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SWR2 Musikstunde
Musik 1 T: Moments K: Maggie Nicols I: Maggie Nicols CD: Nichols ‚n’ Nu Leo Records LR 127, LC 05417 {00:30}
1 AT Man könnte sie als die „Alice Schwarzer des Jazz“ bezeichnen: Denn
die englische Sängerin, Tänzerin, Performerin Maggie Nicols
gründete Mitte der 1970er Jahre das musikalische Pendant zur
Zeitschrift „Emma“: die Feminist Improvising Group. Den heftigen
Widerstand, der ihr, Lindsay Cooper, Irène Schweizer und anderen
von männlichen Kollegen und der Jazzkritik da anfangs
entgegenschlug, nahm man mit Humor. Denn eigentlich, meinte
Schweizer einmal, hätten sich ja alle nur erschrocken, da plötzlich so
unberechenbar viele „unbeaufsichtigt“ musizierende Frauen auf einer
Bühne zu sehen. „Technisch mangelhaft“ sei ihr Spiel, „dilettantisch“
ihr Auftreten und zu wenig „ernsthaft“ ihre ganze Haltung – solche
abschätzigen Kritiken sind übrigens 40 Jahre später Lobeshymnen
wie diese gewichen: „Künstlerische und persönliche Integrität, ihr
freundliches Wesen, ihre kreative Unruhe, ihr Organisationstalent,
ihre Vielseitigkeit und ihre Präsenz in den verschiedensten
Verbindungen und natürlich, über allem, ihre Entwicklung als
Pianistin machen sie zu einer der spannendsten Figuren des Jazz.“
So heißt es in der Begründung einer der vielen Preise, die Irène
Schweizer in den letzten Jahren entgegen nehmen durfte. Das ist
natürlich erfreulich, aber: Warum hat die Pianistin so alt werden
müssen, bis sie solche Anerkennung bekommen hat? 3
Musik 2 T: Rag K: Irène Schweizer I: Irène Schweizer CD: Chicago Piano Solo Intakt Records CD 065, LC 11265 {02:40}
2 AT Irène Schweizer: die Zürcher Pianistin Solo Live in Chicago. Sie ist
inzwischen die international wohl bekannteste Improvisatorin
überhaupt aus der Schweiz – mit einer nach wie vor klaren, aber nie
aufdringlichen Haltung zum Thema „Frauen im Jazz“. Im Katalog des
von ihr mitbegründeten Labels „Intakt Records“ sind auffallend viele
Instrumentalistinnen vertreten, das von Schweizer mit ins Leben
gerufene Festival „Taktlos“ war nie eine reine Männer-Show und
ganz sicher ist die in der Szene sehr aktive Irène Schweizer für viele
jüngere Musikerinnen ein Vorbild gewesen. Denn neben ihr gab es
zumindest in Europa lange Zeit kaum eine ähnlich erfolgreiche und
respektierte weibliche Repräsentantin des instrumentalen Jazz. Das
war, zugegebenermaßen, auch in Amerika nicht anders. Obwohl ja
gerade der Free Jazz ab Mitte der 1960er Jahre sich vehement
gegen alle möglichen musikalischen UND gesellschaftlichen
Konventionen auflehnte, hierarchische Strukturen verachtete,
überholte Rollenmuster infrage stellte – Frauen blieben hier
seltsamerweise genauso außen vor wie früher auch. Sie blieben die
Ausnahme oder im Schatten der Männer. So wie bei der AACM –
der „Association for the Advancement of Creative Musicians“. 1965 in
Chicago gegründet, gelten bis heute Lester Bowie, Muhal Richard
Abrams oder Roscoe Mitchell zu den wichtigen AACM-Namen, denn
obwohl als kulturpolitisches Ziel „Black Power!“ ausgegeben wurde, 4
war es, wie Multiinstrumentalistin „Maia“ (Sonjia Hubert Harper) noch
in den 1990er Jahren feststellen musste, die Revolution der „Black
Men“. Die Frauen haben sich ihren Platz hier nicht weniger hart
erkämpfen müssen als anderswo. Eine, die von Anfang an in der
Organisation sehr aktiv war, ist die Pianistin, Organistin, Komponistin
und Arrangeurin Amina Claudine Myers. Dem künstlerischen Motto
der AACM „Great Black Music. From Ancient To Future“ folgte sie
unter anderem auf den Spuren von Gospel, Spiritual und Blues:
„Amina Claudine Myers Salutes Bessie Smith“ heißt ihr Hommage-
Album an eine große „Black American Woman“.;
Musik 3 T: Dirty No-Gooder's Blues K: Bessie Smith I: Amina Claudine Myers CD: Amina Claudine Myers Salutes Bessie Smith Leo Records 103, LC 05417 {04:10}
3 AT „Dirty No-Gooder’s Blues“: Amina Claudine Myer interpretiert Bessie
Smith. Das Forschen nach und Besinnen auf die Ursprünge des Jazz
war ja Teil des Konzeptes der Free-Jazz-Vereinigung AACM.
