin und Filmema- Zeilen zu lesen: Bei einigen Eltern wird

© Nils Werner © Nils cherin Claudia Hempel betrof- deutlich, dass sie sehr unter dem po- fene Eltern über das Ringen um litischen Abdriften des eigenen Kin- ihre Kinder berichten. Ein Rat- des leiden. Anderen wiederum scheint In Ihrem Buch »Wenn Kinder rechtsex- geberteil bietet darüber hinaus es eher vor Nachbarn und Verwandten trem werden« lassen Sie Eltern zu Wort Beratungsadressen sowie Über- peinlich zu sein, was sich da im eige- kommen, deren Söhne und Töchter in sichten über Symbole und Codes nen Haushalt abspielt. die Nazi-Szene abgedriftet sind. Auf- der extremen Rechten. »Das Buch Es gibt tatsächlich – und das bestä- fällig ist: Die meisten Ihrer Gesprächs- kann sensibilisieren und Müttern tigen Beratungsstellen – zwei wesent- partner sind Mütter, nur ein Vater zeigt wie Vätern Mut machen. Es ist der liche Tendenzen bei Eltern: Die einen sich auskunftswillig. Wo liegen Ihrer erste Schritt, das Schweigen zu leiden unter dem, was geschieht. Die Erfahrung nach die Gründe für dieses durchbrechen«, schreibt Prof. Dr. anderen wollen lediglich, dass ihr Kind Ungleichgewicht? Wilhelm Heitmeyer, Konfl ikt- und entkriminalisiert wird, und der Rest ist Das war auch für mich eine unerwar- Gewaltforscher an der Universität ihnen egal. tete Erfahrung: Ich wollte betroffene El- Bielefeld, im Vorwort zu Claudia Das hat auch mit dem politischen tern interviewen – und landete immer Hempels Buch. Bewusstseinsgrad betroffener Eltern wieder bei den Müttern. In den Inter- zu tun: Eltern, die apolitisch sind, ist es views habe ich dann mitbekommen, peinlich, wenn der Sohn oder die Toch- dass hierfür zwei Gründe ausschlag- ter Neo-Nazi ist – weil es ein gesell- gebend waren: Entweder fressen Vä- schaftliches Stigma ist. Demgegenüber ter den Kummer, den sie mit ihren Na- setzen sich Eltern, die politisierter sind zi-Kindern haben, völlig in sich hin- und die Sache entsprechend betrach- ein und kommunizieren ihn überhaupt ten, inhaltlich ganz anders mit der Si- nicht nach außen – oder sie bagatel- tuation auseinander. Ihnen ist es auch lisieren das Problem, sagen, dass sie peinlich, aber sie kämpfen darüber hin- in ihrer Jugend auch irgendwelche wil- aus auf einer politischen Ebene gegen den Sachen getrieben haben und dass ihr Kind und dessen rechtsextreme Hal- sich beim Nachwuchs schon alles wie- tung. Solche Eltern fragen sich häufi g, der auswachsen werde. Das ist übri- was sie in der Erziehung falsch gemacht gens ein Bild, das sich mit den Beob- Repro haben könnten, refl ektieren auch stark achtungen von Beratungsstellen deckt. das eigene Umfeld, prüfen in der Erin- nerung, ob vielleicht auf einer Familien- Ein Neo-Nazi in der eigenen Familie, betroffene Eltern, die über ihr Problem feier oder beim Bier mit Freunden mal und dann auch noch das eigene Kind. reden wollen, kriegen genau diese Kli- so ganz nebenbei irgendwelche rassis- Gibt es in dieser Hinsicht ein familiäres schees widergespiegelt. Das merken tische oder antisemitische Sprüche ge- Schweigegebot? sie an den Reaktionen der Nachbarn, fallen sein könnten. Sie forschen ihr Fa- Bevor ich zu recherchieren anfi ng, an den Reaktionen von Verwandten und milienleben nach Situationen durch, in hatte ich selbst ein Klischee im Kopf: Bekannten, an denen von Schulen und denen möglicherweise etwas schief ge- Wer ein rechtsextremes Kind hat, der Jugendämtern. Wenn diese Eltern nicht laufen sein könnte. hat bestimmt irgendwelche eigenen mehr weiterkönnen und nach Hilfe su- Leichen im Keller; entweder sind sol- chen, bekommen sie den Ball ständig Einige Eltern berichten davon, dass che Eltern selbst rechtsextrem, oder sie zurückgespielt. Vom Jugendamt wird »plötzlich« das eigene Kind ein Neo- haben sich nicht richtig um ihre Kinder ihnen gesagt: »Sie sind geschieden – Nazi gewesen sei. Was wurde da von gekümmert. Ich habe gedacht: Da muss da ist es ja kein Wunder, dass Ihr Kind den Eltern übersehen? doch irgendetwas schief gelaufen sein. rechtsextrem ist.« Schuldirektoren sa- Für alle der von mir befragten Eltern Heute weiß ich, dass man das viel gen: »An unserer Schule gibt es kein gilt: Zwischen dem Moment, in dem das differenzierter betrachten muss. Denn Problem mit Rechtsextremen – Sie ha- Kind sozusagen leise begonnen hat,

