Magazin November 2008 nmz 11/08 Seite  Stockhausens Klänge aus dem fernen Westen Der Warschauer Herbst präsentierte die abendfüllenden „“ und ein Panorama der Musik von Spanien bis Uruguay

Der Warschauer Herbst, eines der ältes- statt“ zusammengearbeitet hat. Für die ten und geschichtsträchtigsten europä- elektronisch-orchestrale Aufführung ischen Festivals für Neue Musik, ist im- der dritten „Hymnen“-Region wurde mer wieder für überraschende Initiati- dieses Nachwuchsensemble nun zu ven gut. In diesem Jahr präsentierte es einem Orchester von 51 Mitwirkenden ein einmalig breites Panorama der ibe- erweitert und – da auch Musiker von risch-lateinamerikanischen Musik und, Holland bis zur Ukraine mitwirkten – in als zweiten großen Schwerpunkt, zwei „European Workshop for Contempora- große Stockhausen-Produktionen. ry Music“ umbenannt. Dieser Teil war der unbestrittene Höhepunkt der über hink big“ war stets die Devise des zweistündigen Gesamtaufführung, zu- vor einem Jahr verstorbenen Karl- mal mit dem Dirigenten Pedro Amaral T heinz Stockhausen, und daran und dem Klangregisseur Bryan Wulf hielten sich nun auch die Veran- zwei berufene Stockhausen-Fachleu- stalter. Der erste der beiden Stockhau- te verpflichtet worden waren, die dem sen-Abende fand in einer riesigen Werk zu einer beeindruckenden Wie- Sporthalle statt. Zu hören gab es zu- dergabe verhalfen. nächst die 2007 uraufgeführte elektro- Mit seinem diesjährigen Programm nische Komposition „Cosmic Pulses“ öffnete das Warschauer Festival ein mit ihren schwindellerregend im Raum weites Fenster in die Gegenwartsmu- herumkurvenden Klängen, dann als sik von Spanien und Portugal und ihre Hauptstück „Michaels Reise um die Er- Ableger in Lateinamerika. Im riesigen de“, den halbszenisch aufgeführten Halbkontinent hat sich die neue Musik zweiten Akt aus „Donnerstag aus “ allerdings schon längst zu einer völlig mit der Musikfabrik Köln unter Peter eigenständigen, aus vielerlei Quellen Rundel. Den Trompete blasenden Büh- gespeisten Kultur entwickelt. Aus die- nenhelden Michael gab es gleich in ser ästhetischen Patchwork-Landschaft doppelter Ausführung: mit dem indis- erklangen in Warschau so unterschied- ponierten, seine Rolle nur mimenden liche Stücke wie das konzentriert-kon- Marco Blaauw und dem konzertant auf- zise „Alibi“ für vier Saxophone von Gra- spielenden Markus Stockhausen. Mit ciela Paraskevaidis, ein Auftragswerk seiner plakativen Symbolik passte das des Warschauer Herbsts, Klavierlieder Stück gut an diesen Ort sportlicher von Hilda Paredes über Texte von Edu- Massenrituale. Stockhausens Musik, ardo Hurtado, aber auch Werke emig- die bei allen Längen doch immer kon- rierter Südamerikaner: das Musikthea- kret-griffig wirkt, und seine zwischen terstück „La celda“ von Mesias Maigu- Trivialität und Eigensinn schwankende ashca und Mauricio Kagels „1898“ für Bilderwelt haben noch viel ungenutztes (unsichtbaren) Knabenchor und En- Potenzial. Dies vor allem im Hinblick semble, sorgfältig einstudiert von Mar- auf ein fachlich unbelastetes Publikum, co Angius. wie es auch in Warschau stets erstaun- Ein imposanter Aufmarsch ibe- lich zahlreich zu den Konzerten auf- rischer Ensembles verlieh den Kon- kreuzt. Mit einem Potpourri der besten zerten eine authentische Note. Pedro Stellen könnten seine Nachlassverwal- Amaral dirigierte in einem Konzert terinnen dem Werk vermutlich eine mit dem Sond’Arte Electric popkulturelle Karriere eröffnen. „Hymnen“, „Cosmic