Charismatische und einflussreiche Bluessängerinnen waren da
natürlich eine dankbare historische Adresse – und für Musikerinnen
wie Amina Claudine Myer eine große Inspirationsquelle.
Die Querverbindungen von Free Jazz und Frauenbewegung in den
1970er bis 1980er Jahren waren übrigens so eng nicht, wie man sich
das vielleicht heute manchmal zurecht legen mag – auch, weil viele
politische Aktivistinnen diese Musik dann doch als zu „abstrakt“
beziehungsweise „elitär“ empfanden. Aber: Natürlich wurden
Debatten über Emanzipation und Gleichberechtigung auch in der 5
Jazzszene geführt. Und immer mehr nicht-singende Jazz-Frauen
erlangten eine Popularität, von der 20 Jahre vorher nur zu träumen
gewesen war. Die kalifornische Pianistin Carla Bley profitierte damals
ganz sicher auch von ihrem Image als Hippie-Mädchen, das mit
einem gewissen Hauch von humorvoller Leichtigkeit die manchmal
doch sehr verbissene Atmosphäre der Avantgarde einfach zu
untergraben schien.
Musik 4 T: Valse Sinistre K: Carla Bley I: The Carla Bley Band CD: Social Studies WATT 831831-2, LC 04438 {04:55}
4 AT Der „Valse Sinistre“ von Carla Bley von ihrem 1980 erschienen
Album „Social Studies“. Nicht zufällig waren es bis hier mit Irène
Schweizer, Amina Claudine Myer und Carla Bley wieder drei
Pianistinnen, die in dieser Musikstunde sozusagen die 68er-
Generation von „Sophisticated Ladies“ des Jazz repräsentieren.
Pianistinnen waren und sind hier offensichtlich immer noch im
Vorteil. Zumal sie häufiger als ihre Kolleginnen an anderen
Instrumenten auch als Arrangeurinnen und Komponistinnen Erfolg
haben. Und zwar nicht nur „im Auftrag“ von, sondern – das ist neu –
auch und vor allem für ihre eigenen Ensembles. Carla Bley hat in
ihrer Karriere mehrere Bands geleitet und die Japanerin Toshiko
Akiyoshi 1973 ihre erste eigene Bigband gegründet. Die momentan
aber wohl renommierteste Jazzorchester-Leiterin, Maria Schneider,
ist von Hause aus Klarinettistin und Geigerin. Als einzige Frau an der
Hochschule im Fach „Jazzkomposition“ hat sie anfangs sogar 6
versucht, möglichst wenig „feminin“ zu schreiben. Interessanterweise
war es ihr Lehrer, Bob Brookmeyer, der es geschafft hat, ihr das
auszureden: „Du bist, was du bist, also nimm es an“, meinte er zu
Schneider und: „Weißt du, diese Musik war bisher so
männerdominiert, was auch immer du an Femininem in dir finden
kannst: Wir brauchen es!".
Musik 5 T: Dance you monster to my soft song K: Maria Schneider I: Maria Schneider Jazz Orchestra CD: Evanescene Enja 8048-2, LC 03126 AMS M0095496 01-A-008 {07:25}
5 AT Das Maria Schneider Orchestra mit Maria Schneiders „Dance you
monster to my soft song“ von ihrem Debüt-Album als Bigband-
Leiterin „Evanescence“ aus dem Jahr 1994.
Apropros Bigband: Noch immer ist es auffallend, wie wenige
Musikerinnen sowohl in den amerikanischen als auch in den
europäischen Profiorchestern spielen. In allen vier ARD-Bigbands
gibt es mit Karolina Strassmayer eine einzige WDR-Saxophonistin.