GESELLSCHAFT DISPUT Februar 2009 040 rechtsextrem zu werden, und dem Ab- digen Stellen abblocken oder inkompe- Meine Auswahl an Gesprächspart- schluss dieses Wandels sind ungefähr tent reagieren. nern bildet einen Querschnitt durch zwei bis drei Jahre vergangen. Die Eltern die gesamte Bundesrepublik. Ich hät- haben so lange gebraucht, den Wandel Man sollte eigentlich annehmen, dass te mir noch ein paar mehr gesprächs- ihres Kindes zu realisieren, weil sie die Schulen und Jugendämter ein ureige- bereite Eltern aus westdeutschen Bun- Symbole, die hierbei eine Rolle spie- nes Interesse daran haben, für die Si- desländern gewünscht. Aber erstaunli- len, nicht deuten konnten. Sie kennen tuation solcher Eltern ein offenes Ohr cherweise habe ich mir im Westen we- sich nicht mit Nazi-Rockmusik aus, und zu haben … sentlich mehr Absagen eingehandelt wenn der Sohn mit einem Thorhammer- Schlimm hieran fi nde ich, dass man als im Osten. Von den Eltern aus ost- Kettchen ankommt, freuen sie sich so- gar und fi nden das immerhin noch schö- ner als irgendeine komische Goldkette. Wichtig ist eine professionelle Beratung, Eltern kennen in der Regel auch die ein- schlägigen Kleidungsmarken der Neo- denn das Problem lässt sich allein in der Nazi-Szene nicht. Oft freuen sich die El- tern darüber, dass sich etwa ihre Söh- Familie nur sehr schwer lösen, vielleicht ne für Klamotten interessieren und ihr Taschengeld nicht für andere, scheinbar sogar überhaupt nicht. Im Osten sind solche sinnlosere Dinge ausgeben. Die meis- ten Eltern sind, was diese Zeichen und Strukturen professioneller Beratung viel Anzeichen eines Wandels beim Kind an- geht, völlig ahnungslos. stärker ausgebaut als im Westen. Daneben gibt es allerdings noch ei- ne andere Ebene: Das eigene Kind wird plötzlich unvertraut. Alle betroffenen die abblockenden Reaktionen von deutschen Bundesländern, die ich kon- Eltern haben erlebt, dass sie in einigen Schulen und Jugendämtern überall in taktiert habe, waren 95 Prozent bereit, Bereichen überhaupt nicht mehr an ihr Deutschland findet. Bei meinen Re- über ihre Erfahrungen zu sprechen. Im Kind herankamen. Ein Vater hat mir er- cherchen dachte ich zunächst, manche Westen dagegen war es eher so, dass zählt, dass sein Kind eigentlich immer Eltern seien in den Jugendämtern viel- 95 Prozent ein Interview ablehnten. fröhlich gewesen sei – aber plötzlich leicht an etwas seltsame Bearbeiter ge- Woran das letztlich liegt, habe ich bis sei das Lachen des Kindes völlig ver- raten. Tatsächlich, so stellte ich im wei- heute für mich noch nicht klären kön- schwunden gewesen. Die Augen hätten teren Verlauf fest, liegt hier ein klares nen. Ist die Scheu vor den Medien im nicht mehr geleuchtet. Muster vor. Die Eltern haben überall Westen größer? Ist die Scham größer? Wirklich plötzlich, wie viele Eltern be- dieselben Erfahrungen mit Jugendäm- Ich weiß es nicht. richten, kommt so etwas natürlich nicht. tern gemacht, egal ob in Berlin oder Aa- Ich habe die Elternberichte wie Zeug- chen, in Bayern oder Mecklenburg-Vor- Sie dokumentieren in Ihrem Buch nicht nisse eines Trauerprozesses gelesen. pommern. Das fi nde ich doch sehr be- nur das Treiben von Skinhead-Grup- Am Anfang steht natürlich das Nichtwis- denklich, denn das Problem Rechtsext- pen und sich »heimatverbunden« ge- sen. Dann kommt eine Ahnung, gleich- remismus gibt es nicht erst seit gestern. benden Jugendorganisationen, son- zeitig greift aber auch eine extreme Ver- Die Jugendämter hätten lange Zeit ge- dern ebenso das von universitären drängung. Verdrängt wird deshalb, weil habt, sich in diese Problematik einzu- Burschenschaften. Das Abdriften nach das Bild des eigenen Kindes nicht mit arbeiten und sich auf die Hilferufe der rechtsaußen scheint also nicht nur ein dem medial transportierten Bild von Eltern vorzubereiten. Problem sogenannter bildungsferner Neo-Nazis mit Bomberjacke und Sprin- Schichten zu sein, sondern auch eines gerstiefeln zusammenpassen mag. Alle Haben die Jugendämter geschlafen? akademischer Kreise. Eltern sehen ihre Kinder doch als zart, Anders kann ich mir dieses Reakti- Das ist tatsächlich ein Punkt, der sensibel, offen, intelligent und fröhlich. onsmuster nicht erklären. oftmals übersehen wird. Viele ma- Irgendwann aber kommen die Eltern an chen es sich zu einfach, indem sie sa- den Punkt, dass sie nicht mehr über- Betroffene Eltern, die in Dörfern oder gen: Neo-Nazis, das sind bloß dump- sehen können, welche Entwicklung ihr Kleinstädten leben und mit ihrem Pro- fe, rohe Gestalten, mit denen muss Kind genommen hat – deshalb der Mo- blem an die Öffentlichkeit gehen, wer- man sich nicht auseinandersetzen. Die ment des Plötzlichen: Plötzlich ist das den von ihrem Umfeld schnell als me- braune intellektuelle Elite ist quantita- eigene Kind rechtsextrem, plötzlich ist diengeil abgestempelt – ein weiterer tiv sicher nicht sehr stark, und das Gros es ein Nazi. Das muss man als psycho- Schlag in den Nacken. dieser Leute ist immer noch relativ ein- logischen Prozess sehen. Solchen Eltern wird unterstellt, sie fach gestrickt, trotz Abitur und Studium. wollten sich nur vor Fernsehkameras Aber es gibt auch rechte Intellektuelle. Dass man an das eigene Kind nicht drängen oder vor Mikrofone werfen. Und man muss sich mit ihnen ausein- mehr herankommt, dürfte ein wesent- Sie gelten als Nestbeschmutzer. Dieses andersetzen, man muss auch ihren Ar- licher Aspekt der elterlichen Hilfl osig- Denken ist noch weit verbreitet. Das ist gumentationsmustern begegnen. keit sein. beinahe ein automatischer Refl ex: Was Genau. Und dann kommt, wie ge- sollen die Leute jetzt über unser Dorf, Was ist für Eltern, die sich zu Hause mit sagt, ein weiterer Aspekt hinzu, der die über unsere Stadt denken? einem Neo-Nazi-Kind konfrontiert seh- Sache noch verschärft: die Erkenntnis, en, besonders wichtig? dass es erst einmal niemanden gibt, Es ist immer noch ein beliebtes Bild, Wichtig ist eine professionelle Bera- an den man sich als betroffene Mut- dass hauptsächlich der Osten braun tung, denn das Problem lässt sich al- ter oder als betroffener Vater wenden sei. Woher stammen Ihre Interview- lein in der Familie nur sehr schwer lö- kann. Eben weil die eigentlich zustän- partner? sen, vielleicht sogar überhaupt nicht.

