Plenarprotokoll 16/172

Deutscher

Stenografischer Bericht

172. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Inhalt:

Wahl von Herrn Professor Manfred Wilke (SPD) ...... 18203 A als Mitglied des Beirats bei der Bundesbe- Daniela Raab (CDU/CSU) ...... auftragten für die Unterlagen des Staats- 18204 B sicherheitsdienstes ...... 18187 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Tagesordnungspunkt 6: nung ...... 18187 B Große Anfrage der Abgeordneten Jürgen Absetzung der Tagesordnungspunkte 21 und Trittin, (Bremen), Volker 46 e ...... 18189 C Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur China-Politik der Bundesregierung Tagesordnungspunkt 5: (Drucksachen 16/7212, 16/9513) ...... 18205 D a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs in Verbindung mit eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) Zusatztagesordnungspunkt 4: (Drucksachen 16/6140, 16/9737) ...... 18189 C Antrag der Abgeordneten Hellmut b) Beschlussempfehlung und Bericht des Königshaus, Dr. , Christian Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab- Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Frak- geordneten Mechthild Dyckmans, Birgit tion der FDP: Die Regierungsverhandlun- Homburger, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), gen mit China zur Neuorientierung der weiterer Abgeordneter und der Fraktion Entwicklungszusammenarbeit und zur der FDP: GmbH-Gründungen beschleu- Förderung der chinesischen Zivilgesell- nigen und entbürokratisieren schaft nutzen (Drucksachen 16/671, 16/9737) ...... 18189 D (Drucksache 16/9745) ...... 18205 D , Bundesministerin Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ BMJ ...... 18190 A DIE GRÜNEN) ...... 18206 A Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 18191 B (CDU/CSU) ...... 18207 D Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 18193 C Dr. (FDP) ...... 18209 C Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 18196 A (SPD) ...... 18211 B (BÜNDNIS 90/ Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 18212 C DIE GRÜNEN) ...... 18198 A Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 18214 A (SPD) ...... 18199 D Dr. h. c. , Staatsminister Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 18201 D AA ...... 18215 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Hellmut Königshaus (FDP) ...... 18216 C ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände- rung des Europaabgeordnetengesetzes (CDU/CSU) ...... 18217 B und eines … Gesetzes zur Änderung des Johannes Pflug (SPD) ...... 18218 B Abgeordnetengesetzes (Drucksachen 16/9300, 16/9570) ...... 18221 D Christoph Strässer (SPD) ...... 18219 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Tagesordnungspunkt 46: der Abgeordneten (Augs- burg), , Marieluise a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter brachten Entwurfs eines Gesetzes zur und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE steuerlichen Gleichbehandlung der Auf- GRÜNEN: 20 Jahre nach Halabja – Un- tragsforschung öffentlich-rechtlicher terstützung für die Opfer der Giftgas- Forschungseinrichtungen (Hochschul- angriffe forschungsförderungsgesetz – HFFördG) (Drucksachen 16/8197, 16/9150) ...... 18222 B (Drucksache 16/5726) ...... 18221 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des b) Erste Beratung des von den Fraktionen der Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag CDU/CSU und der SPD eingebrachten der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Entwurfs eines Gesetzes zur Zusammen- Nachtwei, , weiterer führung der Regelungen über befrie- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- dete Bezirke für Verfassungsorgane des NIS 90/DIE GRÜNEN: NATO-Gipfel Bundes für Kurswechsel in Afghanistan nutzen (Drucksache 16/9741) ...... 18221 B (Drucksachen 16/8501, 16/9431) ...... 18222 C c) Antrag der Abgeordneten , d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- entwicklung NIS 90/DIE GRÜNEN: Forschung für den ökologischen Landbau ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksache 16/9345) ...... 18221 B Klaus Hofbauer, Dirk Fischer (Ham- burg), Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), d) Antrag der Abgeordneten weiterer Abgeordneter und der Frak- (Bayreuth), Jan Mücke, Patrick Döring, tion der CDU/CSU sowie der Abge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion ordneten Heinz Paula, Uwe der FDP: Verlängerung der Hauptunter- Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Ab- suchungsintervalle für Oldtimer mit geordneter und der Fraktion der SPD: H-Kennzeichen Zwölf-Tage-Regelung in Europa (Drucksache 16/9480) ...... 18221 C wieder einführen f) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- – zu dem Antrag der Abgeordneten schung und Technikfolgenabschätzung Patrick Döring, Horst Friedrich (Bay- gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: reuth), , weiterer Ab- Technikfolgenabschätzung (TA) geordneter und der Fraktion der FDP: Mediennutzung und eLearning in Schulen Wiedereinführung der Zwölf-Tage- Sachstandsbericht zum Monitoring Regelung in Europa unterstützen „eLearning“ (Drucksache 16/9527) ...... 18221 C (Drucksachen 16/9076, 16/7861, 16/9739) 18222 D g) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- e) Beschlussempfehlung und Bericht des schung und Technikfolgenabschätzung Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Technikfolgenabschätzung (TA) Bundesregierung: Verordnung zum Zielgruppenorientiertes eLearning für Schutz des Klimas vor Veränderungen Kinder und ältere Menschen durch den Eintrag bestimmter fluorier- Sachstandsbericht zum Monitoring ter Treibhausgase (Chemikalien-Klima- „eLearning“ schutzverordnung – ChemKlimaschutzV) (Drucksache 16/9528) ...... 18221 C (Drucksachen 16/9446, 16/9517 Nr. 2, 16/9731) ...... 18223 A f)–p) Tagesordnungspunkt 47: Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- a) Zweite und dritte Beratung des von den schusses: Sammelübersichten 431, 432, Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und 433, 434, 435, 436, 437, 438, 439, 440 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- und 441 zu Petitionen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 III

(Drucksachen 16/9616, 16/9617, 16/9618, , Bundesminister 16/9619, 16/9620, 16/9621, 16/9622, BMU ...... 18237 C 16/9623, 16/9624, 16/9625, 16/9626) . . . . 18223 B Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) ...... 18240 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Dieter Grasedieck (SPD) ...... 18241 A a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu der Verordnung der Bundesregie- Tagesordnungspunkt 7: rung: Einhundertsiebte Verordnung zur a) – Zweite und dritte Beratung des von Änderung der Ausfuhrliste – Anlage den Fraktionen der CDU/CSU und der AL zur Außenwirtschaftsverordnung – SPD eingebrachten Entwurfs eines (Drucksachen 16/9211, 16/9391 Nr. 2.1, Gesetzes zur Änderung des Bundes- 16/9698) ...... 18224 C kindergeldgesetzes b) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- (Drucksachen 16/8867, 16/9792) . . . . 18241 D schusses: Übersicht 11 über die dem – Zweite und dritte Beratung des von der Deutschen Bundestag zugeleiteten Bundesregierung eingebrachten Ent- Streitsachen vor dem Bundesverfas- wurfs eines Gesetzes zur Änderung sungsgericht des Bundeskindergeldgesetzes (Drucksache 16/9782) ...... 18224 C (Drucksachen 16/9615, 16/9792) . . . . 18242 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des – Bericht des Haushaltsausschusses ge- Rechtsausschusses: zu den Streitsachen mäß § 96 der Geschäftsordnung vor dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 16/9793) ...... 18242 A 2 BvE 2/08 und 2 BvR 1010/08 (Drucksache 16/9783) ...... 18224 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen d)–m) und Jugend Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 442, 443, – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin 444, 445, 446, 447, 448, 449, 450 und 451 Deligöz, Markus Kurth, Brigitte zu Petitionen Pothmer, weiterer Abgeordneter und (Drucksachen 16/9767, 16/9768, 16/9769, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 16/9770, 16/9771, 16/9772, 16/9773, NEN: Kinderzuschlag weiterent- 16/9774, 16/9775, 16/9776) ...... 18225 A wickeln – Fürsorgebedürftigkeit und verdeckte Armut von Erwerbs- tätigen mit Kindern verhindern und Zusatztagesordnungspunkt 6: bekämpfen Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion – zu der Unterrichtung durch die Bun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der desregierung: Bericht über die Aus- Bundesregierung zur unrechtmäßigen Ein- wirkungen des § 6 a des Bundeskin- leitung radioaktiver Lauge in das ehema- dergeldgesetzes (Kinderzuschlag) lige Salzbergwerk Asse II sowie über die gegebenenfalls not- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ wendige Weiterentwicklung dieser Vorschrift DIE GRÜNEN) ...... 18226 A Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (Drucksachen 16/8883, 16/4670, 16/9792) 18242 A (CDU/CSU) ...... 18227 A c) Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Hans-Heinrich Sander, Minister Jörn Wunderlich, , weiterer (Niedersachsen) ...... 18228 A Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Armut trotz Arbeit vermeiden – Jörg Tauss (SPD) ...... 18229 B Benachteiligung Alleinerziehender Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 18230 B beim Kinderzuschlag beenden (Drucksache 16/9746) ...... 18242 B Dr. (CDU/CSU) ...... 18231 B Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 18242 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18232 C Ina Lenke (FDP) ...... 18244 A Christoph Pries (SPD) ...... 18233 D Wolfgang Spanier (SPD) ...... 18245 B Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) ...... 18234 D Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 18246 D Klaus Hagemann (SPD) ...... 18236 B Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 18248 B IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 18248 C Tagesordnungspunkt 9: Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. DIE GRÜNEN) ...... 18248 D Kolb, Dr. Karl Addicks, , weiterer Abgeordneter und der Wolfgang Spanier (SPD) ...... 18249 B Fraktion der FDP: Flexibler Eintritt in die Rente bei Wegfall der Zuverdienst- (CDU/CSU) . . . . . 18250 B grenzen Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 18250 D (Drucksache 16/8542) ...... 18275 A Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär b) Antrag der Abgeordneten Irmingard BMFSFJ ...... 18252 A Schewe-Gerigk, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Ina Lenke (FDP) ...... 18252 D Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kurs halten bei der Erwerbsintegration (DIE LINKE) ...... 18253 C von älteren Beschäftigten – Teilrenten Miriam Gruß (FDP) ...... 18254 C erleichtern (Drucksache 16/9748) ...... 18275 A Christel Humme (SPD) ...... 18255 A Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 18275 B Ina Lenke (FDP) ...... 18255 C Dr. (CDU/CSU) ...... 18276 B (CDU/CSU) ...... 18256 D Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) ...... Wolfgang Spanier (SPD) ...... 18257 B 18279 C Anton Schaaf (SPD) ...... 18280 C (SPD) ...... 18258 D Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Ina Lenke (FDP) ...... 18259 C DIE GRÜNEN) ...... 18282 B Caren Marks (SPD) ...... 18259 D Tagesordnungspunkt 10: Tagesordnungspunkt 8: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Erste Beratung des von den Abgeordneten eines Gesetzes zur Modernisierung Joachim Stünker, , der gesetzlichen Unfallversicherung Dr. Lukrezia Jochimsen und weiteren Abge- (Unfallversicherungsmodernisierungs- ordneten eingebrachten Entwurfs eines Drit- gesetz – UVMG) ten Gesetzes zur Änderung des Betreu- (Drucksachen 16/9154, 16/9788) ...... 18283 C ungsrechts (Drucksache 16/8442) ...... 18260 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales Joachim Stünker (SPD) ...... 18260 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch (FDP) ...... 18262 A Markus Kurth, , , weiterer Abgeordneter Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 18263 B und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die gesetzliche Unfallver- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) ...... 18264 D sicherung fit für die Dienstleistungs- Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 18265 D gesellschaft machen Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ – zu dem Antrag der Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 18266 B Heinz-Peter Haustein, Dr. Heinrich L. Kolb, , weiterer Abge- Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 18267 B ordneter und der Fraktion der FDP: Mehr Wettbewerb und Kapitalde- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ckung in der Unfallversicherung (FDP) ...... 18268 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 18269 B Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. , weiterer Ab- Joachim Stünker (SPD) ...... 18270 C geordneter und der Fraktion DIE Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ LINKE: Keine Leistungskürzungen DIE GRÜNEN) ...... 18271 B bei der gesetzlichen Unfallversiche- rung Christoph Strässer (SPD) ...... 18272 B (Drucksachen 16/9312, 16/6645, 16/5616, Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) ...... 18273 D 16/9788) ...... 18283 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 V

Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär Tagesordnungspunkt 13: BMAS ...... 18284 A Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 18285 D Britta Haßelmann, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Gerald Weiß (Groß-Gerau) NIS 90/DIE GRÜNEN: Statt Kooperative (CDU/CSU) ...... 18287 A Jobcenter – Grundsicherung für Arbeits- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 18288 C suchende aus einer Hand mit gestärkten kommunalen Kompetenzen organisieren Volker Schneider (Saarbrücken) (Drucksache 16/9441) ...... 18312 B (DIE LINKE) ...... 18290 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) ...... 18291 A DIE GRÜNEN) ...... 18312 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 18313 B DIE GRÜNEN) ...... 18292 B Jörg Rohde (FDP) ...... 18314 D Wolfgang Grotthaus (SPD) ...... 18293 D Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär (CDU/CSU) ...... 18295 D BMAS ...... 18316 B (DIE LINKE) ...... 18318 C Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 14: schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Klaus Ernst, Hüseyin- – Zweite und dritte Beratung des von der Kenan Aydin, Dr. , weiterer Ab- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs geordneter und der Fraktion DIE LINKE: eines Dritten Gesetzes zur Änderung Förderung der Altersteilzeit durch die des Bundesministergesetzes Bundesagentur für Arbeit fortführen (Drucksachen 16/5052, 16/9759) ...... 18319 C (Drucksachen 16/9067, 16/9730) ...... 18297 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß (SPD) ...... 18298 A § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 16/9781) ...... Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 18298 D 18316 D (CDU/CSU) ...... 18300 A Tagesordnungspunkt 15: Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 18301 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten , Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer DIE GRÜNEN) ...... 18302 D Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 18303 D Mehr deutsche und internationale Unter- stützung für den Wiederaufbauprozess im Wolfgang Grotthaus (SPD) ...... 18304 B Irak Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 18305 A (Drucksache 16/9605) ...... 18320 A Elke Hoff (FDP) ...... 18320 B Tagesordnungspunkt 12: Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 18321 B Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 18322 D rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung von Werkunternehmeran- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ sprüchen und zur verbesserten Durchset- DIE GRÜNEN) ...... 18324 A zung von Forderungen (Forderungssiche- rungsgesetz – FoSiG) (Drucksachen 16/511, 16/9787) ...... 18305 D Tagesordnungspunkt 16: Dirk Manzewski (SPD) ...... 18306 A a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 18307 C und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) ...... 18308 B neten , , Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 18310 A und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Angelika Graf (Rosen- Dirk Manzewski (SPD) ...... 18310 B heim), Renate Gradistanac, Kerstin Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Griese, weiterer Abgeordneter und der DIE GRÜNEN) ...... 18311 B Fraktion der SPD: Wirksame Bekämp- VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

fung der Genitalverstümmelung von Tagesordnungspunkt 17: Mädchen und Frauen Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Drucksachen 16/9420, 16/9694) ...... 18324 D wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- b) Beschlussempfehlung und Bericht des geordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen Hänsel, Monika Knoche, weiterer Abgeord- und Jugend neter und der Fraktion DIE LINKE: Aner- kennung und Wiedergutmachung der – zu dem Antrag der Abgeordneten deutschen Kolonialverbrechen im ehemali- Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise gen Deutsch-Südwestafrika Beck (Bremen), Birgitt Bender, weite- (Drucksachen 16/4649, 16/8418) ...... 18332 B rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mäd- chen und Frauen vor Genitalver- in Verbindung mit stümmelung schützen – zu dem Antrag der Abgeordneten Zusatztagesordnungspunkt 7: , Dr. Karl Addicks, Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer (Köln), Dr. Uschi Eid, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Abgeordneter und der Fraktion BÜND- FDP: Genitalverstümmelung von NIS 90/DIE GRÜNEN: Angebot an die na- Mädchen und Frauen ächten und mibische Nationalversammlung für einen bekämpfen Parlamentarierdialog zur Versöhnungs- – zu dem Antrag der Abgeordneten frage Dr. , Monika (Drucksache 16/9708) ...... 18332 B Knoche, Sevim Dağdelen, weiterer Günter Gloser, Staatsminister für Abgeordneter und der Fraktion DIE Europa ...... 18332 C LINKE: Weibliche Genitalverstüm- melung verhindern _ Menschen- (FDP) ...... 18333 B rechte durchsetzen (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 18334 B (Drucksachen 16/3542, 16/3842, 16/4152, Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 18335 C 16/8657) ...... 18325 A Brunhilde Irber (SPD) ...... 18336 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Tagesordnungspunkt 18: – zu dem Antrag der Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- Michaela Noll, Antje Blumenthal, haltsausschusses Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie – zu dem Antrag des Bundesministeriums der Abgeordneten Renate Gradistanac, der Finanzen: Entlastung der Bundesre- , Angelika Graf (Ro- gierung für das Haushaltsjahr 2006 senheim), weiterer Abgeordneter und – Vorlage der Haushalts- und Vermö- der Fraktion der SPD: Häusliche Ge- gensrechnung des Bundes (Jahres- walt gegen Frauen konsequent wei- rechnung 2006) – ter bekämpfen – zu der Unterrichtung durch den Bundes- – zu der Unterrichtung durch die Bun- rechnungshof: Bemerkungen des Bun- desregierung: Aktionsplan II der desrechnungshofes 2007 zur Haushalts- Bundesregierung zur Bekämpfung und Wirtschaftsführung des Bundes von Gewalt gegen Frauen (einschließlich der Feststellungen zur (Drucksachen 16/6429, 16/6584, 16/9367) 18325 B Jahresrechnung 2006) Michaela Noll (CDU/CSU) ...... 18325 C (Drucksachen 16/4995, 16/7100, 16/7376 Nr. 3, 16/9640) ...... 18337 C Sibylle Laurischk (FDP) ...... 18326 C Steffen Kampeter (CDU/CSU) ...... 18337 D Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 18327 B (Hildesheim) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) ...... 18328 C (SPD) ...... 18338 D Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Dr. Claudia Winterstein (FDP) ...... 18340 B DIE GRÜNEN) ...... 18329 B Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 18341 A Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 18330 B Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ Renate Gradistanac (SPD) ...... 18331 A DIE GRÜNEN) ...... 18341 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 VII

Tagesordnungspunkt 19: (Drucksachen 16/8609 A.9, 16/9822) ...... 18349 B Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, (FDP) ...... 18349 D Irmingard Schewe-Gerigk, Priska Hinz (Her- (CDU/CSU) ...... 18351 B born), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sorge- Christoph Strässer (SPD) ...... 18351 D rechtsregelung für Nichtverheiratete Florian Toncar (FDP) ...... 18352 D reformieren (Drucksache 16/9361) ...... 18342 B (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18353 D

Tagesordnungspunkt 20: Tagesordnungspunkt 22: a) Antrag der Abgeordneten Anette Hübinger, , Michael Antrag der Abgeordneten Axel E. Fischer Kretschmer, weiterer Abgeordneter und (Karlsruhe-Land), Ilse Aigner, Katherina der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- Reiche (Potsdam), weiterer Abgeordneter und geordneten Gesine Multhaupt, Jörg Tauss, Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- , weiterer Abgeordneter und neten Andrea Wicklein, René Röspel, Jörg der Fraktion der SPD: Qualitätssiche- Tauss, weiterer Abgeordneter und der Frak- rung im Wissenschaftssystem durch tion der SPD: Forschung und Entwicklung eine differenzierte Gleichstellungspoli- für die industrielle stoffliche Nutzung tik vorantreiben nachwachsender Rohstoffe in Deutschland (Drucksache 16/9756) ...... 18342 C bündeln und stärken (Drucksache 16/9757) ...... 18355 A b) Antrag der Abgeordneten , , Patrick Meinhardt, weiterer Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (CDU/CSU) ...... 18355 B Frauen auf dem Sprung in die Wissen- Andrea Wicklein (SPD) ...... 18356 C schaftselite Cornelia Pieper (FDP) ...... 18357 D (Drucksache 16/9604) ...... 18342 D Dr. (DIE LINKE) ...... 18360 A Anette Hübinger (CDU/CSU) ...... 18342 D Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Gesine Multhaupt (SPD) ...... 18344 B DIE GRÜNEN) ...... 18360 D Cornelia Pieper (FDP) ...... 18345 D Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 18347 A Tagesordnungspunkt 23: (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, DIE GRÜNEN) ...... 18347 D Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth und der Fraktion DIE LINKE: Canna- bis zur medizinischen Behandlung freige- Zusatztagesordnungspunkt 8: ben (Drucksache 16/9749) ...... 18361 C Antrag der Abgeordneten Florian Toncar, Dr. Karl Addicks, (Münster), Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 18361 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 18362 C FDP: Menschenrechtslage in Tibet verbes- sern Sabine Bätzing (SPD) ...... 18363 A (Drucksache 16/9747) ...... 18349 B Detlef Parr (FDP) ...... 18363 D in Verbindung mit Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 18364 C Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 9: DIE GRÜNEN) ...... 18365 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu der Unterrichtung durch die Bundes- Tagesordnungspunkt 24: regierung: Festnahme des chinesischen Dis- Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, sidenten Hu Jia Anette Hübinger, Dr. , weiterer Entschließung des Europäischen Parla- Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU ments vom 17. Januar 2008 zur Inhaftie- und der Abgeordneten Dr. , rung des chinesischen Bürgerrechtlers Hu Jia Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß, wei- EuB-EP 1652; P6_TA-PROV (2008) 0021 terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Undine Michael Link (Heilbronn) (FDP) ...... 18380 A Kurth (Quedlinburg), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dr. (DIE LINKE) ...... 18380 C NIS 90/DIE GRÜNEN: Vorschlag Ecuadors Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ für den globalen Klima- und Biodiversi- DIE GRÜNEN) ...... 18382 A tätsschutz prüfen und weiterentwickeln – Schutz des Yasuní-Nationalparks durch Kompensationszahlungen für entgangene Tagesordnungspunkt 27: Einnahmen erreichen (Drucksache 16/9758) ...... 18366 B Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, Elke Hoff, weiterer Abge- Anette Hübinger (CDU/CSU) ...... 18366 B ordneter und der Fraktion der FDP: Bekämp- Dr. Sascha Raabe (SPD) ...... 18367 C fung von Piraterie (Drucksache 16/9609) ...... 18383 A (FDP) ...... 18369 B Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 18369 D in Verbindung mit Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18370 B Zusatztagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Tagesordnungspunkt 25: Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bre- Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Koczy, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ursachen der und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Piraterie vor der somalischen Küste bear- NEN: G-8-Gipfel in Japan für Klimaschutz beiten – Politische Konfliktlösungsschritte und nachhaltige Entwicklung nutzen für Somalia vorantreiben (Drucksache 16/9751) ...... 18371 B (Drucksache 16/9761) ...... 18383 A Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 18383 A in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 28: Zusatztagesordnungspunkt 10: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Hellmut Königshaus, Dr. Christel Happach- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen Kasan, weiterer Abgeordneter und der Frak- vom 12. November 2007 zwischen der Bun- tion der FDP: Glaubwürdigkeit von G-8 desrepublik Deutschland und der Demo- nicht verspielen – Maßnahmen zur Be- kratischen Volksrepublik Algerien zur Ver- kämpfung der Nahrungsmittelkrise auf meidung der Doppelbesteuerung und zur dem Gipfeltreffen in Hokkaido beschließen Verhinderung der Steuervermeidung und (Drucksache 16/9750) ...... 18371 C Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermö- Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 18371 C gen (SPD) ...... 18373 A (Drucksachen 16/9561, 16/9786) ...... 18383 C Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 18374 A Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 18384 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 18375 A (Heidelberg) (SPD) ...... 18385 C Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 18386 D DIE GRÜNEN) ...... 18376 A Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 18387 A Dr. (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 26: DIE GRÜNEN) ...... 18387 D Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die euro- Tagesordnungspunkt 29: päische Integration der Republik Moldau unterstützen Antrag der Abgeordneten , Wolfgang (Drucksache 16/9755) ...... 18377 A Nešković, Monika Knoche, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Ab- Manfred Grund (CDU/CSU) ...... 18377 B schiebungen in das Kosovo (SPD) ...... 18379 A (Drucksache 16/9143) ...... 18388 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 IX

Helmut Brandt (CDU/CSU) ...... 18388 D Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 18402 B Rüdiger Veit (SPD) ...... 18389 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 18403 C Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 18390 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18405 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 18390 D Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 18406 A Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18391 C Tagesordnungspunkt 33: Tagesordnungspunkt 30: Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Alexander Antrag der Abgeordneten , Britta Bonde, weiterer Abgeordneter und der Frak- Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer Abgeord- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rahmen- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE bedingungen für eine nachhaltige interna- GRÜNEN: Aktives Wahlalter bei Bundes- tionale Investitionspolitik schaffen – tagswahlen auf 16 Jahre absenken Multilaterale Regeln für Staatsfonds entwi- (Drucksache 16/6647) ...... 18392 A ckeln (Altötting) (Drucksache 16/9612) ...... 18406 D (CDU/CSU) ...... 18392 B (CDU/CSU) ...... 18406 D Jürgen Kucharczyk (SPD) ...... 18394 A Dr. Ditmar Staffelt (SPD) ...... 18407 C Gisela Piltz (FDP) ...... 18394 C Rainer Brüderle (FDP) ...... 18408 C (DIE LINKE) ...... 18395 B Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 18409 B Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18396 A DIE GRÜNEN) ...... 18410 A

Tagesordnungspunkt 31: Tagesordnungspunkt 34: Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr (Müns- Beschlussempfehlung und Bericht des ter), Heinz Lanfermann, Dr. , Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der ordneten Gisela Piltz, Dr. , Patrick FDP: Vertragsärzte und -zahnärzte nicht Döring, weiterer Abgeordneter und der Frak- mit 68 Jahren zwangsweise in den Ruhe- tion der FDP: Gegen Geheimniskrämerei – stand schicken Entscheidungen kommunaler Gesellschaf- (Drucksache 16/9445) ...... 18397 B ten transparent gestalten Dr. (CDU/CSU) ...... 18397 B (Drucksachen 16/395, 16/9732) ...... 18411 A Peter Friedrich (SPD) ...... 18398 A Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 18411 B Dr. Konrad Schily (FDP) ...... 18398 D Klaus Uwe Benneter (SPD) ...... 18412 A Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 18399 A Dr. Max Stadler (FDP) ...... 18412 D Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 18413 C DIE GRÜNEN) ...... 18399 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Marion Caspers-Merk, Parl. DIE GRÜNEN) ...... 18414 C Staatssekretärin BMG ...... 18400 C Tagesordnungspunkt 35: Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abge- , Dr. Barbara Höll, weiterer Ab- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für geordneter und der Fraktion DIE LINKE: eine qualitätsgesicherte und flächende- Effektiven Diskriminierungsschutz ver- ckende Arzneimittelversorgung – Versand- wirklichen handel auf rezeptfreie Arzneimittel be- (Drucksache 16/9637) ...... 18401 B grenzen (Drucksache 16/9754) ...... 18415 C Daniela Raab (CDU/CSU) ...... 18401 B (SPD) ...... 18401 D in Verbindung mit X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Zusatztagesordnungspunkt 12: sierungsgesetz – UVMG) (Tagesordnungs- punkt 10 a) ...... 18427 D Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr (Müns- ter), , Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Aus- Anlage 3 wüchse des Versandhandels mit Arzneimit- teln unterbinden Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Drucksache 16/9752) ...... 18415 D des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Bundesministergesetzes (Tages- Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU) ...... 18415 D ordnungspunkt 14) Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 18417 A Ralf Göbel (CDU/CSU) ...... 18428 B Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 18418 A Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 18429 B Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) ...... 18419 A Dr. Max Stadler (FDP) ...... 18430 B Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ Volker Schneider (Saarbrücken) DIE GRÜNEN) ...... 18419 C (DIE LINKE) ...... 18431 B , Parl. Staatssekretär (BÜNDNIS 90/ BMG ...... 18420 B DIE GRÜNEN) ...... 18432 A

Tagesordnungspunkt 36: Anlage 4 a) Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Antrags: Mehr deutsche und internationale Unterstützung für den Wiederaufbauprozess weiterer Abgeordneter und der Fraktion im Irak (Tagesordnungspunkt 15) der FDP: Wettbewerb in der Eingliede- rungshilfe stärken – Wahlfreiheit und (SPD) ...... 18432 C Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung erhöhen (Drucksache 16/9451) ...... 18421 A Anlage 5 b) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe- – Anerkennung und Wiedergutmachung der Gerigk, weiterer Abgeordneter und der deuschen Kolonialverbrechen im ehemali- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: gen Deutsch-Südwestafrika Persönliche Budgets für berufliche Teil- habe jetzt ermöglichen – Angebot an die namibische Nationalver- (Drucksache 16/9753) ...... 18421 A sammlung für einen Parlamentarierdialog zur Versöhnungsfrage Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 18421 B (Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ...... 18422 B nungspunkt 7) Jörg Rohde (FDP) ...... 18423 A Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18434 D Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 18424 A

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Anlage 6 DIE GRÜNEN) ...... 18425 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Sorgerechtsregelung für Nicht- Nächste Sitzung ...... 18426 D verheiratete reformieren (Tagesordnungs- punkt 19) Anlage 1 (CDU/CSU) ...... 18435 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 18427 A Christine Lambrecht (SPD) ...... 18437 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ...... 18438 B Anlage 2 Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 18439 A Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) zur Ab- DIE GRÜNEN) ...... 18440 A stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfall- Brigitte Zypries, Bundesministerin versicherung (Unfallversicherungsmoderni- BMJ ...... 18441 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 XI

Anlage 7 Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 18442 B Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 18443 B – Antrag: Menschenrechtslage in Tibet ver- Rolf Kramer (SPD) ...... 18444 A bessern Dr. (DIE LINKE) ...... 18444 C – Beschlussempfehlung und Bericht: Fest- nahme des chinesischen Dissidenten Hu Jia Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ Entschließung des Europäischen Parla- DIE GRÜNEN) ...... 18445 B ments vom 17. Januar 2008 zur Inhaftierung des chinesischen Bürgerrechtlers Hu Jia (Zusatztagesordnungspunkte 8 und 9) Anlage 9 Michael Leutert (DIE LINKE) ...... 18441 D Mündliche Fragen 34 und 35 Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE)

Anlage 8 Entwicklung der Gehälter der Vorstände der zehn größten Unternehmen mit unmittelbarer Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Beteiligung des Bundes in den letzten fünf der Anträge: Jahren; Entwicklung der Bonuszahlungen der – Bekämpfung von Piraterie Vorstände der zehn größten Unternehmen mit unmittelbarer Beteiligung des Bundes in den – Ursachen der Piraterie vor der somali- letzten fünf Jahren schen Küste bearbeiten – Politische Kon- fliktlösungsschritte für Somalia vorantrei- Antwort ben Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin BMF ...... 18446 C (Tagesordnungspunkt 27 und Zusatztagesord- nungspunkt 11) (171. Sitzung, Tagesordnungspunkt 3)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18187

(A) (C) Redetext

172. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle- FDP: ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Haltung der Bundesregierung zu dem Bericht der US-Luftwaffe über Sicherheitslücken bei Vor Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ich – si- den US-Atomwaffenlagern in Deutschland cherlich im Namen des ganzen Hauses – der deutschen und Europa Fußballnationalmannschaft herzlich zum Einzug ins Finale der Europameisterschaft gratulieren. (siehe 171. Sitzung) ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Beifall) richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) – Ich sehe stehende Ovationen bei einzelnen Mitgliedern zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, des Hauses. (B) Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), (D) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Ich beziehe in diese Gratulation ausdrücklich die tür- NIS 90/DIE GRÜNEN kische Mannschaft ein, die mit bewundernswertem Ein- satz, großem Kampfgeist und stetiger Fairness dieses Entwicklung in Afghanistan – Strategien für Spiel ganz wesentlich mitbestimmt hat. eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent umsetzen (Beifall) – Drucksachen 16/8887, 16/9685 – Sowohl Kampfgeist als auch Fairness hat auch die Berichterstattung: überwiegende Mehrheit der deutschen wie der türki- Abgeordnete Dr. Christian Ruck schen Fans gezeigt, die sich im Stadion sowie auf den Christel Riemann-Hanewinckel Straßen und Plätzen dementsprechend bewegt und dar- Hellmut Königshaus gestellt haben. Ich glaube, der gestrige Abend hat zur Hüseyin-Kenan Aydin Gemeinschaft der Türken und Deutschen in Deutschland Ute Koczy erheblich beigetragen. (siehe 171. Sitzung) (Beifall) ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Nun müssen wir nach den außerordentlichen Ereig- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen nissen zu den normalen Geschäften zurückkehren, was Trittin, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), weite- nicht ganz leicht fällt. Wir beginnen mit der Wahl eines rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Mitglieds des Beirats bei der Bundesbeauftragten für NIS 90/DIE GRÜNEN die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt erneut Professor Staatsaufbau in Afghanistan – Pariser Konfe- Manfred Wilke vor. Sind Sie damit einverstanden? – renz zur kritischen Überprüfung und Kurs- Das ist der Fall. Damit ist Professor Wilke für eine wei- korrektur des Afghanistan Compacts nutzen tere Amtszeit gewählt. – Drucksachen 16/9428, 16/9711 – Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Berichterstattung: Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführ- Abgeordnete Eckart von Klaeden ten Punkte zu erweitern: Detlef Dzembritzki 18188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Dr. Werner Hoyer e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (C) Dr. Norman Paech ausschusses (2. Ausschuss) Kerstin Müller (Köln) Sammelübersicht 443 zu Petitionen (siehe 171. Sitzung) – Drucksache 16/9768 – ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ausschusses (2. Ausschuss) der FDP Sammelübersicht 444 zu Petitionen Die Regierungsverhandlungen mit China zur Neuorientierung der Entwicklungszusammen- – Drucksache 16/9769 – arbeit und zur Förderung der chinesischen g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Zivilgesellschaft nutzen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/9745 – Sammelübersicht 445 zu Petitionen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und – Drucksache 16/9770 – Entwicklung (f) Finanzausschuss h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- ausschusses (2. Ausschuss) sprache Sammelübersicht 446 zu Petitionen (Ergänzung zu TOP 47) – Drucksache 16/9771 – a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- ausschusses (2. Ausschuss) nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Sammelübersicht 447 zu Petitionen Einhundertsiebte Verordnung zur Änderung – Drucksache 16/9772 – der Ausfuhrliste – Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung – j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (B) ausschusses (2. Ausschuss) (D) – Drucksachen 16/9211, 16/9391 Nr. 2.1, 16/9698 – Sammelübersicht 448 zu Petitionen Berichterstattung: Abgeordnete Ulla Lötzer – Drucksache 16/9773 – b) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (6. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 449 zu Petitionen Übersicht 11 – Drucksache 16/9774 – über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- gericht ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/9782 – Sammelübersicht 450 zu Petitionen c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 16/9775 – richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) m) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- zu den Streitsachen vor dem Bundesverfas- ausschusses (2. Ausschuss) sungsgericht 2 BvE 2/08 und 2 BvR 1010/08 Sammelübersicht 451 zu Petitionen – Drucksache 16/9783 – – Drucksache 16/9776 – Berichterstattung: ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Haltung der Bundesregierung zur unrecht- ausschusses (2. Ausschuss) mäßigen Einleitung radioaktiver Lauge in das ehemalige Salzbergwerk Asse II Sammelübersicht 442 zu Petitionen ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin – Drucksache 16/9767 – Müller (Köln), Dr. Uschi Eid, Ute Koczy, weite- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18189

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel (C) DIE GRÜNEN Bahr (Münster), Martin Zeil, Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Angebot an die namibische Nationalversamm- lung für einen Parlamentarierdialog zur Ver- Auswüchse des Versandhandels mit Arznei- söhnungsfrage mitteln unterbinden – Drucksache 16/9708 – – Drucksache 16/9752 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Entwicklung Verbraucherschutz ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Toncar, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), weit erforderlich, abgewichen werden. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Tagesordnungspunkte 21 und 46 e werden abge- Menschenrechtslage in Tibet verbessern setzt. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstan- – Drucksache 16/9747 – den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so be- ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schlossen. richts des Ausschusses für Menschenrechte und Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Festnahme des chinesischen Dissidenten Hu zur Modernisierung des GmbH-Rechts und Jia zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Januar 2008 zur Inhaftierung des chi- – Drucksache 16/6140 – nesischen Bürgerrechtlers Hu Jia Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- EuB-EP 1652; P6_TA-PROV (2008) 0021 schusses (6. Ausschuss) – Drucksachen 16/8609 A.9, 16/9822 – – Drucksache 16/9737 – (B) (D) Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Dr. Herta Däubler-Gmelin Klaus Uwe Benneter Florian Toncar Mechthild Dyckmans Michael Leutert Ulrich Maurer Volker Beck (Köln) Jerzy Montag ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Christel richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der dem Antrag der Abgeordneten Mechthild Fraktion der FDP Dyckmans, Birgit Homburger, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), weiterer Abgeordneter und der Glaubwürdigkeit von G8 nicht verspielen – Fraktion der FDP Maßnahmen zur Bekämpfung der Nahrungs- mittelkrise auf dem Gipfeltreffen in Hokkaido GmbH-Gründungen beschleunigen und ent- beschließen bürokratisieren – Drucksache 16/9750 – – Drucksachen 16/671, 16/9737 – Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Entwicklung (f) Finanzausschuss Klaus Uwe Benneter Mechthild Dyckmans ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Maurer Dr. Uschi Eid, Kerstin Müller (Köln), Marieluise Jerzy Montag Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion und der Ursachen der Piraterie vor der somalischen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Küste bearbeiten – Politische Konfliktlösungs- schritte für Somalia vorantreiben Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu – Drucksache 16/9761 – keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. 18190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Dank, Herr Dr. Gehb, für diese weitreichenden Vor- (C) nächst der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries. schläge, die wir aufgegriffen haben! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Er hätte gern mehr gewollt! – Klaus Uwe Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Benneter [SPD]: Wir haben es ins GmbH-Ge- Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Re- setz gepackt! Er wollte es extra!) form des GmbH-Rechts, die wir heute verabschieden, – Na gut, so nickelich sind wir nicht. ist, wie Herr Gehb – ich glaube, gegenüber der FA Z – schon gesagt hat, eine historische Reform. (Dr. [FDP]: Nicht mal beim Lob seid ihr euch einig! Nicht einmal ein (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Schon wieder Lob gönnt ihr euch!) eine!) Wir schaffen damit für die Existenzgründer in diesem Es ist in der Tat eine Überarbeitung des GmbH- Lande genau das, was sie erwarten, nämlich eine Kapi- Rechts, wie wir sie seit 1892 noch nicht gehabt haben. talgesellschaft ohne festes Mindeststammkapital. Das Es ist eine ganz massive Entrümpelung und eine Anpas- wird Unternehmungsgründungen erheblich erleichtern sung dieses Rechts an die veränderten gesellschaftlichen und damit auch die Innovationskraft in Deutschland stär- Verhältnisse. Insofern bedanke ich mich dafür, dass wir ken. Wichtig ist doch, dass neue Ideen auch schnell in so weit gekommen sind. Ich glaube, mit mir danken ganz die Tat umgesetzt werden können. Das ist es, was wir viele Bürgerinnen und Bürger, auch junge Menschen, die wollen, um den Wissensstandort Deutschland voranzu- Unternehmen gründen wollen. Unser Haus verzeichnet bringen. zwar zu vielen Themen Eingänge, aber es war auffällig, dass gerade zur Reform des GmbH-Rechts viele Briefe Es ist nicht so, als ob wir nur die Unternehmensgrün- und E-Mails kamen. Die Menschen haben uns gefragt: dung erleichtern würden, indem wir das Kapital absenken Wann seid ihr denn endlich so weit? – Die Reform ist und kleinere Änderungen vornehmen. Vielmehr – ich schließlich sehr umfangreich beraten worden. Die meis- habe es schon am Anfang gesagt – reformieren wir das ten wollen keine Limited, sondern eine vereinfachte GmbH-Recht umfassend, und zwar zum ersten Mal. GmbH, und dass sie keine Limited wollen, ist eine rich- Eine Vielzahl von Reformen kennen wir aus dem Ak- tige und gute Entscheidung. tienrecht. Man spricht beim Aktienrecht bereits von der „Aktienrechtsreform in Permanenz“. Dankenswerterweise ist im Zusammenhang mit der (B) Reform unseres GmbH-Rechts in den Zeitungen häufig Beim GmbH-Recht ist genau das Gegenteil der Fall: (D) verbreitet worden, welche Nachteile es bringt, wenn man Es ist eher eine Geschichte gescheiterter Reformvorha- zwar zunächst die Limited wählt, dann aber nach einem ben. Der erste Anlauf erfolgte bereits 1937, im An- Jahr feststellt, dass man seine Geschäftsabschlüsse leider schluss an die Aktienrechtsreform, und blieb im Zweiten in Englisch und in London vorlegen muss. Das ist dann Weltkrieg stecken. Der zweite Reformanlauf Anfang der für viele Menschen eine Überraschung. Insofern ist es 70er-Jahre schaffte es nicht bis in den Rechtsausschuss. richtig und gut, dass wir mit diesem Gesetzentwurf eine Rückblickend muss man wohl sagen: Das war eine ganz konkurrenzfähige Gesellschaftsform zur Verfügung stel- gute Entscheidung. Denn man wollte damals das GmbH- len. Recht mit rund 300 Paragrafen im Grunde dem Aktien- recht anpassen und der Aktiengesellschaft, die damals Meine Damen und Herren, wir haben hinsichtlich der erste Siegeszüge antrat, eine vergleichbare Rechtsform Gründung einer GmbH einen Aspekt sehr lange und sehr an die Seite stellen. sorgfältig diskutiert, und dieser betrifft die Änderungen beim Mindeststammkapital. Wie Sie wissen, hat es Ich meine, es war gut, dass man es so nicht gemacht eine vollständige Änderung gegenüber dem Regierungs- hat. Denn wir brauchen keine zweite Aktiengesellschaft. entwurf gegeben. Wir haben seinerzeit eine Absenkung Vielmehr brauchen wir die GmbH als eine Rechtsform des Mindeststammkapitals auf 10 000 Euro vorgeschla- für den Mittelstand, also für die vielen Hunderttausen- gen, weil man ein gewisses Kapital braucht, um eine Ge- den von kleinen Unternehmungen, die das Rückgrat der sellschaft zu gründen. Denn ohne Kapital kann man deutschen Wirtschaft bilden sollen. Diese Gesellschafts- nicht einmal ein Telefon anmelden oder einen Schreib- form muss flexibel sein. Sie muss anpassungsfähig sein, tisch kaufen. und sie muss vor allen Dingen einfach zu verstehen und zu handhaben sein. Hierzu gab es andere Auffassungen, und wir haben gute Diskussionen geführt. Darüber hinaus fand eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sehr gute Sachverständigenanhörung statt, die uns gehol- der CDU/CSU) fen hat, den richtigen Weg zu finden. Deswegen gibt es Genau dieses stellen wir jetzt mit dem überarbeiteten jetzt neben der Form der alten GmbH – so will ich es GmbH-Recht sicher. Wir verfolgen ein Konzept der einmal sagen – mit 25 000 Euro Mindeststammkapital starken Deregulierung. Das heißt, wir wollen die Grün- die neue Variante der GmbH, die sogenannte Unterneh- dung der GmbH sehr viel einfacher und vor allen Dingen mergesellschaft (haftungsbeschränkt), die insbesondere sehr viel schneller machen. Das ist unser Ziel. Vieles, durch den Einsatz eines einzelnen Abgeordneten dieses was vor 100 Jahren im Verwaltungsablauf noch selbst- Hauses in das Gesetz aufgenommen wurde. Vielen verständlich war, ist heute nicht mehr notwendig. Ich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18191

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) nenne als Beispiel die nachgeschalteten Verwaltungsge- Gehb: Der ganz große Wurf ist diese Reform nach Mei- (C) nehmigungen. Es ist heute beispielsweise noch üblich, nung der FDP nicht. dass man, wenn man eine Gaststätte aufmachen will, zu- nächst ein Gesundheitszeugnis braucht und sich erst da- (Beifall bei der FDP) nach die GmbH eintragen lassen kann. Künftig kann dies Frau Ministerin, die Ziele, die Sie sich mit dieser Re- parallel laufen, was zu einer Beschleunigung führt. Das form gesetzt haben, begrüßen wir. Die Umsetzung ist al- mag zwar nur ein kleines Beispiel sein, aber es ist eines lerdings gerade in dem von dem Kollegen Gehb so be- von vielen Beispielen, die zeigen, dass wir die Geschwin- sonders herausgestellten Teil nicht gelungen. digkeit bei der GmbH-Eintragung deutlich erhöhen. Wirtschafts- und Mittelstandspolitik heißt für die FDP Gleichzeitig bekämpfen wir quasi als Gegengewicht zum einen, strukturelle Probleme abzubauen. Unsere die Missbräuche am „Lebensende“ einer GmbH sehr Unternehmen müssen von überflüssiger Bürokratie be- nachdrücklich. Insbesondere die sogenannten Bestat- freit werden. Deshalb unterstützen wir auch die mit der tungsfälle von GmbHs, denen sich schon ein eigener Reform angestrebte Deregulierung. Dass Sie den FDP- Gewerbezweig widmet, sollen härter verfolgt werden. Vorschlag aufgenommen haben, die Eintragung ins Han- Gescheiterte Unternehmer werden sich in Zukunft also delsregister von der Vorlage behördlicher Genehmigun- nicht mehr ihrer Verantwortung entziehen können. Das gen zu lösen, begrüßen wir ausdrücklich. Beschleuni- MoMiG verlagert die Gewichte weg von einer vorbeu- gung bei der Handelsregistereintragung haben wir aber genden Formstrenge hin zu einer nachsorgenden Kon- auch schon durch das gemeinsam in dieser Legislatur- trolle, die erst im Krisenfall eingreift, dann aber mit grö- periode verabschiedete EHUG erreicht. So ist die ßerer Schärfe als in der Vergangenheit. Die Reform knüpft also an das an, was wir gemeinhin mit dem mün- Gründung einer GmbH nach neuesten Zahlen bei uns in digen Verbraucher oder mit dem aufgeklärten Bürger Deutschland heute schon in durchschnittlich sechs und der aufgeklärten Bürgerin meinen. Die Idee ist, dass Werktagen möglich. Der EU-weite Durchschnitt liegt bei sie sich informieren und möglichst vernünftige Entschei- dem Doppelten. Wir sind also bisher gar nicht so dungen treffen sollen. Nur im Versagensfall soll einge- schlecht. griffen werden. Wichtig ist für uns Liberale auch eine Vereinfachung Ein weiteres grundlegendes Ziel des Entwurfs ist die des GmbH-Rechts. Gesetze müssen verständlich und in Rückkehr zum bilanziellen Denken im Haftungskapi- der Praxis handhabbar sein. Gerade das GmbH-Gesetz talsystem der GmbH. Das betrifft sowohl die Kapital- war jedoch sehr kompliziert, und die dazu entwickelte aufbringung als auch die Kapitalerhaltung. Das Stich- Rechtsprechung des BGH war kaum noch nachvollzieh- wort ist hier Cash-Pooling, ein Begriff, den insbesondere bar. Eigenkapitalersetzende Darlehen, Cash-Pooling, verdeckte Sacheinlage – dies alles sind Begriffe, bei de- (B) die Töchter von größeren Unternehmen kennen und der (D) deshalb für die Großkonzerne unserer Wirtschaft von nen sich Unternehmer und Rechtsanwälte die Haare Bedeutung ist. rauften. Es wurde Zeit für eine Vereinfachung und für die Schaffung von Rechtssicherheit. Es wird sich aber Auch wenn viele Bürgerinnen und Bürger gewollt erst in Zukunft herausstellen, ob die gefundenen Regeln hätten, dass die Reform etwas eher in Kraft tritt, meine tatsächlich die richtigen Lösungen sind; die Sachverstän- ich: Es war gut, dass wir diese große Reform nicht übers digen hatten hier doch noch einige Bedenken. Knie gebrochen haben. Dass sie jetzt ein Jahr später als ursprünglich geplant vollendet wird, ist meines Erach- Das dritte Ziel des Gesetzentwurfes, das Sie ange- tens kein Schaden. Denn wir können heute sagen: Wir sprochen haben, die Missbrauchsbekämpfung, haben werden ein Gesetz verabschieden, das im Hause intensiv Sie für die Voll-GmbH, wie wir meinen, im Großen und unter Zuhilfenahme des Sachverstandes der Abgeordne- Ganzen nicht schlecht umgesetzt. Leider zerstören Sie ten beraten worden ist und in das die Meinung vieler mögliche Erfolge durch die Einführung der Mini-GmbH. Sachverständiger eingeflossen ist. In den letzten Tagen ist mir gerade aus dem Bundes- Ich möchte mich bei Ihnen allen recht herzlich dafür justizministerium immer wieder vorgehalten worden, bedanken, dass am Ende eine Reform dabei herausge- man habe mit der GmbH-Reform einen sehr liberalen kommen ist, von der wir sagen können: Sie wird uns hel- Gesetzentwurf vorgelegt und verstehe daher überhaupt fen, die Rechtsform für den Mittelstand zukunftsfest für nicht, warum die FDP diesem Gesetzentwurf nicht zu- die nächsten Jahre zu gestalten. Das ist ein wichtiges Si- stimme. gnal für den Wirtschaftsstandort Deutschland. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) NEN]: Das verstehen wir auch nicht! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Versuchen Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie, das mal zu erklären!) Das Wort erhält nun die Kollegin Mechthild – Ich werde es Ihnen erklären. – Wir tragen den Gesetz- Dyckmans, FDP-Fraktion. entwurf nicht mit, weil Sie mit der Mini-GmbH einen (Beifall bei der FDP) Systembruch begehen, der nicht notwendig ist und der – im Gegenteil – dem Wirtschaftsstandort schaden wird. Mechthild Dyckmans (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- der LINKEN – Silke Stokar von Neuforn gen! Um es gleich vorweg zu sagen, lieber Kollege [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!) 18192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Mechthild Dyckmans (A) Liberale Politik heißt für uns nicht Beliebigkeit, heißt terin, es nicht, die ausdrücklich vor dem Gehb-Modell (C) nicht Rosinenpickerei, heißt nicht, ohne ordnungspoliti- gewarnt hat? schen Rahmen jeden gerade so agieren zu lassen, wie es (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das kann nicht für ihn am einfachsten ist. Liberale Politik bedeutet sein!) Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Übernahme von Verantwortung für wirtschaftliches Handeln. All dies ha- Haben Sie nicht noch kurz vor Verabschiedung des Re- ben Sie bei der Mini-GmbH nicht. gierungsentwurfs in der FA Z erklärt – ich zitiere Sie –: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Mini-GmbH ist ein Zugeständnis an den Koali- der LINKEN) tionspartner... Sie verlassen den ordnungspolitischen Rahmen, indem Und – das haben Sie heute noch einmal gesagt –: Sie eine Kapitalgesellschaft ohne Kapital zulassen, und Ganz ohne Kapital kann man kein Unternehmen das, obwohl Sie – wenn auch spät – wieder zu der Ein- gründen, auch nicht im Dienstleistungssektor. sicht gekommen sind, dass die Absenkung des Mindest- stammkapitals für die GmbH gerade nicht der richtige Was hat Sie nun eigentlich vom Gegenteil überzeugt? Weg ist. Das haben Sie heute nicht erklärt. Die Sachverständigen- anhörung im Rechtsausschuss kann es nicht gewesen Auch wenn Kollege Gehb immer wieder glaubt, mich sein. Die Mehrheit der Sachverständigen war weder von darüber belehren zu müssen, dass das Stammkapital der Notwendigkeit noch gar von der Seriosität der Mini- keine Voraussetzung für Gläubigerschutz ist, so kann ich GmbH überzeugt. nur sagen: Jawohl, lieber Jürgen, das weiß ich. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Wer braucht die FDP?) NEN]: Ja, das ist auch so!) Es ist richtig: Wir hatten in den letzten Jahren einen Aber das Stammkapital ist ein wichtiges Signal kurzfristigen Boom von Limiteds in Deutschland, kurz- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das stimmt!) fristig deshalb, weil nur ungefähr die Hälfte der Limiteds statistisch das erste Geschäftsjahr überlebt und nur für Wirtschaftskraft, für Seriosität und damit letztendlich 3 Prozent – ich wiederhole: 3 Prozent – die ersten beiden auch für Gläubigerschutz. Jahre. Demgegenüber sind die GmbHs viel stabiler. Nur 2,5 Prozent der GmbHs geraten im ersten Jahr in finan- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zielle Schwierigkeiten. der LINKEN – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ (B) DIE GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn! – Es ist also richtig, dass ein Großteil der Limiteds wirt- (D) Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Darum lassen schaftlich keinen Erfolg hatte. Warum? Diese Limiteds wir es bei der GmbH auch bei den 25 000 sind schlicht überschuldet. Das liegt nicht am britischen Euro!) Recht, sondern an der fehlenden Finanzstärke dieser Li- miteds. So wurde das Insolvenzverfahren bei 70 Prozent Wer nicht einmal bereit ist, einen bestimmten Betrag für der Limited-Insolvenzen im Jahr 2006 mangels Masse seine unternehmerische Idee einzusetzen, um damit die nicht einmal eröffnet. Von diesen Insolvenzen – das bitte Ernsthaftigkeit seines Unternehmens zu unterstreichen, ich zu beachten – waren knapp 1 500 Arbeitnehmer in wird scheitern. Deutschland betroffen, und die ausstehenden Forderun- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE gen beliefen sich auf rund 130 Millionen Euro. So viel GRÜNEN]: Unglaublich so etwas! – Klaus zum gesamtwirtschaftlichen Schaden. Uwe Benneter [SPD]: Das ist die rosa Welt der (Beifall bei der FDP) FDP!) Mini-GmbHs werden dasselbe Schicksal erleiden wie Wie begründen Sie denn die Beibehaltung des Min- die Limiteds. Sie werden bei Lieferanten, bei Banken deststammkapitals? Da spricht man davon, das Ansehen und bei Behörden auf Vorbehalte treffen. Sie sind hoch der GmbH als verlässlicher Rechtsform des Mittelstan- insolvenzanfällig. Man kann natürlich sagen: Das ist das des nicht beschädigen zu wollen und dass das Stammka- Risiko des einzelnen Geschäftsmannes. Es wird auch die pital als Seriositätsschwelle notwendig sei. Das alles Meinung vertreten, man könne die Mini-GmbH doch liest sich doch wie die Argumentation der FDP. Warum erst einmal ausprobieren. Wir Liberale fragen aber auch aber gelten diese Argumente nicht für die Mini-GmbH? nach dem potenziellen wirtschaftlichen Schaden. Sie nehmen sehenden Auges in Kauf, dass unseriöse Ge- sellschaften am Wirtschaftsleben teilnehmen. Ihnen ist (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) es egal, welcher wirtschaftliche Schaden da entsteht. Wir fragen: Wer sind denn die Verlierer dieser Reform? (Beifall bei der FDP – Jerzy Montag [BÜND- Eine ganz klare Antwort hat der Sachverständige Profes- NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!) sor Goette bei der Anhörung gegeben: Verlierer ist die Allgemeinheit. Der Fiskus, die Sozialkassen und die Mit der Einführung der Mini-GmbH – Frau Ministe- kleinen Gläubiger sind die Gelackmeierten. – Das sind rin hat es gesagt – wollen Sie auf die britische Limited nicht meine Worte, sondern die Worte von Professor eingehen, obwohl Sie wissen, dass eine solche Gesell- Goette. Bei jedem insolventen Unternehmen gibt es schaftsform nicht notwendig ist. Waren Sie, Frau Minis- Gläubiger, die ihr Geld nie sehen. Steuern und Sozialab- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18193

Mechthild Dyckmans (A) gaben – das wissen wir – sind das erste, was eine Firma Zur vorliegenden Reform kann ich nur sagen: Ja, wir (C) nicht mehr zahlt, wenn sie wirtschaftliche Schwierigkei- brauchen eine Kultur der Selbstständigkeit. Ja, wir brau- ten hat. Arbeitnehmer und deren Familien sind von dem chen Existenzgründer, also Menschen, die bereit sind, wirtschaftlichen Fiasko besonders betroffen. wirtschaftliche Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Ja, wir brauchen eine starke, seriöse, Es wird versucht, die Mini-GmbH als „Einstiegsva- schnell und unbürokratisch zu gründende GmbH. Aber riante“ zur GmbH hinzustellen, so in der FA Z , nach ei- nein, wir brauchen weder eine Mini-GmbH noch ein ge- ner Pressemitteilung von Herrn Gehb. Wenn sie das denn setzliches Musterprotokoll. Manchmal ist weniger wenigstens wäre, wenn man wirklich die Möglichkeit schlicht mehr. geschaffen hätte, zunächst mit einem geringen Mindest- kapital zu beginnen, dann aber die GmbH mit einer fes- Danke schön. ten Frist zu einer Voll-GmbH zwingend aufschließen zu (Beifall bei der FDP) lassen und umzufirmieren, dann wäre das noch ein gang- barer Weg gewesen. Eine solche Verpflichtung sieht der Gesetzentwurf aber nicht vor. Man hält bewusst an den Präsident Dr. Norbert Lammert: zwei eigenständigen Formen fest, und das ist falsch. Das Dr. Jürgen Gehb ist der nächste Redner für die CDU/ ganze Konzept der Mini-GmbH wird nicht gebraucht. Es CSU-Fraktion. nutzt niemandem. (Beifall bei der CDU/CSU) Zum Abschluss möchte ich auf eine ganz besondere Variante des Gesetzes eingehen. Das GmbH-Gesetz wird Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): ein gesetzliches Musterprotokoll für Notare enthalten. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche Ausgerechnet der Notar, der am besten ausgebildete Ju- Gesetzesvorhaben kommen völlig unspektakulär daher rist, und entpuppen sich erst bei näherer Betrachtung als poli- tische Schwergewichte. In diese Kategorie fällt auch die (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Danke GmbH-Reform. Sie ist nicht nur die umfassendste Re- schön! Vielen Dank!) form des GmbH-Rechts seit dem Bestehen der GmbH im der zu Recht weiterhin alle Gründungen vornehmen soll, Jahre 1892, sondern sie wird auch von manch einem in bekommt gesetzliche Beratung. Diesen Unsinn kann der Fachliteratur, aber auch in der gängigen Literatur, die man einfach nicht mitmachen. jedermann zugänglich ist, als kleine Revolution bezeich- net. Frau Ministerin und Kollegin Dyckmans, der Herr- (Beifall bei der FDP) gott verzeihe Ihnen Ihre Übertreibungen, die Sie mir bei der Urheberschaft zugebilligt haben, und mir, dass ich (B) Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, Musterverträge, (D) Mustersatzungen und Musterprotokolle vorzugeben. sie ganz gerne gehört habe. Glauben Sie wirklich, man kann unseren Alltag in ge- In den verschiedensten Zirkeln, zum Beispiel auf dem setzliche Muster pressen? Wollen wir demnächst darüber Deutschen Juristentag und bei Podiumsdiskussionen, nachdenken und darüber diskutieren, welche Formular- wird schon sehr lange über die GmbH, über Defizite und handbücher für Notare und Rechtsanwälte künftig Ge- über mögliche Veränderungen diskutiert. Nun ist das setzesrang erhalten sollen? Nein, diesen Unsinn machen Diskutieren das eine, das Umsetzen ist das andere. Dazu wir von der FDP nicht mit. braucht man nämlich Gestaltungskraft. Die Große Koali- tion ist auf dem Gebiet der Rechtspolitik handlungswil- (Beifall bei der FDP) lig und vor allen Dingen handlungsfähig. Lassen Sie mich noch einen kurzen Satz zu dem Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schließungsantrag der Grünen sagen: Das ist Rosinenpi- neten der SPD) ckerei pur. Sie wollen zum einen eine Haftungsbeschrän- kung bei Kapitalgesellschaften und zum anderen die Die Große Koalition wird hier und heute den Entwurf ei- steuerliche Behandlung als Personengesellschaft. nes Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen verabschieden. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Letztlich kommt es nicht darauf an, ob man Zeitungsarti- NEN]: Richtig! Das wollen wir! Und Gläubi- kel schreibt, ob man Interviews gibt oder ob man Fach- gerschutz!) aufsätze verfasst, es kommt nur darauf an, was schwarz – Das ist genau der Punkt. Dazu sagen Sie so gut wie gar auf weiß im Bundesgesetzblatt steht. In einigen Wochen nichts. wird dies im Gesetzblatt stehen. Das ist die Leistung der Großen Koalition. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber natürlich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wie der Gläubigerschutz aussehen soll, sagen Sie nicht. Ich möchte ohne Anspruch auf Vollständigkeit – und Das ist genau der Punkt. Sie wollen zwar, dass die Un- schon gar nicht wie in einer Rechtsvorlesung – wenigs- ternehmen Gewinne machen, aber die Risiken und die tens stakkatohaft auf einige Gesichtspunkte eingehen Schäden wollen Sie sozialisieren und auf die Allgemein- und sie aufzählen. Es gibt – das ist schon genannt wor- heit verlagern. Da machen wir nicht mit. den – die berüchtigten Beerdigungsfälle, also Firmenbe- stattungen am Ende einer Gesellschaft. Es gibt die ver- (Beifall bei der FDP) zwickten verdeckten Sacheinlagen. Es gibt die großen 18194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Jürgen Gehb (A) verdrussbereitenden eigenkapitalersetzenden Darlehen Daher haben wir gesagt: Neben der Änderung bei der (C) und sonstige Leistungen, Nutzungsüberlassungen und GmbH, die wir alle für notwendig halten und die wir ja Vorratsgesellschaften. Schließlich geht es um das ganz vorgenommen haben, müssen wir auch eine spezifische kontrovers diskutierte Cash-Pooling-System und vieles Antwort auf die Herausforderungen der englischen mehr. All diese damit verbundenen Ärgernisse schaffen Limited geben. Das haben wir mit der sogenannten haf- wir ab. Die geplante Modernisierung werden wir errei- tungsbeschränkten Unternehmergesellschaft, kurz „UG“ chen. All den Missbrauch, den es bisher gegeben hat, genannt, getan. Sie wird ihren Platz in § 5 a des Gesetzes werden wir verhindern. zur Modernisierung des GmbH-Rechts finden, und das wird auch so bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Mechthild Dyckmans [FDP]: Meine Damen und Herren, was zeichnet eine haf- Wir sprechen uns wieder!) tungsbeschränkte Unternehmergesellschaft aus? Der Beweggrund, der uns zu dieser Regelung veranlasst hat, Lassen Sie uns einen kurzen Augenblick Zeit nehmen war, dass wir eine preiswerte, schnelle und unkompli- und bei der Frage verweilen: Warum ist eine Reform zierte Gründung ermöglichen und auch die GmbH von des GmbH-Rechts notwendig? Die GmbH wird ja als dem Ballast, den sie mit sich bringt, entschlacken woll- das Erfolgsmodell seit ihrer Geburtsstunde 1892 be- ten. Unser Angebot ist die Gründung einer Gesellschaft zeichnet, und 1 Million Gesellschaften mit beschränkter mit einem Stammkapital von 1 Euro. Allerdings besteht Haftung ist ein schlagender Beweis dafür. die Pflicht zur Thesaurierung eines Viertels des jähr- lichen Gewinns, bis man das Stammkapital der GmbH (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und eingezahlt hat. der SPD) Liebe Mechthild Dyckmans, aus diesem Grunde ha- Aber alle Erfolgsmodelle, ob es sich um Autos oder ben wir die Höhe des Stammkapitals der GmbH bei sonstige Waren und Güter handelt, kommen natürlich ir- 25 000 Euro belassen. Denn aufgrund des Angebots ei- gendwann in die Jahre und behalten ihren Erfolgsmo- ner Einstiegsvariante war ein „Herumfummeln“ an der dellcharakter nur, wenn sie den Zeiten angepasst wer- Stellschraube Stammkapital – nach dem Motto: den. Das haben wir getan. 25 000 Euro, 10 000 Euro, 5 000 Euro; wer bietet mehr, wer bietet weniger? – gar nicht mehr nötig. Wir konnten (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Neues Design!) diese zugegebenermaßen bedeutungsvolle Seriositäts- – „Neues Design“ sagt Herr Benneter. schwelle beibehalten. Weil Sie eben von Konkursen geredet haben, möchte (B) (Mechthild Dyckmans [FDP]: Aber mehr auch (D) nicht! Auf das Design kommt es nicht an!) ich Sie fragen: Wissen Sie eigentlich, wie hoch die Insol- venzsumme im Falle des Konkurses einer klassischen Zu diesen bisher nur nationalen Gesichtspunkten ei- GmbH ist? Im Schnitt beträgt diese Insolvenzsumme ner Veränderung des GmbH-Rechts und einer Reform an 800 000 Euro. 25 000 Euro Haftungskapital, mit dem Haupt und Gliedern gesellt sich eine europäische Vari- man das abfangen will, ist auch nur eine Quantité ante, nämlich – die Kenner von Ihnen wissen es – die eu- negligable. Daher haben wir die Hürde für die Gründung ropäische Rechtsprechung des EuGH. Ich nenne nur bei einem Stammkapital von 1 Euro eingebaut. die Verfahren Centros, Daily Mail, Überseering oder In- Im Gegensatz zu den erfolglosen Versuchen in der spire Art. Sie haben dazu geführt, dass wir aus unseren Vergangenheit, allerdings bei politisch anders gearteten geradezu paradiesischen Verhältnissen – jedenfalls hin- Konstellationen – ich erinnere nur an das Mindestkapi- sichtlich der Exklusivität der deutschen Rechtsordnung – talgesetz oder an das MiKaTraG –, haben wir es nun ge- jäh auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeworfen schafft, der klassischen GmbH unter Beibehaltung ihrer worden sind. Plötzlich stellen wir fest, dass sich deut- Attraktivität für diejenigen, die sich ihrer schon bedie- sche Firmengründer auch anderer europäischer Rechts- nen, eine kleine Schwester zur Seite zu stellen. formen bedienen können, zum Beispiel einer französi- schen oder einer spanischen. Beispielhaft bzw. pars pro Meine Damen und Herren, es ging uns nicht nur da- toto sei die englische Limited erwähnt, die in quantitati- rum, eine Regelung zu schaffen, die ein geringes ver Hinsicht – das ist schon gesagt worden – noch immer Stammkapital vorsieht, sondern auch darum, die Grün- eine große Bedeutung hat. dungskosten zu verringern. Wer mit einer Einmann- GmbH vorliebnehmen will und zum Notar geht, der Diese europäischen Herausforderungen kann man zahlt 20 Euro Notargebühren und 100 Euro Registerge- nicht bewältigen, wenn man nur eine Änderung der bühren. Das Ganze geht auch noch ziemlich schnell, und GmbH-Konfiguration, wie wir sie kennen, vornimmt. Es die Gründungskosten bleiben mit ungefähr 150 Euro ist nun einmal nicht möglich, eine Allzweckwaffe bzw. deutlich unter den Kosten für die Gründung einer Li- eine – ich formuliere es einmal volkstümlich – eierle- mited. gende Wollmilchsau zu schaffen. Man kann nicht einen Sportwagenfahrer, der gerne Porsche fährt, einen sechs- Nun wird kritisiert, das Gründungsprotokoll sei fachen Familienvater, der einen Caravan braucht, und Quatsch, und man brauche es nicht. Ich sage Ihnen: eine biedere Familie, die gerne ein Mittelklasseauto Wenn Sie heute zum Arzt gehen und sagen, dass Sie ein fährt, oder den Single mit einem Smart gleichzeitig be- bestimmtes Rezept brauchen, dann greift der Arzt in eine dienen. Schublade, holt seinen 08/15-Rezeptblock heraus und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18195

Dr. Jürgen Gehb (A) schreibt es auf. Das kostet Privatpatienten wie mich, die Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) den 2,3-fachen Satz zahlen müssen, 20,11 Euro. Wer Herr Kollege, nach der Geschäftsordnung des Bun- mehr will, wem dieses Basismodell, dieser Smart Stan- destages wäre es zulässig, auf lateinische Begriffe zu dard, nicht reicht, wer lieber einen Smart mit Schiebe- verzichten. dach, parfümierten Haftreifen (Joachim Stünker [SPD]: Die Amtssprache ist (Heiterkeit) Deutsch!)

und Ledersitzen will, der muss natürlich mehr zahlen. Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Wer mehr will, muss abhängig vom Geschäftswert von Ich mache nur das, was zulässig ist – obwohl manche mindestens 25 000 Euro – da lacht das Herz, Herr hier, was die freie Rede angeht, eigentlich gänzlich ge- Benneter, nicht wahr? – mit nach oben offenen Grenzen, gen die Geschäftsordnung verstoßen. freilich degressiv, mehr zahlen. Das wollen wir auch. Mehr Leistung – mehr Gegenleistung; das ist auch auf (Mechthild Dyckmans [FDP]: Ja, leider!) anderen Gebieten so, das ist ein ganz einfaches Prinzip. Die Europäische Kommission schlägt vor, dass es für Wenn ich schon für die Urheberschaft der Unterneh- die Gründung einer Societas Privata Europaea genügen mergesellschaft verantwortlich gemacht werde, will ich soll, 1 Euro einzubringen. Ich möchte einmal wissen, wie Sie dagegen angehen wollen, Frau Dyckmans! Aber sagen: Solange etwas Erfolg hat, wollen alle der Urheber wollen wir warten, bis die Europäische Kommission gewesen sein. So ist es auch diesmal: Es ist kurios, wer endlich zu Potte kommt? Nein. Hic et nunc, hier und sich jetzt alles als Erfinder der UG geriert. Bei Misser- jetzt, heute machen wir das! folg steht man allerdings als Waisenknabe da. Aber ab- warten! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie bei Abgeordneten der SPD) Es ist nicht nur der rechtspolitische Sprecher der Union, der sich für die UG ausgesprochen hat, auch aus Ganz zum Schluss: Verehrte Frau Dyckmans, liebe der Wirtschaft kamen Rufe nach einer solchen Rechts- Mechthild, form. Ich erinnere daran, dass der Chefjustiziar des (Mechthild Dyckmans [FDP]: Lieber Jürgen!) DIHK, Herr Dr. Möllering, gesagt hat: Wir brauchen noch eine zusätzliche Rechtsform für die ganz Kleinen. bei der ganzen Kritik, die du vorgelesen hast, hättest du dir an deinem parlamentarischen Urahnen, dem national- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- liberalen Abgeordneten Dr. Bamberger ein Beispiel neh- (B) wie des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) men sollen, der sich schon am 21. März 1892 in der (D) 199. Sitzung des Reichstages bei der Einführung der Auch aus der Wissenschaft kamen entsprechende Stim- GmbH neben der Aktiengesellschaft – die übrigens ge- men. So gehen Teile dieser Idee auf den Nestor, auf den nauso bekämpft worden ist wie jetzt die UG, die neben Doyen der deutschen Gesellschaftsrechtslehre, Herrn der GmbH eingeführt werden soll – wahrscheinlich – ich Professor Dr. Lutter, zurück; die UG hat ihm viel zu ver- war nicht Zeitzeuge, auch wenn ich manchmal fast so danken. Auch Professor Heribert Hirte hat uns mit zahl- aussehe – reichen Vorschlägen flankierend zur Seite gestanden. Ihm ist ebenso zu danken wie den Mitarbeitern des Jus- (Heiterkeit) tizministeriums, die, was die UG angeht, zwar zum Ja- ganz lässig hingestellt und erklärt hat: Allen Verzagten gen getragen werden mussten – freilich, Herr Seibert –, und allen Kritikern sei gesagt, dass sie sich erst einmal aber das dann wunderbar begleitet haben. anschauen sollen, wie sich das Neue in der Praxis be- währt. – Das empfehle ich auch. Wir sollten nicht aus (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Angst vor dem Tode Selbstmord begehen! Wir sollten Wir haben nicht nur national Rückenwind: Der Präsi- uns anstecken lassen von dem Optimismus der Pioniere dent der Wirtschaftskammer Österreichs hat erklärt, dass des Gesellschaftsrechts! er auf ein ähnliches Gesetz wie für die GmbH-Reform in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschland nebst der UG warte. Wir brauchen uns nicht neten der SPD) zu wundern, wenn die Österreicher demnächst mit einer ähnlichen Gesellschaftsrechtsform aufwarten. Wir sollten nicht kleinkariert und kleinmütig an einer Gesellschaftsrechtsreform herummäkeln, die – davon (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die müssen aber bin ich überzeugt – sowohl den Gründungswilligen als Lizenzgebühren zahlen!) auch den Investoren als auch den großen Konzernen ei- nen Rechtsrahmen bietet, innerhalb dessen die Leute Last, but not least: Wer gelegentlich liest – dieses ihre unternehmerische Findigkeit, ihren Ideenreichtum „liest“ wird zugegebenermaßen anders geschrieben –, umsetzen können. Ich bin der Meinung, mit der Reform, konnte gestern im Handelsblatt lesen, dass die Europäi- die wir heute verabschieden, wird die GmbH, wird das sche Kommission, so Binnenmarktkommissar McCreevy, Gesellschaftsrecht fit für das 21. Jahrhundert. eine Europäische Privatgesellschaft einführen will: die Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. sogenannte Societas Privata Europaea – in keiner meiner Reden darf ein lateinischer Ausdruck fehlen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 18196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: winne erzielt, von den Risiken seines Tuns möglichst (C) Das Wort erhält nun die Kollegin Sabine freigestellt werden? Ich frage Sie: Wie wollen Sie das Zimmermann, Fraktion Die Linke. den Millionen Arbeitslosen erklären, denen in den ver- gangenen Jahren immer mehr Risiken der Lebenssiche- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian rung aufgebürdet worden sind? Dressel [SPD]: Die erzählt jetzt wohl was von anderen Pionieren!) (Zuruf des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) – Ja, ich frage auch Herrn Benneter zum Beispiel. Sie Sabine Zimmermann (DIE LINKE): sind ja in einer sozialen, demokratischen Partei, deren Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitglied ich auch einmal war. Meine Damen und Herren! Herr Dr. Gehb, Sie sprachen (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Sie wollen eben von einem neuen Design für das Gesetz. Ich denke, wahrscheinlich eh nur einen VEB! – Jerzy es geht nicht um die Fassade, sondern um den Inhalt. Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sol- Deswegen muss ich Ihnen hier wirklich widersprechen. len wir die GmbH ganz auflösen?) (Beifall bei der LINKEN) Die Gründer, die Sie mit 1 Euro mal eben eine Gesell- Wir beraten heute einen Gesetzentwurf in zweiter und schaft gründen lassen wollen, werden am Markt tätig dritter Lesung, der den Namen, den er trägt, aus unserer sein. Die Unternehmergesellschaft wird also Arbeitneh- Sicht nicht verdient. merinnen und Arbeitnehmer beschäftigen und darüber hinaus viele weitere Gläubiger haben. (Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Aha!) Was macht dieser Unternehmer denn, wenn er statt der erwarteten Gewinne ganz im Gegenteil Verluste ein- Wir haben diesen Gesetzentwurf im Ausschuss – ich fährt? muss sagen: in seltener Einmütigkeit mit der FDP – ab- gelehnt. (Joachim Stünker [SPD]: Was macht er heute denn?) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss der FDP zu denken geben!) Er wird früher oder später logischerweise in die Insol- venz gehen. Meine Kollegin von der FDP hat es gesagt: Dies werden wir auch heute tun. Aus unserer Sicht gibt Wer dann die Kosten trägt, scheint Ihnen gleichgültig zu es keinen Anlass, die bewährte Rechtsform der GmbH sein. durch eine neue Unterform zu ergänzen. Diese soge- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) nannte Unternehmergesellschaft ist missbrauchsanfäl- (D) lig, bietet keinen hinreichenden Gläubigerschutz und ist NEN]: Das, was Sie machen wollen, wäre ein deshalb aus unserer Sicht völlig überflüssig. wirtschaftspolitischer Niedergang!) (Beifall bei der LINKEN) – Dass Sie nicht unserer Meinung sind, ist ja allgemein bekannt. Als Grund für diese Gesellschaftsform hat Dr. Gehb – ich muss ihn wieder zitieren – in der ersten Lesung am (Joachim Stünker [SPD]: Sie reden doch 20. September 2007 Folgendes gesagt: schwach!) Wir stehen in einem europäischen Wettbewerb Ebenso gehen Sie darüber hinweg, dass die neuen Un- nicht nur hinsichtlich der Erzeugung von Gütern ternehmen, die mit einer weitestgehenden Haftungsbe- und Dienstleistungen, sondern auch hinsichtlich der schränkung entstehen sollen, sehr viel häufiger pleitege- Rechtsordnungen und der Rechtsformen. Diesen hen. Gerade das lehrt ja die Erfahrung mit den britischen Wettbewerb nehmen wir an. Wir wollen und müs- Limiteds. Von den Unternehmern, die sich in Deutsch- sen ihn gewinnen. land für diese britische Rechtsform entschieden haben, ist ein hoher Prozentsatz längst insolvent. Mit ihrer gran- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Gehb, ja!) diosen Innovation, mit ihren Unternehmergesellschaften, organisieren Sie einen Wettbewerb der Pleiterekorde. Für mich stellt sich die Frage, ob dieser von Ihnen ausgerufene Wettbewerb zwangsläufig so aussehen Wenn es um Arbeitslose und Rentner geht, dann dre- muss, dass die niedrigsten Standards anzusetzen sind. hen Sie jeden Cent dreimal um. Wenn es aber um Grün- Wenn überhaupt ein Vergleich zwischen Rechtsordnun- der geht, dann soll es egal sein, wie viel Geld für Rechts- gen gezogen werden kann, dann sollte dies aus der Sicht streitigkeiten und sonstige Folgekosten verloren geht. meiner Fraktion nach dem Maßstab der Verwirklichung Möglichst schnell und möglichst einfach sollen Unter- sozialstaatlicher und demokratischer Grundsätze erfol- nehmen gegründet werden. Viel mehr als ein Dogma ha- gen. Dies scheint mir hier nicht der Motor und der Maß- ben Sie hier nicht zu bieten. stab der Veränderung gewesen zu sein. Sie alle haben sicherlich schon von Fällen gehört, in Sie unterstellen, dass viele Gründer darauf angewie- denen die Zahlung der Arbeitslöhne angefochten wurde sen sind, möglichst viel Kapital mit einem möglichst ge- und die Löhne an den Insolvenzverwalter zurückgezahlt ringen Risiko zu erwirtschaften. Warum dies das Beste werden mussten. Versetzen Sie sich jetzt doch bitte ein- ist, kann uns allerdings niemand begründen. Warum mal in die Lage eines Arbeiters oder eines Angestellten. muss ein Unternehmer, der als Marktteilnehmer Ge- Sollen sie, wenn sie bei einem solchen Unternehmen be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18197

Sabine Zimmermann (A) schäftigt sind, ihren Lohn etwa gleich beim Insolvenz- gelten soll, mag für Sie eine kleine Beruhigungspille (C) verwalter abgeben, weil sie ja schließlich wussten, dass sein. Aus unserer Sicht ist das aber keine Lösung. sie bei einer GmbH light arbeiten, die eben immer ein bisschen mehr Risiko in sich birgt? Ich habe dies be- (Beifall bei der LINKEN) wusst zugespitzt Es ist auch nicht gesagt, dass der Gesetzentwurf den (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das hat doch mit Gründern selbst wirklich hilft. Denn sie kommen damit diesen Fällen überhaupt nichts zu tun!) eher zu dem Trugschluss, dass nichts leichter ist, als ein Unternehmen zu gründen. Im Zweifel sind die Gründer – es hat garantiert etwas damit zu tun –, weil die Koali- besser beraten, wenn sie durch entsprechende Hürden tion, wie uns scheint, anders an eine GmbH-Reform he- davon abgehalten werden, unwirtschaftliche Unterneh- rangeht, als wir das tun würden. Während sich die Koali- mungen zu gründen. Wegen mangelnder Kreditwürdig- tion fragt, mit welchen Rechtsordnungen sie um die keit werden sie von den Banken sowieso nur dann Geld Wette eifern kann, richten wir unseren Blick auch auf die bekommen, wenn sie persönlich haften. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und fragen uns, wie wir deren Situation in solchen GmbHs verbessern (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ja! Das hat doch können. Hierzu gibt es allerhand Anknüpfungspunkte im nichts mit Stammkapital zu tun! Man muss im- Bereich der Demokratisierung der Entscheidungspro- mer selber haften!) zesse in den Unternehmen. – Ja, aber auch das kann durch Ihren Gesetzentwurf zu Auch der Gläubigerschutz muss gestärkt werden. einem Problem werden; denn Sie fördern die Leichtfer- Denn dadurch werden Arbeitsplätze erhalten und andere tigkeit im Umgang mit unternehmerischen Entscheidun- Unternehmen – vor allem im Mittelstand – davor ge- gen. schützt, bei einer Krise des Vertragspartners selbst in (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Krise zu geraten. NEN]: Das ist wirklich Blödsinn!) Es gäbe also viel zu tun. Mit der Unternehmergesell- – Sie haben gleich die Möglichkeit, darauf einzugehen. schaft marschiert die Koalition in die entgegengesetzte Richtung und vermindert den Gläubigerschutz. In der (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Begründung zur Einführung dieser Unternehmergesell- NEN]: Das werde ich auch!) schaft wird lapidar auf die Vielzahl von Gründungen in der Form der Limited hingewiesen. Wie viele Gründun- Ein zu schnelles und leichtfertiges Eingehen persönli- gen aber gibt es genau? Wie viele sind schon wieder ge- cher Haftungsrisiken wird durch Ihr Gesetz indirekt ge- (B) löscht worden? Warum ist das geschehen, und wie ergeht fördert. Wenn die Gründer mit ihrer Geschäftsidee falsch (D) es den Gläubigern solcher Limiteds? Welche Probleme liegen, sind sie doppelt hart getroffen: als Unternehmer ergeben sich für die Gründer selbst? gescheitert und in persönlichen Schulden versunken. All diese Fragen sind nicht seriös beantwortet wor- Sie haben an keiner Stelle den Bedarf für die Einfüh- den, sonst hätten Sie diesen Gesetzentwurf nicht in die- rung der Unternehmergesellschaft nachgewiesen. Wenn ser Form vorgelegt. Zum Teil sind die von mir genannten Sie den Vergleich der Rechtsordnungen sozial verant- Fragen in der Anhörung des Rechtsausschusses beant- wortlich und ernsthaft durchführen würden, dann wären wortet worden. Die Antworten fielen deutlich gegen die ganz andere Schlussfolgerungen zwingend notwendig. Unternehmergesellschaft aus. Es wurde klar herausge- Dann gäbe es längst den Mindestlohn. Da Sie aber die- stellt, dass der faktische Verzicht auf das Stammkapital sen Vergleich nicht sozial verantwortlich durchführen, ein Risiko für die Gläubiger darstellt. Es wurde auf die kann man nur mit Schrecken abwarten, welche Neuerun- französischen GmbHs mit weniger als 7 500 Euro gen uns beim großen Wettbewerb der Rechtsordnungen Stammkapital hingewiesen. Ebenso wurde deutlich da- erwarten. rauf hingewiesen, dass die englischen Limiteds viel insol- venzanfälliger sind als Unternehmen nach dem bislang Alles in allem kann man zur Einführung der Unter- geltenden deutschen Recht. Ähnliches droht nun mit der nehmergesellschaft nur festzustellen: Wie Sie hier Einführung der unterkapitalisierten Unternehmergesell- auf den Namen „Gesetzentwurf … zur Bekämpfung schaft. von Missbräuchen“ kommen, ist schleierhaft und vollkommen unverständlich. Sie öffnen dem Miss- Gegen diese von uns und vielen Sachverständigen ge- brauch Tür und Tor. äußerten Warnungen führen Sie merkwürdige Argu- mente an. Über das Argument, selbst die 25 000 Euro (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Manchen wird der GmbH, die als Stammkapital aufzubringen sind, das Recht immer verborgen und schleierhaft seien nichts im Vergleich zu den gewöhnlich auftreten- bleiben!) den Schulden, kann man sich nur wundern. Man fragt Wir werden dem nicht zustimmen. sich, ob es sich dabei um Zynismus oder Gedankenlosig- keit handelt. Danke. Sie vergessen auch die Seriositätsschwelle, die vom (Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian Stammkapital ausgeht. Die Ansparpflicht für das Dressel [SPD]: Das gehört mit zu dem größten Stammkapital, die für die neue Unternehmergesellschaft Unfug, den ich hier je gehört habe!) 18198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: nannten Bestattung. Das ist der Kern des GmbH-Rechts. (C) Nun hat der Kollege Jerzy Montag das Wort für die Wir unterstützen dieses Reformwerk und werden ihm Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. zustimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie su- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chen krampfhaft nach zwei, drei Punkten – und seien sie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich noch so unbedeutend –, um Ihre Ablehnung zu begrün- vorgestern die FAZ gelesen habe, war ich fast geneigt, den. Das ist angesichts des Reformwerks überhaupt den Einstieg meiner heutigen Rede zu verändern; denn nicht angemessen. dort steht, von 2006 bis 2008 sei die Zahl der Neugrün- dungen erschreckend zurückgegangen. Ich dachte: Oh (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Gott! Was ist passiert? Ich habe ein ganz anderes Bild. – bei der CDU/CSU und der SPD) Aber am Ende des gleichen Zeitungsartikels steht der Punkt eins ist das beurkundungspflichtige Musterproto- Satz, verantwortlich für den Rückgang seien vor allem koll, liebe Kollegin Dyckmans. Fakt ist – die Kollegen die gute Konjunktur in den vergangenen Jahren und die Notare werden mir das bestätigen –: Die Notare haben damit einhergehende Entspannung auf dem Arbeits- das längst und brauchen kein Musterprotokoll. Sie haben markt. Die höhere Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt er- sich längst auf das Gesetz vorbereitet und haben in ihrer klärt also die gesunkene Zahl der Gründungen. Danach eigenen Mustersammlung, die sie bei ihrem Verband war ich ein bisschen beruhigt. Ich habe mich dann den kaufen, bereits ein entsprechendes Musterprotokoll, das Zahlen des Statistischen Bundesamtes zugewandt. Da- sie per Knopfdruck abrufen können. Es stimmt, dieses nach gab es im Jahr 2006 in Deutschland 53 000 GmbH- beurkundungspflichtige Musterprotokoll wird nicht ge- Neugründungen, 12 500 sogenannte Neuzuzüge und braucht. Aber das ist kein Grund, den Gesetzentwurf ab- 8 000 Übernahmen – dabei handelt es sich um die Er- zulehnen. Man muss wirklich mit der Lupe suchen, um richtung einer GmbH durch Kauf, Erbe oder Rechtsform- so etwas zu finden. änderung –, insgesamt 77 500 GmbHs. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Das GmbH-Recht ist seit fast 30 Jahren unverändert. bei der CDU/CSU und der SPD) Die angestrebte Reform ist die größte und strukturell entscheidendste seit der Gründung dieser Rechtsform. Punkt zwei ist die Debatte über das sogenannte Grün- dungskapital. Ich sehe, dass man bei der Argumentation (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hin und her laviert. Die Bundesjustizministerin Zypries sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und hat einmal gesagt: Es ist vernünftig, die Höhe des Min- der SPD) deststammkapitals auf 10 000 Euro abzusenken, alles (B) (D) Unternehmer haben ein Interesse, sich bei überschau- andere bringt nichts. Jetzt ist genau das Gegenteil einge- barem Risiko wirtschaftlich zu betätigen, einem Risiko, treten. Es ist etwas Neues hinzugekommen, nämlich die das auf die wirtschaftliche Betätigung begrenzt ist und UG. Die Höhe des Mindestkapitals ist nicht auf 10 000 nicht ihr Privatvermögen betrifft. abgesenkt worden; sie ist bei 25 000 Euro geblieben, so wie wir es immer hatten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das Bessere ist immer der Feind des Guten!) Dies ist seit über 100 Jahren ein Erfolgsmodell in Deutschland. Insbesondere der Linken sage ich: Der – Hören Sie mir bis zum Ende zu. Die andere Argumen- Mittelstand bildet den Kern dieses Modells mit über- tation ist: Diese Summe hat die Funktion einer Seriosi- schaubarem wirtschaftlichen Risiko. Das ist auch der tätsschwelle. Ich halte das alles für Argumente neben der Kern dessen, mit dem in Deutschland die Arbeitslosig- Sache. Wir haben von den Sachverständigen gehört keit bekämpft werden kann. – das wissen wir doch –, dass dies keine Seriositäts- schwelle ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) Sie wollen dieses Modell mit Ihren populistischen Äuße- Ob man 10 000 Euro, davon 50 Prozent als Bar- rungen grundsätzlich schleifen. Damit greifen Sie unmit- einlage, oder 25 000 Euro, davon 50 Prozent als Barein- telbar in die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein und lage, braucht, ist, je nachdem, wie man sich betätigen will, erhöhen die Arbeitslosigkeit, statt mitzuhelfen, sie zu entweder viel oder gar nichts. Wenn man ein Darlehen mindern. braucht und dafür Schulden machen muss, gilt sowieso die persönliche Haftung. Sie sagen selber: Bei einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, durchschnittlichen Insolvenzsumme von 800 000 Euro bei der CDU/CSU und der SPD) spielen 10 000 oder 25 000 Euro überhaupt keine Rolle. Über die Jahrzehnte haben sich Schwächen beim Die Frage über die Höhe des Gründungskapitals mag GmbH-Recht herausgebildet. Wir haben Lücken er- im 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt haben. Heute ist kannt, genauso wie die Rechtsprechung. Es haben sich das unerheblich. Deswegen ist die Frage, ob die Große neue Entwicklungen ergeben, die neue Regelungen er- Koalition und das Bundesjustizministerium bei dieser fordern. Mit dem Gesetz werden alle Probleme ange- Position mal so und mal anders argumentiert haben, un- packt, von der Geburt bis zur Insolvenz und zur soge- wichtig, wenn es darum geht, wie man diesen Gesetzent- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18199