Pulses“ und „Michaels Reise“: Stockhausen-Schwerpunkt beim Warschauer Herbst 2008. Foto: DMR Werke portugiesischer und spanischer Visionäre Qualitäten eignen auch der Komponisten, der Dirigent und Kom- abendfüllenden Komposition „Hym- ter schrieb er zur dritten Region noch on von Nationalhymnen aus aller Welt talen Aufführung ging von Warschau ponist Ernest Martínez-Izquierdo trat nen“ aus den späten sechziger Jahren. einen Orchestersatz von außerordent- erblickten viele ein tumbes musika- aus – ein Zeichen für die Virulenz neu- mit dem Ensemble „Barcelona 216“ Stockhausen komponierte sie als Ton- licher Dichte. Das Stück war seinerzeit lisches Fähnchenschwenken; das Zi- er kultureller Ideen in dem aus hiesiger auf, das Orchester des Spanischen bandstückLaVoce_Anzeige_neue in vier „Regionen“ musikzeitung_sw für kon- nicht 29.09.2008 unumstritten. 20:15 In der Uhr brillanten Seite 1 tat des „Star-Spangled Banner“ galt in Sicht noch immer leicht argwöhnisch Rundfunks und Fernsehens gab unter krete und elektronische Klänge; spä- elektronischen De- und Rekompositi- der Zeit des Vietnamkriegs als politisch beobachteten „Neuen Europa“. Und in- Arturo zwei Konzerte mit Werken un- reaktionär und die hinterhältige Kop- dem sich das Festival „Milano Musica“ ter anderem von Mauricio Sotelo und pelung der bundesdeutschen Hymne und die deutsche Stadt Pforzheim dem José Ramon Encinar, mit dem - mit dem Horst-Wessel-Lied als instinkt- Projekt anschlossen, erhielt das Pro- frischen Orchesterstück „Oleada“ von los. Doch die Art, wie der naive Quer- jekt sogar eine internationale Ausstrah- Francesco Guerrero und dem verhal- denker Stockhausen seine Utopie einer lung. Falls das retardierende Moment ten-dramatischen „Umbra vitae“ des brüderlich vereinten Menschheit for- der Brüsseler Kulturbürokratie, wo die in Köln lebenden Katalanen José Luis mulierte und dabei simple Klangsym- nötigen Zusatzsubventionen herkom- de Delás. Mit mehreren Werken kam bole mit den technisch fortgeschritte- men, eines Tages auf ein erträgliches auch José Maria Sánchez-Verdú zum nsten Mitteln seiner Zeit verarbeitete, Maß reduziert würde, könnte sich aus Zug. Die Breite der Information ver- erwies sich als überaus zeitresistent. solchen Formen internationaler Koope- lieh dem Festival einen Zug zum En- Nicht zuletzt im heutigen Europa, die- ration noch viel kulturpolitisches Brio zyklopädischen, die Konzerte dauer- sem nach Robert Kagan postmoder- entwickeln. ten oft bis weit nach Mitternacht. Wer nen supranationalen Konstrukt, scheint Als effizienter Kooperationspartner bereit war, sich täglich acht Stunden sein früher Versuch einer neuen Iden- im aufwendigen Unternehmen erwies auf den Weg zu machen, konnte mit titätsbildung mit kulturellen Mitteln ei- sich der Deutsche Musikrat, der mit einem dicken Paket neuer Hörerfah- nen passenden Resonanzraum zu fin- dem Warschauer Herbstfestival bisher rungen nach Hause gehen. den. Die Initiative zu dieser monumen- in der „Deutsch-Polnischen Musikwerk-  Nyffeler An dieser Börse herrscht keine Baisse Von der Deutsch-Polnischen zur Europäischen Musikbörse Schon früh engagierte sich der Deut- vitäten hauptsächlich bei den Mar- gesiedelte Redaktion stellte die Infor- sche Musikrat für deutsch-polnische schallämtern der 16 Woiwodschaften mationen in deutscher und polnischer Beziehungen und förderte eine enge angesiedelt. Sprache zur Verfügung. Die „Börse“ Zusammenarbeit zwischen den Nach- Auf Initiative von