410 DISPUT Februar 2009 Im Osten sind solche Strukturen pro- Hände. Diese präsentieren sich näm- les Gut. Und das muss sich ändern. Sol- fessioneller Beratung viel stärker aus- lich selbst gern als Ersatzfamilie, nach che gesellschaftlichen Leerstellen darf gebaut als im Westen. Die Mobilen Be- dem Motto: »Sogar deine Eltern haben es nicht geben. Denn das Schweigen ratungsteams sind eine gute Anlauf- dich verstoßen, aber wir sind für dich der Mehrheit deuten Neo-Nazis als Zu- stelle. In westlichen Bundesländern bil- da.« Dieser Strategie können Eltern nur stimmung. den sich erst langsam entsprechende mit zwei Dingen gleichzeitig begegnen: In Bezug auf betroffene Eltern hat Strukturen heraus. Liebe und Konsequenz. die Gesellschaft ebenfalls Möglich- Wichtig ist aber ebenso die Unter- keiten, zu helfen und zu unterstützen. stützung durch Verwandte und durch In Ihrem Buch schreiben Sie, rechts- Sei es etwa durch Elternabende in der die bisherigen Freunde der Kinder. Es extreme Kinder seien nicht nur eine Schule, die zum Thema »Jugendliche ist hilfreich, wenn diese die Eltern un- innerfamiliäre Zerreißprobe, sondern und Rechtsextremismus« veranstaltet terstützen, indem sie ihrem Paten- ein gesellschaftliches Problem. Was werden. Sei es dadurch, dass man das kind, ihrem Neffen oder der Nichte sa- kann Ihrer Ansicht nach die Gesell- Problem überhaupt in der Schule offen gen: »Ich mag dich – aber ich akzep- schaft tun? angeht. Ich war kürzlich zu Gast in einer tiere nicht deine Nazi-Haltung. Das to- Ich fi nde es erstaunlich, wie wenig Berufsschule, wo das geschehen ist: Es leriere ich nicht, und es gibt auch keine Widerstand rechtsextreme Jugendliche gab einen Neo-Nazi-Fall in der Schule, Ebene, wo wir uns hier näher kommen immer wieder erfahren. Da ziehen et- eine betroffene Mutter hatte sich an könnten.« Diese Haltung muss klar wa junge Neo-Nazis mit der verbotenen die Direktorin gewandt – und darauf- durchgehalten werden. Gleichzeitig Reichskriegsflagge durch Wohnsied- hin lief an der Schule eine Infowoche müssen Eltern signalisieren: »Wir sind lungen – und niemand sagt oder tut et- zu Fragen von Demokratie und Rechts- für dich da. Wenn du ein Problem hast, was dagegen. Da werden dunkelhäu- extremismus. Wenn offensiv mit dem kannst du jederzeit damit zu uns kom- tige Menschen in der Straßenbahn von Problem umgegangen wird, ist das er- men. Du bist und bleibst unser Kind.« Neo-Nazis angepöbelt – und niemand mutigend. Schweigen und Verdrängen Wer das eigene Kind verstößt oder den schreitet ein. Dieses Schweigen der Ge- hilft wenig. Kommunikationsprozess abbricht, der sellschaft empfi nde ich als fatal. Zivil- spielt damit genau den Nazis in die courage scheint ein seltenes und fragi- Interview: André Hagel