Jerzy Montag (A) wurf bewertet. Das ist der zweite Punkt, bei dem ich Ih- Damit komme ich zu Ihnen, Frau Kollegin (C) nen vorwerfe, dass Sie ein Haar in der Suppe suchen. Dyckmans. Sie werfen uns vor, Rosinenpickerei zu be- treiben und uns um Gläubiger und um Dritte nicht zu (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) kümmern. Ich darf Ihnen dazu aus unserem Entschlie- Punkt drei. Viele junge Leute haben eine Idee und ßungsantrag vorlesen, weil Sie offensichtlich nicht in der wollen Unternehmer werden und suchen daher nach ei- Lage waren, bis zum Schluss zu lesen, sonst hätten Sie ner neuen und modernen Form, in der sie sich betätigen uns keine solchen Vorwürfe gemacht: können. Diesem Bedürfnis muss man Rechnung tragen. Wenn man das nicht tut, dann verschließt man viele Besonderes Augenmerk ist bei der Gestaltung einer Möglichkeiten und verbaut den jungen Menschen Zu- solchen neuen Gesellschaftsform auf ver- kunftschancen. Man muss ihnen vielmehr ein Angebot besserten … Gläubigerschutz durch strenge Rech- machen, damit sie mit einer Beschränkung in Höhe des nungslegungs- und Publizitätspflichten, erhöhte finanziellen Risikos, das sie in ihrem Gewerbe oder in Verantwortung der … Gesellschafter für die ausrei- ihrem Unternehmen tragen können, anfangen können, chende Kapitalisierung der von ihnen betriebenen sodass sie nicht auf ihr persönliches Vermögen zurück- Gesellschaft und andere Maßnahmen zum Schutz greifen müssen. von Gesellschaft, … Gesellschafter und … Gläubi- ger zu richten. Aufgrund der europäischen Rechtsprechung können diese neuen Unternehmer ausländische Rechtsformen Der Vorwurf gegen uns, wir würden uns diesem Problem wählen. Wir waren uns fast alle einig, dass dies durch nicht widmen, ist also falsch, widerlegt durch dieses ein deutsches Angebot insbesondere deswegen verbes- Zitat. sert werden muss, weil diese Rückgriffe auf englisches, Der Gesetzentwurf, den die Koalition vorgelegt hat, spanisches oder französisches Recht für die Betroffenen ist gut und richtig. Wir werden ihm zustimmen. Die paar ab dem zweiten Jahr zu erheblichen Nachteilen führen. Schönheitsfehler haben wir benannt und zu Protokoll ge- Insofern haben wir hier auch eine Schutzfunktion. geben. Das ist aber kein Grund, den Gesetzentwurf abzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Sehr gut!) Die von Ihnen vorgeschlagene UG ist nicht so Ich komme zum Schluss. Herr Präsident, meine Da- schlecht, wie ihre Feinde und Gegner sie machen wollen. men und Herren, es ist für mich eine einmalige Situa- Aber wir Grünen sagen: Sie hat genau für diese Personen tion: Erstmals, seitdem ich im Hohen Hause Abgeordne- einen strukturellen Nachteil. Weil dieses Angebot als ter bin, habe ich meine Redezeit nicht vollständig (B) Kapitalgesellschaft ausgestaltet ist, führt dies notwendi- ausgeschöpft. Das wird sich nicht wiederholen. (D) gerweise dazu, dass die Steuer von den ersten 3 Euro (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Gewinn, die dieses Unternehmen macht, 1 Euro einbe- DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der hält. SPD) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Na, na, na! We- niger! Ein Viertel! Was ist ein Viertel von Präsident Dr. Norbert Lammert: 3 Euro?) Herr Kollege, diese Drohung wird ohnehin im Proto- 30 Prozent gehen für die Körperschaftsteuer und weitere koll vermerkt. Ich werde sie aber den Kollegen im Präsi- Steuern ab. Von den ersten 4 Euro, Herr Benneter, die dium gewissermaßen als Vorwarnung mit auf den Weg ein solcher Jungunternehmer aus dem Unternehmen als geben. Gewinn entnimmt, nimmt sich die Steuer wiederum (Heiterkeit – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ 1 Euro, also 25 Prozent. Das ist kontraproduktiv. CSU]: War aber nicht seine schlechteste Wir sagen: Die UG, wie Sie sie gemacht haben, hat Rede!) nicht so viele Fehler, dass man deswegen das ganze Ge- Als nächster Redner erhält der Kollege Klaus Uwe setz ablehnen muss, Frau Dyckmans. Benneter für die SPD-Fraktion das Wort. (Mechthild Dyckmans [FDP]: Das müssen Sie (Beifall bei der SPD) schon uns überlassen!) Das ist nicht glaubwürdig. Wir Grünen haben ein besse- Klaus Uwe Benneter (SPD): res Angebot, nämlich die Personengesellschaft mit be- Herr Kollege Montag, in der Kürze liegt die Würze. schränkter Haftung. ( [CDU/CSU]: Das lässt hof- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fen!) Mit unserem Entschließungsantrag sagen wir: Verbinden Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wir doch die Vorzüge der UG Rechtsform der GmbH ist ein Erfolgsmodell. Das ist, (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Mit den Frau Dyckmans, gelebter Mittelstand. GmbH bedeutet Nachteilen!) heute Wertschätzung und Anerkennung. mit einer steuerrechtlichen Lösung in Form einer Privat- (Mechthild Dyckmans [FDP]: Das meine ich gesellschaft. auch!) 18200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Klaus Uwe Benneter (A) Die GmbH ist seit mehr als 100 Jahren ein gesellschafts- hatten. Daraus wurde auch noch die Forderung, Negativ- (C) rechtliches und wirtschaftspolitisches Erfolgsmodell. atteste vorzulegen, also dass eine Behörde bescheinigt, dass eine Erlaubnis gerade nicht erforderlich ist. (Mechthild Dyckmans [FDP]: Da stimmen wir Ihnen voll zu!) Welche Blüten das treibt, habe ich selbst erlebt. An mich hat sich ein junger Mann gewandt, der die Idee – Dann sagen Sie das hier auch und machen Sie es nicht hatte, Autorückscheiben mit Abtönfolien gegen zu viel schlechter, als es ist. Sonne und vielleicht auch gegen zu viele neugierige Bli- Bei 82 Millionen Einwohnern 1 Million GmbHs, das cke anderer Autofahrer zu bekleben. Er sollte ein Nega- zeigt, dass viele Menschen ihr Können, ihre Arbeits- tivattest beibringen, das besagt, dass es sich bei seinem kraft, ihre ganze Kreativität in solche erfolgreiche Unter- Vorhaben nicht um ein Kfz-Handwerk handelt. Als er nehmungen oft über Generationen hinweg investieren. dann bei der Kfz-Innung war, wurde ihm gesagt, er solle erst einmal ein Negativattest beibringen, welches be- (Beifall bei der SPD – Mechthild Dyckmans sage, dass es kein Glaserhandwerk sei. Da er beide Ne- [FDP]: Wir wollen, dass es so bleibt!) gativatteste nicht beibringen konnte, hat auch das Regis- Dennoch – das ist nicht zu verkennen – haben sich et- tergericht die Eintragung verweigert. Solcher Art sind liche Mängel über ein Jahrhundert – 1892 liegt ja doch die Blüten, die Unternehmensgründer zum Wahnsinn schon so weit zurück – eingestellt. Kreativ sind ja nicht treiben konnten. nur die Unternehmer gewesen, sondern kreativ waren Wir machen damit grundsätzlich Schluss. Wir trennen auch die Rechtsanwender, beispielsweise die professio- Gesellschaftsrecht und Verwaltungsrecht. Verwaltungs- nellen GmbH-Bestatter, die das bestehende Recht dazu rechtliche Fragen gehören in den Bereich der Verwal- genutzt haben, sich der Insolvenz und der Liquidation zu tung und nicht in den des Registergerichts. Die GmbH entziehen. Ihr probates Mittel war, marode GmbHs be- kann sich gründen und erst dann die erforderlichen Ge- wusst in Führungsverantwortungslosigkeit und vor allen nehmigungen für das Unternehmen einholen. Die zu- Dingen Nichterreichbarkeit zu steuern. Diesen Firmen- ständigen Behörden können sich darum kümmern, ob bestattern legen wir jetzt das Handwerk, eine gegründete GmbH Genehmigungen braucht und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wofür diese erforderlich sind. und zwar durch klare Zustellungsregelungen, durch eine In vielen unkomplizierten Standardfällen ermöglichen verschärfte Haftung der Geschäftsführer bei unverant- wir künftig rasche, kostengünstige GmbH-Gründungen wortlichen Auszahlungen an Gesellschafter in der Krise mit einem notariellen Musterprotokoll. Für 126 Euro der Gesellschaft und durch erweiterte Gesellschafter- können Sie jetzt eine GmbH mit einem normalen (B) pflichten bei Führungslosigkeit der GmbH. Das alles Stammkapital von 25 000 Euro gründen. Die Gründung (D) sind Antworten auf Ihre Behauptung, wir würden eine einer Unternehmergesellschaft mit 1 Euro Stammkapital leichtsinnige Reform machen. – darauf hat der Kollege Gehb schon hingewiesen – kos- tet jetzt 20 Euro. Jetzt bemängeln Sie, Frau Dyckmans, Kreativ war ja auch die Rechtsprechung. Das ist bei dass wir als Gesetzgeber uns als Gouvernante für Notare Hunderttausenden GmbHs kein Wunder. Sie hat in man- aufspielen und für diese ein Protokoll entworfen haben. chen Bereichen dazu geführt, dass das Recht für die An- Richtig, das können die auch alleine; das weiß ich aus ei- wender überhaupt nicht mehr nachvollziehbar war. Das genem Erleben. betraf die Rechtsprechung zu den Rechtsfolgen ver- deckter Sacheinlagen, die im Insolvenzfall wertmäßig (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Vielleicht nicht nochmals und dann doppelt erbracht werden mussten. jeder! Sie schon, Sie haben bei uns hier eine Die meisten GmbH-Gesellschafter, wenn man einmal gute Schulung!) von Konzerntöchtern absieht, haben ja keine großen – Ich schon, gut. – Das Musterprotokoll, Frau Rechtsabteilungen im Rücken. Diese wurden bisher mit Dyckmans, ist keine Hilfestellung für Notare, sondern weit übertriebenen Rechtsfolgen überrumpelt. Das für die potenziellen Gründer, für die Laien. konnte niemand mehr nachvollziehen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir gestalten jetzt die Rechtsfolgen verdeckter Sach- einlagen besser und einfacher. Die gefundene Anrech- Ein Blick ins Gesetz – also heute ins Internet –, und die nungslösung, wonach die Sacheinlage nach Eintragung Gründer wissen, dass das kein bürokratisches Monstrum, der Gesellschaft auf die an sich vereinbarte Geldeinlage sondern ein kurzes, verständliches, lesbares Musterpro- angerechnet wird, ist korrekt. Sie verleitet den Ge- tokoll ist. Ich denke, das ist das, worauf es ankommt. schäftsführer nicht zum Lügen. In der Sachverständigen- Das macht Unternehmensgründern Mut und die entspre- anhörung wurde die noch im Regierungsentwurf vorge- chende Laune. Dagegen können Sie eigentlich nichts ha- sehene Lösung zu Recht moniert. Wir stellen jetzt klar, ben, auch Sie, Frau Dyckmans, nicht. dass der Gesellschafter für die Werthaltigkeit seiner Ein- (Mechthild Dyckmans [FDP]: Also, für die lage beweispflichtig ist und bleibt. Laune machen wir doch kein Gesetz!) Meine Damen und Herren, kreativ waren auch die Re- Der EuGH hat 2002 eine in Deutschland eigentlich gisterrichter. Bisher war vorgegeben, dass die GmbH- gut eingeübte, funktionierende Rechtspraxis ausgehe- Gründer alle erforderlichen verwaltungsrechtlichen belt. Gründungs- und Verwaltungssitz durften danach Genehmigungen für das Unternehmen beizubringen nicht auseinanderfallen. Das ist aufgehoben worden und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18201

Klaus Uwe Benneter (A) mit der Niederlassungsfreiheit in Europa begründet wor- – Gehen Sie einmal auf die Hamburger Reeperbahn. (C) den. In der Folge hatten wir zunehmend die Rechtsform Dort können Sie immer etliche Herren treffen, die locker der britischen Limited, das heißt, es konnten nach engli- 25 000 Euro in bar in der Tasche haben. Bei diesen Her- schem Recht Gesellschaften mit beschränkter Haftung ren ist das sicherlich kein Ausweis von Seriosität. ohne irgendein Mindestkapital gegründet werden. Von den sehr üblen Folgen wurden wir erst viel später über- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist aber rascht. nicht die klassische Gründerklientel!) Wir reagieren auf diese Rechtsprechung. Jetzt sind Sie meinen, dass derjenige, der weniger als 25 000 Euro einmal wir kreativ. Wir erlauben künftig deutschen einsetzen will oder kann, nicht in den Genuss der be- GmbHs, ihren Betrieb ins Ausland zu legen und zu ver- schränkten Haftung kommen soll. Damit fallen Sie legen. Das war bisher für eine deutsche GmbH nicht Dr. Bamberger doch in den Rücken und in der über ein- möglich. Jetzt besteht die Möglichkeit, dass deutsche hundertjährigen Geschichte der GmbH weit zurück. Die- Unternehmen ihre europäischen Auslandstöchter in der ses Misstrauen war 1892 angebracht. Damals mussten ihnen bekannten Rechtsform der GmbH gründen und GmbH-Gründer 20 000 Goldmark aufbringen; das war zu führen. Das ist für deutsche exportorientierte Unterneh- der Zeit ein Vermögen. Deshalb gab es Skepsis und Arg- men eine große Verbesserung. Bisher mussten deutsche wohn gegenüber Kapitalgesellschaften. Frau Dyckmans, Unternehmen in jedem Mitgliedstaat eine nach dortigem Sie als Neoliberale machen sich diese heute zu eigen. Recht geregelte Gesellschaft gründen. Das war logi- Das ist nicht nachzuvollziehen. scherweise mit vielen Gesellschafts-, Rechts- und Form- fragen und erst recht mit hohen Kosten verbunden. Jetzt Präsident Dr. Norbert Lammert: wird unsere deutsche GmbH exportfähig. Herr Kollege Benneter, denken Sie bitte an Ihre Rede- Weiterhin wurde ein für uns Sozialdemokraten wich- zeit. tiges Anliegen geregelt, nämlich in der Insolvenz die Sanierungschancen und damit die Arbeitsplätze nach Klaus Uwe Benneter (SPD): Möglichkeit zu erhalten. Anders als von der Linken hier behauptet, haben wir die für die Insolvenzpraxis wich- Herr Präsident, ich komme zum Fazit: Wir behalten tige Nutzungsüberlassung in der Insolvenz klarer gere- unser Erfolgsmodell, die klassische GmbH, die wir gelt. Es geht dabei um die Gegenstände, die man rundum erneuert haben. Nach dem gleichen Erfolgsre- braucht, die der Gesellschaft von den Gesellschaftern zept bekommen wir eine ansehnliche Unternehmerge- überlassen worden waren, die aber für die Betriebsfort- sellschaft, der wir mit einiger Berechtigung eine gute führung und zur Sanierung von erheblicher Bedeutung Zukunft voraussagen können. (B) sind und bei denen immer die Gefahr bestand, dass sie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) sofort ausgesondert wurden und damit die Chancen auf Sanierung zunichte gemacht wurden. Die Herausgabe dieser Gegenstände können die Gesellschafter jetzt ein Präsident Dr. Norbert Lammert: Jahr lang nicht verlangen. Das ist ein klarer Zeitraum. In Kollege Benneter hat nun die Redezeit verbraucht, die diesem Zeitraum ist eine Sanierung möglich, sie kann in Kollege Montag freundlicherweise nicht genutzt hat. dieser Zeit gelingen. Damit sind wir wieder im Limit, womit keine neue Rechtsform für unsere Debatten gemeint ist. Wir schaffen mit der Unternehmergesellschaft (haf- tungsbeschränkt) ein neues Angebot für Firmengründer, Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Lämmel die eben kein Mindeststammkapital von 25 000 Euro für die CDU/CSU-Fraktion. brauchen und mit weniger auskommen können. Interes- santerweise behauptet jetzt die Linke Arm in Arm mit (Beifall bei der CDU/CSU) der FDP, die Limiteds in Deutschland hätten gezeigt, dass unseriöse Unternehmensgründer es darauf anlegen Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): würden, Mitarbeiter, Sozialversicherungen und den Fis- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- kus zu schröpfen. Diese seien die Leidtragenden, wenn ren! MoMiG – das ist ein schöner Name für ein Gesetz, von Anfang an unsolide und zahlungsunfähige Unter- verglichen mit den Bezeichnungen manch anderer Ge- nehmergesellschaften (haftungsbeschränkt) in Deutsch- setze, die wir im Deutschen Bundestag verabschieden. land agieren würden. Die Unternehmergesellschaft ist nicht in erster Linie eine Antwort auf die Limited, son- Das MoMiG ist insgesamt ein außerordentlich gut ge- dern auf die weitverbreiteten und wohlbegründeten lungenes Gesetzeswerk. Gestern hat eine große Tages- Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines gesetzlich vorgege- zeitung, das Handelsblatt, Folgendes dazu geschrieben: benen Mindeststammkapitals. Es gibt viele Praktiker, die behaupten, das Stammkapital habe allenfalls in der In- „Mo“ steht für Modernisierung und Benutzer- solvenz eine Funktion, nämlich dann, wenn es in ir- freundlichkeit. Der Wortbestandteil „Mi“ drückt gendeiner Art und Weise nicht ordentlich eingezahlt aus, dass sich die Geschäftsführer bei Missbrauch wurde und deshalb nachgezahlt werden müsse. Das wärmer anziehen müssen. Stammkapital soll ein Ausweis von Solidität und Serio- Diese große Wirtschaftszeitung hat noch einmal deut- sität sein, Frau Dyckmans. Das ist doch ein Witz! lich gemacht, dass es sich bei dieser Reform um die (Mechthild Dyckmans [FDP]: Das haben Sie größte seit 100 Jahren handelt. Wir sehen es also nicht doch selber gesagt!) nur selber so, sondern es wird auch von außen bestätigt, 18202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Andreas G. Lämmel (A) dass diese GmbH-Reform sehr wichtig für unser Land Geschäftsmodell abzusichern, ohne ihr gesamtes Privat- (C) ist. vermögen in das Geschäft einbringen zu müssen. Die drei Teile des Gesetzes betreffen erstens die Er- (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann leichterung und Beschleunigung von Unternehmens- [CDU/CSU]) gründungen – dazu ist schon viel gesagt worden –, zwei- Zum Thema Musterprotokolle. Auch an dieser Stelle tens die Erhöhung der Attraktivität der GmbH als kann ich nur staunen. Die FDP begibt sich hier auf den Rechtsform – auch dazu ist schon einiges gesagt worden – Pfad, eine einzelne Berufsgruppe – vermeintlich – zu und drittens die Bekämpfung von Missbräuchen. schützen. Ich will mich mit den Argumenten auseinandersetzen, (Mechthild Dyckmans [FDP]: Schützen?) welche die FDP und die Linke vorgebracht haben. Es ist schon erstaunlich, dass die Wirtschaftskompetenz heut- Wir hätten natürlich sehr gern die Mustersatzung ermög- zutage von der FDP offensichtlich langsam zu den Grü- licht – das muss ich ganz deutlich sagen –, aber die nen wandert; denn die Unterstützung, die das MoMiG Mehrheit hat sich letztendlich für das Musterprotokoll bei den Grünen findet, ist bemerkenswert. entschieden. Die Mustersatzung wäre noch etwas weiter gehend gewesen und hätte, wirtschaftspolitisch gesehen, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für einfache Unternehmensgründungen viele Vorteile ge- NEN]: Danke!) boten, viele Kosten, auch Beratungskosten, gespart. Frau Dyckmans, es ist schon erstaunlich, dass keiner (Mechthild Dyckmans [FDP]: Noch billiger der FDP-Wirtschaftspolitiker heute hier vertreten ist. Sie hätte es kaum sein können!) sind offenbar nicht gekommen, weil sie Ihre Auffassung möglicherweise nicht ganz teilen. Das wäre eine starke Entbürokratisierung gewesen. Aber auch das Musterprotokoll ist ein großer Schritt (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie ha- voran. Herr Montag, ich glaube, Sie haben es gesagt: ben sich mit Grausen abgewandt! – Garrelt Man muss das vom Unternehmen und nicht vom Notar Duin [SPD]: Sie haben geahnt, was sie hören her sehen. Die Frage ist: Wie viele Gänge muss der Un- müssen!) ternehmer machen? Wie viel Beratungsleistung muss er Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen die FDP und einkaufen, um überhaupt zur Unternehmensgründung zu erst recht die Linken Erleichterungen für Unternehmens- kommen? gründer, eine zweite Chance für Unternehmer, die schon Allein diese Punkte des Gesetzentwurfs sind ganz einmal gescheitert sind, und die Entbürokratisierung von entscheidend. (B) Unternehmensgründungen gefordert haben. Insofern (D) kann ich Ihre Argumentation, die Sie heute von diesem Das dritte Thema ist der Missbrauch. Wir haben Pult aus geführt haben, nicht nachvollziehen. nach der deutschen Einheit in Ostdeutschland einige Er- fahrungen mit dem Missbrauch von GmbHs sammeln (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müssen. Der Schaden, der dadurch verursacht worden neten der SPD – Mechthild Dyckmans [FDP]: und letztlich bei der Gesellschaft verblieben ist, ist er- Dann haben Sie nicht zugehört! Für eine Ent- heblich gewesen. bürokratisierung sind wir auch!) (Mechthild Dyckmans [FDP]: Genau!) Wenn wir uns das Gründungsgeschehen ansehen, stellen wir fest, dass in guten Zeiten von deutschen Das hat das Modell der sozialen Marktwirtschaft in den Gründern in einem Monat 3 000 GmbHs und 1 000 Li- Augen vieler in Misskredit gebracht. miteds gegründet werden. Man muss also zur Kenntnis (Mechthild Dyckmans [FDP]: Eben!) nehmen, dass das Gründungsgeschehen in Deutschland sich absolut verändert hat. Um ihr Vermögen geprellte Unternehmer fragen sich na- türlich, wieso es möglich ist, mit einer GmbH solchen Mit dem Einzug des Internets in unser tägliches Le- Missbrauch zu betreiben. ben haben sich Geschäftsmodelle entwickelt, die nicht erst 25 000 Euro Grundkapital brauchen, um eine Ge- Insofern ist es sehr wichtig, dass solchen Missbräu- sellschaft zu gründen; dieses Geld kann schon genutzt chen ein Ende gesetzt wird. Damit wird auch die Rechts- werden, um ein paar Computer oder andere Gerätschaf- sicherheit erhöht, und es kann der gute Ruf Deutschlands ten zu kaufen und das Geschäft aufzubauen. in Bezug auf Rechtssicherheit, wenig Korruption und wenig Missbrauch erhalten werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Zimmermann, sich mit Ihren Argumenten aus- Hätten wir diese Unternehmergesellschaft nach 1990 einanderzusetzen, lohnt nicht. Sie würden am liebsten in Ostdeutschland schon gehabt, hätte sich manches wieder VEBs gründen – das wissen wir –, menschliche Drama vermeiden lassen. Viele haben sich (Zurufe von der LINKEN: Oh! – Ulla Lötzer in eine Rechtsform begeben, bei der im Falle der Insol- [DIE LINKE]: Lassen Sie sich was Neues ein- venz bis ins Privatvermögen durchgegriffen wird, und fallen!) die Betroffenen sind heute Sozialhilfeempfänger. Das wollen wir verhindern. Wir wollen jungen Gründern mit aber Ihr Modell ist pleitegegangen. Ohne beschränkte der beschränkten Haftung eine Möglichkeit geben, ihr Haftung ist es absolut pleitegegangen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18203

Andreas G. Lämmel (A) Zusammenfassend lässt sich sagen: Bedenkenträger der Jahrtausendwende. Sie, Herr Montag, haben schon (C) gab es damals, als das GmbH-Recht eingeführt wurde. auf die Gründe dafür hingewiesen: Aufgrund des wirt- Bedenkenträger gibt es heute. Bedenkenträger wird es schaftlichen Aufschwungs haben sich viele wieder in ab- auch morgen noch geben. Bedenkenträger wird es im- hängige Beschäftigungsverhältnisse begeben. Unter an- mer geben. Aber uns liegt ein Gesetzeswerk vor, auf das derem dadurch ist dieser Rückgang zu erklären. wir stolz sein können. Herzlichen Dank allen Beteilig- Es ist jetzt aber die Aufgabe der Politik, Anreize zu ten, die mit dafür gekämpft haben. setzen, um zu Existenzgründungen zu ermutigen. Wir Vielen Dank. haben ja in dieser Woche auch weitere entsprechende Maßnahmen auf den Weg gebracht. Denken Sie an das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Forderungssicherungsgesetz und die Förderung von Wagniskapital. Damit und mit der GmbH-Reform sind Präsident Dr. Norbert Lammert: wichtige Schritte getan, um die Attraktivität der GmbH Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Garrelt Duin, im internationalen Wettbewerb zu steigern, ihre Neu- SPD-Fraktion. gründung unbürokratischer zu gestalten und – das ist von den Justizpolitikern hier eben ausreichend deutlich ge- macht worden – wirkungsvoll Missbräuche bei Insolven- Garrelt Duin (SPD): zen zu bekämpfen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mir ein Beispiel an dem Kollegen Montag nehmen. – Es wäre möglich gewesen, grundsätzlich ein Mindest- Als Jurist stimme ich dem zu, was die Vorredner aus den stammkapital von 10 000 Euro vorzusehen. Wir haben verschiedenen Fraktionen, zumindest aus den Koali- darüber in den Ausschüssen diskutiert. Aber die jetzt ge- tionsfraktionen und eben auch Herr Montag von den fundene Lösung – einmal die klassische GmbH mit ei- nem Stammkapital von 25 000 Euro und die GmbH- Grünen, deutlich gemacht haben, nämlich dass wir hier Variante mit geringeren Kapitalanforderungen – ent- auf einem juristisch wertvollen und richtigen Weg sind. spricht absolut den Anforderungen, die zu Beginn unse- Als Wirtschaftspolitiker, als der ich hier spreche, möchte rer Beratungen als ursprüngliche Maßgabe galten. Ich ich das ebenso unterstreichen. Ich bin nämlich der festen bin davon überzeugt, dass wir mit dieser Reform verhin- Überzeugung, dass mit dieser Reform des GmbH- dern, dass die Zahl von mittleren und kleinen Unterneh- Rechts etwas getan wird, was in Deutschland nach den men zurückgeht. Vielmehr setzen wir notwendige An- vielen Jahren, wo wir das Gesetz unangetastet gelassen reize, damit das nicht eintritt. haben, wirklich notwendig ist. Ich möchte nicht von „überfällig“ sprechen, aber jetzt ist wirklich der richtige Insgesamt müssen wir aber darauf achten, dass wir Zeitpunkt, um das auf den Weg zu bringen. das Gründungsklima in Deutschland weiter verbessern. (B) Da reichen solche Gesetze wie das heute zu verabschie- (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, die dende allein nicht aus. Es muss vielmehr einen noch en- deutsche Wirtschaft lebt von den kleinen und mittleren geren Schulterschluss bzw. einen noch engeren Dialog Unternehmen. 3,4 Millionen kleine und mittlere Unter- zwischen Wirtschaft und Politik geben. Wer heute Un- nehmen sowie Selbstständige prägen die Wirtschaft in ternehmer ist, muss Politik verstehen; daran führt kein unserem Land. 99,7 Prozent aller Unternehmen in Weg vorbei. Wir als Politiker müssen aber auch ver- Deutschland sind solche kleinen und mittleren Unterneh- suchen, zu verstehen, was einen Unternehmer antreibt. men. Neben der Sicherung des Bestandes dieser Unter- Wir müssen nicht als Lobbyist seiner Interessen auftre- nehmen müssen wir uns besonders um die Gründung ten; aber wir müssen ein Verständnis dafür entwickeln, von neuen Unternehmen bemühen. Wir müssen Men- welche Nöte und Sorgen er hat, damit er seine unterneh- schen ermuntern, dass sie den Mut aufbringen, ein Un- merische Tätigkeit voll ausfüllen kann. Dazu gehört, ternehmen zu gründen. dass wir Dinge wie Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Mut zum Risiko im Blick haben. (Mechthild Dyckmans [FDP]: Aber Gründung reicht nicht aus! Sie müssen auch bestehen!) Wir müssen den Menschen sagen, dass wir ihren Mut zum Risiko, ein Unternehmen zu gründen, auch beloh- Eine entsprechende Dynamik brauchen wir in Deutsch- nen wollen. Wir dürfen ihnen nicht – das klang bei Ih- land in den nächsten Jahren. Ich bin sicher, mit diesem nen, Frau Zimmermann, eben so durch – Angst machen, Gesetz und anderen Maßnahmen, auf die ich gleich zu dass das alles wieder schiefgehen könnte und große Ge- sprechen komme, gehen wir den richtigen Weg, um für fahren drohten. eine solche Dynamik zu sorgen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Vielmehr müssen wir ihnen den Rücken stärken, wenn Herr Montag, Sie haben recht mit dem, was Sie aus sie ein Unternehmen gründen wollen. einem Zeitungsartikel von dieser Woche zitiert haben. (Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Es kann Aus dem in der letzten Woche veröffentlichten „KfW- aber auch etwas schiefgehen!) Gründungsmonitor 2008“ geht hervor, dass die Zahl der Neugründungen 2007 im Vergleich zum Jahr 2006 Wir wollen die Selbstständigkeit neben dem GmbH- deutlich zurückgegangen ist. Im Vergleich zum Jahr Gesetz auch durch Bürokratieabbau fördern. Den 2006 beträgt der Rückgang 21 Prozent. Damit liegt die Ausführungen der Vorredner zum Bürokratieabbau Zahl der Neugründungen auf dem niedrigsten Stand seit möchte ich mich ausdrücklich anschließen. Wir haben 18204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Garrelt Duin (A) im Rahmen der GmbH-Reform nicht die Interessen der vor allem, dass sie nicht nur Rechtspolitik können, son- (C) Notare zu vertreten, sondern wir sind dafür da, die Inte- dern auch Wirtschaftspolitik. Auch diese Debatte zeigt: ressen von Existenzgründern zu vertreten. Ich glaube, Uns liegt ein Gesetzentwurf vor, der sowohl vom klassi- dass wir das hier auch deutlich gemacht haben. schen Mittelstand als auch von potenziellen kleinen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Existenzgründern sehnsüchtig erwartet wurde. der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ Alles, was wir für die klassische GmbH tun – wo wir CSU]: Beide!) sie aufmöbeln, wo wir sie modernisieren, wo wir sie Wir tun auch mit dem Meister-BAföG etwas zur För- auch den Zeiten, in denen wir leben, anpassen –, ist derung der Selbstständigkeit. Wir wollen die Schulungs- schon aufgeführt worden. Lieber Kollege Gehb, ich bin und Beratungsmöglichkeiten für Gründerinnen und dir wirklich ausgesprochen dankbar, dass du hier der Gründer ausbauen. Wir werden sicherlich auch im Be- Vorreiter warst und wir dich dabei unterstützen durften. reich der Bildung – wie können wir das Thema Wirt- Natürlich mussten wir uns überlegen, wie wir damit um- schaft in die Schulen hineinbringen? – noch das eine gehen, dass die Limited auch in Deutschland immer oder andere auf den Weg bringen müssen. mehr Anhänger findet und dass die Limited ganz offen- sichtlich eine Gesellschaftsform ist, die in unser Rechts- Damit ich meinem Versprechen gerecht werde, die system nicht passt und vor der wir die Menschen viel- Redezeit nicht ganz auszuschöpfen, will ich mit Folgen- leicht ein Stück weit bewahren müssen. Wenn wir uns dem schließen: Wir als Große Koalition wollen den die Daten aus Deutschland, aus Großbritannien und den Unternehmergeist in Deutschland wecken – hoffentlich Niederlanden – dort wird die Limited vorwiegend ver- mit der Unterstützung von vielen. Die hier eingeleiteten wendet –, die uns vorliegen, anschauen, dann müssen Maßnahmen im GmbH-Gesetz weisen in die richtige wir feststellen: Sie weist eine hohe Frühsterblichkeit auf, Richtung. Lassen Sie uns den Menschen Mut machen, und sie ist damit am Markt de facto schon gescheitert. ein Unternehmen zu gründen und dadurch Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen! Wenn die Politik sagt: „Es Nachdem wir das gesehen hatten, war die Entschei- droht zu viel; lass es lieber sein; schau, dass du irgend- dung klar: Wir wollen keine verwässerte GmbH, wir wie anders durchs Leben kommst“, dann werden die wollen keine nur abgespeckte Mini-GmbH. Liebe Frau Menschen diesen Mut nicht finden. Lassen Sie uns mit Kollegin Dyckmans, eine Mini-GmbH ist das nicht. Die- einem klaren Beispiel und auch deutlichen Worten vo- ser Ausdruck ist nicht nur despektierlich, sondern auch rangehen! Heute ist jedenfalls dafür ein guter Tag. falsch. Vielen Dank. (Mechthild Dyckmans [FDP]: Komisch, dass (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sich dieser Begriff aber ganz schnell eingebür- gert hat!) (B) (D) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Jürgen Gehb hat sich auf den Weg ge- Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist macht und überlegt, was wir tun können. Es gab einige die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion. Widerstände, auch aus den eigenen Reihen. Lieber Jürgen, wir können uns gut erinnern: Wir konnten nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sofort alle auf unsere Seite ziehen, als wir für dein Modell einer „Unternehmergesellschaft (haftungsbe- Daniela Raab (CDU/CSU): schränkt)“ plädiert haben; aber wir haben nunmehr auch Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und das geschafft. Wir mussten einige Kompromisse schlie- Herren! Es ist die Krux eines jeden letzten Redners, dass ßen, die aber absolut akzeptabel sind. im Prinzip alles Richtige und – rechts und links von mir – bedauerlicherweise auch alles Falsche schon gesagt Wir haben jetzt eine Unternehmergesellschaft ohne wurde. Volker Beck hat vorhin gerufen: Offensichtlich Stammkapital. Wir haben dennoch eine Haftungsbe- hat die Große Koalition keine wirklich wichtigen Tages- schränkung. Wir haben unglaublich leichte Gründungs- ordnungspunkte mehr. Warum sonst sollten wir die mechanismen, die wir im Prinzip auch auf die GmbH an- GmbH-Reform in der Kernzeit debattieren? – Ich wenden können. Wir ermöglichen gleichzeitig das glaube, lieber Kollege Beck, Sie haben auch an den Aus- Aufwachsen dieser Unternehmergesellschaft zur GmbH, führungen Ihres Kollegen Montag gemerkt wenn die Voraussetzungen letztendlich erfüllt sind. Da- mit, liebe Kollegen von der FDP, ist die UG nicht nur (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE eine bessere Limited – das wäre eine Beleidigung für GRÜNEN]: So habe ich es nicht gesagt! Aber diese wirklich schöne Rechtsform –, sondern die einzig früher hätten Sie vor 18 Uhr keine Chance ge- richtige und funktionierende Gesellschaftsform für habt!) kleine Existenzgründer. – sehen Sie, wir haben daraus gelernt –: Wir beweisen nämlich, dass beides geht: Rechts- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE sicherheit, und zwar in einem sehr ausgeprägten Maße, GRÜNEN]: Wir sind ja schon erleichtert, dass und dennoch überschaubare Gründungsmodalitäten. Ich es diesmal nicht wieder der Sportbericht ist!) glaube, gerade an dieser Stelle ist es durchaus ange- bracht, dass wir uns selber einmal auf die Schulter Die GmbH-Reform ist ein wichtiges Werk. klopfen; wir tun dies ja nicht oft. Denn genau diese Liebe Kollegen, insbesondere der Regierungskoali- Kombination, wenig Vorschriften und dennoch Rechts- tion und der Grünen, die Rechtspolitiker haben bewie- sicherheit zu schaffen, gelingt uns in diesem Hohen sen, dass sie etwas sehr Gutes zu Ende bringen können, Haus leider viel zu selten. Wir können hier beispielhaft Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18205

Daniela Raab (A) voranschreiten; denn wir beweisen: Wir schaffen auch auf der Drucksache 16/6140 in der Ausschussfassung (C) mit wenigen, aber guten und überschaubaren Vorschrif- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- ten eine ganz sichere Rechtslage für alle Beteiligten. wurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Damit ist der Gesetzentwurf in zwei- Es ist schon viel auf die FDP repliziert worden. Ich ter Beratung mit großer Mehrheit angenommen. möchte nicht alles wiederholen, aber es erstaunt mich, und ich bin auch ein bisschen enttäuscht; das sage ich Ih- Wir kommen zur nen ganz ehrlich. Ich war gestern im Ausschuss ent- dritten Beratung täuscht, und ich bin es auch heute wieder und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Wir hören immer so viel von: Ihr müsst mutig voran- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schreiten. Ihr müsst etwas für den Wirtschaftsstandort Wer möchte dagegen stimmen? – Möchte sich jemand tun. Nutzt die Chancen, die wir euch geben. – Dann der Stimme enthalten? – Damit ist der Gesetzentwurf mit schaffen wir in fast ganz großer Übereinstimmung hier den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion im Hause ein Instrument, aber dann wird haarklein rum- und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die gezuppelt und rumgezupft und geguckt, wo vielleicht Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linken noch irgendwo etwas stecken könnte, was zu kritisieren angenommen. wäre. Vielleicht haben Sie einfach ein Problem damit, dass wir schneller waren und vor Ihnen darauf gekom- Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- men sind. ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9796? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? Der Entschlie- Ich meine, wir werden in den nächsten Jahren sicher- ßungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. lich erfolgreich evaluieren können, dass gerade diese haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft auf dem Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- Markt ankommt und genutzt wird. Die Justizministerin tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9795? – hat völlig zu Recht gesagt: Diese Rechtsform ist vor Ort Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – sehnsüchtig erwartet worden. Damit ist auch dieser Entschließungsantrag mit großer Mehrheit abgelehnt. Wir alle haben zahlreiche E-Mails von potenziellen Existenzgründern bekommen, die schlicht und ergrei- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 b und set- fend auf den gesetzgeberischen Startschuss warten, da- zen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung mit sie sich selbst in die Startlöcher bewegen und etwas des Rechtsausschusses auf der Drucksache 16/9737 fort. (B) vorwärts bringen können. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- (D) Ich sage Ihnen eines: Wir haben die GmbH-Reform schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- geschafft. Wir werden heute noch das Forderungssiche- tion der FDP auf Drucksache 16/671 mit dem Titel rungsgesetz schaffen, und wir machen die FGG-Reform. „GmbH-Gründungen beschleunigen und entbürokrati- Es ist insofern eine gute Woche für die Rechtspolitik. sieren“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Eine Woche Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. der Rechtspolitik!) Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 sowie den Ich richte einen Dank an diejenigen, die organisieren, Zusatzpunkt 4 auf: wann wir debattieren dürfen. Denn wir haben endlich schöne Debattenzeiten und können beweisen, dass 6 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Rechtspolitik mitten im Leben steht Jürgen Trittin, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der (Joachim Stünker [SPD]: Und alles ohne Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Streit! – Zuruf von der CDU/CSU: Rechtspoli- tik läuft am besten in der Großen Koalition!) Zur China-Politik der Bundesregierung und wichtige Gesetzesvorhaben voranbringt, die die – Drucksachen 16/7212, 16/9513 – Menschen persönlich betreffen. In diesem Sinne: Ma- chen wir weiter so! Es kann fast noch besser werden. ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Danke schön. Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der FDP Die Regierungsverhandlungen mit China zur Präsident Dr. Norbert Lammert: Neuorientierung der Entwicklungszusammen- Ich schließe die Aussprache. arbeit und zur Förderung der chinesischen Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Zivilgesellschaft nutzen desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur – Drucksache 16/9745 – Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Entwicklung (f) sache 16/9737, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Finanzausschuss 18206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sende Konkurrenz um die sehr endlichen Ressourcen, an (C) diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre die Debatte um die Nahrungsmittelpreise. Heute wissen keinen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart. wir: Selbst der Dollarkurs hängt sehr viel mehr vom An- lageverhalten der Nationalbank Chinas ab als von den Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Entscheidungen der US-amerikanischen Fed. Schon Kollegen Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die lange investieren Unternehmen in China nicht mehr in Grünen das Wort. erster Linie wegen niedrigerer Löhne, sondern weil sie diesen Markt einfach nicht mehr ignorieren können. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will an Wir hatten gedacht, dass wir auf diese Fragen eine dieser Stelle vorab noch einmal die Anteilnahme und das Antwort von der Bundesregierung bekommen. Sie hat Mitgefühl meiner Fraktion – ich denke, aller Mitglieder zwar umfassend geantwortet; aber die Vielzahl der Ant- des Hauses – anlässlich der vielen Opfer des Erdbebens worten bezeugt eines: Es gibt keine einheitliche Politik in Sichuan ausdrücken. Ich wünsche den Chinesinnen Deutschlands gegenüber China. Es gibt eine Reihe klein- und Chinesen alles Gute bei der weiteren Bewältigung teiliger Einzelantworten; aber eine Konzeption gibt es dieser Katastrophe und beim Wiederaufbau. nicht. (Beifall im ganzen Hause) (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das liegt natür- lich auch am Fragesteller!) In der Bewältigung dieser Katastrophe hat sich auch ein Stück des neuen China gezeigt, nicht nur im Ver- Interessant ist, dass die Bundesregierung auf diese gleich zum schlechten Beispiel in Birma. Offenheit und Konzeptionslosigkeit, lieber Kollege, auch noch stolz Öffentlichkeit und die Annahme internationaler Hilfe ist. Auf unsere Frage, ob es ein Chinakonzept gibt, wird begleiteten eine große solidarische Kraftanstrengung. geantwortet, das lohne nicht, weil man angesichts der Ich sage Ihnen: Wir wünschen, dass diese Offenheit in Veränderungen in China flexibel sein müsse; es gebe China zur Regel wird, übrigens auch bei der Aufarbei- aber Konzepte von einzelnen Ressorts. Das heißt also, tung der Versäumnisse, die die Folgen des Erdbebens in die Ressorts sind nicht so flexibel wie die Bundesregie- so mancher Schule so verschlimmerten. rung, deren Auswärtiges Amt für die Koordinierung zu- Als wir im letzten Herbst unsere Große Anfrage zu ständig ist. China formulierten, hatten wir die unübersehbare Be- Wir haben nach Projekten in China gefragt. Was sind deutung im Kopf, die China heute für das globale Ge- eigentlich die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit? Auch schehen hat. Kaum ein anderes Land zieht so wider- (B) da ist die Antwort bezeichnend: Es gibt keine Übersicht; (D) sprüchliche Fantasien und Bilder auf sich wie China. es gibt auch keine Evaluierung der Zusammenarbeit mit Von der „gelben Gefahr“ über den „erwachenden Dra- China. Das gilt auch für die sehr verstreute Entwick- chen“ bis zum jetzt ausgerufenen „Weltkrieg um Wohl- lungszusammenarbeit mit China, die sich auf Klimapoli- stand“ reichen die Bilder und Ängste, die China in vielen tik sowie Wirtschafts- und Strukturreformen konzentrie- Gesellschaften des Westens hervorruft. ren soll, was wir begrüßen. Es ist interessant: Dieser Diskurs hat eine ganz andere Dazu haben wir aber natürlich eine Frage: Wenn es, Sicht auf China abgelöst, die vor wenigen Jahren noch dominierte. Das war die Sicht der China-Bewunderer, je- wie es in der Antwort heißt, ein besonderes deutsches In- ner Wirtschaftseliten, die in China vor allen Dingen ei- teresse für die Bereiche Klimapolitik, Wirtschaft und nen Riesenmarkt sahen. Dazu gehörte auch die Sicht ei- Rechtsstaatlichkeit gibt, wie konnte es dann eigentlich nes damaligen Wirtschaftsministers, der es ganz passieren, dass das BMZ nach den Unruhen am vorbildlich fand, wie China in zwei Jahren eine Transra- 14. März mal eben die Verhandlungen über die Ausge- pidstrecke plante und baute. Dabei hatte er aber einfach staltung der EZ ausgesetzt hat? Man kann so oder so da- vergessen, dass dafür Menschen entschädigungslos ent- rüber denken. Mich würde einmal interessieren, lieber eignet und aus ihren Häusern vertrieben worden sind und Herr Erler: Ist das eigentlich mit dem Auswärtigen Amt dass die Pfeiler im Schlamm der Jangtse-Mündung so abgestimmt worden? Ist es im deutschen Interesse, ge- schlecht gegründet wurden, dass sie heute repariert wer- nau diejenigen Felder der deutschen Kooperation fallen den müssen. zu lassen, an denen Deutschland ein virulentes Interesse hat? Wir suchen also nach Antworten zwischen falscher Verdammnis und blinder Apologetik: Wie sieht die Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) desregierung den Akteur China auf der ökonomischen und politischen Bühne der Welt? Wie ist seine Rolle in Oder war das einfach nur die Pressepolitik des BMZ der einer multipolar gewordenen Welt, in der Länder wie HWZ? Es hätte ja elegant sein können, wenn der Außen- Brasilien, China und Indien eine immer wichtigere Rolle minister in der Frage des Empfangs des Dalai-Lama ge- spielen? Sieht die Bundesregierung China als Konkur- sagt hätte: Das ist jetzt vielleicht nicht ganz angemessen; renz und Bedrohung oder als strategischen Partner? da schicke ich die Entwicklungsministerin vor. – Es wäre vielleicht auch eine gelungene Intrige gewesen, Eines wissen wir: Es gibt heute kein Problem auf die- wenn es die Kanzlerin geschafft hätte, Frau Wieczorek- sem Globus, das man ohne oder sogar gegen China lösen Zeul gegen den Kanzlerkandidaten Steinmeier zu instru- könnte. Denken Sie an den Klimawandel, an die wach- mentalisieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18207

Jürgen Trittin (A) ( [Wiesloch] [SPD]: Das autoritär. Nichts würde den Menschen in China heute (C) kann nur Herr Trittin im Kopf haben!) weniger nutzen und zur Lösung der globalen Probleme weniger beitragen als eine neue Frontstellung gegenüber Ich glaube, wir in diesem Hause sind uns alle darin ei- China. China ist eine autoritäre, aber fragmentierte Ge- nig, dass keine dieser Vermutungen zutrifft. Wissen Sie, sellschaft. Wir brauchen eine auf Kooperation ausge- warum nicht? Weil das voraussetzen würde, dass sie mit- richtete Politik gegenüber China, die aber jenseits von einander reden. Genau das findet aber nicht statt. Besserwisserei und jenseits von Leisetreterei funktio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – niert, die die Fortschritte, die es im Bereich der Men- Dr. [FDP]: Da hat er recht! – schenrechte gibt, thematisiert, die aber auch thematisiert, Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Sieht so dass es im Vorfeld der Olympiade Rückschritte in der die Welt bei den Grünen aus?) Menschenrechtspolitik gegeben hat, die klarmacht, dass wir zwar auf Chinas Kooperation angewiesen sind, aber Ich glaube, dass es bei dem gesamten Vorgang im auch bestimmte Erwartungen haben. Wer ein neuer Ak- Hinblick auf den Dalai-Lama-Besuch gar nicht um die teur in der Weltpolitik ist, muss sich auch der Verantwor- Menschenrechte in China und in Tibet gegangen ist, tung für die Lösung der Probleme dieser Welt stellen, sondern ausschließlich um Innenpolitik und Wahlkampf- aufstellung in Deutschland. Ich finde, die Menschen- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das steht in rechte in China sind nicht geeignet, in dieser Weise für der Asien-Strategie!) innenpolitische Auseinandersetzungen in Deutschland sei es in Darfur oder sei es im Umgang mit dem Atom- benutzt, um nicht zu sagen: missbraucht zu werden. programm des Iran. Das ist die richtige Herangehens- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weise. Wir brauchen eine China-Politik, die auf den Auf- sowie bei Abgeordneten der SPD) bau einer strategischen Kooperation setzt, und zwar jenseits von Besserwisserei und jenseits von opportunis- Wenn Sie es beispielsweise mit den Menschenrechten tischer Leisetreterei. Wir hätten uns gewünscht, das in ernst meinen würden, dann würden Sie jetzt die Bereit- der Antwort der Bundesregierung zu lesen. Was wir vor- schaft Deutschlands erklären, jene Uiguren, die seit Jah- gefunden haben, war viel Richtiges und manch Fragwür- ren in Guantánamo einsitzen, die die US-Armee selber diges, aber alles nicht sortiert. als unschuldig und ungefährlich betrachtet und denen ein Gericht bescheinigt, dass sie keine feindlichen Kombat- Vielen Dank. tanten sind, endlich hier aufzunehmen, weil man sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht nach China abschieben kann; denn dort wären sie der Verfolgung ausgesetzt. Ich denke, das wäre eine ver- (B) nünftige Menschenrechtspolitik. Präsident Dr. Norbert Lammert: (D) Herr Kollege Trittin, in Ergänzung Ihrer Ausführun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen zur Menschenrechtsfrage möchte ich darauf hinwei- sowie bei Abgeordneten der SPD) sen, dass es gerade im Kontext des Rechtsstaatsdialogs zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Es gibt noch einen anderen Ansatz, sich China zu nä- Volksrepublik China ganz sicher erwünscht wäre, wenn hern. Das ist der Ansatz, den ich in der Asien-Strategie die seit langem geplante Reise des Menschenrechtsaus- der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gefunden habe. schusses des Deutschen Bundestages, die erst vor Kur- (Dr. [CDU/CSU]: Sehr gute zem bedauerlicherweise zum wiederholten Male an Vor- Lektüre!) behalten und Einwänden auf chinesischer Seite gescheitert ist, nun endlich zustande kommen könnte. Darin sagt man, man solle sich mehr auf Indien statt auf China konzentrieren. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: „Statt“ steht dort bei Abgeordneten der LINKEN – Jürgen gar nicht!) Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem Denn Indien sei gut und China sei böse, weil Indien eine schließen wir uns an!) Demokratie sei, China aber ohne Zweifel nicht. Nun erteilte ich das Wort dem Kollegen Eckart von (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das haben Klaeden für die CDU/CSU-Fraktion. Sie aber falsch gelesen, lieber Herr Trittin!) Das ist, lieber Herr Ramsauer, der gleiche Ungeist, der Eckart von Klaeden (CDU/CSU): gerade in den USA abgewählt wird, Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Trittin, bei aller Wertschätzung muss ich (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das stimmt Ihnen leider sagen: Ihre Rede zu China hat nicht zu den ja auch nicht! Den Ungeist haben Sie im Kopf! stärksten Reden gehört, die Sie in diesem Haus gehalten Der steht aber nicht in unserem Papier!) haben. nämlich die Aufteilung der Welt in Gut und Böse, in (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die fand Schwarz und Weiß. ich sehr gut!) Genauso wenig wie in Indien heute alles gut ist, weil Was Sie über die fehlende Konzeption der Bundesregie- es demokratisch ist, ist in China heute alles schlecht und rung und unser Asien-Papier gesagt haben, war eher 18208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Eckart von Klaeden (A) Ausdruck freien Assoziierens als Ausdruck der Tatsa- sende wirtschaftliche Kraft, zunehmende Softpower, seine (C) che, dass Sie sich mit dem Konzept der Bundesregierung Stellung als ständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat oder unserer Asien-Strategie beschäftigt haben. und sein aktiveres Engagement in regionalen und multi- lateralen Strukturen ist ein chinesischer Beitrag zur Lö- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sung vieler regionaler und globaler Fragen heute nicht NEN]: Dann muss die Rede doch gut gewesen mehr wegzudenken. sein, wenn Sie so darauf reagieren!) Die deutsch-chinesischen Beziehungen sind eng, sub- Das, was unsere Asien-Strategie zum Ausdruck stanzreich und robust. China ist für uns ein wichtiger bringt, aber auch der Politik der Bundesregierung zu- Partner in Asien, und wir sind für Peking ein ebenso grunde liegt, ist unser Interesse an einer nachhaltigen wichtiger Partner in Europa. Es gibt zwischen beiden Stabilität in der Entwicklung Chinas. „Nachhaltige Sta- Seiten eine breite Palette von Dialogen in den Bereichen bilität“ setzt einen qualitativen Stabilitätsbegriff voraus. Wirtschaft, Wissenschaft, Umwelt und Politik. Dazu ge- Neben der wirtschaftlichen Entwicklung geht es um die hört auch der Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog, politische Öffnung, um demokratische, vor allem rechts- der auszubauen und zu fördern ist, wie es der Präsident staatliche Reformen im Innern, um ein gutes Verhältnis gerade angesprochen hat. In der Außenpolitik ist inzwi- zu den Nachbarn und eine verantwortungsvolle Teil- schen auch der notwendige Dialog über für beide Seiten nahme an internationalen Entscheidungsprozessen im relevante außen- und sicherheitspolitische Themen wie globalen Rahmen, insbesondere als Mitglied des Weltsi- Iran, Sudan und Afrika aufgenommen worden. China ist cherheitsrates. also ein wichtiger Partner für uns. China ist dank seines ökonomischen und politischen China wird insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht Aufstiegs zu einem bedeutenden Akteur geworden, und aber auch zu einem immer stärkeren und direkten Wett- zwar nicht nur auf den internationalen Märkten, sondern bewerber. Deutsche und europäische Unternehmen kon- auch in der internationalen Politik. Seit 2005 ist China kurrieren bereits heute in verschiedenen Weltregionen nach den USA, Japan und Deutschland die viertgrößte mit chinesischen Firmen, zum Beispiel um Infrastruktur- Volkswirtschaft. 2007 hat es mit über 11 Prozent erneut projekte im Nahen Osten oder in Afrika, aber auch zu- die höchste Wachstumsrate unter den großen Volkswirt- nehmend bei der Lieferung von Investitionsgütern und schaften erzielt. Sein Anteil am Welthandel ist von unter Maschinen. Hierbei kommen der chinesischen Seite ins- 1 Prozent vor 20 Jahren auf heute 5 Prozent angestiegen, besondere ihre erheblichen Kostenvorteile zugute. und die Exportrate steigt weiter an. Ausländische Direkt- investitionen strömen weiterhin in das Land, und chine- China ist auch der größte Produktimitator der Welt. sische Unternehmen treten im Ausland zunehmend Westliche Unternehmen verlieren in China und in zuneh- (B) selbst als Investoren auf. mendem Maße auch auf Drittmärkten und selbst auf dem (D) Heimatmarkt jedes Jahr Milliardenbeträge durch Pro- Dieser ökonomische Aufstieg hat zwangsläufig zu ei- duktpiraterie. Durch die erheblichen Investitionen euro- nem politischen Aufstieg Chinas geführt. China ist heute päischer Unternehmen in China, die überwiegend in eine Macht mit nicht nur regionalen, sondern auch glo- Joint Ventures erfolgen, wächst das Risiko, dass zu viel balen Ambitionen. China ist ohne Zweifel eine Welt- Know-how zugunsten chinesischer Firmen auf die be- macht im Werden. Deswegen werden unsere Beziehun- schriebene Weise abfließt. gen, aber auch die Beziehungen Europas zu China immer wichtiger. Daher ist es gut, dass wir heute an so Auch im Energie- und Rohstoffbereich ist die Kon- prominenter Stelle eine grundsätzliche Debatte über un- kurrenz Chinas weltweit zu spüren und hat zu den Preis- sere China-Politik führen. erhöhungen beigetragen, die wir seit einiger Zeit bei Öl und Gas erleben. China ist für uns zu einem der weltweit wichtigsten Wirtschaftspartner geworden. Die deutsch-chinesischen Mit China – das ist Bestandteil unserer Asien-Strate- Wirtschaftsbeziehungen sind in der Tat eine beeindru- gie und ein Umstand, Herr Trittin, der nicht geleugnet ckende Erfolgsgeschichte. Der Außenhandel Deutsch- werden sollte – steigt ein nicht demokratischer und nicht lands mit China hat sich in den Jahren 2000 bis 2007 fast liberaler Staat in der weltwirtschaftlichen und weltpoliti- verdreifacht. Da die Importe aus China seit einiger Zeit schen Hierarchie auf. China hat in den vergangenen die deutschen Exporte dorthin übersteigen, erzielt China 30 Jahren ein Entwicklungs- und Modernisierungs- gegenüber Deutschland – auch gegenüber Europa – ei- modell geschaffen, das bisher außerordentlich erfolg- nen wachsenden Handelsüberschuss. China hat sich zu- reich ist. Moderne autoritäre politische Führung wird dem zu einem wichtigen Produktionsstandort für deut- kombiniert mit staatlich beaufsichtigtem Kapitalismus. sche Firmen entwickelt. Es gibt kaum ein großes deutsches Unternehmen, das nicht in China produziert. Meines Erachtens steht der Beweis noch aus, ob das Das ist gut so; denn wir haben zur Sicherung unseres ei- chinesische Modell langfristig eine nachhaltige Entwick- genen Wohlstandes ein Interesse daran, dass sich unsere lung ermöglichen kann. Daran sind insbesondere deswe- Unternehmen an die Wachstumsdynamik in China an- gen Zweifel angebracht, da nach unserer Auffassung – das koppeln. betrifft den nachhaltigen Stabilitätsbegriff, der unserer Asien-Strategie zugrunde liegt und von Ihnen gerade in- Chinas Einfluss wächst aber nicht nur in wirtschaftli- frage gestellt wurde – eine nachhaltige Entwicklung nur cher, sondern auch in politischer, diplomatischer, kulturel- dann möglich ist, wenn sich China zu einem System ler und militärstrategischer Hinsicht. Durch seine wach- weiterentwickelt, das auf Partizipation ausgerichtet ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18209

Eckart von Klaeden (A) und die Menschenrechte schützt. Das hat nichts mit der tive Entwicklung Chinas zum Nutzen unserer beiden (C) Auffassung zu tun, dass China böse und Indien gut sei; Länder und zum Nutzen Asiens und Europas fortsetzt. das steht nicht in unserer Strategie und ist auch sonst nir- gendwo in unseren Reden oder Stellungnahmen zu fin- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den. Ich glaube, das gehört zu einer differenzierten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wahrnehmung der Realität Chinas. Dazu gehört auch, neten der SPD) dass das chinesische Modell sich in einigen Entwick- lungsländern ganz offensichtlich erheblicher Attraktion erfreut und damit die Anziehungskraft westlich liberaler Präsident Dr. Norbert Lammert: Ordnungsprinzipien mindert. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion. Auch wenn die Veränderungen in China in den letzten drei Jahrzehnten ohne Zweifel bemerkenswert sind, (Beifall bei der FDP) müssen wir feststellen, dass sich das westliche Entwick- lungsmodell nicht unmittelbar auf China übertragen Dr. Werner Hoyer (FDP): lässt. Zwar ruht heute die Herrschaft der KP Chinas Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es nicht mehr auf dem Kommunistischen Manifest, doch ist gut, dass Kollege Trittin diese Debatte mit Bemerkun- sind weder Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit noch gen zu den Opfern der Erdbebenkatastrophe in China Bürgergesellschaft an seine Stelle getreten. Ihre Herr- eröffnet hat. Es ist immer wieder erforderlich, dass wir schaftslegitimation zieht die chinesische KP aus dem unser Mitgefühl mit den Opfern zeigen, unsere Hilfsbe- wirtschaftlichen Erfolg und – als Surrogat für die Partizi- reitschaft anbieten und vor allen Dingen die Dimension pation – aus zunehmendem Nationalismus. dieser Katastrophe begreifen, die wahrscheinlich alles Bei uns wird immer wieder angenommen, dass sich übertrifft, was wir in den letzten Jahrzehnten erlebt ha- aus den verstärkten wirtschaftlichen Beziehungen auto- ben. Das wird eine dauerhafte Aufgabe sein, auch dann, matisch eine Weiterentwicklung des politischen Systems wenn die Medien nicht mehr unmittelbar vor Ort sind. in unserem Sinne ergeben muss. Vor dem Glauben an ei- Denn der nächste Winter kommt bestimmt. Auch dann nen solchen Automatismus, denke ich, gilt es zu warnen. werden dort noch zig Millionen Menschen betroffen sein, die unsere Hilfe und Solidarität brauchen. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da hat er recht!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Denn es ist eine falsche Annahme, die chinesische Füh- rung betreibe freiwillig oder unfreiwillig eine Politik, an (B) Es wäre auch nicht schlecht, wenn wir einmal, zum (D) deren Ende zwangsläufig die eigene Selbstentmachtung Beispiel beim Katastrophenschutz, von den Chinesen in einer Mehrparteiendemokratie und einem Rechtsstaat lernen würden. Von China lernen, das ist ohnehin etwas, mit Gewaltenteilung und unabhängiger Rechtsprechung was wir uns auf die Fahne schreiben sollten, anstatt stän- stehen müsse. Gerade hier stößt das von vielen propa- dig nur oberlehrerhaft gegenüber China aufzutreten. gierte Konzept „Wandel durch Handel“ an seine Gren- zen. Es muss von der Politik begleitet werden. Ich lehne (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei das Konzept „Wandel durch Handel“ nicht ab, glaube Abgeordneten der LINKEN und des Abg. aber, dass es weder absolut gilt, wie das manchmal dar- Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gestellt wird, noch automatisch zum Erfolg führt. Selten gab es im Bundestag und in Deutschland eine Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen, so intensive Auseinandersetzung mit China wie in die- welche Risiken für Chinas Entwicklung in Zukunft ent- sem Jahr. Das ist gut und richtig. Trotzdem fällt auf, dass stehen könnten, zum Beispiel aufgrund der inneren Ent- wir uns eigentlich immer nur mit Einzelfacetten befas- wicklung, der wirtschaftlichen Entwicklung, des großen sen. Armutsgefälles und des Verhältnisses von Nationalstaat Mein Eindruck ist: Das Tempo der Veränderung, nicht zu Provinzen. nur in der ökonomischen Sphäre, wird bei uns weder Um sich auf Schwierigkeiten einzustellen, sollte man analytisch noch konzeptionell nachvollzogen. Stattdes- aus unserer Sicht nicht nur mit China selbst über die sen dominieren verschiedene Facetten das Bild: Facetten weitere Entwicklung sprechen, sondern auch die Nach- der Geschichte einer großen und Tausende Jahre alten barn Chinas und die gesamte Region stärker in den Kulturnation, Facetten der Geschichte des Kommunis- Dialog einbeziehen. Das gilt für unsere traditionellen mus, Facetten der Vielfalt der Völker und Regionen Chi- Verbündeten wie Japan und Südkorea, aber auch für die nas, die zusammenzuhalten für jede chinesische Regie- ASEAN-Staaten. rung eine gigantische Herausforderung ist, Facetten wie Menschenrechte, Umwelt, Klima, Wahrnehmung inter- Je mehr wir ein Umfeld schaffen, in dem wir die Ent- nationaler Verantwortung, Religionsfreiheit, Medienfrei- wicklung Chinas positiv begleiten, und je mehr sich die heit und vieles mehr. Deutschen und die Europäische Union bei der Gestal- tung dieses Umfeldes engagieren – allerdings als Ergän- In der Antwort der Bundesregierung auf die Große zung und nicht als Alternative zum Ausbau unserer bila- Anfrage sind viele gute Informationen enthalten. Man teralen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen –, findet Aussagen über Stärken und Schwächen. Aber wie desto besser ist die Aussicht darauf, dass sich die posi- bewerten wir das? Offenbar gibt es ja, wie wir heute 18210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Werner Hoyer (A) Morgen festgestellt haben, zwei China-Politiken der seine Traumata hat. Stabilität und harmonische Ent- (C) Bundesregierung, wenn nicht mehr. wicklung sind ein Stichwort, Zusammenhalt der Nation – so viele Ethnien leben in China – ist ein anderes. Und Wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass hier dann ist da dieses Relikt des Altkommunismus, nämlich der klassische Konflikt zwischen Gesinnungsethik und die Haltung zu Religion und Religionsfreiheit: Religion Verantwortungsethik besteht. Für die Glaubwürdigkeit als Opium für das Volk. Es ist höchste Zeit, dass auch in Wertefragen und die Bedienung eigener taktischer unsere chinesischen Partner Marx in die Mottenkiste oder innenpolitischer Zwecke ist immer angesagt, sich packen. auf die Gesinnungsethik zu berufen. Wer aber auch und gerade in Wertefragen, zum Beispiel bei der Verbesse- Bisweilen fragt man sich, warum unsere chinesischen rung der Menschenrechtslage, etwas erreichen und seine Partner es uns so schwer machen, warum sie nicht mehr eigenen Interessen strategisch wahren will, der kommt Gelassenheit, warum sie nicht mehr Selbstbewusstsein allein mit der Berufung auf die Gesinnungsethik nicht an den Tag legen, wie es ihrer Kultur und Tradition ei- aus. Wir sollten uns nicht dem Vorwurf aussetzen, mehr gentlich entspricht. Warum zum Beispiel greifen sie, wie am Beifall zu Hause interessiert zu sein, wenn wir Fehl- kürzlich geschehen, auf die Sprache der Kulturrevolu- entwicklungen anprangern, als an der Lösung der Pro- tion zurück und lösen damit bei uns so viele Irritationen bleme, unter denen die Menschen vor Ort leiden. aus? Wir sollten unsere chinesischen Partner ermutigen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gelassener zu sein, souveräner zu sein und nicht jede kri- der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) tische Anmerkung als Anschlag auf die nationale Einheit oder auf die stabile und harmonische Entwicklung zu Nur das Gesamtbild kann die Grundlage eines strategi- empfinden. Weder eine Abkehr von der Ein-China-Poli- schen Ansatzes sein. tik noch eine Destabilisierung Chinas kann Ziel oder Motiv deutscher Politik sein. Bei der Analyse kommt man zu völlig unterschiedli- chen Ergebnissen, je nachdem, ob man diesen Ansatz (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten statisch oder dynamisch auslegt. Der Status Chinas und der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- der Status unserer Beziehungen geben an vielen Stellen SES 90/DIE GRÜNEN) Anlass zu Kritik. Man muss aber sehen, woher China kommt und wohin es sich in den letzten 20 Jahren entwi- Es gibt große Probleme, es gibt aber auch Fort- ckelt hat. Man muss den gewaltigen Fortschritten Rech- schritte. Es gibt eine Riesenarmut, und die Schere zwi- nung tragen und zumindest einmal feststellen, dass die schen Arm und Reich öffnet sich weiter. Aber man muss Entwicklung im Großen und Ganzen in die richtige auch sehen: Zwischen 1959 und 1961 sind 30 Millionen Richtung geht. Menschen durch Hunger umgekommen. So etwas wäre (B) im heutigen China nicht mehr möglich. Das muss man (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten anerkennen. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit gibt es über die Frage der Menschenrechte weit hinaus viele Dinge, die Es kommt auf die Basis an, auf der man Kritik äußert. man sich noch wünschen würde. Aber die Chinesen ar- Niemand wird von uns erwarten – von uns Liberalen beiten daran, und das, was erreicht worden ist, ist enorm. schon gar nicht –, dass wir unsere Grundüberzeugungen Es ist auch ein Ergebnis kleiner Beiträge deutscher Poli- in Menschenrechtsfragen über Bord werfen oder sie ver- tik; das sollten wir nicht verstecken. stecken. Aber für eurozentrische Besserwisserei, für Überheblichkeit sollte kein Platz sein. Ehrlichkeit und (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei die Vermeidung doppelter Standards sind angesagt. Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Noch vieles ist umzusetzen. Wir sollten uns als Partner Als Freund Chinas, auf der Basis von Respekt und anbieten. Sympathie kann man heutzutage chinesischen Ge- Ab nächster Woche ist Tibet wieder für Ausländer sprächspartnern gegenüber die heikelsten Themen an- geöffnet. Das ist eine gute Nachricht. Ich danke dem sprechen. Präsidenten dafür, dass er eine Anmerkung zur Reise des (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Jawohl!) Menschenrechtsausschusses gemacht hat. Denn die Veränderungsdynamik Chinas geht weit über Auch in der Tibet-Frage sind Ehrlichkeit und Realis- die ökonomische Sphäre hinaus. Im Grunde beobachten mus angesagt, sowohl was die Historie angeht als auch wir einen faszinierenden Prozess der Verwestlichung. was die Gegenwart und die Zukunft angeht. Unser Rat Wir sollten das nicht als Bedrohung empfinden, sondern an die chinesischen Freunde lautet: Ihr seid gut beraten, als Chance. den direkten Dialog mit dem Dalai-Lama zu suchen und den Dialog ernsthaft zu führen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD und des Abg. (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Warum sind manche Fragen in der Diskussion mit den chinesischen Partnern so heikel? Weil das Riesenreich Wer weiß, was nach ihm kommt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18211

Dr. Werner Hoyer (A) Wir erwarten, dass unsere chinesischen Partner die Ich denke, es ist gut, dass der Bundestagspräsident (C) Gesetze zum Schutz der Tibeter tatsächlich umsetzen. angesprochen hat, dass der Menschenrechtsausschuss Wir müssen allerdings unseren tibetischen Gesprächs- nicht nur nach China möchte, sondern in unserem Na- partnern gegenüber klarmachen, dass auch Gewalt von men auch soll, und dass das Argument – wir nehmen das ihrer Seite nicht nur nicht zielführend, sondern inakzep- natürlich ernst –, dass man dort im Moment wegen der tabel ist. Erdbebenkatastrophe nicht zur Verfügung stehen kann, noch einmal überdacht werden sollte, damit diese Reise (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten möglich wird. der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das heißt, dass wir in den Gesprächen mit dem religiö- der CDU/CSU) sen Führer der Tibeter – die wir selbstverständlich füh- ren dürfen – sagen müssen, dass wir um eine präzise De- Herr Kollege Hoyer, ich stehe nicht an, deutlich zu sa- finition von Autonomie nicht herumkommen gen, dass vieles von dem, was Sie hier vorgetragen ha- ben, auch den Intentionen der sozialdemokratischen (Zustimmung von der LINKEN) China-Politik entspricht. Herr Kollege Trittin, ich weiß, und dass wir keine Forderung unterstützen – die wird dass das kräftige Sowohl-als-Auch, das bei der Beant- nicht von ihm kommen, aber möglicherweise von ande- wortung kompliziertester Fragen häufig auch eine ren –, die auf eine Destabilisierung Chinas hinauslaufen Grundposition von Willy Brandt gewesen ist, auch auf würde. das Problem hier zutrifft. Unter dem Strich: Sehen wir China als Partner oder Ich sage an dieser Stelle: Natürlich sind wir alle im als Gegner? Meine Damen und Herren, der Westen hat Respekt vor Papieren, Auffassungen, Reiseergebnissen keine China-Strategie. Partnerschaft oder Eindäm- und Diskussionen in unserem Lande daran interessiert mung? Eindämmung ist das Thema neokonservativer und von unserem Anspruch her auch dazu verpflichtet, Think Tanks in den Vereinigten Staaten und woanders. eine China-Strategie zu entwikkeln. Zu einer Strategie Eines müssen wir in der Tat eindämmen, nämlich den bedarf es aber natürlich auch des Sich-Einlassens auf Nationalismus, der auch in China droht, strategische Positionen. Hier ist gesagt worden, dass dem natürlich nicht nur der chinesische Pragmatismus (Zurufe von der FDP: Sehr richtig!) gelegentlich entgegensteht, der diese Dinge für uns kom- wenn wir die Empfindungen der Menschen in China in pliziert, weswegen auch die Aufforderung an die chine- unsere Überlegungen nicht hinreichend einbeziehen. sischen Partner ergeht – wie meine Vorredner das schon gesagt haben –, sich auf diese ehrliche Debatte so einzu- (B) Wer China ständig nur als Bedrohung und strategi- lassen, wie sie sich im eigenen Land auch auf die Über- (D) schen Widersacher sieht, wird China als strategischen windung ihrer schrecklichen Vergangenheit und Trau- Gegner bekommen und – noch wichtiger – nichts von mata – denken Sie nur an die Kulturrevolution und an den Dingen erreichen, die uns hinsichtlich der inneren das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens Probleme Chinas besonders am Herzen liegen. Bei kei- im Jahre 1989 zurück – eingelassen haben. nem dieser Probleme werden wir dann etwas zum Besse- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ren wenden können. Ich denke, dass wir dadurch herausgefordert werden, Herzlichen Dank. Positionen zu überwinden, die 1966 bis 1969 während (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei der ersten Großen Koalition zum Ausdruck kamen – sie Abgeordneten der CDU/CSU) sind heute nicht angeklungen –, als Kurt Georg Kiesinger den Deutschen zurief: „Ich sage nur China, Vizepräsidentin : China, China“. Auch wegen der offenen und ehrlichen Aussprache – an dieser werden wir uns messen lassen; Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für das gilt aber auch für unsere chinesischen Partnerinnen die SPD-Fraktion. und Partner – sind die Ängstlichkeit in diesem Zusam- (Beifall bei der SPD) menhang und die Mystifizierung des chinesischen Part- ners ebenfalls bei weitem überwunden. Walter Kolbow (SPD): (Beifall bei der SPD) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie der Kollege Trittin und der Kollege Hoyer, so will Ich denke, dass durch das EU-Projekt zur Durchfüh- auch ich für die SPD-Bundestagsfraktion noch einmal rung von Dorfwahlen in China – um eines herauszugrei- das Mitgefühl für die Erdbebenopfer zum Ausdruck fen, von dem ich glaube, dass dadurch Optimismus ge- bringen und in diesem Zusammenhang deutlich machen, weckt werden kann –, das von 2001 bis 2006 dass die Hilfen, die von der Bundeswehr und den vielen durchgeführt worden ist – inzwischen sind Dorfwahlen Spenderinnen und Spendern öffentlich und privat geleis- anerkannter Bestandteil der administrativen Strukturen tet worden sind, geholfen haben und sicherlich auch wei- in der Volksrepublik China –, deutlich gemacht wird, ter helfen werden. dass eine solche Kooperation möglich ist, dass es über einzelne Inhalte dieser Kooperation hinausgehen kann (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der und dass sie Basis für Strategien werden kann; denn auf FDP) dem 17. Parteitag im Oktober 2007 hat sich der General- 18212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Walter Kolbow (A) sekretär Hu Jintao immerhin zu dem Ziel der Partizipa- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): (C) tion und zur Basisdemokratie in der Bevölkerung be- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kannt. Daneben hat er auch unter der Überschrift Auch ich möchte für die Fraktion Die Linke meine Über- „Harmonisierung der Gesellschaft“ den Anspruch ver- legungen damit beginnen, Beileid und Mitgefühl für die kündet, dies weiterzuentwickeln. Wir haben diesen Weg furchtbare Naturkatastrophe auszusprechen. Es liegt eingeschlagen und führen Diskussionen, auch mit den zwar kein Antrag vor, aber vielleicht kann man das Verantwortlichen in der Kommunistischen Partei Chi- – ähnlich wie es der Auswärtige Ausschuss bereits getan nas. Dort ist ein Diskussionsprozess eingeleitet worden, hat – im Namen aller Fraktionen des Deutschen Bundes- zu dem auch die Auseinandersetzung mit dem Alleinver- tages den chinesischen Partnerinnen und Partnern über- tretungsanspruch gehört. Die Diskussion verläuft zwar mitteln. Ich würde das sehr begrüßen; denn es erleichtert zögerlich, aber immerhin hat sie begonnen. Dabei wird vieles, wenn man die eigenen Überlegungen aus einer der Blick auch auf Parteiendemokratien in anderen Län- solchen Position heraus vertritt. Ich sehe in diesem dern gerichtet. Punkt auch keine Differenzen. Aber was die Strategie, mit der dieses Land mit sei- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nen 1,3 Milliarden Einwohnern den Herausforderungen neten der SPD und der FDP) begegnet, und die bereits angesprochene Gefahr des Na- Wenn man versucht, den Stellenwert unserer Bezie- tionalismus angeht, müssen wir Geduld aufbringen und hungen zu China strategisch einzuordnen – aus meiner auch mit Rückschlägen fertig werden. Wir müssen aber Sicht ist das Verhältnis Deutschlands bzw. der Europäi- auch dazu beitragen, solche Rückschläge zu vermeiden. schen Union zu China, um das es heute geht, eine der wichtigsten Fragen der deutschen Außenpolitik –, dann (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ist es zu bedauern, wenn in der Antwort der Bundesre- FDP) gierung auf die Große Anfrage der Grünen nur auf Ein- Es ist deutlich geworden, dass die Chinesen welt- zelprojekte und einzelne Ressorts verwiesen wird. politische Spieler sind, ohne die in Bereichen wie Grundsätzlich stellt sich die einfache Frage, ob es so Entspannung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und frie- etwas wie eine deutsche China-Politik gibt, welches ihre densschaffende Maßnahmen auch in Hotspots der Welt- Grundzüge sind und ob die Beziehungen zu China ei- gemeinschaft keine Erfolge mehr erzielt werden können. nen strategischen Stellenwert für Deutschland haben. Gerade das Beispiel Nordkorea zeigt, dass China mittler- Herr Staatsminister, ich habe mich schon mehrfach da- weile gewillt und fähig ist, seiner politischen Verant- rüber beschwert, dass die Bundesregierung alle mögli- wortung in den internationalen Beziehungen nachzu- chen Politikfelder mit dem Etikett „strategisch“ versieht. (B) kommen und damit auch eine konstruktive Rolle in Es gibt zwar strategische Partnerschaft und strategische (D) brennenden Situationen wie einem Atomkonflikt einzu- Zusammenarbeit, aber in den meisten Fällen ist damit nehmen bereit ist. Auch daran muss man den chinesi- kein großer strategischer Inhalt verbunden. Die Zusam- schen Partner messen und dieses positive Engagement menarbeit zwischen Deutschland und China hätte tat- auch auf andere Krisenregionen wie den Iran oder den sächlich einen strategischen Stellenwert. Es muss doch Sudan übertragen. der Bundesregierung möglich sein, diesen strategischen Stellenwert nicht auf einzelne Bereiche beschränkt – das Ich denke, dass es intellektuell durchaus redlich ist, ist Verschwendung –, sondern zusammenfassend zu for- wenn wir uns – auch vor dem Hintergrund unserer Ent- mulieren. Ich finde, das ist ein Mindestanspruch, den schließungen zu den Laogai-Lagern und zur Verfolgung man erheben muss. der Falun Gong – auch mit dem Thema Tibet befassen. Wir wollen das nicht überheblich mit erhobenem Zeige- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- finger tun – das wurde bereits angesprochen –, sondern neten der FDP) wir gehen auch dieses Thema mit Respekt vor einem China ist eine Weltmacht oder auf dem Weg zu einer Dialog, der zum Ziel führen soll, an und laden die chine- Weltmacht. Ich will gleich hinzufügen, damit das nicht sischen Partner ein, die Verhandlungen mit den Exiltibe- falsch ausgelegt wird: Ich war immer und bin ein Gegner tern wieder aufzunehmen. Wir machen deutlich, dass wir einer unipolaren Welt und von Ansprüchen auf eine sol- auf Ergebnisse setzen und dass die Aufnahme von Ver- che Welt. Die Alternative zu einer unipolaren Welt ist handlungen vor dem Beginn der Olympischen Spiele ein nicht eine bipolare Welt. Die Alternative dazu ist viel- sinnvolles Zeichen des Friedens wäre, der diese Spiele mehr eine Gemeinschaft unterschiedlicher Akteure, Völ- begleiten soll. ker und Vereinigungen. Das macht einen großen Unter- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der schied in der Betrachtung unseres Verhältnisses zu China aus. FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Ich danke Ihnen. Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, hört sich banal an, obwohl er fast die Grundlage für alles ist. Ich finde es herausragend, dass heute keine Menschen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mehr in China verhungern. Die einfache Überlebens- Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege frage nach einer Schale Reis ist beantwortet. Es gibt in Wolfgang Gehrcke das Wort. China sicherlich Armut, Ungerechtigkeit und viele unge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18213