Dabei ist der weibliche Nachwuchs an den Musikschulen oft sogar in
der Überzahl. Schon in der Hochschulausbildung aber sind es
gravierend weniger Studentinnen an typischen Jazzinstrumenten,
und etliche von ihnen fallen dann nach dem Studium in das berühmte
„schwarze Loch“. Das Leben als Jazzmusikerin ist vielleicht härter,
als so manche es sich vorgestellt hat – und erfordert ein hohes Maß
an Improvisationslust auch im Alltag. Auf Tour zu sein zum Beispiel,
bedeutet ja hier, alles selbst zu organisieren, ständig in anderen, 7
nicht unbedingt den schönsten Hotels der Stadt zu übernachten,
manchmal vielleicht seltsame Veranstalterwünsche mit eigenen
künstlerischen Vorstellungen in Einklang zu bringen, Kollegen zu
motivieren, Reiserouten vorzubereiten, Soundcheckzeiten
einzuhalten und so weiter und so fort. Ach ja, von einem geregelten
Einkommen und geregelten Arbeitszeiten ist in diesem Beruf
natürlich nicht auszugehen. Auch die Chancen auf eine „normale“
Beziehung mit gemeinsamen Abendessen oder
Wochenendausflügen sind eher gering. Auffallend viele
Jazzmusikerinnen waren oder sind mit Jazzmusikern zusammen,
teilweise sogar den eigenen Bandkollegen. Ella Fitzgerald und Ray
Brown, Lil und Louis Armstrong, Marian und Jimmy McPartland,
Carla Bley und Steve Swallow, Alexander von Schlippenbach und
Aki Takase, Katrin Scherer und Sven Decker: Die beiden haben nicht
nur gemeinsam studiert, sondern auch für ihre verschiedenen
gemeinsamen Aktivitäten ein gemeinsames Label gegründet – und
eine Band, in der auch noch ein Schlagzeuger mitspielen darf. „Ohne
4 gespielt 3“ heißt die: Katrin Scherer, Sven Decker und Bernd
Oszevim.
Musik 6 T: Früher war mehr Lametta K: Katrin Scherer I: Ohne 4 gespielt 3 CD: Time Trial Green Deer Records GDM05, LC 15900 {05:10}
6 AT „Früher war mehr Lametta“: eine Komposition von Katrin Scherer, die
hier neben Sven Decker und Bernd Oszevim im Trio „Ohne 4
gespielt 3“ zu hören war und – der wir nicht unterstellen wollen, dass 8
sie es früher mit mehr Lametta alles besser fand. Die Zeiten, in
denen Saxophonistinnen als sexy Girls vermarktet wurden, in
Glitzeroutfits auf die Bühne kamen oder sich den Lippenstift mit
Quecksilber fixieren mussten, sind glücklicherweise vorbei. Was für
viele allerdings immer noch schwierig ist – eine Laubahn als
Berufsmusikerin mit einem klassischen Familienleben unter einen
Hut zu bringen. Während es unter Deutschlands Jazzmusikern viele
Väter gibt, sind erfolgreiche Jazzmütter eine Seltenheit. Ein paar
Monate oder sogar Jahre aussetzen, weniger präsent sein, das kann
– wie in vielen anderen Berufen auch – das Ende einer Karriere
bedeuten, die vielleicht noch nicht mal richtig angefangen hat. Aber
auch hier gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Bassistin vom
Deutschlands erfolgreichstem Klaviertrio, Eva Kruse, ist so eine. Sie
hat mit ihrer Band einfach Babypausen verabredet.
Musik 7 T: Sov Lilla Alma (ACHTUNG Applaus am Ende unter AT blenden) K: Eva Kruse I: [em] Eigenaufnahme SWR, Konzertmitschnitt 12.03.2011, Alte Feuerwache Mannheim AMS M0277196 01-A-004 {03:30}
7 AT „Sov Lilla Alma“ – ein Wiegenlied für die Tochter, von Eva Kruse und
ihrem Trio [em]. Kruse ist übrigens eine der wenigen deutschen
Jazzcoverfrauen. Denn normalerweise posieren auf den Titelseiten
von Fach-Magazinen wie Jazzpodium, Jazzthing oder Jazzthetik nur
Männer. Oder Sängerinnen. Natürlich spiegelt das einerseits
irgendwie schon ehrlich die Geschlechterverhältnisse der Szene
wieder, andererseits darf man den Einfluss der Medien auf 9
bestimmte Karriereentwicklungen nicht unterschätzen. Die
Jazzmedien aber, diese Information dürfte an dieser Stelle keine
Überraschung sein, sind traditionell auch – Männersache. Ob in
Artikeln, Essays, Kritiken, Radiobeiträgen, Interviews – im
Jazzjournalismus dominiert seit jeher die eine Perspektive, prägt die
männliche Sicht der Dinge auch die mediale Vermittlung des Jazz.