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GESELLSCHAFT DISPUT Februar 2009 042 6. Akademie linker Netze knüpfen Medienmacher/innen EIN PROJEKT DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG

Medienakademie mit 120 Angeboten, die für 5. bis 8. März 2009 den Alltag fi t machen sollen Von Christoph Nitz Tagungszentrum Franz-Mehring-Platz 1 10243 Berlin Teilnahmebeiträge: zwischen 10 und 125 € Weitere Informationen, das Programmheft zum Durchblättern und Anmeldung: www.linke-medienakademie.de

Niveau von Journalistenschulen, po- litische und medienpolitische Debat- ten sowie das abendliche Gespräch un- ter Genossinnen und Genossen kommt sehr gut an. Die LiMA boomt: Mehr als 300 Anmeldungen lagen vier Wochen vor Kongressbeginn bereits vor. Die Veranstaltungen sind in zehn Kapitel gegliedert und umfassen al- le Medien – von der klassischen »klei- nen Zeitung« bis hin zum Web 2.0 mit neuen Kanälen wie Microblogging. Neu sind Angebote, die sich an freie Radio- macher/innen richten. Außerdem neu: LiMAcampus – ein Tag für junge Medi- enaktivisten. Gemeinsam mit dem För- dererkreis für demokratische Volks- und Hochschulbildung, DIE LINKE.SDS und linksjugend [’solid] wird 2009 ein Tag mit Workshops und Diskussionen für Menschen unter 35 angeboten – mit

© LiMA der Möglichkeit, das Anschlussticket Wie machen‘s andere, wie machen wir‘s besser? für den gesamten Kongress zum Son- derpreis zu lösen. 2009 bietet die Linke Medienakademie Stiftung als Projekt der politischen Bil- Zugesagt haben unter anderen: Zack [LiMA] zum sechsten Mal ihren Kon- dung im Tagungszentrum Franz-Meh- Exley – ein Pionier von Internetkampag- gress für engagierte Bürgerinnen und ring-Platz in Berlin durchgeführt. Die nen und Insider der Obama-Webkam- Bürger mit einem umfangreichen Pro- Teilnehmerzahl verdreifachte sich auf pagne; Bascha Mika, Chefredakteurin gramm rund um Bürgermedien – Pres- mehr als 300, und die Resonanz auf der »taz«; Jürgen Reents, Chefredak- se, Radio, TV, Internet – an. Vier Tage unser Konzept der Kombination von teur des »ND«; Tissy Bruns vom »Tages- voll gepackt mit Vorträgen, Diskussi- Debatte, Weiterbildung und Networ- spiegel«, Michael Schroeren, Wolfgang onen, Ausstellungen, Workshops und king war meist sehr positiv. Die Bun- Storz (ehemals Chefredakteur »Frank- Exkursionen. desarbeitsgemeinschaft Rote Repor- furter Rundschau«), Nicole Kirchner, Insgesamt werden 120 Veranstaltun- ter/innen empfi ehlt allen Genossinnen Chefredakteurin »Melodie & Rhyth- gen mit mehr als 85 ReferentInnen un- und Genossen, die Akademie zu besu- mus«; , Gabriele Hooffacker ter dem Motto »Debatte, Networking chen und sich auch so auf das Super- (Journalistenakademie München), Mi- und Weiterbildung« vom 5. bis 8. März wahljahr vorzubereiten. Der Trägerver- chael Meissner (Freie Universität Ber- in Berlin durchgeführt. Es werden meh- ein Linke Medienakademie e. V. wurde lin), Norbert Küpper (European News- rere hundert Teilnehmende erwartet. von Mitgliedern des Bundessprecherin- paper Award), Stephan Weichert und Die Akademien entstanden aus den nenrates der BAG Rote Reporter/innen Leif Kramp zum Thema »Journalismus Weiterbildungskursen des Parteivor- aus der Taufe gehoben und soll als Bil- in der Berliner Republik – Wer prägt die standes für die Macher/innen der so- dungsverein die Weiterbildungsange- Agenda in der Bundeshauptstadt«, Ute genannten kleinen Zeitungen der PDS. bote für Medienmacher/innen in und Scheub, Ulrike Maercks-Franzen von 2001 besuchten Bianka Spiess und ich bei der Partei DIE LINKE organisieren. der Deutschen Journalistinnen- und einen zweitägigen Workshop und waren Diskussionen, Fachvorträge, Work- Journalisten-Union dju, Tina Groll vom über das Angebot an fachlichen Weiter- shops, Intensiv-Kurse, Exkursionen, Le- Deutschen Journalistinnenbund, Katja bildungsmöglichkeiten enttäuscht. Ab sungen, Ausstellungen und genügend Kipping; Markus Beckedahl (Web 2.0- 2002 wurden uns diese Lehrgänge an- Möglichkeiten für abendliches Networ- Experte) und, und, und. vertraut. Wir nennen sie seit 2004 Wo- king werden angeboten. Die Akademie chenendakademie und erweiterten ist eine anerkannte Veranstaltung der Christoph Nitz ist Sprecher der Bundes- kontinuierlich das Angebot. politischen Bildung sowie der beruf- arbeitsgemeinschaft Rote Reporter/in- 2008 kam ein großer Sprung: Die lichen Weiterbildung nach dem Berli- nen und Mitinitiator der Linken Medien- Akademie wurde erstmals in Zusam- ner Bildungsurlaubsgesetz. akademie [LiMA]. menarbeit mit der Rosa-Luxemburg- Die Mischung Weiterbildung auf dem [email protected]