Wolfgang Gehrcke (A) löste Probleme. Aber dass dieses Land mit einer Milliar- Nationen, der Sprachen, der Sitten und der Gebräuche (C) denbevölkerung es schafft, seine Menschen zu ernähren, vorsieht. ist ein gewaltiger Schritt, den man nicht mit kleiner Münze beantworten darf. Aus meiner Sicht ist das tief (Beifall bei der LINKEN) beeindruckend. Das ist Gegenstand der chinesischen Verfassung. Es liegt (Beifall bei der LINKEN) in der Auseinandersetzung der Kooperation zwischen Tibetern und Chinesen, dies in die politische Praxis um- Wir sollten versuchen, zu ermessen, was es bedeutet, zusetzen. wenn Menschen nicht mehr verhungern müssen. Ich sage Ihnen aber auch: Die Definition des Dalai- Drittens müssen wir uns darüber klar sein, dass kein Lama – er war Gast bei uns im Auswärtigen Ausschuss – Weltproblem ohne die Hilfe oder – genauer gesagt – von Autonomie – nicht auf das Gebiet Tibet, sondern auf ohne aktive Mitarbeit Chinas zu lösen ist. Wir sollten die Abstammung bezogen; er sprach wörtlich von Reli- uns wünschen, dass China in noch stärkerem Maß Ver- gion und Blut – lässt sich schwer in Rechte fassen. antwortung in der Weltpolitik übernimmt. Ich will ei- (Beifall bei der LINKEN) nige Bereiche nennen. Die Bewältigung von Klimaent- wicklung und Klimakatastrophen, die Beantwortung der Aber auch eine solch offene Sprache gegenüber unseren Fragen nach dem ökologischen Überleben der Welt und Partnern kann man sich doch nicht gegenseitig untersa- die Bekämpfung des Hungers in allen Teilen der Welt gen. Überlegen Sie sich einmal: Wenn in China Ähnli- sind ohne China nicht möglich. ches wie in der damaligen Sowjetunion passiert wäre, eine Auflösung des Staatengebildes in Einzelstaaten, Ich will auch ansprechen, warum es uns so schwer- dann hätte dies die Welt nicht ausgehalten. fällt, die Stärke und den Einfluss Chinas bei einer friedli- chen Lösung in Afghanistan zu nutzen – das ist eine ein- (Beifall bei der LINKEN) fache Überlegung –, und zwar in Kooperation mit den Nachbarn Afghanistans, dem Iran und anderen, und eine Deswegen muss man vorsichtig sein und den Anfängen entsprechende Politik zu betreiben. mit einer vernünftigen Politik wehren. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte uns, mich selbst immer eingeschlossen, gemeinsam mahnen, in Stil und Gestus einen anderen Das hieße, Militär endlich mit Politik zu beantworten. Umgang zu pflegen. Allzu oft klingt in unseren Reden durch: Wir sind die Belehrenden, und ihr seid die Ler- Ich glaube zudem, dass wir keine Lösung in den Fra- nenden. Dieser Gestus kann gerade vor dem Hintergrund (B) gen betreffend das Atomprogramm Nordkoreas und das der Kolonialgeschichte Europas in China nicht akzep- (D) mögliche Atomprogramm des Irans erreichen, wenn wir tiert werden. China nicht als fairen Mittler – China hat das Recht, die westliche Politik nicht ständig zu unterstützen und ihr zu (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten widersprechen – in Anspruch nehmen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Das Land legt großen Wert auf Würde, Stolz und Selbst- bewusstsein. Wir müssen eine Sprache finden, in der Außerdem wird es eine Reform der UNO ohne China nicht immer der Eurozentrismus in Erscheinung tritt. Ich nicht geben – das ist klar –, nicht nur weil China Mit- denke, es ist wichtig, dass der belehrende Ton weg muss. glied des UN-Weltsicherheitsrates ist. Hat es nicht auch für die deutsche Politik eine hohe Bedeutung, dass wir (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: War über China einen besseren Draht zu den sogenannten das vielleicht eine Kritik an Herrn Blockfreien – obwohl es keine Blöcke mehr geben soll – Lafontaine?) entwickeln könnten? – Ich erinnere daran, dass ich vorhin von kleiner Münze China kann in mehrfacher Hinsicht für eine koopera- gesprochen habe, Herr Kollege. tive Welt nutzbringend sein. Die Grundlage dazu ist – ich Ich will eine letzte Bemerkung zur chinesischen Au- finde es spannend, Herr Kollege von Klaeden, dass das ßenpolitik machen. Ich finde die chinesische Außen- in Ihrer Rede überhaupt nicht auftauchte; aber das müs- politik durchaus berechenbar. Sie bewegt sich sehr hart sen Sie selber wissen – eine Ein-China-Politik. Gerade am Text der Charta der Vereinten Nationen. von einer Partei wie der CDU/CSU, die sich zu einem Zeitpunkt, als ich eine gegensätzliche Position vertrat, so (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: sehr für eine Ein-Deutschland-Politik eingesetzt hat, Auch hinsichtlich der Waffen?) hätte ich, was eine Ein-China-Politik betrifft, mehr Auf- merksamkeit und Klarheit erwartet. Ich finde – damit will ich abschließen, Frau Präsidentin, obwohl noch vieles zu sagen wäre –, dass die Bundes- (Beifall bei der LINKEN) regierung in ihrer Antwort auf die entsprechende Frage etwas sehr Vernünftiges geschrieben hat. Ich zitiere: Vor diesem Hintergrund müssen wir gemeinsam über eine Lösung des Tibet-Problems nachdenken. China Da der Erhalt eines friedlichen Umfeldes für die wäre gut beraten, sich an die eigene Verfassung exakt zu Entwicklung des Landes höchste Priorität besitzt, halten, die autonome Regionen sowie die Gleichheit der ist Chinas Militärpolitik und -doktrin defensiv 18214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Wolfgang Gehrcke (A) ausgerichtet; der Ersteinsatz von Nuklearwaffen menarbeiten. Dieses Land hat sich selbst zurückgezogen (C) wird ausgeschlossen. und den Austausch nicht gepflegt. Jetzt ist es zurück. Beide Seiten lernen, nicht nur, weil wir dazu genötigt Wenn ich das Gleiche von den USA behaupten könnte, sind, sondern auch, weil wir Freude daran haben, mit dann wäre ich sehr glücklich und dann wäre der Welt dieser neuen Herausforderung umzugehen. wirklich gedient. Es ist ein Land mit einer ungewöhnlichen wirtschaft- (Beifall bei der LINKEN) lichen Dynamik. Die Welt nimmt das erstaunt zur Kennt- In diesem Sinne möchte ich gerne, dass wir zusam- nis, häufig genug voller Angst. Es gibt eine Verringe- men eine vernünftige Politik entwickeln. rung von Armut im großen Stil. Ist das denn gar nichts wert? Warum reden wir nicht darüber, Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Beifall bei der LINKEN) und der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dass dieser Weg der wirtschaftlichen Liberalisierung Chinas zu einer Verringerung von Armut führt wie in In- Nächster Redner ist der Kollege Erich Georg Fritz für dien und Brasilien auch? Ich habe manchmal das Gefühl, die CDU/CSU-Fraktion. alle, die früher vom Teilen geredet haben, haben damit nichts mehr im Sinn, wenn etwas plötzlich über den Erich G. Fritz (CDU/CSU): Wettbewerb erworben und nicht mehr gnädig gegeben Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wird. China ist nun einmal in der Rolle dessen, der sich Kollegen! Die Antwort der Bundesregierung auf die seinen Anteil über den Wettbewerb nehmen kann. Frei- Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, lich gibt es auch an dieser Form des Wettbewerbs das Herr Trittin, ist tatsächlich zu einem Kompendium über eine oder andere zu kritisieren. China geworden. Wenn Sie die Struktur bemängeln, Herr Kollege Trittin, dann muss ich Ihnen sagen, dass Der politische Bedeutungszuwachs Chinas ist noch sie, wie Sie bei der Lektüre feststellen können, aus- nicht immer in Peking und in der Welt mit den richtigen schließlich an Ihrer Frageweise liegt. Von daher dürfen Ressourcen hinterlegt. Aber das ist doch kein Wunder. Sie sich nicht beklagen, wenn die Bundesregierung so Wenn Sie sich einmal anschauen, wie schnell der Gene- antwortet, wie Sie gefragt haben. rationenwechsel in der Führungsschicht und bei den in- ternational Aktiven gelungen ist, dann ist es schon er- Ich glaube, dass die Antwort der Bundesregierung auf staunlich, welche Qualität man vorfindet. die Anfrage ziemlich genau das ganze Feld der inneren (B) Entwicklung Chinas mit seinen Erfolgen und Widersprü- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr wahr!) (D) chen darlegt. Sie zeigt die unendlichen Bedürfnisse und Darauf müssen wir uns einstellen. Da gibt es neue He- Möglichkeiten, die in einer Zusammenarbeit Europas rausforderungen, die wir erst einmal bestehen müssen. und insbesondere Deutschlands mit China liegen. Ich Aber noch ist und fühlt sich China nicht in der Lage, in habe den Eindruck, dass die Antwort weder politisch ge- jeder Weise, zu jeder Zeit und an jeder Stelle Verantwor- schönt noch zu drastisch ist. Sie nennt einfach die Dinge tung zu übernehmen. Diese Ansprüche an die Über- beim Namen. Insofern halte ich die Antwort im Sinne ei- nahme von Verantwortung in internationalen Angele- nes vernünftigen Umgangs mit unserem Partner für an- genheiten, an Chinas Mitgestaltung werden aber gestellt. gemessen. Deshalb muss sich China von vielen, allein auf nationa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) les Interesse konzentrierten Vorstellungen lösen. Bei der Zusammenfassung kommt man zu einigen Diese positive Entwicklung Chinas bedeutet aber Einschätzungen, die für die weitere Diskussion vielleicht auch, dass China es jetzt mit Ängsten und Widerständen nicht unwesentlich sind. 30 Jahre wirtschaftliche Refor- auf der Welt zu tun hat, mit denen umzugehen es bisher men und Entwicklungen in China haben nicht nur dieses überhaupt nicht gewohnt war. Deshalb sind manche Re- Land, sondern auch die Welt verändert. Das heißt für aktionen, die wir in den letzten Monaten erlebt haben, China und für die Welt, dass ein altes Kulturvolk auf die natürlich vor diesem Hintergrund zu sehen. weltpolitische Bühne zurückgekommen ist. China muss soziale und regionale Disparitäten aus- Wenn man sich klarmacht – Herr Gehrcke, vielleicht gleichen. Dagegen ist der Ausgleich in den Beitrittslän- mit Ihrer begeisternden Zustimmung früher –, was die- dern der Europäischen Union geradezu eine Bagatelle, ses Volk auf diesem Weg mitgemacht hat, ist die Kraft, obwohl wir wissen, wie schwierig solche Prozesse sind. ist der Elan, sind die sich entwickelnden Fähigkeiten ge- Die Rohstoffsicherung für eine so dynamisch wachsende radezu bewundernswert, die China an den Tag legt. Wirtschaft zu betreiben, ist natürlich eine Herausforde- rung. Für die gab es auch in China kein Drehbuch. Wir (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sagen Sie beklagen uns zu Recht, dass wir da einem Prozess zu- das mal Ihren Kollegen!) schauen, den wir in seinen Auswirkungen wenig beein- flussen können und den wir an vielen Stellen in der Art Dass nicht nur wir Deutsche, sondern dass die Welt des Vorgehens nicht gutheißen. Probleme hat, den kulturellen Hintergrund dieser Ent- wicklung zu lesen – das gilt nicht nur für Unternehmer, Mit internationalen Ansprüchen auf Standards für sondern auch für Politiker, für alle, die mit China zusam- Menschenrechte, Ressourcenschonung, Klimaverantwor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18215

Erich G. Fritz (A) tung, soziale Entwicklung und den Ausbau des Rechts- nutzen. Dann wird es eine Entwicklung zum gegenseiti- (C) staats wird China von allen Seiten konfrontiert. Wir sind gen Vorteil geben. an diesem Prozess beteiligt. Jeder, der diese Gespräche Herzlichen Dank. führt, weiß, dass die Möglichkeit eines Dialogs, das Ver- ständnis für diesen Dialog und die Bereitschaft, sich ein- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der zulassen, in China zugenommen haben, auch wenn die FDP) Ergebnisse nach wie vor nicht so sind, wie wir sie gerne hätten. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Vorteile aus der Öffnung der Märkte für chine- Für die Bundesregierung spricht nun Herr Staats- sische Produkte sind natürlich mit dem Anspruch hinter- minister Gernot Erler. legt, die Regeln, die man unterschrieben hat, konsequent (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einzuhalten und alles dafür zu tun, dass in Peking nicht nur ein Gesetz gemacht wird, sondern dass man sich Dr. h. c. Gernot Erler, Staatsminister im Auswärti- auch vor Ort in den Unternehmen, in den Handelsströ- gen Amt: men an die akzeptierten Regeln hält. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vielfältigen Umweltprobleme und deren Folgen Auch ich möchte diese Debatte nutzen, um noch einmal für die Bevölkerung dürfen nicht länger verdrängt wer- unser tiefes Mitgefühl für die Opfer der Erdbeben- den. Dies bietet eine ganz neue Form der Zusammen- katastrophe vom 12. Mai zum Ausdruck zu bringen. arbeit. Der Bericht der Bundesregierung zeigt, was darin Das Ausmaß dieser Katastrophe, bei der über 5 Millio- steckt und was wir auf diesem Feld zum Vorteil beider nen Wohnhäuser zerstört wurden, ist schwer vorstellbar. Seiten leisten können. Die chinesische Regierung hat schnell reagiert, die chi- nesische Gesellschaft hat große Solidarität mit den Be- Einzusehen, dass auf Dauer ein modernes, weltoffe- troffenen gezeigt. Die Offenheit, mit der die chinesische nes China, wirtschaftlich erfolgreich und international Führung auf die internationalen Hilfsangebote, auch auf angesehen, den Bürgern nicht die wesentlichen Partizi- unsere, reagiert hat, hat Eindruck gemacht und dazu bei- pationsmöglichkeiten vorenthalten kann, zu akzeptieren, getragen, dass diese Hilfe schnell bei den Betroffenen dass Menschenrechte nicht nach Gutdünken verweigert ankam. Dass dies nicht selbstverständlich ist, wissen wir werden können, dass Meinungs- und Religionsfreiheit von anderen aktuellen Katastrophenfällen. Wir werden nicht unterdrückt werden können, wenn man diesen Pro- China auch bei den jetzt anstehenden Aufgaben der Si- zess nicht innerhalb des eigenen Landes gefährden will, cherung und des Wiederaufbaus nach Kräften unterstüt- und dass man Pluralismus in Gesellschaft und Politik auf zen. (B) Dauer braucht, weil anders die kreativen Kräfte dieses (D) Volkes nicht zu erhalten sein werden – auf dieser Basis (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP ist es möglich, den Dialog mit China zu führen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Wenn man über unsere China-Politik redet, sollte man bei Abgeordneten der FDP) sich zunächst vergewissern, mit welchem Partner man es hier zu tun hat. China ist ein riesiges Land mit 1 300 Mil- Ich glaube, dass der gerade vorhin angeklungene Ge- lionen Menschen, mit einer jahrtausendealten, reichen gensatz zwischen Gesinnungsethik oder werteorientier- Kultur, das in den letzten beiden Jahrzehnten ein gera- ter Außenpolitik und pragmatischer Außenpolitik eine dezu atemberaubendes Entwicklungstempo vorgelegt Konstruktion ist, die eigentlich gar nichts taugt. Es kann hat, mit zweistelligen Wachstumsraten in den letzten doch nur darum gehen, dass wir die Interessen, die auf fünf Jahren und einer äußerst konkurrenzfähigen Außen- beiden Seiten vorhanden sind, die auch gemeinsame sein wirtschaft, die über den Außenhandel inzwischen eine können – ich hoffe, in Afrika wird es in Zukunft besser Devisenreserve von 1,6 Billionen US-Dollar angesam- gemeinsam gehen –, natürlich vor dem Hintergrund der melt hat. Aber China ist eben auch eine Gesellschaft, die eigenen Wertvorstellungen diskutieren. Ich denke, dass vor enorm großen Herausforderungen steht. Wie dieses man dem Anspruch der Chinesen auf Vertrauen und ge- Land mit seinen vielen Völkern und Religionen zusam- rechten und fairen Umgang miteinander und Respekt menhalten? Wie eine Identität und ein Zusammengehö- voreinander umso besser gerecht werden kann, je mehr rigkeitsgefühl für 1,3 Milliarden Menschen schaffen und sich Wertvorstellungen durch einen dauerhaften Dialog aufrechterhalten? Wie die Dynamik des Wirtschafts- einander annähern, und dass daraus ein umso größeres wachstums so steuern, dass möglichst viele Menschen Verständnis und damit erst die Möglichkeit des gegen- am Wohlstandsgewinn teilhaben und dass die Unter- seitigen Respekts erwachsen. schiede zwischen Arm und Reich nicht zu groß werden? Wie eine Balance finden zwischen der notwendigen Es gibt viele Dinge im Zusammenhang mit unserer Handlungsfähigkeit der Regierung und der ebenso not- China-Politik, die diskussionswürdig sind. Aber diese wendigen Transformation und Modernisierung von Staat Politik ist so, weil die Wirklichkeit so ist. Deshalb sollte und Gesellschaft? man sich davor hüten, zunächst einmal eine Schablone zu basteln und dieser die China-Politik anzupassen. Las- Dazu kommt ein unvermeidbarer Lernprozess. Chi- sen Sie uns vielmehr an den Stellen, wo Menschen aktiv nas Rolle als Global Player wächst. Damit schwindet miteinander umgehen, in der Wirtschaft, in der Politik, aber auch Chinas Chance, sich allein auf die eigenen zunehmend in der Kultur, alle Chancen für den Dialog Probleme zu konzentrieren. Vielmehr muss China inter- 18216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. h. c. Staatsminister Gernot Erler (A) nationale, globale Verantwortung übernehmen, und China-Politik – das ist unser Anspruch – muss dieses (C) zwar in Bezug auf Frieden und Konfliktlösung auf ver- Ziel erkennbar bleiben. schiedenen Kontinenten, die Zivilisierung des Wettbe- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. werbs um Rohstoffe und Energieressourcen sowie ge- meinsame Antworten auf die globalen Umwelt- und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Klimawandelprobleme. der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kollegen Trittin, Hoyer und Gehrcke, die Bun- desregierung hat sich, was ihre China-Politik angeht, ent- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schieden. Sie verfolgt eine Grundlinie, die jede Isolie- Nächster Redner ist der Kollege Hellmut Königshaus rung und Ausgrenzung vermeiden will, die auf für die FDP-Fraktion. Einbindung, eine Verantwortungsgemeinschaft und vor (Beifall bei der FDP) allem auf Dialog setzt. (Beifall bei der SPD) Hellmut Königshaus (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind Dabei sind wir schon ein Stück vorangekommen. Wir dem Präsidenten sehr dankbar dafür, dass er eingangs haben seit Jahren einen ernsthaften Strategiedialog – das der Debatte darauf hingewiesen hat, dass noch einige Wort „Strategie“ wurde also aufgegriffen –, einen durch- Menschenrechtsfragen, die im Zusammenhang mit der aus nicht immer einfachen Menschenrechts- und Rechts- Reise des Menschenrechtsausschusses zu sehen sind, mit staatsdialog und einen Umweltdialog. Insgesamt wurden der chinesischen Seite zu diskutieren sind. Dieser Hin- über 30 verschiedene Dialogmechanismen entwickelt. weis war sehr wichtig. Deshalb ist es sehr zu bedauern, Das sind hochrangig besetzte, echte Dialoge, die auf dass wir ausgerechnet die Menschenrechts- und die Ti- gleicher Augenhöhe stattfinden und bei denen wir uns bet-Fragen heute leider voraussichtlich erst gegen auch den kritischen Fragen der chinesischen Seite stel- 22 Uhr unter fast vollständigem Ausschluss der Öffent- len. lichkeit besprechen werden. Das ist eine Politik, die auf konkrete Ergebnisse setzt, Der Eindruck des Kollegen Trittin, dass es der Bun- die auf eine langfristige und nachhaltige Entwicklung desregierung bei der China-Politik an einer kohärenten hinarbeitet, die aber – wie wir mehrfach erfahren haben – Haltung fehlt, ist nicht falsch. Wenn man zur Regie- manchmal auch von tagespolitischen Ereignissen nicht rungsbank schaut, wird auch optisch erkennbar, woran unberührt bleibt. Das war zum Beispiel der Fall bei der das liegen könnte. Kein einziger Bundesminister hat sich hochrangigen Begegnung mit dem Dalai-Lama, die zu zu dieser Kernzeitdebatte hierher bewegt, übrigens auch (B) einer Unterbrechung der bilateralen deutsch-chinesi- nicht Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, obwohl wir sie (D) schen Dialogforen führte. Diese Unterbrechung gehört zur Belohnung mit unserer Auffassung zur Entwick- mittlerweile zum Glück der Vergangenheit an. Es waren lungshilfe für China vertraut gemacht hätten. Das ist mir vor allen Dingen die Bemühungen des deutschen Außen- unverständlich. ministers Frank-Walter Steinmeier – zuletzt bei seiner China-Reise vom 13. bis 15. Juni –, die den Weg für eine (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fortsetzung dieser Dialoge freigemacht haben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Die (Beifall bei der SPD) Frau Staatssekretärin sitzt doch da!) Übrigens sparen diese Dialoge kein Thema aus, auch – Ja, die Staatssekretärin sitzt dort. Ihr sind unsere Auf- nicht die Punkte, bei denen wir uns nachdrücklich eine fassungen bestens vertraut – das weiß ich –; sie nimmt Änderung der chinesischen Politik wünschen, ob das die diese Belohnung immer gern entgegen. massive Anwendung der Todesstrafe, die Administrativ- Wir sind uns beiderseits in dieser Frage schon in vie- haft oder den Umgang mit Dissidenten und mit Minder- len Punkten entgegengekommen. Ich denke, wir sind uns heiten angeht. Unsere Erfahrung ist, dass nur auf partner- einig darüber, dass China – das räumt auch die Bundes- schaftlicher Basis geführte Gespräche etwas bewirken regierung ein – kein Entwicklungsland im klassischen können; nur damit kann man Einfluss nehmen. Sinne mehr ist; viele der Ausführungen hier haben das (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) deutlich gemacht. China ist eine Großmacht: über 1 Bil- lion Euro Devisenreserven, Wachstumsraten, von denen Nach den jüngsten Ereignissen in Tibet haben wir wir hier nur träumen können, Exportweltmeister, wenn mehrfach zu direkten Gesprächen zwischen der chinesi- man die EU-Binnenlieferungen der Deutschen einmal schen Führung und dem Dalai-Lama geraten. Am 4. Mai außen vor lässt. China ist übrigens inzwischen selbst Ge- hat es eine erste Begegnung zwischen Pekinger Offi- ber. Allein nach Afrika fließen 7,5 Milliarden Euro. ziellen und Vertretern des Teams des Dalai-Lama in Shenzhen gegeben. Eine zweite war für den 11. Juni vor- Da stellt sich doch die Frage, warum dieses Land ei- gesehen, wurde aber wegen der Erdbebenereignisse ver- gentlich nach wie vor der größte Nehmer deutscher Ent- schoben. Wir ermutigen dazu, auf diesem Weg weiterzu- wicklungshilfe ist. gehen. (Beifall bei der FDP) Die Welt braucht China als verantwortungsbewussten Etwa 200 Millionen Euro beträgt die ODA-Leistung in- Teilhaber der Weltgesellschaft. In jedem Schritt unserer zwischen. Wir haben uns gestern über Afghanistan und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18217

Hellmut Königshaus (A) über die Frage unterhalten, wo dort die strategischen In- Insbesondere die deutsche Erdbebenhilfe war vor- (C) teressen liegen. Angesichts dessen ist dieser Fakt wei- bildlich. Neben einem mobilen Krankenhaus wurden testgehend unverständlich. Ich frage insbesondere Sie, mehrere Wasseraufbereitungsanlagen und Unterkünfte meine Damen und Herren von der Koalition: Warum zur Verfügung gestellt. Herr Staatsminister, es war gut, machen Sie das weiter mit? Dazu sollten Sie hier eigent- heute Ihre Aussage zu hören, dass diese Hilfe weiter- lich Stellung nehmen. geht, weil angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, der zerstörten Ortschaften, die in dieser Form wahrschein- Wir von der FDP wollen nicht die Einstellung der lich nie wieder aufgebaut werden können, eine länger Entwicklungszusammenarbeit mit China, wie immer be- andauernde Hilfe notwendig ist. Wir leisten sie gern, hauptet wird; wir wollen eine Umstellung, die den ver- weil wir dazu in der Lage sind und weil sie angenommen änderten Voraussetzungen Rechnung trägt. wird. Vielen Dank auch an die Bundesregierung! (Jörg Tauss [SPD]: Nicht diese Polemik die (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der ganze Zeit!) FDP) – Herr Tauss, herzlich willkommen! – Dazu gehört ins- Unsere Hilfe und unser Mitgefühl gelten natürlich besondere, dass wir die Zivilgesellschaft stärken. Die den Menschen in Sichuan, der betroffenen Provinz. Aber bisherige EZ beschränkt sich im Wesentlichen auf die wir sollten auch die politische Dimension dieser geleis- Zusammenarbeit mit staatlichen Organisationen – dafür teten und entgegengenommenen Hilfe nicht unterschät- ist vielleicht noch Stamokap-Denken ein bisschen ver- zen. Damit ergibt sich ein positiver Effekt für die antwortlich –, aber die richtigen Partner für eine nach- deutsch-chinesischen Beziehungen. haltige Entwicklung sind auf Dauer die privaten Unter- nehmen und die zivilen Organisationen. Dahin müssen Jetzt nehme ich das Thema von Herrn Königshaus wir kommen. auf: Entwicklungszusammenarbeit. Genau diesen po- sitiven Effekt erwarten wir auch von der Entwicklungs- (Zuruf von der SPD: Zum Klimaschutz zusammenarbeit mit China, wie sie auch ausgestaltet braucht man auch den Staat!) sein mag. Wir müssen darauf achten, dass China, das selbst (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten überall als großer Investor und auch als großer Geber der CDU/CSU) auftritt, eingebunden wird und koordiniert auftritt mit den traditionellen Gebern, zu denen wir gehören; denn Natürlich könnte China aufgrund der Devisenreser- wir haben gemeinsam die Verpflichtung, die MDGs zu ven – sie sind schon mehrfach genannt worden – infolge erreichen. Wir brauchen die Chinesen, damit sie das des Handelsüberschusses unsere Unterstützung vom fi- (B) nicht konterkarieren. nanziellen Umfang her allein kompensieren. Unsere Zu- (D) sammenarbeit erschöpft sich aber nicht in finanzieller China müssen wir also als Partner betrachten. Des- Unterstützung, sondern wir wollen wirtschaftliche und halb – Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss – müs- finanzielle Hilfen geben. Insbesondere die technische sen wir bereit sein, in unseren Beziehungen, in unserer Zusammenarbeit stellt nicht eine Einbahnstraße dar, son- Entwicklungszusammenarbeit diese neuen Realitäten dern wir bekommen auch etwas zurück, was uns im ge- zur Kenntnis zu nehmen und daraus Konsequenzen zu genseitigen Verhältnis guttut. Ich glaube, zwei Punkte ziehen. sprechen dafür, warum wir an der wirtschaftlichen und der Entwicklungszusammenarbeit festhalten sollten: Vielen Dank. Erstens. Natürlich ist China kein Entwicklungsland (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mehr. Es ist ein Schwellenland, in dem Erste und Dritte der CDU/CSU) Welt manchmal ganz unvermittelt aufeinanderprallen. Vergleiche von China mit anderen Partnerländern der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Entwicklungshilfe gehen häufig fehl. Wenn schon, dann Nächster Redner ist der Kollege Manfred Grund für müsste man China mit Afrika vergleichen: So groß sind die CDU/CSU-Fraktion. die Gegensätze, aber auch die Dimensionen unserer Hilfe. Manfred Grund (CDU/CSU): Zweitens. Der Zweck unserer Entwicklungszusam- Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- menarbeit ist letztlich nicht allein am Volumen der finan- ginnen und Kollegen! Ich glaube, es sind die Bilder des ziellen Hilfe zu bemessen, sondern auch an den Einfluss- schrecklichen Erdbebens, die sich bei uns so tief einge- möglichkeiten, die wir in positivem Sinne dadurch prägt haben – Bilder von Eltern und Lehrern, die unter gewinnen können. den Trümmern von Schulgebäuden und Wohnhäusern (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mit bloßen Händen nach ihren Kindern bzw. Schülern suchen, Bilder auch von erschöpften Helfern. Ich denke Dabei spielt der Wissenstransfer eine große Rolle, ins- ebenfalls an das Bild des chinesischen Ministerpräsiden- besondere geförderte Projekte im Bereich von Umwelt- ten, der sich angesichts dieses Leids seiner Tränen nicht und Energietechnologien. Deutsche Firmen sind mit geschämt hat. Damit einhergehend zeigt sich eine große Umwelttechnologie in China auf dem Markt und setzen Offenheit im Umgang mit dem Ausmaß dieser Katastro- dort einen ganz erheblichen Anteil ihres Volumens um. phe und in der Annahme von Hilfeleistungen. Umgekehrt vermittelt diese Entwicklungszusammenarbeit 18218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Manfred Grund (A) aber auch ein besseres Verständnis der Probleme und der gen und in der Medienberichterstattung entstandene (C) Entwicklungsprozesse in China. Die Entwicklungszu- Zerrbild der Volksrepublik China wieder einigermaßen sammenarbeit ist somit eigentlich ein Entwicklungsdia- in den richtigen Rahmen gerückt wird. log. Ich glaube, allein das ist es wert, daran festzuhalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der CDU/CSU und der FDP) Wir sollten bei allem Kritischen, was hier und heute Ich selbst bin in diesem Jahr dreimal in China gewe- von Vertretern aller Fraktionen angesprochen worden ist, sen, zum ersten Mal während der Ereignisse in Tibet. eines nicht aus dem Auge verlieren: China ist ein Land Ich war zu der Zeit in Schanghai. Ich konnte am Abend mit 1 300 Millionen Menschen, in dem vor 30, 40 Jahren des 14. März noch die Berichterstattung von CNN se- noch Millionen Menschen verhungert sind. Die Regie- hen. Am nächsten Tag wurde die Berichterstattung von rung hat den Menschen dieses Landes erstmals, auch CNN wie auch die anderer Fernsehsender zensiert. Ich wenn es nur schrittweise vorangeht, gesicherte Perspek- habe das für einen Fehler gehalten: CNN zeigte auch tiven eröffnet. Das ist eine Riesenverantwortung, die die brennende Autos und geplünderte Läden, keineswegs Regierenden da auf ihre Schultern geladen haben und die nur demonstrierende Menschenrechtler oder Mönch. Es sie nach meinem Dafürhalten auch nach bestem Wissen war ein schwerer Fehler der chinesischen Politik, die Be- und Gewissen umzusetzen versuchen. richterstattung zu zensieren. Natürlich wird auf Dauer nur ein pluralistisches Sys- Zur Zeit des Erdbebens war ich zum zweiten Mal in tem den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fort- China und in Nordkorea. Ich konnte mich davon über- schritt in China gewährleisten können. Auf Dauer zeugen, mit welcher Hilfsbereitschaft junge Menschen braucht China ein Regierungssystem, welches auf dem vor öffentlichen Gebäuden auf der Straße spontan für die Wettbewerb unterschiedlicher politischer Kräfte beruht. Opfer des Erdbebens sammelten. In Chongqing ließ man Aber wenn wir von einem Wettbewerb der Systeme brennende Kerzen auf kleinen Teppichen über den sprechen, dann haben wir zugleich auch eine Perspektive Jangtse schwimmen – natürlich gegen ein entsprechen- vor Augen. Auf längere Sicht wird es zu diesem Wettbe- des Entgelt –, ebenfalls für die Opfer des Erdbebens. Die werb der Systeme kommen. Im Moment ist es China, Welle von Hilfsbereitschaft war unglaublich. das versucht, sich diesem Wettbewerb zu stellen, und auch erst einmal in diesem strategischen Wettbewerb be- Ich konnte mich in Schanghai von dem unglaublichen stehen muss. Keiner von uns hat versucht, das jetzige po- Enthusiasmus überzeugen, den man vor Beginn der litische System der Volksrepublik zu verteidigen. Ich Olympischen Spiele aufbrachte, als die Fackelläufer glaube aber, wir alle setzen darauf, dass es eine evolutio- durch die Stadt liefen. Tausende von jungen Menschen (B) näre Entwicklung gibt. Es gibt ja in den letzten 20 Jahren standen mit Fähnchen und Bändern am Straßenrand und (D) erkennbare Fortschritte. Der letzte Tiefpunkt waren die winkten. Wir als Europäer wurden freundlich und herz- Geschehnisse auf dem Tiananmen-Platz. Danach gab es lich aufgenommen. Da war nichts von Abkommandieren in weiten Teilen eine sehr verantwortungsvolle Entwick- oder Ähnlichem zu spüren, sondern nur von Enthusias- lung. mus. Vor allen Dingen nach den Erdbeben herrschte das Gefühl vor, von der Führung endlich ernst genommen Was wir brauchen, ist keine unkritische Haltung, son- worden zu sein und eine offene Berichterstattung zu be- dern eine Politik des Verständnisses und des Engage- kommen. ments mit China. Was wir brauchen, ist ein konstruktiv- kritischer Dialog. Das kam heute eigentlich in fast allen Herr Hoyer, ich gebe Ihnen recht: Da bildet sich Na- Reden zum Ausdruck. Ich glaube, wir sind in der Zu- tionalgefühl heraus, nicht Nationalismus. Wer gestern sammenarbeit mit der Volksrepublik China auf einem das Fußballspiel gesehen hat und die Straßen hier bei uns guten Weg. Wir sollten so fortfahren. vor und nach diesem Spiel beobachtet hat, der wird nicht Herzlichen Dank für diese Gemeinsamkeit in der Sa- auf die Idee kommen, dass das, was man gesehen hat, che. Nationalismus war. Ich würde das einmal als völlig nor- malen Umgang mit dem Nationalbewusstsein bezeich- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der nen. Dennoch muss man diese Entwicklung durchaus im FDP) Auge behalten. Vor kurzem bin ich zum dritten Mal in China gewe- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sen, und zwar mit unserem Außenminister und Kollegin- Nun hat für die SPD-Fraktion der Kollege Johannes nen und Kollegen. Diese Reise war sehr erfolgreich, vor Pflug das Wort. allen Dingen deshalb, weil Außenminister Steinmeier (Beifall bei der SPD) nicht nur sehr hochrangige Gesprächspartner hatte und gute Gespräche geführt hat, an denen wir teilweise teil- nehmen konnten, sondern auch, weil er darauf bestanden Johannes Pflug (SPD): hat, dass er und wir Abgeordneten mit Regimekritikern Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sprechen durften, Herren! Lassen Sie mich zunächst sagen: Ich bin sehr froh über diese Debatte am heutigen Vormittag, weil sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sicherlich dazu beitragen kann, dass das in der Vergan- der CDU/CSU und des Abg. Jürgen Trittin genheit in der Öffentlichkeit, aber auch bei Veranstaltun- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18219

Johannes Pflug (A) was von bestimmten Richtungen in der chinesischen Re- Nationen, im EU-China-Dialog, in der ASEM und in an- (C) gierung, die es natürlich auch gibt, so nicht vorgesehen deren Organisationen, muss gestärkt werden. war. Steinmeier hat sich da durchgesetzt. Diese Gesprä- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich stimme che sind für uns sehr nützlich gewesen. dem chinesischen Ministerpräsidenten voll und ganz zu. In der Großen Anfrage steht, dass die Entwicklung in Gleichzeitig betone ich aber, dass wir auch weiterhin un- China bei den Menschen häufig Angst, Besorgnis und sere deutschen, europäischen und westlichen Werte of- ungeheuere Hoffnungen erweckt. Ich denke, das ist zu fen vertreten werden. Dazu gehört selbstverständlich Recht so formuliert. Es wird auch auf die mangelhafte auch, dass wir empfangen und reden werden, wann, wo Lage von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ver- und mit wem wir es für richtig halten. wiesen und die Rolle Chinas in der Zukunft hinterfragt. Niemand hat bisher verschwiegen, dass dieses große Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Land natürlich auch große Probleme hat. Es gibt in Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. China große Umweltprobleme, Korruption – vor allem auf den lokalen Ebenen –, Fehlallokation von Ressour- Johannes Pflug (SPD): cen, vermutlich im Wesentlichen durch die zentrale Man sollte allerdings beachten, dass die Resultate von Steuerung. Es gibt soziale Disparitäten in der Einkom- Treffen und Gesprächen – mit wem auch immer – in ei- mensverteilung, in den sozialen Sicherungssystemen nem vernünftigen Verhältnis zu den mittel- bis langfris- und in der Bildung. Es gibt auch regionale Disparitäten tig verfolgten politischen Zielen stehen müssen. Das zwischen den Küstenstädten, den Großstädten im Landes- wird auch in Zukunft zu Meinungsunterschieden führen. innern, den ländlichen Regionen und vor allem in der In- Wichtig ist jedoch, dass wir darüber offen und ehrlich frastruktur. Aber all diese Probleme werden von der chi- sprechen. Nur dann kann sich Vertrauen bilden, und nur nesischen Führung gar nicht geleugnet; vielmehr werden dann wird aus Kooperation eine konzeptionelle strategi- sie nach meinen Erkenntnissen durchaus sehr gut ange- sche Partnerschaft und schließlich gute Freundschaft gangen. Man versucht, diese Probleme zu lösen. zwischen den Menschen. Das ist wichtig. Was wir sehen müssen, ist, dass China zur Lösung dieser Probleme weiterhin auf hohes Wachstum setzt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Hohes Wachstum erfordert Energie und Rohstoffe. Das Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom- wiederum führt dazu, dass die Welt Chinas Aktivitäten men. auf den internationalen Energie- und Rohstoffmärkten sehr intensiv beobachtet und dass China dabei an die In- Johannes Pflug (SPD): (B) teressensgrenzen anderer Staaten stößt. Hier stellt sich in Wir alle tragen gemeinsam Verantwortung – nicht nur (D) der Tat die Frage: Wie geht China mit den Interessen an- für unsere Völker, sondern für alle Menschen auf der derer Staaten um, und wie werden diese Konflikte ge- Welt. löst? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ohne dies hier in der Kürze der Zeit diskutieren zu der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- können, darf ich eines sagen: Wer die chinesische Politik SES 90/DIE GRÜNEN) der letzten 20 Jahre beobachtet hat, der wird bestätigen müssen, dass Chinas Außen- und Innenpolitik sehr prag- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: matisch auf Ausgleich und Konfliktvermeidung angelegt Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege ist. Dieser Pragmatismus führt zugleich zu stetigen Ver- Christoph Strässer für die SPD-Fraktion. änderungen der innerstaatlichen Strukturen, und zwar in Richtung mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratisie- (Beifall bei der SPD) rung, sowie zur Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung; Kollege Gehrcke hat darauf hingewiesen. Christoph Strässer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD) Sehr geehrter Herr Königshaus, Sie tun so, als würden Lassen Sie mich zum Abschluss etwas machen, was wir die menschenrechtliche Komponente bei der China- in einem deutschen Parlament nicht unbedingt üblich ist. Debatte vernachlässigen. Wir hatten aber in den letzten Ich möchte gerne Ministerpräsidenten Wen Jiabao aus drei Monaten wohl vier Debatten zu den Themen China, seiner Rede zitieren, die er am 13. März zur Begrüßung Menschenrechte und Tibet sowie Große Anfragen und von Herrn Steinmeier und seiner Delegation gehalten Aktuelle Stunden. Wenn uns also jemand vorwirft, wir hat. Wen Jiabao sagte: Erstens. China wird auf jeden Fall würden die Thematik der Menschenrechte in China seine Öffnungspolitik fortsetzen. Zweitens. China wird nicht problematisieren, dann ist dies eine Konterkarie- ein transparentes Rechtssystem aufbauen. Drittens. rung der Realität im Deutschen Bundestag, meine Da- China wird die Urheberrechte schützen. Viertens. China men und Herren. wird den Bürokratieabbau fortsetzen. Die bilateralen Be- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wohl ziehungen zwischen China und Deutschland, der Euro- wahr! Jede Woche einmal mindestens!) päischen Union und anderen Staaten müssen langfristig und strategisch angelegt sein. Die Zusammenarbeit im Lassen Sie mich diese menschenrechtliche Thematik internationalen Bereich, insbesondere in den Vereinten in einigen Punkten ansprechen. Das Erste, was Johannes 18220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Christoph Strässer (A) Pflug erwähnt hat, ist mir ganz wichtig. Ich möchte näm- für die die Reformer stehen, die sich in der Konfronta- (C) lich an einem Beispiel aufzeigen, wie und in welchen tion, die wir vor Ort erlebt haben, durchgesetzt haben, Dimensionen auch unterschiedliche Facetten der chine- indem sie dieses Gespräch ermöglicht haben. sischen Wirklichkeit deutlich werden. Er hat unseren Versuch angesprochen, mit Bürgerrechtlerinnen und Für mich ist eine der Erkenntnisse aus dieser Reise Bürgerrechtlern in Peking ein Gespräch zu führen. Das unserer Delegation, dass wir uns fragen müssen: Wen hat die Deutsche Botschaft mit fünf prominenten Men- unterstützen wir eigentlich? Wen unterstützt die deut- schen vorbereitet. Allerdings erreichte uns am Vormittag sche Außenpolitik und mit welchen Mitteln? Ich kann jenes Tages die Nachricht, dass das Gespräch abgesagt nur sagen: Unser klarer Anspruch muss sein, diejenigen wurde. Wir haben natürlich gefragt, warum dieses Ge- politischen Kräfte in China zu unterstützen, die an dieser spräch abgesagt wurde und ob es seitens der Chinesen Reformpolitik, so langsam sie auch vorangeht und so gecancelt wurde. Aber nein, die Antwort lautete: Diese schwer sie durchzusetzen ist, festhalten. Denn mit diesen Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler hatten Angst. – Menschen werden wir einen Dialog führen können, der Sie hatten Angst, weil vor ihren Häusern die Staatssi- letztendlich die Volksrepublik China, was den Aspekt cherheit positioniert war. Sie hatten Angst, weil sie in Menschenrechte betrifft, voranbringt. Das ist die klare Botschaft. Anrufen bedroht worden sind und um ihre persönliche Sicherheit fürchten mussten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nun ist etwas passiert, was ich hervorheben möchte, wenn es um Werte in der Außenpolitik geht. In diesem Ich möchte noch an zwei anderen Stellen deutlich ma- Zusammenhang möchte ich das Agieren unseres Außen- chen, wo wir die Diskussion über Probleme im Zusam- ministers ganz hoch einsortieren. Er hat nämlich seinen menhang mit den Menschenrechten fortführen müssen. Besuch an dieser Stelle genutzt und in Gesprächen mit Der Präsident hat die abgesagte Reise des Menschen- dem Vizeaußenminister der Volksrepublik China gefor- rechtsausschusses schon angesprochen. Ich füge hinzu: dert: Unser Gespräch mit der chinesischen Führung wer- Wir wenden uns hier in dieser Angelegenheit zwar an den wir nur dann ordentlich weiterführen können, wenn unsere chinesischen Partner und an den chinesischen es ein Gespräch mit Bürgerrechtlerinnen und Bür- Botschafter. Aber der Menschenrechtsausschuss hat auf gerrechtlern in Peking geben wird. seine Bitte, dass auch andere Ausschüsse auf die Absage der Reise reagieren mögen, keine Reaktion erfahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn man gegenüber den Chinesen den Mund spitzt, (B) der CDU/CSU) aber intern nicht pfeift, dann wird unsere Kritik nicht (D) ernst genommen werden. Diesen Punkt sollten wir in un- Meine Damen und Herren, dieses Gespräch hat dann seren Beratungen einmal ansprechen. letztendlich stattgefunden. Ich kann Ihnen auch über die Wirkung dieses Gesprächs berichten, die es nicht nur bei Aus unseren Gesprächen ergibt sich folgende Bot- uns entfaltet hat; wir sagen nämlich immer, dass es uns schaft: Wenn wir einen Dialog wollen – Dialog ist kein gut tut. Die Frau – sie ist die Sprecherin der Toten vom Selbstzweck, aber er ist wichtig; wir haben gesehen, dass Tiananmen-Platz –, mit der wir gesprochen haben, hat es an vielen Stellen vorangeht –, dann brauchen wir da- uns in einer sehr bewegenden Rede Folgendes gesagt: für einen Partner. Ich sage es jetzt einmal etwas salopp: Das heutige Gespräch mit dem deutschen Außenminister Wir können uns als Deutsche, als Europäer oder als in- ist für mich so etwas wie ein Durchbruch in meiner poli- ternationale Gemeinschaft unsere Partner auf der ande- tischen Arbeit. Das wünschen wir uns. – Sie ist uns un- ren Seite nicht backen. Sie sind so, wie sie sind. Deshalb endlich dankbar dafür gewesen, dass wir es möglich ge- finde ich es ausgesprochen gut und richtig, wenn wir von macht haben, dieses Gespräch zu führen. hier aus signalisieren, dass wir darin übereinstimmen, dass wir sie akzeptieren müssen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Eine Botschaft von Helmut Schmidt, die schon Ich will an diesem Punkt noch etwas anderes deutlich 30 Jahre alt ist und die sich heute bewahrheitet, lautet: machen; das betrifft das, was wir heute diskutieren. An Die westliche Besserwisserei, die in Peking an den Tag diesem Ereignis wird deutlich, welch unterschiedliche gelegt wird, ist von Übel. – Ich kann mich dieser Fest- Perspektiven die chinesische Innenpolitik aufweist. Auf stellung nur anschließen und sagen: Wir wollen und der einen Seite gibt es – das ist uns auch sehr deutlich müssen diesen Dialog weiterführen. Denn er wird dazu gesagt worden – Probleme mit einem stark beharrenden führen, dass die von China betriebene Öffnungspolitik Apparat, der zum Beispiel für das Aufstellen von Staats- auch unter menschenrechtlichen Aspekten unumkehrbar sicherheitseinheiten vor den Häusern der Bürgerrechtler ist. Dafür sollten wir gemeinsam arbeiten und andere verantwortlich ist. Aber es gibt eben auch die andere Dissonanzen im Zusammenhang mit der Frage, wer eine Seite dieser chinesischen Politik, wertegebundene und ethisch verantwortungsvolle Au- ßenpolitik macht, zurückdrängen. Menschenrechtspoli- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: So ist tik soll den Menschen nutzen; daran sollten wir sie mes- es!) sen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18221

Christoph Strässer (A) Auch ich sage der Bundesregierung herzlichen Dank d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst (C) für die Antworten, aber auch für ihre konstruktive Men- Friedrich (Bayreuth), Jan Mücke, Patrick Döring, schenrechtspolitik gegenüber China, die in den letzten weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wochen und Monaten betrieben worden ist. Verlängerung der Hauptuntersuchungsinter- Danke schön. valle für Oldtimer mit H-Kennzeichen – Drucksache 16/9480 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt. dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- Bezüglich des Zusatzpunktes 4 wird interfraktionell nung die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9745 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Technikfolgenabschätzung (TA) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich Mediennutzung und eLearning in Schulen sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Sachstandsbericht zum Monitoring „eLear- ning“ Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 46 a bis 46 d sowie 46 f und 46 g auf: – Drucksache 16/9527 – Überweisungsvorschlag: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Gleichbehandlung der Auftragsforschung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend öffentlich-rechtlicher Forschungseinrichtun- Ausschuss für Kultur und Medien gen (Hochschulforschungsförderungsgesetz – g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- HFFördG) dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- – Drucksache 16/5726 – nung (B) Überweisungsvorschlag: (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (TA) Technikfolgenabschätzung (f) Finanzausschuss Zielgruppenorientiertes eLearning für Kinder Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und ältere Menschen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Sachstandsbericht zum Monitoring „eLear- b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ ning“ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines – Drucksache 16/9528 – Gesetzes zur Zusammenführung der Regelun- Überweisungsvorschlag: gen über befriedete Bezirke für Verfassungs- Ausschuss für Bildung, Forschung und organe des Bundes Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/9741 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Innenausschuss ten Verfahren ohne Debatte. Rechtsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Behm, Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ das ist der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so DIE GRÜNEN beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 47 a bis Forschung für den ökologischen Landbau aus- 47 p sowie den Zusatzpunkten 5 a bis 5 m. Dabei handelt bauen es sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. – Drucksache 16/9345 – Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 47 a: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 47 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ Technikfolgenabschätzung DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines 18222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) … Gesetzes zur Änderung des Europaabge- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – (C) ordnetengesetzes und eines … Gesetzes zur Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Änderung des Abgeordnetengesetzes lung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der FDP-Fraktion und Gegenstimmen der – Drucksache 16/9300 – Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke ange- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- nommen. ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- ordnung (1. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 47 c: – Drucksache 16/9570 – c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Berichterstattung: schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Abgeordnete Bernhard Kaster Trittin, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Christian Lange (Backnang) weiterer Abgeordneter und der Fraktion Jörg van Essen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Volker Beck (Köln) NATO-Gipfel für Kurswechsel in Afghanistan nutzen Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- – Drucksachen 16/8501, 16/9431 – lung auf Drucksache 16/9570, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/9300 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Berichterstattung: die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Abgeordnete Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Dr. Werner Hoyer Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Monika Knoche Jürgen Trittin Wir kommen zur Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- dritten Beratung lung auf Drucksache 16/9431, den Antrag der Fraktion und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8501 abzu- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- ist mit der gleichen Mehrheit, das heißt einstimmig, an- fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- (B) (D) genommen. nen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- FDP-Fraktion angenommen. schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- sache 16/9811. Wer stimmt für diesen Entschließungs- Tagesordnungspunkt 47 d: antrag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) tionsfraktionen abgelehnt. – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Tagesordnungspunkt 47 b: Hofbauer, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Hans- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia geordneten Heinz Paula, , Roth (Augsburg), Winfried Nachtwei, Marieluise Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zwölf-Tage-Regelung in Europa wieder ein- 20 Jahre nach Halabja – Unterstützung für die führen Opfer der Giftgasangriffe – zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick – Drucksachen 16/8197, 16/9150 – Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), Ernst Berichterstattung: Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Abgeordnete Holger Haibach Fraktion der FDP Uta Zapf Wiedereinführung der Zwölf-Tage-Regelung Harald Leibrecht in Europa unterstützen Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller (Köln) – Drucksachen 16/9076, 16/7861, 16/9739 – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Berichterstattung: lung auf Drucksache 16/9150, den Antrag der Fraktion Abgeordnete Klaus Hofbauer Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8197 abzu- Patrick Döring Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18223

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- (C) schlussempfehlung auf Drucksache 16/9739, den Antrag gen? – Die Sammelübersicht 431 ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck- des ganzen Hauses angenommen. sache 16/9076 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Tagesordnungspunkt 47 g: Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Frak- ausschusses (2. Ausschuss) tion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- haltung der Fraktion Die Linke angenommen. Sammelübersicht 432 zu Petitionen Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 47 d. Der – Drucksache 16/9617 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat in Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9739 tungen? – Dann ist auch die Sammelübersicht 432 mit den Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Wieder- den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. einführung der Zwölf-Tage-Regelung in Europa unter- stützen“ auf Drucksache 16/7861 mit einbezogen. Über Tagesordnungspunkt 47 h: diese Vorlage soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- können wir so verfahren. ausschusses (2. Ausschuss) Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be- Sammelübersicht 433 zu Petitionen schlussempfehlung die Ablehnung des eben genannten – Drucksache 16/9618 – Antrags der Fraktion der FDP. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der gen? – Die Sammelübersicht 433 ist mit den Stimmen Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- nen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 47 e: Tagesordnungspunkt 47 i: e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz ausschusses (2. Ausschuss) und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Sammelübersicht 434 zu Petitionen (B) Verordnung der Bundesregierung (D) Verordnung zum Schutz des Klimas vor Ver- – Drucksache 16/9619 – änderungen durch den Eintrag bestimmter Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal- fluorierter Treibhausgase (Chemikalien-Kli- tungen? – Die Sammelübersicht 434 ist einstimmig an- maschutzverordnung – ChemKlimaschutzV) genommen. – Drucksachen 16/9446, 16/9517 Nr. 2, 16/9731 – Tagesordnungspunkt 47 j: Berichterstattung: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Abgeordnete ausschusses (2. Ausschuss) Frank Schwabe Michael Kauch Sammelübersicht 435 zu Petitionen Lutz Heilmann Sylvia Kotting-Uhl – Drucksache 16/9620 – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- lung auf Drucksache 16/9731, der Verordnung auf gen? – Die Sammelübersicht 435 ist damit mit den Stim- Drucksache 16/9446 zuzustimmen. Wer stimmt für diese men der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim- Fraktion Die Linke angenommen. men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Tagesordnungspunkt 47 k: Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkte 47 f bis 47 p: Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Sammelübersicht 436 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 47 f: – Drucksache 16/9621 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- ausschusses (2. Ausschuss) gen? – Die Sammelübersicht 436 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Sammelübersicht 431 zu Petitionen Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen – Drucksache 16/9616 – der Fraktion der FDP angenommen. 18224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Tagesordnungspunkt 47 l: Zusatzpunkt 5 a: (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ausschusses (2. Ausschuss) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Sammelübersicht 437 zu Petitionen Bundesregierung – Drucksache 16/9622 – Einhundertsiebte Verordnung zur Änderung Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- der Ausfuhrliste gen? – Die Sammelübersicht 437 ist mit den Stimmen – Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung – der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und Enthaltung der – Drucksachen 16/9211, 16/9391 Nr. 2.1, 16/9698 – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 47 m: Abgeordnete Ulla Lötzer Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- ausschusses (2. Ausschuss) lung auf Drucksache 16/9698, die Aufhebung der Ver- ordnung auf Drucksache 16/9211 nicht zu verlangen. Sammelübersicht 438 zu Petitionen Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist – Drucksache 16/9623 – dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei gen? – Die Sammelübersicht 438 ist mit den Stimmen Enthaltung der Fraktion der Linken angenommen. der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Zusatzpunkt 5 b: der Fraktion Die Linke angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- Tagesordnungspunkt 47 n: ausschusses (6. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Übersicht 11 ausschusses (2. Ausschuss) über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- Sammelübersicht 439 zu Petitionen ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht (B) – Drucksache 16/9624 – (D) – Drucksache 16/9782 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 439 ist mit den Stimmen Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ist je- der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei mand dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Gegenstimmen der Fraktionen der FDP und Bündnis 90/ fehlung ist damit einstimmig angenommen. Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 5 c: Tagesordnungspunkt 47 o: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) zu den Streitsachen vor dem Bundesverfas- Sammelübersicht 440 zu Petitionen sungsgericht 2 BvE 2/08 und 2 BvR 1010/08 – Drucksache 16/9625 – – Drucksache 16/9783 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 440 ist mit den Stimmen Berichterstattung: der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/ Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- und der Fraktion Die Linke angenommen. empfehlung, eine Stellungnahme zu den Streitsachen vor Tagesordnungspunkt 47 p: dem Bundesverfassungsgericht abzugeben und den Prä- sidenten zu bitten, Professor Dr. Dr. h. c. Ingolf Pernice Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt ausschusses (2. Ausschuss) dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- Sammelübersicht 441 zu Petitionen schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bünd- – Drucksache 16/9626 – nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 441 ist damit mit den Stim- Zusatzpunkte 5 d bis 5 m. Es handelt sich noch ein- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der mal um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschus- Oppositionsfraktionen angenommen. ses. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18225

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Zusatzpunkt 5 d: Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Fraktion Die Linke angenommen. ausschusses (2. Ausschuss) Zusatzpunkt 5 j: Sammelübersicht 442 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 16/9767 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Sammelübersicht 448 zu Petitionen tungen? – Die Sammelübersicht 442 ist einstimmig an- – Drucksache 16/9773 – genommen. Zusatzpunkt 5 e: Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 448 ist mit den Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die ausschusses (2. Ausschuss) Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen Sammelübersicht 443 zu Petitionen der FDP-Fraktion angenommen. – Drucksache 16/9768 – Zusatzpunkt 5 k: Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- tungen? – Auch die Sammelübersicht 443 ist einstimmig ausschusses (2. Ausschuss) angenommen. Sammelübersicht 449 zu Petitionen Zusatzpunkt 5 f: – Drucksache 16/9774 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 449 ist mit den Stimmen Sammelübersicht 444 zu Petitionen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- – Drucksache 16/9769 – genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Die Sammelübersicht 444 ist mit den Stimmen der Ko- Zusatzpunkt 5 l: alitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstim- men der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Bündnis 90/Die Grünen angenommen. ausschusses (2. Ausschuss) (B) Zusatzpunkt 5 g: Sammelübersicht 450 zu Petitionen (D) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 16/9775 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Sammelübersicht 445 zu Petitionen gen? – Die Sammelübersicht 450 ist mit den Stimmen – Drucksache 16/9770 – der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal- der Fraktion Die Linke angenommen. tungen? – Die Sammelübersicht 445 ist einstimmig an- genommen. Zusatzpunkt 5 m: Zusatzpunkt 5 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 451 zu Petitionen Sammelübersicht 446 zu Petitionen – Drucksache 16/9776 – – Drucksache 16/9771 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- gen? – Die Sammelübersicht 451 ist damit mit den Stim- tungen? – Die Sammelübersicht 446 ist mit den Stimmen men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Frak- Oppositionsfraktionen angenommen. tion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd- Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: nis 90/Die Grünen angenommen. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Zusatzpunkt 5 i: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Haltung der Bundesregierung zur unrecht- mäßigen Einleitung radioaktiver Lauge in das Sammelübersicht 447 zu Petitionen ehemalige Salzbergwerk Asse II – Drucksache 16/9772 – Bevor ich die Aussprache eröffne, will ich Sie darauf Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- hinweisen, dass mir eine Rednerliste vorliegt, deren Rei- gen? – Die Sammelübersicht 447 ist mit den Stimmen henfolge aufgrund grundsätzlicher Vereinbarungen zwi- der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der schen den Fraktionen erstellt wurde. Nachdem sie 18226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) erstellt worden war, äußerte die Fraktion Bündnis 90/Die So darf man mit Atommüll nicht umgehen. Genau des- (C) Grünen den Wunsch nach Änderung der Reihenfolge. halb gibt es das Atomrecht. Diesem Änderungswunsch haben einige der anderen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fraktionen widersprochen. Deshalb liegt die Entschei- dung über die Reihenfolge der Redner bei mir. Ich Bisher mag Ihre Argumentation, Herr Gabriel, dass möchte es so handhaben, dass die Redner in der Reihen- wir das Fachwissen derer, die die Asse kennen, brau- folge sprechen, die zunächst vereinbart war; davon chen, noch gut genug gewesen sein. Aufgrund Ihrer ges- möchte ich Sie in Kenntnis setzen. trigen Äußerung im Umweltausschuss – Sie sagten, das Wichtigste seien Fachkompetenz und Zuverlässigkeit – Nun können wir mit der Aktuellen Stunde beginnen. stellt sich aber die Frage: Was muss noch passieren, bis Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Redne- auch Sie öffentlich sagen: „Die können es nicht!“? rin der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fordern Sie den Statusbericht, Herr Gabriel! Das ist Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht verkehrt. Schicken Sie eine Taskforce nach Nieder- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Mi- sachsen; aber lassen Sie diese Taskforce auch eigene nisterin Schavan! Sehr verehrter Herr Minister Gabriel – Messungen vornehmen und nicht nur nachfragen! Auf von dem ich erwartet hätte, dass er der Fraktion, die Aussagen und Messungen der Helmholtz-Gemeinschaft diese Aktuelle Stunde beantragt hat, die Möglichkeit würde ich mich an Ihrer Stelle nicht verlassen. Bringen gibt, mit ihrem zweiten Redebeitrag auf ihn zu reagie- Sie Ihre niedersächsischen Genossen dazu, gemeinsam ren! mit den Grünen und den Linken die Einsetzung eines (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Alles Schau- Untersuchungsausschusses zu fordern! Wann, wenn laufen!) nicht hier, ist er nötig? Handeln Sie endlich! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum zweiten Mal, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie seit ich Mitglied des Bundestages bin, debattieren wir des Abg. Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]) die Problematik Asse II, wieder auf Antrag der Grünen. Ihre Zusicherung aus dem Jahre 2007, beim geplanten Schon beim ersten Mal haben wir Sie, Minister Gabriel, Zusammenwirken mit dem BMBF die Beachtung aller aufgefordert, die Zuständigkeit für die Asse an sich zu atomrechtlichen und strahlenschutzrechtlichen Aspekte nehmen – nicht um Sie zu ärgern oder um Ihnen ir- zu gewährleisten, konnten Sie nicht einlösen. Aus all gendein Versäumnis vorzuwerfen, sondern weil sich dem – aus Ihrer Forderung nach Fachkompetenz und Zu- schon damals abzeichnete, dass die nach bergrechtli- verlässigkeit, aus dem Umstand, dass der Betreiber da- (B) (D) chem Verfahren agierenden Betreiber mit der Einschät- von ausgeht, für den Transport radioaktiv verseuchter zung der Gefahrensituation heillos überfordert waren. Lauge keine strahlenschutzrechtliche Genehmigung zu Schon damals war der Skandal groß genug. benötigen, und in Anbetracht des unglaublichen Infor- Tausende von Jahren dauere es, bis die zufließende mations- und Kommunikations-GAUs – ergibt sich nur Lauge, von der niemand weiß, woher sie kommt, in die eine logische Konsequenz: Nehmen Sie die Asse II in Kammern mit Atommüll eindringen könne. Diese Aus- Ihre Verantwortung und stellen Sie sie unter Atomrecht! sage traf die betreibende Helmholtz-Gemeinschaft im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) letzten Jahr, wohl wissend, dass es seit Jahren verstrahlte Lauge und Überschreitungen des Grenzwertes um das Ich kenne Ihre Argumentation und weiß, dass Sie darauf bis zu Elffache gibt. So große Lockerheit bei einem nicht wirklich Lust haben. Das kann ich gut verstehen. Standort, dessen Gebirgsschichten grundwasserführend Aber Sie können nicht länger die Taube auf dem Dach sind! spielen, Herr Minister; Sie müssen die Rolle des Spatzen übernehmen. Die Vorstellung, dass Caesium-137 ins Trinkwasser gelangt – das ist nach der Studie des BfS nach spätestens Es ist nicht mehr an der Zeit, weiterhin, wie gestern 150 Jahren nicht mehr auszuschließen –, ist der reine im Umweltausschuss Frau Flachsbarth für die Union Horror. ausführte, konstruktiv mit allen Beteiligten zusammen- zuarbeiten. Es ist an der Zeit, klare und transparente Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hältnisse zu schaffen. Angeblich ohne sich bewusst zu sein, dass sie dafür eine Noch etwas, Herr Gabriel: Auch wenn Sie immer strahlenschutzrechtliche Genehmigung bräuchten, ver- wieder betonen, dass Asse II einerseits und Morsleben, brachten die Betreiber das Caesium-137 kurzerhand Schacht Konrad und Gorleben andererseits nichts mit- 200 Meter tiefer, frei nach der beliebten Methode „Aus einander zu tun hätten – durch die räumliche Nähe haben den Augen, aus dem Sinn“. sie das natürlich doch. Wie wollen Sie bei einer Bevöl- kerung, die diesen Endlager-GAU miterleben muss, je- Frau Ministerin Schavan greift in diese Debatte nicht mals wieder Akzeptanz für irgendein Lager für Atom- ein. Ich will ganz klar sagen: Frau Ministerin, für mich müll gewinnen? Das, Herr Minister Gabriel, ist als Grüne sind Sie in dieser Frage auch nicht die richtige tatsächlich nicht das Problem von Frau Schavan, son- Ansprechpartnerin. Denn was soll ich von jemandem dern Ihres. fordern, der trotz dieser illegalen Machenschaften kei- nerlei Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betreibers hat? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18227

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ( [FDP]: In Asse liegt übrigens gar (C) Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der kein Müll aus Kernkraftwerken!) Kollege . – Das ist vollkommen richtig. Wir reden aber natürlich (Beifall bei der CDU/CSU) auch darüber, warum wir heute über dieses Thema dis- kutieren. Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): ( [SPD]: Zehn Sekunden zum Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Thema und jetzt die Standardrede von Herrn Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fischer!) Verantwortung dafür, was heute bei Asse II passiert, liegt doch nicht bei Herrn Gabriel. Umweltminister Meine Damen und Herren, Sie wissen genau, dass die Trittin war als Niedersachse damals sicherlich gut über Akzeptanz der Kernenergie insgesamt zunimmt. Asse II informiert. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Auch bei Caesium im Trinkwas- NEN) ser?) Die Grünen hatten sieben Jahre Zeit – von 1998 bis Es hat doch seinen Grund, warum Frankreich, England 2005, als sie an der Bundesregierung beteiligt waren –, und die Schweiz neue Kernkraftwerke bauen wollen. die von Ihnen heute beschriebenen Gefahren abzuweh- Eine Weiternutzung bestehender deutscher Kernkraft- ren und das vermeintlich Gute, was Sie heute gefordert werke liegt in unser aller Interesse. Es macht nämlich haben, zu machen. wenig Sinn, eine kostengünstige und CO2-freie Stromer- zeugung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Wenn das, was Sie, Frau Kollegin Kotting-Uhl, heute GRÜNEN]: Und eine sichere; das haben Sie fordern, so sinnvoll wäre, hätten Sie es doch in diesen zu sagen vergessen!) sieben Jahren machen können. Dass das Bergwerk voll- läuft, dass Salz nachrutscht, dass die Stabilität nachlässt einfach aufzugeben. und der Abfall irgendwann nicht mehr herauszuholen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sein wird, war schon lange absehbar, auch zu Ihrer Re- der FDP) gierungszeit. Wenn Sie das damals schon wussten, muss man sich fragen, warum Sie sieben Jahre lang nichts ge- Das spüren auch die Menschen. tan haben. Das müssen Sie sich heute vorwerfen lassen. (B) Den Grünen geht es bei dieser Diskussion – wie bei (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vielen anderen Tagesordnungspunkten – darum, die Kernenergie in Deutschland auch aus ideologischen Es stellt sich die Frage, warum wir heute im Rahmen Gründen insgesamt schlechtzureden. Wir müssen aber, einer Aktuellen Stunde diese Debatte führen. Die Grü- wenn Sie diesen Tagesordnungspunkt schon beantragen, nen haben auf ihrer Bundesdelegiertenversammlung über die berechtigten Sorgen und Ängste der Bürger re- vom 8. März 1998 beschlossen, dass der Liter Benzin in den. zehn Jahren 5 DM kosten soll. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: GRÜNEN]: Das tun wir! – Jürgen Trittin Schauen Sie sich den Benzinpreis doch einmal [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich würde Ih- an!) nen, Herr Fischer, empfehlen, selbst einmal Mit dieser Forderung sind Sie, Herr Fell, in den Wahl- mit den Menschen zu reden!) kampf gezogen. Jetzt sind die zehn Jahre um; der Liter Dafür ist eine Aktuelle Stunde weniger geeignet als die Benzin kostet heute umgerechnet etwa 3 DM. Das hat ei- verantwortungsvolle Diskussion in den Ausschusssit- nen handfesten Grund: Sie wurden vor drei Jahren – zum zungen. Glück! – abgewählt. (Jörg Tauss [SPD]: Klappe zu, Affe tot!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was? – Ja, stimmt! Deshalb ist es jetzt Ich bin mir sehr sicher, dass dieses Thema bei Bun- so teuer!) desumweltminister Gabriel und Bundesforschungs- ministerin Schavan, bei der Bundesregierung, sehr gut Dafür knackt es jetzt an anderer Stelle: beim Strom- aufgehoben ist und dass wir auch im Ausschuss eine wei- preis. Knapp einen halben Euro muss der Verbraucher tere verantwortungsvolle Diskussion zu diesem Thema für die Einspeisung einer Kilowattstunde Solarstrom führen werden; natürlich haben wir sie auch schon ge- zahlen. Rechnet man die Durchleitungskosten hinzu, führt. sieht man, dass der Bezug einer Kilowattstunde Solar- strom mehr als 50 Cent kostet. Die hohen Energiepreise (Jörg Tauss [SPD]: Da waren Sie gestern nicht machen uns alle ärmer. da, Kollege Fischer!) Strom aus Kernkraftwerken kann für 2 Cent die Kilo- Es macht wenig Sinn, dass Sie hier versuchen, dieses wattstunde eingespeist werden. Das wissen die Bürgerin- Thema zu instrumentalisieren, um Ihre Positionen nach nen und Bürger. außen zu tragen. Wir müssen dafür sorgen, dass die 18228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) berechtigten Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und haben und nicht mit Schuldzuweisungen auf die Landes- (C) Bürger ernst genommen werden. Das liegt in unserer regierung zugegangen sind, Verantwortung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Mir wäre es sehr recht, wenn Sie sich hier ein biss- chen mehr mit einbringen könnten; denn ich sage es sondern gemeinsam mit Ihrer Kollegin konstruktiv an noch einmal, Herr Trittin: Sie hatten sieben Jahre lang der Sache gearbeitet haben. Zeit und haben gar nichts getan. Wenn ich mich recht er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie innere, haben Sie sogar die Forschungsmittel für Asse II bei Abgeordneten der SPD) reduziert. Um hier der Wahrheit Genüge zu tun, muss ich sagen: (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Obwohl auch in den 90er-Jahren erhöhte Strahlenbelas- NEN]: Mit gutem Grund! – Renate Künast tungen festzustellen waren – wobei der Betreiber und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sonst wäre es das Landesbergamt allerdings unterschiedlicher Ansicht heute noch schlimmer!) darüber waren, wo die Ursachen dafür lagen –, haben Das zeigt, mit welcher Verantwortung Sie da herange- wir als Umweltministerium erst am 12. dieses Monats gangen sind, nämlich mit gar keiner. Heute versuchen erfahren, dass es an zwei Stellen zusätzliche Strahlenbe- Sie mit dieser Debatte, das zu verschleiern. lastungen gab. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Auf- sichtsbehörde das erst so spät vom Landesbergamt er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fährt,

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Für den Bundesrat spricht nun der Minister für Um- der CDU/CSU und der SPD) welt und Klimaschutz des Landes Niedersachsen, Hans- weil das natürlich – das wissen alle hier in diesem Heinrich Sander. Hause, die Verantwortung tragen – zur Verunsicherung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten in der Öffentlichkeit führt. der CDU/CSU) Von daher müssen wir ein Konzept entwickeln, mit dem die Informationspolitik in Zukunft verbessert wird. Hans-Heinrich Sander, Minister (Niedersachsen): Herr Kollege Gabriel und Frau Kollegin Schavan, wir Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und müssen aber auch den Statusbericht möglichst bis Mitte Herren Abgeordnete! Das Salzbergwerk Asse II ist eine August fertigstellen. (B) radioaktive Altlast. Im Rahmen von Forschungsarbeiten (D) wurden in den Jahren 1967 bis 1978 rund 130 000 Fässer Wir werden alle Beteiligten – sowohl Ihre Experten mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen in diesem aus dem Bundesumweltministerium als auch diejenigen Salzbergwerk eingelagert. Sie stammten größtenteils aus aus dem Bundesamt für Strahlenschutz in Salzgitter, der öffentlichen Hand. Dort wurden also Abfälle aus aber auch den Betreiber und das Landesbergamt – mit Forschungsreaktoren und medizinische Abfälle zwi- einbinden, um ein Konzept zu entwickeln, wie wir wei- schengelagert. In den 90er-Jahren ist ein Schließungs- ter verfahren können. Wenn der Statusbericht vorliegt, konzept entwickelt worden, um die Menschen in der Re- dann können wir – ich hoffe, dass alle Kräfte in diesem gion vor diesen Abfällen zu schützen bzw. diese Abfälle Haus das unterstützen – das weitere Vorgehen festlegen von der Biosphäre fernzuhalten. und klären, ob wir das vorhandene Schließungskonzept weiterverfolgen oder ob zeitlich die Möglichkeit besteht, Meine Damen und Herren, auch zur Zeit der rot-grü- Alternativen ins Auge zu fassen. nen Regierung ab 1998 ist dieses Bergwerk weiter be- trieben worden. Herr Kollege Trittin, auch während Ihrer Über eines müssen sich alle – auch die Kolleginnen Zeit als Bundesratsminister – 1990 hatten Sie noch die und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen – klar sein: Aufsicht über Asse II – und später als Bundesumwelt- Ab 2014 – das wird von keinem Wissenschaftler bestrit- minister haben wir im Lande nur wenig Unterstützung ten – ist die Standsicherheit des Bergwerks Asse nicht von Ihnen erhalten. mehr gegeben. Insofern geht es nicht um Schuldzuwei- sung, sondern darum, ein Konzept zu erarbeiten. Seit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dienstag bin ich fest davon überzeugt, dass es uns ge- Sehr geehrte Frau Kollegin Schavan und Herr Kol- meinsam mit dem Betreiber gelingen wird, noch in die- lege Gabriel, seitdem Sie die Verantwortung übernom- sem Jahr ein Schließungskonzept zu erarbeiten. Das ist men haben – ich kann davon sprechen, weil ich auch notwendig, um mit der verbleibenden Zeit bis 2014 aus- Ihre Vorgängerin in dieser Sache angeschrieben habe, zukommen. (Patrick Döring [FDP]: Wo ist sie denn Von wesentlicher Bedeutung dafür ist – das ist mir eigentlich?) sehr wichtig –, dass die Berichtsgruppe morgen ihre Ar- beit aufnimmt. Wir haben alle Verantwortlichen – auch und zwar insbesondere hinsichtlich der für die Bevölke- Ihre Experten – schon morgen ins Ministerium eingela- rung nicht ausreichenden Informationspolitik –, ist Be- den, um sofort damit zu beginnen. wegung in die Sache gekommen. Herr Gabriel, bei Ihnen bedanke ich mich besonders, weil Sie auch als Wahl- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kreisabgeordneter Ihre Verantwortung wahrgenommen NEN]: Von 1996 bis morgen! – Gegenruf des Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18229

Minister Hans-Heinrich Sander (Niedersachsen) (A) Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Anders als Beispiel Tschernobyl zeigt. Kernkraft ist kein Ökostrom, (C) Herr Trittin seinerzeit!) sondern sie ist dreckig. Dies beweist das Beispiel Asse. Dabei werden wir auch den Landrat des Landkreises (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wolfenbüttel mit einbeziehen. Denn die Menschen vor DIE GRÜNEN) Ort müssen wissen, dass die Politiker handeln und sich Wir müssen Millionen, wenn nicht sogar Milliarden für sie einsetzen, statt zu dramatisieren, um irgendwel- Euro dafür aufwenden, den Abfall, der in früheren Jah- che politische Ziele zu verfolgen, wie es leider bei Ihnen ren entstanden ist, zu entsorgen. Wie man damit umge- der Fall ist. hen kann, Herr Kollege Fischer, folgt nicht der Devise (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie „Klappe zu, Affe tot“, wie Sie es in der letzten Debatte bei Abgeordneten der SPD) ausgedrückt haben. Leider ist es nicht so einfach. Daher appelliere ich an Sie, die Beteiligung der Öf- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sind denn in Asse fentlichkeit mit zu unterstützen und Ihren Beitrag dazu überhaupt Brennstäbe eingelagert?) zu leisten. Herr Kollege Trittin, Sie haben seinerzeit den – Ich rede nicht von den Brennstäben, sondern von dem schönen Arbeitskreis „AK End“ eingerichtet. Er ist zwar Material, das beispielsweise von der Wiederaufberei- in der Versenkung verschwunden, aber vielleicht besteht tungsanlage in Karlsruhe stammt und dort eingelagert jetzt die Chance, ein anderes Verfahren unter stärkerer wurde. Das sind Urlasten der Kernenergie, die der Steu- Beteiligung der Öffentlichkeit zu vollziehen. erzahler bezahlt und die beim Strompreis nicht berück- In dem Sinne gehe ich davon aus, dass Sie unser Vor- sichtigt werden. haben unterstützen werden. Wir werden das Problem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Asse mit der Mehrheit in diesem Hause und mit der nie- DIE GRÜNEN) dersächsischen Landesregierung lösen. Das müsste man aber tun, wenn man eine ehrliche Herzlichen Dank. Bilanz der Kernkraft ziehen wollte. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Ich nenne ein Beispiel. Bei uns in Karlsruhe wird ge- bei Abgeordneten der SPD) rade die Wiederaufbereitungsanlage abgebaut. Das sollte ursprünglich 2 Milliarden DM kosten. Die Kosten liegen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nun bei 4 Milliarden Euro. Die endgültige Zahl steht Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss für die aber noch aus. Asse kostet uns pro Jahr 100 Millionen SPD-Fraktion. Euro; das ist die aktuelle Zahl. Rechneten wir dies in den (B) Strompreis ein, wäre die Behauptung von der billigen (D) Jörg Tauss (SPD): Kernenergie in diesem Land für jeden als Lüge erkenn- Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube in der bar. Stünde uns dieses Geld zur Verfügung, könnten wir Tat, dass wir uns vor billigen Schuldzuweisungen hüten vieles andere tun. sollten. Klar ist, Herr Minister, dass hinsichtlich des (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem bergrechtlichen Verfahrens und der Frage, inwiefern Be- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) richte unterblieben sind – Frau Kollegin Griefahn hatte damals schon als Umweltministerin gehandelt und ent- Zurück zu Asse. Es ist völlig klar, dass wir hier sprechende Informationen eingefordert –, eine Reihe schnellstmöglich vollständige Transparenz brauchen und von Punkten diskutiert werden müssen. Darüber haben klären müssen, ob das, was wir in den letzten Jahren im wir gestern im Ausschuss beraten und mit dem Umwelt- Vertrauen auf die bergrechtliche Situation toleriert ha- ministerium und dem Forschungsministerium eine Über- ben, noch tolerabel ist. Ich halte es für richtig, dass wir einkunft herbeigeführt. Herr Kollege Fischer, Sie über ein atomrechtliches Verfahren oder zumindest über konnten gestern leider nicht an der Ausschusssitzung ein dem Atomrecht vergleichbares Verfahren diskutie- teilnehmen. Wir haben eine Reihe interessanter Punkte ren. diskutiert, die alle in eine Richtung gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lustigerweise wird diese Debatte von Meldungen sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- überlagert – das ging schon heute Morgen im Früh- KEN) stücksfernsehen los –, dass jetzt in Deutschland ein Die Prüfmaßstäbe müssen in vollem Umfang den atom- Kernkraftwahlkampf geführt werden solle. Ich glaube, rechtlichen Genehmigungsverfahren entsprechen. Das gerade das Beispiel Asse II zeigt, dass wir als Sozialde- haben die Anwohner, die Menschen in Niedersachsen, mokraten guten Grund hätten, uns auf einen solchen selbstverständlich verdient. Ein Bergamt, das nicht in- Kernkraftwahlkampf zu freuen. Das sage ich in aller formiert, ist nicht geeignet, diese Aufgabe zu erfüllen. Deutlichkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Klar ist: Kernkraft ist nicht billig; sie ist vielmehr die teuerste Energie. In Baden-Württemberg hat die Kern- Die Angriffe auf die Helmholtz-Gemeinschaft ver- kraft den größten Anteil an der Stromerzeugung. Diese stehe ich allerdings nicht. Dort sitzen Expertinnen und Situation ist unverantwortlich, was unter anderem das Experten. Wir sind froh – darüber haben wir gestern im 18230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Jörg Tauss (A) Ausschuss diskutiert –, dass diese Fachleute uns in die- Klar ist: Hier geht es wieder einmal um das Verschlei- (C) sem aus wissenschafts- und forschungspolitischer Sicht ern und Herunterspielen von radioaktiven Gefahren. Das komplexen Bereich zur Verfügung stehen. Wen hätten Helmholtz-Zentrum München hat den Salzstock Asse wir denn sonst? Ich halte es für richtig, dass die 30 Jahre lang mit öffentlichen Fördergeldern zur atoma- Helmholtz-Gemeinschaft mit ihrer Kompetenz beteiligt ren Endlagerforschung genutzt. Heute weiß man: Der ist. Wir sollten uns an dieser Stelle vor Schuldzuweisun- Betreiber wusste zu jeder Zeit, dass die Schachtanlage gen hüten. Nicht die Helmholtz-Gemeinschaft, sondern einsturzgefährdet ist und dass es massive Wassereinbrü- diejenigen haben die Verhältnisse verursacht, die irgend- che gibt. Trotzdem hat er Teile des Atommülls wahr- wann vor uns Atommüllfässer in Asse gelagert haben scheinlich unrückholbar verbuddelt. nach dem Motto „Was weg ist, ist nicht mehr da; wir se- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: hen es jedenfalls nicht mehr“. Heute müssen wir Hun- Unglaublich!) derte Millionen Euro aufbringen, um die Folgen zu be- seitigen. Es wurden 77 Kubikmeter radioaktiv verstrahlter Lauge und andere verstrahlte Betriebsabfälle in 925 Metern (Beifall bei der SPD) Tiefe verklappt. Das war vorsätzlich und falsch. Den berechtigten Sorgen der Bürgerinnen und Bürger Ich halte aber die Rolle des Landesbergamtes für ent- ist selbstverständlich Rechnung zu tragen. Dieses Thema scheidend. Ich glaube nicht, dass diese als Genehmi- eignet sich nicht, um auf billige Art und Weise partei- gungsbehörde weniger Informationen als der Betreiber politische Vorteile zu erzielen. Dafür ist das Thema zu zu Asse II hatte. Über mindestens fünf Jahre hinweg ernst. Aber es ist gut, um einen Atomwahlkampf zu füh- stimmte es der Umlagerung der verseuchten Lauge zu, ren, wenn Sie es wünschen. Dann hätten wir zusätzliche und zwar ohne weitere Prüfverfahren. Das ist Miss- gute Argumente. brauch von Rechtsvorschriften. Mit Gefahrenabwehr nach Atomrecht hat das überhaupt nichts zu tun. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Aufzudecken ist, inwieweit sich das Landesbergamt und das Helmholtz-Zentrum zum Zwecke der Verschlei- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: erung abgesprochen haben. Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kol- lege Hans-Kurt Hill. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein heftiger Vorwurf!) (Beifall bei der LINKEN) Es gibt hinreichende Erfahrungen aus der Atomwirt- (B) (D) Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): schaft, Herr Tauss, Gefahren herunterzuspielen und zu verheimlichen. Warum sollte es hier anders sein? Ich er- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! innere an die Informationspolitik der Betreiber der Im Atommülllager Asse II geht es offenbar zu wie bei Atomkraftwerke von Brunsbüttel und Krümmel anläss- Hempels unterm Sofa. Für mich ist es unfassbar, was da lich der Zwischenfälle vor fast einem Jahr. Teile der abgeht. Nicht nur, dass der Betreiber des alten Salzberg- Bundesregierung – das ist schon angesprochen worden – werks illegal Strahlenmüll eingelagert hat. Nein, der und auch die Atomlobby führen gerade eine verlogene Vorfall wird auch vom verantwortlichen CDU-For- Werbekampagne zugunsten der Atomkraft auf allen Ka- schungsministerium und dem vor Ort verantwortlichen nälen. Atomstrom ist und wird kein Ökostrom. Helmholtz-Zentrum München gezielt heruntergespielt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Was ist geschehen? Erstens. Radioaktive Stoffe und neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Abfälle wurden unter Missbrauch des Atomrechts einge- GRÜNEN) lagert. Zweitens. Die Bevölkerung wurde ahnungslos ge- lassen. Drittens. Nun sollen die Steuerzahlerinnen und Was wir brauchen, ist Aufklärung über die Risiken Steuerzahler den Schaden bezahlen. All das lässt die und Gefahren. Deshalb müssen jetzt die richtigen Kon- Bundesregierung offenbar kalt; denn sie zieht nicht die sequenzen gezogen werden: Dem Helmholtz-Zentrum richtigen Konsequenzen. Fest steht: Ohne die Menschen München ist die Betriebsgenehmigung zu entziehen. vor Ort, die sogenannte Asse-Begleitgruppe, wäre das (Beifall bei der LINKEN) Chaos nicht ans Tageslicht gekommen. Dabei muss der Betreiber aber in die Pflicht genommen (Beifall bei der LINKEN – Jochen-Konrad werden und den Schaden auf eigene Kosten beheben. Es Fromme [CDU/CSU]: Wer hat die denn einge- wäre ein weiterer Skandal, wenn wieder einmal die Bür- setzt?) gerinnen und Bürger die Zeche zahlen, während sich einzelne mit öffentlichen Fördergeldern die Taschen fül- Dass diese Öffentlichkeit hergestellt wurde, ist zweifels- len. frei dem jetzigen Bundesumweltminister zu verdanken, der jetzt auch handelt. Allerdings könnte ich auch fra- (Jörg Tauss [SPD]: Helmholtz ist nicht gen, was Herr Gabriel als Ministerpräsident von Nieder- Verursacher!) sachsen unternahm, als der Betrug in vollem Gange war, Ich habe gestern mit Bürgerinnen und Bürgern aus der oder was den grünen Umweltminister, Herrn Trittin, um- Region telefoniert, Herr Tauss. trieb, als er den Informationsfluss des Bundesumwelt- ministeriums zu Asse II einfach abschnitt. (Lachen bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18231