Hannelore Thie- wurde durch Staatsminister Neumann barländern im musikkulturellen Be- mer trafen sich während des War- und die polnische Botschaft in Berlin reich. Jugendaustausch, gemeinsame schauer Herbstes 2004 erstmals Ver- offiziell eröffnet und mit einem sym- Musikveranstaltungen sowie die Pla- treter von Landesmusikräten und Mar- bolischen Knopfdruck aktiviert. Eine nung und Durchführung von Tagungen schallämtern, um eine engere Zusam- umfassende Informationskampagne in und Kongressen zu grenzüberschrei- menarbeit zu diskutieren. Die Zahl 16 beiden Ländern sorgte mit dafür, dass tenden Themen standen dabei im Mit- auf beiden Seiten führte zu der Überle- dieses zweisprachige Angebot zu einem telpunkt. gung hier Kooperationsschwerpunkte durchschlagenden Erfolg wurde. Selbst zu setzen. Gleichzeitig wurden solche die an der „Börse“ Beteiligten waren So zeigt der Deutsche Musikrat seit Vorhaben durch den Aufruf der beiden überrascht von dem unerwarteten welt- vielen Jahren auch Flagge beim „War- Regierungen befördert, die kulturelle weiten Echo, das Besucher aus Ameri- schauer Herbst“, dieser bedeutenden Nachbarschaft zwischen Deutschland ka und Australien anzog. und weltweit beachteten Veranstal- und Polen zu einem bevorzugten Fo- Und es war dieses Echo, dass die tung im Bereich der Zeitgenössischen kus der Zusammenarbeit zu machen. Verantwortlichen des Deutschen Mu- Musik. Im Rahmen dieses Ereig- Als erstes Ergebnis der intensiven Ge- sikrates veranlasste, nach Auslaufen nisses haben Musikschaffende, Wis- spräche von Warschau äußerte man der Anschubfinanzierung nun die „Bör- senschaftler und Verbände Gelegen- den Wunsch nach einer zeitgemäßen se“ auf ein neues Fundament zu stellen, heit zu Diskussionen und zur Vorbe- Austauschplattform zwischen den Län- und dieses Fundament heißt Europa. reitung gemeinsamer Aktivitäten. Al- dern. Diese solle aktuelle Informati- Zum Jahresende 2008 läuft das Pilot- lerdings erreichten diese Treffen nur onen liefern und einen schnellen und projekt „Deutsch-Polnische Musikbör- in Ausnahmefällen Adressaten „vor effektiven Austausch von Meinungen se“ aus, es wird durch die Dauerein- Ort“, also diejenigen, die ihre Arbeit und Vorhaben gewährleisten. Im Zeit- richtung „Europäische Musikbörse“ er- in den Regionen, abseits der großen alter der Internetpräsenz entstand so setzt. Bewusst wurde der Begriff „Bör- Kulturzentren, leisten. Natürlich sind das Konzept der „Deutsch-Polnischen se“ beibehalten, um auch weiterhin es auch unterschiedliche Organisati- Musikbörse“, die während der ersten den Austauschcharakter der Einrich- onsformen von Musik und Kultur, die zwei Jahre als Pilotprojekt durch das tung hervorzuheben. Ab 2009 wird das das Kennenlernen und den Austausch Haus des Beauftragen der Bundesre- Projekt komplett von Bonn aus gesteu- gerade zwischen den Kommunen und gierung für Kultur und Medien finan- ert; auch die hauptamtliche Redakti- Regionen erschweren. In Deutschland ziert wurde. Unter der Leitung von Dr. on wird dort – in räumlicher Nähe zum organisieren sich die auf die Regionen Hannelore Thiemer entwickelte die Deutschen Musikinformationszent- konzentrierten Musikschaffenden in DMR gProjekt GmbH das Konzept und rum – arbeiten. Zunächst werden die den 16 Landesmusikräten, in Polen setzte es in den folgenden zwei Jahren Partnerländer um neue EU-Mitglied- sind die entsprechenden Musikakti- erfolgreich um. Eine in Warschau an- staaten im Osten Europas erweitert: u