43 0 DISPUT Februar 2009 MEDIEN BRIEFE

Einsetzen Kennenlernen uns Argumente, um den WählerInnen im anstehenden Europawahlkampf klar Wir sagen ja zu Europa, wollen aber Am 10. Januar besuchte ich das Neu- zu machen, wie wichtig Europa auf nati- kein Europa der Agrarlobby und der mitgliedertreffen in Potsdam. Die Lan- onaler und kommunaler Ebene ist und Großkonzerne, kein Europa der Tier- desgeschäftsstelle hatte die 2008 ein- dass man deshalb unbedingt von sei- transporte und der Vergiftung unserer getretenen (mehr als 300!) Neumit- nem Wahlrecht Gebrauch machen soll- Felder, keine bürgerferne Brüsseler Re- glieder eingeladen. Leider kamen nur te. Es war eine wirklich gute Veranstal- gierungswut, sondern ein Europa der knapp 30. Wir waren eine »gut ge- tung, die Neumitgliedern die Möglich- Vielfalt der Völker und der freien Entfal- mischte Truppe«, von gerade 18 bis keit gab, sich mit der Partei vertraut zu tungsmöglichkeit des Einzelnen. knapp 70 Jahren, aus jeder Generation machen und neue Gesichter kennen- Kleinstaaterei und Nationalismus war jemand dabei. Die Motivationen zulernen. Diesen Eindruck konnten al- bringen Ausgrenzung, Krieg und Ver- einzutreten waren sehr unterschied- le Teilnehmer teilen. Danke dafür. derben (die deutsche Geschichte ist lich. Auch frühere SPD- und Grünenmit- Stefanie Rose, Leegebruch voll davon). Ein vereintes, bürgernahes, glieder »outeten« sich und berichteten. grenzenloses Europa ist ein Stück Inter- Viele errangen zum ersten Mal ein Man- nationalismus, ein Stück auf dem Weg dat bei den brandenburgischen Kom- Verschärfen zu der »einen Welt«, wo wir alle mitein- munalwahlen im Herbst 2008 und ha- ander und nicht gegeneinander arbei- ben Fragen zu den Herausforderungen, betr.: DISPUT Nr. 1/2009 »Eine neue Be- ten. Zusammen mit den befreundeten die sie erwarten. teiligungskultur muss her« Schwesterparteien wird sich DIE LIN- Die verschiedenen Ebenen der Par- Ihre monatliche Zeitschrift lese ich KE für dieses bürgernahe Europa ein- teiarbeit wurden durch die Landesge- immer wieder gerne, weil diese präg- setzen. schäftsführerin Maria Strauß, den Euro- nant und kurzweilig ist. Heute möchte Henning Blunk, Heidelberg paabgeordneten Helmuth Markov und ich einen Kommentar zu dem Artikel von die Landtagsabgeordnete Irene Wolff- Bernhard Sander an Sie richten. Er for- Molorciuc vorgestellt. Detlef Nakath, dert darin (zu Recht!) eine neue Betei- Beeindrucken Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg- ligungskultur von uns Parteimitgliedern Stiftung Brandenburg, berichtete über im Besonderen und von den Bürgern im betr.: DISPUT Nr. 1/2009 »Politik der Bildungs- und Förderangebote. Einzelnen. Potemkinschen Dörfer« Es wurden viele Fragen gestellt, auch Nach dem Lesen des Artikels und Mit großem Interesse habe ich die fachspezifi sche. Helmuth Markov gab nach allem, was ich von der LINKEN in Januar-Ausgabe gelesen. Besonders beeindruckt hat mich das Interview mit Christoph R. Hörstel. Ich bin sehr dank- bar, dass Ihre Redaktion ihn zu Wort kommen ließ. Er ist einer der weni- gen deutschen Journalisten, der schon früh auf die Problematik und auf den »Krieg gegen den Terror« aufmerksam gemacht hat, im Besonderen auf die Scheinheiligkeit der deutschen Medi- en. Ich stehe kurz vor meinem BA-Ab- schluss der Asienwissenschaften, Schwerpunkt Afghanistan. Deutsch- land ist meine erste Heimat, mein Ge- burtsland. Aber Afghanistan ist das Land meiner Vorfahren. Thema meiner Abschlussarbeit war: »Weltbühne Af- ghanistan – der Kampf gegen den in- ternationalen, islamistischen Terroris- mus«. Neben dem Studium schreibe ich Romane und Kurzgeschichten. Mein Erzählband »Liebesgrüße aus Guan- tánamo« beschäftigt sich auch mit die- ser Thematik. Ich wünsche weiterhin viel Erfolg.