Hans-Kurt Hill (A) Die Angst ist groß. Dabei sind zwei Dinge deutlich ge- bergmännischen Abbau mit Hacke und Spaten erforder- (C) worden. Da die Bundesregierung nicht gegen den Betrei- lich machen würde. Dabei würde man die Bergleute ber vorgeht, werden wieder einmal die Leute vor Ort die enormen Belastungen mit Radioaktivität insbesondere in Arbeit machen müssen und Anzeige erstatten. der Luft bei harter körperlicher Arbeit in Schutzanzügen aussetzen. Wahrscheinlich hat man aber wegen der nach- Was die Strahlenbelastung betrifft, ist die Stimmung lassenden Standfestigkeit vermutlich gar nicht mehr die wirklich auf dem Tiefpunkt. Das Bundesamt für Strah- Zeit, das Bergwerk zu räumen. Doch das wird derzeit lenschutz hat deutlich gemacht, dass spätestens nach von der AG Optionsvergleich geprüft. 150 Jahren mit dem Austritt von Radioaktivität über den schon heute erlaubten Grenzwerten zu rechnen ist. Die Eine geordnete Schließung ist aber ungemein wichtig Menschen fragen sich daher: Warum sollten die Aussa- für Menschen und Umwelt, da seit 1988 Salzlauge ins gen stimmen, dass zu keiner Zeit eine Gefährdung für Bergwerk fließt, derzeit cirka 12 Kubikmeter am Tag. die Bevölkerung besteht? Die Linke fordert deshalb ein Das Schließungskonzept muss verhindern, dass durch Messprogramm für die Umgebungsluft und das Trink- das Wasser Radioaktivität aus dem Bergwerk in die Bio- wasser und eine unabhängige Überprüfung aller vorge- sphäre gelangt. nommenen Strahlenmessungen im Bergwerk. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (Beifall bei der LINKEN) Diese Situation ist für die Bürgerinnen und Bürger der Das Fazit ist und bleibt nach den Erkenntnissen von Standortgemeinden ungemein belastend. Um neues Ver- Asse II: So schnell wie möglich raus aus der gefährli- trauen aufzubauen, haben das niedersächsische Umwelt- chen Atomenergie! ministerium als Kontrollbehörde vor Ort, das Bundesfor- Vielen Dank. schungsministerium, dem der Betreiber zugeordnet ist, und das Bundesumweltministerium als oberste Überwa- (Beifall bei der LINKEN) chungsbehörde für den Umgang mit Radioaktivität im Herbst 2007 im Zuge erweiterter Öffentlichkeitsbeteili- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gung vereinbart, Vertreter der regionalen Bevölkerung Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria eng in die Prüfung der unterschiedlichen Schließungs- Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion. konzepte mit einzubeziehen. Nicht zuletzt durch diese erweiterte Öffentlichkeitsbeteiligung wurde in den ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gangenen Tagen die Kontamination von Teilen der Salz- lauge bekannt. Zwar wusste der Betreiber bereits seit Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): einigen Jahren davon und hat dies auch dem niedersäch- (B) sischen Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie (D) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! mitgeteilt. Doch von dort gelangte die Nachricht nicht, Seit einigen Tagen ist bekannt, dass es im Versuchsend- wie eigentlich vorgeschrieben, zum niedersächsischen lager Asse II in der Nähe von Wolfenbüttel Laugenzu- Umweltministerium. flüsse gibt, die mit Caesium-137 kontaminiert sind. So- wohl die Laugenzuflüsse als auch die mangelnde (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Standsicherheit – in Gutachten wird davon ausgegangen, NEN]: Ach!) dass das Bergwerk vermutlich nur noch bis Mitte des kommenden Jahrzehnts ausreichend standsicher sei, um Darüber hinaus hat der Betreiber ohne strahlenschutz- Bergleute unter Tage arbeiten zu lassen – resultieren da- rechtliche Genehmigung die kontaminierte Lauge zu- raus, dass Asse II von 1909 bis 1964 als Salzbergwerk sammen mit weiterem radioaktiven Abfall in die unterste genutzt wurde und durchlöchert ist wie ein Schweizer Sohle des Bergwerks, den sogenannten Tiefenauf- Käse. Nach heutigen Maßstäben wäre es inakzeptabel, schluss, verbracht. Laut Fachleuten besteht zwar keine einen solchen Salzstock als Endlager zu nutzen. Gefahr für Mensch und Umwelt, allerdings wissen die Experten noch nicht konkret, woher dieses Caesium-137 1965 aber kaufte das GSF-Forschungszentrum für stammt. Das niedersächsische Umweltministerium als Umwelt und Gesundheit, heute das Helmholtz-Zentrum Überwachungsbehörde hat daraufhin sofort eine weitere München, im Auftrag des Bundes die Asse und führte Verbringung radioaktiven Materials in den Berg unter- bis 1995 Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für die sagt und bis auf Weiteres die Abstimmung aller Ent- Endlagerung durch. Von 1967 bis 1978, bis Ministerprä- scheidungen des LBEG bezüglich der Asse angeordnet. sident Albrecht dem ein Ende setzte, fand die Einlage- rung von mehr als 125 000 Fässern mit schwachradioak- Weiterhin haben der niedersächsische Umweltminis- tivem Abfall und 1 300 Fässern mit mittelradioaktivem ter Sander, Bundesumweltminister Gabriel und die Bun- Abfall statt. desforschungsministerin Schavan am Dienstag in Berlin vereinbart, bis August einen Statusbericht zur Situation Nach Beendigung der Forschungsarbeiten bereitet der der Asse zu erarbeiten. Dabei helfen soll die Taskforce Betreiber die Schließung der Anlage vor. Das ist deshalb aus Fachleuten von Bund und Land. Darüber hinaus sol- ein höchst schwieriges Unterfangen, da der radioaktive len die Arbeiten zur Schließung der Asse – das ist insbe- Abfall vermutlich zumindest zum Teil im Berg bleiben sondere ein Optionsvergleich – sowie die Erstellung muss. Man hatte ihn bei der Einlagerung nicht geordnet abgestellt, sondern teilweise einfach in die Schächte ge- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kippt und mit Salzabraum abgedeckt, was jetzt einen Können Sie jetzt zur Sache reden?) 18232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Maria Flachsbarth (A) der Langzeitsicherheits- und Störfallanalyse – darum Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) geht es eigentlich, Frau Künast – zügig vorangetrieben Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber werden. Herr Sander, Sie haben natürlich recht, wenn Sie mich kritisieren. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Märchenstunde!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich begrüße dieses Vorgehen der drei Minister ausdrück- In der Tat kann man mir vorwerfen, dass ich einen Mi- lich. Es geht darum, Frau Künast, keinen politischen nister, der sich mit einem T-Shirt, auf dem „Kernenergie Profit aus dieser Sache zu schlagen, ist kerngesund“ steht, in Endlagern abbilden lässt, nicht daran gehindert habe, Atomaufsicht in diesem Land zu (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- betreiben. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern die Sorgen und Nöte der Anwohner ernst zu sowie bei Abgeordneten der SPD) nehmen. Ich kann Ihnen allerdings sagen: Wir hatten dazu einen (Beifall bei der CDU/CSU) Vorschlag in die Föderalismuskommission eingebracht, dessen Richtigkeit durch die Ausführungen von Frau Ziel aller Bemühungen muss es sein, die Bevölkerung Flachsbarth unterstrichen worden ist. In der Tat ist es ab- vor Ort und das Betriebspersonal jetzt und in Zukunft zu solut notwendig, die Nuklearaufsicht, die Aufsicht über schützen und Vertrauen in die Verantwortlichen zurück- die Atomkraftwerke und den Strahlenschutz, den Län- zugewinnen. Das Thema ist zu ernst für politische Spiel- dern wegzunehmen, damit sie nicht weiter in solchen chen und Schuldzuweisungen. Die Zeit ist zu knapp, um sach- und fachunkundigen Händen liegt. akademisch über Vor- und Nachteile der Anwendung un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN terschiedlicher Rechtssysteme zu debattieren. Deshalb sowie bei Abgeordneten der SPD – Jochen- begrüßt die Union, dass die drei Minister an der im Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sieben Jahre Herbst 2007 vereinbarten Zusammenarbeit festhalten. Es hatten Sie Verantwortung!) geht jetzt darum, zügig ein Konzept für eine geordnete und sichere Schließung der Asse zu erarbeiten, das die – Lieber Herr Kollege, ich bin gerne bereit, über Verant- Sorgen der Menschen aufnimmt und die offenen Fragen wortung und über alle Fehler zu reden. Wir brauchen uns der Bürger und Fachleute beantwortet. nicht zu scheuen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Über die (B) Zuruf der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- eigenen Fehler!) (D) NIS 90/DIE GRÜNEN]) – auch über die eigenen, Herr Eisel –, darüber zu reden. Für die Unionsfraktion bitte ich deshalb die zuständi- Aber wenn das so ist, dann frage ich mich, warum die gen Bundesministerien, den Ausschuss für Bildung und CDU, die FDP und noch – ich vermute, das wird anders Forschung sowie den Umweltausschuss regelmäßig über werden – die SPD die Einsetzung des dafür notwendigen den Fortgang der Arbeiten zu unterrichten. Instruments, nämlich eines Parlamentarischen Untersu- chungsausschusses, scheuen wie der Teufel das Weih- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE wasser. GRÜNEN]: Frau Schavan könnte hier zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beispiel reden! Dann könnte sie uns unterrich- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Wi- ten! Aber die kneift!) derspruch bei Abgeordneten der SPD) Ich bitte sicherzustellen, dass trotz aller professionellen Gehen Sie doch voran! Machen Sie doch! Klagen Sie Routine das Bewusstsein für die Notwendigkeit der be- doch Trittin an, und sagen Sie: Der ist verantwortlich! sonderen Sorgfalt bei allen Beteiligten gewahrt bleibt. Klären Sie das doch im Untersuchungsausschuss auf! (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Aber setzen Sie sich dafür ein, anstatt auf Arbeitskreise GRÜNEN]: „Gewahrt bleibt“?) und weiteres Vertuschen zu setzen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Einrichtung eines Qualitätsmanagementsystems bei Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das der LBEG ist dazu ein guter Schritt. wird doch eine Quälerei!) Herzlichen Dank. Zweite Bemerkung: Wir haben doch einen ganz einfa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen Vorgang. Der Bundesumweltminister als Verant- neten der SPD – Renate Künast [BÜND- wortlicher hat eines festgestellt, nämlich dass er Zweifel NIS 90/DIE GRÜNEN]: War ja unterirdisch!) an der Zuverlässigkeit der Asse-Betreiber hat. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: NEN]: Hört! Hört!) Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Der Bundesumweltminister hat recht, der Täter ist ge- Kollege Jürgen Trittin das Wort. ständig. Die Bundesregierung antwortete auf meine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18233

Jürgen Trittin (A) Kleine Anfrage: Nach den Erkenntnissen der Bundesre- Wer jetzt so tut, als seien die Vorkommnisse in der (C) gierung hat es das LBEG versäumt, das niedersächsische Asse nur ein peinlicher Zwischenfall gewesen, der ver- Umweltministerium als Aufsichtsbehörde rechtzeitig zu kennt, dass genau diese die Fragen zur Eignung von informieren und eine ausreichende strahlenschutzrechtli- Gorleben als Endlager neu aufwerfen. Hören Sie, die che Genehmigungsgrundlage für das Verbringen der Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, endlich auf, Lauge in den Tiefenaufschluss sicherzustellen. – Das ist bei dem Auswahlverfahren für ein Endlager einen Ver- der Kern, da stellt sich die Frage der Verantwortung. gleich unterschiedlicher Wirtsgesteine, wie der Bun- Wenn Sie, Herr Gabriel, sagen, der Betreiber ist unzu- desumweltminister ihn durchführen möchte, zu blockie- verlässig, dann schauen Sie auf Ihre rechte Seite. Da sitzt ren! Nur dann werden Sie Ihrer Verantwortung für die der Betreiber, er heißt . Das ist der Zukunft gerecht. Punkt, an dem Handeln angesagt ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – bei der SPD und der LINKEN) Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Der Brandstifter ruft nach der Feuer- Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Ich habe wehr!) gestern von Herrn Pofalla, dem Nachfolger von Herrn Hintze, Ich will Ihnen eine ganz einfache Prophezeiung ma- chen. Es wird noch Verschiedenes – auch die Rolle von (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Guter Frau Bulmahn – in dem Untersuchungsausschuss, den Mann!) Sie in Niedersachsen sicherlich mittragen werden, auf- gehört, Atomenergie sei Ökoenergie. geklärt werden. Es wird noch eine Weile diskutiert, und es werden Statusberichte geschrieben. Am Ende – da (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Recht sind wir beide sicher – ist das Ergebnis eindeutig: Es hat er!) wird nicht mehr die Helmholtz-Gemeinschaft sein, und es wird nicht mehr das Bergrecht sein, die die Schlie- Das wäre die erste Ökoenergie, bei der man damit rech- ßung dieses Bergwerks organisieren, sondern es wird die nen muss, dass sie Caesium, Plutonium und andere Institution sein, die das fachkundig zum Beispiel schon Stoffe an die Biosphäre und an das Trinkwasser abgibt. in Morsleben und anderswo gemacht hat, nämlich das Wenn das Öko ist, dann bin ich kein Öko mehr! Bundesamt für Strahlenschutz. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn Sie einen kollegialen Rat hören wollen, dann sage sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (B) (D) ich Ihnen: Entscheiden Sie das schnell! Entscheiden Sie KEN) es selber, anstatt dazu gedrängt zu werden! Noch ist dazu Zeit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Christoph Pries hat jetzt das Wort für die SPD-Frak- tion. Letzte Bemerkung: Asse ist nicht irgendein Salzstock. Asse war das Vorbild für Gorleben. Asse ist von Herrn (Beifall bei der SPD) Professor Kühn, dem Hauptgutachter für Gorleben, be- gutachtet worden. Ich rufe gerne in Erinnerung, was Christoph Pries (SPD): Herr Professor Kühn im Jahr 1967 über die Asse ge- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- schrieben hat: legen! Meine Damen und Herren! Das Versuchsendlager Es lässt sich aus allen Gegebenheiten schließen, Asse II ist der GAU der deutschen Atomindustrie. dass die Gefährdung der Schachtanlage Asse II 126 000 Fässer schwach- und mittelradioaktiven Atom- durch Wasser oder Laugeneinbrüche als minimal mülls lagern in einem Salzbergwerk, das feucht und ein- anzusehen ist bzw. mit an Sicherheit grenzender sturzgefährdet ist. Was lernen wir daraus? Wahrscheinlichkeit sogar auszuschließen ist. Viel- mehr lässt sich die diesbezügliche Situation gerade Erstens. Die Halbwertzeit wissenschaftlicher Vorher- auch im Vergleich mit anderen Salzvorkommen als sagen ist deutlich kürzer als die Halbwertzeit radioakti- durchaus günstig bezeichnen. ver Stoffe. Wenn die Asse in ihren Grundvoraussetzungen gegen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Laugeneinbruch im Vergleich zu anderen Salzstöcken des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geologisch eine günstige Situation aufweist, dann spä- Zweitens. Bei der Suche nach einem atomaren Endla- testens ist es an der Zeit, die Frage eines Auswahlverfah- ger müssen Sorgfalt und Sicherheit immer höchste Prio- rens mit Blick auf Gorleben, die Orientierung auch auf rität haben. andere Wirtsgesteine statt auf Salz endlich auf die Tages- ordnung zu setzen. Drittens. Atomenergie ist keine Ökoenergie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das ist DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der doch der Punkt!) LINKEN) 18234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Christoph Pries (A) Sie ist eine Hochrisikotechnologie und produziert radio- Erstens. Es dürfen keine Maßnahmen vorgenommen (C) aktiven Abfall, der für Jahrtausende sicher gelagert wer- werden, die ein alternatives Schließungskonzept oder den muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der eine vollständige bzw. teilweise Rückholung der einge- Union, Sie wollen der Atomenergie ein Ökolabel aufkle- lagerten Abfälle unmöglich machen. ben. Dann müssen Sie den Menschen ehrlich sagen: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der CDU/CSU: Tun wir ja!) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel Eine Laufzeitverlängerung der deutschen Atom- Troost [DIE LINKE]) kraftwerke um zehn Jahre bedeutet 3 500 Tonnen Zweitens. Vor einer Entscheidung über den Ab- hochradioaktiven und 8 000 Kubikmeter schwach- und schlussbetriebsplan müssen alle Optionen eingehend ge- mittelradioaktiven Abfalls zusätzlich. Die SPD-Bundes- prüft werden. Die sicherste, nicht die einfachste Lösung tagsfraktion will das nicht. Wir stehen auch deshalb wei- muss den Zuschlag erhalten. terhin zum Atomausstieg. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Auch eine Schließung der Asse nach Berg- Die Geschichte des Versuchsendlagers Asse ist ein recht muss den Prüfungsmaßstäben bei einem atom- einziges Sammelsurium von Fehlprognosen und Intrans- rechtlichen Genehmigungsverfahren in vollem Umfang parenz. Das neueste Kapitel dieser Geschichte ist die genügen. Entsorgung von 77 000 Litern radioaktiver Lauge. Seit 2004 tritt auf der 750-Meter-Sohle Lauge auf, die mit Viertens. Die umfassende Information und Einbin- Caesium-137 kontaminiert ist. Die Caesium-Konzentra- dung der Bevölkerung muss während des gesamten Ver- tion in der Flüssigkeit überschreitet den zulässigen fahrens gewährleistet sein. Grenzwert zum Teil um das Achtfache. Es ist nicht aus- zuschließen, dass die Lauge durch Kontakt mit dem ein- In diesem Zusammenhang möchte ich an alle Betei- gelagerten Atommüll kontaminiert wurde. ligten appellieren: Arbeiten Sie konstruktiv zusammen! Asse II ist ein Problem, für das wir alle verantwortlich Die Betreibergesellschaft hat diese Lauge aufgefan- sind. Nicht formale Ressortzuständigkeit, sondern Kom- gen und zwischen Februar 2005 und Januar 2008 auf der petenz muss den Ausschlag geben. Das sind wir den 975-Meter-Sohle nicht rückholbar entsorgt. Diese Ent- Menschen im Landkreis Wolfenbüttel schuldig. sorgung geschah ohne eine ausreichende strahlenschutz- rechtliche Genehmigung, ohne Kenntnis der atomrecht- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da (B) lichen Aufsichtsbehörden und selbstverständlich ohne wird das BMBF ausscheiden!) (D) Information der Öffentlichkeit. Ich möchte meine Ausführungen mit einem Dank be- Die Verantwortlichen haben die kontaminierte Lauge enden. Mein Dank gilt Umweltminister Gabriel für sein nach eigenen Angaben aus Gründen des betrieblichen schnelles und konsequentes Handeln. Strahlenschutzes entsorgt. Wie kommt es dann, dass wir (Beifall bei der SPD) in den jährlichen Strahlenschutzberichten nicht ein Wort darüber finden? Wie kommt es darüber hinaus, dass wir Mein Dank gilt aber auch den Kommunalpolitikern im aus dem zusammenfassenden Laugenbericht vom Landkreis Wolfenbüttel. Nur deshalb, weil im Umwelt- 29. Februar 2008 alles Mögliche erfahren, nur nichts ausschuss des Kreistages beharrlich Fragen gestellt wer- über die vor der Einlagerungskammer 12 genommenen den, diskutieren wir heute über die Missstände im Ver- Proben? Wie kommt es schließlich, dass die Wahrheit suchsendlager Asse II. Dieses Engagement sollte man erst auf kritische Nachfragen von Kommunalpolitikern auch von dieser Stelle aus einmal würdigen. und Journalisten hin scheibchenweise ans Licht gekom- men ist? Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Informationen wurden der Öffentlichkeit ganz be- (Beifall bei der SPD) wusst vorenthalten. Aus diesem Grund hat die SPD- Bundestagsfraktion erhebliche Zweifel an der Zuverläs- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sigkeit der Betreibergesellschaft. Wir begrüßen daher, Jochen-Konrad Fromme hat jetzt das Wort für die dass Bundesumweltminister Gabriel diese Zuverlässig- CDU/CSU-Fraktion. keit nun überprüfen lässt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt zugleich die Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Einsetzung einer Taskforce zu Asse II. Wir erwarten, Herren! Der Beitrag des Kollegen Trittin war ein Beweis dass dadurch endlich alle Fakten zur und alle Missstände dafür, dass hier ein Stellvertreterkrieg geführt werden in der Asse auf den Tisch kommen. Sehr geehrter Herr soll. Bundesumweltminister, unsere Unterstützung haben Sie. Wie Sie nehmen auch wir die Sorgen der Bevölkerung (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ im Landkreis Wolfenbüttel sehr ernst. Für uns gilt: DIE GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18235

Jochen-Konrad Fromme (A) Ich empfinde es als zynisch, dass mit den Ängsten der Wir haben die Asse-Begleitgruppe eingesetzt. Wir ha- (C) Menschen Politik betrieben wird. Unsere Aufgabe ist, ben den Optionenvergleich eingeleitet. Ich sage es noch uns um die Sicherheit der Menschen vor Ort zu küm- einmal: Die Tatsache, dass wir heute darüber diskutie- mern. Es ist eine Erblast, mit der wir es zu tun haben. ren, hat ihre Wurzel (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Bürgerinitiative!) Unser erstes Ziel muss sein, alles zu tun, was den Men- schen dient. in unserem veränderten Verhalten. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – Entscheidend ist nicht die Frage, nach welchem Recht Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: man vorgeht. Im Hinblick auf Technik und Sicherheit Wir reden über Ihren Atommüll!) kommt es auf den richtigen Lösungsweg an, und es ist völlig egal, ob wir den nach Bergrecht oder nach Atom- – Herr Kollege Trittin, ich will Ihnen einmal Folgendes recht beschreiten. sagen: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, der zeigt mit zwei Fingern auf sich selbst. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein!) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir aber noch lange Symposien darüber durchfüh- Sie waren von 1990 bis 1994 in Niedersachsen verant- ren, dann verlieren wir Zeit, die die Menschen vor Ort wortlich, Sie waren von 1998 bis 2005 im Bund verant- nicht haben. Darum geht es doch. wortlich, und da ist nichts passiert. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage Ihnen: Wir haben die positiven Elemente des 2005 hat es einen Kulturwechsel in der Frage des Atomrechts, nämlich die Öffentlichkeit, und die positi- Umgangs mit der Asse gegeben; denn seitdem herrscht ven Elemente des Bergrechts, nämlich die vermehrten Offenheit, und wir kümmern uns um die Menschen. Die Klagemöglichkeiten der Bürger, im Verfahren freiwillig Kollegin Schavan war die erste verantwortliche For- verbunden. Wir haben sozusagen das Optimum aus bei- schungsministerin, die vor Ort war. den Rechtsgebieten gebildet. Etwas Besseres kann es doch nicht geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jedem, der heute Kritik daran übt, stelle ich immer Bundesumweltminister Gabriel war als zuständiger Mi- wieder die Frage, was er gemacht hat, als er die Mög- (B) nister vor Ort. Sie, Herr Trittin, habe ich da noch nie ge- lichkeit hatte, zu handeln. (D) sehen, obwohl Sie lange für diese Fragen zuständig wa- ren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ihnen, die Sie die heutige Aktuelle Stunde beantragt ha- der FDP) ben, kann ich nur sagen: Sie sollten sich schämen und mit einem roten Kopf hier herauslaufen, weil Sie in den Dass die Informationen heute öffentlich sind, ist ein Jahren, in den Sie Regierungsverantwortung trugen Zeichen der neuen Kultur. – immerhin sieben Jahre Berlin und vier Jahre Hannover –, nichts gemacht haben. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Verdienst der Bürgerinitiative!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erst die Tatsache, dass wir alles auf den Tisch gelegt ha- Sie sind doch die Letzten; denn – ich sage es noch ein- ben, hat den Landkreis in die Lage versetzt, die Fragen mal – Sie wollen sich gar nicht um Asse kümmern, son- zu stellen. dern hier einen Stellvertreterkrieg führen. Das finde ich nicht in Ordnung. Nun sage ich ganz offen: Transparenz hat für mich auch etwas mit aktivem Handeln zu tun. Das bedeutet: (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht nur auf Anfrage auf den Tisch legen, sondern selbst NEN]: Ach Gott!) Hinweise geben. Das ist hier nicht geschehen. Insofern müssen wir besser werden. Zu dem Vorschlag, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, sage ich: Das bringt uns, so reizvoll das Seit 2007 gibt es die Vereinbarung darüber, wie wir mit wäre, weil man da gerade Ihre Rolle, Herr Trittin, ganz diesen Dingen umgehen. Seitdem – das ist der Punkt – hat besonders gut beleuchten könnte, nichts. sich vieles geändert. Wir haben die Menschen dort ernst (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: genommen und ihnen gesagt: Wir müssen uns um die Machen Sie doch!) Sache kümmern. – Übrigens war ich schon viel öfter und viel früher da als andere, selbst in der Zeit, als wir noch Bündeln wir doch die Kräfte, um die Probleme anzupa- in der Opposition waren. Ich glaube, es gibt kaum je- cken und technisch nach dem besten Weg zu suchen. manden hier im Raum, der sich so oft um die Angele- genheiten dort gekümmert hat. Egal, wie man zu den einzelnen Fragen steht, eines steht doch fest: Wir haben verstrahlte Abfälle aus der (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Medizin, aus der Forschung. 18236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Jochen-Konrad Fromme (A) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) von Atomenergie umweltfreundlich und preiswert ist. (C) Als Erstes frage ich mich: Für wen ist sie preiswert? Ich habe noch nie gehört, dass Sie Nuklearmedizin ab- lehnen. Ich für mich persönlich lehne sie auch nicht ab. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber wenn man sie nicht ablehnt, dann muss man sich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch um die Reste kümmern. Ist sie für die Atomwirtschaft oder für den Steuerzahler (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und die öffentliche Hand preiswert? Deswegen brauchen wir Endlagerung, unabhängig von Wir diskutieren über Asse, aber das Thema ist noch der Energiefrage, bei der ich natürlich eine andere Auf- wesentlich komplexer; der Kollege Tauss hat das eben fassung habe als Sie. Das ist selbstverständlich, weil Sie schon angerissen. Ich möchte das nun aus finanzieller ja in den letzten Jahren nichts dazugelernt haben. und haushalterischer Sicht noch einmal etwas beleuch- ten. Es geht ja nicht nur um diese Einrichtung, sondern Meine Damen und Herren, deswegen sage ich: Es ist es gibt noch 10 bis 15 weitere Einrichtungen, wo atoma- verlogen, wenn man sich hier hinstellt und so tut, als rer Abfall entsorgt wird. Hier fallen auch entsprechende wenn man etwas für die Menschen tun wollte, aber in Kosten an, die bei keinem Preisvergleich zwischen ato- Wahrheit nur Klamauk macht, um eine ganz andere marer und nichtatomarer Energie berücksichtigt werden. Frage zu diskutieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN) NEN) Vielmehr werden sie vom Steuerzahler bezahlt. Diesen Lassen Sie uns doch die Sorgen der Menschen vor Ort Aspekt müssen wir auch mit einbeziehen. ernst nehmen und uns darum kümmern. Lassen Sie mich zunächst noch einiges zu Asse aus fi- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nanzieller Sicht hinzufügen: Im Finanzplan sind bis zum NEN]: Ihnen steht doch das radioaktive Was- Jahr 2017 insgesamt 775 Millionen Euro vorgesehen; ser bis zum Hals! Wo wollen Sie es denn einla- diese Zahl sollte man sich einmal auf der Zunge zerge- gern?) hen lassen. Es handelt sich um Barmittel, aber logischer- Ich sage Ihnen: Anders als Sie tun wir das. weise auch um Verpflichtungsermächtigungen, weil man ja so weit in die Zukunft plant. Im Plan ist vorgesehen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dieses Jahr 57 Millionen Euro auszugeben. Frau Minis- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- terin Schavan hat gestern, so ist mir berichtet worden, im NEN]: Quatsch!) Bildungsausschuss gesagt, dass die 57 Millionen Euro (B) (D) nicht reichen und wir wahrscheinlich 100 Millionen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Euro brauchen, zu 100 Prozent vom Bund finanziert. Jetzt spricht der Kollege Klaus Hagemann für die Man sieht also, dass die Schätzungen nicht mit der SPD-Fraktion. Realität übereinstimmen und dass wir mehr brauchen (Beifall bei der SPD – Renate Künast [BÜND- werden. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst die Menschen (Jörg Tauss [SPD]: 100 Millionen Euro im radioaktiv vergiften, sich dann aber hier hin- Jahr ist die BAföG-Erhöhung!) stellen und den dicken Maxe machen! – Ge- genruf des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]: – Ja. Da in der ersten Reihe ein bisschen herumzu- Dem Haushaltsausschuss ist ein Bericht vorgelegt pupen, hilft ja auch nicht! – Weiterer Zuruf der worden. Darin wird die Frage der Rückstellungen beant- Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE wortet. Ich darf daraus zitieren: GRÜNEN]: Sie haben doch gar nichts zum Lager gesagt! Wo ist denn das sichere Endla- Die als Rückstellungen in den Passiva der Bilanzen ger? – Gegenruf des Abg. Jochen-Konrad der Helmholtz-Gemeinschaftszentren ausgewiese- Fromme [CDU/CSU]: Schacht Konrad zum nen Kostenschätzungen sind vielfach mit Unsicher- Beispiel! – Gegenruf der Abg. Renate Künast heiten behaftet. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo? Gorle- Wir sehen also, dass all diese Zahlen mit großen, dicken ben – Salz, bitte! – Gegenruf des Abg. Jochen- Fragezeichen zu versehen sind. Wenn ich die Entwick- Konrad Fromme [CDU/CSU]: Ja, ja, ja! Stel- lung in den letzten Jahren beobachte, dann stelle ich fest: len Sie sich doch einmal hin und nennen Sie Sie sind nicht gleichmäßig leicht gestiegen, sondern Ihre Alternative!) deutlich nach oben gegangen; das sei noch einmal he- rausgestellt. Die Helmholtz-Gemeinschaft wird zu Klaus Hagemann (SPD): 90 Prozent durch den Bund finanziert; auch das sollten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wir hier noch einmal deutlich machen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem ich (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die aufgeheizte Debatte verfolgt habe, stellt sich mir nun NEN]: Frau Schavan!) die Frage: Wie wirken sich diese Entwicklungen finan- ziell aus? Das ist die Hauptfrage; denn es geht ja darum, Selbstverständlich muss gehandelt werden. Ich eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die Nutzung glaube, da sind wir uns alle einig. Das oberste Prinzip Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18237

Klaus Hagemann (A) muss natürlich sein: Sicherheit der Menschen und der Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Man hat in (C) Umwelt bedingt die Sicherheit der atomaren Anlagen. Karlsruhe jetzt plötzlich ein bisher unentdecktes Fass ge- Deswegen müssen sowohl alle technischen als auch alle funden. Man weiß noch nicht, was darin enthalten ist. finanziellen Anstrengungen unternommen werden. Auch hierdurch werden Mehrkosten entstehen. Hinzu kommt: Ein verrückter Mensch hat atomaren Müll aus Wir haben uns schon im Herbst bemüht; das ist nicht Karlsruhe mit nach Hause nach Landau genommen. Da- erst jetzt auf die Tagesordnung gekommen. Herr Bun- raufhin mussten neue Sicherheitsmaßnahmen ergriffen desumweltminister, bei den Haushaltsberatungen haben werden. Dafür mussten zig Millionen Euro aufgebracht wir durchgesetzt, dass zwei Stellen aus dem Stellenplan werden. All diese Kosten müssen beim Atomstrom ein- des Forschungshaushalts in Ihr Haus überwiesen wer- berechnet werden; leider geschieht das nicht. Deswegen den, damit die Kontrolle dieser Maßnahmen im Bereich sollten wir nicht weiterhin über neue Atomkraftwerke Asse vorgenommen werden kann. Das ist nicht so leicht reden. Die Zahlen machen das deutlich. gewesen. Beispielsweise die FDP hatte dagegenge- stimmt, Frau Flach. Herzlichen Dank. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die ist ja immer gegen Kontrolle!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Mit dem Koalitionspartner haben wir längere Diskussio- nen dazu gehabt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir haben schon im Herbst im Haushaltsausschuss Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel. beschlossen, dass jetzt, zum 30. Juni, ein Bericht über Asse vorzulegen ist. Auch darauf möchte ich noch ein- Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- mal hinweisen. schutz und Reaktorsicherheit: (Beifall bei der SPD) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe bei einer Reihe von Wortbeiträgen gedacht: Was werden Die Finanzprobleme gelten nicht nur für Asse, son- wohl die Menschen im Landkreis Wolfenbüttel, in Rem- dern auch – Herr Tauss hat darauf hingewiesen – für die lingen und in den umliegenden Ortschaften denken an- Wiederaufbereitungsanlage in Karlsruhe. Da geht es um gesichts der begrenzten Bereitschaft einer Reihe von – man höre und staune – 60 Kubikmeter atomar ver- Rednern, etwas dazu zu sagen, wie den Menschen vor seuchten Müll. Dieser Müll soll schon seit 20 Jahren ent- Ort geholfen werden kann? sorgt werden, und geschehen ist bisher nichts; man muss (B) Frau Kotting-Uhl, was haben Sie in Ihrem Redebei- (D) es leider sagen. Man hat 1991 geschätzt: 2 Milliarden trag eigentlich zum Problem und zur Lösung des Pro- DM sind zu bezahlen. Wir sehen heute, welche Summen blems gesagt? auf uns zukommen: Bis zum Jahr 2035 ist nach heutiger Schätzung mit etwa 5 Milliarden Euro zu rechnen, und (Beifall bei der FDP) zwar für die WAK und die anderen Forschungsreakto- ren. Meinem Eindruck nach gar nichts! Sie haben gesagt, wir sollten das Verfahren wechseln, und es solle Atomrecht (Jörg Tauss [SPD]: Euro!) gelten. Ihnen ist gar nicht aufgefallen, dass bei dem vor- liegenden Problem das Atomgesetz die Grundlage der Ich sage noch einmal: 5 Milliarden Euro, die nirgendwo Entscheidung des Bergamtes in Niedersachsen gewesen eingestellt sind, müssen aufgebracht werden. ist. Und sie haben es falsch gemacht. (Ulrich Kelber [SPD]: Für einen einzigen (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Reaktor?) GRÜNEN]: Ich habe nicht Atomgesetz ge- sagt!) – Nicht für einen einzigen Reaktor, sondern für alle For- schungsreaktoren, in denen Atommüll eingelagert wird. – Das heißt, es scheint doch nicht um die Frage zu ge- Dieses Geld fehlt uns im Forschungshaushalt, um bei- hen, auf welchem Verfahrensweg man etwas betreibt, spielsweise die Exzellenzinitiative zu finanzieren sondern es scheint um die Frage zu gehen, ob ausrei- chend Kompetenz da ist und ob wir sie aufrüsten und (Beifall bei der SPD) mehr tun müssen. Ich glaube nicht, dass es Sinn macht, oder das 3-Prozent-Ziel zu erreichen. Diese Kosten müs- sich über die Frage zu unterhalten, welche Verfahrens- sen in die Atomstrompreise einberechnet und gesamtge- schritte wir unternehmen. Ich glaube vielmehr, dass die sellschaftlich gedeckt werden. Leute einen Anspruch darauf haben, dass alle, die an die- sem Thema beteiligt sind – das niedersächsische Landes- Ich verweise auf die Fixkosten, die in Karlsruhe zur- bergamt, die Fachaufsicht in Niedersachsen, der Betrei- zeit anfallen, und zwar für den Nullbetrieb. Obwohl ber, die Leute im Forschungsministerium, die etwas noch nichts geschieht, fallen dort Fixkosten an: Das sind davon verstehen, und unsere Experten aus dem Bundes- 3 Millionen Euro im Monat, also 36 Millionen Euro im amt für Strahlenschutz und dem Bundesumweltministe- Jahr. Noch kann dort nicht gehandelt werden, weil Ge- rium –, gemeinsam zusammenarbeiten, um das Problem nehmigungen nicht erteilt worden sind, weil Nachrüs- zu lösen. Es geht nicht darum, hier vor Ort Verfahrens- tungen vorgenommen werden müssen. spielereien zu betreiben. 18238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Bundesminister Sigmar Gabriel (A) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Ich sage Ihnen – das wissen Sie auch von mir –: Ich (C) FDP – Zuruf der Abg. Sylvia Kotting-Uhl bin natürlich der Überzeugung, dass eine Menge dafür [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) spricht, dass wir ein Bundesendlager nach § 9 a des Atomgesetzes einrichten. Das wird auch weiter beraten Ich glaube übrigens, dass man über Gorleben lange werden. Dazu gibt es – übrigens ausgehend von Ihrem debattieren kann. Aber dass man, Frau Kotting-Uhl, Banknachbarn – eine andere Rechtsauffassung. Denn wirklich nichts anderes im Sinn hat, als anhand der Sor- das Bundesumweltministerium hat früher die Auffas- gen, die dort real existieren, sozusagen eine politische sung vertreten, dass hier nach Bergrecht verfahren wer- Verantwortungsdebatte zu führen, um am Ende auf Gor- den muss. Ich erspare es mir, Ihnen all das vorzulesen. leben zu sprechen zu kommen, wird der Problemlage vor Es gab vorher unter dem Kollegen Trittin eine völlig an- Ort in keiner Weise gerecht. dere Rechtsauffassung als die, die ich heute vertrete. Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Carl- macht allerdings keinen Sinn, dass wir uns heute über Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) die Frage des rechtlichen Rahmens streiten. Deswegen sage ich Ihnen, was wir gemacht haben. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir haben 2007 zum ersten Mal ein gemeinsames Ver- NEN]: Natürlich macht es Sinn!) fahren mit den eben beschriebenen Beteiligten vor Ort Sind wir in der Praxis in der Lage, die Schritte einzulei- organisiert. Wir, Frau Kotting-Uhl, haben uns dafür ent- ten, die gewährleisten, dass wir das richtige Schlie- schieden, die Vorschläge zur Stilllegung und zur Schlie- ßungskonzept verfolgen? Ja oder nein? Hier sind der ßung des Bergwerks in der Asse ergebnisoffen zu über- Kollege Sander, die Kollegin Schavan und ich absolut prüfen, einer Meinung, dass wir es gemeinsam zu bewältigen haben. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nach unserem Antrag! Ja!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da sind Sie in guter Gesellschaft!) und zwar bis hin zu der Frage, ob wir dort nicht eine Teilrückholung oder vollständige Rückholung einleiten Daran gibt es keinen Zweifel, meine Damen und Herren. müssen; allerdings habe ich große Zweifel daran, dass (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der das jemals möglich sein wird. FDP) Wir haben den Interessen der Bürgerinnen und Bürger In dem laufenden Verfahren ist es nach unserer Auf- vor Ort Rechnung getragen. Wir haben gesagt: Wir wer- fassung offensichtlich zu Rechtsverstößen gegen das den erstmals dafür sorgen, das, was im Bergrecht nicht, Strahlenschutzrecht gekommen. Wir werden jetzt über- (B) (D) aber im Atomrecht verfahrensrechtlich geht, nämlich prüfen, was noch alles passiert ist. Wir wollen die Doku- eine Öffentlichkeitsbeteiligung, herzustellen. Und hier mentationen einsehen. Wir reden noch nicht über die hat Kollege Fromme absolut recht: Es ist doch erst durch Schließungskonzepte; sie werden derzeit erst überprüft. die Einrichtung dieser Begleitgruppe der Asse vor Ort Wir wollen aber wissen, ob die Aussage des Kollegen mit dem Landrat Jörg Röhmann, mit den Kritikern und Sander zutrifft, dass die Standsicherheit des Grubenge- unter Einbeziehung externer unabhängiger Wissen- bäudes nur bis zum Jahre 2014 gewährleistet werden schaftler gelungen, die Öffentlichkeit so zu beteiligen, kann. Die entscheidende Frage ist, ob wir überhaupt die dass durch die Fragen, die jetzt gestellt wurden, die Pro- Chance haben, unterschiedliche Optionen zu verfolgen. bleme auf den Tisch des Hauses gekommen sind. Niemand – auch Sie nicht – wird Bergleute mit einem Ich habe nicht zu kritisieren, was in der Amtszeit mei- anderen Schließungskonzept als der Flutung dort hinein- ner Vorgänger oder auch der Vorgängerinnen von Frau schicken können, wenn die Sicherheit des Grubengebäu- Schavan passiert ist. Was ich allerdings nicht will, ist, des über 2014 hinaus nicht gewährleistet werden kann. dass ausgerechnet Sie diejenigen kritisieren, die das end- Wir wollen sicherstellen, dass auch geprüft wird, ob lich geändert haben. Das geht nicht. durch technische Baumaßnahmen die Sicherheit des (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Grubengebäudes nicht längerfristig aufrechterhalten FDP) werden kann, zum Beispiel durch den Einsatz von Salz- beton. Bisher ist dort Salzgrus eingebaut worden und Wir fordern den Langzeitsicherheitsnachweis. Das nicht wie in Morsleben Salzbeton. Deswegen ist die Sta- Bundesamt für Strahlenschutz, von dem Sie sagen, dass bilität des Grubengebäudes dort nicht so hoch wie in es zuständig sein soll, prüft den Langzeitsicherheits- Morsleben. Wir wissen daher nicht, mit welchem Schlie- nachweis. Wir haben große Zweifel daran, dass alle Fra- ßungskonzept wir am Ende vernünftigerweise arbeiten gen beantwortet worden sind. Wir haben gesagt: Ihr müssen. Herr Kollege Sander hat recht, dass dies bis müsst eine Störfallanalyse erstellen. – Die ist bis dahin zum Ende des Jahres geklärt sein muss. überhaupt nicht Gegenstand der Beratung gewesen. Herr Kollege Hill, da Sie uns vorhin angegriffen ha- Also, all das, was Sie einfordern – die Fachkompetenz ben, sage ich Ihnen: Beim Thema Morsleben können Sie des Bundesamtes für Strahlenschutz und die des Bun- viel Kompetenz in Ihren Reihen finden. Wir bewältigen desumweltministeriums –, ist in das Verfahren einge- da eine Altlast aus der DDR. bracht worden, und es macht nicht viel Sinn, den Streit darüber zu führen, ob es verfahrensrechtlich besser unter (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist es! – Bergrecht oder unter Atomrecht fällt. Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genau!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18239

Bundesminister Sigmar Gabriel (A) Machen Sie uns nicht zum Vorwurf, dass wir damit nicht im Bundesumweltministerium niemand jemals rechtlich (C) korrekt umgehen würden. Wir sind die richtige Behörde, eingeschaltet. die vernünftig handelt. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der es!) FDP) Machen Sie uns jetzt doch nicht den Vorwurf, wir wür- Ich bin mir nicht ganz sicher, wie Sie vorhin Ihre Hin- den unsere Verantwortung nicht wahrnehmen. weise gemeint haben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Schon FDP) verstanden!) Der Kollege Jürgen Trittin ist der Letzte, dem man Gestatten Sie mir deshalb diese Bemerkung. vorwerfen könnte, er würde mit atomrechtlichen Fragen In der Sache selber wollen wir natürlich auch über- nicht sorgfältig umgehen. Wir beide kennen uns ein paar prüfen, was eigentlich der Grund dafür ist, dass die Tage länger aus unterschiedlichen Zusammenhängen. Helmholtz-Gemeinschaft bei der Anwendung des gel- Wir standen mal näher und waren mal etwas weiter von- tenden Strahlenschutzrechtes Vorschläge gemacht hat, einander entfernt. Ich werfe ihm nicht vor, dass er sich die zu Fehlentscheidungen führen, und warum die nie- damals bei der Entscheidung der Bundesregierung gegen dersächsische Bergbehörde dementsprechend falsch den Wechsel zum Atomrecht entschieden hat. Er wirft reagiert hat. Natürlich gehört das auf den Tisch des Hau- mir meine Rolle heute ebenfalls nicht vor. ses. Wir haben Zweifel an der Fachkunde und Zuverläs- Ich bitte Sie, Frau Kotting-Uhl, Folgendes zu beach- sigkeit des derzeitigen Betreibers. ten: Wir wollen – das ist doch das, was Sie fordern – un- Aber der nächste Schritt muss doch sein, zu klären, serer Zuständigkeit als Bundesaufsicht gerecht werden. wie man diese Zweifel ausräumen kann. Was immer wir Wir sind die oberste Strahlenschutzbehörde; deswegen aufseiten der Betreiber verändern, so ist doch klar, dass haben wir uns eingeschaltet. Wir sind die oberste Atom- wir die, die dort arbeiten, auch in Zukunft auf Dauer aufsichtsbehörde; deswegen haben wir uns eingeschal- brauchen. Niemand kann doch auf die Idee kommen, die tet. Werfen Sie uns daher nicht das vor, was wir jetzt tun. jetzt dort arbeitenden Bergleute und Ingenieure auszu- Genau das machen Sie aber heute. tauschen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Patrick Döring [FDP]: So ist es!) NEN]: Ich werfe Ihnen gar nichts vor!) (B) Niemand hat mehr Kompetenz, was die Asse angeht, Das werden wir uns von Ihnen nicht gefallen lassen. Da (D) als diejenigen, die dort arbeiten. Wir können ihnen nicht können Sie sicher sein. vorwerfen, sie würden ihren Job nicht vernünftig ma- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen. Es stellen sich vielmehr die Fragen: Ist die Pro- der CDU/CSU und der FDP) zesssteuerung sinnvoll? Ist das Management vernünftig organisiert oder müssen wir da aufrüsten? Welche Leit- Letzte Bemerkung, was den Gesamtzusammenhang fragen müssen die Basis für die Arbeit sein? Ich werfe mit der Region angeht. Frau Kotting-Uhl, Sie dürfen sich den Bergleuten und Ingenieuren doch nicht vor, sie wür- bei der Debatte um die Endlagerung nicht wie Bieder- den falsch handeln. Die Prozesssteuerung läuft offen- mann und die Brandstifter verhalten. Sie fragen uns sichtlich nicht korrekt. heute, wie wir vor Ort angesichts von Asse II Akzeptanz für Schacht Konrad finden wollen. Um das zu erreichen, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE dürfen Sie erstens nicht permanent Schacht Konrad in GRÜNEN]: Richtig! Genau!) der Öffentlichkeit infrage stellen. Frau Kotting-Uhl, diese Leute und ihr Wissen brauchen wir heute, morgen und leider auch noch übermorgen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist unter anderem ein Projekt, für das Sie mitverant- der CDU/CSU und der FDP) wortlich zeichnen. Zweitens müssen Sie den Menschen die volle Wahrheit sagen, und die lautet, dass bei Konrad Ich will darauf hinweisen, dass das Problem nicht auf der Langzeitsicherheitsnachweis, die Störfallanalysen, triviale Art gelöst werden kann, indem wir das Verfahren also all das, was bei Asse II aufgrund der historischen wechseln. Damit haben wir nichts gewonnen. Wir wer- Dimension dieses Versuchsbergwerks nicht geschehen den die Menschen auch weiterhin brauchen. ist, vorher stattgefunden hat. Das heißt, all die Probleme, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE die wir heute haben, gibt es bei Konrad deshalb nicht, weil vorher eine Prüfung stattgefunden hat und weil die GRÜNEN]: Wir wollen die Verantwortlichen wechseln und nicht das Verfahren!) Mitarbeiter im Bundesamt für Strahlenschutz, die Sie für kompetent gehalten haben, dafür geradegestanden haben – Ich sage Ihnen einmal etwas zum Thema Verantwor- und der Auffassung sind: Konrad ist ein sicheres Endla- tung. Es gibt einen einzigen Vorfall, bei dem sich das ger. Wenn Sie das den Menschen sagen und keine Bundesumweltministerium aufsichtsrechtlich einge- scheinheiligen Fragen zu Schacht Konrad stellen, dann schaltet hat. Das war in der letzten Woche. Wir haben die werden Sie dazu beitragen, dass die Menschen vor Ort Verantwortung erstmals wahrgenommen. Davor hat sich Vertrauen in unsere Endlagerpolitik haben. 18240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wert – Kollege Gabriel ist eben darauf eingegangen –, (C) Herr Minister! dass sich ein vorgeblicher Feuerwehrmann, der sich an der Diskussion beteiligt hat, bei genauerem Hinschauen Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- eher als mitverantwortlicher Brandstifter entpuppt hat. schutz und Reaktorsicherheit: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn Sie aber immer wieder versuchen, Asse II in Verbindung zu Konrad zu bringen, obwohl es keine Ver- Beim Entpuppen – Frau Kotting-Uhl, Sie schauen etwas bindung gibt, dann machen Sie das Gegenteil von dem, ungläubig – versucht er, sozusagen durch lautes Ge- was Sie hier einigermaßen scheinheilig vorgetragen ha- schrei Tumult auszulösen, um dann entwischen zu kön- ben. Darum geht es mir. nen. Das werden wir allerdings nicht zulassen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Es ist eine Taskforce eingerichtet worden. Fachleute FDP) aus dem Landesumweltministerium in Niedersachsen, dem Bundesumweltministerium und dem Bundesfor- schungsministerium setzen sich zusammen und beraten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Lage, das weitere Vorgehen – und das in großer Das Wort hat jetzt Carsten Müller für die CDU/CSU- Transparenz. Das halte ich für außerordentlich wichtig; Fraktion. das ist das berechtigte Anliegen der Menschen vor Ort, (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und des Landkreises, der interessierten Öffentlichkeit. Herren! Die heutige Debatte hat einiges gezeigt, vor al- Ich möchte Bundesumweltminister Gabriel ganz aus- len Dingen aber eines – gestatten Sie mir diese Bemer- drücklich dafür danken, dass er in seinem Redebeitrag kung als jemandem, der sowohl vom Schacht Konrad als eine außergewöhnlich differenzierte Betrachtung von auch vom Schacht Asse II nicht weit entfernt wohnt –: Asse II auf der einen Seite und anderen in Aussicht ge- Die niedersächsische Landesregierung und die Bundes- nommenen Endlagern auf der anderen Seite – beispiels- regierung nehmen die Sorgen der Menschen vor Ort weise Schacht Konrad und Gorleben – vorgenommen ernst. hat. Nur so wird man den Schwierigkeiten und den Sor- (B) Wichtig scheint mir allerdings die Feststellung zu sein gen der Menschen vor Ort gerecht. Frau Kotting-Uhl, es (D) – das ist in der Diskussion etwas zu kurz gekommen –, nutzt Ihnen nichts, weder kurz- noch mittel- noch lang- dass nach den Bekundungen der Bundesministerien fristig, die Menschen weiter in Aufruhr und Angst zu durch den heute an sich zu diskutierenden Vorgang, versetzen. nämlich das Umpumpen von radioaktiver Salzlauge, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nach heutigen Erkenntnissen ganz offensichtlich keine NEN]: Die haben von alleine Angst!) Gefährdung für die Öffentlichkeit und die Belegschaft im Schacht entstanden ist. Das ist eine wichtige Feststel- Wir müssen Lösungen finden. lung. Noch wichtiger ist, dass wir gemeinsam umgehend (Beifall bei der CDU/CSU – Axel E. Fischer dafür sorgen müssen, dass auch in Zukunft keine Ge- [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: So ist es! Wir fährdung von der Schachtanlage Asse ausgeht, dass die brauchen Lösungen!) berechtigten Sorgen der Bevölkerung vor Ort Berück- sichtigung finden und ihnen Rechnung getragen wird. Wenn Sie das abstreiten, empfehle ich Ihnen die Lektüre Darauf haben sich unsere gemeinsamen Anstrengungen Ihres eigenen Redebeitrages zu diesem Thema. zu konzentrieren. Weil das so ist – auch das ist mehrfach bekundet worden; leider ist es nicht von jedem Redner Ich möchte ausdrücklich der Bundesforschungsminis- terin Annette Schavan danken. Mit ihrem Besuch der beherzigt worden –, eignet sich das Thema dieser Aktu- ellen Stunde denkbar schlecht für parteipolitischen Schachtanlage am 9. Januar 2008 hat sie dieses Thema Streit. ganz oben auf die bundespolitische Tagesordnung ge- setzt. Das haben die Menschen in der Region – Sie kön- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen mir das glauben – wohltuend zur Kenntnis genom- neten der FDP) men. Ebenso nehmen sie wahrscheinlich die sachlichen Redebeiträge von heute wohltuend zur Kenntnis. Ich un- Aufgrund der vorangegangenen Redebeiträge möchte terstütze die Anstrengungen von Frau Schavan sehr. Ich ich Ihnen allerdings zwei Gesichtspunkte nicht erspa- unterstütze auch die Forderung des niedersächsischen ren, zum einen die Feststellung – Kollegin Flachsbarth Ministerpräsidenten Christian Wulff sehr, der sagt: Nun hat darauf richtigerweise hingewiesen –, dass es der schonungslose Offenheit und transparentes Vorgehen all- CDU-Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, enthalben, Ernst Albrecht, war, der im Jahre 1977, also unmittelbar nach seinem Amtsantritt, die Einlagerung insbesondere (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- des mittelradioaktiven Abfalls umgehend gestoppt hat. NEN]: Deswegen ist er auch gegen einen Un- Ich fand es zum anderen außergewöhnlich bemerkens- tersuchungsausschuss!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18241

Carsten Müller (Braunschweig) (A) damit wir die Bevölkerung, die berechtigterweise etwas ist der Grenzwert um deutlich mehr als das Achtfache (C) irritiert ist – der Bevölkerung geht es nicht anders als überschritten worden. Das ist nicht zu vertreten. Wir uns –, informiert und unterrichtet halten. müssen die Gefahren sehen und die Probleme der Bürge- rinnen und Bürger ansprechen. Wir müssen überlegen, (Beifall bei der CDU/CSU) welche Lehren wir langfristig aus diesen Diskussionen Die Zeitachse ist dargestellt worden. Weil das ein ziehen. drängendes Problem ist, kann die Forderung von uns al- len, die wir guten Willens sind, nur lauten: Das Problem Zur Sicherheitsproblematik hat der Minister vieles Asse II muss mit Sorgfalt, Sicherheit, Umsicht und vor ausführlich dargestellt. Das muss fortgesetzt werden. allen Dingen zügig gelöst werden. Ich hoffe, in dieser Wir haben keine Alternative. Wir müssen das Problem Angelegenheit möglichst viele Mitstreiter zu finden. lösen. Es ist eine überkommene Last, um die wir uns Frau Kotting-Uhl, ich habe auch Sie noch nicht verloren jetzt kümmern müssen. gegeben. Wenn wir die Planung langfristig durchführen, sind Vielen Dank. wir auf dem richtigen Wege. Die Bundesregierung be- müht sich schon seit Jahren darum, den Ökostrom – und (Beifall bei der CDU/CSU) nicht den Atomstrom – an erster Stelle zu forcieren und zu fördern. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Axel E. Dieter Grasedieck spricht jetzt für die SPD-Fraktion. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Blöd- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sinn! Das ist Quatsch!) Damit sind viele Arbeitsplätze verbunden. Unsere För- Dieter Grasedieck (SPD): derung umfasst die unterschiedlichsten Bereiche, unter Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und anderem Windenergie. Da sind wir, die Bundesregierung Herren! Die Bürgerinnen und Bürger brauchen mehr und die Koalition, erfolgreich. Wir gehen in eine neue, Transparenz. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen Zu- sichere Zukunft ohne Atomkraft. Das ist entscheidend kunftslösungen. Das ist das Entscheidende. Darum müs- und wichtig. Da vorhergesagt wird, dass wir auch im sen wir uns bemühen. Wir müssen die Sorgen der Men- Jahre 2030 unseren Bedarf noch nicht allein mit erneuer- schen in diesem Gebiet ernst nehmen, und wir müssen baren Energien decken können, müssen wir uns die das Ganze aufarbeiten. Schuldzuweisungen und Vor- Frage stellen: Muss die Förderung der Steinkohle nicht würfe sind manchmal unterhaltsam, wie diese Plenarsit- über 2018 hinaus weiterlaufen? Das ist im Zusammen- (B) zung zeigt, aber eigentlich sind Lösungen gefragt. Ich hang mit Asse eine entscheidende Frage; denn es ist di- (D) muss Ihnen sagen: Unsere Bundesregierung ist diesbe- rekt damit verbunden. Diese Lehre müssen wir daraus züglich auf dem richtigen Weg, ziehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und auch die Betreibergesellschaft bemüht sich, Hilfen Deshalb sage ich: Das Auftreten solcher Vorfälle kann anzubieten. reduziert werden, wenn wir unsere eigenen Ressourcen, Natürlich sind das echte Probleme. Asse macht deut- zum Beispiel die Kohle, berücksichtigen. Sie ist ent- lich, wie ohnmächtig wir manchmal sind und wie hilflos scheidend und wichtig. Asse zeigt deutlich, wie schwie- wir auf solche Entsorgungsprobleme reagieren. Das Ver- rig es ist, die gefährlichen Abfallprodukte zu entsorgen. sagen der Behörden ist ein Thema; darüber haben Sie Deshalb brauchen wir Transparenz, Langzeitanalysen ausführlich gesprochen. Wichtig sind die Lösungen, und und endlich Lösungen. Darum bemüht sich unsere Bun- dafür brauchen wir belastbare Langzeitanalysen, die desregierung. Die Bürgerinnen und Bürger stehen dabei vom Minister gerade angesprochen worden sind. Das ist im Mittelpunkt. entscheidend; denn Atomkraft kostet uns schließlich viel Geld; Klaus Hagemann hat vorhin schon darauf hinge- Danke schön. wiesen. Allein für die Stilllegung der Atomkraftwerke (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind im Langzeitprogramm der Bundesregierung 3 Mil- der CDU/CSU) liarden Euro vorgesehen, für die Endlagerung fast 4 Mil- liarden Euro und für Morsleben – es ist vorhin schon ge- sagt worden, dass der Bund diese Kosten allein trägt – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 2 Milliarden Euro. Nein, Kernkraft ist kein billiger Öko- Ich schließe die Aussprache. Damit ist die Aktuelle strom. Diese Aussage kann man nur unterstreichen. Stunde beendet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gestern waren Krümmel, Brunsbüttel und die schwedi- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des schen Atomkraftwerke unser Thema. Morgen wird viel- Bundeskindergeldgesetzes leicht über andere Störfälle diskutiert werden. Heute dis- kutieren wir ausführlich über Asse II. In der Salzlauge – Drucksache 16/8867 – 18242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des (C) regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Bundeskindergeldgesetzes der Fraktionen der CDU/ zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes CSU und SPD liegt ein Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP vor. – Drucksache 16/9615 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, eine ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wider- (13. Ausschuss) spruch. Dann ist das so beschlossen. – Drucksache 16/9792 – Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach für die CDU/CSU-Fraktion. Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Fischbach (Beifall bei der CDU/CSU) Wolfgang Spanier Ina Lenke Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Jörn Wunderlich Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Ekin Deligöz legen! Wir sind heute mit der zweiten und dritten Lesung – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) des Entwurfs zur Änderung des Bundeskindergeldgeset- gemäß § 96 der Geschäftsordnung zes an einer – wie ich glaube, mit Fug und Recht sagen zu können – guten Stelle für die Familien, für diejenigen, – Drucksache 16/9793 – die in unserem Lande Kinder erziehen, angelangt. Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Abgeordnete Dr. Ole Schröder neten der SPD) (Essen) Denn wir alle wissen, dass das Problem der Kinderarmut Roland Claus eigentlich ein Problem der Elternarmut ist. Wenn Eltern Alexander Bonde nicht in Arbeit sind und nicht für den Lebensunterhalt sorgen können, leiden die Kinder. Die Folge ist Kinder- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- armut. Deshalb ist es richtig, wichtig und, ich glaube, der richts des Ausschusses für Familie, Senioren, wichtigste Punkt überhaupt, den Eltern Arbeitsmöglich- Frauen und Jugend (13. Ausschuss) keiten zu verschaffen, den Arbeitsmarkt zu öffnen, damit – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Eltern arbeiten können, um den Lebensunterhalt für sich Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, wei- und ihre Kinder zu verdienen. (B) (D) terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es gibt aber den Fall – das ist leider eine Entwicklung in unserer Gesellschaft –, dass Eltern in Arbeit sind und Kinderzuschlag weiterentwickeln – Fürsor- den eigenen Lebensunterhalt finanziell bestreiten kön- gebedürftigkeit und verdeckte Armut von nen, aber nicht genug Geld verdienen, um die Kinder gut Erwerbstätigen mit Kindern verhindern zu ernähren und ihre Entwicklung zu unterstützen. Um und bekämpfen diesen Familien zu helfen, hat die letzte Bundesregie- – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung den Kinderzuschlag entwickelt; dies war vom An- rung satz her richtig und nötig. Das heißt, dass wir in den Fäl- len, in denen das Einkommen der Eltern nicht für die Bericht über die Auswirkungen des § 6 a des Kinder ausreicht, einen Zuschlag zahlen, damit die El- Bundeskindergeldgesetzes (Kinderzu- tern, die in Arbeit sind, nicht in Hartz IV rutschen, son- schlag) sowie über die gegebenenfalls not- dern weiterhin arbeiten und ihre Kinder ernähren kön- wendige Weiterentwicklung dieser Vor- nen. schrift Allerdings – das hat die Entwicklung gezeigt – war – Drucksachen 16/8883, 16/4670, 16/9792 – das Konzept, das auf den Tisch gelegt wurde, leider noch Berichterstattung: nicht so ausgegoren, dass die meisten Eltern davon pro- Abgeordnete Ingrid Fischbach fitieren konnten, im Gegenteil: Die Ablehnungsquote lag Wolfgang Spanier bei weit über 80 Prozent. Deshalb haben wir bei der Ina Lenke Weiterentwicklung des Kinderzuschlags an genau dieser Jörn Wunderlich Stelle angesetzt und uns gefragt: Warum wurden die An- Ekin Deligöz träge abgelehnt? c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana Die erste Änderung, die wir vorgenommen haben, be- Golze, Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, weiterer hebt das Problem, dass die Mindesteinkommensgrenzen Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE nicht klar definiert waren. Die Eltern hatten individuelle Ansprüche, wussten aber nicht, ob sie generell einen An- Armut trotz Arbeit vermeiden – Benachteili- spruch auf den Kinderzuschlag haben oder nicht. Des- gung Alleinerziehender beim Kinderzuschlag halb haben wir ganz klare Mindesteinkommensgrenzen beenden eingeführt: für Alleinerziehende bei 600 Euro, für Paare – Drucksache 16/9746 – bei 900 Euro. Nun können die Eltern erkennen, ob sie ei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18243

Ingrid Fischbach (A) nen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben oder nicht. (Ina Lenke [FDP]: Ja! – Gegenruf des Abg. (C) Dadurch wird sich die Ablehnungsquote sicherlich ver- Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Oh! Jetzt bin ich ringern, und die Eltern, die auf den Kinderzuschlag an- aber gespannt! Was wird da wohl kommen?) gewiesen sind, können ihn auch bekommen. Da bin ich aber gespannt. Ich kann mich nämlich daran (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) erinnern, dass auch Sie, Frau Lenke, im Ausschuss kri- tisch angemerkt haben, dass wir eigentlich noch mehr Ein weiterer wichtiger Punkt ist – das haben wir auch tun könnten. in der Anhörung erfahren –, dass gerade Alleinerzie- (Uwe Barth [FDP]: Das hat sie doch zu Recht hende, deren Armutsrisiko größer als das von Familien angemerkt!) ist, kaum vom Kinderzuschlag profitieren konnten. Um das zu ändern, werden wir jetzt in einem ersten Schritt – Ja. Deswegen sollten Sie jetzt einmal zuhören, wie ich ein kleines Wahlrecht einführen. Da die Redner der Op- das begründe. Dann wissen Sie, warum ich das kritisch angemerkt habe. – Das ist natürlich richtig. Man kann position mit Sicherheit wieder kritisieren werden, dass immer noch mehr tun, wenn man den Finanzrahmen er- das nicht ausreicht, dass das viel zu wenig ist und dass höht. Für uns bedeuten Nachhaltigkeit und gute politi- wir viel mehr tun müssten, möchte ich sagen: Das ist sche Entscheidungen aber auch, den Haushalt im Blick richtig, aber wir müssen die Haushaltsvorgaben beach- zu behalten. ten. (Ina Lenke [FDP]: Ja, genau!) Alleinerziehende und all die Personengruppen, die ei- Für die Zukunft unserer Kinder ist es sehr wichtig, nen Mehrbedarf haben, zum Beispiel Alleinerziehende, dass unsere politischen Entscheidungen nachhaltig und Behinderte oder Personen, die einer kostenaufwendige- zukunftsfest sind und dass wir den Haushalt so gestalten, ren Ernährung bedürfen, können sich entweder für den dass wir den Familien, die darauf angewiesen sind, auch Mehrbedarfszuschlag entscheiden – in diesem Fall ha- in Zukunft noch einen Kinderzuschlag zahlen können. ben sie keinen Anspruch auf den Kinderzuschlag –, oder Das können wir aber nur dann tun, wenn wir den Haus- sie können sich für den Kinderzuschlag entscheiden, um halt konsolidieren und uns an unsere Vorgaben halten. nicht auf Sozialtransfers angewiesen zu sein. Ich glaube, Wir dürfen uns nicht auf blauen Dunst hin immer weiter es ist vernünftig, diese Entscheidung den Eltern zu über- verschulden. Das ist nicht nachhaltig und nicht im Sinne lassen. Wir begrüßen sehr, dass es uns gelungen ist, hier- der Zukunft der Kinder und Familien. für auch im Nachhinein noch Mittel „lockermachen“ zu können, wie wir im Ruhrgebiet sagen. Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass wir mit diesen Veränderungen einen Riesenwurf gelandet haben; da bin ich ganz ehrlich. Sie sind aber ein erster (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (D) Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist richtiger und wichtiger Schritt. Wie Sie wissen, haben ein Stück mehr Wahlfreiheit!) auch wir in der Anhörung und bei der ersten Lesung die- ses Gesetzentwurfs im Bundestag deutlich gemacht, dass Es liegen einige Anträge der Oppositionsfraktionen wir eigentlich ein großes Wahlrecht, also eine Wahlfrei- auf dem Tisch, die uns deutlich machen sollen, wo die heit für alle Eltern, einführen wollten; das ist aber nicht Knackpunkte sind und was alles noch verbessert bzw. zu finanzieren. Wir haben außerdem darüber nachge- wesentlich verändert werden müsste, damit noch mehr dacht, die Einkommensgrenzen anders zu gestalten; aber Kinder und Familien einen Anspruch auf den Kinderzu- auch das ist eine Kostenfrage. Deshalb fordere ich die schlag haben. Kolleginnen und Kollegen, die nach mir ans Rednerpult treten, auf – das richtet sich auch an die Grünen, Frau Ich weise an dieser Stelle allerdings darauf hin: Die Haßelmann –, deutlich zu machen, woher das Geld für Änderungen, die wir jetzt vornehmen, werden dazu füh- die Dinge, die sie fordern, kommen soll. Sie haben uns ren, dass sich die Zahl der Kinder und Familien, die ei- auf Ihrer Seite, wenn Sie deutlich machen, woher das nen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben, mehr als Geld dafür kommen soll. An die Linken gerichtet sage verdoppelt; statt knapp 100 000 werden es bald ich: Ihre Forderungen, Leistungen zu erhöhen und aus- 250 000 Kinder und Eltern sein. Es ist richtig und wich- zuweiten, nehme ich sehr wohl wahr, Herr Wunderlich. tig, dieses Signal zu setzen. Ich habe aber selten – um nicht zu sagen: gar nicht – er- lebt, dass Sie gesagt haben, woher das Geld dafür kom- Natürlich wird Herr Wunderlich gleich wieder sagen, men soll. Doch das wäre wichtig. dass einmal davon die Rede war, 500 000 Kinder und Meine Damen und Herren, mit der ersten Weiterent- Familien würden einen Anspruch auf Kindergeld haben; wicklung des Kinderzuschlags sind wir auf einem guten (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Haben Sie Weg. Wir haben es möglich gemacht, dass doppelt so viele Menschen Leistungen beziehen können. Ich sage meine Rede schon gelesen?) ganz ehrlich: Mir wäre es am liebsten, der Arbeitsmarkt das haben wir auch gesagt. Dieser Kritikpunkt wird würde sich so weiterentwickeln, dass wir über den Kin- wahrscheinlich nicht nur von Herrn Wunderlich, sondern derzuschlag gar nicht reden müssten, weil die Eltern ge- von allen Oppositionsfraktionen angesprochen. nug verdienen, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Vielen Dank. (Ina Lenke [FDP]: Was? Nein, nein, nein!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Nein? Frau Lenke sagt gleich also etwas anderes. neten der SPD) 18244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dass eine Sozialleistung ausgeweitet wird und es Geld (C) Die Kollegin Ina Lenke spricht jetzt für die FDP- vom Staat gibt. Fraktion. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist die (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Lenke’sche Interpretation! – Caren Marks [SPD]: Dagegen haben Sie was, oder?) Ina Lenke (FDP): Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfrak- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon tion wird der Erweiterung dieses gut gemeinten, aber bei der Einführung des Kinderzuschlages durch SPD und schlecht gemachten Gesetzes nicht zustimmen. Ohne Grüne bestand ein eklatantes Missverhältnis zwischen eine grundsätzliche Neustrukturierung der Sozial- und der Zahl der Anträge, die gestellt worden sind, und der Steuerpolitik werden wir das große Problem der Armut Zahl der Anträge, die tatsächlich bewilligt wurden. von Kindern und Familien nicht lösen. Der Kollege von 88 Prozent der Anträge ist nicht zugestimmt worden; sie der SPD hat im Ausschuss richtigerweise gesagt: Es ist wurden nach einem aufwendigen Berechnungsverfahren ein Baustein. – Dem stimme ich zu; aber der Baustein ist abgelehnt. Das fördert die Verdrossenheit der Bürgerin- zu minimal. nen und Bürger. So etwas sollte ein Parlament nicht ma- chen. Bei dieser Gelegenheit will ich der Bundesregierung in Erinnerung rufen, dass sie – dazu gehören natürlich Die vorgesehene Gesetzesänderung wird den Zustand CDU/CSU und SPD – mit der Erhöhung der Mehrwert- nicht heilen. Der politische Wille ist zwar da – von Ihnen steuer von 16 auf 19 Prozent den Familien geschadet hat, wie von uns –; aber dies blieb ohne durchschlagenden insbesondere denjenigen Familien, die ihr gesamtes mo- Erfolg. natliches Einkommen für das tägliche Leben ausgeben Anfang Juni hat eine Expertenanhörung stattgefun- müssen. den. Diese Expertenanhörung hat viele Schwachpunkte der Gesetzgebung in diesem Bereich aufgezeigt. Die (Beifall bei der FDP – Manfred Grund überwiegende Mehrheit der Experten und Expertinnen [CDU/CSU]: Für Nahrungsmittel gilt nach war sehr kritisch, und das zu Recht. Ich zitiere aus dem wie vor der ermäßigte Mehrwertsteuersatz Protokoll – die Expertenanhörung hat ja öffentlich statt- von 7 Prozent! – Caren Marks [SPD]: Für gefunden –, was Frau Becker gesagt hat: Lebensmittel sind es 7 Prozent!) Die … Evaluation des derzeitigen Kinderzuschla- – Der Mehrwertsteuersatz auf Lebensmittel beträgt ges ergibt … sechs kritische Punkte. … Der vorlie- 7 Prozent; aber Kinder brauchen auch Schuhe, einen (B) gende Gesetzentwurf … greift nur zwei dieser Schulranzen usw., und der Mehrwertsteuersatz darauf (D) Punkte auf … beträgt 19 Prozent. Wir wissen das beide, Frau Fischbach. Der Vertreter der Prognos AG hat erklärt: (Antje Blumenthal [CDU/CSU]: Sie haben ge- Die bestehende Regelung erfüllt diese Ziele zum sagt: „für das tägliche Leben“!) Teil, gleichwohl besteht erheblicher Verbesserungs- bedarf … In der Süddeutschen Zeitung las ich eine interessante Aussage von der SPD: Der Vertreter des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge hat ausgeführt: Familien sollen mehr Geld bekommen … Betrachtet man den Kinderzuschlag aus der Per- Wäre es nicht besser, liebe Kollegen von der SPD, den spektive, ob die Hilfebedürftigkeit von Kindern im Familien von ihrem Verdienst mehr in der Tasche zu las- SGB II im größtmöglichen Umfang vermieden sen? wurde, so ist festzustellen, dass dies nicht der Fall ist. (Beifall bei der FDP) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha!) Die FDP-Bundestagsfraktion hat Ihnen, dem Parla- ment, heute einen Antrag vorgelegt, mit dem die Bun- Die Vertreterin des Verbands Alleinerziehender Mütter desregierung aufgefordert wird, zuerst – das ist mir und und Väter – wir alle schätzen diesen Verband – hat ge- auch der FDP wirklich wichtig – eine Analyse der sagt: 153 ehe- und familienbezogenen Leistungen vorzulegen. Der Verband … hat die Einführung des Kinderzu- Dabei geht es nämlich um 189 Milliarden Euro jährlich. schlags abgelehnt und akzeptiert ihn seither ledig- Herr Kues, bisher ist viel Papier vorgelegt worden – me- lich als Interimsmaßnahme. terweise –, jedoch keine Wirkungsanalyse. Diese brau- chen wir aber. Welche Leistungen bauen aufeinander Ich könnte noch weit mehr Experten und Expertinnen zi- auf? Welche Leistungen sind historisch gewachsen? Wie tieren; leider fehlt mir dazu die Zeit. sollen wir Leistungen reformieren? Dass die Experten das Gesetz nicht rundheraus abge- Wenn wir die Wechselwirkungen dieser 153 Leistun- lehnt haben, liegt, liebe Frau Fischbach, einfach daran, gen kennen, dann können das Parlament und die Regie- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dass es rung auf dieser Grundlage Familien helfen, die staatli- gut ist!) cher Hilfe bedürfen. Das Familienministerium drückt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18245

Ina Lenke (A) sich um diese Analyse. Ich habe im Ausschuss eine ne- Man sagt immer: Es ist viel zu wenig und müsste mehr (C) gative Antwort bekommen. sein. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Worauf?) (Ina Lenke [FDP]: Das haben wir ja gar nicht gesagt! Das kann die SPD sein, die mehr Geld Deshalb will ich hier noch einmal sehr deutlich sagen, verspricht! Wir aber nicht! – Gegenruf der dass die Gesamtanalyse fehlt. Abg. Caren Marks [SPD]: Es gibt auch noch mehr! So wichtig sind Sie nicht!) Ich komme jetzt zum Schluss. Die FDP will die Mo- dernisierung des gesamten Sozialsystems durch die Ein- – Ich spreche doch nicht immer nur von Ihnen, Frau führung eines liberalen Bürgergeldes. Wir wollen mög- Lenke. Ich habe rundum geschaut. lichst alle steuerfinanzierten sozialen Hilfen des Staates (Ina Lenke [FDP]: Sie haben eben die FDP an- auf die Bedürftigkeit von Bürgern und Bürgerinnen – na- gegriffen! Das lassen wir uns nicht bieten!) türlich auch den kleinen – ausrichten. Wir wollen das pauschaliert durch einen Universaltransfer erreichen. Ferner sagt man: Die Wirksamkeit dieses Gesetzes ist ja Das soll in einem Bürgergeld zusammengeführt werden. nur beschränkt. Mit diesem Gesetz werden Sie die Ar- mut in unserem Land nicht beseitigen. Durch den Armuts- und Reichtumsbericht wurde es an den Tag gebracht: Die Armut steigt. Sowohl die fi- Niemand erwartet, dass das mit diesem Gesetz ge- nanzielle als auch die Bildungsarmut greifen weiter um schieht. Niemand erhebt diesen Anspruch. Es gibt hier ein ganz konkretes Ziel: Wir wollen den Eltern helfen, sich. Jeder sechste Mensch verlässt die Schule ohne Ab- die arbeiten, ein Erwerbseinkommen haben und zwar schluss. Frau Fischbach, Sie sagten, dass die Zahl der sich selbst, aber nicht ihre Kinder anständig mit diesem Familien, die Anspruch auf den Kinderzuschlag haben, Erwerbseinkommen unterhalten können. Sie bekommen verdoppelt wird, und zwar auf 250 000, und dass das die neben dem Kindergeld und dem Wohngeld sozusagen Familien aus der Armut bringt. ein zweites Kindergeld, mit dem wir sie aus der Bedürf- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Von tigkeit herausholen wollen. 100 000 auf 250 000!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 2,4 Millionen Kinder leben an der Armutsgrenze oder der CDU/CSU) sind arm. Deshalb sage ich Ihnen: Der Kinderzuschlag Ich habe in einem Zeitungsartikel gelesen, dass es da- ist auch als Baustein keine Lösung. bei um die Beschönigung der Armutsstatistik gehe. Wer so etwas unterstellt, der müsste ja verlangen, dass wir Lassen Sie uns doch gemeinsam nicht Bausteine, son- überhaupt nichts gegen Armut und zur Armutspräven- (B) dern ein Gesamtkonzept entwickeln! Dann sind wir bei tion tun, weil dadurch natürlich möglicherweise die Sta- (D) Ihnen. Wir werden jedenfalls eines vorlegen. tistik verändert würde. Das kann kein Argument sein. Vielen Dank. Dieses Instrument wirkt auch – vor allen Dingen für die Eltern, die mehr als drei Kinder haben. Bei (Beifall bei der FDP – Ingrid Fischbach [CDU/ 44 Prozent der bewilligten Anträge geht es um solche CSU]: Wann denn, Frau Kollegin? Wenn Sie Familien. Das ist ein weitaus größerer Anteil – etwa an der Regierung sind?) dreimal so hoch –, als es der Zahl dieser Familien in der Realität entspricht. Die Kehrseite ist, dass es bei Allein- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: erziehenden wenig wirkt. Es ist richtig, dass lediglich Jetzt spricht Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion. 7 Prozent der bewilligten Anträge von Alleinerziehen- den stammen. Deswegen haben wir an dieser Stelle noch (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes einmal angesetzt und die 7 Prozent auf immerhin 14 Pro- Singhammer [CDU/CSU]) zent erhöht. Man muss aber dazusagen, dass nicht jedes der verschiedenen Instrumente zur Prävention von Ar- Wolfgang Spanier (SPD): mut und zur Armutsbekämpfung alle Zielgruppen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gleichzeitig erreichen kann. Wenn die FDP, wie das Frau Lenke hier gerade getan Wir müssen – darauf wurde heute noch nicht einge- hat, von einer Neuorientierung in der Sozialpolitik gangen – den Zusammenhang zwischen dem Kinderzu- spricht und dabei der Begriff „Steuersenkung“ auftaucht, schlag und seiner Verbesserung und dem Wohngeld se- dann kann ich nur hoffen, dass sie wenigstens auf Bun- hen. Der Bedarf an Wohngeld steigt automatisch, wenn desebene auch weiterhin politisch keinen Einfluss auf man nicht mehr die Unterkunftskosten nach SGB II er- die Sozialpolitik nehmen kann. Es wird einem angst und stattet bekommt. bange, weil man ahnt, was dahintersteckt. Wir sind noch weitergegangen. Wir haben nicht nur (Beifall bei der SPD) den Mehrbedarf an Wohngeld berücksichtigt, der durch diese Veränderungen entsteht, sondern auch das Wohn- Ich war vier Jahre lang in der Opposition und weiß, geld deutlich erhöht. Im Durchschnitt waren es bisher wie man reagiert, wenn man ein Gesetz eigentlich ganz 90 Euro pro Monat; künftig werden es 140 Euro pro Mo- vernünftig findet, was man aber, weil man nun einmal in nat sein. der Opposition ist, so nicht aussprechen kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Ina Lenke [FDP]: Wir reagieren anders!) der CDU/CSU) 18246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Wolfgang Spanier (A) Davon profitieren zwar nicht nur Familien, sondern (Ina Lenke [FDP]: Wir brauchen eine Wirkana- (C) auch 300 000 Rentnerinnen und Rentner. Es ist aber ein lyse! Die bekommen wir von Ihnen nicht!) weiterer Baustein, um Armutsprävention und Armutsbe- kämpfung in unserem Land durchzusetzen. Beides zu- Zweitens ist es wichtig, dass wir auf allen drei staatli- sammen entspricht einem Aufwand von immerhin rund chen Ebenen – in den Kommunen, im Land und im Bund – 500 Millionen Euro, die wir ausgeben, um deutliche Ver- zusammenarbeiten. Mir geht es nicht darum, Zuständig- besserungen zu erzielen. keiten zuzuweisen und damit Verantwortung – vor allem finanzielle Verantwortung – auf andere abzuschieben. Es Ich wiederhole: Was wir heute beschließen, ist nur ein ist nun einmal so: Bildung ist zwar ein ganz entscheiden- Baustein, aber es ist ein wichtiger Baustein. Es geht der Schlüssel, um gerechte Chancen für alle Kinder zu nicht nur um materielle Armut, sondern auch – das ist schaffen, aber sie liegt in erster Linie in der Zuständig- besonders wichtig – um die Chance auf Teilhabe an Bil- keit der Länder. Wir können das also nur gemeinsam er- dung. Dafür haben wir mit dem demnächst im Bundes- reichen. tag zu verabschiedenden Kinderförderungsgesetz bereits Vor Ort entscheidet sich, wie den Kindern beispiels- einen weiteren Baustein im finanziellen Bereich vorge- weise im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe über das sehen, nämlich den deutlichen Ausbau der Krippen- Materielle hinaus geholfen werden kann. Der Bund ist in plätze für die unter Dreijährigen. erster Linie für die materiellen Leistungen zuständig. (Beifall bei der SPD) Beim Wohngeld und beim Kinderzuschlag haben wir ei- nen deutlichen Schritt nach vorn getan. Das reicht aber Damit verfolgen wir zwei Ziele: die deutliche Verbes- nicht aus. Im kommenden Herbst wird der nächste Exis- serung der Förderung aller Kinder und gleichzeitig die tenzminimumbericht vorliegen. Dann werden wir über Erleichterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. das Kindergeld – auch ein wichtiges Instrument zur Ar- Beides sind Instrumente zur Prävention und Bekämp- mutsprävention –, Steuerfreibeträge und das Sozialgeld, fung von Armut. Von diesen neuen Möglichkeiten wer- also den Regelsatz für Kinder, sprechen müssen. Wir So- den sicherlich besonders viele Alleinerziehende profitie- zialdemokraten wünschen uns, dass wir in der Großen ren können. Zumindest ist das in meiner Heimatregion Koalition im Herbst die Kraft aufbringen, den Baustei- der Fall. nen, die wir bereits beschlossen haben, diese weiteren wichtigen Bausteine hinzuzufügen. Ein weiterer Punkt: Wir dürfen die Armutsbekämp- fung nicht auf Familienpolitik und auch nicht auf Bil- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. dungspolitik reduzieren. Die Arbeitsmarktpolitik gehört (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ebenfalls dazu. In diesem Bereich haben wir gemeinsam (B) Förderprogramme auf den Weg gebracht, die ebenfalls (D) dazu beitragen werden, Menschen aus der Bedürftigkeit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: herauszuholen, weil Arbeit mit einem auskömmlichen Jörn Wunderlich hat jetzt das Wort für die Fraktion Erwerbseinkommen der beste Schutz vor Armut ist und Die Linke. bleibt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Eine Frage ist noch offen – Frau Fischbach, wir haben Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und in diesem Gesetzgebungsverfahren sehr vertrauensvoll Kollegen! und gut zusammengearbeitet; das wünsche ich mir auch von den Arbeits- und Sozialpolitikern –, nämlich dass Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und wir endlich den Mindestlohn im Rahmen des Entsende- hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem gesetzes in den kommenden Wochen wie verabredet un- Jahr 2006 weiterentwickeln. ter Dach und Fach bringen. Dieser Satz ist zweieinhalb Jahre alt und entstammt Ihrer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Koalitionsvereinbarung. Dass Sie Ihre selbst gesteckten Ziele derart verfehlen, kann Ihnen nicht entgangen sein; Denn nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch die ra- denn wir haben Sie oft genug daran erinnert. Ich gebe sante Ausweitung im Niedriglohnsektor fördert Armut in zu: Ich hatte die Hoffnung, dass diese nicht geringe unserem Land. Mindestlöhne sind ein Instrument, um et- Fristüberschreitung von Ihnen dazu genutzt wird, einen was dagegen zu tun. Gesetzentwurf vorzulegen, der die Versprechen einhält, die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag geben. Der vorlie- Ich gebe den Freien Demokraten recht: Wir brauchen gende Entwurf enttäuscht aber in den meisten Punkten. ein Gesamtkonzept. Die Aufgaben, die der Koalitionsvertrag dem Kinderzu- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) schlag zurechnet, sind in zentralen Punkten nicht erfüllt, höchstens ansatzweise. Sie haben die zeitliche Begren- Das ist richtig. Wir Sozialdemokraten haben zehn Maß- zung abgeschafft. Aufgrund der Änderungen werden Sie nahmen vorgelegt. Dabei ist Folgendes wichtig: Erstens einige Familien mehr als bisher erreichen, wird die Ab- gibt es keinen Königsweg oder etwas wie einen Schalter, schmelzrate auf 50 Prozent reduziert und die Min- den man nur umlegen muss, und schon gibt es keine Ar- desteinkommensgrenze – das wurde bereits angespro- mut mehr in unserem Land. chen – gesenkt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18247

Jörn Wunderlich (A) In der öffentlichen Anhörung wurde dem Gesetzent- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sie (C) wurf aber das Zeugnis ausgestellt, das er verdient hat. erhöhen die Steuern!) Alle neun Sachverständigen haben in ihren Statements Die Regierung kann sich nicht damit herausreden, dass klargestellt, dass der Kinderzuschlag auch in der jetzt mehr Kinder in den Genuss des Zuschlages kommen vorgelegten Form kein effektives Mittel gegen Kinderar- werden. Wie gesagt: Nur weil die Zahl der Rentner mut ist. Viele der dort genannten Kritikpunkte teilen wir steigt, wird doch die Rente nicht erhöht. als Fraktion Die Linke. Ich will mich auf die für uns wichtigsten beschränken. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal, wie Sie Ihre ganzen Wunschvorstel- Zentral ist für uns die Höhe des Kinderzuschlags. Den lungen finanzieren wollen!) Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung ist seit langem bekannt, dass die Höhe von 140 Euro viel zu ge- – Dazu komme ich noch. ring ist. Dennoch halten sie an dieser Höhe fest, wohl Dass sich die Bundeskanzlerin, das Familienministe- wissend, dass sie den realen Problemen der Familie nicht rium und das Ministerium für Arbeit und Soziales stän- gerecht wird. Eine Gruppe trifft die Regelung – das dig in den Angaben widersprechen „Erhöhen“, „Nicht wurde bereits angesprochen – besonders hart: die Allein- erhöhen“, „Doch erhöhen“, „Von Erhöhung war nie die erziehenden. Sie waren schon nach dem alten Modell Rede“, habe ich schon gesagt und möchte ich hier nicht des Kinderzuschlags die Verlierer. Dass die Gruppe der im Detail wiederholen. Alleinerziehenden größer wird und gleichzeitig das höchste Armutsrisiko hat, kann man in den Untersu- Das formulierte Vorhaben, den Kreis der Berechtigten chungen von Prognos nachlesen. auszuweiten, um mehr Kinder zu erreichen, wurde mit der Zahl von etwa 500 000 zu erreichenden Kindern um- Auch die letzten Änderungen in dieser Woche entpup- schrieben und dann auf 250 000 herunterkorrigiert. Dass pen sich schnell als Mogelpackung. Wer Alleinerzie- unsere Bundesfamilienministerin – leider ist sie nicht da – hende ernsthaft vor die Wahl zwischen Kinderzuschlag und Mehrbedarf stellt, hat die Notwendigkeit des Mehr- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der Staats- bedarfs nicht begriffen. sekretär ist da und spricht auch!) das damit begründet, dass mehr Familien vom wirt- (Beifall bei der LINKEN – Ingrid Fischbach schaftlichen Aufschwung profitieren und deshalb das [CDU/CSU]: Hat denn die Sachverständigen- Geld nicht brauchen, war für viele Familien wie eine anhörung ergeben, dass die das Wahlrecht Ohrfeige. Der wirtschaftliche Aufschwung, von dem un- wollen?) sere Ministerin redet, endet für etliche Familien in Ar- (B) – Frau Fischbach, manchmal sollte man den eigenen mut, weil er mit Minijobs und unwürdiger Arbeit einher- (D) Kopf anstrengen. – Die festgestellten Mindesteinkom- geht. Die Folgen sind allen bekannt. 2,6 Millionen mensgrenzen machen deutlich, dass Sie aus der Ableh- Kinder leben in dieser reichen Bundesrepublik in Armut. nungsquote von 87 Prozent beim bisherigen Kinderzu- Wir leisten uns einen Kinderzuschlag mit enormem Ver- schlag nichts gelernt haben. Wenn Sie die ALG-II- waltungsaufwand, der völlig am Ziel vorbeigeht. Ich Bedürftigkeit überwinden wollen, müssen Sie an diesen denke, bei Frau von der Leyen ist die Inkubationszeit für Stellschrauben arbeiten. Realitätsverluste überschritten. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist Der Kinderzuschlag wurde unter Rot-Grün eingeführt eine merkwürdige Formulierung! – Weitere – ich zitiere –, „dass ein wesentlicher Teil der Familien Zurufe von der CDU/CSU) nicht wegen ihrer Kinder auf Sozialhilfe oder zukünftig auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sein soll“. Be- Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren – das kanntermaßen sind die – zuerst 150 000 – Kinder nicht war Ihre Zielsetzung im Koalitionsvertrag. erreicht worden. Wie gesagt, wurden 87 Prozent der An- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Vielleicht soll- träge abgelehnt. Aber Sie wollen das alles als Erfolg ver- ten Sie Ihren Kopf auch einmal benutzen!) kaufen. In der Sendung Hart, aber fair am 28. Mai 2008 spricht die CSU-Generalsekretärin ernsthaft von den Dieses Ziel wird mit unserem Antrag eher erreicht; denn – angeblichen – Verdiensten der Großen Koalition und allen hier im Haus – das klang durch – ist klar, dass der sagt: Wir haben den Kinderzuschlag erhöht. Kinderzuschlag allein nicht die Lösung sein kann. Er ist ein Baustein, der aber viel zu klein ist. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ha- ben wir auch!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Diese Aussage ist nachweislich falsch, um nicht zu sa- Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der gen: gelogen. Kollegin Fischbach zulassen? Der Kinderzuschlag wird doch auch nach der Reform Jörn Wunderlich (DIE LINKE): bei 140 Euro liegen, Herr Singhammer. Den Kinderzu- Nein, ich möchte zum Ende kommen. Ich bin gleich schlag von 140 Euro auf 140 Euro zu erhöhen, das ist fertig, Frau Fischbach. Ihre Erhöhung. Das ist genauso, als wenn Sie sagen wür- den: Wir erhöhen die Renten, weil die Zahl der Rentner (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Feige ist er steigt. auch noch! – Antje Blumenthal [CDU/CSU]: 18248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Jörn Wunderlich (A) Dann muss er ja seinen Kopf anstrengen! – strengung nicht erfahren habe, war, wie Sie denn nun, (C) Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sagen Sie auch wenn Sie dreimal angekündigt haben, dass das nun doch, wie viele Steuererhöhungen Sie wollen! kommt – ich habe sehr genau zugehört –, all das, was Sie Sagen Sie es doch einfach!) gerade vorgeschlagen haben, finanzieren wollen, näm- lich die Ausweitung des Berechtigtenkreises und die Er- Deshalb fordern wir: Der Kinderzuschlag wird deut- höhung des Betrages des Kinderzuschlages. Ich glaube, lich erhöht, die Mindesteinkommensgrenze und die nicht nur wir Kolleginnen und Kollegen wären sehr da- Höchsteinkommensgrenze entfallen, die Kinderzu- ran interessiert, das zu hören, sondern sicherlich auch die schlagsberechtigung endet im Zuge der Einkommensan- Zuschauer auf den Tribünen. Vielleicht können Sie die rechnung durch Abschmelzung. eine Möglichkeit, die Sie im Kopf haben, wie Sie das al- (Zuruf des Abg. Johannes Singhammer [CDU/ les bezahlen wollen, darlegen. CSU]) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Und auch – Herr Singhammer, wenn Sie immer dazwischenquat- das, was Frau Christa Müller fordert!) schen und nicht zuhören, dann können Sie es nicht be- Im Übrigen würde ich mich freuen, wenn wir zukünf- greifen. tig in einem vernünftigen Ton miteinander und auch über (Beifall der Abg. Elke Reinke [DIE LINKE] – Personen reden, die nicht anwesend sind. Ich fand das Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Lassen sehr daneben, wie Sie sich gerade geäußert haben. Sie doch die Frage zu!) Der Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende wird im Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Anrechnungsverfahren nicht berücksichtigt, aber im Herr Wunderlich hat das Wort zur Antwort. Falle der Kinderzuschlagsberechtigung als Erhöhungs- betrag zum Kinderzuschlag gewährt. Darüber hinaus Jörn Wunderlich (DIE LINKE): wird ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Man kann Frau Kollegin Fischbach, Sie haben offensichtlich nämlich die Armut der Kinder nicht von der Armut der eben nicht zugehört, als ich mich dazu geäußert habe. Eltern abkoppeln. Ich will nur ein Beispiel anführen: Hören Sie doch einmal auf die Sozialverbände. Stim- (Antje Blumenthal [CDU/CSU]: Keine Bei- men Sie unserem Antrag zu und gehen Sie die Kinderar- spiele, sondern konkret!) mut nicht nur halbherzig, sondern wirklich an. Dem Ar- Wenn der politische Wille da ist, ist auch das Geld da. gument der Haushaltskonsolidierung kann ich nur (Lachen bei der CDU/CSU – Johannes (B) entgegnen: Bauen Sie drei Kriegsschiffe weniger und in- (D) vestieren Sie das Geld in Familien. Dann sind sie besser Singhammer [CDU/CSU]: Die wunderliche bedient. Familien brauchen, bezogen auf die Zukunfts- Geldvermehrung!) perspektiven, Frau Fischbach, keinen Kinderzuschlag, – Einen Moment. Durch Umschichtungen im Haushalt wenn die Eltern ordentlich verdienen und davon sich und ist vieles möglich. ihre Kinder ernähren können. Das ist zukunftsweisend. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Wo wollen Sie (Beifall bei der LINKEN) denn umschichten?) Frau Fischbach, es mutet schon komisch an, wenn es – Frau Fischbach, wenn Sie nicht zuhören, dann ist das immer heißt, die Anträge der Linken seien nicht bezahl- Ihr höchstpersönliches Problem. Ich habe gerade am Pult bar und würden deshalb abgelehnt, aber wenige Monate gesagt: Bauen Sie drei Kriegsschiffe in Form von Fre- später kommen praktisch wortgleiche Anträge von der gatten weniger und geben Sie das Geld den Familien. Koalition und sind dann plötzlich bezahlbar. Damit ist vielen Familien geholfen. (Christel Humme [SPD]: Ist das so?) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist die Re- Das ist schon merkwürdig. chenart der SED! – Ingrid Fischbach [CDU/ CSU]: Zum Ton wollen Sie nichts sagen, Herr Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Wunderlich?) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die nächste Rednerin ist Britta Haßelmann für Bünd- Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin nis 90/Die Grünen. Fischbach das Wort. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herren auf der Zuschauertribüne! Wir reden heute über Da Herr Wunderlich so feige war, keine Zwischenfrage das Thema Kinderzuschlag im Bundeskindergeldgesetz, zuzulassen, nutze ich die Form der Kurzintervention. also über ein Instrument innerhalb einer ganzen Palette Herr Wunderlich, ich habe meinen Kopf angestrengt, von Instrumenten. Bei den Rednerinnen und Rednern Sie Ihren sicherlich auch. Aber was ich bei aller An- der Großen Koalition ist schon deutlich geworden, dass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18249

Britta Haßelmann (A) wir auch über Kinderarmut insgesamt reden. Das sollten Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) wir auch tun. Herr Spanier, ich kann mir viele Maßnahmen vorstel- len, mit denen Armut bekämpft werden kann. Dazu ge- Meine Damen und Herren, ich verstehe nicht, warum hört sicherlich auch Ihre zuletzt angesprochene Wohn- Sie sich in Reden auf Parteitagen in Programmen über- gelderhöhung, die aus meiner und Ihrer persönlichen schlagen: 10-Punkte-Plan der SPD, Kindergelderhö- Sicht überfällig war. Wir haben beide auf unsere Art seit hung, Kinderfreibetragserhöhung der CDU/CSU. Jahren dafür geworben, dass es zu einer Wohngelderhö- hung kommt. Mich müssen Sie nicht überzeugen, wie (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Betreu- wichtig beim Thema Kinderarmut Zugangsgerechtig- ungsgeld!) keit, Teilhabegerechtigkeit, gleiche Chancen auf Bildung für Kinder und Jugendliche sowie Frühförderung sind So schaukeln Sie sich Woche um Woche hoch. Das alles und wie groß die Ungerechtigkeit für Kinder ist. kostet viel Geld. Getan wird jedoch seit 2005 in dieser Hinsicht nichts, aber auch gar nichts. Ich finde, das muss Ich habe versucht, Sie davon zu überzeugen – nicht die Öffentlichkeit einmal wissen. Sie beklagen in Sonn- nur ich, sondern meine Fraktion –, genau aus den Grün- tagsreden und Interviews, wie dramatisch die Kinderar- den, die Sie genannt haben, was die Programme zur mut gestiegen ist. Das ist sie in der Tat. Wir haben ja vor Ganztagsbetreuung in der letzten Legislaturperiode an- kurzem den Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt geht, die Bildungspolitik im Rahmen der Föderalismus- bekommen. Von Ihnen kommen Modelle und Vor- reform eben nicht an die Länder zu geben, sodass wir schläge, aber es wird so getan, als würden Sie nicht re- heute keine Chance mehr haben, einzugreifen und vom gieren. Das kann man an dieser Stelle nicht durchgehen Bund aus steuernd Dinge anzustoßen im Sinne von Teil- habegerechtigkeit und Investitionen in frühe Förderung, lassen. in Bildung und Infrastruktur. Da hatten wir vor andert- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) halb Jahren eine harte Auseinandersetzung. Ich bedauere sehr, dass Sie den Argumenten nicht gefolgt sind, nicht nur denen aus unserer Fraktion nicht, sondern auch de- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen von vielen externen Bildungsexperten sowie Exper- Frau Kollegin Haßelmann, möchten Sie eine Zwi- ten der Kinder- und Jugendhilfe nicht, die gesagt haben: schenfrage von Herrn Spanier zulassen? Lasst die Bildungspolitik beim Bund; wir brauchen die Steuerungselemente.