Musik 8 T: Ephescopeology K: Petra Krumphuber I: Croomp (Petra Krumphuber, Silke Eberhard, Johannes Haage, Simon Bauer, Kay Lübke CD: On the Loose Doublemoon Records DMCHR 71073, LC 10223 {06:14}
8 AT „Croomp“ heißt die Band der Posaunistin Petra Krumphuber mit Silke
Eberhard, Johannes Haage, Simon Bauer und Kay Lübke.
„Ephescopeology“ ihre eben gehörte Komposition. Eine
Musikstundenwoche über die „Sophisticated Ladies“ des Jazz darf
natürlich nicht zu Ende gehen, ohne wenigstens kurz auch die
„Backgroundladies“ des Jazz zu erwähnen. Von der Rolle der
Ehefrauen für diese Musik ist selten die Rede, dabei waren Frauen
wie Sue Graham Mingus, Lorraine Gillespie, Nellie Monk oft die
treibenden Kräfte im Rücken ihrer Männer. Als clevere
Geschäftsfrauen, Managerinnen, musikalische Beraterinnen,
Labelgründerinnen, Nachlassverwalterinnen. Das Thelonious Monk
Institute samt Thelonious Monk Wettbewerb geht auf die Initiative
von Nellie Monk zurück, Sue Mingus ist es zu verdanken, dass nach
dem Tod ihres Mannes etliche seiner bisher unveröffentlichten
Konzertmitschnitte auf den Markt kamen. Auch Alice Coltrane hat 10
sich engagiert um das musikalische Erbe ihres Ehemannes
gekümmert – ihr aber, die sie selbst Musikerin war – ist später immer
wieder auch vorgehalten worden, sie benutze den großen Namen
„Coltrane“ nur für ihre eigenen Zwecke. Dabei sprach es eigentlich
eher für sie als Künstlerin, dass ihre Musik in den 1980er Jahren
anders klang als die ihres Mannes John in den 1960ern: Auf das
Imitieren, Bewahren, Konservieren seines Erbes hat sich die
Pianistin, Harfenistin und Komponistin Coltrane nämlich nicht verlegt,
sondern ist – und vielleicht war das für die große Anhängergemeinde
des Saxophonisten so unverständlich – ihren eigenen künstlerischen
Weg gegangen.
Musik 9 T: Triloka K: Alice Coltrane I: Alice Coltrane, Charlie Haden CD: Translinear Light Impulse 0602498615292, LC 00236 {05:03}
9 AT Nach 25 Jahren Zurückgezogenheit vom Musikgeschäft hatte sich
Alice Coltrane von ihrem Sohn dazu überreden lassen, wieder ins
Studio zu gehen – „Translinear Light“ von 2004. Dabei unter
anderem der Bassist Charlie Haden, mit dem sie eben als Pianistin
zusammen im Duo zu hören war.
Alice Coltrane – als starke Künstlerpersönlichkeit ist sie heute für
viele jüngere Musikerinnen vorbildhaft. Auch weil sie sich trotz ihres
berühmten Ehemannes als eigenständige Stimme im Jazz
behaupten konnte und vor allem auch akzeptiert wurde. Denn das,
wir haben es in dieser Musikstundenwoche ausführlich besprochen,
war lange Zeit im Jazz nicht selbstverständlich – der Erfolg von 11
weiblichen Instrumentalistinnen ist oft eher marginalisiert oder
überhaupt gleich ignoriert worden. Das lässt sich durch die
Einführung einer Jazz-Frauenquote natürlich nicht von heute auf
morgen ändern. Aber mit dem Wissen um das historisch
gewachsene Missverhältnis von Instrumentalisten und
Instrumentalistinnen kann man die Ohren ja mal bewusst für die
anderen Frequenzen öffnen. „Sophisticated Ladies“ an Saxophonen,
Trompeten, Posaunen, Gitarren, Geigen, Harfen, Schlagzeug oder
Bass – die Jazzgeschichte hat sie häufig einfach weggefiltert – die
Jazzzukunft aber wird sie brauchen! Denn das System der
Boygroups widerspricht nicht nur dem Geist dieser Musik, sondern
auch dem allgemeinen Zeitgeist dermaßen, dass es bald rettungslos
im Gestern verschwinden wird. Hoffentlich. Also bitte meine Damen!
Musik 10 T: Emigrants K: Fred Frith I: Cosa Brava feat. Fred Frith (Fred Frith, Carla Kihlstedt, Zeena Parkins, Shahzad Ismaily, Matthias Bossi) CD: The Letter Intakt CD 204, LC 11265 AMS M0302430 1-A-009