Walid Alekozei, Bonn © Stefanie Rose

DISPUT Februar 2009 044 Klaus Stuttmann GEDANKENSTRICH

letzter Zeit gesehen und gehört habe, der ein Lehrer für ein Jahr bezahlt wer- lassen wollen. Das zeigen die Beurtei- bin ich der Meinung, wir treten viel zu den) usw. Ihr als Redaktion seid da ge- lungskriterien zum bolivarischen Pro- leise auf. Wir müssen uns derber und fordert, alles recht plakativ darzustellen. zess. Zwar ist der venezolanische Ver- schärfer in der Öffentlichkeit darstellen, Damit wird deutlich, dass wir eine echte fassungsprozess (= direkte Demokra- denn wir haben recht mit unseren Forde- Oppositionspartei sind, die einzige in tie, lokale Entscheidungsträgerschaft, rungen. Das würde mehr Aufmerksam- Deutschland! radikale Landreform und Anerkennung keit in der Bevölkerung bringen! Was mir insgesamt an unserem Par- von Armensiedlungen) vorbildlich auch Seit ich kürzlich im Fernsehen in ei- teiprogramm nicht gefällt ist das »Nach- für Deutschland. Zwar ist ebenso der la- ner Talkrunde mit ansehen musste, wie singen« des Klimaschutzes. Hier sollten teinamerikanische Integrationsprozess der Rüttgers den Gysi »abgefrühstückt« wir LINKEN überlegen, ob wir uns nicht (= Gegenbündnis zur Freihandelszone, hat, ist mir klar, dass wir wirklich schär- von der als erwiesen geltenden Klimalü- fi nanzpolitische Eigenständigkeit) vor- fer auftreten müssen! Auch Westerwel- ge abwenden sollten. bildlich auch für Europa. le muss dringend Einhalt geboten wer- Viel Erfolg weiterhin! Was aber bedeuten die Regierungs- den! Johannes Rudolf, Andernach kontrolle über die Ölgesellschaft PdVSA Immer dieses Vorhalten der ehema- und die bildungspolitische Alphabeti- ligen »PDS-Zugehörigkeit« ist zum ... sierungskampagne Misión Robinson Wie lange wollen wir uns das noch ge- Beherzigen im Klartext? Sie bedeuten Staatskapi- fallen lassen? talismus statt Naturschutz durch Res- Unsere Forderungen müssen wir ge- betr.: DISPUT Nr. 1/2009 »Widersprüch- sourcenplünderung und Medienkonsu- betsmühlenartig immer wieder in der lich, aber erfolgreich« mismus statt Göttindienst durch Litera- Öffentlichkeit darstellen: Bildung für al- Ich bin Parteimitglied an der Basis in litätsfetisch. So geben wir der Erde kei- le, und zwar kostenlos! Reichtum be- Westdeutschland, ohne Ämter, seit No- nen Sinn! grenzen, in dem klar gemacht wird, dass vember 2008. Gleichwohl arbeite ich Ergo ergibt sich zu Wagenknechts das Geld nur noch bei den Superrei- aktiv seit sieben Jahren als Ökofeminist Deutung als alternative Gegenthese: chen zu holen ist. Die Kleinen sind aus- und Indigenist bei attac Kassel mit. Die Essenz des bolivarischen Prozesses gequetscht. Da geht nichts mehr. War- hat offenbar ist die indigenistische Umkehr. Die ver- um diese Angst, an die wirklich Reichen mitnichten die Fragen beherzigt, die Ru- meintliche marxistische Revolution von zu gehen? Einführung einer Luxussteu- dolf Bahro 1995 an sie und an die Par- Chávez ist nur ein schädlicher Rest von er (wer zum Beispiel einen Ferrari fah- tei richtete, wie wir zum Subsistenz- Eurozentrismus. Der wirkliche boliva- ren will, zahlt eben anstatt 300 Teuro Matriarchat stehen als der sozial-öko- rische Heros ist Morales, der erste indi- 360 Teuro, das tut dem nicht weh, aber logischen Alternative und ob wir uns gene Präsident Boliviens. mit dem Mehrerlös könnte schon wie- nicht doch auf Friedrich Nietzsche ein- Harthold Hammer-Holle, Kassel