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christel Humme [SPD]: Sie war immer bei Ja, bitte. den Ländern! – Weitere Zurufe von der SPD) (B) (D) – Sie wissen ganz genau, was ich meine, Frau Humme. Wolfgang Spanier (SPD): (Christel Humme [SPD]: Sagen Sie doch, was Liebe Frau Haßelmann, da wir uns einig sind, dass es Sie meinen!) bei Armutsprävention und Bekämpfung von Armut nicht nur um materielle Leistungen geht, sondern dass wir das Wir könnten heute kein einziges Programm mehr aufle- umfassend angehen müssen und dass dabei chancenge- gen, das wir unter Rot-Grün aufgelegt haben, weil der rechte Bildung ein ganz entscheidender Schlüssel ist, Bund keine direkte Beziehung mehr zu den Kommunen aufnehmen kann. Das haben Sie mitverbockt. Sie wuss- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ten, welche verheerenden Folgen das hat. Föderalismusreform I!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christel Humme [SPD]: Das war auch damals frage ich Sie: Würden Sie sich gemeinsam mit mir daran nicht möglich! – Weitere Zurufe von der SPD) erinnern, dass die rot-grüne Koalition ein Ganztags- schulprogramm aufgelegt hat, sodass in Deutschland – Ich sehe, wie Sie sich aufregen. Sie haben nachher 6 500 Grundschulen den offenen Ganztagsunterricht mit noch Redezeit, gehen Sie doch darauf ein, und erklären zusätzlichen Förderchancen gerade für sozial Benachtei- Sie uns, warum es gut ist, dass die Länder das jetzt al- ligte haben? leine machen und wir in puncto Teilhabe und Infrastruk- tur fast nichts mehr machen können. Würden Sie sich ferner gemeinsam mit mir daran Meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie. Auf erinnern, dass wir die Leistungen nach dem TAG ausge- der Tribüne sitzen viele Leute, die sich fragen, was Sie weitet haben, dass wir ab 2013 sogar einen Rechts- gegen Kinderarmut tun. Auch sie stellen fest, dass Sie in anspruch haben werden, dass wir den Kommunen finan- der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung oder in ziell unter die Arme greifen und dass der Ausbau der anderen Zeitungen sagen, Kinderarmut sei etwas ganz frühen Förderung ebenfalls ein ganz wichtiges Instru- Schreckliches und da müsse etwas passieren, auf der an- ment zur Armutsbekämpfung ist? deren Seite aber nichts geschieht. Dann stellt sich Frau Fischbach hier hin und sagt, es tue ihr leid, dafür sei lei- Würden Sie mir zuletzt darin zustimmen, dass die der kein Geld vorhanden, man müsse die Haushaltslage deutliche Verbesserung des Wohngeldes, die Sie ja in der in Rechnung stellen. damaligen Anhörung auch gefordert haben, und der Kin- derzuschlag sehr wohl Maßnahmen sind, mit denen (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sie haben wirksam Armut bekämpft werden kann? nicht zugehört, oder?) 18250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Britta Haßelmann (A) Natürlich hat ein nachhaltiger Haushalt etwas mit Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Kindern und Generationengerechtigkeit zu tun. Sie ha- Herr Singhammer, Sie wissen genauso gut wie ich, ben gerade einmal vor zwei Monaten, ohne mit der dass Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern, die Kin- Wimper zu zucken, 2 Milliarden Euro für eine Aufsto- der haben, ein ganz entscheidendes Instrument dafür ist, ckung auf eine 1,1-prozentige Rentenerhöhung ausgege- damit Kinder nicht in Armut leben. Was die Frauener- ben, was Sie bis zum Jahr 2011 10 Milliarden Euro kos- werbstätigkeit angeht, muss ich Sie noch überzeugen; tet. Wie wollen Sie das eigentlich erklären? Wie wollen denn Sie sind derjenige, der meint, es solle ein Betreu- Sie diese Prioritätensetzung erklären? Sie stellen sich ungsgeld gezahlt werden, damit die Frauen zu Hause hier hin und sagen, für den Kinderzuschlag habe es nicht bleiben und die Welt so bleibt, wie sie vor 25 Jahren war. gereicht, sie könnten leider nicht mehr Familien einbe- Ich sage Ihnen – Sie müssen die Grünen nicht überzeu- ziehen und auch den Kinderzuschlag nicht erhöhen, ob- gen –: Wir waren diejenigen, die gemeinsam mit der wohl die Ministerin beides angekündigt hat. In der Rede SPD an dem Instrument Kinderzuschlag gearbeitet und der Ministerin hieß es, dass 500 000 Kinder in den neuen dieses vorgeschlagen haben, weil wir wollten, dass Men- Kinderzuschlag einbezogen werden und dass der Kin- schen, die keine Mittel nach SGB II beziehen und die derzuschlag erhöht wird. Von beidem ist nicht mehr die keine ausreichenden Einnahmen aus Erwerbstätigkeit Rede. Es bleibt ungefähr der gleiche Berechtigtenkreis. haben, in den Genuss eines Kinderzuschlages kommen Sie haben bestimmte Dinge verändert, die wir gemein- können. Wir haben damals auch um Ihre Zustimmung sam in der Anhörung besprochen haben. Ich hätte mir geworben. Die haben wir allerdings nicht erhalten. andere Sachen gewünscht, auf die ich gleich noch einge- Heute sind Sie dafür; das finde ich in Ordnung. hen werde. Die Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern ist ganz wichtig, wenn es darum geht, Armut wirksam zu Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bekämpfen. Das ist aber nicht die einzige Frage, die wir Vielleicht nach den Zwischenfragen? zu beantworten haben. Deshalb habe ich vorhin gesagt, dass Sie sich vor einer Antwort auf die Frage drücken, Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wie wir mit 2,6 Millionen Kindern, die in Armut leben, Ja. – Aber Sie können sich doch nicht hinstellen und umgehen. Das darf nicht erst 2009 geschehen, wenn wie- sagen, Sie hätten leider nicht mehr Geld und gern ein der Wahlkampf ist, sondern das muss heute, hier und bisschen mehr gewollt, aber gleichzeitig geben Sie an jetzt, geschehen. Das betrifft die Regelsatzerhöhung, die anderer Stelle, ohne über Argumente nachzudenken, in Infrastruktur und den Kinderzuschlag. Ich könnte Ihnen einem ganz kurzen Verfahren viel mehr Geld aus, nur im noch fünf weitere Maßnahmen nennen, von denen Sie Bereich der Kinder nicht. seit zwei Jahren sagen, dass Sie sie prüfen, erörtern, Ex- (B) pertengespräche dazu durchführen und zu denen angeb- (D) (Christel Humme [SPD]: Das ist doch falsch!) lich noch Anhörungen nötig sind. Letztlich passiert aber Das finde ich nicht in Ordnung, und das müssen Sie den nichts. Leuten draußen erklären. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die letzte Anhörung fand zu den Kinderregelsätzen, insbesondere zu der Tatsache statt, dass der Eckregelsatz Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: von Kindern nicht mehr von dem eines Erwachsenen ab- Jetzt gibt es zwei Wünsche nach Zwischenfragen. geleitet werden darf. Auch aus dieser Anhörung haben Sie noch keine Schlussfolgerungen gezogen, obwohl alle Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gutachterinnen und Gutachter unisono sagen, dass dies- Sie haben doch alle noch Redezeit. Ich will nicht un- bezüglich ganz dringend etwas getan werden muss. Ich höflich sein. Stellen Sie mir ruhig Fragen, aber Sie sind glaube, ich bin nicht die Einzige, die das registriert und doch alle auf der Rednerliste. sich noch darüber aufregen kann, und zwar obwohl ich schon seit einigen Jahren Politik mache. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das vergrößert Ihre Argumentationsmöglichkeit. – Bitte schön, Herr Kollege Singhammer. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Da Herr Singhammer Platz genommen hat und seine Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frage damit offensichtlich als beantwortet ansieht, frage Frau Kollegin, Sie haben auf die Kinderarmut hinge- ich Sie jetzt, ob Sie eine Zwischenfrage von Frau wiesen. Stimmen Sie mir zu, dass eine der entschei- Fischbach zulassen. denden Ursachen der Armut der Kinder die Elternarmut ist? Können Sie meiner Argumentation folgen, dass Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 1 600 000 neue Arbeitsplätze in den vergangenen zwei Frau Fischbach, bitte. Jahren, davon der größte Teil sozialversicherungspflich- tig, ein entscheidendes Instrument zur Verringerung der Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Elternarmut und damit auch zur Verringerung der Kin- Ich habe in meiner Einführung gesagt, dass der Kin- derarmut sind? derzuschlag unter Ihrer Regierungsverantwortung einge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) führt wurde. Sie haben gerade kritisch angemerkt, seine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18251

Ingrid Fischbach (A) Höhe sei zu niedrig und die Zahl der damit erreichten passiert nichts! – Weiterer Zuruf von der CDU/ (C) Familien zu gering. Welche Beweggründe haben Sie da- CSU: Sie verschweigen die Hälfte!) mals veranlasst, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, wohl wissend, dass sowohl die Höhe des Kinderzu- – Regen Sie sich doch nicht so auf. Ich versuche doch schlags zu niedrig als auch die Zahl der damit erreichba- gerade, es zu erklären. ren Familien zu gering ist? (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist gelo- gen, was Sie sagen!) (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das war der Vermittlungsausschuss, – Sie können sich ja noch einmal zu Wort melden. Frau Fischbach!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Äußerungen von Frau Fischbach haben die Quali- Frau Fischbach, es gibt zwei Gründe. Zum einen tät eines Zwischenrufs, und die Redezeit läuft weiter. wollte Rot-Grün den Kinderzuschlag einführen, um Dass Menschen sich hier aufregen, gehört dazu. Menschen zu erreichen, die knapp oberhalb des damali- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wer sich gen Sozialhilfeniveaus – des heutigen SGB – II-Niveaus – aufregt, muss sich auch wieder abregen!) leben. Zum anderen können Sie sich, glaube ich, noch sehr gut an die Rolle der CDU im Vermittlungsausschuss erinnern. Wie viele Dinge damals aufgrund von Inter- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ventionen CDU-regierter Länder im Bundesrat in der ei- Dann mache ich jetzt einfach weiter. – Frau nen oder anderen Art im Vermittlungsausschuss ent- Fischbach, der Kinderzuschlag ist von Rot-Grün einge- schieden worden sind, wissen Sie. Deshalb tragen auch führt worden, weil wir ihn als Instrument zur gezielten Sie Ihren Teil der Verantwortung. Armutsbekämpfung in einem bestimmten Bereich be- trachtet haben. Nach ein paar Jahren ist festgestellt wor- Ich finde es gut, dass Sie mir diese Frage gestellt ha- den, dass dieses Instrument zu kompliziert ist und nicht ben. Wenn man ein Instrument einführt, dann muss man genügend Leute erreicht. Daran muss man etwas verän- es auch überprüfen. Ich finde es richtig, dass man über- dern, und man muss entsprechende Schlussfolgerungen prüft, ob es möglicherweise zu kompliziert war und ob ziehen, es genügend Leute erreicht. Wenn man nicht genug Leute erreicht, muss man das Instrument ändern. (Ina Lenke [FDP]: Ja!) die Sie mit dem Hinweis auf die Finanzlage nicht gezo- (Ina Lenke [FDP]: Deshalb müssen wir das ab- gen haben. lehnen!) (B) (D) Sie haben nicht gesagt, die von den Expertinnen und Genau das ist das Argument, das ich anführe, um zu Experten gelieferten Argumente seien falsch. Sie haben sagen, dass die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen vielmehr gesagt, dass Sie gerne ein bisschen mehr hät- jetzt aber nicht ausreichend sind. ten, dies aber aufgrund der Haushaltslage nicht umsetzen (Ina Lenke [FDP]: Ja, genau!) könnten. Dann muss ich Sie aber fragen, was aus Ihrem entschiedenen Engagement gegen Kinderarmut gewor- Es ist bei der Anhörung festgestellt worden, dass ver- den ist. deckte Armut im Hinblick auf die Unterschreitung von Mindesteinkommensgrenzen, Höchsteinkommensgren- Sie können an dieser Stelle doch nicht sagen: Tut mir zen, Beantragungsprobleme und das Fehlen eines Wahl- leid. Wir würden gern 500 000 Kinder erreichen, so wie rechts zwischen Arbeitslosengeld II und Kinderzu- es die Ministerin wollte. Wir hätten gern den Kinderzu- schlag ein großes Problem ist. Meine Fraktion ist doch schlag erhöht. Aber jetzt haben wir festgestellt, dass wir die letzte, die sich damit herausredet, dass wir vor drei nicht mehr in der Kasse haben. Also machen wir eine Jahren einmal etwas dazu beschlossen haben. Das ist kleine bescheidene Reform. – Das war mein Vorwurf an doch völlig absurd. Es geht darum, dass ein neu einge- Sie. führtes Instrument überprüft werden muss. Das ist jetzt Die Debatte heute zeigt: Der Kinderzuschlag ist das geschehen. Mein Vorwurf an Sie ist, dass Sie es zwar eine, aber wir brauchen dringender denn je eine Diskus- überprüfen, aber alles so – insbesondere so kompliziert – sion darüber, wie wir durch Infrastruktur und Teilhabe- lassen, wie es ist, und nichts gegen verdeckte Armut tun. gerechtigkeit auch in der Bildung, bei der frühen Förde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – rung, von Anfang an, sowie durch eine materiell bessere Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist doch Absicherung von Kindern einen wirklich nachhaltigen nicht wahr! Das wird doch verdoppelt! Sie sa- Beitrag zur Bekämpfung von Kinderarmut leisten kön- gen wissentlich die Unwahrheit!) nen – – Nein, Sie belassen es bei der alten Mindesteinkom- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig! mensgrenze und bei der alten Höchsteinkommensgrenze Wahres ist Wahres!) und führen keine Wahlfreiheit ein. Das sind doch Dinge, und das nicht erst 2010, wenn die nächsten Wahlen ge- die ganz klar als Probleme benannt wurden. wesen sein werden. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sagen Sie: Es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reicht nicht! Aber sagen Sie doch nicht: Es sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ingrid 18252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Britta Haßelmann (A) Fischbach [CDU/CSU]: Dann können Sie sich Wir haben also einen gewaltigen Schritt nach vorn ge- (C) weiter aufregen! Wir lassen Sie in der Opposi- macht, und zwar mit einem in sich stimmigen Konzept. tion! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE Wir sollten in Deutschland endlich dazu kommen, dass GRÜNEN]: Ich rege mich gern auf! Das ist wir hinsichtlich der Rahmenbedingungen für Familien besser, als eine Rede abzulesen! – Johannes und für das Leben mit Kindern eine gemeinsame Linie Singhammer [CDU/CSU]: Die Ingrid verfolgen, damit Eltern wissen, auf was sie sich wirklich Fischbach hat überhaupt nicht abgelesen! – verlassen können. Eine solche gemeinsame Linie haben Antje Blumenthal [CDU/CSU]: Sie hat über- wir häufig gefunden, auch im Ausschuss. Es ist ein in haupt nicht abgelesen! Jetzt lügen Sie schon sich stimmiges Konzept, das wir Schritt für Schritt um- wieder! – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Was setzen. hat sie gesagt? Ich habe etwas abgelesen? Ich war ohne Zettel vorn! Ich kann gar nichts ab- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie lösen Ihre Versprechungen nicht ein!) gelesen haben!) Ein wichtiger Schritt ist jetzt die Veränderung des Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kinderzuschlags. Das ist heute Nachmittag ein großer Augenblick für die Familienpolitik. Jetzt würde ich gern das Wort dem Kollegen Parla- mentarischen Staatssekretär Hermann Kues geben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Abg. Ina Lenke [FDP] meldet Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der sich zu einer Zwischenfrage) Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- Ich sage auch etwas zu Ihnen, Frau Lenke, weil Sie gend: immer wieder erwähnen, auch im Ausschuss, dass wir Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! keine echte Wirkungsanalyse vorgestellt haben. Gleich- Liebe Frau Haßelmann, Sie haben versucht, zur Fami- zeitig sagen Sie, wir hätten Ihnen Massen an Papier zur lien- und Kinderpolitik einen ganz großen Bogen zu Verfügung gestellt. Alles, was es an Analysen gibt, etwa schlagen. zur Wirkung der Zahlung von Kindergeld, zum Beispiel bei Mehrkinderfamilien, liegt Ihnen vor. Die Konse- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- quenzen daraus muss das Parlament ziehen. Es ist nicht NEN]: Aber jetzt keine Noten vergeben!) Aufgabe der Regierung, sondern es ist letztlich Aufgabe Sie haben dabei – wenn ich das einmal so sagen darf – des Parlaments, zu entscheiden, welche Konsequenzen einiges durcheinandergebracht. aus diesen Zahlen gezogen werden. (B) (D) (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sie war ein Darüber, wie Kindergeld wirkt, werden wir im Herbst bisschen aufgeregt!) zu reden haben, wenn der Existenzminimumbericht vor- liegt. Wenn wir feststellen, dass das Existenzminimum Ich kann jetzt nicht alles richtigstellen, sondern will nur gestiegen ist – davon gehen, glaube ich, wir alle mitein- ein Beispiel nennen. ander aus –, wird man sich zu überlegen haben, was beim Kindergeld zu tun ist. Die Ministerin hat bereits (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- angedeutet, dass wir für Mehrkinderfamilien mehr tun NEN]: Jetzt bin ich gespannt auf Ihre Einlas- müssen, weil solche Familien in Deutschland fast ver- sung!) schwunden sind und weil Kinderarmut gerade dort zu Sie sagen, die Ministerin habe eine Erhöhung des Kin- Hause ist, wo mehrere Kinder sind oder wo Vater und derzuschlags angekündigt. Tatsächlich hat sie eine Erhö- Mutter keine Möglichkeit haben, den Lebensunterhalt hung des Budgets angekündigt, und die ist längst ge- für ihre Kinder zu verdienen. schehen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kritik zu üben, ist Ihr gutes Recht als Opposition. Ich Herr Staatssekretär, ich hätte Ihnen eine Zwischen- muss Ihnen aber sagen: Bildungspolitik war nie Aufgabe frage der Kollegin Lenke anzubieten. des Bundes, sondern ist Aufgabe der Länder. (Heiterkeit) In einem sind sich alle in Deutschland – auch die, die uns jetzt zuhören – einig, nämlich darin, dass wir in die- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der ser Legislaturperiode in der Familienpolitik einen gewal- Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- tigen Schritt nach vorn gemacht haben. gend: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ja. neten der SPD) Das muss einmal festgehalten werden: Wir haben einen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gewaltigen Schritt nach vorn gemacht. Wenn Sie sich auf Bitte schön. Landesebene, auf kommunaler Ebene, bei privaten Trä- gern oder auch bei Wohlfahrtsverbänden umhören, wer- Ina Lenke (FDP): den Sie feststellen, dass das in keiner Weise bestritten Herr Staatssekretär, Sie haben ausgeführt, dass Ihr wird. Ministerium alle 153 Leistungen evaluiert habe, wir uns Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18253

Ina Lenke (A) nur die Gutachten durchlesen müssten und sich für uns Roland Claus (DIE LINKE): (C) daraus die Wirkungsanalyse ergeben würde. Es ist ein- Herr Staatssekretär, hat denn nun die Bundesfamilien- fach zu wenig, wenn das Ministerium nur Gutachten ministerin am 13. September des vergangenen Jahres vor sammelt. Das ist keine ausreichende Leistung. Meine dem Deutschen Bundestag davon gesprochen, dass Frage lautet nun: Bekommen wir in dieser Legislaturpe- 500 000 Kinder von diesem Gesetz profitieren, oder hat riode eine Wirkungsanalyse auf Basis der Evaluierung sie es nicht? Jetzt profitieren davon ja nur noch die der 153 familienbezogenen Leistungen? Hälfte. Hat denn die Bundeskanzlerin am 28. November vor diesem Bundestag von einer Erhöhung des Kinder- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der zuschlages, also von „140 plus“, gesprochen, oder hat Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- sie das nicht getan? Sind Sie nicht vor diesem Hinter- gend: grund bereit, einzuräumen, dass beide Versprechen ge- Frau Kollegin Lenke, sicherlich haben auch Sie schon brochen wurden? einen Teil des riesigen Stapels, den wir auch Ihnen per- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- sönlich zur Verfügung gestellt haben, durchgelesen. Ich NIS 90/DIE GRÜNEN) gebe zu, man kann das nicht alles auf einmal schaffen, aber man kann sich immer wieder ein Päckchen vorneh- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der men. Lesen Sie zum Beispiel einmal, wie Kindergeld Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- wirkt, welche Bedeutung es etwa bei Alleinerziehenden gend: hat – da hat es eine große Bedeutung; das haben wir mit Ich bin dazu natürlich nicht bereit, weil das, was Sie Zahlen belegt – und welche Bedeutung es etwa bei sagen, falsch ist. Ich sage noch einmal ausdrücklich – ich Mehrkindfamilien hat. Wenn Sie das getan haben, dann habe das eingangs schon gesagt –: Die Kanzlerin hat da- müssen Sie politisch überlegen, welche Schlussfolgerun- von gesprochen, dass das Budget für den Haushaltspos- gen Sie daraus ziehen wollen. Das ist der Punkt. ten Kinderzuschlag erhöht wird. Das ist gesagt worden. Viele der Schlussfolgerungen, die wir auf diese Weise Das haben wir auch umgesetzt. nach und nach ziehen – das haben wir uns natürlich für (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese Legislaturperiode insgesamt vorgenommen, und NEN]: Das ist Nebelkerzenwerferei! Stehen das macht nach meiner festen Überzeugung letztlich den Sie dazu, dass Sie mehr versprochen als gehal- Erfolg der Familienpolitik aus –, werden in dieser Wir- ten haben!) kungsanalyse grundgelegt. Wir werden weiter daran ar- beiten müssen. Familienpolitik – das gilt auch für andere Was die Gesamtzahl angeht, bestreite ich überhaupt Politikfelder – ist nie zu Ende. Eben sagte Herr Spanier gar nicht – das gilt für fast alle Felder der Familienpoli- (B) (D) zum Thema Kinderarmut, es gibt nicht die Möglichkeit, tik –, dass wir, wenn wir beliebig viel Geld zur Verfü- irgendwo einen Knopf zu drücken und damit dieses Pro- gung hätten, auch beim Kinderzuschlag noch eine ganze blem zu erledigen. Vielmehr wird man immer wieder Menge tun könnten. So läuft ja das, was von Ihnen und neu ansetzen und überlegen müssen, ob die Maßnahmen Ihren Kolleginnen und Kollegen kommt, in der Regel wirklich zielgerichtet sind. fast immer darauf hinaus, die Ansätze zu erhöhen. Sie sagen aber an keiner Stelle, wie Sie sich die Finanzie- Deshalb sage ich noch einmal: Der Kinderzuschlag ist rung vorstellen. Wenn man regiert, hat man ein kleines in der Form, wie wir ihn heute beschließen werden, ab- Problem: Die guten Ideen und Konzepte, die man entwi- solut zielgerichtet, weil er sich an die Eltern richtet, die ckelt hat, muss man zu den finanziellen Möglichkeiten ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können, aber in Beziehung setzen. Das geht immer nur über Kompro- die es nicht schaffen, auch den Lebensunterhalt für ihre misse. Deswegen sage ich: Das, was wir jetzt machen, Kinder zu verdienen. Das ist der entscheidende Punkt. ist eine ganz wichtige Maßnahme gegen Kinderarmut. Da setzt der Kinderzuschlag an. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: neten der SPD – Ina Lenke [FDP]: Das ist ja Die Experten sagen etwas anderes! Hören Sie wohl etwas übertrieben, sonst würden die Ex- sich die einmal an!) perten „Hurra!“ schreien! Das haben sie nicht gemacht!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich möchte ausdrücklich noch einmal das betonen, Herr Staatssekretär, es gibt auch noch eine Zwischen- was eben Herr Singhammer in seiner Zwischenfrage an- frage des Kollegen Roland Claus. Möchten Sie die zu- gemerkt hat: Wir machen nicht nur eine ausgesprochen lassen? erfolgreiche Familienpolitik, sondern auch unsere Wirt- schafts- und Arbeitsmarktpolitik ist außerordentlich er- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der folgreich. Es ist in der Tat so: 1,6 Millionen neue Ar- Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- beitsplätze bringen es mit sich, dass viele Väter und gend: Mütter jetzt in der Lage sind, den Lebensunterhalt für Ja, natürlich. sich und ihre Kinder selbst zu verdienen. Das ist eine ganz tolle Entwicklung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bitte schön. neten der SPD) 18254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues (A) Wir setzen zum Beispiel dabei an, dass wir Menschen Miriam Gruß (FDP): (C) zur Selbstständigkeit ermuntern und ermutigen und ih- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nen zugleich auch Möglichkeiten aufzeigen, was sie ma- Herren! Schon in der letzten Sitzungswoche haben wir chen können. Wir setzen nicht in erster Linie darauf, auf Antrag der FDP über das Thema Kinderarmut ge- dass man beliebig hohe Summen aus dem Staatshaushalt sprochen. Ich freue mich, dass wir dieses Thema in die- entsprechend einsetzt. Sie wissen aus den Bereichen, wo ser Sitzungswoche wieder – zu relativ prominenter Zeit – Sie politische Verantwortung tragen, ja auch, dass das auf der Tagesordnung haben. Die Große Koalition hat nicht so ohne Weiteres geht. mittlerweile also tatsächlich erkannt: Da gibt es ein Thema, das bearbeitet werden muss. Allerdings gibt es Der Kinderzuschlag bringt nicht nur finanzielle Ent- auch hier die schlechte Nachricht: Es geht leider wieder lastungen für Familien im Niedrigeinkommensbereich, in die falsche Richtung. sondern von ihm gehen auch zwei ganz wichtige gesell- schaftspolitische Signale aus. Es mag dahingestellt sein, wie viele vom verbesserten Kinderzuschlag tatsächlich profitieren werden. Sie spre- Das erste Signal: Arbeit lohnt sich. Wer in unserem chen von 250 000 Kindern. Hier regieren drei Parteien. Land arbeitet, wer hier erwerbstätig wird, der hat einen An dieser Stelle will ich ansprechen, dass die CSU auf Vorteil. Bundesebene mitregiert, Herr Singhammer. Es gibt in Das zweite Signal: Die Entscheidung für Kinder ist Bayern leider keinen Armutsbericht. Die Ministerin ist – das will ich ausdrücklich sagen – kein Grund für Ar- ihn uns seit vielen Jahren schuldig. Trotzdem gibt es mut. Mit diesem Ansatz leisten wir einen Beitrag dazu, Zahlen von Verbänden. Wenn die Bundesregierung hier dass man wegen Kindern nicht in Armut versinkt. Wenn behauptet, 250 000 Kinder profitierten vom verbesserten wir in unserem Land sagen müssten: „Wer sich zu Kin- Kinderzuschlag, verweise ich darauf, dass allein in Bay- dern bekennt, wer sich für Kinder entscheidet, wer sich ern 150 000 Kinder unter 15 Jahren auf Sozialhilfeni- womöglich für mehr Kinder entscheidet, der endet in Ar- veau leben. Deswegen muss man sich noch sehr viel mut“, dann wäre das eine fürchterliche Feststellung. Ar- grundsätzlichere Gedanken über die Kinderarmut ma- mut durch Kinder, dagegen wollen wir politisch vorge- chen. Das Instrument, das Sie uns heute hier vorgestellt hen, und das leistet dieser Kinderzuschlag. haben, reicht bei weitem nicht aus. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Herr Spanier hat gesagt: Keiner erwartet jetzt, dass wir mit diesem Instrument die Kinderarmut wirklich be- Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies seitigen. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum hat (B) nur ein Element ist, und dass es viele andere Punkte gibt, man es überhaupt entwickelt? (D) die in unserem Gesamtkonzept angesprochen worden sind. Dazu gehört das Elterngeld. Das ist eine Erfolgsge- (Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: schichte. Wir haben auch das entsprechend weiterentwi- Verringern werden wir sie!) ckelt. Dazu gehört auch der Ausbau der Kinderbetreu- Sie sprechen hier das Kinderfördergesetz an und sa- ung. Sie können heute in jeder Gemeinde feststellen, gen, damit seien die Probleme gelöst. Ich erinnere mich dass sich dort in den letzten zwei, drei Jahren ungeheuer immer noch an den von Ihnen letztendlich mitgetragenen viel bewegt hat. Wir brauchen das nicht zu propagieren. Zusatzparagrafen, durch den die Einführung des Betreu- Das kann jeder feststellen, der es möchte. ungsgeldes geregelt wird. Das wird wieder dazu führen, Wir werden uns jetzt ganz gezielt einer weiteren Sa- dass gerade die Kinder, die es brauchten, keine Teilhabe- che zuwenden, nämlich dem Kindergeld. Es ist wichtig, chancen haben. dass wir den Blick nicht nur auf diejenigen Kinder rich- (Beifall bei der FDP) ten, die sich, leider, im SGB-II-Bezug – früher haben wir von Sozialhilfe gesprochen – befinden, und auf diejeni- Ganz grundsätzlich: Sie sprechen hier von Verteilen; gen, die von einem Freibetrag profitieren, weil deren El- wir sprechen von Lassen. Warum lassen wir den Fami- tern gut verdienen, sondern auch auf diejenigen, die we- lien nicht einfach das Geld, das sie verdienen? Die Fami- der von dem einen noch von dem anderen profitieren. lien wissen schon selber, wofür sie es ausgeben würden. Genau dort setzt das Kindergeld an. Insofern ist das eine (Beifall bei der FDP) ganz wichtige sozialpolitische Entscheidung, gerade für Mehrkinderfamilien. An dieser Stelle möchte ich sagen: Das ist wieder ein Linke-Tasche-rechte-Tasche-Spiel. Auf der einen Seite Herzlichen Dank. wollen Sie den Familien etwas geben, auf der anderen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Seite ziehen Sie ihnen mit allen möglichen Maßnahmen neten der SPD) das Geld wieder aus der Tasche. 1 600 Euro hat eine durchschnittliche vierköpfige Familie im letzten Jahr aufgrund von Maßnahmen, die Sie, CDU/CSU und SPD, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hier beschlossen haben, mehr ausgeben müssen. Für die Fraktion der FDP hat jetzt Miriam Gruß das Wort. Zwischen dem 15. Dezember 2005 und dem 8. November 2007 sind 19 Maßnahmen beschlossen (Beifall bei der FDP) worden, die zu Steuererhöhungen geführt haben. Gravie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18255

Miriam Gruß (A) rend war natürlich die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) Hinzukommen viele andere von Ihnen hier beschlossene Frau Humme, Frau Lenke möchte Ihnen gerne eine Maßnahmen. Dieses Linke-Tasche-rechte-Tasche-Spiel Zwischenfrage stellen. wird nicht aufgehen. Die Familien haben davon jeden- falls nichts. Christel Humme (SPD): (Beifall bei der FDP) Ich habe schon darauf gewartet, Frau Lenke.

Und weil mein lieber Herr Kollege, der Haushaltsaus- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schussvorsitzende, hier sitzt, möchte ich an dieser Stelle Es ist also ausgemacht, also ein abgekartetes Spiel. noch einmal darauf hinweisen: Auch das ist wieder eine Maßnahme, deren Wirkung zu wünschen übrig lässt Christel Humme (SPD): bzw. möglicherweise fraglich ist. Wir haben keine Wir- kungsanalyse über die Maßnahmen, aber auf diesen Wir spielen uns die Bälle nur so zu. Schuldenbergen, die wir bereits haben und auf die wir (Heiterkeit) die neuen Schulden, die wir jetzt aufbauen, draufsatteln, können unsere Kinder nicht spielen und erst recht nicht Ina Lenke (FDP): lernen. Frau Präsidentin, das ist sicherlich kein Spiel. Denn (Beifall bei der FDP) es geht hier um Steuergelder. Frau Kollegin Humme, Sie haben gesagt, dass es ein Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: erfolgreiches Gesetz ist. Allerdings haben nur 12 Pro- zent der Antragsteller seit 2004, als SPD und Grüne die- Jetzt spricht Christel Humme für die SPD-Fraktion. ses Gesetz eingeführt haben, davon profitiert. Alle Ex- (Beifall bei der SPD) perten haben dieses Gesetz unisono nicht gelobt, und sie kritisieren auch diese gesetzliche Änderung. Ich habe Ih- nen die Zitate dazu gezeigt, und ich glaube, dass Sie Christel Humme (SPD): auch bei der Anhörung anwesend waren. Ich kann den Frau Präsidentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Ausführungen aller Expertinnen und Experten – auch Liebe Frau Haßelmann, leider hat Ihre erregte Rede denen der Experten von der SPD – nicht entnehmen, letztlich nicht aufgezeigt, dass wir in der rot-grünen Re- dass das eine Erfolgsstory ist. Sagen Sie mir doch ein- gierungszeit mit dem Kinderzuschlag ein sehr gutes In- mal, wo wir beide unterschiedlich denken. Schwarz auf (B) (D) strument auf den Weg gebracht haben. weiß sind Ihre Aussagen nicht belegt. Welchen Grund haben Sie, es als Erfolg zu werten? (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dafür haben Sie jetzt Gelegenheit! – Christel Humme (SPD): Ina Lenke [FDP]: Aber alle Experten kritisie- Also, Frau Lenke, Sie verwechseln da etwas. Das In- ren das!) strument des Kinderzuschlags ist hervorragend, aber wir Jetzt geht es darum, dieses Instrument weiterzuentwi- alle wussten ganz genau, dass wir dieses Instrument ckeln, und wir werden heute beschließen, dass mehr Fa- auch weiterentwickeln müssen. Genau das tun wir, und milien diesen Kinderzuschlag erhalten – zusätzlich zum das werden wir heute für viele Familien, die davon profi- Kindergeld. Das sind 300 Euro monatlich pro Kind. Das tieren werden, beschließen. Darum geht es. sollte man nicht so runterspielen, sondern als gutes In- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten strument feiern. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir wissen natürlich auch, liebe Kollegen und Kollegin- nen, dass dieser Kinderzuschlag das gesellschaftliche Frau Haßelmann, wir haben uns bereits damals große Problem der mangelnden Beschäftigung lediglich korri- Sorgen über Kinderarmut gemacht; das ist gar keine giert, und daher kann dieser Kinderzuschlag – das hat Frage. Wir wissen ganz genau, dass materielle Armut auch Herr Spanier zutreffend gesagt – nur ein kleiner letztlich zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führt. Auch Baustein sein. das wollten wir durch den Kinderzuschlag verhindern. Wir wollten einem Grundproblem, dem wir heute leider (Ina Lenke [FDP]: Jetzt ist er schon klein! immer noch gegenüberstehen, begegnen. Es ist das Eben war es ein großer Erfolg!) Grundproblem, dass es Frauen und Männer gibt, die Herr Wunderlich und Frau Gruß, es ist natürlich rich- zwar – auch in Vollzeit – beschäftigt sind, aber trotzdem tig, dass wir nicht nur Bausteine brauchen. Wir brauchen ein Armutsrisiko tragen. Ich denke, das ist die eigentli- zur Bekämpfung der Kinderarmut und der Familien- che Debatte, die wir langfristig führen müssen. Wir kön- armut eigentlich ein Haus bzw. ganz viele Bausteine, nen uns zwar über den Kinderzuschlag streiten, aber es und dazu gehören – wie schon gesagt – Beschäftigung geht im Wesentlichen um eine gute Beschäftigung und und existenzsichernde Löhne. Darüber hinaus ist in die- eine gute Entlohnung. Denn vor allen Dingen davon sem Zusammenhang gleicher Lohn für die gleiche Ar- würden auch Alleinerziehende profitieren. beit von Männern und Frauen ein wichtiges Thema, und 18256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Christel Humme (A) ich denke, auch das Thema gesetzlicher Mindestlohn ge- Mit dem Ganztagsschulprogramm haben wir den Pro- (C) hört hier hin. Das wollen wir unbedingt. zess eingeleitet; mit dem Rechtsanspruch auf frühkindli- che Bildung setzen wir diese Politik fort. Allein der (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung wird uns Dazu gehören allerdings auch – das wurde schon gesagt – 12 Milliarden Euro kosten. Steuersenkungen helfen an mehr Betreuungsplätze, damit Frauen und Männer und dieser Stelle überhaupt nicht weiter. Allein der quantita- vor allen Dingen Alleinerziehende die Chance haben, tive und qualitative Ausbau der Bildung und Betreuung eine Beschäftigung aufzunehmen. Schließlich sagt uns ist ein massives Beschäftigungsprogramm. Wir brauchen der Armuts- und Reichtumsbericht ganz deutlich: Das 80 000 Erzieherinnen und Erzieher mehr in diesem Be- Armutsrisiko sinkt von 48 auf 4 Prozent, wenn beide El- reich. Wir müssen diejenigen, die jetzt schon als Erzie- ternteile tatsächlich beschäftigt sind. Darum ist es für herinnen und Erzieher arbeiten, besser qualifizieren, uns ganz besonders wichtig, die Frauenerwerbsquote zu weiterbilden und in Zukunft besser bezahlen. Dafür erhöhen. Wir wollen gute Arbeit, gut bezahlte Arbeit brauchen wir mehr Geld: im Bund, in den Ländern und und mehr Betreuungsplätze; denn das sind die soliden in den Kommunen. Gerade hier sind Steuersenkungen Fundamente für ein Haus, das vor Armut – vor allen das falsche Signal. Dingen vor Kinderarmut – schützen soll. Wir wollen ein stabiles Haus bauen, das Familien und In diesem Jahr gab es zwei parallele Debatten. Die ihren Kindern langfristig das Armutsrisiko nimmt und eine Debatte, die uns auch sehr stark beschäftigt und die sie vor Armut schützt. Wir haben das Baumaterial vom wir heute führen, setzt sich mit der Frage auseinander, Fundament bis zum Dach. Ein wirksames Gesamtkon- wie wir mit dem Thema Kinderarmut umgehen. Die an- zept ist wichtig. Neben dem Kinderzuschlag – er ist nur dere Debatte befasst sich mit Steuersenkungen. ein Baustein von vielen – sind zielgenaue finanzielle Hilfen, bildungs- und beschäftigungspolitische Pro- (Ina Lenke [FDP]: Aber erst einmal Steuern gramme wichtige Bausteine. erhöhen! Ich glaube es nicht!) Zu einem langlebigen Haus gehört auch eine solide – Die Steuersenkungsspirale ist in der öffentlichen De- Finanzierung; da gebe ich Ihnen, Frau Lenke, vollkom- batte sehr häufig angesprochen worden. – Beide Debat- men recht. Auch ich würde natürlich gerne auf die ten passen nicht zueinander; es sei denn, dass diejenigen, 184 Milliarden Euro schauen, die wir an Familienleis- die über Steuersenkungen diskutieren, wollen, dass die tungen zur Verfügung stellen, und überprüfen, ob es Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinan- nicht Möglichkeiten gibt, mehr umzuschichten. Denn ei- dergeht. Das wollen wir eindeutig nicht. nes ist auch richtig: Immer draufzusatteln und sich im- (B) mer höher zu verschulden, hilft auch der nachfolgenden (D) Uns ist es ernst mit der Armutsbekämpfung und mit Generation nicht und schützt sie nicht vor Armut. der Armutsprävention. Dazu brauchen wir einen finan- ziell gut ausgestatteten Sozialstaat. Alles andere funktio- Danke schön. niert nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD) CDU/CSU und der Abg. Ina Lenke [FDP]) Kinderzuschlag jetzt und Wohngelderhöhung ab dem 1. Januar 2009 kosten 650 Millionen Euro. Diesen Bau- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: steinen zur Bekämpfung von Armut wollen wir noch an- Der Kollege Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die dere Bausteine hinzufügen: zielgenaue Hilfen zu den CDU/CSU-Fraktion. Schulmitteln, Anpassung der Kinderregelsätze und auch (Beifall bei der CDU/CSU) die Erhöhung des Kindergeldes. Eine Steuersenkungsde- batte können wir an dieser Stelle überhaupt nicht gebrau- chen. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Darüber hinaus gilt: Der finanzielle Ausgleich über Liebe Kollegen! Werte Zuschauer! Frau Lenke, Sie ha- Transferleistungen allein reicht nicht. Wir sind im euro- ben in Ihrer Rede mehrfach die zu kleinen Bausteine mo- päischen Vergleich nach wie vor im Zugzwang, mehr in niert. Ich möchte Ihnen ein anderes Beispiel nennen. Es Bildung und Betreuung zu investieren. In keinem ande- gibt einen guten Spruch, der lautet: Jeder Weg beginnt ren europäischen Land – Frau Lenke, da gebe ich Ihnen mit dem ersten Schritt. Den ersten Schritt in puncto Kin- recht – gibt es einen so starken Effekt wie in Deutsch- derzuschlag hat zugegebenermaßen die rot-grüne Bun- land. Bei uns gilt seit 30 Jahren, dass Armut vererbbar desregierung vor unserer Zeit gemacht. Wir machen jetzt ist; denn immer noch werden Kinder aufgrund ihrer fi- den zweiten Schritt in diese richtige Richtung. Liebe nanziellen Lage und aufgrund ihrer Herkunft in unserem Frau Lenke, mit vielen kleinen Schritten kommen wir Bildungssystem abgehängt. Das hat uns der aktuelle Na- auch zum Ziel. Wenn man natürlich überhitzt oder über- tionale Bildungsbericht bedauerlicherweise wieder vor stürzt vorprescht, kann man auch ins Stolpern geraten. Augen geführt. Wir wollen diesen Kreislauf unbedingt durchbrechen. Auch dafür brauchen wir einen starken (Otto Fricke [FDP]: Trippelschritte!) und finanziell gut ausgestatteten Sozialstaat. – Trippelschritte, Herr Fricke, sind es nicht. Wie gesagt, (Beifall bei der SPD) wir müssen ein bisschen auf den Haushalt aufpassen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18257

Paul Lehrieder (A) Frau Haßelmann, Sie haben moniert, es sei zu wenig Paul Lehrieder (CDU/CSU): (C) in der Kasse, um noch mehr zu erreichen. Ihr Programm Sie wollen doch eine Frage stellen. ist offensichtlich dem Erbe ähnlich, das Rot-Grün hinter- lassen hat: 37 Milliarden Euro neue Schulden. Wolfgang Spanier (SPD): (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich will nur eines klarstellen: Ich habe vorhin in mei- NEN]: Ich erkläre Ihnen das gern!) nem kurzen Redebeitrag ganz vergessen, den gesetzli- chen Mindestlohn anzusprechen. Frau Kollegin Humme hat zu Recht darauf hingewiesen: (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das fand ich Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. gerade so sympathisch, Herr Spanier!) Wir können doch der nächsten Generation um Himmels willen nicht einen noch größeren Berg an Schulden hin- Herr Lehrieder, ich habe vielmehr die Union daran erin- terlassen. nert, dass wir beschlossen haben, im Rahmen des Ent- sendegesetzes zwischen Tarifparteien vereinbarte Min- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- destlöhne für allgemeinverbindlich zu erklären. Man NEN]: Das sagt der, der für die Rentenpunkte entschuldige die etwas bürokratische Sprache; aber der gestimmt hat!) Klarheit wegen muss ich dies so sagen. Ich habe mir ge- wünscht, dass wir in dieser Frage so zusammenarbeiten, Die Gegenfinanzierungsvorschläge des Kollegen wie wir das auch beim Kinderzuschlag getan haben. Wunderlich, zum Beispiel jenen zu den drei Fregatten, erspare ich mir zu kommentieren. Wir können nicht die (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ina äußere Sicherheit mit sozialen Leistungen aufrechnen, Lenke [FDP]: Wenn das so ist, dann ist das Herr Kollege Wunderlich. Das wäre schlichtweg zu ein- eine Katastrophe!) fach. Dabei bleibe ich. Sie auch? Ich muss ja eine Frage stel- Ich kann mir auch ein kritisches Wort zu unserem Ko- len. alitionspartner nicht ganz verkneifen, lieber Kollege Spanier, liebe Kollegin Humme. Auf der Regierungs- Paul Lehrieder (CDU/CSU): bank sitzt der Herr Staatssekretär Brandner. Er kann Ih- Lieber Kollege Spanier, ich muss gestehen: Die Zu- nen gern erklären, was es mit dem Mindestlohn auf sich sammenarbeit zwischen den Koalitionsfraktionen ist hat. Wir reden heute über Mehrkinderfamilien, die durch nicht in allen Bereichen gleich intensiv und gleich gut. den Kinderzuschlag vor Hartz IV bewahrt werden sol- Das ist nicht völlig neu; das wissen Sie so gut wie ich. len. Wenn Sie über die Einführung eines Mindestlohns Im Protokoll werden Sie nachlesen können, was Sie zum (B) von 7,50 oder 8,50 Euro diskutieren wollen, dann lassen Mindestlohn gesagt haben. Wir arbeiten daran; ich bin (D) Sie sich doch bitte schön einmal vom Kollegen Brandner Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Aber da erklären, dass ein Mindestlohn von 8 Euro einer vierköp- haben wir noch einen langen Weg vor uns. Auch da müs- figen Familie gar nichts bringt, weil diese schon nach sen wir einen Schritt nach dem anderen machen und dür- den Regelsätzen einer Bedarfsgemeinschaft bei circa fen nichts überstürzen. 12 bzw. 12,50 Euro liegen würde. Streuen wir also unse- ren Zuhörern keinen Sand in die Augen (Zuruf von der SPD: Aber Schritte machen!) – Wir machen schon Schritte. (Ina Lenke [FDP]: Es wird aber mit der CDU/ CSU einen Mindestlohn in dieser Legislatur- Bei der Diskussion über den Bereich der Kinderarmut periode geben!) fällt natürlich auf, dass gerade Familien im niedrigen Einkommensbereich – darauf wurde bereits hingewiesen – und tun wir nicht so, als würde ein Mindestlohn genau wie auch alleinerziehende Mütter und Väter derzeit die Schicht erreichen, die wir mit dem Kinderzuschlag überdurchschnittlich oft im ergänzenden ALG-II-Bezug erreichen wollen. vertreten sind. Besonders Eltern mit mehreren Kindern können zum Teil trotz Vollzeiterwerbs nur mit großen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Anstrengungen ein Einkommen erzielen, das oberhalb des existenzsichernden ALG-II-Bedarfs der gesamten Herr Kollege, Herr Spanier würde Ihnen gerne eine Familie liegt. Zwischenfrage stellen. Mit dem heute vorliegenden Entwurf eines Gesetzes Paul Lehrieder (CDU/CSU): zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes wollen wir erreichen, dass durch eine Verbesserung und Weiterent- Selbstverständlich. Wenn ich ihn angreife, muss er wicklung des Kinderzuschlags weniger Kinder und ihre doch antworten dürfen. Familien auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen (Otto Fricke [FDP]: Das könnt ihr doch in der sein werden. Koalitionsrunde klären!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Entsprechend den Koalitionsvereinbarungen vom Wolfgang Spanier (SPD): 11. November 2005 soll unter anderem der Kreis der Be- Wenn Sie möchten, dass wir uns jetzt im Plenum mit- rechtigten ausgeweitet werden, um die Zielsetzung des einander unterhalten, mache ich das natürlich gerne. Kinderzuschlags besser als bisher zu realisieren. Zwar 18258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Paul Lehrieder (A) gibt es den Kinderzuschlag bereits seit Beginn des Jahres in unserem Land ein Grund sein, sich gegen die Grün- (C) 2005; ich habe darauf hingewiesen. Allerdings haben dung einer Familie zu entscheiden. Mit unserem Maß- Probleme in der Umsetzung gezeigt, dass eine Weiter- nahmenpaket, der Einführung des Elterngeldes, dem entwicklung vonnöten ist. Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen für unter Dreijährige – zugegebenermaßen in harmonischer Zu- Das Antragsverfahren soll künftig vereinfacht wer- sammenarbeit mit unserem Koalitionspartner, Herr den. Spanier – und der Weiterentwicklung des Kinderzu- (Ina Lenke [FDP]: Die Expertenanhörung hat schlags, haben wir in den letzten Jahren viel erreicht. ergeben, dass das nicht vereinfacht wird! Das Wir sind mit den genannten zielgenauen und wirkungs- stimmt einfach nicht!) vollen Instrumenten auf dem richtigen Weg, um mate- rieller Armut gerade bei den jüngsten Mitgliedern der – Bitte eine Frage. – Bisher musste die Mindesteinkom- Gesellschaft und deren Familien entgegenzuwirken. mensgrenze mit hohem bürokratischem Aufwand indivi- (Ina Lenke [FDP]: Ich fasse es nicht!) duell bestimmt werden. Die von uns gesetzte klare und zugleich deutlich gesenkte Einkommensgrenze von ein- Wir werden diesen Weg weitergehen. Es ehrt die Op- heitlich 600 Euro für Alleinerziehende und 900 Euro für positionsparteien, dass sie uns regelmäßig mit pawlow- Paarhaushalte lässt Eltern nun leichter, schneller und schem Reflex kritisieren einfacher erkennen, ob sie für den Kinderzuschlag in- (Ina Lenke [FDP]: Das ist eine Dreistigkeit frage kommen oder nicht. Der Kreis der Berechtigten von Ihnen!) wird erheblich ausgeweitet; vielleicht nicht so sehr, wie man ursprünglich gedacht hat, aber zumindest wird er und sagen: Ihr macht es zwar richtig, aber zu langsam, ausgeweitet. In Kombination mit der Wohngeldreform und das ist zu wenig. Wir bitten Sie, uns weiterhin kri- kann so dazu beigetragen werden, dass Familien mit tisch zu begleiten, aber auch anzuerkennen, was gut ist Kindern unabhängig von Leistungen der Grundsiche- und was richtig läuft. rung für Arbeitsuchende werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Zusätzlich zur fixen Mindesteinkommensgrenze von 600 bzw. 900 Euro wird – auch das ist wichtig – die Ab- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schmelzrate für Einkommen aus Erwerbstätigkeit von Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin derzeit 70 Prozent auf nunmehr nur noch 50 Prozent ab- Caren Marks. gesenkt. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Ingrid Fischbach (B) (D) [CDU/CSU]: Das ist ganz wichtig! Arbeiten Caren Marks (SPD): lohnt sich wieder!) Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolle- Das bedeutet, dass der Kinderzuschlag bei steigendem ginnen! Sehr geehrte Herren und Damen! Zuerst möchte Einkommen maßvoller abnimmt. Eltern haben von ih- ich ein paar Sätze an die Kolleginnen und Kollegen der rem selbst erwirtschafteten Einkommen künftig mehr für FDP richten: Von Ihrem Steuersenkungsprogramm pro- sich. Durch die gesenkte Abschmelzrate wird ein durch- fitieren von Armut betroffene Familien nicht wirklich. gehender Erwerbsanreiz gesetzt. Zugleich wird der An- Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass es die reiz zum Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit deutlich er- rot-grüne Bundesregierung war, die den Grundfreibetrag höht. Beschäftigung muss für alle Erwerbsfähigen in verdoppelt hat und den Eingangssteuersatz von 25 auf diesem Land attraktiv bleiben, insbesondere für Eltern. 15 Prozent gesenkt hat. Das hat Familien mit geringem Einkommen wirklich entlastet. Arbeiten für die eigene Familie soll sich auszahlen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Mit der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der unbefristeten Bezugsdauer können Familien, vor al- lem Mehrkinderfamilien, spürbar entlastet werden. Über den Kinderzuschlag werden die Leistungen weiterhin Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auf Familien im Niedriglohnbereich konzentriert. Diese Frau Kollegin, Frau Lenke würde gerne eine Zwi- wichtige Unterstützung von Eltern und Kindern war schenfrage stellen. trotz schwieriger Haushaltslage möglich. Von dieser Weiterentwicklung und der Ausweitung des Kreises der Caren Marks (SPD): Berechtigten profitieren künftig 120 000 Kinder und Ach nein, das ist immer die gleiche. Ich habe sonst 50 000 Familien mehr als bisher. nichts gegen Zwischenfragen, aber die Fragen von Frau (Ina Lenke [FDP]: 2,4 Millionen Kinder in Ar- Lenke tragen selten zur Klärung bei. mut! Das ist unverhältnismäßig!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Armutsgefährdungsquote von Kindern wird durch Armut – das haben wir heute schon mehrfach gehört – den erweiterten Kinderzuschlag deutlich verringert. ist ein Mangel an Teilhabe, an Bildung, an materiellen (Ina Lenke [FDP]: Deutlich?) Gütern, an sozialen Kontakten und an einer guten ge- sundheitlichen Entwicklung. Die Ausprägung von Ar- Kinder dürfen kein Grund für Familienarmut sein. mut – das muss uns bewusst sein – ist vielschichtig. Der Genauso wenig darf die finanzielle Lage der Menschen Kinderzuschlag ist ein Baustein zur Bekämpfung von Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18259

Caren Marks (A) Armut, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir Sozial- Eltern-Kind-Zentren verantwortlich. Die Sicherstellung (C) demokratinnen und Sozialdemokraten haben ihn zusam- von gleichen Bildungschancen für alle und die Qualität men mit den Grünen erfolgreich eingeführt. Da der Bildungseinrichtungen sind Sache der Länder. Wir Stillstand Rückschritt wäre, entwickeln wir den Kinder- als Bund müssen für eine gerechte Besteuerung, für eine zuschlag in der Großen Koalition weiter. gezielte finanzielle Förderung von Familien und für an- gemessene Regelsätze in der Grundsicherung sorgen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Auf der Ebene der Zuständigkeiten gilt Paragraf 160 000 Kinder in 75 000 Familien werden mit dem eins: Jeder macht seins. Es kann nicht sein, dass wir im weiterentwickelten Kinderzuschlag zusätzlich erreicht. Bund zusätzliche Leistungen für Familien beschließen und die Länder und Kommunen dies über höhere Kita- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Beiträge, Abschaffung von Lernmittelfreiheit und Es- Abg. Paul Lehrieder (CDU/CSU) sensgebühren sozusagen wieder einkassieren. Diese Kinder und Familien werden ab dem nächsten Jahr (Beifall bei der SPD) von der bereits beschlossenen Wohngelderhöhung und der geplanten Kindergelderhöhung profitieren. Der Wir brauchen ein gemeinsames Vorgehen zur Schaf- Dritte Armuts- und Reichtumsbericht zeigt einmal mehr: fung gleicher Lebenschancen aller Kinder. Wir brauchen Die Kombination aus Kinderzuschlag, Wohngeld und eine Gesamtstrategie, die alle politischen Bereiche in die Kindergeld ist ein Beitrag zur Bekämpfung von Armut. Verantwortung nimmt. Wir brauchen eine nationale Kin- derkonferenz. Ich werbe um breite Unterstützung dafür. Hauptprofiteure vom Kinderzuschlag sind die Mehr- kinderfamilien. Durch den Kinderzuschlag wird deren Herzlichen Dank. Einkommen um durchschnittlich 250 Euro im Monat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aufgestockt. Das sind bis zu 15 Prozent mehr monatli- der CDU/CSU) ches Haushaltsnettoeinkommen. Weniger zufrieden sind wir dagegen mit der Wirkung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: des Kinderzuschlags für Alleinerziehende. Sie haben das Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kol- höchste Armutsrisiko, profitieren bisher aber kaum vom legin Ina Lenke. Kinderzuschlag. Um das zu ändern, führen wir jetzt das bereits erwähnte kleine Wahlrecht ein. Insgesamt erhö- Ina Lenke (FDP): hen wir den Anteil der Alleinerziehenden, die Anspruch auf Kinderzuschlag haben, von 7 auf 14 Prozent. Das ist Sehr geehrte Frau Kollegin Marks, ich muss mich ge- ein Schritt in die richtige Richtung. gen Ihre Angriffe verwahren. Sie haben sich über die FDP sehr diskriminierend geäußert. Stichwort Steuerer- (B) Alleinerziehende brauchen allerdings mehr als finan- höhungen: Ich habe die Tatsache genannt, dass SPD und (D) zielle Hilfen. Sie brauchen vor allem fair bezahlte Ar- CDU/CSU die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent er- beit; denn sie müssen das Familieneinkommen allein er- höht haben. Das belastet gerade Familien mit wenig wirtschaften. Geld. Das sind zusätzliche Kosten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Außerdem stelle ich fest, Frau Kollegin Marks, dass Sie unseren Antrag, den wir hier heute vorgelegt haben, Deshalb machen wir uns für Mindestlöhne stark. Das nicht gelesen haben. Sonst hätten Sie dem Parlament und Nein der Familienministerin und der Union ist für mich den Besuchern nicht so viel Falsches erzählt. nicht nachvollziehbar. (Beifall bei der FDP) (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das entschei- det doch nicht die Familienministerin!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Alleinerziehende brauchen gute Betreuungs- und Bil- Frau Kollegin Marks. dungsangebote für Kinder. Deshalb lautet unser fami- lienpolitischer Schwerpunkt nicht erst seit dieser Legis- Caren Marks (SPD): laturperiode: mehr und bessere Kita-Angebote und Ganztagsschulen. Ich glaube, mit dieser Kurzintervention haben Sie sich selbst ins Abseits gestellt. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Mit dem gegenseitigen Abschieben von Verantwort- lichkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen Darum will ich dazu gar nicht mehr viel anmerken. Die muss endlich Schluss sein. FDP – es ist schon lange her – war ja einmal in Regie- rungsverantwortung. Sie sprechen davon, dass Sie Steu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ersenkungsprogramme für Familien mit kleinen Ein- kommen aufgelegt haben. Dazu finde ich nichts. Dafür haben die Familien in diesem Land zu Recht kein Vielleicht suchen Sie einmal; aber ich glaube, auch Sie Verständnis. werden nichts finden. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha- Herzlichen Dank. ben einen Aktionsplan für gleiche Lebenschancen vorge- stellt, in dem wir die Verantwortlichkeiten deutlich be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Birgit nennen. Die Kommunen sind vor allem für das gesunde Homburger [FDP]: Steuerreform 1988! Aufwachsen von Kindern und den Ausbau der Kitas zu Danke, setzen!) 18260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tion Die Linke mit den Stimmen des restlichen Hauses (C) Ich schließe die Aussprache. abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Erste Beratung des von den Abgeordneten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskin- Joachim Stünker, Michael Kauch, Dr. Lukrezia dergeldgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Jochimsen und weiteren Abgeordneten einge- Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur schlussempfehlung auf Drucksache 16/9792, den Ge- Änderung des Betreuungsrechts setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8867 in Kenntnis der Unterrichtung – Drucksache 16/8442 – durch die Bundesregierung auf Drucksache 16/4670 in Überweisungsvorschlag: der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Rechtsausschuss (f) die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- Ausschuss für Gesundheit gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Ge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die genstimmen der Opposition angenommen. Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Dritte Beratung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Joachim Stünker, SPD-Fraktion. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Joachim Stünker (SPD): wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenom- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Ihnen men. heute Nachmittag – ich möchte sagen: endlich – den Ge- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- setzentwurf einer Gruppe von 209 Kolleginnen und Kol- antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9812. Wer legen aus vier Fraktionen dieses Hauses vorstellen, mit stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dem wir den Umgang mit Patientenverfügungen im Be- dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag treuungsrecht verbindlich regeln wollen. ist bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen des Man kann die getroffene Regelung in einem Satz wie (B) restlichen Hauses abgelehnt. folgt zusammenfassen: Falls ein Patient entscheidungs- (D) Wir setzen die Abstimmungen über die Beschluss- unfähig ist, hat der behandelnde Arzt eine vorgelegte Pa- empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, tientenverfügung zu respektieren, sofern diese aktuell Frauen und Jugend auf Drucksache 16/9792 fort. und auf die gegebene Situation anwendbar ist. Ich wie- derhole: sofern sie aktuell und auf die gegebene Situa- Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Gesetzent- tion anwendbar ist. wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9615 zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes für erledigt zu Viele sagen: Es ist doch alles klar, wir brauchen diese erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Regelung nicht. Der Präsident der Bundesärztekammer Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- hat erst vor wenigen Tagen in einem Zeitungsinterview empfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an- gesagt: genommen. Wir haben Klarheit – und diese wird durch ein Ge- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner setz nicht noch klarer werden. Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Ich denke, in dieser Frage ist gar nichts klar. Gerade das Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8883 teilweise babylonische Stimmengewirr, das wir im Vor- mit dem Titel „Kinderzuschlag weiterentwickeln – Für- feld der heutigen Debatte in den Medien erlebt haben, sorgebedürftigkeit und verdeckte Armut von Erwerbstä- macht mit Nachdruck deutlich: Vieles ist nicht klar. tigen mit Kindern verhindern und bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Immer wie- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung der heißt es, wir wollen die aktive Sterbehilfe nicht be- ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der fördern. Dazu kann ich nur sagen: Unser Gesetzentwurf FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen hat mit aktiver Sterbehilfe überhaupt nichts zu tun. und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, men. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9746 mit dem Ti- Tötung auf Verlangen bleibt nach § 216 des Strafgesetz- tel „Armut trotz Arbeit vermeiden – Benachteiligung Al- buches strafbar, und kein Mensch will diese Grenze leinerziehender beim Kinderzuschlag beenden“. Wer überschreiten. Wenn ein Mensch eine bestimmte medizi- stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- nische Behandlung für sich ausschließt, nicht möchte, haltungen? – Der Antrag ist bei Gegenstimmen der Frak- dass sie an ihm vorgenommen wird, und sie seinem Wil- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18261

Joachim Stünker (A) len entsprechend unterlassen wird, ist das keine aktive gung niedergelegt haben, haben sich ganz individuell in (C) Sterbehilfe. diesem verfassungsrechtlichen Rahmen bewegt. Diese Entscheidung hat der Staat zu respektieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, NEN) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Es wird immer gesagt – so war es auch heute Morgen GRÜNEN) im Fernsehen zu verfolgen –, die Rechtsprechung des Wie kann das Grundrecht auf Selbstbestimmung ge- Bundesgerichtshofes verlange für die Rechtsverbindlich- währleistet werden, wenn sich der Bürger infolge einer keit einer Patientenverfügung, dass eine sogenannte in- schweren Krankheit nicht mehr äußern kann? Da eine fauste Prognose vorliegt, das heißt, dass der Sterbepro- Patientenverfügung vor Zeiten niedergelegt worden ist, zess bereits begonnen hat. Viele Ärzte und viele andere stellt sich die – entscheidende – Frage: Will der Patient Menschen, die das heute Morgen gehört haben, werden noch, dass gemacht wird, was er einmal aufgeschrieben da erschrocken gewesen sein. Denn die Praxis ist eine hat? Im Grunde ist das – entschuldigen Sie den Aus- ganz andere, und die Rechtsprechung des Bundesge- druck – ein Sonderfall von Kommunikation. Wodurch richtshofes – das ist in der Rechtswissenschaft einhellige lässt sich das direkte Gespräch zwischen Arzt und Pa- Meinung – besagt das eben nicht. tient, das ja nicht mehr stattfinden kann, ersetzen? Es wird behauptet, wir wollten mit diesem Gesetzent- Für die Umsetzung und die Überprüfung der schriftli- wurf das Sterben regeln. Meine Damen und Herren, wir chen Verfügung haben wir in dem Ihnen vorliegenden wollen nicht das Sterben regeln, wir wollen lediglich Gesetzentwurf klare Regeln definiert. Lassen Sie mich Rechtssicherheit schaffen, wie mit Patientenverfügungen diese Regeln kurz erläutern. Für eine Patientenverfü- umzugehen ist. gung soll die Schriftform erforderlich sein. Die Patien- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, tenverfügung ist vom Arzt und vom Betreuer oder der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Bevollmächtigten gemeinsam auszulegen. Jede Patien- GRÜNEN) tenverfügung ist zu interpretieren; es gibt keinen Auto- matismus, dass das, was in der Patientenverfügung steht, Denn rechtstatsächlich betrachtet haben wir Unklarheit. eins zu eins umgesetzt wird. Der in der Patientenverfü- Unklarheit bedeutet Rechtsunsicherheit. Ich meine, die gung niedergelegte Wille ist nur dann umzusetzen, wenn Menschen verlangen in einem Rechtsstaat, dass der Ge- er auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu- setzgeber Rechtssicherheit schafft – übrigens nicht nur trifft – was zu prüfen ist. Arzt und Betreuer oder Bevoll- für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für die mächtigter müssen dies einvernehmlich feststellen. (B) Ärzte, die ja Tag für Tag mit Patientenverfügungen um- Wenn sie es nicht einvernehmlich feststellen können, (D) gehen müssen. wenn Uneinigkeit bleibt, muss letzten Endes das Vor- 9 bis 10 Millionen Menschen in unserem Land haben mundschaftsgericht entscheiden. Aktuelle Lebensäuße- bereits eine Patientenverfügung verfasst. Diese Men- rungen des Patienten sind zu beachten; sie müssen Vor- schen wollen, dass ihr Wille im Hinblick auf ihr Lebens- rang haben vor dem, was in der Patientenverfügung ende bindend beachtet wird. niedergelegt ist. Eine Patientenverfügung soll jederzeit formlos widerrufbar sein. Gibt es keine Patientenverfü- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, gung oder trifft der niedergelegte Wille nicht die aktuelle der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Lebens- oder Behandlungssituation, müssen Arzt und GRÜNEN) Bevollmächtigter den mutmaßlichen Patientenwillen er- mitteln. Das ist das, was in der Praxis täglich geschieht. Die Menschen haben ein verfassungsrechtlich verbrief- tes Recht darauf, dass ihr Wille beachtet wird: Anhand dieser Fragen, die zu regeln sind, eine Grund- Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Un- satzdebatte über Leben oder Tod zu beginnen, ist in mei- versehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletz- nen Augen unangemessen. Das sollte der Gesetzgeber lich. im Ergebnis nicht mitmachen. So steht es in Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes. Diese Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir werden die- Garantie der Selbstbestimmung vermag auch die wie sen Gesetzentwurf in der parlamentarischen Beratung auch immer geartete Lebensschutzpflicht des Staates mit Sachverständigenanhörungen nach der Sommer- nicht zu relativieren, geschweige denn zu negieren. pause sicherlich sehr gründlich beraten können. Es ist uns ja teilweise vorgeworfen worden, wir würden nun (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und voreilig und zu schnell handeln. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Über seine leiblich-seelische Integrität bestimmen zu GRÜNEN]: Zu Recht!) können, gehört zum ureigenen Bereich der Personalität des Menschen. In diesem Bereich ist man aus der Sicht Ich darf Ihnen nur sagen: Diesen Gesetzentwurf gibt es des Grundgesetzes frei, seine Maßstäbe zu wählen, nach bereits seit einem Jahr. Im Koalitionsvertrag aus dem ihnen zu leben, nach ihnen zu entscheiden. Der Einzelne Jahre 2005 steht, dass wir in dieser Legislaturperiode hat ein Recht auf Leben, aber nicht die Pflicht zu leben. entsprechend vorangehen wollen. Ich glaube, wenn wir Die Menschen, die ihren Willen in einer Patientenverfü- in dieser Legislaturperiode noch eine Entscheidung 18262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Joachim Stünker (A) herbeiführen wollen, dann müssen wir uns in der Tat be- Einen Gegensatz zwischen der Vorsorgevollmacht (C) eilen. und der Debatte über Patientenverfügungen aufzuma- chen, wie das die Kollegin Künast gestern leider getan Schönen Dank. hat, grenzt schon an Verdummung der Leute; denn auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der Bevollmächtigte kann heute nicht jede Behandlungs- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE beschränkung verfügen. Er ist an die gleiche Reichwei- GRÜNEN) tenbeschränkung gebunden, die es auch bei der Patien- tenverfügung gibt.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Meine Damen und Herren, bereits 2004 und 2006 ha- Ich gebe dem Kollegen Michael Kauch, FDP-Frak- ben die Liberalen als einzige Fraktion einen Antrag zur tion, das Wort. Stärkung von Patientenverfügungen in den Deutschen Bundestag eingebracht. Bereits in der vergangen Wahl- (Beifall bei der FDP) periode hat die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ die Pros und Kontras genau ab- Michael Kauch (FDP): gewogen und eine Empfehlung abgegeben. Bereits vor einem Jahr haben wir in diesem Parlament eine Orientie- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das rungsdebatte geführt. Deshalb ist es völlig abwegig, Sterben ist Teil des Lebens. Wir sprechen heute über die wenn nun von der Fraktionsführung der CDU/CSU in Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten und Person von Herrn Röttgen gesagt wird, alles gehe zu müssen erkennen, dass das ein Baustein für ein men- schnell. Nein, die Menschen im Land warten seit vier schenwürdiges Leben bis zuletzt ist, aber eben nur ein Jahren darauf, dass dieses Parlament endlich eine Ent- Baustein. Deshalb haben wir in der vergangenen Woche scheidung trifft. beispielsweise auch sehr intensiv über die palliativmedi- zinische Versorgung von Patientinnen und Patienten ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, sprochen. Wir brauchen mehr Qualität in der Pflege, wir der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE brauchen ein Gesundheitssystem, mit dem wir nicht se- GRÜNEN) henden Auges rationieren, wir brauchen mehr Zuwen- dung für Sterbende, und wir brauchen gerade auch für Leitbild der Liberalen ist das Bild eines Menschen, die Menschen, die zu Hause sterben wollen, eine profes- der auch in existenziellen Fragen so frei wie möglich sionelle und leidmindernde Palliativmedizin, und zwar über sein Leben entscheiden kann. Wir geben der Selbst- nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Flä- bestimmung im Zweifel Vorrang vor anderen Überle- (B) che. gungen, seien sie auch noch so fürsorglich motiviert. (D) Das ist die eigentliche Trennlinie in der Debatte über Pa- (Beifall im ganzen Hause) tientenverfügungen: Die eine Seite nimmt fürsorglichen All diese Maßnahmen sind aber keine Gegensätze zu Paternalismus auch mit Zwangsbehandlungen in Kauf, einer Politik für mehr Patientenautonomie. Beides ge- die andere Seite vertraut auf die Kraft und die Urteilsfä- hört zusammen: das Angebot der Gesellschaft für eine higkeit des Menschen. optimale Versorgung und die Freiheit des Einzelnen, be- Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstel- stimmte Behandlungen auch ablehnen zu können. Für- lung von Selbstbestimmung. Beim Verfassen einer Pa- sorge in Fremdbestimmung ist so schlecht wie Selbstbe- tientenverfügung besteht eine gewisse Unsicherheit. stimmung ohne Fürsorge; denn durch die moderne Man weiß nicht genau, was in Zukunft sein wird. Der Medizin wurden viele Möglichkeiten geschaffen, die voraus verfügte Wille ist immer schwächer als der aktu- man sich vor 50 Jahren nicht vorstellen konnte. Für viele ell verfügte. Was aber ist die Alternative? Die Alterna- Menschen ist das ein großes Geschenk, für manche ist tive zum voraus verfügten Willen der eigenen Person ist das aber eben auch eine Qual. Ob es eine Qual oder ein die Entscheidung eines Dritten. Die Alternative ist im Geschenk ist, kann niemand anderer als der Einzelne Zweifel eine Fremdbestimmung auch unter Inkaufnahme selbst entscheiden. einer Zwangsbehandlung. Das ist aus meiner Sicht nicht (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, akzeptabel; auch für die große Mehrheit meiner Fraktion der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ist das keine Lösung. GRÜNEN) Eine Begrenzung der Reichweite auf irreversibel zum Niemand muss Patientenverfügungen abfassen. Es ist Tode führende Erkrankungen liefert den Patienten einer völlig in Ordnung, wenn man sagt: Ich habe einen Be- möglicherweise fehlerhaften ärztlichen Prognose aus. vollmächtigten, der das im Falle des Falles für mich ent- Ob beim Wachkoma, in der Notfallmedizin oder bei reli- scheiden soll. Wer aber klar weiß, was er will und was er giösen Behandlungsbeschränkungen: In all diesen Fällen nicht will, dessen Patientenverfügung muss geachtet führt eine Reichweitenbegrenzung dazu, dass Menschen werden. Das darf vom Staat nicht in Abrede gestellt wer- entgegen ihrem explizit geäußerten Willen zwangsbe- den. handelt werden. Eine Reichweitenbegrenzung bedeutet – um sich das in der Praxis vorzustellen –, dass gegen (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, den Willen des Patienten Magensonden gelegt, Sehnen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE zerschnitten und Antibiotika verabreicht werden. Das GRÜNEN) hat mit Selbstbestimmung nichts zu tun. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18263

Michael Kauch (A) (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, ursprünglichen Fassung eingebracht. Sie hatten Zeit er- (C) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE beten, um Ihren Gesetzentwurf zu überarbeiten. GRÜNEN) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Was haben wir Liberalen in den Gesetzentwurf einge- DIE GRÜNEN]: Es lag aber ein Jahr dazwi- bracht? Erstens haben wir durchgesetzt, dass eine Pa- schen!) tientenverfügung nur dann Gültigkeit hat, wenn der ge- setzliche Vertreter des Patienten genau geprüft hat, ob Auch meine Gruppe hatte sich noch Zeit erbeten. Die sie noch dem aktuellen Willen des Patienten entspricht. Absprache wurde leider nicht eingehalten. Viel Zeit ge- Zweitens haben wir durchgesetzt, dass auch nonverbale winnen wir aber nicht, weil die Sommerpause bevor- Äußerungen, etwa von Demenzkranken, berücksichtigt steht. werden und im Zweifel pro vita entschieden wird. Drit- (Beifall bei der CDU/CSU) tens haben wir durchgesetzt, dass Angehörige und Pfle- gekräfte in den Prozess einbezogen werden, damit sie Bei der Bewertung einer Patientenverfügung geht es gegebenenfalls das Vormundschaftsgericht anrufen kön- im Wesentlichen darum, ob der voraus verfügte Wille ei- nen. nes Patienten und der aktuelle Wille gleich sind. Im Nor- malfall kommt dem Gespräch zwischen Arzt und Patient Die Sicherungen, die dieser Gesetzentwurf bringt, eine große Bedeutung zu. Der Arzt oder die Ärztin stellt sind sehr stark. die Diagnose und erläutert dem Kranken die Krankheit. Der Patient hat die Möglichkeit, Rückfragen an den Arzt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zu richten. Der Arzt merkt schnell, ob der Patient ver- Herr Kollege Kauch. standen hat, welches Krankheitsbild er aufweist und wie die Krankheit möglicherweise verläuft. Michael Kauch (FDP): Wenn sich der Patient über seinen Gesundheitszustand Deshalb bitte ich Sie, diesem Gesetzentwurf, gegebe- im Klaren ist, dann zeigt ihm der Arzt Behandlungsmög- nenfalls in geänderter Fassung, zuzustimmen. lichkeiten, verbunden mit möglichen Konsequenzen, Chancen und Risiken, auf. Danach – möglicherweise Vielen Dank. nach einer Bedenkzeit, in der der Patient Rücksprache (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, mit Angehörigen oder einem weiteren Arzt halten kann – der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE entscheidet sich der Patient für oder gegen die Behand- GRÜNEN) lung. Dann kann der Arzt noch einmal nachfragen, wenn er den Eindruck hat, dass dem Patienten möglicherweise (B) moderne oder zeitgemäße Behandlungsmethoden, zum (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Beispiel eine gute Schmerztherapie, nicht bekannt wa- Ich gebe dem Kollegen Markus Grübel, CDU/CSU- ren. Die Entscheidung des Patienten, sein aktueller Wille Fraktion, das Wort. ist selbstverständlich bindend. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bei der Patientenverfügung sieht das anders aus: Dem Arzt liegt ein Schriftstück mit einer Unterschrift vor. Er Markus Grübel (CDU/CSU): kann nicht nachfragen. Der Patient kann seine Ausfüh- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rungen auch nicht mehr erläutern und interpretieren. Es Wir haben letzte Woche an dieser Stelle über bessere gibt in Deutschland rund 200 gängige Musterformulare Rahmenbedingungen für Schwerstkranke und Sterbende für Patientenverfügungen. Kein Arzt kann wirklich wis- gesprochen. sen, ob der Patient das richtige Formular beispielsweise aus dem Internet heruntergeladen hat oder eher zufällig (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Einige waren unter www.patientenverfuegung.de eine Patientenverfü- nicht da!) gung erhalten und unterschrieben hat. Wir waren uns einig, dass aktive Sterbehilfe oder Ähnli- (Jörg Tauss [SPD]: Ein dünnes Argument!) ches keine Antwort einer menschlichen Gesellschaft auf die Frage von Leiden und Krankheit sein kann. Die Ant- Meine kurze Darstellung zeigt – das ist unstreitig –, wort darauf liegt vielmehr in der Palliativmedizin und dass der aktuelle und der voraus verfügte Wille eben Hospizarbeit, wobei eine gute Versorgung in der Fläche, nicht gleich sein müssen. Das, was ich vor einem Jahr, sowohl ambulant als auch stationär, notwendig ist. vor fünf Jahren, vor zehn Jahren oder vor fünfzehn Jah- ren festgelegt habe, ist möglicherweise etwas anderes als (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das, was ich aktuell will. Palliativmedizin und Hospizarbeit sind noch junge Teile (Jörg Tauss [SPD]: Mit dem Argument dürfte des Gesundheitswesens. In diesen Bereichen hat sich in ja nie ein Testament gelten!) Deutschland in den letzten Jahren sehr viel getan. Inso- fern war es richtig, die Diskussion über das Thema Pa- Herr Stünker, in dem von Ihnen unterstützten Gesetzent- tientenverfügung nicht zu früh zu führen. Wir hatten ver- wurf wird von einem sehr elitären Ansatz, von sehr gut einbart, das Thema erst nach der Sommerpause zu disku- informierten Menschen ausgegangen. Aber nur wenige tieren. Ihr Gesetzentwurf, Herr Stünker, wurde nach der Menschen verfügen über hervorragende medizinische ersten Debatte, die der Orientierung diente, nicht in der und rechtliche Kenntnisse und können so eine mögli- 18264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Markus Grübel (A) cherweise eintretende Sterbesituation umfassend vorbe- es eine qualifizierte Patientenverfügung für diejenigen, (C) reiten. die sich sehr intensiv mit der Sache befasst haben, die sich medizinisch und rechtlich haben beraten lassen, de- (Zuruf von der SPD: Sind sie zu dumm?) ren Urheberschaft und Einwilligungsfähigkeit festge- – Sie sind nicht zu dumm. Aber viele Menschen trauen stellt wurde und deren Patientenverfügung nachweisbar sich nicht zu, eine Entscheidung zu treffen. regelmäßig aktualisiert wurde, sodass man weiß, dass sie weitgehend dem aktuellen Willen entspricht. Diese qua- (Joachim Stünker [SPD]: Dann lassen sie es! lifizierte Patientenverfügung wird für einen kleineren Dann machen sie keine! Es zwingt sie doch Teil der Menschen sein, für diejenigen, die sich mit der keiner!) Sache intensiv befassen und die Hürden überwinden Ich sehe ein weiteres Problem in Ihrem Gesetzent- wollen. wurf. Der Lebensschutz ist nicht ausreichend berück- In dem vorliegenden Gesetzentwurf und in den sichtigt. In der Verfassung gibt es das Gebot, für einen anderen Gesetzentwürfen, die wir alle kennen, manifes- schonenden Ausgleich zwischen den Werten Selbstbe- tieren sich Grundüberzeugungen. Ich selber trage den stimmung und Lebensschutz zu sorgen. Das ist Aufgabe Bosbach-Entwurf mit, weil eine Reichweitenbegrenzung des Gesetzgebers. meiner Grundüberzeugung entspricht. Aber genauso wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in vielen anderen ethischen Fragen müssen wir manch- neten der SPD) mal Kompromisse eingehen und die eigenen Grundüber- zeugungen mit denen der anderen in einen Ausgleich Wir bekommen einen solchen Ausgleich entweder über bringen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das be- eine Reichweitenbegrenzung – ich verweise auf die En- schriebene zweistufige Verfahren eine Mehrheit sowohl quete-Kommission und den Bosbach-Entwurf – oder in der Gesellschaft als auch hier im Hause findet, weil über starke Sicherungsmittel hin, dass Menschen nicht es beide Interessen abbildet und das Risiko minimiert, irrtümlich oder deshalb, weil sie nicht einwilligungsfä- dass Menschen versehentlich aufgrund einer radikalen hig waren, eine Patientenverfügung unterschreiben, die Patientenverfügung, die sie gar nicht wollten, nicht be- ihnen schadet. handelt werden und sterben, weil sie die Konsequenzen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht abgesehen haben. neten der SPD) Herzlichen Dank. Herr Stünker, ich sehe bei Ihrem Entwurf die Gefahr, dass ein Mensch irrtümlich eine Patientenverfügung un- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (B) terschreibt und dass dann die Behandlung einer heilba- (D) ren Krankheit eingestellt wird. Ein falsches Kreuz bei ei- GRÜNEN) ner Multiple-Choice-Patientenverfügung, und schon ist es geschehen. Ein falscher Baustein aus einer Gruppe Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: von Bausteinen, und schon ist es geschehen. Das falsche Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen, Formular am Schriftenstand mitgenommen und unter- Fraktion Die Linke. schrieben, und schon ist es geschehen. Ich selber habe als Notar viele Beratungen, in denen es um Patientenver- (Beifall bei der LINKEN) fügungen ging, durchgeführt und war jedes Mal erstaunt, wie unterschiedlich der gleiche Satz von verschiedenen Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Menschen interpretiert wird. Daher sind Patientenverfü- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gungen ohne Reichweitenbegrenzung eine ganz scharfe Es geht in unserem Gesetzentwurf nicht um eine radikale Waffe, die der Mensch gegen sich selber richtet. Weiß Patientenverfügung. Die große Mehrheit der Bevölke- der Arzt, der Betreuer oder der Bevollmächtigte wirk- rung – alle Umfragen, die wir kennen, deuten darauf lich, ob der Wille geändert ist, ob der Betreffende einwil- hin – wünscht sich ein Rechtsinstitut der Patientenverfü- ligungsfähig war oder ob er die Sätze richtig verstanden gung, wie wir es jetzt diskutieren, schon seit langer Zeit. hat? Wer nicht mehr einwilligungsfähig ist, mit dem kann man keine Gespräche mehr führen und dem kann (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- man auch keine Rückfragen stellen. Das ist die Kritik an neten der SPD und der FDP – Julia Klöckner Ihrem Entwurf. [CDU/CSU]: Welche Umfragen?) Ich kann mir vorstellen, dass wir möglicherweise ei- Über ein Jahr ist es her, dass wir hier zum ersten Mal nen Kompromiss finden müssen, weil weder Ihr Gesetz- über die Patientenverfügung debattiert haben. Damals entwurf noch andere Gesetzentwürfe eine Mehrheit ha- habe ich gesagt: Es geht um eine Kernfrage der durch ben, weder hier im Haus noch in der Gesellschaft. Ich das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des In- kann mir folgenden Kompromiss vorstellen: Es gibt eine dividuums und um das Recht auf Selbstbestimmung über einfache Patientenverfügung mit einer Reichweitenbe- den eigenen Körper. Deswegen ist es eine Aufgabe für schränkung, die ethisch weitgehend unproblematisch ist. uns alle, in unserem Land endlich die rechtliche Mög- Hier müssen wir keine hohen Hürden aufbauen, was Be- lichkeit dafür zu schaffen, selbstbestimmt sterben zu ratung, Aktualisierung sowie Überprüfung der Urheber- können. Ich habe versprochen, dass sich die Linksfrak- schaft und der Einwilligungsfähigkeit betrifft. Das ist tion aktiv an dieser zu leistenden gesetzgeberischen An- quasi eine Volkspatientenverfügung. Des Weiteren gibt strengung beteiligen wird. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18265

Dr. Lukrezia Jochimsen (A) Heute spreche ich hier für 24 Abgeordnete meiner Leichte Lösungen lassen sich in dieser Situation nicht (C) Fraktion, die den Gruppenantrag nach ausführlicher Dis- finden. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonfe- kussion des Für und Widers namentlich mit eingebracht renz und der Vorsitzende des Rates der Evangelischen haben. 24 Abgeordnete entsprechen fast der Hälfte unse- Kirche haben uns in einem Brief auf Folgendes hinge- rer Fraktion. Das macht deutlich, dass es auch in unseren wiesen: Reihen andere Positionen gibt, auch noch die der Unent- schlossenheit. Es ist heute ja auch die erste Lesung zu In der Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes diesem Gesetz. ist der Mensch darauf angewiesen, dass andere Menschen sich seiner annehmen; das gilt gerade in Wir 24 aber sind uns einig, dass es höchste Zeit wird, Zeiten der Krankheit und Hinfälligkeit. das Rechtsinstitut Patientenverfügung rechtlich zu ver- ankern und zum Schutz der Betroffenen verfahrensrecht- Genau dies stellen wir in den Mittelpunkt unserer liche Regelungen zu treffen. Patientenverfügungen sind Überlegungen, wenn wir unter Punkt 2 der Begründung nichts Neues. Seit Jahren gibt es sie als grundsätzlich erklären: verbindliche Dokumente, in denen schriftlich festgelegt ist, welche Therapie sich der Verfügende wünscht und Da sich der nicht mehr einwilligungsfähige Patient welche er ausschließt. in der Regel nicht mehr äußern kann, ist ein Dialog Es wird geschätzt, dass mehr als 8 Millionen Bürger (Zuruf von der CDU/CSU) und Bürgerinnen – das wurde schon gesagt – diese Wil- lenserklärung bereits verfasst haben. Wie viele davon – hören Sie doch einmal zu – tatsächlich geachtet und wie viele missachtet werden, (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich höre die ganze wissen wir nicht. Ein Blick in Zeitungen oder Fernseh- Zeit zu! Das ist ja das Schlimme!) dokumentationen lässt Schreckliches vermuten, und zwar weit über Einzelfälle hinaus. zwischen den an der Behandlung Beteiligten erfor- So wies die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung derlich, in dem über die Vornahme ärztlicher Maß- am 15. Juni dieses Jahres unter der Überschrift „Sterben nahmen entschieden wird. Dieser Prozess hat so verboten“ in einem Dossier auf den massenhaften Ein- weit wie möglich die Durchsetzung des zu einem satz von Magensonden hierzulande hin. Ich zitiere: früheren Zeitpunkt geäußerten Patientenwillens zu sichern. Gleichzeitig muss er die sich aus Artikel 2 Die Zwangsernährung Sterbender wird in Deutsch- Abs. 2 des Grundgesetzes ergebende Pflicht des land schleichend zum medizinischen Standard … Staates umsetzen, das Leben und die körperliche Etwa 140 000 Ernährungssonden werden jedes Jahr Unversehrtheit des Menschen zu schützen. Dies be- in Deutschland gelegt, zwei Drittel davon bei Be- (B) wohnern von Pflegeheimen. deutet keinen Widerspruch. Die staatlichen Ver- (D) pflichtungen richten sich nicht gegen den Men- Es geht also um fast 100 000 Fälle künstlicher Ernäh- schen und seine selbstbestimmte Entscheidung, rung in Pflegeheimen jedes Jahr. auch wenn diese sich gegen lebensverlängernde (Zuruf von der LINKEN: Ein Skandal!) oder gesundheitserhaltende Maßnahmen richtet. Vielmehr gewährleisten der Dialog zwischen den Wenn das so ist – niemand hat diese Angaben bisher de- an der Behandlung Beteiligten und im Konfliktfall mentiert oder auch nur berichtigt –, dann wäre es allein das vormundschaftsgerichtliche Verfahren, dass der schon wegen dieses Zustandes aus meiner Sicht wichtig, Patientenwille sorgfältig ermittelt wird. dass sich Menschen per Patientenverfügung wehren kön- nen und der Gesetzgeber sie endlich schützt. Dieser abwägende Dialog, an dem der Patient durch (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- seine Verfügung mitbeteiligt ist, soll durch das neue neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Recht ermöglicht werden. Das ist im ureigensten Inte- SES 90/DIE GRÜNEN) resse der Kranken, aber auch der Ärzte, Betreuer und Angehörigen. Viel wird ihnen in den Situationen zwi- Von welchem Grundsatz lassen wir uns bei diesem schen Leben und Tod abverlangt. Da haben sie ihrerseits Gesetzentwurf leiten? Vom Grundsatz, dass der Mensch das Recht, sicher zu wissen, was ihre Patienten, ihre An- während seines gesamten Lebens Anspruch auf Achtung gehörigen wollen. seines Selbstbestimmungsrechts hat und dass dieses Selbstbestimmungsrecht nicht mit dem Verlust der Ein- willigungsfähigkeit endet, dass also Entscheidungen, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: im Zustand der Einwilligungsfähigkeit getroffen werden, Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der auch später für diejenigen bindend sind, die dann die Kollegin Eichhorn? Entscheidungen treffen müssen: Ärzte, Betreuer, Ange- hörige. Das ist eine schwere Aufgabe und eine schwie- rige Gratwanderung. Aber schwerste Krankheit, Sterben Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): und Tod stellen uns vor schwere Aufgaben und nötigen Ja, bitte. uns schwierige Gratwanderungen ab. Darüber können wir uns hier nicht einfach hinwegsetzen. Maria Eichhorn (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Frau Kollegin, Sie haben gerade den Brief der Bi- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- schöfe zitiert. Ich habe den Brief als Kritik an Ihrem Ge- SES 90/DIE GRÜNEN) setzentwurf verstanden. 18266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Maria Eichhorn (A) (Zuruf von der CDU/CSU: So habe ich ihn herzkranke Frau ihre Medikamente nicht nimmt. Sie (C) auch gelesen! – Zuruf von der SPD: Ja, ist er würden doch nicht ernsthaft an eine Zwangsbehandlung auch!) denken. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie den Brief als (Markus Grübel [CDU/CSU]: Habe ich auch Unterstützung Ihrer Position verstehen? nicht gesagt!) In einer modernen Gesellschaft muss man es tolerie- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): ren, dass sich Menschen in einer Weise verhalten, die Überhaupt nicht! Ich habe zitiert, ganz viele von uns als absolut unverantwortlich erach- (Markus Grübel [CDU/CSU]: Auszugsweise!) ten. Aber das ist so. Alles andere ist entweder eine sehr traditionelle Gesellschaft mit sehr festgefügten Normen, dass die Bischöfe uns gesagt haben: Menschen sind auf die gnadenlos durchgesetzt werden, oder letztendlich ein die Fürsorge anderer angewiesen. Anschließend habe ich Polizeistaat. unsere Begründung zitiert, die genau dieses bis in den Kern beschreibt. Es geht um einen Dialog. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der GRÜNEN]: Es zählt aber nicht die Begrün- FDP) dung, sondern der andere Teil eines Gesetzes!) Meine Damen und Herren, ein Arzt hat einmal zu mir Es geht um andere. Genau dieses habe ich beschrieben gesagt: Wo früher das Wohl des Patienten galt, gilt heute und aufgenommen. nur noch der Wille. Er sagte das, lieber Josef Winkler, mit dem Ausdruck resignativer Traurigkeit, weil er die (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Orientierung am Patientenwillen als Absage an die Ver- Über eine Tatsache wollen wir nicht hinwegtäuschen: antwortung des Arztes und an die Möglichkeiten der mo- Mit der rechtlichen Anerkennung von Patientenverfü- dernen Medizin begriff. gungen allein schaffen wir nicht humanere Bedingungen Tatsächlich hat sich die Kultur der medizinischen Be- für Sterben und Tod. Wir haben hierüber in der vergan- handlung in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren genen Wochen diskutiert; darauf ist mehrfach hingewie- und Jahrzehnten verändert. Hatten unsere Eltern viel- sen worden. Dafür ist eine neue Medizin und vor allem leicht noch zum Arzt gesagt: „Ja, wenn Sie meinen, Herr ein anderes gesellschaftliches Bewusstsein notwendig, Doktor“, so sagt der Mensch heutzutage: „Ich will wis- das Verantwortung und Fürsorge für Kranke und Ster- sen, welche Alternativen es gibt, Herr bzw. Frau Doktor, bende nicht ausblendet. Aber: Abbau von Ängsten und (B) und ich will mich für die Alternative entscheiden, die für (D) Unsicherheit – das kann dieses neue Recht schaffen, und mich richtig ist.“ Das ist mitnichten eine Absage an die das ist nicht wenig. Kompetenzen des Mediziners; im Gegenteil: Es macht Kürzlich hat der Vorstand der Deutsche-Hospiz-Stif- die Rolle des Arztes anspruchsvoller. Denn er oder sie tung Eugen Brysch das so formuliert: sollte Alternativen beschreiben können, und er oder sie sollte gesprächsfähig sein. In einer Situation, in der sich Wir erleben in der Praxis täglich, dass die Men- der Betroffene nicht mehr äußern kann, spielen diese schen, die bei uns Rat einholen, künstliche Ernäh- Anforderungen an die ärztliche Kunst eine wichtige rung kategorisch ablehnen. Dahinter steht die Angst Rolle; denn auch dann muss der Arzt Alternativen be- vor einem jahrelangen Dahinvegetieren, vor einem schreiben können, zum Beispiel ob Akutmedizin oder Leben ohne Lebensqualität, das nur durch die Ma- eine palliative Behandlung die Wahl ist, wie wichtig Le- gensonde aufrechterhalten wird. Dieser Angst gilt bensverlängerung sein könnte, was Lebensqualität heißt es zu begegnen. und wo ein möglicher Zielkonflikt zwischen den beiden Wohl wahr! Darum votieren wir 24 Abgeordnete der liegt. So schwierige Fragen können und sollen zwei le- Linksfraktion für diese Gesetzesänderung. bendige Menschen erörtern. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der Das kann der Arzt und die Ärztin und zum Beispiel SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE die mit einer Vorsorgevollmacht ausgestattete Ehefrau GRÜNEN) sein. Die Entscheidung, die der Patient nicht mehr tref- fen kann, liegt dann bei ihr. Es ist eine eigene Entschei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dung von ihr, es ist nicht die des Betroffenen. Ich glaube, Ich gebe das Wort der Kollegin Birgitt Bender, Bünd- diese Möglichkeit will hier niemand abschaffen. Aber nis 90/Die Grünen. die andere Möglichkeit ist die eines Gesprächs zwischen Arzt und Betreuerin, die gemeinsam versuchen, eine Pa- tientenverfügung auf die gegebene Situation anzuwen- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den. Ich muss sagen: Ich verstehe die Kolleginnen und Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollegen nicht, die eine solche Vorabfestlegung und das Kollege Grübel, bei Ihren Ausführungen habe ich mich Gespräch darüber als etwas Obszönes zu brandmarken gefragt, ob Sie Ihre Idee, man müsse den Menschen im- versuchen. mer vor sich selber schützen, zu Ende gedacht haben. Ich frage Sie ganz ohne polemische Absicht, was Sie denn (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wer tut das wohl tun würden, wenn Sie feststellen, dass eine schwer denn?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18267

Birgitt Bender (A) Das Argument, man könne nicht wissen, ob man in einer ren Seite haben viele Ärzte Angst vor rechtlichen Konse- (C) existenziellen Krise oder in der Situation des Sterbens quenzen, wenn sie auf bestimmte lebenserhaltende Maß- noch so denke wie zuvor, mag zutreffen. Ich habe zwar nahmen verzichten. Hier muss endlich Rechtssicherheit einiges für die These übrig, dass der Mensch so stirbt, geschaffen werden. wie er gelebt hat, das heißt, dass Grundhaltungen, die das Leben bestimmt haben, auch dann noch gelten, Die Debatte um Patientenverfügungen ist nicht ein- fach irgendeine politische Debatte. Es ist ein hoch emo- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tionales Thema, das grundlegende Fragen nach dem aber ich gestehe ihnen zu: Es ist ein Risiko. Wir haben Umgang mit Krankheit und Sterben aufwirft. Das sind aber Verfahrensweisen in dieser Gesellschaft, wie wir Fragen, die jeder hier im Hause auch für sich selbst nach Menschen beistehen, denen wir eine eigene Entschei- seinem eigenen Gewissen entscheiden muss. Ich finde, dung nicht zutrauen. Ich meine etwa Entscheidungen im dass Parteipolitik bei diesem Thema nichts verloren hat. Namen des Kindeswohls. Wenn Eltern überfordert sind, Deshalb wird der vorgelegte Entwurf auch von Parla- dann tritt das Gericht ein. Einem unmündigen Kind mu- mentariern aus verschiedenen politischen Lagern getra- ten wir keine existenzielle Entscheidung zu. Aber ein er- gen. Die Ernsthaftigkeit der Stammzelldebatte hat ge- wachsener sterbender Mensch ist kein Kind, und Patien- zeigt, dass es der Sache durchaus dienlich ist, wenn tenwohl kann nicht heißen, dass andere sagen, was für Parteipolitik in diesem Hause für kurze Zeit einmal diesen Menschen gut ist. keine Rolle spielt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE der LINKEN) GRÜNEN und der Abg. Sabine Leutheusser- Schnarrenberger [FDP] – Zuruf von der SPD: Vielmehr kann immer nur der eigene Wille maßgebend Das könnte auch mal längere Zeit sein!) sein, soweit er zuvor geäußert wurde. Alles andere würde bedeuten, dass die Begegnung auf Augenhöhe, Ich unterstütze den Stünker-Entwurf, weil er das die sich in der modernen Medizin herausgebildet hat, Selbstbestimmungsrecht des Menschen ins Zentrum wieder durch die überlegene Autorität des Halbgottes in stellt. Kann ein Patient sich nicht mehr äußern, muss der Weiß oder eventuell in Schwarz, wenn es um die Rich- in der Patientenverfügung festgelegte Wille gelten, und terrobe geht, ersetzt wird. zwar unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung. Wenn ich mich bei vollem Bewusstsein gegen eine Be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: handlung entschließe – sei es medizinisch auch noch so (B) Frau Kollegin Bender, ich muss Sie an Ihre Zeit erin- unsinnig; die Kollegin Bender hat ein entsprechendes (D) nern. Beispiel gebracht –, darf mich auch heute niemand ge- gen meinen Willen behandeln. Dieses Recht auf Selbst- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bestimmung darf meiner Überzeugung nach nicht mit Ein abschließender Satz, Frau Präsidentin. – Wer eine dem Verlust der Äußerungsfähigkeit enden. Patientenverfügung aufsetzt, geht auch ein Risiko ein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Aber wir sollten der Anmaßung widerstehen, den Men- FDP sowie der Abg. Birgitt Bender [BÜND- schen vor solchen Risiken bewahren zu wollen. Ich NIS 90/DIE GRÜNEN]) finde, diese Entscheidnungsmöglichkeit gehört zu einer freiheitlichen Gesellschaft. Patientenverfügungen sind Vorausverfügungen; das (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ist bereits angeklungen. Natürlich ist eine Vorausverfü- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und gung nicht mit einer aktuellen, bei vollem Bewusstsein der LINKEN) in der Arztpraxis oder im Krankenhaus getroffenen Ent- scheidung gleichzusetzen. Dieser Problematik trägt der vorliegende Entwurf jedoch ausreichend Rechnung. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola Denn entgegen vielfachen Behauptungen soll nicht Reimann, SPD-Fraktion. einfach das, was in der Patientenverfügung steht, ohne Prüfung übernommen werden. In der konkreten Erkran- (Beifall bei der SPD) kungssituation des Patienten müssen Arzt und Betreuer bzw. Bevollmächtigter feststellen, ob die Patientenverfü- Dr. Carola Reimann (SPD): gung, erstens, auf die aktuelle Lebenssituation und Be- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und handlungssituation zutrifft, ob sie, zweitens, für diese Herren! Ich freue mich, dass wir heute über die Patien- Situation eine Entscheidung über die anstehende ärztli- tenverfügung diskutieren. Das Thema bewegt viele che Maßnahme enthält und ob sie, drittens, noch dem ak- Menschen. In Gesprächen und in den durchweg gut be- tuellen Willen des Patienten entspricht. suchten Veranstaltungen zu diesem Thema ist das sehr deutlich zu spüren. So groß das Interesse ist, so groß ist Diese Hürden sind für mich entscheidend, denn sie aber auch die Verunsicherung vieler. Viele Menschen verlangen von den Verfassern von Patientenverfügun- fragen sich, ob ihre Ärzte ihre Patientenverfügung im gen, dass sie sich präzise schriftlich äußern und ihre Ver- Krankheitsfall wirklich befolgen werden. Auf der ande- fügung regelmäßig aktualisieren, wenn sie sicherstellen 18268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Carola Reimann (A) wollen, dass ihre Verfügung von Arzt und Betreuer oder die dann möglichst bald zu der dringend erforderlichen (C) Bevollmächtigtem als auf die aktuelle Situation zutref- gesetzlichen Regelung führen soll. fend gewertet werden kann. Danke schön. Dies setzt meiner Meinung nach auch voraus, dass der Verfasser sich vorab umfassend informiert. Denn nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, dann ist er in der Lage, eine solche Verfügung überhaupt der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE entsprechend zu verfassen. Mir ist wichtig, dass diese GRÜNEN) Vorausverfügung eine informierte und reflektierte Ent- scheidung ist. Es ist eine sehr persönliche Entscheidung, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die mit Multiple Choice nichts zu tun hat. Das Wort hat die Kollegin Sabine Leutheusser- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, Schnarrenberger, FDP-Fraktion. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Bei einer Vorausverfügung stellt sich natürlich immer die Frage, inwiefern man jetzt über eine Extremsituation Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): in der Zukunft entscheiden kann, die man noch nie erlebt Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- hat. Wer kann garantieren, dass man in dieser Situation legen! Professor Borasio, Inhaber eines Stiftungslehr- nicht doch eine andere Einstellung zu lebenserhaltenden stuhls für Palliativmedizin am Klinikum Großhadern in Maßnahmen hat? – Das kann natürlich keiner. Aber soll München, gehört zu den Ärzten, die sich ausdrücklich man daraus schlussfolgern, dass es besser ist, andere für eine Regelung zur Verbindlichkeit einer Patienten- über das eigene Schicksal entscheiden zu lassen? – verfügung aussprechen. Im Kreise seiner Kolleginnen Nein! und Kollegen, sowohl in der Ärzteschaft als auch unter den Pflegekräften, wirbt er dafür, weil er in seiner Arbeit (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP auf der Palliativstation am Klinikum Großhadern täglich und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN so- erlebt, dass es ganz schwierige Situationen eines viel- wie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE leicht würdelosen Siechtums geben kann, wenn zu ei- LINKE]) nem Zeitpunkt, zu dem man sich noch damit befassen kann, für die Situation der Entscheidungsunfähigkeit Natürlich kann ich mich vorab nur schwer in mögli- nicht Vorkehrungen getroffen worden sind und die ei- che Extremsituationen hineinversetzen. Man löst dieses gene Vorstellung zu diesem schwierigen Prozess eines Dilemma aber nicht auf, indem man diese Entscheidung (B) zeitlich nicht vorhersehbaren Siechtums nicht näher be- (D) einer zweiten Person, zum Beispiel dem Arzt, allein stimmt worden ist. überlässt. Auch mein Arzt kennt die Situation nicht, denn auch er oder sie hat sie nicht erlebt oder durchlebt. Professor Borasio sagt zu Recht: Im Moment, ohne Aber im Gegensatz zu meinem Arzt kenne ich beim Ver- ein Gesetz, ist die Rechtsunsicherheit riesengroß, vor al- fassen der Verfügung, die freiwillig ist, mich und meine lem bei den Menschen, die durch öffentliche Berichter- Einstellung zu Krankheitsbehandlung, Lebensverlänge- stattung, etwa in Form von Zeitungsberichten, aber auch rung und Lebenserhaltung sehr genau, und zwar besser im eigenen Umfeld immer stärker erleben, mit welch als jeder andere. großen Schwierigkeiten es verbunden sein kann, den (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Willen eines Menschen, der sich nicht mehr äußern LINKEN sowie der Abg. Birgitt Bender kann, in dieser schwierigen Phase durchzusetzen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Professor Borasio weiß, dass auch Ärzte in einer Aus diesem Grund ist es richtig, dass Patientenverfügun- schwierigen und unsicheren Lage sind. Sie können nicht gen als Ausdruck des freien Willens ohne Reichweiten- die gesamte BGH-Rechtsprechung in ihren Verästelun- beschränkungen, aber mit genauer individueller Prüfung gen kennen, was die Frage angeht, wie sich Ärzte zu ent- verbindlich sein sollen. scheiden haben. Wir diskutieren bereits seit Jahren über eine gesetzli- Von daher ist es in meinen Augen notwendig, dass wir che Regelung für Patientenverfügungen. Ich halte dies nach guter Orientierungsdebatte vor einiger Zeit jetzt in angesichts des sensiblen Themas auch für gerechtfertigt. Gesetzesberatungen eintreten. Dazu liegt ein Entwurf Allerdings sollten wir nun, nach erneuter monatelanger vor, der ganz konkrete Formulierungen zum Betreuungs- Verschiebung, langsam zum Ziel kommen. recht im Bürgerlichen Gesetzbuch enthält. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]) SES 90/DIE GRÜNEN) Es gab genügend Zeit zur Positionierung. Neben dem Alle, die sagen, wir machten es uns zu einfach, sollten Stünker-Entwurf stehen noch einige andere Vorschläge zur Kenntnis nehmen: Unser Gesetzentwurf baut auf der im Raum. Ich hoffe sehr, dass die heutige Debatte Start- höchstrichterlichen Rechtsprechung der letzten Jahre punkt für eine zügige und abschließende Diskussion ist, auf. Das war unser Maßstab. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18269

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zin sein. Es ist auch verständlich, warum zum Beispiel (C) der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- eine Frau in ihre Patientenverfügung schrieb – ich zitiere –: SES 90/DIE GRÜNEN) „Ich möchte nie an Schläuchen liegen und nie eine PEG- Sonde bekommen.“ Ich hielt diese Patientenverfügung Wir alle haben aber nicht jeden Tag das Grundgesetz einer 70-jährigen Frau in meiner Sprechstunde in den oder diese Rechtsprechung unter dem Arm. Wir können Händen. Sie sagte noch einmal zu mir: „Ich will nicht auch nicht erwarten, dass alle anderen diese Vorschriften auf einer Intensivstation an diesen piependen Apparaten kennen. Deshalb müssen wir Regelungen schaffen. mit diesen ganzen Schläuchen liegen. Ich möchte auch In § 1901 a BGB – das steht in Art. 1 des Gesetzent- nicht künstlich durch eine PEG-Sonde ernährt werden wurfs – regeln wir in sorgfältiger Form, dass die Patien- müssen, sondern sterben können.“ Man kann mitfühlen, tenverfügung eine sicherere Grundlage – im Hinblick wovor sich diese Dame fürchtete, welche Angst und auf Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit bekommt. welche Sorgen sie hatte. Wir haben es uns nicht leicht gemacht und nicht mal Sie betonte in diesem Gespräch auch noch einmal: eben so eine einfache Regelung hingeschrieben, sondern „Frau Klöckner, ich lege Wert darauf, dass mein Wille wir machen ganz deutlich, welche Aufgabe der Betreuer umgesetzt wird, der dort drinsteht.“ Das war, liebe Kol- oder der Bevollmächtigte – wir nennen beide – hat. leginnen und Kollegen, bevor sie erfuhr, dass man auch Denn wir wissen: Eine Patientenverfügung kann noch so bei einer einfachen Blinddarmoperation an Schläuchen sorgfältig überlegt sein – es können Situationen eintre- liegt. Das war, bevor sie erfuhr, dass eine PEG-Sonde ten, die davon nicht erfasst sind; es ist auch möglich, auch vorübergehend gelegt werden kann, um notwen- dass man keine klare Meinung herauslesen kann. Genau dige Arzneien besser verabreichen zu können. da liegt die Aufgabe des Betreuers. Er sieht, wo die Ver- Die Dame hat diese Patientenverfügung zerrissen, fügung nicht greift. Wir legen hiermit fest: Wenn die Vo- weil, wie sie selber sagte, sie fürchtete, dass ihr eigenes raussetzungen, die wir benennen, nicht vorliegen, muss schriftliches Wort lebensbedrohlich sein könnte. der Wille durch den Betreuer oder durch andere ermittelt werden. (Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!) Das ist ein ganz großer, ein ganz wichtiger Schritt. Er Sollte der Stünker-Entwurf Gesetz werden, sollte der wird erwartet. Große Teile der Bevölkerung hoffen da- schriftliche Wille des Patienten grundsätzlich unter allen rauf, dass wir uns dieser Erwartungshaltung mutig stel- Umständen gelten, sollte dieser niedergeschriebene len. Deshalb unterstützen wir, die große Mehrheit der Wille unabhängig von Art, Umfang und Stadium der Er- FDP-Fraktion, den Entwurf und freuen uns auf konstruk- krankung Wirkung erhalten, dann wäre diese Dame, tive Beratungen nach der Sommerpause. hätte sie an Schläuchen liegen müssen, hätte sie eine (D) (B) PEG-Sonde erhalten müssen Vielen Dank. (Dirk Manzewski [SPD]: Ist doch Quatsch! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie hat das Ding doch zerrissen!) der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) und wäre sie nicht mehr ansprechbar gewesen, vielleicht schon tot. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das ist Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Klöckner, doch eine Karikatur, was Sie da darstellen!) CDU/CSU-Fraktion. Solche Irrtümer möchten wir verhindern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Julia Klöckner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ist der Grund der heutigen Auseinandersetzung? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dass wir alle sterben müssen? Wohl kaum; denn keiner Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der von uns wird so vermessen sein, zu meinen, das verhin- Kollegin Jochimsen? dern zu können. Es geht aber darum, wie wir sterben werden. Julia Klöckner (CDU/CSU): Nein, sie war ja eben dran, und ich möchte gerne wei- Vorab: Eines ist ganz klar, nämlich dass wir nicht alle termachen. möglichen Eventualitäten des Lebens und Sterbens in ein Gesetz fassen können. Machen wir uns auch nichts (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Zur vor: Den Tod können wir überhaupt nicht regeln. Das zerrissenen Patientenverfügung hätte ich den Bürgerinnen und Bürgern zu versprechen, wäre si- schon gern eine Frage gestellt!) cherlich nicht lauter. – Ich gehe aber gerne auf den Zwischenruf ein: Sie hat (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie deshalb zerrissen, weil wir darüber gesprochen hatten NEN]: Macht auch keiner!) und sie auch mit ihrem Hausarzt darüber gesprochen hatte. Klar ist: Leiden will keiner am Lebensende und auch nicht Opfer einer nicht enden wollenden Apparatemedi- (Joachim Stünker [SPD]: Das ist es doch!) 18270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Julia Klöckner (A) Hätte diese Dame aber nicht den Weg in die Sprech- Julia Klöckner (CDU/CSU): (C) stunde gefunden und nicht daraufhin mit einem Arzt ge- Lieber Herr Stünker, Sie dürfen. sprochen, sondern diese Patientenverfügung als solche bei sich gehabt, dann wäre ihr genau dieser gerade be- Joachim Stünker (SPD): schriebene Irrtum unterlaufen. Das ist kein Irrtum, den Liebe Frau Kollegin Klöckner, ich glaube, wir sollten man einfach vom Tisch wischen kann, sondern ein sol- dieses Thema weiter sachlich behandeln. cher Irrtum kann tödlich sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD, der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich eine solche Äußerung, wo immer sie gestanden haben mag Bedenke das Ende und auch, was ein Gesetz im und wer das auch geschrieben haben mag, nie gemacht schlimmsten Falle anrichten kann. Allein was im Gesetz habe? Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! steht, ist nämlich entscheidend, und nicht, was darüber Schönes gesagt worden ist. Julia Klöckner (CDU/CSU): Zurück zu meiner eben erwähnten Dame: Wenn sie Wenn Sie das so sagen, dann wird das wohl stimmen. bei Bewusstsein ist, kann sie mit dem Arzt reden und sich beraten und auch aufklären lassen. Joachim Stünker (SPD): Allein der Wortgebrauch, Frau Kollegin, wäre nicht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mein Niveau. Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Danke schön. Kollegin Schieder? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Julia Klöckner (CDU/CSU): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nein, ich würde jetzt gerne meine Rede zu Ende brin- gen. Julia Klöckner (CDU/CSU): Lieber Herr Stünker, eine Vertreterin Ihres Gesetzent- (Dirk Manzewski [SPD]: Sie hat aber noch wurfs hat eben gesagt: Es ist ein Lebensrisiko, es kann nicht geredet!) passieren, und dann soll man das auch hinnehmen. Das geht etwa in die gleiche Richtung. (B) Deshalb halte ich es für ziemlich haarig, unberaten ei- (D) nen vermeintlichen Willen zum Lebensabbruch durchzu- (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) setzen – den Willen eines Patienten, der gar nicht wusste, was in einer bestimmten Krankheitssituation Wenn Sie behaupten, Sie hätten das nicht gesagt, dann wirklich Sache ist. nehme ich das zurück. Ich verweise nur darauf, dass es im Internet so steht. Wir können uns nachher gern noch Herr Stünker sagte einmal – ich habe das dem Presse- einmal darüber unterhalten. spiegel entnommen –, wenn das so ist, dann habe der Pa- tient eben Pech gehabt. Herr Stünker, ein zentraler Konstruktionsfehler und meiner Meinung nach der ethische Schwachpunkt in die- (Joachim Stünker [SPD]: Nein!) sem Gesetzentwurf ist, dass eine Patientenverfügung, die auf Behandlungsabbruch zielt, unabhängig von Art und Pech zu haben – – Stadium der Erkrankung verbindlich sein soll. Damit (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wird der Bereich erlaubter Sterbehilfe überschritten. NEN]: Das ist doch unglaublich, was Sie da Wenn es auf die Art und das Stadium einer Erkrankung erzählen!) gar nicht mehr ankommt, dann ist das meiner Meinung nach der Grund, warum wir einen anderen Gesetzent- – Ich zitiere ja nur das, was im Internet gestanden hat. wurf und einen neuen Kompromiss brauchen. Wenn er es nicht so gesagt hat – – Wir möchten die Sterbehilfe auf Sterbende beschrän- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ken. Die meisten von uns denken bei Sterbehilfe eigent- NEN]: Woher zitieren Sie denn?) lich an unheilbar Krebskranke, an hochbetagte Men- schen, denen unnötige Operationen erspart werden – Ich habe es aus dem Internet herausgeholt. Wenn Sie sollen. Wenn die Patientenverfügung über Sterbehilfe- nach den Begriffen „Stünker“ und „Pech“ googeln, dann situationen hinaus dazu dienen soll, jederzeit den eige- finden Sie das. nen Tod anordnen zu können, (Joachim Stünker [SPD]: Woher haben Sie das (Widerspruch bei der SPD) wirklich?) dann kommt das der verbotenen aktiven Sterbehilfe und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auch dem Töten auf Verlangen bedenklich nahe. Frau Kollegin Klöckner, jetzt würde der Herr Kollege Vertreter dieses Gesetzentwurfes haben gesagt, dass Stünker gerne eine Zwischenfrage stellen. natürlich kein dummes Zeug, das in einer solchen Pa- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18271

Julia Klöckner (A) tientenverfügung steht, umgesetzt werden soll. Aber wer wenn er nicht künstlich ernährt werden will. Dafür (C) bestimmt denn, was dummes Zeug ist und was nicht? braucht es in erster Linie den Blick, das Hinsehen, in zweiter Linie vielleicht eine Patientenverfügung. Wir schulden meiner Meinung nach den Betroffenen, den Betreuern, den Angehörigen und den Ärzten – auch Können wir wirklich sagen, dass all das, wovor diese Sie sagen dies – Rechtsklarheit über die Wirkung einer Menschen Angst haben, mit dem Gesetzentwurf über die gültigen Patientenverfügung. Eine gesetzliche Regelung Patientenverfügung, der heute hier vorliegt, anders wird? sollte sicherstellen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Patienten gestärkt wird, aber ohne dass bei der Umset- (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Sagen zung einer Verfügung das Wohl der Patienten völlig be- wir doch gar nicht!) langlos wird. Insofern halten wir es auch für unverständ- Helfen Paragrafen, einige Blätter Papier, das zu definie- lich oder nicht nachvollziehbar, dass zum Beispiel im ren, was hier Selbstbestimmung genannt wird? Nach un- Stünker-Entwurf die Angehörigen keine Rolle spielen, serer letzten Debatte hier im Plenum haben viele Kolle- dass sie nicht automatisch gehört werden sollen. ginnen und Kollegen sehr zweifelnd gefragt: Was (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- können wir an dieser Stelle eigentlich überhaupt regeln? NEN]: Das stimmt überhaupt nicht! – Jerzy Auch mich hat diese Frage sehr umgetrieben. Sterben ist Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das eben kein Wenn-dann-Schema. Irgendetwas ankreuzen, Gegenteil steht im Gesetzentwurf!) was dann Sicherheit, ja Rechtssicherheit versprechen soll, Planbarkeit suggeriert, die niemals zu erlangen ist – Das Problem beim Stünker-Entwurf ist: Im Begrün- wird das dem Sterben gerecht? dungsteil ist vieles sehr sensibel formuliert; aber letztlich gilt das, was im Gesetz steht. Das Gesetz ist das Ent- Nein, es geht nicht darum, Menschen vor sich selbst scheidende und nicht das, was in der Begründung steht zu schützen. Das würde meinem Begriff, meiner Vorstel- oder was Sie über Ihr Gesetz sagen. lung von Freiheit völlig widersprechen. (Dirk Manzewski [SPD]: Gesetze haben ausgelegt (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu werden! Der Wille ist entscheidend!) NEN]: Na endlich sagt das mal einer!) Es geht darum, zu Selbstbestimmung zu verhelfen, auch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wenn man dieser Selbstbestimmung in diesem Augen- Frau Kollegin Klöckner, ich muss Sie an Ihre Rede- blick selbst keinen Ausdruck geben kann. zeit erinnern. Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) Julia Klöckner (CDU/CSU): neten der SPD und der FDP) (D) Wir sind der Meinung, dass wir beides im Blick ha- Selbstbestimmung bedeutet immer auch Selbstver- ben sollten: Selbstbestimmung, aber auch die Schutz- fügbarkeit. Ehrlich gesagt: Die Vorstellung, ich müsste funktion des Staates. Das sind Mindeststandards einer mich im Leben immer an das halten, was ich einmal für humanen Gesellschaft. Leben braucht Liebe, und auch mich beschlossen habe, erschreckt mich schon morgens Sterben braucht Liebe und deshalb eine menschenwür- beim Aufstehen. dige Begleitung. Dazu kann es keine Alternative geben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Besten Dank. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der SPD und der LINKEN – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss doch auch niemand!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort der Kollegin Katrin Göring- Etwas Neues, etwas anderes zu denken, ein unge- Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen. kanntes Gefühl plötzlich und ganz ohne Erwartung – all das sind doch Dinge, die wir im Alltag normal, sogar Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- spannend und wünschenswert finden. Und trotzdem: Es NEN): bleibt die sehr verständliche Angst, ausgeliefert zu sein. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie entsteht die Sicherheit, dass mit mir nicht ge- „Verurteilt zum Leben“ und „Sterben verboten“ sind die schieht, was ich ganz bestimmt nicht wollte und auch Überschriften dieser Tage. Wahrscheinlich sind es nicht nicht wollen würde? Ich bin überzeugt, diese Sicherheit umsonst zwei juristische Begriffe. Man hat in Deutsch- entsteht auch mit Patientenverfügungen, aber vor allem land heute keine Angst vor dem Tod. Man hat Angst vor mit dem Gespräch, mit dem Eingebettetsein in die Men- dem Sterben – es ist darüber gesprochen worden –; man schen und in die Vorgänge, die im Leben eine Rolle ge- hat Angst vor würdelosem Sterben, vor Schläuchen, spielt haben. Dieses sollten wir nicht ausschließen, liebe Neonlicht, Beatmungsmaschinen und ganz besonders Kolleginnen und Kollegen, vor künstlicher Ernährung. Es ist die Angst, ohne eine Hand zu sein, ohne den Blick, der den Menschen wirk- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich meint, der fragt: Was will er oder sie tatsächlich? NEN]: Tun wir auch nicht! – Birgitt Bender Die zusammengekniffenen Lippen sind wahrscheinlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will doch das allerbeste Zeichen für das, was jemand möchte, auch niemand!) 18272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Katrin Göring-Eckardt (A) sondern fördern, indem wir die Vertrauensperson stär- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (C) ken. Dieser Vertrag, um den es hier geht, ist kein Vertrag, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE der widerrufbar ist. GRÜNEN)

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Göring-Eckardt, ich meine, Sie haben eine sehr NEN]: Natürlich ist er das! Aber selbstver- zutreffende Definition des Begriffes „Selbstbestim- ständlich!) mung“ vorgenommen. Allerdings glaube ich, dass Sie Genau deswegen geht es eben nicht um Paternalismus. diese mit Ihrer letzten Bemerkung gleich wieder zerstört Dieser Vertrag ist einer, bei dem das Kleingedruckte erst haben. Denn es geht hier nicht darum, dass irgendje- danach entsteht. mand gezwungen werden soll, irgendetwas anzukreuzen, dass irgendjemand getrieben wird, irgendetwas zu ma- (Joachim Stünker [SPD]: Es gibt kein Kleinge- chen. drucktes!) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Die Frage danach, ob man jemandem zur Last fällt, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wird viele Menschen, die Patientenverfügungen schrei- GRÜNEN) ben, umtreiben und treibt sie schon heute um. Nein, es muss niemand eine Patientenverfügung unterschreiben; Das ist absolut nicht der Fall. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der Ich definiere allerdings Selbstbestimmung so – ich SPD und der LINKEN) glaube, das ist die zutreffende Definition –: Für denjeni- gen, der, ohne von irgendjemandem dazu gezwungen aber auch wenn dies niemand muss, fühlen sich heute worden zu sein, beschreiben will, wie er sich sein Leben viele dazu getrieben, gezwungen oder zumindest impli- am Lebensende vorstellt, muss ich gesicherte Rahmen- zit aufgefordert. bedingungen schaffen, damit er dies kann, und ich muss gewährleisten, dass dieser Wille auch eingehalten wird. (Widerspruch bei der SPD) Ich finde, das sollten wir berücksichtigen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, auch Sie muss ich an die Zeit erinnern. Das ist Selbstbestimmung, und dafür treten wir in dieser (B) Auseinandersetzung ein. (D) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist aber nur Ihre Definition!) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ich will an dieser Stelle sagen: Nein, es geht nicht darum, jeman- – Lesen Sie einmal alle Entscheidungen des Bundesver- den vor sich selbst zu bewahren. Es geht nicht darum, fassungsgerichts zu Art. 2 nach! Lesen Sie einmal alle liebe Birgitt Bender, die Freiheit einzuschränken, son- Urteile des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs in dern es geht darum, die Freiheit auch in dem Augenblick diesem Zusammenhang nach! Dann bekommen Sie viel- zu bewahren, in dem ich ihr nicht mehr selber mit den ei- leicht einen anderen Eindruck. genen und normalen Mitteln zum Ausdruck verhelfen kann. Um diese Freiheit und um diese Art von Empathie Ich will auch zur Frage der Notwendigkeit einer Re- in unserer Gesellschaft geht es. gelung etwas sagen. Nach meiner Wahrnehmung gibt es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keinen anderen Bereich oder nur sehr wenige Bereiche, und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- in denen aus der Mitte der Gesellschaft Ansprüche an ten der SPD und der LINKEN) den Gesetzgeber so gestellt worden sind wie zur Rege- lung dieses Sachverhalts. Wir tun gut daran, dies zur Kenntnis zu nehmen und hier eine Regelung zu schaffen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die transparent und nachvollziehbar ist und die letztend- Ich gebe das Wort dem Kollegen Christoph Strässer, lich die Rechtssicherheit schafft, die wir in diesen Fra- SPD-Fraktion. gen brauchen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Christoph Strässer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wehre mich ganz massiv dagegen, dass hier so ge- Ich glaube, wir sind nach drei, vier, fünf Jahren sehr in- tan wird, als bestehe ein Gegensatz zwischen der gesetz- tensiver Diskussion zu diesem Thema in einem Stadium lichen Regelung einer Verfügung eines einzelnen Men- der Gesetzesberatung, das viele Beiträge, die ich heute schen einerseits und der Betreuung sowie der hier gehört habe, nicht angemessen erscheinen lässt. Das Verbesserung der Palliativmedizin andererseits. Das ist möchte ich vorab sagen. genau nicht der Fall. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18273

Christoph Strässer (A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Das Betreuungsrecht ist das maßgebliche Recht, (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. wenn es um die Regelung geht, was ein Betreuer oder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) ein Bevollmächtigter in einer solchen Situation tun darf bzw. tun muss. Damit komme ich noch einmal auf das Wir wollen Klarheit schaffen. Deutschland – das war in Selbstbestimmungsrecht zurück. den letzten Jahren immer wieder ein Thema – liegt an letzter Stelle, was den Bereich Palliativmedizin angeht. (Abg. Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU] meldet Wir haben Nachholbedarf bei den Hospizbewegungen. sich zu einer Zwischenfrage) Für die Ärzte, für die Pflegerinnen und Pfleger und für – Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfrage zu. – Was all die Menschen, die tagtäglich mit dem Sterben zu tun von den beiden großen Kirchen formuliert worden ist, ist haben und die Angst haben, zu handeln, weil sie nach ih- aus meiner Sicht eine Fehlinterpretation. Wir sagen rer Meinung mit einem Bein im Gefängnis stehen, wol- nicht, dass es nur um das Selbstbestimmungsrecht geht. len wir Rechtssicherheit schaffen. Sie sollen keine Sorge Wir sind allerdings der Meinung, dass das Selbstbestim- um ihre persönliche Integrität haben und nicht Handlun- mungsrecht die zentrale Auslegungsrichtlinie für die Er- gen durchführen müssen, die ihnen zum Nachteil gerei- forschung des Willens eines Patienten ist. Es ist nicht das chen. Genau das wollen wir. einzige, aber das wesentliche Instrument, mit dem der Wille des Patienten erforscht werden kann, damit der (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Arzt oder der Betreuer zu einer entsprechenden Ent- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. scheidung kommen kann. Ich glaube, das ist eine zumut- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) bare Entscheidung – auch unter ethischen Aspekten. Die zentrale Frage, um die es geht, ist: Was darf und Ich hoffe – ich wäre sehr froh darüber –, dass wir in muss in einer Patientenverfügung verbindlich für den dieser Diskussion in Zusammenarbeit mit Sachverstän- Fall geregelt werden, dass ein Patient entscheidungsun- digen zu einer verantwortbaren Entscheidung kommen, fähig wird? Wir haben hier schon Beispiele gehört, die die letztendlich das Leben des Menschen in den Mittel- aus meiner Sicht sehr klar sind. Wenn jemand, der ent- punkt stellt. Denn in Deutschland ist Folgendes noch un- scheidungsfähig ist, formuliert, dass er keine lebenser- terentwickelt: Der Tod und das Sterben sind Bestandteile haltenden Maßnahmen will, dann ist jeder Eingriff, den des Lebens. Jeder Mensch hat letztendlich darüber zu der Arzt vornimmt, eine Körperverletzung. Ich kann entscheiden, wie er dies gestalten will. Dafür sollten wir nicht akzeptieren – damit komme ich auf mein Verständ- eine vernünftige Regelung finden, und das ist im Mo- nis des Begriffes „Selbstbestimmung“ zurück; ich ment der Stünker-Entwurf. (B) glaube, das ist das vorherrschende Verständnis –, dass Herzlichen Dank. (D) diesem Patienten gesagt wird, dass der in einer bestimm- ten Situation von ihm geäußerte und schriftlich niederge- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie legte Wille in dem Augenblick endet, in dem er nicht bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- mehr entscheidungsfähig ist. Das ist nach meiner Mei- NISSES 90/DIE GRÜNEN) nung das Ende der Selbstbestimmung eines Patienten, was die Regelung eines ganz konkreten Sachverhaltes Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: angeht. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Hans Georg Faust, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Ich will noch auf einen Punkt eingehen, den man Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rechtlich vielleicht schärfer formulieren müsste. Es ist Die Diskussion über eine Patientenverfügung macht der mutmaßliche Wille angesprochen worden, der zu er- deutlich, dass wir uns an der Grenze dessen befinden, mitteln ist. Es ist zum Teil gesagt worden – das halte ich was gesetzlich normierbar ist. Deshalb muss man in ei- auch rechtlich für falsch –, wir können es deshalb nicht ner gesetzlichen Regelung behutsam vorgehen. Sie muss schärfer formulieren, weil der Wille des Betreuers im der Vielfalt der Situationen am Ende des Lebens Rech- Zentrum steht. Nein, es geht darum – das gilt schon seit nung tragen, und man muss sich in ihr klar zu dem mehr als 120 Jahren; überall wird es praktiziert –, den Grundsatz bekennen, dass jedes Leben seinen Wert hat. Willen des Betreuten zu ermitteln. Die Förderung der Hospizbewegungen und der Palliativ- medizin ist Ausdruck dieser Erkenntnis. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Im Ringen um eine gesetzliche Regelung müssen wir geordneten der FDP und der Abg. Julia den Patientenwillen, Fürsorge und Schutz sorgsam aus- Klöckner [CDU/CSU]) tarieren. Für die Vielfalt der Lebens- und Sterbensfor- men – das ist ungleich schwieriger – müssen wir dann Es geht nicht um den Willen des Betreuers oder des Be- ein verantwortungsvolles Vorgehen zulassen. Sterben ist vollmächtigten, sondern um den Willen desjenigen, der eben, wie der Präsident der Bundesärztekammer, Profes- sich nicht mehr äußern kann. sor Hoppe, sagt, nicht normierbar. 18274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Hans Georg Faust (A) Ich bin dem Kollegen Stünker und den anderen Auto- möchte nie an Schläuchen hängen“ wird hier sicher nicht (C) ren des vorgelegten Gesetzentwurfes dankbar – dankbar genügen können. dafür, dass sie Stellung bezogen haben. Ich begegne die- ser Position mit Respekt und begrüße ausdrücklich, dass (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie, wie dies auch in allen anderen Entwürfen aus diesem NEN]: Richtig!) Hause, die ich kenne, der Fall ist, die aktive Sterbehilfe ablehnen. Dennoch scheint der Wille des Patienten, bei zunehmend geringeren Überlebenschancen diese Behandlung nicht Dennoch scheint mir der Ansatz dieses Gesetzent- mehr erfahren zu müssen, so verständlich zu sein, dass wurfs nicht tragfähig zu sein; denn er berücksichtigt man auch als Arzt an eine Umsetzung denken muss. nicht die Vielfalt der individuellen Situationen am Le- bensende. Jedes Leben ist einzigartig – vom Anfang bis Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden diese zum Ende. Das bedeutet, dass auch jeder Krankheitsver- Fragen lösen müssen. Wir werden auch tagtäglich auftre- lauf individuell ist ebenso wie die persönliche Einstel- tende Fragen, wie zum Beispiel die Entscheidung, ob lung und das persönliche Empfinden. eine PEG-Sonde bei einem nichteinwilligungsfähigen, dementen Patienten gelegt wird oder nicht, regeln müs- Gerade für den nichteinwilligungsfähigen Patienten sen; denn mit dem Legen einer PEG-Sonde nimmt die muss eine Lösung geschaffen werden, die das Arzt-Pa- Krankheit eines Menschen schlagartig einen ganz ande- tienten-Verhältnis in seinem Wert belässt, eine Lösung, ren, verlängerten und manchmal sehr unwürdigen Ver- die die Vertrauensperson des Patienten und, wenn es lauf. nicht anders geht, auch das Vormundschaftsgericht mit einbezieht. Ich gehe davon aus, dass wir im Verlauf des Gesetz- gebungsverfahrens zu einer von der Gesellschaft akzep- (Beifall der Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU]) tierten Lösung kommen werden. Eine Frage, die in je- dem Fall geklärt werden muss, ist die nach der Rolle des Dieser Individualität wird der heute debattierte Entwurf Vormundschaftsgerichtes und den Voraussetzungen, un- nicht gerecht. Die einseitige Konzentration auf das vorab ter denen es angerufen werden kann. Ich bin der Auffas- Verfügte lässt keinen ausreichenden Raum für alle Betei- sung, dass das Vormundschaftsgericht nur dann, wenn ligten, individuell, sorgfältig und fürsorglich den aktuel- Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigter unterschiedli- len Willen des einwilligungsunfähigen Patienten zu er- cher Auffassung sind, den Inhalt der Patientenverfügung mitteln und entsprechend zu handeln. klären und festlegen sollte, ob eine Behandlung durchzu- führen oder abzubrechen ist. (B) Ich betone: Wichtig ist in diesem Zusammenhang, (D) dass durch eine Patientenverfügung kein Automatismus (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und in Gang gesetzt wird. der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das bei uns geregelt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der LINKEN und des BÜNDNIS- Erst die moderne Medizin hat uns die Möglichkeit ge- SES 90/DIE GRÜNEN – Christoph Strässer geben, auch im hohen Alter oder bei schweren Erkran- [SPD]: Das sagen wir auch!) kungen Leben zu erhalten. Diese Fähigkeit kann dazu Jeder Einzelfall muss individuell und gründlich bewertet führen, dass das Sterben nicht mehr als ein natürlicher und auch der Stand des medizinisch-technischen Fort- Prozess, sondern als eine Kette von Entscheidungen über schritts muss berücksichtigt werden. Ärzte, Betreuer die Beendigung von lebensverlängernden medizinischen oder Bevollmächtigte müssen sich mit jeder einzelnen Maßnahmen bis hin zum Verzicht auf solche Maßnah- Patientenverfügung intensiv auseinandersetzen. Sie alle men empfunden wird. Es ist uns aber gegeben, durch ei- haben die Pflicht, beim Entscheidungsunfähigen sorgfäl- nen klugen gesetzlichen Rahmen und individuelle, von tig zu ermitteln, ob der in der Patientenverfügung geäu- mitmenschlicher Verantwortung geprägter Sorge einem ßerte Wille mit der aktuellen Gesamtsituation überein- vorab verfügten Willen am Lebensende die Geltung und stimmt. Umsetzung zu verschaffen, die sich der Verfasser ge- wünscht hat. Nehmen wir einen Patienten auf der Intensivstation, der nach einem Unfall bewusstlos ist und aufgrund eines (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schockzustandes sowohl ein Lungen- wie auch ein Nie- neten der SPD, der FDP, der LINKEN und des renversagen hat. Er wird beatmet und mit der künstli- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chen Niere behandelt. Dies ist eine lebensbedrohliche, aber nicht unumkehrbar zum Tode führende Situation. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Jede weitere hinzutretende Komplikation, wie zum Bei- Ich schließe die Aussprache. spiel ein Versagen des Gerinnungssystems, mindert die Überlebenschancen dieses Patienten. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/8442 an die in der Tagesord- Wie konkret muss die Situation beschrieben sein, da- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es mit der Wille des Patienten zum Abbruch der Intensivbe- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. handlung umgesetzt wird? Die kurze Formulierung „Ich Dann ist die Überweisung so beschlossen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18275

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: aber lange Teilhabe will, muss auch Flexibilität bieten. (C) Das Anheben des Rentenzugangsalters auf 67 Jahre ent- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten spricht zwar der steigenden Lebenserwartung; es ent- Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Christian spricht aber nicht der Realität, dass viele Menschen im Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Alter nur noch eingeschränkt arbeiten können oder wol- der FDP len, aus Gesundheitsgründen, aufgrund der Arbeits- Flexibler Eintritt in die Rente bei Wegfall der marktlage oder einfach aufgrund eigener Präferenzen. Zuverdienstgrenzen Wir kommen den Wünschen der Menschen entgegen. – Drucksache 16/8542 – Nach den Ergebnissen einer Bertelsmann-Studie wün- Überweisungsvorschlag: schen sich zwei Drittel der Befragten, den Übergang Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) vom Erwerbsleben in die Rente flexibel gestalten zu Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend können. Letztlich geht es darum, das Rentenrecht von b) Beratung des Antrags der Abgeordneten dem bevormundenden Denken zu befreien und den Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth, Wünschen der Menschen Vorrang vor willkürlichen Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Festlegungen, wann und wie sie ihre eigenen Rentenan- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wartschaften abrufen können, zu geben. Kurs halten bei der Erwerbsintegration von Hier unser Vorschlag im Einzelnen: älteren Beschäftigten – Teilrenten erleichtern Erstens. Nach unserem Konzept soll für alle Versi- cherten der Rentenzugang ab 60 Jahren möglich sein, – Drucksache 16/9748 – wobei die Versicherten wählen können, ob sie eine Voll- Überweisungsvorschlag: rente oder eine Teilrente aus den bis zu diesem Zeitpunkt Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie erworbenen Entgeltpunkten beziehen wollen. Haushaltsausschuss (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ist die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Höhe auch wählbar?) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die – Aus den Entgeltpunkten ergibt sich die Höhe. Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Voraussetzung für diesen flexiblen Rentenzugang ist allein die Grundsicherungsfreiheit, also der Umstand, dass Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem die Summe der gesetzlichen, betrieblichen und privaten Kollegen Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion. Altersversorgungsansprüche des Versicherten – unter Be- (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) rücksichtigung von Abschlägen für einen vorzeitigen Ver- sorgungsbezug – ab dem Zeitpunkt des Renteneintritts Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): über dem Niveau der Grundsicherung liegt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Anton Schaaf [SPD]: Zusätzliche Bürokratie! – Spätestens seit der Erhöhung der starren Regelalters- Zuruf des Abg. Volker Schneider [Saarbrü- grenze für den Renteneintritt auf 67 Jahre gibt es eine cken] [DIE LINKE]) Diskussion darüber, wie der Übergang vom Erwerbsle- ben in den Ruhestand flexibler gestaltet werden kann, Die Prüfung erfolgt für die Bedarfsgemeinschaft, Herr um den Interessen der Menschen besser gerecht zu wer- Kollege Schneider, sodass beispielsweise ebenfalls für den. Die einen setzen auf mehr Altersteilzeit – darüber Frauen regelmäßig der flexible Rentenzugang möglich werden wir später unter einem anderen Tagesordnungs- wird. Wir gehen davon aus, dass 90 Prozent der Versi- punkt diskutieren –, die anderen – das gilt für die FDP cherten diese Möglichkeit werden nutzen können. Wir von Beginn an – setzen auf die Möglichkeit eines flexi- gehen auch davon aus, dass die Entscheidung für eine blen Renteneintritts ab dem 60. Lebensjahr. Teilrente der Normalfall sein wird. Aber es gibt keinen Grund, nicht auch die Möglichkeit zur Entscheidung für Mit dem heute in erster Lesung zu beratenden Antrag eine Vollrente zu eröffnen. auf Drucksache 16/8542, den die FDP inhaltlich weitge- Zweitens. Die Grenzen für den Zuverdienst neben hend deckungsgleich bereits am 7. März 2007 – damals unter der Drucksache 16/4618 – eingebracht hatte, wie- dem Rentenbezug werden aufgehoben. Es gibt für solche derholen wir unser Angebot an die Fraktionen des Deut- Grenzen keine stichhaltige Begründung mehr. Die Versi- cherten können selbst entscheiden, ob und in welchem schen Bundestages, mit breiter Zustimmung eine Lösung für das Problem der angemessenen Beschäftigungsteil- Umfang sie neben einem Rentenbezug noch erwerbstätig sein wollen. Dadurch wird es möglich, den Lebensstan- habe im Alter zu finden. dard auch bei einem vorzeitigen Rentenbezug zu halten. Grundgedanke des FDP-Konzepts ist ein Paradig- Wichtig ist: Für den Zuverdienst sind Sozialversiche- menwechsel, also ein grundlegend neuer Ansatz bei der rungsbeiträge – mit Ausnahme der Arbeitslosenver- Gestaltung der politisch gesetzten Rahmenbedingungen sicherung – zu zahlen. Die durch die Rentenversiche- hinsichtlich des Übergangs von der Arbeit zur Rente. rungsbeiträge aus dem Zuverdienst neu erworbenen Nicht mehr ein möglichst frühes Ausscheiden aus dem Entgeltpunkte können vom versicherten Arbeitnehmer Arbeitsprozess, sondern eine möglichst lange Teilhabe zu einem von ihm wählbaren späteren Zeitpunkt zur Er- am Erwerbsleben muss zum neuen Leitbild werden. Wer höhung der eigenen Rente und damit auch zur teilweisen 18276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Schließung von aus Abschlägen entstehenden Versor- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) gungslücken eingesetzt werden. Herr Kollege Kolb. Drittens. Mit einem individuellen Zugangsfaktor wird der Zeitpunkt des Rentenzugangs ab dem 60. Lebensjahr Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): berücksichtigt. Wichtig ist: Je länger der Versicherte ar- Frau Präsidentin, ich hätte gern noch mehr gesagt, beitet, desto höher ist der Zugangsfaktor. So werden zum Beispiel zu dem Verhalten der Grünen, der Linken – von Jahr zu Jahr – Menschen ermutigt, erwerbstätig zu oder der CDU/CSU. bleiben. Im aktuellen Rentenwert wird zudem für jede Alterskohorte die zu erwartende durchschnittliche Ren- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tenbezugsdauer berücksichtigt. Dadurch wird eine ge- Nein, Herr Kollege Kolb, Sie müssen zum Ende kom- rechte Verteilung der Lasten der Alterung auf die einzel- men. nen Jahrgänge erreicht.

Es erscheint mir als ganz wichtig, Herr Schaaf, zu be- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): tonen, dass dieser Ansatz der FDP sehr gut kombiniert Die Zeit lässt es nicht mehr zu. Ich freue mich da- werden kann mit Branchentarifvereinbarungen für eine rüber, dass mittlerweile Offenheit gegenüber unserem ergänzende Altersvorsorge, die durch Abschläge entste- Vorschlag besteht, und auf die Beratungen im Aus- hende Lücken schließen helfen. Gerade in Branchen, in schuss. denen es eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Wunsch nach einem frühen Renteneintritt gibt, zum Beispiel bei Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. körperlich stark belastender Tätigkeit, sind die Tarifpart- (Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe ner aufgerufen, flankierende Regelungen zu treffen. [CDU/CSU]: Gern geschehen!) (Anton Schaaf [SPD]: Das hat mit Wunsch nichts zu tun! Das ist Notwendigkeit!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Unser Modell lässt sich auch mit der Nutzung von Gut- Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Ralf Brauksiepe, haben auf Lebensarbeitszeitkonten sehr gut kombinie- CDU/CSU-Fraktion. ren. Branchentarifvereinbarungen und die Nutzung von (Beifall bei der CDU/CSU) Lebensarbeitszeitkonten stellen sicher, dass der flexible Übergang für breite Teile der Versicherten attraktiv ist und bleibt. Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) (B) Soweit der FDP-Vorschlag. Ich freue mich, dass ich Die Große Koalition hat in dieser Legislaturperiode eine ihn heute einmal ausführlich vorstellen konnte und dass gute Rentenpolitik gemacht. ich feststellen kann, dass über den FDP-Vorschlag, der bei der ersten Vorlage am 9. März 2007 (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Durchge- Gute Rentenpolitik ist nicht immer populär. Deswegen fallen ist!) sind alle Oppositionsfraktionen in die Populismusfalle von Ihnen noch ablehnend kommentiert wurde, mittler- getappt und haben die Rente mit 67 abgelehnt. Die An- weile ein Stück weit Konsens hier im Hause besteht. träge, über die wir hier heute diskutieren, sind Ausdruck des schlechten Gewissens, das die Opposition hat. Das (Zuruf von der SPD: Was?) ist der untaugliche Versuch, dem Populismus mit diesen Anträgen einen seriösen Anstrich zu geben. Diese Taktik Nur die Linke und Teile der CDU/CSU sind noch kri- geht nicht auf. tisch. Die SPD, Herr Schaaf, zeigte sich nach erster scharfer Kritik frühzeitig offen. Sie haben den Kern un- (Beifall bei der CDU/CSU) seres Vorschlages in Ihrem Bundesvorstandsbeschluss „Chancen auf gute Arbeit verbessern – Leistungsgerech- Lassen Sie mich bei der FDP anfangen. Herr Kollege tigkeit sichern“ übernommen. Das können Sie nicht be- Kolb, Sie haben von den Wünschen der Menschen und streiten. von Flexibilität gesprochen. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist jetzt (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!) ungerecht gegenüber der SPD! Das Lob ist un- Sie hätten eigentlich nur noch behaupten müssen, dass gerecht!) sich jeder, wenn es nach Ihnen ginge, die Höhe seiner Dort heißt es unter Punkt 3, dass nach Auslaufen der Al- Rente selbst aussuchen dürfte. Das, was Sie betreiben, tersteilzeitförderung – ich zitiere das hier gern – „ein fle- ist Scharlatanerie. xibler Übergang ab dem 60. Lebensjahr in die Rente er- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was sagen Sie? möglicht werden kann.“ Unter Punkt 5 heißt es, dass die Das ist ja von vorgestern! Da sind die Kolle- Sozialpartner und Tarifparteien zusätzliche Leistungen gen Veit und Weiß aber schon viel weiter als vereinbaren können, die helfen sollen, Abschläge auszu- Sie!) gleichen oder zu vermindern. Herr Schaaf, auf dieser Ba- sis müsste bei den kommenden Beratungen doch eigent- Das, was Sie vorschlagen, liefe, sofern es überhaupt von lich eine Einigung möglich sein. Relevanz wäre, auf einen Teilrückzug der Besserverdie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18277

Dr. Ralf Brauksiepe (A) nenden aus der Solidargemeinschaft hinaus, auf nichts und welcher Maßstab zur Berechnung der Höhe der Ab- (C) anderes. schläge und der Entgeltpunkte herangezogen werden soll. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir hingegen sind da ehrlich. Jeder weiß: Wer heute Sie sagen: Jeder, dessen Rente über dem Grundsiche- mit 63 Jahren in Rente geht, muss Abschläge von rungsniveau liegt, soll mit 60 in Rente gehen können. 7,2 Prozent hinnehmen. Wer im Jahr 2029 mit 63 Jahren (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Jeder soll in Rente geht, wird Abschläge von 14,4 Prozent zu ver- können, aber nicht müssen!) zeichnen haben. Wir haben klipp und klar gesagt: Wer sieben Jahre früher, also mit 60 Jahren, in Rente gehen Auf wen trifft das denn heute zu, und auf wen wird das will, muss Abschläge von 25,2 Prozent hinnehmen. Das in Zukunft zutreffen? Sind das die Kollegen von der kann sich kein normaler Arbeitnehmer leisten. Fahrbereitschaft des Bundestages? Ist das der Friseur, zu dem Sie gehen? (Anton Schaaf [SPD]: So ist es!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der berühmte Deswegen reden wir gar nicht mehr davon. Eckrentner zum Beispiel!) Sie reden von der durchschnittlichen Lebenserwar- Sind das die Briefträger, die Ihnen Ihre Post bringen? tung und vom Renteneintrittsalter, drücken sich aber um Sind das diejenigen, die schon mit 60 so hohe Rentenan- die Antwort auf die Frage, was für Sie der Maßstab ist. sprüche haben? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Wir sagen: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist der Eckrent- Die Logik muss verändert werden! Wir brau- ner etwa ein Besserverdienender?) chen keine Abschläge, sondern Zuschläge! Sie haben es nicht verstanden, Herr Brauksiepe!) Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn sich das überhaupt rechnet, dann für die Besserverdienenden. Wollen Sie die Rente mit 67? Akzeptieren Sie, dass die Menschen angesichts der steigenden Lebenserwartung (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Noch einmal, auch länger arbeiten müssen? Sie drücken sich vor den Herr Brauksiepe: Gehört der Eckrentner Antworten auf diese Fragen. Das lassen wir Ihnen nicht dazu?) durchgehen. Sie wollen, dass sich die Besserverdienenden von der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zahlung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags verab- Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Unver- schieden. Die Begründung, die Sie hierfür liefern, lautet, antwortlich, diese FDP!) (B) dass auch auf Hinzuverdienste dann keine Arbeitslosen- (D) versicherungsbeiträge mehr gezahlt werden müssten. Im Übrigen haben Sie manchmal offenbar den glei- Das ist wirklich interessant. In Ihrem Antrag heißt es: chen Textschreiber wie der Deutsche Gewerkschafts- bund. Der Wegfall des Arbeitslosenversicherungsbeitra- ges bedeutet aus Sicht der Unternehmen einen (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Kostenvorteil. … Aus Sicht der Arbeitnehmer er- und der SPD) höht sich das verfügbare Einkommen. Der DGB hat nämlich ebenfalls ein Papier zur Rentenpo- Wunderbar! Ich frage mich nur: Wieso sollen die Leute litik vorgelegt, in dem es heißt, dass immer mehr Men- dann noch gesetzlich krankenversichert sein? Mit dieser schen von längeren Phasen der Arbeitslosigkeit betrof- Begründung könnten Sie nämlich genauso gut argumen- fen sind. Auch Sie haben in der Begründung Ihres tieren, dass es für die Unternehmen billiger ist und das Antrags geschrieben: aktuelle Einkommen erhöht, wenn jemand nicht gesetz- Aktuell sind überhaupt nur noch 45 Prozent der lich krankenversichert ist. Das ist aber der falsche Weg. über 55-Jährigen … erwerbstätig. Wir wollen nicht, dass Menschen mit 60 Jahren zum al- ten Eisen gezählt werden. Wir wollen nicht, dass 60-Jäh- Die Realität sieht aber anders aus. rige Vollzeitbeschäftigte ihre Arbeit ohne den Schutz der Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum spielen Sie Arbeitslosenversicherung verrichten müssen. eigentlich mit falschen Zahlen? Ausweislich amtlicher (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was erzählen Sie Statistiken waren im zweiten Quartal des letzten Jahres denn da?) 52 Prozent der über 55-Jährigen in Beschäftigung. Das ist mit uns nicht zu machen, liebe Kolleginnen und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind doch Kollegen. alte Zahlen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ich wiederhole: 52 Prozent, Tendenz steigend. Sie be- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben es haupten, es seien 45 Prozent, Tendenz sinkend. wirklich nicht verstanden, Herr Kollege (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie bitte? Wie Brauksiepe!) kommen Sie denn jetzt auf „Tendenz sin- Der entscheidende Punkt ist: Sie drücken sich nach kend“? Das haben wir überhaupt nicht behaup- wie vor vor der Antwort auf die Frage, wo Ihrer Mei- tet! Dass diese Zahl steigt, ist klar! Das alleine nung nach das gesetzliche Renteneintrittsalter liegen soll reicht aber nicht!) 18278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Wer mit falschen Zahlen operiert, kann nur zu falschen Im weiteren Verlauf nimmt das Leistungsniveau Ihres (C) Lösungen kommen. Diese Trickserei lassen wir Ihnen Antrags jedoch katastrophal ab. So heißt es an anderer nicht durchgehen. So einfach ist das. Stelle in Ihrem Antrag: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wer seine Arbeitszeit reduzieren will, kann ab dem der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das, 60. Lebensjahr eine Teilrente beantragen. was Sie da sagen, ist doch Unsinn! Wenn Sie mehr Menschen motivieren wollen, dann müs- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ sen Sie ihnen auch mehr Flexibilität anbieten! DIE GRÜNEN]: Ja, aber nicht zulasten der Das hat übrigens auch der Kollege Weiß ge- Allgemeinheit!) sagt!) Wir haben all die Anstrengungen im Hinblick auf Wei- terbildung und Qualifizierung Älterer doch nicht unter- Jetzt komme ich zu dem Antrag, den das Bündnis 90/ nommen, um sie dann mit 60 in Rente oder Teilrente zu Die Grünen vorgelegt hat. Er fängt eigentlich ganz gut entlassen. an, (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was sagt denn Herr Rüttgers DIE GRÜNEN]: Nicht nur das! Er endet auch zu Ihrem Vorschlag?) gut!) Die gleiche Frage stellt sich bei dem FDP-Antrag nämlich mit der Überschrift „Kurs halten bei der Er- „Flexibler Eintritt in die Rente …“, und zwar mit 60. werbsintegration von älteren Beschäftigten – Teilrenten Warum gerade mit 60? Warum nicht schon mit 50? erleichtern“. Sie haben schließlich allen Grund, Ihr schlechtes Gewissen zu erleichtern. Denn Sie haben den (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesetzentwurf zur Rente mit 67 wegen einer Erleichte- Schauen Sie sich die Menschen draußen doch rung für langjährige Beitragszahler abgelehnt. einmal an!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn man argumentiert, dass der 60-Jährige, der eine NEN]: Wie bitte?) Rente über Grundsicherungsniveau bekäme, die Mög- lichkeit erhalten soll, in Rente gehen zu können, warum Sie haben damals gesagt, es sei nicht in Ordnung, wenn nicht auch der 50-Jährige? Menschen, die 45 Versicherungsjahre vorzuweisen ha- ben, mit 65 weiterhin abschlagsfrei in Rente gehen kön- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine Zeit lang nen. Sie haben behauptet, das sei verfassungswidrig. muss man schon arbeiten, um eine entspre- (B) chende Anwartschaft zu erwerben!) (D) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Warten wir es ab!) Man kann das System der solidarisch finanzierten ge- setzlichen Rentenversicherung immer weiter zurückfah- Als Sie an diesem Pult standen, haben Sie prognosti- ren: bis keiner mehr einzahlt und keiner mehr Ansprüche ziert, der Herr Bundespräsident werde dieses Gesetz erwirbt. nicht unterzeichnen, weil es verfassungswidrig sei. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Darum geht es (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ nicht! Wenn die Abschläge korrekt berechnet DIE GRÜNEN]: Das muss ja noch geprüft werden, passt das!) werden!) Das ist auch gendermäßig korrekt: Kein Mann zahlt ein, Dabei ist aber nichts herausgekommen. Wir haben ein keine Frau zahlt ein, kein Mann bekommt etwas raus, gutes, richtiges und selbstverständlich verfassungskon- keine Frau bekommt etwas raus. Nur, das hat mit einer formes Gesetz auf den Weg gebracht. solidarischen Rentenversicherung nichts zu tun und ist (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ mit uns nicht zu machen, liebe Kolleginnen und Kolle- DIE GRÜNEN]: Na ja! Das wird erst einmal gen. geprüft!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Insofern haben Sie durchaus Nachholbedarf, wenn es da- Wir sind sehr wohl dafür, dass die Möglichkeiten der rum geht, einen vernünftigen Antrag vorzulegen. Teilrente, die der Gesetzgeber eingeräumt hat, verstärkt Ihr Antrag fängt aber gut an, und zwar mit einem Hin- genutzt werden. Die CDU/CSU bedauert es, dass die weis – ich zitiere –: Möglichkeiten, vorzeitig in Rente zu gehen, fast nur in Form des Blockmodells genutzt werden und damit zur Die Altersteilzeit dient dabei als Vorruhestandsmo- Frühverrentung führen. dell und steht dem Ziel der besseren Erwerbsbeteili- gung Älterer und der Verlängerung der Lebensar- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na also!) beitszeit entgegen. Wir würden es uns wünschen, dass die Menschen, wie (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Norbert Blüm sich das seinerzeit vorgestellt hat, gleitend DIE GRÜNEN]: Ja!) in den Ruhestand übergehen: erst zwei Drittel arbeiten, dann die Hälfte, dann ein Drittel. Leider ist diese grund- Sehr richtig. sätzlich vernünftige Überlegung an den Wünschen der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18279