45 0 DISPUT Februar 2009 BÜCHER

Die Lust, selbst zu über Humor, Fiktion, Tod, Theater, Kind- det er Auftritte eines anderen unter sei- heit, Studium, Ruhm. Fast spielerisch nem Namen, Stück für Stück wird er sei- denken entstehen Gedanken. Am Schluss wird ner Identität beraubt. So wie diese bei- auch Ausblick auf den nächsten Roman den Geschichten sind auch die anderen Aufregende Bücher als Anregung, in- Kehlmanns gegeben, der »von Wirk- miteinander verwoben. Kommunikation, teressanten Gedankengängen zu fol- lichkeit und Fiktion und vom Vergessen ein Zauberwort der realen Welt, in klei- gen. Gelesen von Ingrid Feix und Verschwinden« handeln soll. Leser ne Geschichten verpackt. Und schon ist dieses Buches sind damit bestens ein- man bei der Frage: Was macht die mobi- as meinen Sie, hat Gott Hu- gestimmt auf »Ruhm«. le Welt mit uns, was machen wir damit? mor?« Der das gefragt wird, ist Es ist ein netter Roman, der sich Zeitfra- W zu dem Zeitpunkt gerade mal 31 ie Inszenierung des lang erwar- gen stellt und in kuriosen wie verblüf- Jahre alt und ein Autor, der für seinen teten neuen Romans von Daniel fenden Antworten mit der Realität wie vierten Roman außerordentlich gefeiert D Kehlmann vier Jahre nach seinem mit der Fiktion spielt. und geehrt wird: Daniel Kehlmann und großen Erfolgsroman war gewaltig: limi- »Die Vermessung der Welt«. Die fi ktive tierte Anzahl von Vorablesern, Sperrfrist- ragen stellen ist auch eine Spezia- Begegnung zwischen den Geisteshero- diktat bis zum Erscheinungstermin, Er- lität von Richard David Precht, des- en Gauß und Humboldt, die sich aufma- wartungshaltung wie vor einer Offenba- F sen philosophische Betrachtung chen, die Welt zu vermessen, ist ein ver- rung. Ergebnis: Buchpremiere mit me- unter dem süffi santen Titel »Wer bin ich gnügliches Gedankenexperiment. Das dialem Paukenschlag. Jedes Feuilleton, und wenn ja, wie viele?« sich zäh auf Hauptthema des Buches – so der Autor – das auf sich hält, hatte eine Rezension einschlägigen Listen als Bestseller be- ist »die Gegenüberstellung von gedank- parat, selbst in der aktuellen Berichter- hauptet. Der Zweifel als Grundtugend licher Freiheit und Bewegungsfreiheit, stattung war ein Plätzchen für den om- der Philosophie wird hier vorgeführt. von räumlicher Freiheit und geistiger«. nipräsenten Autor als Selbsterklärer. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Aber dieses Büchlein ist kein »Faust«, kein »Buddenbrooks« …, doch ganz so Richard David Precht schlecht, wie man es von solcherart In- Wer bin ich und Daniel Kehlmann/ szenierungen gewöhnt ist, ist es wieder wenn ja, wie viele? Sebastian Kleinschmidt nicht. Eine philosophische Requiem für einen Hund »Ruhm« regt nicht nur Kritiker zu al- Reise Ein Gespräch lerlei Gedanken an. Der Roman in neun Der Club Matthes & Seitz Berlin Geschichten ist in der Gegenwart an- (Lizenz: Goldmann) 129 Seiten gesiedelt und nimmt den Leser wieder 398 Seiten

12,80 Euro Repro mit in die Welt experimentaler Gedan- 12,95 Euro Repro ken. Die erste Geschichte beginnt da- Das klingt nach anstrengender Lektüre. mit, dass sich ein Mann ein Mobiltele- Was darf ich hoffen? In diesen drei Ab- Umso überraschender war die Wirkung fon kauft und ständig Anrufe und Nach- schnitten wälzt sich der Autor durch ei- des Buches: begeisterte Aufnahme bei richten erhält, die für einen anderen be- ne zitatengestützte Welt des Denkens einem sehr breit gefächerten Leserkreis. stimmt sind. Zunächst genervt, schlüpft und betrachtet dabei heutige Reali- Popularität mit intelligenter Prosa, das er nach und nach in die Person des An- täten. Dass er indirekt auf immer noch gibt es nicht alle Tage. gerufenen, nimmt also eine andere Iden- und immer wieder verbreitete Klischees Dass sein Roman ein satirisches tität an. Drei Geschichten weiter geht es eingeht, macht dieses Buch vermutlich bzw. komödiantisches Buch ist, wie um einen Schauspieler, der ganz plötz- allgemein tauglich und lässt es nicht Kehlmann selbst immer wieder betont, lich seiner Existenz beraubt ist. Angefan- in der Wissenschaftsecke schlummern. hat die eingangs erwähnte Frage gewis- gen hat es damit, dass er plötzlich kei- Erfrischend, wenn auch manchmal sehr sermaßen provoziert, denn meist wer- ne Anrufe mehr erhielt. Aber nicht nur vereinfachend, begibt sich der Philo- den Humor und Weltsicht als zwei ganz das, Bekannte wenden sich von ihm ab, soph aufs Minenfeld der Gesellschafts- verschiedene Dinge angesehen. Nicht seine Freundin macht ihm aus heiterem theorien und beleuchtet ihren Alltags- so bei Daniel Kehlmann. Seine Ant- Himmel eine Szene, auf YouTube fin- wert. Marx und Engels mit ihrer Auffas- wort: »Humor hat zu viel mit Mensch- sung zur Entfaltung des Einzelnen kom- lichkeit, mit dem Zustand des Men- men da genauso zu ihrem Recht wie der schen und seiner Konfrontation mit der ewig fragende Immanuel Kant, dessen Welt zu tun, die er nicht meistert …« – Daniel Kehlmann Methoden sich der Autor besonders ver- und Gott? Der Rest der Antwort steht Ruhm pfl ichtet. Schließlich wird Precht zum auf Seite 28. Ein Roman in neun Ratgeber: »Bleiben Sie neugierig, reali- In diesem kleinen anregenden Büch- Geschichten sieren Sie Ihre guten Ideen, und füllen lein unterhalten sich ein philosophie- Rowohlt Verlag Sie Ihre Tage mit Leben und nicht Ihr Le- render Autor und ein belesener Philo- 203 Seiten ben mit Tagen.« Ratgeber sind gefragt,

soph über Tiere, Genies, übers Erzählen, 18,90 Euro Repro nicht nur in Krisenzeiten.

DISPUT Februar 2009 046 ie soziale Dimension Europas – der Gesellschaften« genannt, um fort- Zeit für Erneuerung und Neube- zufahren: »Die Sozialpolitik muss mit D lebung«, so ist die Mitteilung diesem Wandel Schritt halten.« So der EU-Kommission für eine »erneu- wird Sozialpolitik lediglich zum Vehi- erte Sozialagenda« der EU überschrie- kel der Anpassung an ökonomische ben. Das liest sich gut, soll sich auch Wettbewerbs- und Vermarktungserfor- gut lesen, denn auch wenn Regie- dernisse degradiert, bestenfalls zum rungen und Kommission nicht bereit Reparaturbetrieb sozialer Zerstörung. sind, wirkliche Schlussfolgerungen Folgerichtig betont die Kommission: aus dem Scheitern des EU-Verfas- »Die neue Sozialagenda ist unmittel- sungsvertrages und dem irischen Nein barer Bestandteil der Lissabonstrate- zum Lissabon-Vertrag, aus der offen- gie …« Die jedoch hat Deregulierung kundigen Krise der europäischen Inte- und Privatisierung zum Ziel und ist gration und der wachsenden Distanz ein wesentlicher europäischer Beitrag der Bürgerinnen und Bürger zur EU zu zur derzeitigen Weltfi nanz- und Wirt- ziehen, so haben sie doch begriffen, schaftskrise. Konsequenterweise ist dass viele Menschen die europäische daher auch der bereits viel diskutier- Politik als unsozial empfinden. So te Vorschlag für eine »Richtlinie zu Pa- wurde auch das Attribut »sozial« fast tientenrechten in der grenzüberschrei- schon infl ationär in den Lissabon-Ver- tenden Gesundheitsversorgung« Be- trag eingefügt, die neoliberale Rechts- standteil der Sozialagenda, mit der substanz jedoch die Tür zu einer europäischen Vermark- nicht berührt. Die tung dieses so grundsätzlichen öffent- Eine unsoziale Dominanz von Wett- lichen Gutes geöffnet wird. Anders als bewerb, Deregulie- in der ursprünglichen Fassung der Lis- Agenda rung und Privatisie- sabonstrategie im Jahr 2000 ist in der rung wird nicht an- »neuen« Sozialagenda auch nicht ein- getastet. mal mehr die Rede davon, die Kinder- Bei aller erforder- armut in Europa bis zum Jahr 2010 zu lichen Differenzie- beseitigen. Sie soll nun lediglich »ver-

Von André Brie rung und einzelnen mindert« werden. Derzeit sind 19 Mil- Parlament © Europäisches positiven Elementen lionen Kinder in der EU von Armut und ist dies eben auch das eigentliche We- ihren umfassenden sozialen und an- sen der »erneuerten Sozialagenda«. deren Folgen betroffen! Das dicke Paket von alten und vielen Für DIE LINKE ergeben sich mei- neuen Maßnahmen, rechtsverbind- ner Meinung nach fünf Aufgaben: Ers- lichen Verordnungen und unverbind- tens muss über die neue Agenda und lichen Empfehlungen an die Regie- ihr antisoziales Wesen aufgeklärt wer- rungen soll den Eindruck erwecken, den, damit die Bürgerinnen und Bür- dass sich die EU endlich und umfas- ger sich mit ihr auseinandersetzen send der sozialen Dimension der euro- können. Zweitens müssen wir selbst päischen Integration zuwendet. Doch einen aktiven und offensiven Beitrag das Gegenteil ist der Fall. Wer sich zur Auseinandersetzung mit ihrer so- nicht täuschen lässt von der Fülle vor- zialreaktionären Grundphilosophie geschlagener sozialer Maßnahmen leisten. Drittens sind gemeinsam mit (die Agenda enthält sieben Kapitel von Sozialverbänden und Gewerkschaften der Kinder- und Jugendpolitik über die größte parlamentarische und außer- Beschäftigungs- und Antidiskriminie- parlamentarische Anstrengungen er- rungspolitik, die Bekämpfung von Ar- forderlich, um negative Maßnahmen mut und sozialer Ausgrenzung bis hin zu stoppen. Viertens müssen einzelne zur »Solidarität auf globaler Ebene« positive Vorschläge, vor allem im An- sowie einen Teil zu den rechtlichen, tidiskriminierungsbereich (Schwange- politischen und fi nanziellen Mitteln, ren- und Mutterschutz, Elternurlaub, mit denen die Ziele erreicht werden Bekämpfung von Diskriminierung au- sollen), wird ohne Weiteres feststel- ßerhalb von Beruf und Beschäftigung), len, dass die »erneuerte Sozialagen- gegen den bereits lautstark ausgebro- da« der Kommission die Fortsetzung chenen Widerstand der Bundesregie- der alten unsozialen Politik der »Ein- rung und der Unternehmerverbände heitlichen Europäischen Akte« von verteidigt werden. Fünftens schließ- 1987 und der Verträge von Maastricht, lich steht für DIE LINKE und eigentlich Nizza und Lissabon mit alten Mitteln für alle, die die europäische Integra- und Inhalten unter einem gefälligeren tion gegen Re-Nationalismus vertei- Etikett ist. digen wollen, der Kampf um eine eu- Bereits in der Begründung werden ropäische Sozialunion als Bedingung nicht soziale Erfordernisse, sondern für die Verteidigung und Wiedergewin- lediglich der technologische Wandel, nung des Sozialstaats an erster Stelle die Globalisierung und die »Alterung europäischer Politik.

470 DISPUT Februar 2009 FEBRUARKOLUMNE Auslese

Gerhard Seyfried

Gelber Wind oder Der Aufstand der Boxer.

Eichborn Berlin

656 Seiten 29,95 Euro ISBN: 978–3– 8218– 5797–8

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