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Menschen gescheitert. Die Menschen wählen nämlich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) ganz überwiegend das Blockmodell. Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider, Fraktion Die Linke. Ich will deutlich sagen: Wir haben bei unserem Ge- setz zur Rente mit 67 auch die Teilrente gestärkt, und zwar indem wir das Alter, ab dem jemand in Vollrente Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): oder in Teilrente gehen kann, bei 63 gelassen haben, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch wenn das gesetzliche Renteneintrittsalter steigen Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Im Antrag muss. Wir haben einen flexiblen Korridor von vier Jah- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird der Bundestag ren vorgesehen. Auch haben wir die Möglichkeit ge- aufgefordert, festzustellen, dass „im Jahr 2005 … nur schaffen, dass besonders langjährig Versicherte weiter rund 36 Prozent der Frauen und 19 Prozent der Männer ohne Abschläge mit 65 in Rente gehen können. aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in die Regelaltersrente“ gingen. Bei den Gesprächen, die die Koalition geführt hat, ha- ben Überlegungen, eine eigenständige Teilrente einzu- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ führen – eine Teilrente, mit der keine Vollrente korres- DIE GRÜNEN]: So ist die Statistik!) pondiert –, nie eine Rolle gespielt. Wir haben uns im Anders gesagt: Zwei Drittel der Frauen und vier von fünf Koalitionsvertrag darauf verständigt, Frühverrentungs- Männern gingen 2005 schon vor dem 65. Lebensjahr in anreize abzubauen und die Erwerbsbeteiligung Älterer Rente. Ich sage von meiner Seite aus: und das in aller zu erhöhen. Ich sage deswegen ganz deutlich: Es gibt Regel nicht freiwillig, sondern notgedrungen. keine Vereinbarungen und es gibt auch keine Gespräche oder Verhandlungen mit uns über eine weitere Fortset- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, das zung der Förderung der Altersteilzeit durch die BA auf braucht der Bundestag aber nicht festzustellen; denn das Kosten der Beitragszahler. Es gibt mit uns auch keine sind die Fakten. Es wäre schön, wenn der Bundestag die- Gespräche oder Verhandlungen darüber, Menschen, die sen unerfreulichen Sachverhalt endlich zur Kenntnis mit 60 noch fit sind, die arbeiten können und die arbeiten nehmen würde. wollen, zum alten Eisen zu zählen. Das machen wir nicht Sie meinen auch, die Wurzel des Übels entdeckt zu mit. Da halten wir Kurs. haben, und sagen: Fast jeder fünfte versicherungspflich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – tig Beschäftigte nimmt die Altersteilzeit in Anspruch. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ NEN]: Sie haben uns nicht verstanden!) DIE GRÜNEN]: Ja!) (B) Jeder Koalitionspartner muss wissen, wie er die Er- Nun können Sie nicht einfach eine Teilmenge, nämlich (D) folge, die gemeinsam erzielt worden sind, herausstellt. die der Rentenzugänge in einem Jahr, in einen inhaltli- Wir sind stolz auf das, was wir im Hinblick auf eine hö- chen Zusammenhang mit einer Gesamtmenge stellen, here Erwerbsbeteiligung Älterer gemeinsam erreicht ha- nämlich mit der Gesamtzahl aller Rentner in Altersteil- ben. Wir wollen diesen Weg weitergehen. Die Älteren zeit. werden zunehmend gebraucht. (Zuruf der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) NEN]: Richtig! Man muss aber denen, die nicht mehr Vollzeit arbeiten können, etwas an- – Frau Schewe-Gerigk, lassen wir das einfach einmal au- deres anbieten!) ßen vor und addieren wir die Zahlen der Einfachheit hal- ber, auch wenn es fachlich nicht ganz korrekt ist. Dann Wir wollen sie in Beschäftigung bringen. Wir wollen sie stellen wir nämlich fest: Fast 50 Prozent der Frauen und qualifizieren. Wir wollen nicht, dass sie mit 60 in die mehr als 60 Prozent der Männer gehen in Rente, ohne Teilrente abgeschoben werden. die Altersgrenze erreicht zu haben und ohne durch eine Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es weiter Altersteilzeit abgefedert zu werden. möglich sein soll, dass diejenigen, die nicht mehr arbei- Das heißt: Jede zweite Frau und mehr als jeder zweite ten können, von der Solidargemeinschaft aufgefangen Mann geht mit Abschlägen von bis zu 7,2 Prozent oder, werden – und das wollen wir –, dann müssen diejenigen, in 20 Jahren, mit Abschlägen von bis zu 14,4 Prozent in die arbeiten können, entsprechend länger arbeiten, um Rente – und das bei einem deutlich sinkenden Rentenni- dies mitzufinanzieren. veau. Bei einem Wegfall der Altersteilzeit würde sich (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese Zahl weiter erhöhen. Das ist leider nicht mehr und NEN]: Das ist ja in Ordnung! Aber was ist mit nicht weniger als vorprogrammierte Altersarmut. Darauf denen, die nicht mehr arbeiten können? Denen gibt es vordringlich nur eine Antwort, die in beiden An- muss man ein Angebot machen!) trägen fehlt, nämlich: Weg mit dem Unsinnsprojekt Rente mit 67. Dafür stehen wir, nicht für das Herausdrängen der Älte- ren. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist aber ungerecht von Ihnen!) Herzlichen Dank. Was wir wirklich bräuchten, sind flexible Übergänge (Beifall bei der CDU/CSU) in den Ruhestand. Dem wollen ja auch beide Fraktionen 18280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) mit ihren Anträgen Rechnung tragen, allerdings auf eine Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): (C) sehr einseitige und kritisierbare Weise. Ich komme zum Schluss. Nehmen Sie als Beispiel einen 60 Jahre alten Arbeit- Dennoch brauchen wir Möglichkeiten des gleitenden nehmer aus dem Bauhauptgewerbe. Das wäre schon un- Übergangs in die Rente. Dafür bietet Ihr Modell viel- gewöhnlich, denn sie verlassen das Arbeitsleben im leicht einen Teilaspekt. Es ist aber nicht – wie Sie es von Schnitt mit 58 Jahren. Herr Kollege Kolb, welche Jobs der FDP unterstellen – das allein selig machende Allheil- sollen sie bei Ihrem Modell einer Teilrente denn noch mittel. bekommen? Sie sind körperlich am Ende und eher sehr Besten Dank. einseitig qualifiziert. Wie sollen sie Ihr Ziel, nämlich das Grundsicherungsniveau, bei einer geringen Teilrente mit (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. zweifelhaften Verdienstmöglichkeiten überhaupt errei- Kolb [FDP]: Aber ein kompromissfähiges Mo- chen? Ich komme hier beim besten Willen nicht auf die dell ist es!) 90 Prozent, die Sie eben genannt haben. Das sieht aus meiner Sicht sehr viel schlechter aus. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Anton Schaaf, SPD- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau für diese Fraktion. Menschen ist ja die Branchenlösung erforder- lich!) (Beifall bei der SPD) – Stellen Sie eine Zwischenfrage. Dann gehe ich gerne darauf ein. Anton Schaaf (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie haben doch Sie mich mit einem Punkt beginnen, der zwar später gefragt!) noch eine Rolle spielen wird, aber schon in dieser De- batte als herausragendes Argument vorgebracht wurde. Damit ist dieser Bauarbeiter nicht allein. Geringver- Die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmerinnen und dienende und prekär beschäftigte Arbeitnehmer in kör- Arbeitnehmer in diesem Land ist deutlich gestiegen, und perlich und/oder seelisch hoch belastenden Berufen, zwar von 37 Prozent auf 52 Prozent. Das ist uns trotz der Frauen mit ihren klassisch niedrigen Rentenansprüchen – gesetzlich geförderten Altersteilzeit gelungen. sie alle werden sowohl von dem Modell der FDP als auch dem der Grünen nicht oder kaum profitieren kön- (Beifall der Abg. [SPD]) nen. Nur damit wir einmal wissen, um welche Mengen Das Argument, dass die Beschäftigungsquote Älterer (B) es sich dabei handelt: 360 000 erwerbstätige Ältere zwi- durch die Altersteilzeit nicht steigt oder gar sinkt, ist völ- (D) schen 50 und 65 Jahren üben einen geringfügigen Ne- lig falsch. Das ist anhand der Zahlen nicht belegbar. benjob aus. Gut 1,1 Millionen Menschen in diesem Alter haben ausschließlich eine geringfügige Beschäftigung. Das ist übrigens auch die Begründung dafür, warum Hinzu kommen 700 000 Personen im Rentenalter ab die Sozialdemokraten den in Teilen richtigen Antrag der 65 Jahren mit Minijobs. Ich kann nur sagen: Zielgruppe Grünen nicht unterstützen werden. Denn die Teilrenten- verfehlt. frage ist vernünftig beantwortet, aber den Ausschluss der Altersteilzeit als Möglichkeit des flexiblen Übergangs Als Vergleich dazu nehme ich einen 60 Jahre alten halten wir überwiegend für falsch. Bankkaufmann. Er bezieht eine deutlich höhere Teil- rente und hat bessere Chancen auf einen Nebenjob, etwa Ich sage ausdrücklich: Die SPD-Bundestagsfraktion steht an der Seite der IG Metall, die gerade für einen ver- eine Beratertätigkeit. Der Mann kann sich freuen. Nach nünftigen Tarifabschluss im Zusammenhang mit der Al- dem FDP-Modell darf er in der Summe sogar mehr ha- tersteilzeit kämpft. ben, als er vorher verdient hat. Das wenigstens schließen die Grünen in ihrem Modell aus. Letztlich wäre das ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Privileg für Besserverdienende. Dazu sagen wir als Linke deutlich Nein. Sehr geehrter Herr Kolb, es ist schon mehrfach gesagt worden, und auch Sie haben sich eben entsprechend ge- Auch und gerade für uns Linke gilt – das sage ich ins- äußert, dass Ihr Modell gerade für diejenigen, die in ih- besondere in Richtung von Herrn Brauksiepe –: Arbeit rem Arbeitsleben schwer belastet sind, ein vernünftiger ist mehr als die Erzielung von Arbeitseinkommen. Sie Ansatz wäre. sichert auch die soziale Teilhabe und gesellschaftliche (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gerade für die!) Anerkennung. Deshalb muss die Politik die Vorausset- zungen dafür schaffen, dass die Menschen, solange sie Man muss dabei aber berücksichtigen, welche Ansprü- dies wollen und können, im Arbeitsleben verbleiben che ein Durchschnittsverdiener mit Erreichen des können. Das sagen nicht nur wir. 60. Lebensjahres hat und welche Risiken damit einher- gehen, wenn er vorzeitig aus dem Berufsleben ausschei- det. Ihre Antwort darauf lautet, dass die Einkommen in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Zeit danach über dem Grundsicherungsniveau liegen Herr Kollege Schneider, Ihre Redezeit ist zu Ende. müssen, (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Er will noch (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch etwas länger in Arbeit bleiben!) SPD-Beschlusslage!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18281

Anton Schaaf (A) und Sie führen in diesem Zusammenhang den Begriff Diejenigen, die es sich nicht leisten können, früher (C) der Bedarfsgemeinschaft an. aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, haben dadurch eine niedrigere Rente. Das ist unsolidarisch und trifft ge- (Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich nau die Menschen, um die es uns geht, nämlich diejeni- zu einer Zwischenfrage) gen, die ihr Leben lang schwer gearbeitet haben. – Nein, Herr Kolb, jetzt nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Abgesehen von dem damit verbundenen Bürokratie- der CDU/CSU) aufwand stellt sich die Frage, wie sich die Lage darstellt, wenn in einer solchen Lebenssituation die Bedarfsge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: meinschaft auseinanderfällt, aus welchen Gründen auch Herr Kollege Schaaf, der Kollege Kolb möchte gerne immer. Muss dann der Betroffene Frührente beantragen, eine Zwischenfrage stellen. oder erhält er vielleicht Arbeitslosengeld I oder II? Das ist nicht geregelt. Es wird auch nirgendwo geregelt, wie in einer solchen Situation zu verfahren ist. Es ist aber Anton Schaaf (SPD): keineswegs lebensfremd, dass eine Bedarfsgemeinschaft Der Kollege Kolb hat berechtigterweise darauf hinge- auseinanderfällt, aus welchen Gründen auch immer. wiesen, dass wir das noch ausführlich in den Ausschüs- sen diskutieren müssen. Deswegen sollten wir das nicht Besonders spannend fand ich an Ihrem Konzept, dass hier fortsetzen, sondern dort. es sich auf Regelungen im Rentenrecht beruft, aus denen hervorgeht, wie sich was aufeinander bezieht. Dabei (Heiterkeit bei der SPD) geht es zum Beispiel um die Frage, wie viele Arbeitneh- Die Kohortenregelung ist besonders spannend. Sie merinnen und Arbeitnehmer – also Beitragszahlerinnen macht die Rentenversicherung für all diejenigen, die sich und Beitragszahler – wir im Verhältnis zu Rentnerinnen mit der zukünftigen Planung auseinandersetzen, schlicht und Rentner haben. Danach berechnet sich der Renten- unplanbar. Wenn es um den Sozialstaat oder die solidari- wert. Das ist völlig richtig. schen Sicherungssysteme geht, verfolgen Sie immer In Ihrem Modell gehen Sie aber von etwas völlig an- denselben Ansatz: Sie wollen die Risiken der Menschen derem aus. Das ist sehr spannend; dabei wird die Vertei- individualisieren und in diesem Punkt sogar noch ein lungswirkung deutlich. Sie gehen von Alterskohorten Stück weit privatisieren. aus und berechnen, wie alt sie im Durchschnitt werden. Das gilt nicht nur für die Altersvorsorge, sondern (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das auch für alles andere. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, weil Gerechteste!) Sie in den letzten Wochen vor dem Hintergrund stei- (B) gender Preise, die die Menschen sicherlich sehr belas- (D) Dann ermitteln Sie, wann eine Alterskohorte im Durch- ten – das ist keine Frage –, in eine Steuersenkungshyste- schnitt in Rente geht und setzen das ins Verhältnis zu- rie verfallen sind. Wenn man die Steuern senkt, muss einander. man sehen, wer steuerpflichtig ist und die meisten Steu- Jetzt eröffnen Sie aber den Menschen die Möglich- ern zahlt. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Ein- keit, frei zu wählen, ob sie mit 60, 63 oder 65 Jahren in kommen in Höhe von bis zu 38 000 Euro zum Beispiel Rente gehen wollen. Es gibt gegenwärtig Korridore. ist es nicht; denn diese zahlt keine Steuern, zumindest Gesetzlich vorgesehen ist der Rentenzugang mit 63 keine Einkommensteuer. Wenn man weiß, dass Niedrig- bzw. – wie angestrebt – mit 67 Jahren. Die Rentenversi- verdiener wenig oder gar keine Steuern zahlen, ist einem cherung und alle anderen, die sich mit diesem Thema be- klar, dass Steuersenkungen im Wesentlichen denjenigen schäftigen, können modellhaft ausrechnen, wie sich das nutzen, die hohe Steuern zahlen. Gleichzeitig hat der auf die Beiträge und das Leistungsniveau – also auf den Staat dann weniger Einnahmen. Ich sage Ihnen: Nur Rentenwert – auswirkt. Reiche können sich einen armen Staat leisten, Arme können das nicht. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das geht dann genauso!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist relativ einfach. Man nimmt einen niedrigeren Wert – die Menschen gehen früher in Rente –, einen Deswegen haben wir unsere solidarischen Sicherungs- mittleren und einen späteren Wert an. systeme. Dafür gibt es Solidarität und Parität in den Sys- temen. Bei Ihrem Modell kann man nicht mehr absehen, wer wann in Rente geht. Das ist nicht mehr in Durchschnitts- Sie wollen ganz andere Systeme haben. Ihr Antrag, werten zu berechnen. Man wird dessen erst gewahr, meine Damen und Herren von der FDP, macht das deut- wenn es so weit ist. Dann kommt es zu folgender Situa- lich. Es handelt sich um eine Umverteilung im Alter von tion: Diejenigen, die gut verdient haben und es sich leis- unten nach oben, um nichts anderes. ten können, gehen massenhaft sehr früh in Rente. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist nicht (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das glaube ich wahr!) nicht! Das wird anders sein!) Mehr Freiheit für diejenigen, die es sich leisten können, Das führt dazu, dass der Rentenwert einer Alterskohorte und weniger Freiheit für diejenigen, die es sich eben sinkt. nicht leisten können! Auf die Frage, was wir mit 18282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Anton Schaaf (A) denjenigen machen sollen, die tatsächlich nicht mehr kön- Damen und Herren von der SPD, Sie machen mit ihrem (C) nen, geben Sie in Ihrem Konzept keine Antwort. Es gibt Konzept zur Verlängerung der Gültigkeitsdauer der Re- aber Mechanismen des flexiblen Übergangs, die Erwerbs- gelung betreffend die geförderte Altersteilzeit eine Rolle minderungsrente, die tatsächlich absichert, die Möglich- rückwärts. Sie wollen die Fortschreibung der Still- keit, eine Teilrente in Anspruch zu nehmen – diese Re- legungsprämie für ältere, gutverdienende Beschäftigte. gelung muss sicherlich verbessert werden, ermöglicht aber bereits einen flexiblen Übergang –, die Altersteil- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört! Die SPD zeitregelung – nur die Regelung zur geförderten Alters- als Wegbereiter der Gutverdienenden!) teilzeit läuft 2009 aus – und die Möglichkeit, zwischen Die Altersteilzeitregelung wird nämlich nicht in erster 63 und 67 Jahren in Rente zu gehen, mit dem Vorteil, Linie von den Personen in Anspruch genommen, die be- dass der Einzelne selber entscheiden kann, ob er Ab- lastende Berufe ausüben, sondern sehr stark von gutver- schläge hinnehmen will, und dass die Abschläge nicht dienenden Menschen aus dem öffentlichen Dienst. auf die Allgemeinheit oder auf diejenigen verlagert wer- den, die es sich nicht leisten können. Die vorhandenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Regelungen unterscheiden sich in Planbarkeit, Sicher- Die Analyse der Deutschen Rentenversicherung heit, Solidarität und Parität ausdrücklich von dem, was macht eindeutig klar: Andere Optionen wie die Teilrente Sie vorschlagen. Deswegen werden wir Ihren Weg auf und die normale Teilzeitarbeit werden kaum genutzt, so- keinen Fall mitgehen. lange es vermeintlich attraktivere Wege gibt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das SPD-Präsi- Die Vorschläge der SPD und der Linken folgen dem dium hat am 5. Mai genau das beschlossen, bekannten Muster der Besitzstandswahrung. Liebe Kol- was in unserem Antrag steht!) leginnen und Kollegen von der SPD und von der Linken, Herr Schneider, ich will noch ganz kurz auf die Rente Sie müssen sich aber schon die Frage stellen lassen, wel- mit 67 eingehen. Man kann sicherlich über einzelne In- che Antwort Sie der Kellnerin, der Pflegehelferin oder strumente, die als Antwort auf den demografischen Wan- dem Arbeiter am Band geben, wenn sie fragen, warum del gedacht sind, streiten. Wenn man aber kein alternati- sie mit ihren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung den ves Modell vorschlägt, aus dem hervorgeht, wie mit dem Vorruhestand von gutsituierten Beschäftigten mitfinan- demografischen Wandel umgegangen werden soll, sollte zieren sollen. man sich nicht beschweren und die Menschen verrückt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – machen. Man muss klipp und klar sagen, was man alter- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Antwort wol- nativ will, wie man Wohlstand in einer alternden Gesell- len wir im Ausschuss hören!) schaft – es ist absehbar, dass es immer weniger Men- (B) (D) schen in diesem Land geben wird – erhalten will. Sie Die am Arbeitsmarkt benachteiligten Gruppen haben wollen permanent Wohlstand verteilen. Aber Wohlstand diese Möglichkeit nämlich nicht, müssen sie aber mit- muss zuerst erwirtschaftet werden, und zwar von Men- finanzieren. Das nenne ich unsozial. schen, die Arbeit haben. Erste Priorität muss sein: Die Menschen müssen gute Arbeit haben und so lange wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) möglich arbeiten können. Das ist die erste Grundvoraus- Die Fortsetzung der Vorruhestandspolitik ist ein Irr- setzung. Wenn Menschen alt werden, brauchen sie Soli- weg. Wir müssen stattdessen alles dafür tun, dass ältere darität und Unterstützung, also einen starken Staat und Beschäftigte möglichst lange, möglichst bis zum Ren- solidarische Sicherungssysteme. Daran werden zumin- tenalter, erwerbstätig bleiben können. Betriebe und Ge- dest wir festhalten. werkschaften müssen branchenspezifische Lösungen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) entwickeln. Wir können es uns aber auch nicht so leicht machen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wie die Union, die glaubt, die Hände in den Schoß legen Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Irmingard zu können. Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Soll es das wirk- lich gewesen sein?) Es wird auch zukünftig Beschäftigte geben, denen es schwerfällt, bis zum Rentenalter durchzustehen. Herr Brauksiepe, was sagen Sie denen denn? Empfehlen Sie, Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE einen Arzt zu suchen, der ein Attest schreibt, damit Er- GRÜNEN): werbsminderungsrente gezahlt wird, die dann aber viel Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zu früh eingestellt wird? Wir brauchen Zwischenlösun- Heute ist jede vierte Person im erwerbsfähigen Alter gen für Beschäftigte, die nicht bis zum Rentenalter ar- über 50 Jahre alt. Bis zum Jahre 2020 wird der Anteil beiten können, aber noch nicht in die Erwerbsminde- dieser Gruppe auf ein Drittel anwachsen. Herr rungsrente aufgenommen werden können. Schneider, deshalb müssen wir uns fragen: Wollen wir mit dieser Herausforderung offensiv umgehen, oder ste- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – cken wir den Kopf in den Sand und kehren zu den alten Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Schade, Strategien zurück – dabei schaue ich in Richtung SPD- dass die bisherigen Möglichkeiten kaum ge- Fraktion –, die sich als falsch erwiesen haben? Meine nutzt werden!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18283

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Wer sich für eine Vollzeitstelle nicht mehr fit genug ten können. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzu- (C) fühlt, muss ab 60 kürzer treten können und die Möglich- stimmen. keit erhalten, eine Teilzeittätigkeit mit einer Teilrente zu kombinieren. (Andrea Nahles [SPD]: Das werden wir leider nicht machen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) Vielen Dank. Jetzt zur FDP. Sie betreibt Klientelpolitik – das wis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sen wir ja schon –, wenn sie einen flexiblen Rentenzu- gang ab dem 60. Lebensjahr fordert. Vizepräsident Dr. : Ich schließe die Aussprache. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Grünen sind davon ja vollkommen frei!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/8542 und 16/9748 an die in der Ta- Sie wissen genau, dass dies nur für Gutverdienende eine gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Option ist; nur sie können das nutzen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sind die Überweisungen so beschlossen. Anton Schaaf [SPD]: Jetzt haben Sie recht!) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: – Gut, jetzt habe ich recht. – Wir Grüne sehen Hand- lungsbedarf vor allem bei Menschen, deren Tätigkeit a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- körperlich oder auch mental belastend ist, die aber auf- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes grund ihres Erwerbsverlaufs bis zum Rentenalter arbei- zur Modernisierung der gesetzlichen Unfall- ten müssen oder auch wollen. Sie sollen die Möglichkeit versicherung (Unfallversicherungsmodernisie- haben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren und ab dem rungsgesetz – UVMG) 60. Lebensjahr ergänzend dazu eine Teilrente zu bezie- – Drucksache 16/9154 – hen. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch un- ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) ser Vorschlag! Das haben Sie vor einem Jahr noch abgelehnt!) – Drucksache 16/9788 – Die Möglichkeit zum unbegrenzten Zuverdienst – Sie Berichterstattung: (B) fordern das – halten wir für falsch. Abgeordneter Gerald Weiß (Groß-Gerau) (D) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum denn? b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Begründung!) richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Wenn die Kombination aus Teilrente und Verdienst über dem Einkommen aus einer Vollzeittätigkeit liegt, wird es – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus doch attraktiv, vorzeitig in Rente zu gehen. Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Wegen der NIS 90/DIE GRÜNEN Steuerprogression nicht unbedingt!) Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die Das nehmen diejenigen in Anspruch, die gut verdienen; Dienstleistungsgesellschaft machen die machen dann zusätzlich Kasse. – zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz-Peter Wir wollen, dass die Menschen so lange wie möglich Haustein, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens in der Erwerbsarbeit bleiben, aber die Chance haben, zu- Ackermann, weiterer Abgeordneter und der sätzlich eine Teilrente zu bekommen. Fraktion der FDP (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in Es ist verräterisch, dass Sie fordern, für den Zuverdienst der Unfallversicherung keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu erheben. – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Herr Kolb, Ihr Konzept enthält keine Absicherung des Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Risikos, erwerbslos zu werden. Sie gehen davon aus, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und wenn das jemand mache, dann mache er das auf ewige der Fraktion DIE LINKE Zeit. Keine Leistungskürzungen bei der gesetzli- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Menschen, die chen Unfallversicherung diese Rente in Anspruch nehmen, liegen schon über dem Grundsicherungsniveau!) – Drucksachen 16/9312, 16/6645, 16/5616, 16/9788 – Die Fortsetzung der geförderten Altersteilzeit ist der falsche Weg. Wir brauchen aber gangbare Lösungen für Berichterstattung: Menschen, die nicht bis zum Rentenalter voll durchhal- Abgeordneter Gerald Weiß (Groß-Gerau) 18284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die band wird durch Beleihung auf eine feste rechtliche (C) Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider- Grundlage gestellt und seine Koordinierungsfunktion spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- gegenüber den einzelnen Unfallversicherungsträgern schlossen. deutlich gestärkt. Das schafft, wie ich meine, mehr Ver- bindlichkeit und reduziert den Abstimmungsaufwand Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- der Beteiligten. Damit ist ein weiterer Schritt getan, um ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär mit Entbürokratisierung und einer besseren Organisation Klaus Brandner für die Bundesregierung. die Effizienz dieses Versicherungssystems zu stärken. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drei weitere wichtige Punkte sind hinzuzufügen: der CDU/CSU) Mit den Regelungen zum Betriebsprüfdienst errei- Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- chen wir einheitliche und effizientere Prüfungen und minister für Arbeit und Soziales: entlasten damit die Arbeitgeber. Das war immer Anstoß Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- der Kritik in den letzten Jahren. gen! Im Reigen der altehrwürdigen Sozialversicherung Durch die Neugestaltung des Vermögensrechts schaf- ist die gesetzliche Unfallversicherung die stille Versiche- fen wir mehr Transparenz bei den Betriebsmitteln, Rück- rung. Über Jahrzehnte hinweg hat sie geräuschlos, zu- lagen und beim Verwaltungsvermögen. verlässig, wirkungsvoll funktioniert und sich als Garant bei der Absicherung gesundheitlicher Risiken des Ar- Die Verpflichtung zur Bildung von Altersrückstellun- beitslebens bestens bewährt. gen bei den Unfallversicherungsträgern ist ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Die Debatte zuvor hat ja Wir wollen dieser Erfolgsgeschichte ein neues Kapi- im Kern Ähnliches deutlich gemacht, worauf wir in Zu- tel hinzufügen. Dafür müssen wir die organisatorischen kunft stärker hinarbeiten müssen. Strukturen der gesetzlichen Unfallversicherung dem wirtschaftlichen Strukturwandel anpassen, Bewährtes (Andrea Nahles [SPD]: Richtig!) also modernisieren. Genau das verfolgen wir mit dem Last, not least – diesen Punkt setze ich zur Betonung vorliegenden Gesetzentwurf. Für seine Erarbeitung galt, bewusst ans Ende dieser kursorischen Zusammenfas- dass die Politik die Inhalte nicht diktiert, sondern ge- sung –: Es ist ganz wichtig, dass wir zu einer gemeinsa- meinsam mit der Selbstverwaltung nach dem Prinzip men Arbeitsschutzstrategie kommen. Bund, Länder und „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“ erarbeitet. In dem Unfallversicherungsträger verpflichten sich auf eine in- Zusammenhang ist sehr deutlich geworden, dass wir der tensive Zusammenarbeit auf Basis gemeinsam festgeleg- Selbstverwaltung gerade in der Sozialversicherung eine (B) ter Arbeitsschutzziele. Weitere Elemente sind eine ver- (D) ganz hohe Verantwortung übertragen. Hierdurch wird besserte Kooperation der Aufsichtsdienste bei der die Eigenverantwortung der Beteiligten gestärkt. Die Beratung und Überwachung der Betriebe sowie die Opti- Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme wird durch mierung des Vorschriften- und Regelwerks. die Politik anerkannt. Es wird deutlich, dass die Prakti- ker in die Erarbeitung einer Gesetzesvorlage rechtzeitig Auch dieser Gesetzgebungsprozess macht deutlich, einbezogen werden. Ich habe dabei ganz besonders den wie wichtig wir den Präventionsgedanken nehmen. Der Berichterstattern der Koalitionsfraktionen, Wolfgang Präventionsgedanke wird am ehesten mit einer gemein- Grotthaus und Gerald Weiß, zu danken, die in vorbild- samen effektiven Strategie zur Minimierung der zukünf- licher Art und Weise in Zusammenarbeit mit dem Minis- tigen Lasten in diesem Sicherungssystem verfolgt. terium an der Erstellung dieses Gesetzentwurfs mitgear- beitet haben. Das war ein mustergültiger Prozess. Dies Meine Damen und Herren, bei der Anhörung der sollte an dieser Stelle erwähnt werden. Sachverständigen sind diese Reformmaßnahmen ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen. Das zeigt: Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind auf dem richtigen Weg. Dort, wo Änderungsbedarf der CDU/CSU) erkennbar wurde, haben wir nachgesteuert. Ich will auch hier einige Punkte kurz ansprechen: Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die Kern- punkte dieser Reform zusammenfassen: Die Aufsicht über den Spitzenverband, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V., wird auf die Wir werden die Zahl der gewerblichen Berufsgenos- Rechtsaufsicht beschränkt. Das war der eindringliche senschaften von 23 auf neun reduzieren. Das ist ein we- Wunsch der Selbstverwaltung. Es liegt nun in der Hand sentlicher Schritt zu mehr Effizienz und Wirtschaftlich- – das will ich ganz klar sagen – der Selbstverwaltung, ei- keit im System. genverantwortlich die notwendigen Effizienzgewinne zu Flankierend zu den Fusionen werden wir den Lasten- erzielen. Es war einhelliger Wunsch der beiden Koali- ausgleich zwischen den gewerblichen Berufsgenossen- tionsfraktionen, diesen Weg zu beschreiten. Das möchte schaften neu regeln. Mehr Solidarität als bisher – das ist ich an dieser Stelle deutlich anmerken. In Sachen unser Ziel. Die alten Rentenlasten müssen auf breitere „Prüfrecht durch den Bundesrechnungshof“ haben wir Schultern verteilt werden. zugesagt, dass wir die gerichtliche Klärung abwarten. Auch an der Spitze ändert sich einiges. Der Zusam- Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte, ist, menschluss der beiden bestehenden Spitzenverbände dass die beratende Mitwirkung der Sozialpartner an der wurde bereits vollzogen. Der neugegründete Spitzenver- Nationalen Arbeitsschutzkonferenz, dem Beschlussgre- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18285

Parl. Staatssekretär Klaus Brandner (A) mium der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrate- tiert und polemisiert worden ist, die aber in diesem Ge- (C) gie, auf das Aufgabenfeld des Vorschriften- und Regel- setzesverfahren überhaupt keine Rolle spielten. Ich habe werks erweitert wird. Auch in diesem Bereich wird also das sehr bedauert, weil das eine sachbezogene Diskus- die Teilhabe der Selbstverwaltung erweitert. sion stark behindert hat. Weiterhin wird im Zuge der Regelungen zum Prüf- Die FDP forderte die Privatisierung der Unfallversi- dienst der Lohnnachweis zur Unfallversicherung abge- cherung, schafft und in das Meldeverfahren zur Sozialversiche- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In Teilen, Herr rung integriert. Hierdurch werden Doppelmeldungen Staatssekretär!) vermieden. Über die Konsequenzen, die daraus im Mel- derecht zu ziehen sind, wurde intensiv und kritisch, auch was wir aus bekannten Gründen ablehnen. gestern in der Ausschusssitzung, diskutiert. Was machen wir wirklich? Wir führen keine neuen Meldungen ein, Den Forderungen des Bündnisses 90/Die Grünen zum sondern wir führen bestehende Meldungen zusammen. Arbeitsschutz trägt der Gesetzentwurf überwiegend Wir führen also keine Stechuhr für Manager ein, wie es Rechnung, insbesondere durch die gemeinsame Arbeits- in einigen Zeitungen heute Morgen zu lesen war. schutzstrategie. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sehe ich an- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ders, Herr Brandner!) NEN]: Unzulänglich!) Insofern ist der Antrag aus unserer Sicht in weiten Teilen Ein Meldeweg, nämlich der von den Arbeitgebern zur erledigt. Ich will aber auch ganz klar sagen, dass wir zu Unfallversicherung, wird abgeschafft. Die Arbeitgeber dem Prinzip stehen, dass die Effizienz der Leistungser- werden hierdurch von Kosten in zweistelliger Millionen- bringung verbessert werden muss und dass Effizienz für höhe entlastet und nicht – das sage ich ganz deutlich –, uns nicht heißt, dass wir die Leistungen kürzen müssen. wie in sicherlich interessengeleiteten Meldungen unter- Wir wollen vielmehr leistungsfähige Strukturen, wir stellt worden ist, belastet. Ich will das ganz ausdrücklich wollen Entbürokratisierung, und wir wollen der Präven- sagen, weil ein Ziel dieses Gesetzes natürlich auch die tion eine ganz besondere Bedeutung beimessen, weil Entbürokratisierung ist, ohne dass die Leistungsfähigkeit durch Prävention Berufskrankheiten erst gar nicht ent- der Unfallversicherung in irgendeiner Weise infrage ge- stehen und Leid und Krankheiten verhindert werden stellt wird. können. Das muss im Fokus einer leistungsfähigen Un- Lassen Sie mich schließlich noch vier weitere Ände- fallversicherung in unserem Land stehen. rungen gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf Den Wandel erkennen und aktiv gestalten – das ist es, kurz ansprechen: (B) was verantwortungsvolle Politik auszeichnet. Mit dem (D) Erstens. Der Übergangszeitraum beim Lastenaus- Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz leisten wir gleich wird von drei auf sechs Jahre verlängert. Damit dazu einen entscheidenden Beitrag. Ich bitte um breite wird unter anderem auch erreicht, dass die Steinkohle- Zustimmung. branche zusätzlich entlastet wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Zweitens. Die Frist für den Aufbau von Altersrück- stellungen bei den Unfallversicherungsträgern wird um Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zehn Jahre verlängert. Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz-Peter Haustein Drittens. Das Moratorium zur Abgrenzung zwischen von der FDP-Fraktion. öffentlicher und gewerblicher Unfallversicherung wird (Beifall bei der FDP) nicht Dauerlösung, sondern um zwei Jahre verlängert. In diesem Zeitraum muss abschließend geprüft werden, ob Heinz-Peter Haustein (FDP): die Regelung sachgerecht ist. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Viertens. Der Spitzenverband wirkt auf Einsparungen Damen und Herren! Sicher haben auch Sie gestern das bei den Verwaltungs- und Verfahrenskosten im gewerbli- Fußballspiel gesehen und sich genauso wie ich gefreut, chen Bereich hin und hat jährlich darüber zu berichten. dass wir gewonnen haben. Insofern ist das ein Stück Transparenz in unserer Arbeit. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- All diese Punkte machen eines deutlich: Konstruktive NEN]: Ja!) Kritik ist uns willkommen. Wir greifen sie auf und set- Es tut übrigens auch gut, diese vielen schwarz-rot-golde- zen Verbesserungen im Gesetzgebungsverfahren um. nen Fahnen zu sehen. Auch das nur nebenbei. Die Anträge der Opposition, die in dem Zusammen- Aber jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie würden eine hang zu behandeln waren, vermögen dagegen aus unse- Karte für ein Fußballspiel erwerben, das erst ein Drei- rer Sicht nicht zu überzeugen. Die Linke wendet sich ge- vierteljahr später angepfiffen wird. Dann kommen Sie zu gen Leistungskürzungen, die hier überhaupt nicht zur diesem Spiel, und es ist kein Ball da. Was würden Sie Diskussion stehen. Sie fordert etwas, was in diesem Ge- dazu sagen? setzentwurf überhaupt nicht thematisiert ist. Ich will an diesem Punkt sagen, dass es in dem Verfahren durchaus (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das hat die FDP Auseinandersetzungen über Dinge gab, über die disku- organisiert!) 18286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Heinz-Peter Haustein (A) Daran habe ich gedacht, als ich mir Ihr Gesetz zur Mo- versicherung gäbe, würden Sie auch auf die Barrikaden (C) dernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung ange- gehen. Bei der Autoversicherung wählen Sie auch den schaut habe. besten Anbieter aus. (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb Trotzdem möchte ich sagen, dass Dr. Joachim Breuer [FDP]: Da fehlt nicht nur der Ball, da fehlt und sein Team gute Arbeit leisten. Aber auch gute Arbeit auch der Rasen! – Andrea Nahles [SPD]: kann man noch verbessern. Das wäre möglich, indem Trotzdem im Finale!) man in diesem Bereich Wettbewerb zulässt. In wesentlichen Teilen hat dieses Gesetz den Namen Außerdem haben wir uns in unserem Antrag erlaubt „Reform“ nicht verdient. Dabei fing alles so hoffnungs- – einige Ausschussmitglieder waren da ganz beleidigt –, voll an. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag, dessen Ti- eine Forderung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aufzu- tel das Wort „Mut“ beinhaltet, Folgendes geschrieben: greifen und einmal die Wegeunfälle zu beleuchten. Wir werden den Auftrag des Deutschen Bundestags (Andrea Nahles [SPD]: Jetzt kommt es!) aus der letzten Legislaturperiode aufgreifen und in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein Konzept für Die Kosten für Wegeunfälle machen bereits einen Anteil eine Reform der Unfallversicherung entwickeln, von 15 Prozent an den besagten 9,6 Milliarden Euro aus. um das System auf Dauer zukunftssicher zu ma- Wir wollen, dass die Wegeunfälle weiter versichert blei- chen. Wesentliche Ziele sind eine Straffung der ben, aber nicht in diesem, sondern in einem paritätisch Organisation, die Schaffung leistungsfähiger Un- finanzierten System, eventuell im Rahmen der Kranken- fallversicherungsträger und ein zielgenaueres Leis- versicherung. Das wäre fair. Denn der Weg zur Arbeit tungsrecht. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Genau da liegt der Hund begraben. Denn das Leis- NEN]: Ist kein Privatvergnügen!) tungsrecht ist in diesem Gesetzentwurf überhaupt nicht gehört zum allgemeinen Lebensrisiko, auf das der Ar- berücksichtigt worden, obwohl es 90 Prozent der Kosten beitgeber kaum Einfluss hat. ausmacht. (Beifall bei der FDP – Markus Kurth [BÜND- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich hat er Ein- Außerdem haben Sie bei den Verwaltungskosten, welche fluss darauf! Arbeitsbedingungen!) die übrigen 10 Prozent ausmachen, das von Ihnen festge- Auch dies sprechen wir in unserem Antrag an. legte Einsparziel von 20 Prozent nicht erreicht. Das Ent- scheidende ist aber, dass Sie das Leistungsrecht aus- Schließlich fordern wir in unserem Antrag, dass die (B) klammern. Deshalb ist es kein gutes Gesetz. Altersrente Vorrang vor der Unfallrente haben sollte und (D) (Beifall bei der FDP) dass das Leistungsrecht zielgenauer sein muss. Das Geld darf nicht nach dem Gießkannenprinzip gleichmäßig Erschwerend kommt hinzu, dass Sie den Unterneh- über alle verteilt werden, sondern wir brauchen es für die men zusätzliche Bürokratie aufbürden. Es sind die Un- schweren Unfälle. ternehmer, die diese Versicherungssäule allein bezahlen. Wir stellen hier einen Antrag vor, der die Unterneh- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mer entlastet. Das ist gut für uns alle. Denn wenn es den NEN]: Aus gutem Grund!) Unternehmen gutgeht, geht es auch den Arbeitnehmern Herr Brandner hat recht. In der Öffentlichkeit ist das gut. Wir sitzen doch zusammen in einem Boot. zwar nicht so bekannt, aber die Unternehmer geben im- (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der merhin 9,6 Milliarden Euro für die gesetzliche Unfall- SPD und der LINKEN) versicherung aus. Das wird immer verkannt. Insbesondere auf der linken (Zuruf von der SPD: Gut so!) Seite des Hauses wird immer wieder die alte Klassen- Das ist eine stattliche Summe. Wenn Sie aber die Büro- kampfkeule herausgeholt. Begreifen Sie doch endlich, kratiekosten erhöhen, werden die Unternehmer einen dass der Arbeitgeber an hochmotivierten guten Arbeit- noch dickeren Hals bekommen als bisher. Laut einer nehmern und nicht am Ausquetschen von Arbeitskraft Umfrage unter Unternehmern wollen 88 Prozent der Un- interessiert ist, was immer behauptet wird. ternehmer die Berufsgenossenschaften privatisieren oder (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der weiß, wo- abschaffen. Wir haben gesagt, dass das so leicht nicht von er redet! Er hat hundert davon!) geht. Aber man wird doch wohl fordern können, dass der Grundsatz, dass Wettbewerb besser ist als ein Monopol, Das Sozialste, was es gibt, ist, Arbeitsplätze zu schaf- auch einmal auf die Berufsgenossenschaften angewendet fen, Leute auszubilden und ordentlich zu bezahlen. Da- wird. Das ist eine Forderung, die auch in unserem An- für stehen wir als FDP. Dafür wäre es gut gewesen, wenn trag enthalten ist. man bei dieser Reform ein Gesetz verabschiedet hätte, das die Unternehmen entlastet und nicht, wie es jetzt ge- Wir könnten die Versicherung von Arbeitsunfällen schieht, weiter – das ist das Schlimme – mit Bürokratie ohne große Probleme dem Wettbewerb zugänglich ma- belastet. chen; wir haben entsprechende Gespräche mit dem GDV und der Münchner Rück geführt. Das wäre ein Punkt, an ( [Spandau] [SPD]: Von jeder dem man Kosten sparen könnte. Wenn es nur eine Auto- Weisheit verschont geblieben!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18287

Heinz-Peter Haustein (A) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Arbeitgeber und Versichertenvertreter in der Selbstver- (C) waltung am besten beurteilen, wo im Arbeitsschutz der (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ein herzliches Schuh drückt. Es genügt, wenn im Rahmen der Rechts- Glückauf aus dem Erzgebirge!) aufsicht überprüft wird, ob alles nach Recht und Gesetz ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge! verläuft. Fachaufsichtliche Weisungen sind nicht not- wendig. (Beifall bei der FDP – Heiterkeit) Nach gründlicher Prüfung haben wir die von der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Selbstverwaltung erarbeiteten Bausteine in den heute Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der vorliegenden Entwurf übernommen. Die Vorgaben ka- CDU/CSU-Fraktion. men von der Politik. Das hatte heilsamen Druck ausge- löst und die Bemühungen in der Selbstverwaltung – sa- (Beifall bei der CDU/CSU) gen wir es einmal so – beflügelt.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Baustein eins ist die neue Organisationsstruktur. Die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Anzahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften wird Herren! Das Struck’sche Gesetz kommt heute sozusagen von heute 23 auf 9 zurückgeführt. Durch Fusionen sollen verschärft zur Anwendung: tragfähige und zukunftsfähige Einheiten entstehen. Synergien sollen genutzt werden. Effizienz und Effekti- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sehr vität sollen gesteigert werden. Die Organisation der gut!) Unfallversicherung – das gilt für die Berufsgenossen- Die Reform der gesetzlichen Unfallversicherung hat im schaften wie für die Unfallkassen – soll die Wirtschafts- parlamentarischen Prozess, gemessen am Entwurf der struktur von heute und von morgen abbilden. Hier hat Bundesregierung, in wesentlichen Punkten Verbesserun- die Selbstverwaltung ein respektables Ergebnis vorge- gen erfahren. Der Kollege Kurth von den Grünen hat legt. Jetzt geht es an die Umsetzung. Das wird nicht gestern im Ausschuss gesagt: Sie haben schon schlech- leichter, aber wir haben das getan, was man gemäß dem tere Gesetze gemacht. – Das ist das größtmögliche Lob Prinzip „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“ tun muss. aus Oppositionsmund. Wir haben dieses Konzept der neuen zukunftsfähigen Berufsgenossenschaften unverändert in das Gesetz hi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Heiter- neingenommen. keit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich war lange genug, viel zu lange Oppositionsabgeord- Baustein zwei: Wir haben die Selbstverwaltungslö- (B) neter. Ich weiß, wo das Limit ist. Übersetzt heißt das: Ihr sung in Form des Vereins, den die Träger der Unfallver- (D) habt es gut gemacht. sicherung gebildet haben, in das Gesetz übernommen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Baustein drei: Der neue solidarische Lastenausgleich der SPD) ist ein Konzept, das ebenfalls von der Selbstverwaltung entwickelt wurde. Wir helfen den von Strukturkrisen ge- Es ist gut gemacht, und daran haben viele Anteil; ich beutelten Branchen, zum Beispiel der Bauwirtschaft, komme noch darauf zu sprechen. nachhaltiger als jemals zuvor. Wir versetzen sie in die Der Grundsatz, den Staatssekretär Brandner noch ein- Lage, die aus Strukturkrisen herrührenden Lasten zu tra- mal hervorgehoben hat, war zentrale Zielvorgabe: Vor- gen. fahrt für die Selbstverwaltung. Ob dieses Prinzip im Ge- setz durchgehalten würde, war für die Union der Einen gordischen Knoten musste die Politik durch- entscheidende Maßstab. Wir können heute mit großer schlagen: Hier ging es um den Verteilungsschlüssel. An- Zufriedenheit sagen: Das Gesetz in seiner endgültigen gesichts extrem widerstreitender Interessen wäre die Form ist vor allem ein Sieg der Selbstverwaltungsidee. Selbstverwaltung überfordert gewesen, selbst zu ent- In diesem Zusammenhang ist eine weichenstellende Ent- scheiden, nach welchem Schlüssel die Faktoren Entgelte scheidung der Großen Koalition die, dass die im Regie- und Neurenten zu gewichten gewesen wären. Wir sind rungsentwurf vorgesehene Fachaufsicht über die gesetz- nach reiflicher Überlegung dabei geblieben, den Vertei- liche Unfallversicherung entfällt. Wir begnügen uns mit lungsschlüssel bei 70 zu 30 – 70 Prozent nach Entgelten der Rechtsaufsicht. Wir wollen Freiraum und Selbstver- und 30 Prozent nach Neurenten – zu belassen. antwortung in der gesetzlichen Unfallversicherung. Wir Wir haben allerdings – der Staatssekretär hat es be- wollen keine staatliche Gängelei. reits gesagt – eine wesentliche Änderung im Ausschuss Am Anfang hatte man vorgesehen, die neue Deutsche beschlossen, die sicherlich nachher auch hier eine Mehr- Gesetzliche Unfallversicherung als öffentlich-rechtliche heit finden wird. Der stufenweise Umstieg in den neuen Körperschaft, gespannt als gemeinsames Dach über die Lastenausgleich wird nicht schon bis 2010, sondern erst gewerblichen Berufsgenossenschaften und die Unfall- bis 2013 erfolgen. Mit dieser längeren Umstiegsfrist, das kassen, der Fachaufsicht des Bundesarbeitsministeriums heißt kleinere Stufen bei längerer Zeitspanne, helfen wir zu unterstellen. Das war der Union zu staatsnah – und den Branchen, die im solidarischen Lastenausgleichssys- nicht nur ihr. Selbstverwaltung braucht Freiraum. Fach- tem die Gebenden sind, deren Solidarität im solidari- aufsichtliche Weisungen passen da nicht. Aus ihrer schen Lastenausgleich gefordert ist. Wir wollen sie for- betrieblichen Erfahrung heraus können Arbeitnehmer, dern, aber nicht überfordern. Zwischen Solidarität und 18288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) Selbstverantwortung muss eine vernünftige Balance Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C) herrschen. Ja, Herr Kollege Müller, wir sitzen schon lange hier Der Staatssekretär hat auch schon über die Alters- herum, wir werden auch noch länger hier sitzen; aber rückstellungen gesprochen. Auch hier haben wir die diese Frage muss wirklich gestellt werden, weil mich Frist verlängert, um nicht unnötigen Druck auf die Bei- heute noch einmal ein Alarmruf von einem großen Wirt- träge zu erzeugen. schaftsverband erreicht hat. Wir haben gestern im Aus- schuss eine Falschinformation erhalten. Das möchte ich Er hat auch vom Moratorium gesprochen: Dass früher hier sehr deutlich sagen. rein öffentliche Unternehmen, die heute börsennotiert sind und am Wettbewerb teilnehmen, ad calendas grae- Zum einen hat der Kollege Brauksiepe mit dem ge- cas den Unfallkassen zugeordnet bleiben sollen und da- druckten Gesetzeswerk in der Hand gesagt, die Melde- mit nicht am solidarischen Lastenausgleichsverfahren pflichten würden bei der Überführung von § 165 teilnehmen, ist für uns nicht ohne Weiteres einzusehen SGB VII in § 28 a SGB IV nicht erweitert werden. Er gewesen. Die Entfristung, die noch im Entwurf stand, hat, wie gesagt, aus der geltenden Fassung zitiert. Das ist wollen wir jetzt durch eine neue Frist ersetzen, bis zu der aber sehr wohl der Fall. Es kommt die Pflicht zur Mel- eine scharfe Evaluierung über die Frage stattgefunden dung folgender Daten hinzu: das in der Unfallversiche- haben muss, wie eine richtige Zuordnung in Zukunft rung beitragspflichtige Arbeitsentgelt – das ist etwas auszusehen hätte. anderes als das in der Rentenversicherung beitrags- pflichtige Arbeitsentgelt –, der Zeitraum, in dem das an- Wir wollen auch nicht, dass der Bundesrechnungshof gegebene Arbeitsentgelt erzielt werden muss, und die den Dachverband der Unfallversicherung prüft. Es geht anzuwendende Gefahrtarifstelle. Das ist eine erhebliche um Geld der Arbeitgeber. Es ist klar, Herr Kollege materielle Veränderung des geltenden Rechts. Haustein, warum das Geld alleine von den Arbeitgebern kommt. Es handelt sich hier um ein abgeleitetes, indivi- (Zuruf des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ duelles Haftungsrecht. Das ist die Begründung für dieses CSU]) System. – Nein, das wird bisher nicht gemeldet. Ich habe extra (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nachgeschaut. Der Verband, der mich heute angerufen NEN]: Genauso ist es!) hat, hat mich in dieser Auffassung ausdrücklich bestä- tigt: Das ist eine erhebliche Ausweitung. In dem Moment, wo es das nicht gäbe, müsste der Ar- beitgeber die Versicherungsprämien privat tragen oder, Zum anderen war die Information falsch, dass diese wenn er es überhaupt könnte, unmittelbar privat für Un- Neuregelung, die Erweiterung der Meldepflichten, erst (B) fälle haften. Das jetzige Vorgehen ist schon systemge- am 1. Januar 2012 in Kraft tritt. Sie ist vielmehr schon (D) recht. ab 1. Januar 2009 gültig. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Aha!) NEN]: Das haben sie nicht begriffen!) Können Sie mir bestätigen, dass meine Auffassung, Da es sich nun aber nicht um Steuergelder, sondern um die ich hier vorgetragen habe, richtig ist, und welche Beitragsgelder der Arbeitgeber, und zwar nur um solche Konsequenzen ziehen die Unionsfraktion und die Regie- handelt, hat auch der Bundesrechnungshof nicht zu prü- rung insgesamt aus der Tatsache, dass mit dieser Ände- fen. Insoweit haben wir auch hier eine Änderung vorge- rung, mit der Überführung vom SGB VII in das SGB IV, schlagen. ganz offensichtlich erheblich mehr Bürokratie verbun- den ist? Ich will ganz kurz auf einen Aspekt eingehen, der zu im Grunde nicht zu akzeptierender Polemik in den letz- ten Stunden und Tagen geführt hat. Künftig wird die Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Lohn- und Arbeitszeitmeldung an die Unfallversiche- Dieser Meinung kann ich mich nicht anschließen. rung wegfallen. Das spart den Unternehmen 50 Millio- (Anton Schaaf [SPD]: Zu Recht!) nen Euro. Ich möchte das hervorheben und daran erin- nern. Zukünftig erfolgt nicht mehr die Meldung der Arbeits- zeit an die Unfallversicherung. Im Grunde genommen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: machen wir aus zwei Vorgängen einen Vorgang. Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Zwischenfrage Ich stelle es einmal ganz plastisch dar – wie schön, des Kollegen Heinrich Kolb? dass ich darauf dank Ihrer Frage aufmerksam machen kann –: Ein Unternehmer hat drei Mitarbeiter: Max Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Müller, 1 750 Stunden, Hugo Meier, 1 600 Stunden, Ja, bitte. Maximilian Huber, 1 500 Stunden. Was ist bisher pas- siert? Der Unternehmer hat die Arbeitsstunden seiner Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mitarbeiter zusammengezählt und seiner Berufsgenos- senschaft gemeldet. Künftig wird der gleiche Unterneh- Bitte schön, Herr Kolb. mer der Rentenversicherung – das ist das Neue; wie ich (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wir vorhin gesagt habe, wird dadurch eine Ersparnis erzielt: sitzen eh schon lange hier herum!) Aus zwei Vorgängen wird einer gemacht – die ihm vor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18289

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) liegenden Daten melden. Deshalb ist auch das frühe In- Manns an der Presse oder des Staplerfahrers – unter- (C) krafttreten dieser Regelung gar kein Problem. schiedliche Gefahrklassen melden. Das schreit doch wirklich nach Mehraufwand. Das können Sie doch nicht Bei dieser Gelegenheit will ich sagen: Kein Mensch übersehen. fordert oder erwartet die flächendeckende Einführung von Stechuhren. Schon gar nicht interessiert eine minu- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) tengenaue Auflistung der täglichen Arbeitszeiten der Ar- beitnehmer. Wer diese Dinge bisher korrekt gemacht hat, Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): wird keinen materiellen Mehraufwand haben. Um aggregierte Zahlen melden zu können, müssen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die Unternehmen doch Daten zusammenzählen, die indi- vidualisiert vorhanden sind. Wenn sie also die Arbeits- Man hat unter der Überschrift „Stechuhren für alle“ ei- verträge von Max Müller, Hugo Meier und Maximilian nen Popanz geschaffen. Wie manche Funktionäre und Huber, die 38 oder 40 Stunden pro Woche arbeiten, ne- Journalisten hier arbeiten, das ist ihrer Verantwortung beneinanderlegen, können sie die Jahresstunden berech- überlassen. Es ist auf jeden Fall übel; das muss man nen. Sie haben diese Daten doch in ihrem Betrieb erfasst. schon sagen. Zukünftig gibt es nur noch einen Vorgang: Sie brauchen sie nicht mehr zusammenzuzählen. Sie geben sie nur an Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Rentenversicherung. Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine weitere Zwi- schenfrage des Kollegen Kolb? Nun zu Ihrer Frage zu den Gefahrklassen. Die Selbst- verwaltung hat hier viele Steuerungsmöglichkeiten und Gestaltungsraum. Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Ja. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bisher!) – Auch in Zukunft; daran ändern sich gar nichts. Viel- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: leicht kann mein lieber Freund Grotthaus nachher noch Bitte. darauf eingehen. Eines muss ich dazu aber noch sagen: Wir haben in Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): der Unfallversicherung nicht nur ein branchengeglieder- Herr Kollege Weiß, ich bedanke mich für die Gele- tes System, sondern auch ein nach Risiken gegliedertes genheit zur Nachfrage. Ich bitte die Kollegen um Ver- System, (B) ständnis. Das ist wirklich ein essenzieller Punkt, der mir (D) heute von einem großen Wirtschaftsverband in sehr (Andrea Nahles [SPD]: Richtig! – ernster Form vorgetragen wurde. Nachdem ich das selbst Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich kenne das geprüft habe, teile ich diese Auffassung. gut!) § 165 SGB VII sieht bisher pauschale Meldungen vor. und zwar aus guten Gründen. Derjenige, der im Betrieb Außerdem sieht er die Möglichkeit vor, dass der Umfang mit Stahlträgern hantiert, unterliegt anderen Risiken als der Meldepflicht durch die Satzung der Berufsgenossen- derjenige, der in der Cafeteria mit Kaffeetassen hantiert. schaft modifiziert wird. Das wird künftig im Rahmen der Das abzubilden, lohnt sich schon. Wenn sich ein Unter- individualisierten Meldung nach § 28 a SGB IV voll- nehmen in der Prävention anstrengt und den die Stahlträ- kommen anders sein. Man muss dann genau ermitteln, ger schleppenden Mitarbeiter besser schützt, dann lohnt was man für den einzelnen Arbeitnehmer meldet. Bisher sich das im Beitrag. Diese Steuerungswirkung wollen gibt es Mitarbeiter mit Vertrauensarbeitszeiten, das heißt wir auch weiterhin haben. Dafür werden aber die Daten Mitarbeiter, deren Arbeitszeiten nicht erfasst werden. gebraucht. Sie müssen doch wissen, was der Mitarbeiter Ich frage Sie: Wie sollen deren Arbeitszeiten denn künf- macht. Diese Grundlagen wie bisher unbürokratisch be- tig erfasst und gemeldet werden? reitzustellen, sollte doch möglich sein. Es ist eine Mär, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) von der flächendeckenden Einführung von Stechuhren zu sprechen. Man ist bisher nicht verpflichtet, für Arbeitnehmer, die weniger als acht Stunden am Tag arbeiten, Aufzeichnun- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Darauf wird es gen zu machen; das Arbeitszeitgesetz verpflichtet zu sol- hinauslaufen!) chen Aufzeichnungen erst bei Arbeitszeiten ab acht Wenn das das Niveau der Diskussion in Deutschland ist, Stunden. Wie soll man mit solchen Fällen künftig umge- dann sage ich nur: Gute Nacht! Das ist Polemik, sonst hen? nichts. Die entscheidende Frage ist: Was meldet man, wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – man eine individuelle Gefahrklasse melden muss? Seit Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kommt auf einem Jahr ist die Situation so, dass zum Beispiel von ei- Wiedervorlage!) nem metallverarbeitenden Unternehmen eine einheitli- che Tarifziffer über alle Entgelte gemeldet wird. In dem – Ja, gerne. – Gewisse Daten braucht man – übertreiben künftig geltenden individualisierten Verfahren müsste darf man es nicht –; das erfordert gerade die Steuerung man wohl für jede Tätigkeit – für die der Sekretärin, des nach Risiken. 18290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) Ich möchte noch kurz das Leistungsrecht ansprechen. (Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles (C) Wenn mir persönlich der Kollege Haustein nicht so sym- [SPD]: Wie oft reden Sie heute noch, Herr pathisch wäre – der Kollege Kolb sowieso –, Schneider?) (Heiterkeit bei der FDP) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): würde ich nicht darauf eingehen. – Wir haben die Re- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! form doch mit gutem Recht gesplittet. Die Arbeitgeber Herr Staatssekretär Brandner hat es schon angesprochen: wenden ein, dass sie 500 Millionen Euro mehr im langen Wir beraten heute auch einen Antrag meiner Fraktion. Er Zeitstrahl bezahlen. Die Einwendungen der Arbeitneh- hat es angekündigt – wir wissen es schon aus dem Aus- mer sind, dass sie weniger Leistungsabsicherungen ha- schuss –: Sie werden diesen Antrag ablehnen. Nichtsdes- ben. Hier gibt es mindestens ein Kommunikationspro- totrotz lassen wir uns an diesem Tag die gute Laune blem, wahrscheinlich auch ein paar Probleme in der nicht versauen. Sache. Ich persönlich meine, die verwaltungskonzeptio- nellen Überlegungen waren noch nicht ausgereift. Wenn Was haben wir in unserem Antrag gefordert? Wir ha- es aber so ist, dann lässt man es eben, bevor man etwas ben erstens gefordert, die Reform des Leistungsrechts Schlechtes macht. Mit der Organisationsstrukturreform von der Organisationsreform abzukoppeln. Das haben machen wir etwas Notwendiges, Gutes und Ausgereif- Sie gemacht. Danke schön. tes. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben zweitens perspektivisch gefordert, dass im Im Leistungsrecht hätten wir etwas Unausgereiftes. Es Rahmen der Reform des Leistungsrechts, die es nun in wäre zwar im Modell schön; aber auf der Straße wäre es der nächsten Legislaturperiode geben soll, nicht reflex- nicht gefahren. Das sollten wir nicht machen. – Hinsicht- artig Leistungen gekürzt werden, sondern dass sie opti- lich der Wegeunfälle ist bei der Union nichts drin. Das miert werden. Wir sollten vor allen Dingen im Blick ha- will ich der guten Ordnung halber noch einmal sagen. ben, dass wir eine verbesserte Anerkennungspraxis von (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Berufskrankheiten brauchen. Das werden wir als Merk- posten in die nächste Legislaturperiode mitnehmen. Sie haben auch gesagt: Die 20 Prozent an Kostenein- sparungen als Zielvorgabe habt ihr nicht geschafft. – Da Wir haben drittens gefordert, die Selbstverwaltung in kann ich mich wirklich nur wundern, Heinz-Peter. Wenn der gesetzlichen Unfallversicherung zu stärken und ins- wir Freiraum und Selbstverantwortung möchten, dann besondere dem Dachverband der Deutschen Gesetzli- (B) kontrollieren die Selbstverwalter, Arbeitgeber und Ar- chen Unfallversicherung, DGUV, weitgehende Autono- (D) beitnehmer. Die Arbeitgeber gucken ganz scharf hin, mie einzuräumen. Sie haben, wie von uns gefordert, von weil es ihr Geld ist; sie kontrollieren die Finanzflüsse der Körperschaftslösung Abstand genommen. Sie haben und die Kosten. Wenn wir allerdings 20 Prozent als Ziel den Versuch, doch noch über die Fachaufsicht zu viel festschreiben, dann verlassen wir diesen Weg, Freiraum Einfluss zu nehmen, letzten Endes aufgegeben. Auch zu geben. Dann können wir auch gleich wieder Fachauf- hier haben Sie unsere Forderungen erfüllt. Danke schön. sichten vorsehen. Diesen Weg wollten wir nicht gehen. Wir haben allerdings ein allgemeines Kosteneinspa- (Beifall bei der LINKEN) rungsziel und eine Berichtspflicht verankert. Das ist ein Wir haben allerdings auch gefordert, auf eine Fest- Hinweis des Gesetzgebers nach dem Motto: Strengt euch schreibung einer bestimmten Anzahl von gewerblichen an, damit aus den Synergien, die wir hier erreichen wol- Berufsgenossenschaften zu verzichten, nicht zuletzt des- len, in Zukunft auch wirklich etwas wird. wegen, weil sich die öffentlichen Berufsgenossenschaf- Insgesamt sind wir mit diesem Gesetzentwurf auf ei- ten von dem, was die gewerblichen bis heute schon frei- nem sehr guten Weg. Es ist ein großes Gemeinschafts- willig erbracht haben, eine dicke Scheibe abschneiden werk. Ich wollte eigentlich noch einigen Damen und könnten. Diese Forderung haben Sie nun nicht erfüllt. Herren ein Dankeschön sagen, aber die Redezeit ist um. Aber die Mehrheit der Berufsgenossenschaften kann of- Bei einem will ich mich trotzdem bedanken, nämlich bei fensichtlich mit den neuen Berufsgenossenschaften le- meinem Ko-Berichterstatter Wolfgang Grotthaus. Es ben, sodass wir das nicht als großen Mangel betrachten. wird immer über eine Krise der Großen Koalition ge- Fazit: Sie lehnen unseren Antrag ab, aber Sie setzen schrieben. Aber an dieser Stelle hat sie sehr gut funktio- ihn in wesentlichen Teilen um. Diese Schizophrenie zu niert. Es war eine freundschaftliche und kollegiale Zu- verstehen, überlassen wir Ihnen. Für die Übernahme un- sammenarbeit. Herzlichen Dank, Wolfgang, für diese serer Vorschläge bedanken wir uns herzlich. gemeinsame Arbeit.

Ich bedanke mich. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Herr Kollege Schneider, erlauben Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Meckelburg? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Schneider von Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): der Fraktion Die Linke. Aber sicher. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18291

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mutmaßung angestellt habe, energisch dazwischengeru- (C) Bitte schön. fen. Sie tun es auch jetzt wieder nicht. Das bestätigt mich darin. Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): (Andrea Nahles [SPD]: Wir sind so sprachlos Herr Kollege, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede den über diese Unterstellung!) Eindruck erweckt, als hätten wir im Gesetzgebungsver- fahren all das, was Sie gefordert haben, umgesetzt. Sau- Weiter begrüßen wir die gesetzliche Fixierung der ge- gen Sie so viel Glück aus der Gesetzgebung, wie Sie meinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie und die können. Aber könnte es nicht vielleicht daran liegen, Einrichtung des Steuerungsgremiums „Nationale Ar- dass Sie möglicherweise in diesem einen Antrag endlich beitsschutzkonferenz“ sehr nachhaltig. Aber wir hätten einmal etwas aufgenommen haben, was der Realität uns an dieser Stelle auch eine stärkere Einbeziehung der nahe kommt? Das wäre vielleicht auch eine Erklärung. Sozialpartner gewünscht, insbesondere ein Stimmrecht für diese beiden Gruppierungen. Nun sind auch diese (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) beiden Gruppierungen damit einverstanden; wir haben nachgefragt. Dann wollen wir jetzt nicht päpstlicher sein Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): als der Papst; das ist dann verzeihbar. Lieber Kollege Meckelburg, wir haben mit Sicherheit Ein anderer Punkt ist das Prüfungsrecht des Bundes- unterschiedliche Auffassungen darüber, was realistisch rechungshofs bezüglich der Finanzen der Deutschen Ge- ist. setzlichen Unfallversicherung. Dazu muss ich sagen: (Beifall bei der LINKEN) Wir haben eine etwas andere Auffassung dazu, was ein Parlament leisten sollte. Wieder einmal ziehen Sie sich Ich denke, das sollten wir an dieser Stelle nicht vertiefen. auf folgende Position zurück: Wir warten ab, was ein Ich freue mich allerdings, dass Sie einräumen, dass wir Gericht entscheidet. – Hier ist das Parlament; hier wer- tatsächlich einen äußerst realistischen Antrag gestellt ha- den die Gesetze gemacht und nicht bei Gerichten. Das ben, aus dem Sie einige Punkte übernehmen konnten. Da zumindest ist die Auffassung der Linken zu diesem Pro- herrscht große Freude auf beiden Seiten. Sie lehnen zwar blem. unseren Antrag ab. Aber das ist uns völlig egal. Die Hauptsache ist, dass sich die Erfüllung unserer Forde- (Beifall bei der LINKEN) rungen im Gesetz letztendlich wiederfindet. Das ist der zentrale Punkt. Diese Botschaft wollte ich herüberbrin- Nichtsdestotrotz: Wir werden diesem Gesetzentwurf gen. zustimmen, auch deshalb, weil die Kollegen der Großen Koalition sich nun tatsächlich – dies ist insbesondere (B) (Beifall bei der LINKEN) von Herrn Weiß angesprochen worden – auf einen ernst- (D) haften Dialog mit allen Beteiligten eingelassen und auf- Es bleibt aber auch ein Rest von Kritik. grund der Hinweise, der Kritik und der Anregungen (Andrea Nahles [SPD]: Oh!) noch wirklich substanzielle Änderungen an dem ur- sprünglichen Entwurf vorgenommen haben. Wir verbin- Die Frage des Betriebsprüfungs- und Melderechts ist den mit dieser Zustimmung die Hoffnung, dass Sie schon angesprochen worden. Es ist für mich immer noch ebenso im Bereich der Reform des Leistungsrechts einen nicht klar, ob es eine Entlastung gibt oder nicht. solchen Dialog führen werden. Sie haben es angekündigt (Andrea Nahles [SPD]: 40 Millionen und gesagt – darin stimme ich Ihnen nachdrücklich zu –, Entlastung!) dass diese Reform nur im Dialog erfolgreich sein kann. Aber ein Dialog ist nicht das, was ich bisweilen auf Auch die heutige Debatte hat nicht zur Erhellung bei- Staatssekretärsseite erlebt habe, wenn dann etwas ober- getragen. lehrerhaft gesagt wird: Wir müssen die Leute besser Übrigens, Herr Brandner, es sind nicht immer nur die überzeugen. – Das ist kein Dialog. So werden Sie keinen interessierten Kreise, die etwas Falsches sagen. Vor ge- Erfolg haben. rade einmal zwei Wochen hat Ihr Staatssekretärskollege Nun hätte ich mir gewünscht, dass Kollege Hans- Lersch-Mense noch gesagt, die Umstellung werde etwas Peter Bartels von der SPD heute anwesend ist, der dem mehr als 3 Millionen Euro kosten und es sei mit höheren Wissenschaftlichen Dienst Erstaunliches entlockt hat, laufenden Kosten von 100 000 Euro zu rechnen. Das nämlich die Tatsache, dass die Ablehnungsquote meiner wäre aus meiner Sicht vernachlässigbar. Aber es ist eine Fraktion niedriger als 50 Prozent ist, was Vorlagen der eindeutig andere Aussage als die, von Einsparungen in Bundesregierung bzw. der Großen Koalition anbelangt. Höhe von 54 Millionen Euro zu sprechen. Das irritiert mich schon. Ich frage mich, warum man diesen Punkt (Andrea Nahles [SPD]: Aber nicht in unserem trotz aller Unklarheiten so vehement durchsetzen muss. Ausschuss!) Es fällt uns schon auf, dass Daten statt betriebsbezo- Er sieht sich damit in seinem Ergebnis bestärkt, dass die gen künftig individualisiert bezogen auf die einzelnen zivilisatorische Kraft der parlamentarischen Praxis heil- Arbeitnehmer erhoben werden. Das könnte die Voraus- sam sei. Er spricht davon, dass der Parlamentarismus er- setzung dafür sein, dass künftig die Unfallversicherung zieht. Ich muss Ihnen sagen: An dieser Stelle möchte ich oder Teile der Unfallversicherung paritätisch finanziert dem Kollegen Bartels aus zwei Gründen nachhaltig wi- werden. Bis heute haben Sie noch nie, wenn ich diese dersprechen. 18292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Erstens. Meine Fraktion benötigt an dieser Stelle (Beifall bei der SPD) (C) keine Erziehung; Warum das so ist, hat Herr Weiß versucht, Ihnen, Herr (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Doch! Kolb, zu erklären. Ich glaube aber, auch dem Herrn Das haben wir gerade wieder gemerkt, und Schneider muss man das noch einmal erklären. Es gibt zwar heftig!) nämlich einen Grund, warum man keine paritätische Fi- nanzierung der Kosten bei Wegeunfällen vorsehen kann. denn für uns ist der höchste Souverän der Wähler. Nur Die gesetzliche Unfallversicherung bewirkt die Haf- an den Interessen der Wähler orientiert werden wir ent- tungsablösung für die Unternehmer. scheiden, ob wir einem Gesetzentwurf zustimmen oder nicht. (Andrea Nahles [SPD]: Richtig!) (Beifall bei der LINKEN) Darum zahlen sie sie alleine, Herr Schneider. Deshalb Dann ist es uns völlig egal, ob dieser letztlich von der macht es überhaupt keinen Sinn, die paritätische Finan- Großen Koalition oder von den Kolleginnen und Kolle- zierung hier ins Spiel zu bringen. gen von den Grünen oder auch von der FDP kommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auch der FDP haben wir schon des Öfteren zugestimmt. und bei der SPD) Zweitens. Großer Optimismus ist leider für zwei Drit- Warum machen Sie das? Wollen Sie irgendwen auf tel dieses Hauses überhaupt nicht angebracht. Wir haben dumme Gedanken bringen? Wollen Sie eine gesell- einmal die Gegenfrage gestellt, wie oft Sie Vorlagen von schaftliche Debatte anzetteln, an der wir alle – vielleicht uns zugestimmt haben. mit Ausnahme von Herrn Haustein – kein Interesse ha- (Anton Schaaf [SPD]: Kann ich Ihnen auch ben können? Das ist kurios. sagen, Herr Schneider!) (Anton Schaaf [SPD]: Ganz genau!) Der Wissenschaftliche Dienst wird auf Ergebnisse kom- So viel vorweg. men, die sich – wenn überhaupt – allenfalls im Promille- bereich bewegen werden; denn Sie lehnen ja grundsätz- Grundsätzlich ist dieser Gesetzentwurf sinnvoll: ers- lich alles ab, nur weil es im Zweifelsfalle von uns tens weil die Verteilung der 1,3 Milliarden Euro Über- kommt. altlast zwingend notwendig ist. Zweitens besteht die Hoffnung, dass die Verringerung der Zahl der Berufsge- (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Das hängt mit der nossenschaften zumindest mittelfristig Einsparungen im Qualität zusammen! – Dr. Heinrich L. Kolb Verwaltungsbereich erbringt. Drittens ist es zu begrüßen, [FDP]: Da geht es uns aber nicht besser, Herr (B) dass mit der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstra- (D) Schneider!) tegie und mit der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz Vor diesem Hintergrund werden Sie weiter damit le- eine Plattform für die Weiterentwicklung im Bereich der ben müssen, dass wir dann, wenn wir es für richtig und Prävention geschaffen wurde. für die Wähler für wichtig halten, Ihren Vorlagen zu- Wir werden dem Gesetzentwurf allerdings trotzdem stimmen werden. Herr Weiß wird es verkraften, dass nicht zustimmen, sondern uns enthalten; denn wir sind sein Wunschkoalitionspartner das diesmal nicht tut – er der Auffassung, dass insbesondere im Bereich der Prä- hat dies im Ausschuss schon sehr bedauert – und dass vention wesentlich mehr hätte getan werden können und wir in diesem Fall einmal einspringen werden. auch mehr hätte getan werden müssen. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Wenn die Regierungsfraktionen es schon nicht geschafft haben, das Leistungsrecht zu reformieren, hätten sie we- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nigstens das in Angriff nehmen müssen; denn in einem Das Wort hat der Kollege Markus Kurth vom Bünd- sind wir uns doch wohl einig: Die wirksamsten Möglich- nis 90/Die Grünen. keiten zur Kostenverringerung im Bereich der Unfallver- (Andrea Nahles [SPD]: Jetzt wird es sicherung sind ein Arbeitsunfall, zu dem es gar nicht erst spannend!) kommt, und eine Berufserkrankung, die gar nicht erst auftritt. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In diesem Zusammenhang hätten Sie die Erkenntnisse Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! De- der Expertenkommission „Die Zukunft einer zeitgemä- mokratie lebt vom Streit. Das ist ein wichtiger Nährbo- ßen betrieblichen Gesundheitspolitik“ zu Rate ziehen den. Aber manchmal ist es auch gut, dass bei wichtigen können, ja müssen. Diese Kommission hat nämlich be- Grundfragen der sozialen Sicherung fraktionsübergrei- reits im Jahr 2004 festgestellt, dass zunehmend nicht die fend, was die Grundprinzipien anbelangt, ein relativer Mensch-Maschine-Schnittstelle, sondern die Mensch- Konsens herrscht. Den stelle ich, was die gesetzliche Mensch-Schnittstelle Ausgangspunkt für arbeitsbedingte Unfallversicherung anbelangt, fest, jedenfalls für fast Erkrankungen ist. Das heißt konkret: Burn-out-Syn- das gesamte Haus bis auf die FDP-Fraktion, die – ich er- drom, Stresserkrankungen, psychische Erkrankungen laube mir, den Kollegen Weiß zu zitieren – als Marktsek- und seelische Erkrankungen gewinnen gegenüber klassi- tierer im Bereich der Unfallversicherung allein dasteht. schen Berufskrankheiten wie Muskel- und Skelett- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18293

Markus Kurth (A) erkrankungen an Bedeutung. Das spiegelt die schrump- chen, dies in den Gefahrklassen abzubilden; denn wenn (C) fende Bedeutung von Branchen wie der Bauindustrie sich in den Beiträgen für die Unfallversicherung nieder- oder des verarbeitenden Gewerbes und die zunehmende schlägt, welcher Stress am Arbeitsplatz herrscht, wird es Bedeutung des Dienstleistungssektors wider. Fortschritte in Richtung „guter Arbeit“ geben. Dann wird es nicht mehr so schlechte Arbeitsbedingungen ge- Wenn zum Beispiel die Mitarbeiter eines Callcenters ben, wie ich dies am Beispiel Callcenter deutlich ge- ihre Line immer mit zehn eingehenden Anrufen voll ha- macht habe, wo man unter extremem Druck steht. Viel- ben und unter wahnsinnigem Stress stehen und der Inha- mehr wird es dann Arbeitsumgebungen geben, die die ber dieser Bude die Beschäftigten unter Druck setzt, gibt Leistungsfähigkeit erhalten. Das ist übrigens im Inte- es natürlich stressbedingte Erkrankungen. Dieser beson- resse der Arbeitgeber. Die Arbeitgeber unterschätzen deren Entwicklung schenken wir zurzeit viel zu wenig diesen Bereich extrem. Das Risiko bei psychischen Er- Aufmerksamkeit. krankungen ist sogar weitaus größer, weil der Arbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ausfall – anders als zum Beispiel bei Erkrankungen des Bewegungsapparats – nicht sofort eintritt. Die Krankheit Ich will an die Zahlen erinnern, die ich bereits in der ers- tritt schleichend auf; auch die Produktivität sinkt schlei- ten Lesung angeführt habe: Laut Berufsverband Deut- chend. Schon vor dem Arbeitsausfall ist die Leistungsfä- scher Psychologinnen und Psychologen ist der Anteil higkeit am Arbeitsplatz gemindert. psychischer Erkrankungen, gemessen an allen berufsbe- dingten Erkrankungen, im Jahr 2005 auf 10,5 Prozent Lassen Sie uns also nach Verabschiedung der Organi- gestiegen. Die wohl auch als objektiv zu bezeichnende sationsreform in einem weiteren Schritt das Thema „Ar- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin be- beitssicherheit und Arbeitsschutz“ angehen. Für die ziffert den Ausfall an Bruttowertschöpfung durch psy- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Prävention nicht nur chisch bedingte Erkrankungen mit 7,0 Milliarden Euro; ein Wort in Sonntagsreden; wir machen durch unsere das entspricht immerhin 0,3 Prozent des Bruttoinlands- Konzepte und unseren Antrag Ernst damit. produkts. Das heißt, wenn wir in diesem Bereich in Prä- ventionsstrategien investieren, dann ist das von volks- Vielen Dank. wirtschaftlichem Nutzen, vom Nutzen für die Personen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mal ganz abgesehen.

Wenn wir diese Zahlen ernst nehmen würden, hätten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wir psychische Erkrankungen in die gemeinsame deut- Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus von sche Arbeitsschutzstrategie aufnehmen müssen. Das der SPD-Fraktion. hätte nichts gekostet; das hätte man machen können. Au- (B) (D) ßerdem hätte man im Rahmen der Arbeitsschutzstrategie (Beifall bei der SPD) Strukturziele vorgeben müssen. Man hätte das Leitbild „Gesundheitsfördernde Arbeitssituation“ zum Ziel erhe- Wolfgang Grotthaus (SPD): ben können. Heutzutage haben berufsbedingte Krank- heiten nämlich meistens nicht nur eine, sondern mehrere Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ursachen. ren! Ich möchte gleich am Anfang festhalten, dass dieser Tag ein guter ist, nicht nur weil wir die gesetzliche Un- Was geschieht stattdessen? Es gibt keine Reaktion auf fallversicherung im Organisationsteil reformieren, son- diesen Trend. Das ist wirklich bedauerlich. Die Ziele der dern auch weil ich hier große Einstimmigkeit festgestellt gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie sind nicht habe. Das ist in den Jahren, in denen ich im Bundestag innovativ; das hat uns ein Sachverständiger bestätigt. Es bin, sehr selten vorgekommen. Es deutet aber darauf hin, gibt keine Beteiligung der gesetzlichen Krankenkassen dass die Zielproblematik erkannt worden ist und dass im Rahmen der gesetzlichen Arbeitsschutzstrategie; versucht wurde, auf einen Nenner zu kommen. Dies war das haben Sie weit zurückgewiesen. Ich meine, dass die nur möglich, weil sich die Regierungskoalition beim Re- Kooperation zwischen den Sozialversicherungsträgern ferentenentwurf und bei den Überlegungen der Bund- intensiviert werden müsste; denn die Krankenkassen Länder-Kommission zum Teil quergestellt und immer haben Erfahrungen im Bereich der betrieblichen Ge- genau definiert hat, was sie überhaupt will. Kollege sundheitsvorsorge. Außerdem sind die Sozialpartner in Weiß hat mich gerade gelobt. Ich kann nur sagen: Herzli- der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz nicht stimmbe- chen Dank! Aber das Kompliment muss ich zurückge- rechtigt – darauf hat Herr Schneider schon hingewiesen –, ben, Gerald. obwohl das für Fortschritte im Bereich der Prävention wichtig gewesen wäre. Das heißt, dass das Ziel der Prä- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) vention, auch wenn Herr Brandner es in seiner Rede an- Wir gehen einmal zusammen ein Bier trinken, wenn das gesprochen hat, bei Ihnen seinen Platz vorwiegend in Gesetz verabschiedet ist. Sonntagsreden hat, was bei der Gesundheitspolitik ähn- lich ist. Das ist bedauerlich. Wir tragen mit dieser Organisationsreform einer ge- änderten Wirtschaftsstruktur, dem Wandel von der In- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dustrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, Rechnung. Wir Ich meine, dass wir bei der Anerkennung von Berufs- vollziehen eine Modernisierung der Verwaltungsstruktu- krankheiten in einem weiteren Schritt psychische Er- ren, und wir regeln – das ist ganz wichtig – die Altlasten- krankungen berücksichtigen müssen. Wir müssen versu- problematik. 18294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Wolfgang Grotthaus (A) Lassen Sie mich zur Altlastenproblematik eines sagen Damen und Herren, so geht es nicht. Erst fasste das Gre- (C) – das ist schon deutlich geworden –: Wir haben hier mium einen einstimmigen Beschluss, und dann wurde keine Lösung gefunden, die alle zufriedenstellt. Es gibt versucht, in die Politik hineinzuwirken, und es wurde ge- Geber, die sich darüber beschweren, dass die Beträge zu sagt: Ihr müsst uns folgen. – Dazu sagen wir in aller hoch seien. Es gibt Nehmer, Berufsgenossenschaften, Deutlichkeit: Nein, es bleibt bei neun Berufsgenossen- die sich darüber beschweren, dass die Beträge zu niedrig schaften. Wenn sich die Berufsgenossenschaften nicht seien. Ich sage es einmal in meinem Ruhrgebietsdeutsch: einigen können, dann wird zu gegebener Zeit der Ge- Das Hinterteil ist immer hinten, und es wird sich immer setzgeber tätig werden müssen. Diese Position haben wir einer finden, der da reintritt. – Wir müssen mit dieser auch im Hinblick auf den Ausschussbericht als Formu- Entscheidung leben. Ich glaube aber, dass diese Ent- lierungshilfe weitergetragen. scheidung richtig ist. Wir haben damit den größtmögli- chen Nenner, also die größtmögliche Übereinstimmung, Nun will ich auf die Beiträge der Kolleginnen und gefunden; das wird uns von den Betroffenen signalisiert. Kollegen der Opposition eingehen. Herr Kollege Auch die Streckung des Übergangszeitraumes ist auf Haustein, am besten hat mir Ihr „Glück auf!“ gefallen. großes Verständnis und große Zustimmung gestoßen. Wie Sie hören können, komme ich aus dem Ruhrgebiet. Da Sie sehr oft „Glück auf!“ sagen, fordere ich Sie auf: Ich möchte mich bedanken, als Erstes beim Dachver- Setzen Sie sich weiterhin für den Erhalt der Steinkohle band der Berufsgenossenschaften und öffentlichen Un- ein! Das wäre mir am sympathischsten. fallkassen. Ich will sehr offen sagen: Hier wurde ganz tolle Vorarbeit geleistet. Diese Vorarbeit war nur mög- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) lich, weil wir, die Regierungskoalition, von Anfang an Sie haben ferner das Stichwort „Fußball“ aufgegrif- gesagt haben: Selbstverwaltung über alles! Wir werden fen. Wir sind im Finale, ob mit Ball oder ohne Ball. Kurs halten und dies durchziehen, aber ihr müsst bitte schön mitarbeiten. Macht Vorschläge und nehmt eure (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Problem ist Mitglieder mit, so wie es bei der Selbstverwaltung üb- das Luftgitarrenspiel!) lich ist. – Deswegen konnten wir auf vieles zurückgrei- Ich glaube, wir wären in das Finale auch ohne Ball ge- fen, was die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung kommen, wie Sie formuliert haben. Jetzt sind wir bei der im Vorfeld dieser Gesetzgebung erarbeitet hat. Endabstimmung über die gesetzliche Unfallversicherung Mein Dank gilt auch dem Ministerium. Wir waren ebenfalls im Finale. nicht immer einer Meinung; aber das war auch gut so. (Andrea Nahles [SPD]: Ganz genau!) Denn wenn man von unterschiedlichen Standpunkten ausgeht und strittig diskutiert, führt das letztlich dazu, Gestern war das Fußballspiel gut, und heute sind die (B) (D) dass man sich auf einen Kompromiss einigt, der für alle zweite und dritte Lesung dieses Gesetzentwurfes gut. Ich tragbar ist. Auch wir haben uns von unterschiedlichen wäre sehr angetan, wenn Sie diesem Gesetzentwurf zu- Standpunkten aus angenähert und eine Kompromisslö- stimmen würden. sung – ich sage bewusst: eine Kompromisslösung – ge- (Beifall bei der SPD) funden, mit der wir leben können und mit der das Minis- terium leben kann. Zum Leistungsrecht. Lassen Sie mich deutlich ma- chen: Wir haben das Leistungsrecht bewusst ausgeklam- Das Struck’sche Gesetz ist schon angesprochen wor- mert; denn es war nicht umsetzbar. Der Kollege Weiß den; Gerald, herzlichen Dank dafür! Das deutet darauf hat bereits zwei Zahlen genannt, die sich widersprechen. hin, dass dieses Plenum gegenüber der Ministerialbüro- kratie nicht so machtlos ist, wie es von der Presse oft in Da Sie die Bürokratiekosten kritisiert haben, möchte die Öffentlichkeit transportiert wird. ich Sie auf Folgendes hinweisen: Stellen Sie sich vor, das jetzige Leistungsrecht bestünde noch 50 Jahre. Ein Ich will einen Punkt ansprechen, der noch ein wenig 18-Jähriger oder eine 18-Jährige, der bzw. die heute ver- kritisch ist unfallt, würde aufgrund des jetzigen Leistungsrechts bis (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE zum Lebensende alimentiert. Jemand, der in zwei Jahren LINKE]: Nur Mut! Öfter so!) den gleichen Unfall hat, würde auf der Grundlage eines anderen Leistungsrechts alimentiert. Ich frage Sie: Wel- – ich weiß, dass jetzt der eine oder die andere außerhalb che Bürokratiekosten fallen dann an, und wie kann ge- des Plenarsaals sehr genau zuhören wird –: die Zahl der währleistet werden, dass dann keine Mehrausgaben ent- Berufsgenossenschaften. Im ersten Entwurf wurden stehen? sechs Berufsgenossenschaften genannt. Dann wurde an uns die Bitte herangetragen, diese Zahl zu erhöhen. Da- Erhöhen sich die Bürokratiekosten aufgrund der raufhin haben wir die Berufsgenossenschaften aufgefor- neuen Meldepflicht? Nein. Der Normenkontrollrat hat dert, sich zu einigen, allerdings auf jeden Fall auf eine gesagt – ich gehe davon aus, dass Sie diese Zahlen verin- einstellige Zahl. nerlicht haben; denn sie sind in der Ausschusssitzung ge- nannt worden –, dass durch das neue Meldeverfahren Wie wir wissen, ist die höchste einstellige Zahl neun. 52 Millionen Euro eingespart werden, und die Bertels- Man hat sich bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallver- mann-Stiftung geht von 30 bis 40 Millionen Euro aus. sicherung einstimmig – ich betone: einstimmig – auf neun Berufsgenossenschaften geeinigt. Dann sagte eine Wenn zwei unabhängige Institutionen sagen, dass es kleine Berufsgenossenschaft: Wir wollen nicht. – Meine für Unternehmer günstiger wird, aber ein Unternehmer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18295

Wolfgang Grotthaus (A) sagt, dass es für ihn nicht günstiger wird, dann kommt (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Nein! – (C) man normalerweise zu dem Schluss, dass ein anderes In- Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Nein! – teresse verfolgt wird als das, Kosten einzusparen. Dann Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – wird vermutlich versucht, den Besitzstand zu wahren, Heiterkeit – Anton Schaaf [SPD], an die CDU/ die eine oder andere Funktion zu behalten oder Funktio- CSU gewandt: Ihr habt doch auch den Metz- näre zu schützen; das sage ich hier so deutlich. Das kann ger! – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Diese nicht die Zielsetzung der Reform eines Gesetzes sein. Schärfe wäre nicht nötig gewesen! – Heiter- keit) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]) – Nun wehrt euch nicht dagegen! Es ist möglich. Sie sagen, der Weg zur Arbeit müsse privat versichert (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Keine Drohun- werden. Ich frage Sie, wie das bei wechselnden Baustel- gen, Herr Grotthaus!) len sein soll. Ich sage auch für unseren Koalitionspartner Man sollte keine Möglichkeit ausschließen! Aber wir sa- ganz deutlich: Der Weg zur Arbeit gehört zum Beruf, gen in aller Eindeutigkeit: Das System der gesetzlichen und das ist deshalb der Berufsunfallversicherung ange- Unfallversicherung ist – das ist deutlich geworden – ein gliedert. Davon werden wir nicht abgehen. anderes System als die anderen Sozialversicherungssys- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ teme. Von daher sagen wir: Mit uns ist so etwas nicht zu CSU und der LINKEN) machen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf Die Zahlen von Herrn Lersch-Mense stimmen, Kol- Brauksiepe [CDU/CSU] – Volker Schneider lege Schneider: Einmalige Umstellungskosten von [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Den Satz wollte 3 Millionen Euro, dann zunächst Mehrkosten von ich hören!) 130 000 Euro im Monat. Ich habe Ihnen aber gerade die Zahlen von der Bertelsmann-Stiftung und vom Normen- Ich freue mich, dass wir heute die breitmöglichste Zu- kontrollrat genannt. Von daher gehen wir davon aus, stimmung des Hauses bekommen werden. Wir sind auf dass diese Mehrkosten von 130 000 Euro im Monat zwar einem guten Weg. Wir werden auch, wenn wir uns dann anfallen werden, dass aber, wenn die Umstellung been- mit den Leistungen beschäftigen, trefflich über den rich- det sein wird, Einsparungen möglich werden, die die tigen Weg streiten. Wenn wir dabei genauso weit kom- Mehrkosten mehr als kompensieren werden. men, werden wir sagen können: Wir haben toll gearbei- tet. Kollege Schneider, Sie sagen, wir sollten Ihrem An- (B) trag zustimmen. Schon vor zwei Jahren haben der Kol- Herzlichen Dank. (D) lege Weiß und ich auf einer Veranstaltung von Verdi deutlich gesagt, was wir wollen. Dies findet sich in dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, wieder. Ihr der CDU/CSU) Antrag ist ein Jahr alt. Es ist für uns nicht wichtig, uns darüber zu streiten, wer das Erstgeburtsrecht hat. Wichti- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ger sind die Inhalte. Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von der CDU/CSU-Fraktion. (Elke Reinke [DIE LINKE]: Das ist beim Min- destlohn genauso!) (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen ist es mir eigentlich – ich würde einen drasti- Max Straubinger (CDU/CSU): scheren Ausdruck wählen; aber der passt nicht in dieses Hohe Haus – egal, wer das Erstgeburtsrecht hat. Wir Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kolle- wissen, wie wir um das, was jetzt auf dem Tisch liegt, gen! Wir sind in der Diskussion über das Unfallversiche- kämpfen mussten. rungsmodernisierungsgesetz auf der Zielgeraden: Wir werden es heute in zweiter und dritter Lesung verab- Wenn Sie sagen, wir könnten Ihrem Antrag zustim- schieden. Ich möchte ausdrücklich betonen: Dieses Ge- men, muss ich Ihnen sagen: Nein, unser Gesetz geht wei- setz ist entgegen den Behauptungen der Kolleginnen und ter. Es beinhaltet viel mehr Facetten als das, was Sie in Kollegen der FDP ein gutes, ja ein wegweisendes Ge- den vier, fünf Punkten Ihres Antrags aufgezeigt haben. setz. Von daher werden wir den Antrag der Linken ablehnen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und genauso wie wir den Antrag der FDP und den Antrag der der SPD – Andrea Nahles [SPD]: Jawohl! – Grünen ablehnen werden. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sehen viele Zur Möglichkeit einer paritätischen Finanzierung. anders!) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Wir straffen mit diesem Gesetz die Organisation der Da will ich jetzt aber was hören!) Unfallversicherung: statt 23 gewerblichen Berufsgenos- senschaften werden es zukünftig nur noch 9 sein. Noch Natürlich ist eine paritätische Finanzierung möglich – nicht angesprochen worden ist, dass die Zielstellung for- genauso wie es möglich ist, dass Sie, Herr Schneider, in muliert worden ist, dass auch die Zahl der Unfallversi- zwei Jahren in die CDU eintreten. cherungsträger in unserem Lande zukünftig reduziert 18296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Max Straubinger (A) wird, und zwar auf höchstens 16. Auch das ist ein ent- der Arbeitsförderung beitragspflichtige Arbeitsent- (C) scheidender Beitrag dieses Gesetzes. gelt in Euro Ein Zweites ist, dass wir die Altlastenproblematik lö- und die geleisteten Arbeitsstunden zu melden sind. – sen, und zwar indem wir mehr Solidarität einfordern. Dies ist vergangenes und jetzt neues Recht. Hier gibt es Mehr Solidarität – da gebe ich dem Kollegen Grotthaus kaum einen Unterschied. recht – bedeutet, dass manche Berufsgenossenschaft, die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schauen Sie sich bisher durch einen sehr niedrigen Beitrag glänzen einmal Art. 4 Ziffer 2 Buchstabe a an! Da steht konnte, ihren Beitrag etwas wird anheben müssen, damit das genau drin!) die Berufsgenossenschaften, die unter dem Strukturwan- del zu leiden haben – etwa die Berufsgenossenschaften Herr Kollege Kolb, deshalb kommt der Nationale von Bergbau und Bauwirtschaft –, entlastet werden. Ich Normenkontrollrat ja auch zu seiner Einschätzung. Ich glaube, das ist gelebte Solidarität und Ausdruck unseres zitiere aus seiner Stellungnahme: Sozialstaatsprinzips. … auch zu Entlastungseffekten bei den Unterneh- men. Die arbeitnehmerbezogene Meldepflicht er- Wir wollen den Überaltlastenausgleich so reformie- höht die Transparenz und wird künftig den Auf- ren, dass er wirkt – gerade auch für die Bauberufsgenos- wand für Unternehmen, die von „Vor-Ort- senschaften. Meines Erachtens ist der Schlüssel dafür Prüfungen“ betroffen sind, reduzieren. richtig gewählt. Er wurde im Übrigen vom Gesamtver- band der Unfallversicherungsträger errechnet. In diesem Das ist hier letztendlich auch die Botschaft, Sinne ist das auch eine Lösung der Selbstverwaltung, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er konnte dazu über die aber die Politik mit zu entscheiden hat. Ich noch gar nicht Stellung nehmen!) glaube, sie hat richtig entschieden – auch im Sinne der vielen kleinen Unternehmer in unserem Land, weil Un- nämlich die Botschaft, dass damit Bürokratie abgebaut ternehmer mit bis zu fünf Beschäftigten von diesem wird. Herr Kollege Kolb, das sollten auch Sie zur Kennt- Überaltlastenausgleich ja kaum betroffen sind. Dement- nis nehmen. sprechend konnte dies meines Erachtens sehr zielfüh- Diese Bundesregierung hat sich ja verpflichtet, für rend gelöst werden. Entbürokratisierung zu sorgen. Erste Erfolge wurden be- reits erzielt. Mit diesem Gesetz wird ein weiterer Schritt Ich glaube, es ist auch wichtig, zu erwähnen, dass da- dazu unternommen. mit Maßnahmen der Entbürokratisierung verbunden sind. Das wurde heute ja schon vielfältig dargelegt, und Ich glaube, dass es auch entscheidend ist, darzustel- es wurden Befürchtungen geäußert, dass das mehr Büro- len, dass das Moratorium – sprich: die Nichteinbezie- (B) kratie bedeutet. hung von bisher noch öffentlichen Unfallversicherungs- (D) trägern, zum Beispiel der Telekom, die jetzt am Markt Hinsichtlich der Meldepflichten möchte ich ausdrück- teilnehmen – nicht unbegrenzt gilt. Ich glaube, das Ent- lich verdeutlichen, dass die Neuregelung kaum eine Än- scheidende ist, dass bis zum Jahr 2011 eine Evaluation derung gegenüber der bisherigen gesetzlichen Regelung zu erfolgen hat. Im Jahr 2011 wird dann entschieden, ob bedeutet. Herr Kollege Kolb, in § 165 SGB VII wird sie weiterhin selbstständig bleiben oder in die gewerbli- nämlich formuliert – wohlgemerkt: das ist bisheriges chen Berufsgenossenschaften eingegliedert werden bzw. Recht –: zumindest am Überaltlastenausgleich teilzunehmen ha- ben. Wer als Unternehmen am Markt teilnimmt, sollte (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Reden Sie ein- letztendlich auch zur Solidarität in diesem Bereich ver- mal mit dem Kollegen Hinsken!) pflichtet werden. Die Unternehmer haben zur Berechnung der Um- Werte Damen und Herren, es wurde heute auch be- lage innerhalb von sechs Wochen nach Ablauf eines reits vielfältig dargestellt, dass die FDP eine Privatisie- Kalenderjahres die Arbeitsentgelte der Versicherten rung des Unfallversicherungswesens anstrebt. Ich bin für und die geleisteten Arbeitsstunden in der vom Un- Wettbewerb und weiß durchaus, was Private leisten kön- fallversicherungsträger geforderten Aufteilung zu nen. Ich glaube, dass dort, wo es angezeigt ist, Private melden … auch Vorrang haben sollen. Aber in einem Sozialversi- cherungsbereich, in dem die Unternehmerhaftung abge- Jetzt ist in § 28 a SGB IV formuliert: golten wird und zu jedem Zeitpunkt Renten gezahlt wer- Der Arbeitgeber oder ein anderer Meldepflichtiger den – unabhängig davon, wann ein Unfall eintritt –, hat der Einzugsstelle für jeden in der Kranken-, wodurch eine unbegrenzte Haftung besteht und somit Pflege-, Rentenversicherung oder nach dem Recht eine unbegrenzte Zahlungsfähigkeit gewährleistet sein der Arbeitsförderung kraft Gesetzes Versicherten muss, wird sich eine private Versicherung nicht engagie- … eine Meldung durch gesicherte und verschlüs- ren können, weil sie das auch nach versicherungsmathe- selte Datenübertragung aus systemgeprüften Pro- matischen Grundsätzen nicht leisten kann. Darin liegen grammen oder mittels maschinell erstellter Ausfüll- die Grenzen der privaten Versicherung. hilfen zu erstatten. Fraglich ist auch, wer dann noch in ausreichendem Weiter heißt es, dass Umfang Prävention betreiben würde. Bislang wird diese Aufgabe von der Berufsgenossenschaft im eigenen Inte- bei der Abmeldung und bei der Jahresmeldung … resse wahrgenommen. Im Falle von Wettbewerb wäre das in der Rentenversicherung oder nach dem Recht das sicherlich nicht mehr im selben Maße der Fall. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18297

Max Straubinger (A) In Ihrem Antrag ist vorgesehen, dass Berufskrankhei- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem (C) ten weiterhin von der gesetzlichen Unfallversicherung Stimmverhältnis angenommen. abgesichert werden sollen. Daneben soll ein privates System bestehen. Das würde einen zusätzlichen bürokra- Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp- tischen Aufwand erfordern. Dies geht nicht an. fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/9788 fort. Unter Nr. 2 empfiehlt der Aus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bünd- der SPD sowie des Abg. Markus Kurth nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9312 mit dem Titel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) „Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die Dienstleis- Ein letzter Punkt. Es wurde bereits angesprochen, tungsgesellschaft machen“. Wer diesem Wunsch auf dass das Leistungsrecht leider nicht reformiert worden Ablehnung zustimmen will, den bitte ich um das Handzei- ist und also noch nicht reformiert wird. Wir werden auf chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- diese Reform drängen. Aber die Wegeunfälle – das sage schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- ich deutlich – sind Bestandteil der gesetzlichen Unfall- fraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der versicherung. Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Wenn wir in der Öffentlichkeit und auch jüngst in den Grünen angenommen. Auseinandersetzungen um das Steuerrecht immer darauf hinweisen, dass der Weg zur Arbeit nicht mit dem Weg Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner zum Golfplatz gleichzusetzen ist und steuerlich berück- Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der sichtigt werden sollte – wir plädieren schließlich dafür, Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6645 mit dem Titel dass die Entfernungspauschale wieder ab dem ersten Ki- „Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in der Unfall- lometer gelten soll –, versicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- (Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] – schlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen Anton Schaaf [SPD]: Das hat er gut unterge- bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen. bracht! – Andrea Nahles [SPD]: Das hat er gut gemacht! – Heiterkeit bei der CDU/CSU und Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und der SPD) Soziales unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die dann muss das auch für das gesetzliche Unfallversiche- Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf rungsrecht gelten. Ich glaube, damit ist eine weitere zu- Drucksache 16/5616 mit dem Titel „Keine Leistungskür- sätzliche Komponente eingebracht worden. zungen bei der gesetzlichen Unfallversicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- (B) (D) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stim- neten der SPD) men aller übrigen Fraktionen angenommen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 11 auf: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Moderni- (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten sierung der gesetzlichen Unfallversicherung. Zunächst Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Lothar möchte ich bekanntgeben, dass eine Erklärung nach § 31 Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Geschäftsordnung der Kollegin Andrea Voßhoff vor- DIE LINKE liegt, die wir zu Protokoll nehmen.1) Förderung der Altersteilzeit durch die Bun- Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un- desagentur für Arbeit fortführen ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/9788, den Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksachen 16/9067, 16/9730 – auf Drucksache 16/9154 in der Ausschussfassung anzu- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Berichterstattung: der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Abgeordneter Wolfgang Grotthaus zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge- setzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Ent- derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos- haltung von Bündnis 90/Die Grünen. sen. Dritte Beratung Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- ner das Wort dem Kollegen Gregor Amann von der stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf 1) Anlage 2 Brauksiepe [CDU/CSU]) 18298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Gregor Amann (SPD): träge steuer- und abgabenfrei macht. Diese staatliche (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Förderung der Altersteilzeit läuft 2009 ebenfalls nicht Herren! Arbeit ist nicht nur Mühsal und Ausbeutung, aus. sondern hat auch zentrale Bedeutung für Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl und den Erhalt unserer geistigen Und jetzt möchte ich noch etwas zum Beschluss des und sozialen Fähigkeiten. Sie bedeutet im positiven Fall SPD-Präsidiums sagen – Frau Pothmer, Sie haben ihn also soziale Teilhabe und Integration. Das ist auch ein schon angesprochen –: Grund, warum wir Menschen länger im Erwerbsleben (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- halten wollen, anstatt die Lebensarbeitszeit immer wei- NEN]: Da bin ich sehr gespannt, Herr ter zu verkürzen. Mit dem vorliegenden Antrag wird Amann!) aber das alleinige Ziel verfolgt, möglichst viele Men- schen möglichst früh aus dem Arbeitsleben auszuglie- Ja, wir Sozialdemokraten treten für eine Verlängerung dern. der direkten Förderung der Altersteilzeit durch die Bun- desagentur für Arbeit über 2009 hinaus ein, aber eben (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht – wie im vorliegenden Antrag der Linken gefordert – NEN]: Das wollt ihr doch auch!) unverändert. Um jungen Menschen nach der Ausbildung Ja, 40 Jahre körperliche Arbeit zu verrichten, giftige den Weg ins Berufsleben zu erleichtern, wollen wir Al- Dämpfe einzuatmen, eintönige Fließbandarbeit auszu- tersteilzeit dann und nur dann von der Bundesagentur führen oder großen psychischen Belastungen ausgesetzt fördern lassen, wenn für einen ausscheidenden älteren zu sein, wie es zum Beispiel Menschen in Pflege- und Arbeitnehmer ein junger Mensch nach der Ausbildung in Sozialberufen oft sind, ist zweifellos ungesund und ver- ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen wird schleißt Menschen. Wenn aber heutige Arbeitsbedingun- (Beifall bei der SPD) gen und Arbeitsbelastungen Menschen kaputtmachen, dann kann die Antwort doch nicht sein, Menschen ein- bzw. wenn in kleineren Betrieben ein Auszubildender fach früher aus dem Arbeitsleben hinauszudrängen, als eingestellt wird. Das ist nicht einfach eine Fortführung wären die Arbeitsbedingungen sozusagen gottgegeben der alten Regelung. Wir werden den sehr fantasielosen und unveränderbar. Vielmehr müssen wir uns darum be- Antrag der Linken deshalb nicht unterstützen. mühen, diese Arbeitsbedingungen zu verändern oder zu (Lachen des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) beseitigen. Dort, wo wir nicht verhindern können, dass Menschen ganz oder teilweise arbeitsunfähig werden, Ich gehe davon aus, dass unser Modell zielgerichteter müssen wir uns selbstverständlich um diese Menschen als die bisherige Förderung ist und damit weniger Kos- kümmern. (B) ten als bisher verursacht. Ich appelliere ausdrücklich an (D) Altersteilzeit eignet sich sehr gut dazu, einen flexi- unseren Koalitionspartner, hier gemeinsam mit uns et- blen Übergang in die Rente zu organisieren und zu einer was Sinnvolles auf den Weg zu bringen, das älteren und schrittweisen Arbeitsentlastung zu gelangen. Im Jahr jüngeren Arbeitnehmern zugleich hilft. 2006 haben über 400 000 Beschäftigte davon Gebrauch (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Herr gemacht. Übrigens wurde nur ein Viertel direkt durch Kollege, das wird nicht passieren! – Zuschüsse der Bundesagentur für Arbeit gefördert. Mit Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat Herr dem Auslaufen der BA-Förderung wird also keineswegs Brauksiepe doch schon vorhin ausgeschlos- die Altersteilzeit an sich abgeschafft. sen! Lesen Sie das Protokoll!) Momentan verhandeln die Tarifparteien in der Elek- Altersteilzeit ist wichtig, richtig und notwendig. tro- und Metallindustrie über tarifvertragliche Regelun- gen zur Altersteilzeit. Ich begrüße dies ausdrücklich und (Beifall bei der SPD) wünsche den Verhandlungen viel Erfolg. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerald Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]) Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion. Denn die Unternehmen, die ihren wirtschaftlichen Er- folg in erster Linie der Arbeitskraft und der Leistung der (Beifall bei der FDP) Arbeitnehmer verdanken, sind in der Pflicht, nicht nur für gute Arbeit guten Lohn zu zahlen, sondern auch ih- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): ren Arbeitnehmern ein Ausscheiden aus dem Arbeitsle- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ben in Würde und Gesundheit zu ermöglichen, nicht Lieber Kollege Amann, Sie haben einen rhetorischen zuletzt durch entsprechende Altersteilzeitmodelle. Mit Eiertanz vorgeführt: „ermöglichen“ meine ich vor allem auch das finanzielle Ermöglichen der Inanspruchnahme von Altersteilzeit. (Andrea Nahles [SPD]: Das war eine Deshalb ist die tarifvertragliche Absicherung der Alters- Meisterleistung!) teilzeit der richtige Weg. ein bisschen Nein und ein bisschen Ja zur Altersteilzeit. Es ist in Ordnung, wenn der Staat solche zwischen Ich möchte für meine Fraktion gleich am Anfang sehr Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereinbarten Alters- deutlich sagen: Die Altersteilzeit ist ein sozialpolitischer teilzeitmodelle fördert, indem er die Aufstockungsbei- Irrweg; sie hat sich jedenfalls als solcher erwiesen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18299

Dr. Heinrich L. Kolb (A) (Anton Schaaf [SPD]: Jeder Beleg dafür Zeiten schwieriger Arbeitsmarktverhältnisse, allerdings (C) fehlt! – Andrea Nahles [SPD]: Das ist eine Be- ohne Aussicht auf eine Rückkehr, auch nicht in Zeiten hauptung!) besserer Konjunktur. Es ist ein Irrweg, der nicht weiter beschritten werden Angesichts des in manchen Regionen schon heute darf. Deswegen ist es folgerichtig, dass die FDP dem herrschenden massiven Fachkräfte- und Nachwuchs- Antrag der Linken nicht zustimmen wird, weil er dazu mangels ist eine Fortführung dieser Politik anachronis- führen würde, dass ältere und erfahrene Arbeitnehmer tisch und schädlich. Wir können uns schlichtweg nicht im Wege der Altersteilzeit aus dem Berufsleben heraus- leisten, auf das Know-how der älteren und erfahrenen gedrängt würden. Arbeitnehmer zu verzichten. Das würde mittelfristig zu einer Schwächung des Wirtschaftsstandorts Deutschland (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten führen, und zwar spätestens ab dem Jahr 2012, wenn die der CDU/CSU) geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben aus- Das ist in der Praxis vielfach passiert. scheiden und vergleichsweise schwache Jahrgänge nach- rücken. Dann hätten wir ein massives Problem. Nicht Herr Amann, es ist doch nicht in Ordnung, wenn sich mehr die möglichst frühe Verrentung, sondern eine mög- ältere Arbeitnehmer fast schon dafür entschuldigen müs- lichst lange Teilhabe am Erwerbsleben muss also das sen, wenn sie mit 60 Jahren noch einer Vollbeschäfti- neue Leitbild unserer alternden Gesellschaft sein. gung nachgehen. Wir können es uns auch nicht leisten, auf die Erfahrungen der älteren Mitarbeiter zu verzich- (Beifall bei der FDP) ten; im Gegenteil – da stimme ich Ihnen zu –: Wir müs- sen die Arbeitsbedingungen, auch die sozialpolitischen Zudem ist richtig, was Professor Sinn in einer Anhö- Rahmenbedingungen, so gestalten – ich habe vorhin rung im Ausschuss für Arbeit und Soziales im letzten schon unser Modell einer flexiblen Rente vorgestellt –, Jahr sagte – ich zitiere –: dass die längere Lebensarbeitszeit sinnvoll und attraktiv (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Du ahnst es nicht! – wird. Weitere Zurufe von der SPD) Wir sollten das nicht nur aus finanziellen Erwägun- Ältere Arbeitnehmer verdrängen keine Jüngeren, gen, sondern auch vor dem Hintergrund aktueller Stu- sondern treten mindestens additiv zu den Jobs für dien der Altersforschung tun, die belegen, dass ein zu die Jüngeren hinzu, wenn sie nicht sogar Komple- frühes Ausscheiden aus dem Berufsleben der Gesundheit mente sind. der Betroffenen sogar schaden kann. Arbeit ist nämlich nicht nur eine Last, die der Einkommenserzielung dient, (Andrea Nahles [SPD]: Der redet auch sonst (B) sondern sie schafft auch soziale Kontakte, gesellschaftli- viel Unsinn!) (D) che Anerkennung, einen festen Tagesrhythmus, körperli- Ältere Arbeitnehmer sind in der Lage, Jüngere an- che und geistige Herausforderungen. Das sind positive zuleiten, ihnen zu zeigen, wie man arbeitet, die Ar- Begleitumstände. Der Altersökonom Axel Börsch- beit zu organisieren. Wenn wir diesen Bereich des Supan hält die Fortführung der Altersteilzeit, wie sie Arbeitsmarktes stärken, entstehen zugleich auch zu- Linke und die SPD fordern, für „supergefährlich“. Im sätzliche Jobs bei den Jüngeren. Spiegel von dieser Woche wird die Leiterin des Zen- trums für lebenslanges Lernen an der Jacobs Universität (Beifall bei der FDP) Bremen, Ursula Staudinger, folgendermaßen zitiert: Dem stimme ich zu. Wer gesunde Menschen, die 90 Jahre alt werden Ich möchte noch in Erinnerung rufen, dass besonders können, dazu verlockt, mit 60 in den Ruhestand zu die skandinavischen Länder Schweden und Dänemark gehen, schickt sie auf einen gefährlichen Weg. hier eine Vorbildfunktion haben. (Beifall bei der FDP – Anton Schaaf [SPD]: (Andrea Nahles [SPD]: Die höchste Erwerbs- Was war denn das eben für ein Rentenantrag? – minderungsquote überhaupt!) Andrea Nahles [SPD]: Was war denn das mit der Teilrente?) In Schweden waren im zweiten Quartal 2007, Frau Kol- legin Nahles, 69,9 Prozent der 55- bis 64-Jährigen er- – Herr Kollege Schaaf, ich erkläre Ihnen das gern. Stel- werbstätig, in Dänemark immerhin 58,7 Prozent. Es gibt len Sie eine Zwischenfrage! – Sie plädiert stattdessen da- keinen vernünftigen Grund, warum das, was in diesen für, ältere Arbeitnehmer weiterzubilden und so für ver- Ländern möglich ist, nicht auch bei uns möglich sein nünftige Alternativen zu sorgen. sollte. Ursprünglich sollten mit der Altersteilzeit und dem (Beifall bei der FDP) Vorruhestand ältere Arbeitnehmer dazu bewogen wer- den, ihren Arbeitsplatz zugunsten jüngerer Arbeitneh- Ich habe unsere Lösung für einen flexiblen Übergang, mer zu räumen; Herr Kollege Amann, da wollen Sie die Anreize bietet, lang dabeizubleiben, dargelegt, ob- wieder hin. Zu dem angedachten Koppelgeschäft ist es wohl man vordergründig, Herr Kollege Schaaf – das war jedoch nur in den allerwenigsten Fällen gekommen. Ihr Zwischenruf –, ein Angebot auf Frühverrentung er- Viele Beschäftigte haben die Frühverrentung bzw. die hält. Gerade der Wegfall des Zwangs, die Chance, jeder- Altersteilzeit dennoch gerne genutzt, um den sicheren zeit ein solches Angebot zu nutzen, wird dazu führen, Hafen des Ruhestandes anzusteuern, insbesondere in dass von Jahr zu Jahr der Anreiz ständig erhalten bleibt, 18300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Heinrich L. Kolb (A) so lange es geht in dem möglichen Umfang dabeizublei- Erstens. Ein gleitender Übergang findet nicht statt; (C) ben. denn die Altersteilzeit wird heute nicht mehr als echte Teilzeit gelebt. Heute wählen 94 Prozent der Altersteil- Wir erwarten nicht, dass die Linken statt ihrer eigenen zeitnehmer das sogenannte Blockmodell. Bis zu einem Ideologie unseren vernünftigen Argumenten folgen. Stichtag wird voll gearbeitet, danach folgt abrupt die Aber ich appelliere an die Große Koalition, sich den de- Freizeitphase. Wer flexible Übergänge will, müsste das mografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Blockmodell abschaffen. Davon ist aber im Antrag der Anforderungen nicht zu verschließen und der Versu- Linken nicht die Rede, leider auch nicht bei unserem ge- chung zu widerstehen, einen weiteren Stein aus der schätzten Koalitionspartner, Herr Kollege Amann. Der Agenda 2010 herauszubrechen. Beschluss des SPD-Präsidiums schweigt sich insoweit Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. aus. Im Umkehrschluss bedeutet das leider: Weiter so mit der subventionierten Frühverrentung. (Beifall bei der FDP) Zweitens. Von dieser Praxis profitieren laut Deutscher Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rentenversicherung vor allem Besserverdienende, die Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von kaum arbeitslos gewesen sind. Sie kommen aus der öf- der CDU/CSU-Fraktion. fentlichen Verwaltung und aus dem Kreditgewerbe, aber aus dem Baugewerbe nur 2 Prozent. Gerade diejenigen (Beifall bei der CDU/CSU) also, die körperlich hart gearbeitet haben, aber häufig weniger verdienen – der Bauarbeiter, die Friseurin –, Gitta Connemann (CDU/CSU): können sich dieses Modell nicht leisten, finanzieren es Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahrhun- aber mit ihren Beitrags- und Steuermitteln. Die Kleinen dertelang suchten die Alchimisten nach dem Stein der zahlen für die Großen. Jeder Euro für Altersteilzeit ver- Weisen, nach einer Substanz, die Metall in Gold verwan- ringert den Spielraum für Beitragssenkungen. Das ist un- delt, nach einer Medizin, die den Menschen nicht nur sozial. heilt, sondern auch verjüngt. Die Suche war vergeblich – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bis zum Einzug der Linken in den Deutschen Bundestag. Drittens. Die Altersteilzeit hat nicht zu mehr Ausbil- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) dung geführt. Ich habe mich in der letzten Woche bei der Sie, meine Damen und Herren von der Linken, haben Bundesagentur für Arbeit erkundigt, wie viele Ausbil- den Stein der Weisen gefunden, jedenfalls gaukeln Sie es dungsplätze durch geförderte Altersteilzeit geschaffen werden. Die Antwort lautete: 4 800. Es sind 4 800 pro (B) den Bürgern in diesem Land immer wieder vor. Ihr All- (D) heilmittel heißt Umverteilung. Jahr in ganz Deutschland, und das bei einer Förderung von 1,4 Milliarden Euro. Jüngere haben also davon nicht (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Das ist wahr!) profitiert, ältere Arbeitslose übrigens auch nicht. Denn Auch in diesem Fall. Sie wollen, dass die Altersteilzeit nur ein Bruchteil der freigewordenen Arbeitsplätze ist nach 2009 von der Bundesagentur für Arbeit weiter ge- wiederbesetzt worden. Eine Förderung der BA setzt eine fördert wird. Das ist Umverteilung, aber von unten nach solche Wiederbesetzung voraus. Es befinden sich – das oben. hat der Kollege Amann vollkommen zutreffend zitiert – aber drei- bis fünfmal mehr Arbeitnehmer in der Alters- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So teilzeit als im Bestand der geförderten Fälle der BA. Das ist es!) heißt, auf sieben freigewordene Plätze kommt ein einzi- 28 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ger wiederbesetzter Platz. sollen weiterhin mit ihren Beiträgen 100 000 Altersteil- Viertens. Diese Praxis wird insbesondere von Konzer- zeitnehmer finanzieren, nen genutzt. Laut IAB nutzten 2006 nur 2 Prozent der (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Frau Nahles, so kleinen Betriebe mit weniger als 20 Arbeitnehmern das ist das! Das wird nichts mit der CDU!) Altersteilzeitmodell. In Betrieben dieser Größe arbeitet aber ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- und zwar mit enormen Summen – 1,4 Milliarden Euro mer in Deutschland. In den Kleinbetrieben fast Absti- pro Jahr allein aus der Arbeitslosenkasse, Tendenz stei- nenz, gehört die Altersteilzeit in Großbetrieben zum gend. Viele subventionieren die Frührenten weniger. Standard. Konzerne nutzen die Altersteilzeit, um sich Meine Damen und Herren von der Linken, diese Umver- bequem und auf Kosten der Steuerzahler von älteren Ar- teilung ist nicht unsere Vorstellung von sozialer Gerech- beitnehmern zu verabschieden. tigkeit. Fünftens. Das ist das vollkommen falsche Signal: Äl- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tere raus aus den Betrieben, subventioniert von der All- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unsere auch gemeinheit, und das bei einem schon jetzt bestehenden nicht!) Fachkräftemangel. Wir, die Union, wollen flexible Übergänge in den Ru- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hestand. Wir wollen diese für Arbeitnehmer in anstren- genden Berufen, auch mit kleinen Gehältern. Aber genau Auch angesichts der heutigen Situation am Ausbildungs- diese Ziele werden mit der Altersteilzeit nicht erreicht. markt muss die Politik Unternehmen nicht mehr für das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18301

Gitta Connemann (A) belohnen, was für diese überlebensnotwendig ist, näm- Gegen ein „Weiter so“ sprechen im Übrigen nicht nur (C) lich die Rekrutierung von qualifiziertem Nachwuchs. volkswirtschaftliche Gründe, sondern auch die bereits vom Kollegen Dr. Kolb erwähnten persönlichen und ge- Wir brauchen die Älteren ebenso wie die Jüngeren. Es sundheitlichen Gründe. darf keine Konkurrenz erzeugt werden. Es gibt also kein einziges Argument, die Altersteilzeit auch nach 2009 (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!) noch mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung zu för- Allerdings müssen Sie, Herr Dr. Kolb, auch zur Kenntnis dern. Wir werden deshalb den Antrag der Linken ableh- nehmen, dass es Menschen gibt, die nicht mehr fit sind. nen; denn die Altersteilzeit ist unsozial, der Nutzen zweifelhaft, und Mitnahmeeffekte sind vorprogram- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das bestreite ich miert. nicht! Da müssen wir eine Lösung finden!) Allerdings ficht das die Linke nicht an. Mit Ihrer For- Auch ihnen müssen wir Angebote machen. Sie müssen derung versuchen Sie, sich einzuschmeicheln. Meine kürzer treten können. Allerdings kann das nicht nur für Damen und Herren von der Linken, das ist ein durch- den Besserverdiener, sondern muss auch für den viel zi- sichtiges Manöver. Zu Ihrer politischen Glaubwürdigkeit tierten Bauarbeiter und die Friseurin gelten. Wenn die trägt das in absolut keiner Weise bei, sofern Sie diese Menschen nicht mehr fit sind, brauchen wir Angebote überhaupt noch haben. wie Weiterbildung, Gesundheitsvorsorge, die Bereitstel- lung von weniger belastenden Arbeitsplätzen und Lang- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ich bin beein- zeitarbeitskonten. druckt!) Dies zu organisieren und zu subventionieren ist aber Die öffentliche Meinung ist übrigens eindeutig ableh- nicht Aufgabe des Staates, nend. Ich zitiere nur einige Überschriften aus der Presse (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl!) der letzten Tage: „Wirklichkeitsfern“, „Von gestern“, „Sackgasse“, „Falsches Signal“, „Vergiftetes Freibier“ sondern eine klassische Aufgabe von Gewerkschaften oder „Mediziner kritisieren Altersteilzeit“. und Arbeitgebern. Die Tarifpartner müssen passgenaue Lösungen in den Betrieben finden. Eine Überschrift lautete übrigens: „Hin und weg von der Frühverrentung“. Darum geht es eigentlich: Wie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lange muss im Leben gearbeitet werden? Seit Inkrafttreten des ersten Altersteilzeitgesetzes ha- (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Gute Frage!) ben sich die Zeiten geändert. Trotzdem ist auch heute niemand gezwungen, bis 67 zu arbeiten. Wer früher auf- (B) Die simple Wahrheit lautet: Glücklicherweise werden hören möchte, obwohl er noch arbeiten könnte, muss (D) die Menschen in diesem Land immer älter. Wenn dies sich diesen Wunsch aber selbst finanzieren. Jeder nach bei bester Gesundheit geschieht, können wir länger ar- 2009 für Altersteilzeit ausgegebene Euro aus der Ar- beiten. Wir müssen dies zur Sicherung der Sozialsys- beitslosenkasse wäre unsozial. Es ist Subvention genug, teme tun; denn – ich zitiere erneut –: wenn der Aufstockungsbetrag steuer- und sozialversi- cherungsfrei bleibt. Der demografische Wandel wird unser Land verän- dern ... Deutschland darf es sich nicht leisten, Äl- Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Stein tere frühzeitig aus dem Erwerbsleben zu drängen. der Weisen existiert nicht. Dies erkannten übrigens ir- gendwann auch die Alchimisten. Metall lässt sich nicht Dieses Zitat stammt aus einem Papier des Bundesminis- in Gold verwandeln, und es gibt keine Universalmedizin. teriums für Arbeit und Soziales anlässlich der Vorstel- Jeden, der, wie Sie, etwas anderes behauptet, verweise lung der Initiative „50 plus“. Es heißt dort weiter, es sei ich auf Ringelnatz: wichtig, Anreize zur Frühverrentung abzubauen. Diese Feststellung aus dem August 2006 ist auch heute noch Der Stein der Weisen sieht dem Stein der Narren gültig. zum Verwechseln ähnlich. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Deshalb ist es wichtig, dass Union und SPD diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weg gemeinsam weitergehen. Unser Ziel war es damals, die Beschäftigungsfähigkeit und die Beschäftigungs- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chancen älterer Menschen in Deutschland zu erhöhen, Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Frak- und zwar durch finanzielle Leistungen, durch Förderung tion Die Linke. der beruflichen Weiterbildung und durch Modernisie- (Beifall bei der LINKEN) rung sowie altersgerechte Gestaltung von Arbeitsbedin- gungen. Klaus Ernst (DIE LINKE): Die heutigen Erfolge sprechen für sich. Die Erwerbs- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und beteiligung Älterer ist signifikant gestiegen. Wir dürfen Herren! Frau Connemann, wirklich beeindruckt hat mich diesen Erfolgsweg nicht verlassen. Genau das würden an Ihrer Rede, dass Sie sich jetzt plötzlich für Friseurin- wir aber mit einem „Weiter so“ bei der Altersteilzeit tun. nen interessieren, und zwar nicht nur persönlich, sondern Deshalb werden wir den vorliegenden Antrag ablehnen. auch im Hinblick darauf, was sie verdienen. 18302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Klaus Ernst (A) (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ich bin selbst Ver- Nach Ihrem Präsidiumsbeschluss wollen Sie ein Al- (C) käuferin! Das wissen Sie vielleicht auch!) tersteilzeitgesetz schaffen, das bei weitem schlechter ist als das alte. Sie haben aber dem zugestimmt, dass die Bei den von Ihnen genannten Menschen gibt es das Altersteilzeit ausläuft. Sie wollen jetzt also ein Problem Altersteilzeitproblem überhaupt nur deshalb, weil sie so lösen, das Sie selbst verursacht haben. wenig verdienen, dass sie sich Altersteilzeit nicht leisten können. Wenn Sie mit uns für den Mindestlohn eintreten (Beifall bei der LINKEN) würden, würde sich das vielleicht ein wenig ändern. Das ist ungefähr so, als wenn jemand ein Haus anzündet Aber das lehnen Sie ja ab. und dann dafür gelobt werden will, dass er die Feuer- wehr holt. Ein solches Lob wird es für Sie nicht geben. (Beifall bei der LINKEN) Die Menschen begreifen das. Wir reden über die Altersteilzeit und stellen fest, dass (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Der Brandstifter die Koalitionsfraktionen darüber streiten wie die Kessel- sind Sie und nicht wir!) flicker, so wie sie es auch bei anderen Themen tun. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen, dass die (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Altersteilzeit fortgesetzt wird. Es entzieht sich jeder Lo- Dass eure Vorschläge Quatsch sind, darin sind gik, dass eine Regelung nicht mehr gefördert werden wir uns aber einig!) soll, mit deren Hilfe Arbeitslose eingestellt werden. Das ist doch eine sinnvolle arbeitsmarktpolitische Maß- Es geht um einen flexiblen Ausstieg aus dem Arbeitsle- nahme. Es ist sinnvoll, dass Betriebe, die Auszubildende ben. Einen flexiblen Ausstieg ermöglicht aber nicht nur einstellen, gefördert werden. Das streichen Sie. Warum eine Teilzeitbeschäftigung, Herr Weiß, sondern auch ein denn? Das hat doch keine Logik. Blockmodell. Sie wollen die Altersteilzeit zwei Jahre später begin- Warum ist die Altersteilzeit notwendig? Sie ist not- nen lassen. Ich sage Ihnen, warum: weil Sie mit diesem wendig, weil schon jetzt ein großer Teil der Arbeitneh- Gesetz zur Altersteilzeit eigentlich den Einstieg in die mer nicht bis zum 65. Lebensjahr durchhält. Bis zum Rente um zwei Jahre vorziehen wollen. – Das merken 67. Lebensjahr, das Sie als Renteneintrittsalter einge- die Menschen. führt haben, halten noch weniger durch; das wissen Sie Im Prinzip sind Sie auf dem richtigen Weg – im Ge- auch. Weil Sie von der SPD das wissen, eiern Sie hier so gensatz zu Ihrem Koalitionspartner –, nur müssen Sie in herum. Auf der einen Seite wollen Sie, dass die Men- dieser Frage auch konsequent sein. Wenn Sie draußen schen länger arbeiten. Auf der anderen Seite haben Sie schon vermitteln, dass Sie für eine Altersteilzeit sind, im SPD-Präsidium beschlossen, dass die Altersteilzeit in (B) dann machen Sie es doch einfach und ganz logisch: (D) bei weitem schlechterer Form als bisher erhalten bleiben Stimmen Sie einer Verlängerung zu! Sie haben mit unse- soll. Das versteht doch kein Mensch mehr. rem Antrag heute die Möglichkeit dazu. (Anton Schaaf [SPD]: Sie nicht!) (Beifall bei der LINKEN – Anton Schaaf [SPD]: Das ist so durchsichtig!) Das ist politische Geisterfahrerei, bei der Sie irgend- wann von der Polizei angehalten werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von Kolb [FDP]: Oder vom Wähler!) Bündnis 90/Die Grünen.

Es gibt zurzeit eine ganze Reihe von Leuten, die sich Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): für den Erhalt der Altersteilzeit einsetzen. 350 000 IG- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die De- Metall-Leute haben dafür gestreikt. Sie wollen aber die batte hat gezeigt: Im Streit um die Altersteilzeit geht es alte Altersteilzeit, nicht die neue von der SPD. um eines mit Sicherheit nicht: Es geht nicht um die Älte- Sie sagen, aus welchen Gründen auch immer: Die ren. Menschen sollen länger arbeiten. Wissen Sie, was das Den Linken geht es darum, die SPD vorzuführen und Problem ist? Die Arbeitswelt muss so verändert werden, am Nasenring durch die Manege zu ziehen. dass das auch möglich ist. Aber Sie machen keine Ge- setze dazu, dass sich die Arbeitswelt verändert. Dann ist (Anton Schaaf [SPD]: So ist das! Das ist deren einziges Interesse!) zumindest die Reihenfolge falsch. Sie machen im Prin- zip ein Gesetz, nach dem die Menschen vom 10-Meter- Das haben Sie, Herr Ernst, gerade ganz eindrücklich un- Turm ins Becken springen sollen, aber machen kein Ge- ter Beweis gestellt. Dramatisch und tragisch daran finde setz, das sicherstellt, dass auch Wasser drin ist. Das ist ich, Anton Schaaf, dass das auf euch wirkt, dass diese Ihr Problem bei dieser ganzen Debatte. Form des Vorführens zur Folge hat, dass ihr euren ar- beitsmarktpolitischen Kompass über Bord werft. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie bekommen nun kalte Füße. Eigentlich wollen Sie sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – die Rente mit 67 zurücknehmen. Dann machen Sie es Andrea Nahles [SPD]: Wir können selber den- doch! Dann haben Sie auch die Unterstützung der Men- ken! – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ schen; denn eine große Mehrheit will das so. CSU]: Das ist das Programm Nahles 09!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18303

Brigitte Pothmer (A) Alle Erkenntnisse über den demografischen Wandel, alle Für diese müssen wir wirklich etwas tun. Für diese müs- (C) Erkenntnisse über den Fachkräftemangel sind der Ver- sen wir die 1,38 Milliarden Euro, die im letzten Jahr gessenheit anheimgefallen. sinnlos für Altersteilzeitregelungen herausgepulvert wurden, einsetzen. Auch wenn ihr immer das Gegenteil behauptet: Die Altersteilzeit – das ist inzwischen bewiesen – ist ein (Andrea Nahles [SPD]: Wir haben doch den Frühverrentungsmodell in Form einer Stilllegungsprä- Ausbildungsbonus beschlossen!) mie. – Das glaubt ihr doch selber nicht, dass durch die Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, führung eines Ausbildungsbonus dieses Problem gelöst bei der CDU/CSU und der FDP – Stefan werden kann. Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Frau Pothmer, da haben Sie recht!) (Andrea Nahles [SPD]: Das glauben wir sehr wohl! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/ Sie wird – das müsst ihr euch zu Gemüte führen – von CSU]: Bis jetzt war die Rede gar nicht einmal großen Unternehmen und vom öffentlichen Dienst ge- schlecht!) nutzt. Sie wird von denen genutzt, die gut verdienen. Männliche gut verdienende Arbeitnehmer sind diejeni- Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass ihr den älteren gen, die davon profitieren. 85 Prozent der Betriebe mit Menschen mit einem Frühverrentungsmodell einen Ge- über 500 Beschäftigten bieten ein Altersteilzeitmodell fallen tut. Altersforscher kommen zunehmend zu der Er- an. Bei den Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten kenntnis, dass das für die älteren Menschen überhaupt sind es nur 4 Prozent. Wollen Sie mir jetzt erzählen, dass keinen Gewinn darstellt. Sie warnen vielmehr auch aus in diesen Betrieben die Arbeitsbedingungen so großartig gesundheitlichen Gründen davor. Arbeit ist nämlich sind, dass es nicht zu Verschleißerscheinungen kommt ganz zentral für das Wohlbefinden der Menschen. Das ist und deswegen niemand Altersteilzeit in Anspruch neh- eine Erkenntnis, die von vielen Seiten gewonnen wird, men will? Nein, meine lieben Leute, das hat andere aber man hat den Eindruck, als würde das für ältere Gründe. Hier profitieren die großen Betriebe, und bezah- Menschen nicht gelten. len müssen es die kleinen; bezahlen müssen es auch die Geringverdiener. An dieser Stelle hat Frau Connemann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wirklich recht. Frau Pothmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollegen Ernst? sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (B) des Abg. Jörg Rohde [FDP]) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) Wenn das eure Vorstellung von Gerechtigkeit ist, kann Ja. ich nur sagen: Gute Nacht, Marie! Ihr von der SPD-Fraktion wisst das alles ganz genau. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Zahlen sind mehrfach vorgetragen worden. In Ple- Bitte schön, Herr Ernst. nar- und Ausschussprotokollen kann man nachlesen, dass ihr, was den Erkenntnisgewinn angeht, schon ein Klaus Ernst (DIE LINKE): Stück weiter gewesen seid. Das alles ist leider vergessen. Frau Pothmer, Sie haben gerade dargestellt, dass die Trotz all dieser Erkenntnisse habt ihr den Präsidiumsbe- Älteren zwar sehr qualifiziert seien – das stimmt ja auch –, schluss gefasst, die BA-geförderte Teilzeit bis 2015 wei- aber aus den Betrieben gedrängt würden. Ist Ihnen be- terzuführen. kannt, dass das nur dann geht, wenn der einzelne Arbeit- (Anton Schaaf [SPD]: Aber darüber diskutie- geber mit dem Beschäftigten einen entsprechenden Ver- ren wir doch gar nicht! Die Linken haben ei- trag abschließt? Könnte es vielleicht sein, dass Sie dem nen Antrag gestellt!) Arbeitgeber nicht zutrauen, richtig einzuschätzen, ob der Mensch tatsächlich qualifiziert ist? Wenn das so ist, Herr Amann, wenn Sie mir jetzt erklären wollen, dass würde er ja mit ihm gar keinen Vertrag abschließen. der qualitative Fortschritt darin besteht, dass das Aus- scheiden von über 60-Jährigen subventioniert werden muss, damit künftig junge, gut ausgebildete Leute einge- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stellt werden können, kann ich Ihnen darauf nur entgeg- Dass das sozusagen formal auf freiwilliger Ebene ge- nen: Die Arbeitsmarktsituation ist in vielen Regionen schieht, ist mir schon bekannt. Es gibt aber viele andere schon jetzt so, dass junge, gut ausgebildete Kräfte rar Beispiele. So kommt es etwa vor, dass die Betriebslei- sind. In ein paar Jahren – das kann ich Ihnen versichern – tung zu einem Beschäftigten sagt: Ich mache dir jetzt ein werden diese jungen und gut ausgebildeten Leute auf gutes Angebot. Überleg es dir ganz genau, ob du das Händen in die Betriebe getragen werden. Hier ist keine jetzt nicht annimmst. Es gilt nur für eine bestimmte Zeit. Subventionierung vonnöten. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die Wer allerdings nicht profitiert, sind diejenigen, die Gewerkschaften machen da mit!) keine Ausbildung haben. Insofern ist es in der Sache falsch, das so weiterlaufen zu (Andrea Nahles [SPD]: Ausbildungsbonus!) lassen. 18304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Brigitte Pothmer (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mer falsche Entscheidungen getroffen hätten, während (C) bei der CDU/CSU und der FDP) ihre Fraktion der Verlängerung der Altersteilzeitregelung zugestimmt hatte. Anton Schaaf und Wolfgang Grotthaus, beide ehema- lige Gewerkschafter, haben im Ausschuss für Arbeit und (Beifall bei der SPD) Soziales einmal sehr eindrücklich vorgetragen, dass sie Beim vorletzten Tagesordnungspunkt warb dann sogar selber als ehemalige Gewerkschafter auf schlechte und der Kollege Kolb verschleißende Arbeitsbedingungen mit der Forderung nach mehr Geld und Frühverrentung reagiert haben und (Zuruf von der FDP: Guter Mann!) dass sie das inzwischen als einen grundlegenden Fehler für die Rente mit 60, sagt aber nun, Altersteilzeit wolle ihrer Arbeit ansehen. er überhaupt nicht haben. Herr Kolb, diese Diskussion (Andrea Nahles [SPD]: Was ist mit Frühverren- war für jeden Menschen, der das verfolgt hat, entlar- tung? Wir reden jetzt über Altersteilzeit!) vend. Die Aufgabe müsse nämlich vielmehr genau darin beste- (Beifall bei der SPD – Widerspruch des Abg. hen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. – Herr Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Schaaf, Herr Grotthaus, wo sind diese klugen Erkennt- Für die Menschen, die es sich finanziell erlauben kön- nisse geblieben? nen, in Rente zu gehen, haben Sie etwas übrig. Aber für (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ich sage gleich die Menschen, die sich kaputt malocht haben, haben Sie etwas dazu! Fangen Sie nicht an, mich zu är- überhaupt nichts übrig. gern!) (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Pothmer, Sie müssen zum Schluss Damit haben Sie nichts zu tun. Gar nichts! kommen. Altersteilzeit ist kein Irrweg. Altersteilzeit ist nur dann (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: ein Irrweg, wenn sie nicht richtig ausgefüllt wird. In Ih- Schade! Ausnahmsweise würde ich Ihnen län- rem Antrag schlagen Sie ein „Weiter so“ vor. Dazu sagen ger zuhören!) wir: Nein, nicht weiter so! Der Antrag, den wir demnächst einbringen werden – wir befinden uns noch in Abstim- mungsprozessen –, beinhaltet die Teilrente, lebenslanges Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lernen, altersgerechte Arbeitsplätze, Schichtpläne, die (B) Ich komme sofort zum Schluss. – Lassen Sie mich vernünftig gestaltet werden, und die Zustimmung der (D) zum Abschluss nur sagen: Ich glaube, es gibt Arbeits- Parteien in den Betrieben. Das alles ist zurzeit nicht der plätze, die einen so fordern, dass man sie nicht bis zum Fall. Wie sieht es denn heute aus? Heute entscheidet im 67. Lebensjahr Vollzeit ausfüllen kann. Hier brauchen Wesentlichen der Arbeitgeber. wir Regelungen. Die Gewerkschaften sind auch dabei, hier gute Regelungen durchzusetzen. Da, wo es keine (Andrea Nahles [SPD]: Ja!) gewerkschaftlichen Strukturen gibt, müssen wir gesetz- Frau Pothmer, hören Sie genau zu! Ich habe das als lich tätig werden. Das jetzige Modell hat aber bewiesen, Betriebsratsvorsitzender mitgemacht. Der Arbeitgeber dass es ungeeignet ist. Ich sage, besser wäre das Modell wollte sich personell entlasten, hat ältere Kolleginnen der Teilrente. und Kollegen aus dem Berufsleben gedrängt und gesagt: Vielen Dank. Für jeden Zweiten, den wir entlassen, kommt ein Neuer hinein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der FDP) NEN]: Herr Ernst, so läuft das!) Das haben alle Gewerkschaften mitgemacht. Von daher Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: müssen sich die Linken nicht hier hinstellen und so tun, Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat als sei das die ideale Lösung. der Kollege Wolfgang Grotthaus von der SPD-Fraktion (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Wort. NEN]: Du hast gesagt: Das war ein Fehler!) (Beifall bei der SPD) Man hat gedacht, man könne mit jungen Leuten Olympiamannschaften in den Betrieben rekrutieren. Das Wolfgang Grotthaus (SPD): war aber nicht der Fall. Deswegen ist das, was von Ihnen Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und gefordert wird, für uns nicht akzeptabel. Daher werden Kollegen! Diese Diskussion ist von einer gewissen wir Ihren Antrag ablehnen. Kuriosität: Die Linken legen einen Antrag vor, aber der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Kollege Ernst redet während drei Minuten seiner vier- CDU/CSU) minütigen Redezeit auf uns ein, doch bitte schön seinem Antrag zu folgen; denn wir hätten ja Ähnliches vor. Frau Außerdem gibt es Menschen, die kaputt sind. Was Pothmer versucht, uns deutlich zu machen, dass wir im- machen wir im Hinblick auf die Altersteilzeit für eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18305

Wolfgang Grotthaus (A) 45-jährige Krankenschwester? Beschäftigen wir sie wei- die Menschen aus dem Berufsleben herausbekommt. (C) ter in ihrem Job? Oder sagen wir: Wir wollen schon vor- Vorrangig sind folgende Fragen zu stellen: Wie können her versuchen, präventiv tätig zu werden, weil wir wis- wir die Menschen möglichst lange im Berufsleben hal- sen, dass diese Berufe gesundheitlich stark belastend ten? Wie können wir dafür Sorge tragen, dass die ge- sind? sundheitlichen Voraussetzungen eines Berufes, der kör- perlich oder geistig sehr anstrengend ist, so sind, dass die (Zuruf von der CDU/CSU: 45 Jahre!) Arbeitnehmer tatsächlich bis zum gesetzlichen Renten- Wir wollen schon vorher versuchen, ihr durch Weiterbil- eintrittsalter im Beruf bleiben? Das ist aus unserer Sicht dungsmaßnahmen – auch in dem Bereich der Gesund- der Ansatzpunkt. heitsfürsorge und -vorsorge – zu helfen und ihr einen anderen Arbeitsplatz anzubieten. Das ist der richtige Trotzdem ist es Fakt – das wird so bleiben –, dass es Weg. auch in Zukunft Menschen geben wird, die aus gesund- heitlichen Gründen aus dem Beruf ausscheiden müssen. Diesen Menschen müssen wir eine Chance geben. Jetzt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: richte ich mich an unseren Koalitionspartner. Ich muss Herr Kollege Grotthaus, der Herr Kollege Ernst betonen: Hier stimmen unsere Auffassungen nicht über- würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie ein. zu? Ich habe vorhin gesagt, dass wir bei der gesetzlichen Unfallversicherung Kompromisse gefunden haben, die Wolfgang Grotthaus (SPD): für die Betroffenen sehr positiv sind. Insofern fordere Ach, doch! ich Sie auf: Lassen Sie uns darüber streiten. Lehnen Sie (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) es nicht von vornherein aus welchen Gründen auch im- mer ab, nur weil ein Flügel in Ihrer Fraktion meint, das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sei dem Wirtschaftsleben nicht dienlich. Lassen Sie uns Herr Ernst, bitte schön. darüber streiten, wie wir uns um die Menschen küm- mern, die gesundheitsbedingt nicht mehr im Job tätig sein können, Klaus Ernst (DIE LINKE): Recht schönen Dank, Herr Kollege Grotthaus. – Ich (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Erwerbs- wollte bezüglich Ihres Vorschlags der Teilrente einmal unfähigkeits- oder Berufsunfähigkeitsrente!) konkretisiert haben, wie Ihr Vorschlag lautet. Wenn ich damit wir ihnen die Möglichkeit geben, das dritte Drittel es richtig verstanden habe, bedeutet er, dass nur diejeni- ihres Lebens vernünftig erleben zu können und nicht so (B) gen die Teilrente bekommen, die im Alter nicht in der (D) kaputt zu sein, dass sie diesen Lebensabschnitt nicht ge- Grundsicherung landen. nießen können. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist genau wie bei der FDP!) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Es gibt bereits Untersuchungen, die zeigen, dass im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahre 2022 die Hälfte aller Menschen, die Rente bezieht, der CDU/CSU) im Alter in der Grundsicherung landet, weil die Renten- zahlungen dann sehr gering sein werden. Wie viele Men- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schen werden diese Teilrente denn nach Ihrer Schätzung Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Be- dann noch in Anspruch nehmen können? schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozia- les zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel Wolfgang Grotthaus (SPD): „Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Herr Kollege Ernst, das ist eine ähnliche Vermutung Arbeit fortführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- wie die des Kollegen Schneider vorhin während der De- schlussempfehlung auf Drucksache 16/9730, den Antrag batte zur gesetzlichen Unfallversicherung, ganz nach der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9067 abzuleh- dem Motto: Was würde passieren, wenn? nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Sie sind die einzige Fraktion in diesem Hause, die ge- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der nau absehen kann, was im Jahre 2020 passiert, und die FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sich auf irgendwelche Zahlen beruft, die ich empirisch gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom- nicht nachvollziehen kann. Ich muss Ihnen diese Ant- men. wort schuldig bleiben, weil ich Ihre Zahlen nicht nach- vollziehen und mich nicht auf dubiose Quellen, die mir Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: nicht vorliegen, verlassen kann. Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Sicherung von Werkunternehmeransprüchen Mehr als dubios!) und zur verbesserten Durchsetzung von Forde- rungen (Forderungssicherungsgesetz – FoSiG) Ich möchte klarmachen, dass im Zusammenhang mit der Altersteilzeit nicht die Frage zu stellen ist, wie man – Drucksache 16/511 – 18306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Folgeauftrag nicht zu erhalten? Mit gesetzgeberischen (C) schusses (6. Ausschuss) Mitteln werden wir dies nicht lösen können. – Drucksache 16/9787 – Obwohl ich deshalb sehr vorsichtig damit bin, glau- ben zu machen, mit diesem Gesetz dem Problem der Berichterstattung: mangelnden Zahlungsmoral abhelfen zu können, hindert Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff es uns natürlich nicht, die in diesem Zusammenhang be- Dr. stehenden Vorschriften immer wieder einmal genau zu Dirk Manzewski überprüfen und – wenn denn tatsächlich Bedarf besteht – Mechthild Dyckmans zumindest partiell auch zu verbessern, um dem Betroffe- Wolfgang Nešković nen so weiterzuhelfen. Jerzy Montag Genau das erfolgt hier. So sollen durch das Gesetz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die insbesondere die Möglichkeit von Abschlagszahlungen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- ausgeweitet, die Regelung zur Durchgriffsfälligkeit ver- derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das bessert, die Bauhandwerkersicherheit effektiver ausge- so beschlossen. staltet und die Darlegung des Vergütungsanspruchs des Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Unternehmers bei Kündigung des Bestellers vereinfacht ner dem Kollegen Dirk Manzewski von der SPD-Frak- werden. § 632 a BGB hätte ich persönlich anders gere- tion das Wort. gelt – aber nun gut. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nur vernünftig ist es jedenfalls gewesen, die ange- der FDP) dachten Veränderungen bei der ZPO zunächst einmal entfallen zu lassen. Dies gilt insbesondere für die soge- Dirk Manzewski (SPD): nannte vorläufige Zahlungsanordnung. Aufgrund einer Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe fundierten Prognose sollte danach das Gericht schon vor zahlreich anwesenden Freunde der Rechtspolitik! Wir Eintritt der Entscheidungsreife einen Zahlungsanspruch debattieren hier heute in abschließender Lesung das For- titulieren. Angedacht war dies vor allem für die Fälle, in derungssicherungsgesetz des Bundesrats. Der Bundesrat denen zum Beispiel durch eine noch notwendige Be- möchte mit diesem Gesetzentwurf helfen, Forderungs- weisaufnahme ein Ende des Verfahrens nicht abzusehen ausfälle zu minimieren und eine Verbesserung der man- ist. gelnden Zahlungsmoral in unserem Land zu erreichen. Im Gesetzgebungsverfahren hat sich dann aber ganz schnell herausgestellt, dass es solche Fälle – also Fälle, (B) Wie die Rechtspolitiker unter Ihnen wissen, habe ich (D) erhebliche Probleme mit der Thematik Zahlungsmoral. in denen noch keine Entscheidungsreife, wohl aber eine Das hat nichts damit zu tun, dass ich das Problem nicht hohe Erfolgsaussicht vorliegen soll – kaum geben wird sehe oder dass ich den Betroffenen nicht helfen will. und dass vor allem bei einer noch ausstehenden Beweis- Mangelnde Zahlungsmoral schadet unserer Wirtschaft aufnahme kaum ein Richter eine solche hohe Erfolgsaus- und insbesondere unseren Mittelständlern, und vor allem sicht bejahen dürfte. Gerade weil sich der Richter doch die kleinen und mittleren Handwerksbetriebe haben hie- unsicher fühlt, wird externer Sachverstand eines Gutach- runter erheblich zu leiden. ters eingeholt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Insbesondere in Bausachen sind Mängel und ihre Ur- sachen durch Richter ohne fachlichen Beistand in der Als Richter und aus vielen Besuchen solcher Betriebe Regel nur sehr schwer einzuschätzen. Feuchtigkeit an in meinem Wahlkreis kenne ich die zum Teil fürchterli- der Decke kann ihre Ursache in schlechter Belüftung, chen Konsequenzen, die eine schlechte Zahlungsmoral aber auch in einer fehlerhaften Dachkonstruktion haben. für diese Betriebe haben kann. Ich meine allerdings, dass In einem der letzten Fälle, mit denen ich mich befasst wir vorsichtig damit sein sollten, eine Erwartungshal- habe, bevor ich in den Bundestag kam, ging es um ein tung zu wecken, der wir mit gesetzgeberischen Maßnah- mangelhaftes Parkett. Ich habe mir gedacht, dass das men überhaupt nicht gerecht werden können. Parkett vielleicht laienhaft verlegt oder der Estrich nicht fachmännisch gelegt sein könnte. Mein Nachfolger im Denn das Problem der mangelnden Zahlungsmoral ist Dezernat hat dann herausgefunden, dass das Fundament zunächst einmal ein gesellschaftliches Problem, und das nicht winterfest und daher gebrochen war. Dementspre- Ergebnis hieraus hat in der Regel nichts mit gesetzgebe- chend war das Haus eine Bauruine. rischen Defiziten zu tun, sondern damit, dass schon be- stehende rechtliche Möglichkeiten nicht bekannt sind Die Ursache der Mängel richtig einzuschätzen ist ein oder – das kommt leider noch viel häufiger vor – dass riesiges Problem. Die Richter werden nicht das Risiko diese Möglichkeiten aus den unterschiedlichsten Grün- einer Fehlentscheidung eingehen. Nicht ohne Grund hat den nicht angewendet werden. deshalb einer der Sachverständigen aus dem Richterbe- reich darauf hingewiesen: Wenn etwas entscheidungsreif All diejenigen, die sich mit der Thematik beschäfti- ist, wird entschieden. Wenn nicht entschieden wird, dann gen, wissen es ganz genau: Wie oft kommt es zum Bei- hat das mit Sicherheit einen triftigen Grund. spiel vor, dass Abschlagszahlungen nicht geltend ge- macht oder Sicherheitsleistungen nicht eingefordert Man könnte nun argumentieren, dass die Vorschrift werden, weil befürchtet wird, dann den vermeintlichen zumindest nicht schade und es vielleicht doch in einem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18307

Dirk Manzewski (A) von 100 000 Fällen vorkommen könnte, dass sie weiter- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) hilft. Aber die Sachverständigen in den Anhörungen ha- Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Mechthild ben deutlich gemacht, dass dies nicht so ganz unproble- Dyckmans das Wort. matisch sei, da die Rechtsanwälte entweder aufgrund des (Beifall bei der FDP) Drucks ihrer Mandantschaft oder aufgrund der Tatsache, dass sie Angst haben, später gegebenenfalls in Regress genommen zu werden, die Anträge auf vorläufige Zah- Mechthild Dyckmans (FDP): lungsanordnung stellen werden. Das wäre vielleicht Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- nicht schlimm, aber die Sachverständigen haben auch legen! Dem Forderungssicherungsgesetz haftet das Eti- darauf hingewiesen, dass dies in Massen, in einem Ver- kett einer Never Ending Story an; denn der Bundestag fahren wiederholt und – dies ist für mich entscheidend – hat sich schon in zwei zurückliegenden Legislaturperio- unabhängig davon erfolgen wird, ob die engen Voraus- den mit diesem Gesetz befasst. Nach einer ausführlichen setzungen für einen solchen Antrag überhaupt vorliegen. Sachverständigenanhörung steht heute endlich die ab- schließende Lesung dieses Gesetzentwurfes, allerdings Wir haben von den Fachleuten plastisch dargelegt be- in einer stark gekürzten Fassung, an. Mit diesem Gesetz kommen, wie sich hierdurch die Verfahren, statt be- sollen vor allem Handwerksbetriebe in die Lage versetzt schleunigt zu werden, verzögern würden. Die Regelung werden, ihre Werklohnforderungen effektiver zu sichern. wäre also kontraproduktiv im Hinblick auf das Interesse Dass es in diesem Bereich Handlungsbedarf gibt, darin der Gläubiger, so schnell wie möglich an ihr Geld zu ge- sind wir uns, glaube ich, alle einig. langen. Um es deutlich zu sagen: Das haben nicht etwa (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie zwei oder drei Sachverständige gesagt, sondern die ab- bei Abgeordneten der LINKEN) solut überwiegende Mehrzahl. Allein im Jahr 2007 kam es im Bundesgebiet nach Wir diskutieren diesen Entwurf nicht erst in dieser Auskunft des Statistischen Bundesamtes im Baugewerbe Legislaturperiode, sondern haben uns schon in der letz- zu 3 780 Insolvenzeröffnungsverfahren. Diese hohe Zahl ten damit befasst und verschiedene Fachgespräche ge- an Insolvenzen vor allem kleiner und mittelständischer führt. In zwei der stattgefundenen Anhörungen hat sich Bauhandwerker ist zum wesentlichen Teil auf die nicht ein einziger Sachverständiger positiv zu diesem schlechte Zahlungsmoral der Auftraggeber zurückzufüh- Gesetzentwurf, soweit es die vorläufige Zahlungsanord- ren. Man muss sagen: Dies sind im Wesentlichen öffent- nung betrifft, geäußert. liche Auftraggeber; gerade bei ihnen ist eine sehr schlechte Zahlungsmoral vorzufinden. Wenn gesagt wird, man könne es doch einmal versu- (B) chen und die Regelung unter eine Evaluierung stellen, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) dann will ich nur den Tenor aus den Anhörungen wieder- NEN]: Die kennen keine Moral!) geben, der da lautete: Die ZPO ist kein Experimentier- Aber an der Moral der Menschen lässt sich – das hat feld. Mehr kann man, so glaube ich, als Rechtspolitiker Kollege Manzewski zu Recht gesagt – mit einem Gesetz dazu nicht sagen. Soweit es das Teilurteil und auch das nicht allzu viel ändern. Bei der Sicherung der Werkun- Vorbehaltsurteil betrifft, werden wir uns im Herbst noch ternehmeransprüche können allerdings durchaus Verbes- einmal darüber unterhalten, inwieweit hier noch Ände- serungen durch ein Gesetz erzielt werden. Das wollen rungen Sinn machen können. wir heute tun. Lassen Sie mich abschließend noch zwei Dinge sa- Die Sachverständigenanhörung hat deutlich gemacht gen. – auch das hat Kollege Manzewski schon gesagt –, dass vor allem die Einführung einer vorläufigen Zahlungsan- Erstens. Wir sollten uns langsam wirklich ernsthaft ordnung auf massive Bedenken gestoßen ist. Deshalb ist Gedanken darüber machen, ob nicht doch endlich ein ei- es richtig, dass wir diesen Bereich vollständig herausge- genständiges Bauvertragsrecht Sinn machen würde, nommen haben. Es ist aber genauso richtig, dass wir uns nach der Sommerpause noch einmal zusammensetzen (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und versuchen sollten, im Bereich Teilurteil und Vorbe- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) haltsurteil doch noch die eine oder andere Lösung zu fin- den, um den Handwerksbetrieben helfen zu können. schon allein deshalb, weil das Werkvertragsrecht immer mehr mit Regeln verwässert wird, die eigentlich nur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bausachen betreffen. der CDU/CSU) Zweitens. Ich möchte mich bei allen Berichterstattern Neben den heute zu beschließenden Änderungen in bedanken, die dazu beigetragen haben, dass wir heute Bezug auf die Bauhandwerkersicherung und Abschlags- doch zu einem alles in allem vernünftigen Ergebnis zahlungen möchte ich den einen oder anderen Punkt he- kommen werden. rausstellen, der für die Bauhandwerker sicher zu einer Verbesserung führen kann. Da ist zum einen der soge- Ich danke Ihnen. nannte Druckzuschlag, das heißt das Leistungsverweige- rungsrecht des Bestellers. Wenn der Unternehmer seine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mängelerfüllung noch nicht erbracht hat, so konnte der der CDU/CSU) Besteller bisher mindestens den dreifachen Wert der zu 18308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Mechthild Dyckmans (A) erbringenden Leistungen zurückbehalten. Wir werden Weg bringen. Eine so fundamentale Bedeutung hat das (C) das jetzt reduzieren. Wir wollen zu einer flexiblen Lö- Forderungssicherungsgesetz, das wir heute beschließen, sung kommen und sagen: Er kann in der Regel den dop- ganz sicher nicht. pelten Wert einbehalten. Ich glaube, das ist eine sinn- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- volle Lösung. Die Reduzierung dieses Druckzuschlags NEN]: Nein! Große Einigkeit!) kann die Liquidität der Bauhandwerker verbessern. – Völlig d’accord. – In aller Bescheidenheit sage ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aber: Für das ständig von Forderungsausfällen bedrohte der CDU/CSU) Bauhandwerk ist der heutige Tag kein ganz so schlechter Es ist nur ein erster Schritt, den wir heute gehen. Kol- Tag. lege Manzewski hat schon darauf hingewiesen: Wir Dass alle Fraktionen zustimmen, ist eine Besonder- brauchen ein eigenständiges Bauvertragsrecht. Wir soll- heit und erfreulich. Ich weiß zwar, dass das der Tatsache ten versuchen – dies werden wir in dieser Legislatur- geschuldet ist, dass wir den prozessualen Teil ausge- periode nicht mehr schaffen –, daran zu arbeiten; das klammert haben, aber wenn der verbliebene, nicht un- müssen wir angehen. wichtige Rest nicht gut wäre, würden Sie sicher nicht zu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stimmen, sondern Ihre Kritik anbringen. der CDU/CSU) Frau Kollegin Dyckmans, Sie sagten, dass das Pro- Neben den vorgesehenen gesetzlichen Lösungen blem der Forderungssicherung im Handwerk ein „Dau- sollte aber auch, wie ich meine, über neue Streitschlich- erbrenner“ ist. Es ist schon fast ein historischer Dauer- tungswege im Baurecht nachgedacht werden. Die bishe- brenner. Mit diesem Thema befasse ich mich rigen Möglichkeiten der Streitbeilegung, nämlich die – vermutlich ebenso wie der Kollege Manzewski –, seit Gerichtsverfahren, sind zeitaufwendig und kosteninten- ich im Bundestag bin, immer wieder und in regelmäßi- siv. Man könnte in einer besonderen Form der außerge- gen Abständen. Bei meinen Recherchen zu diesem Ge- richtlichen Streitbeilegung für die Bauindustrie, wie dies setz habe ich Folgendes herausgefunden: im angloamerikanischen Raum durchaus schon durchge- In der Gesetzeskommentierung von Stammkötter zum führt wird, Gesetz zur Sicherung von Bauforderungen ist zu lesen, (Joachim Stünker [SPD]: Wenn die das dass der Reichstag am 22. Januar 1896 – nachzulesen machen, machen wir das nicht!) auf Seite 495 des damaligen Stenografischen Berichts – „fast einstimmig beschlossen hat, die verbündeten Re- mögliche Regelungen finden, sodass man schneller und gierungen zu ersuchen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, (B) kostengünstiger zu Lösungen kommt. durch welchen die Bauhandwerker und Bauarbeiter für (D) Änderungsbedarf besteht aber noch in einem anderen ihre aus Arbeiten und Lieferungen an Neu- und Umbau- Bereich. Die Bundesländer sind aufgerufen, die Perso- ten erwachsenen Forderungen gesichert würden.“ nalsituation an den Gerichten zu verbessern, damit Bau- Aber auch außerhalb des Parlaments sind die Juristen prozesse schneller entschieden werden können. Es muss in dieser Frage nicht untätig gewesen. Auch dort ist das auch darüber nachgedacht werden, dass man spezielle Problem nahezu historisch. So nahm zum Beispiel der Baukammern und spezielle Bausenate einrichtet. Auf all Juristentag in Posen 1898 den folgenden Antrag an: dies hat bereits der Baugerichtstag mehrfach hingewie- sen und Forderungen gestellt. Es empfiehlt sich, zum Schutze der Baugläubiger in Neubaubezirken die Bauerlaubnis von der Eintra- Ich glaube, wir können den Bauhandwerkern sinn- gung eines Bauvermerks in das Grundbuch abhän- volle Regelungen anbieten, mit denen sie ihre Forderun- gig zu machen, an den die Sicherung von Bauforde- gen besser eintreiben können. rungen zu knüpfen ist. Ich danke Ihnen. Die Parlamente – Frau Kollegin Dyckmans, es waren (Beifall bei der FDP) mehr als die von Ihnen genannten – und die Rechtspre- chung sind seit dieser Zeit nicht untätig gewesen: So ist mit dem Werkvertragsrecht, das mit dem im Jahr 1900 in Vizepräsidentin Petra Pau: Kraft getretenen BGB eingeführt wurde, ein Anfang ge- Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin macht worden. Das Gesetz zur Sicherung von Bauforde- Andrea Voßhoff. rungen, das wir heute sinnvollerweise aktualisieren und (Beifall bei der CDU/CSU) modernisieren, stammt vom 1. Juni 1909. Mit dem Bau- handwerkersicherungsgesetz vom 1. Mai 1993 wurde der § 648 a ins BGB eingeführt. Das Gesetz zur Be- Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): schleunigung fälliger Zahlungen aus dem Jahr 2000 kor- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- rigieren wir mit dem Forderungssicherungsgesetz heute gen! Die Große Koalition schließt in dieser Woche um- teilweise. fassende und richtungsweisende Gesetzesvorhaben im Bereich der Rechtspolitik ab. Heute Morgen haben wir Warum steht das Thema immer wieder auf der parla- beispielsweise eine große Reform des GmbH-Rechts auf mentarischen Tagesordnung? Lassen Sie mich auf ein den Weg gebracht, und morgen werden wir eine ebenso Grundproblem eingehen. Der Kollege Manzewski und große Reform der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf den die Kollegin von der FDP, Frau Dyckmans, haben es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18309

Andrea Astrid Voßhoff (A) dankenswerterweise schon angesprochen und in der Die Gründe und Ursachen für das zu späte und (C) Konsequenz für ein eigenständiges Bauvertragsrecht ge- manchmal ausbleibende Fließen des Geldes sind uns al- worben. len hinreichend bekannt. Deshalb muss es Handlungs- auftrag des Gesetzgebers sein – da schließt sich der (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wenn das alle wol- Kreis zu den Forderungen, die Sie aufgestellt haben –, len, dann machen wir doch einmal etwas!) bei Verzögerungen, zum Beispiel durch behauptete Män- gel oder sonstige Gründe, dafür zu sorgen, dass das Pro- – So ist es. – Wenn ich an meine ersten Reden zu diesem blem schnell geklärt wird, damit die Zahlung schnell Thema in den Jahren 1998 und 1999 denke, erinnere ich fließen kann. Eine solche schnelle Klärung ist bei mate- mich daran, dass ich damals mit dieser Forderung allein riellen Fragen mit den Instrumenten des Werkvertrags- auf weiter Flur war. In den vergangenen zehn Jahren ha- rechts nur begrenzt zu erreichen. ben sich viele überzeugen lassen, was nicht schlecht ist. Bei circa 80 000 neuen Baustreitigkeiten in jedem In der Vielfalt der bestehenden Vertragsarten des Jahr und einer erstinstanzlichen Verfahrensdauer von Werkvertragsrechts nimmt der Bauvertrag – das wissen deutlich über einem Jahr können Gerichte diesem An- wir alle, und das ist, wie ich glaube, ein Spezifikum die- spruch ebenfalls nicht gerecht werden. Nicht umsonst ses Problems – eine Sonderstellung ein. Da die Erfüllung hat sich – Kollegin Dyckmans hat es, glaube ich, ange- des Vertrages von der Herstellung des Baus abhängt und sprochen – der 2. Baugerichtstag in diesem Jahr in ein Bau naturgemäß ein sehr zeitaufwendiges Projekt ist Hamm ebenfalls mit den Themen außergerichtliche – je nach Umfang –, haben wir es immer mit einem Ver- Streitschlichtung und Adjudikation beschäftigt. Ob das trag zu tun, der eine langwierige Abwicklung bedingt. der richtige Weg ist, will ich offenlassen. Das Forde- Wir wissen außerdem, dass der fertige Bau meistens an- rungssicherungsgesetz, das wir heute beschließen, will ders aussieht als geplant, weil im Zuge der Herstellung diesem Beschleunigungsversuch auf jeden Fall hinsicht- des Werks vielfache Änderungen vorgenommen werden. lich des materiellen Teils gerecht werden. Es leistet ei- Insofern nimmt der Bauvertrag eine Sonderstellung im nen, wie ich finde, sinnvollen Beitrag dazu. Bereich des Werkvertrages ein. Im Rahmen der Bauher- Ich muss auf die einzelnen Felder, die wir dort gere- stellungszeit trägt der Werkunternehmer eine enorm gelt haben, nicht eingehen. Das haben meine Vorredner große Vorleistungspflicht. Das ist das nächste Problem. bereits getan. Ich denke, auch wenn oder gerade weil wir Die Schutzbedürftigkeit der Vertragspartner, die wir lange und intensiv beraten haben, wollen wir keine zu als Gesetzgeber im Auge behalten müssen, ist unter- hohe Erwartungshaltung bei den Handwerkern schüren. schiedlich, sogar gegenläufig. Ist der Vertragspartner des Das wissen sie auch. Viele von ihnen hatten ausreichend (B) Werkunternehmers ein Verbraucher, ein Häuslebauer, Gelegenheit, sich mit den Inhalten zu beschäftigen. Wir (D) wie es so schön heißt, muss dessen Schutzbedürftigkeit bekommen eine überwiegend positive Resonanz darauf gegenüber dem Bauhandwerker immer besondere Be- – ich denke, das ist festzuhalten –, dass wir mit vielen achtung des Gesetzgebers finden. Ist aber Vertragspart- kleinen Stellschrauben das Gesetz aus dem Jahr 2000 in ner des Werkunternehmers der Generalunternehmer, der sinnvoller Weise korrigieren, damit das Geld schneller zudem seinerseits von einem Dritten als Besteller des fließen kann. Demzufolge denke ich, dass dies ein klei- Bauwerks den Werklohn erhält und diesen an den Bau- ner, bescheidener Erfolg ist und damit ein guter Tag für handwerker weiterzuleiten hat, dieser also als Subunter- das Bauhandwerk. nehmer am Ende der Kette eines Zahlungsflusses steht, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie muss das Augenmerk des Gesetzgebers in besonderer bei Abgeordneten der FDP) Weise der Schutzbedürftigkeit des Bauhandwerkers gel- ten. Ich freue mich, dass wir alle einvernehmlich – so hat es sich jedenfalls im Rechtsausschuss angekündigt – die- Denn – damit spreche ich ein weiteres besonders Pro- sem Gesetzentwurf heute zustimmen werden. blem in diesem Zusammenhang an – zu den rechtspoliti- Einleitend sagte ich, wie lange das Thema schon auf schen Überlegungen, die wir immer wieder zu bestimm- der Tagesordnung ist. Wir, meine Damen und Herren ten Themenfeldern anzustellen haben – das haben wir Kollegen, die Sie Mitstreiter bei der Forderung nach ei- heute Morgen bei der Debatte zum GmbH-Recht schon nem individuellen, speziellen Bauvertrag sind, wollen festgestellt – kommt manches Mal die reale Welt des hoffen, dass eine Weiterentwicklung nicht wieder hun- Marktes hinzu, die einer der Referenten auf dem kürz- dert Jahre dauert, sondern vielleicht etwas zügiger geht. lich stattgefundenen 2. Baugerichtstag in Hamm wie Das Handwerk hätte es verdient. folgt formulierte – Kollege Gehb mag es mir nachsehen; ich kann es nicht auf Latein sagen –: Cash flow is the Ich darf am Schluss allen Beteiligten, den Berichter- lifeblood of the construction industry. So wird auf Eng- stattern und insbesondere dem BMJ, ganz herzlich dafür lisch beschrieben, dass Bauunternehmen auf fristge- danken, dass sie uns sehr intensiv bei den Beratungen rechte Zahlung existenziell angewiesen sind. Fließen unterstützt haben. Das war sicherlich nicht immer ein- Gelder nicht zügig, können Bauunternehmen Löhne, fach. Material und Subunternehmen nicht bezahlen. Das Vielen Dank. Risiko der Insolvenz ist groß und oft auch bedauerliche Realität. Damit werden wir seit Jahren in Gesprächen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie mit Verbänden und dem Handwerk selbst konfrontiert. bei Abgeordneten der FDP) 18310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Das Wort hat der Kollege Frank Spieth für die Frak- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der tion Die Linke. CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Frank Spieth (DIE LINKE): Ich kann Ihnen bestätigen, dass der Obmann meiner Frank Spieth (DIE LINKE): Fraktion dieses Thema in der Obleuterunde zur Sprache Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gebracht und darum gebeten hat, dass dieses Gesetz end- gen! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass nach lich behandelt und zum Abschluss gebracht wird. mehr als zwei Jahren heute endlich der Gesetzentwurf des Bundesrates mit der Empfehlung des Rechtsaus- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schusses zur Beratung und Abstimmung gebracht wird. NEN]: Woher wissen Sie denn das?) Folgende Anmerkung kann ich Ihnen hier nicht erspa- – Das hat mir mein Kollege Nešković ganz eindeutig ge- ren: Hätte die Linke nicht auf Fortsetzung der Beratun- sagt. gen im Ausschuss gedrängt, (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Zuruf von der SPD: Was? – Joachim Stünker der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Oh, [SPD]: Sie waren doch gar nicht dabei!) der Kollege Nešković! Das ist ja dann die un- hätte es die Anhörung mit größter Wahrscheinlichkeit widerlegbare Vermutung der Unrichtigkeit! – nicht so schnell gegeben Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wo ist er denn heute? – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ (Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Was hat DIE GRÜNEN]: Er war nie dabei!) die Linke getan?) Zweitens kann ich Ihnen bestätigen, dass viele von und würde das Anliegen der kleinen Handwerksbetriebe denen, die jetzt hier im Plenarsaal sitzen und diesem Ar- weiter auf Eis liegen. beitskreis angehören, bei der Anhörung am 26. Mai die- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ses Jahres nicht dabei waren. Ich hingegen war anwe- Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?) send. So viel zu Ihrer Frage. Schauen Sie sich einmal die Obleuterunde an. In der Ob- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Panoptikum!) leuterunde ist das klar gesagt worden. Tatsache ist – darauf will ich hinweisen –, dass Hand- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werker riesige Probleme mit der schlechten Zahlungs- (B) NEN]: Herr Kollege, wo waren Sie denn? Das moral haben. Dies hat gerade in Ostdeutschland zur Ver- (D) ist ja der größte Witz des heutigen Tages! Das nichtung Tausender Arbeitsplätze geführt und die hätten Sie sich verkneifen sollen! – betroffenen Familienbetriebe in den finanziellen Ruin Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Nicht zu getrieben. fassen!) Ein Elektromeister aus meinem Wahlkreis hat einen Vertreter des Handwerks und der Kammern aus mei- Auftrag ausgeführt, und er hatte Restforderungen in nem Wahlkreis haben mir gesagt, dass 90 Prozent der In- Höhe von damals 70 000 DM. Der Kunde zahlte nicht, solvenzen im Handwerk auf Forderungsausfälle infolge und der Handwerksmeister klagte. Eineinhalb Jahre nach schlechter Zahlungsmoral zurückzuführen sind. Einreichung der Klage wurde auf Anraten des Richters ein Vergleich über 50 000 DM abgeschlossen. Doch die Vizepräsidentin Petra Pau: Zahlung erfolgte nicht. Daraufhin wurde ein Zahlungs- befehl erlassen. Dann gab der Schuldner eine eidesstatt- Kollege Spieth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des liche Erklärung zu seiner Zahlungsunfähigkeit ab und Kollegen Manzewski? stellte einen Insolvenzantrag. So ist das abgelaufen.

Frank Spieth (DIE LINKE): (Joachim Stünker [SPD]: Kann nicht sein!) Ja. Der Handwerker hat jetzt nicht nur einen Forderungs- ausfall von 70 000 DM zu beklagen, sondern er muss ne- Vizepräsidentin Petra Pau: ben den Kosten für seinen eigenen Rechtsanwalt die ge- Bitte. samten Gerichtskosten, auch die der Gegenseite, tragen und für diesen Auftrag noch zusätzlich die Mehrwert- Dirk Manzewski (SPD): steuer entrichten. Den 30 Jahre gültigen Titel kann er auch zukünftig mithilfe der Vollstreckung realisieren. Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- Dies hat er auch versucht. Das hat ihm aber zusätzliche men, dass es an allen möglichen Ursachen gelegen hat, Kosten verursacht. Mittlerweile beträgt sein Gesamt- mit Sicherheit aber nicht an einer Intervention der Lin- schaden 90 000 DM. ken, dass dieses Gesetz zum Abschluss gebracht worden ist, und sind Sie des Weiteren bereit, zur Kenntnis zu Die miese Zahlungsmoral – dies hat auch die Anhö- nehmen, dass die Vertreter Ihrer Fraktion bis auf letzte rung gezeigt – ist kein Problem der kleinen Häuslebauer, Woche nicht an einem einzigen Gespräch teilgenommen sondern eines der Generalunternehmen und – auch das haben? ist hier schon gesagt worden – der öffentlichen Hand. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18311

Frank Spieth (A) Die vorliegende Empfehlung des Ausschusses ist des- heit glänzen – oder durch Tiraden. Das sind die Beiträge (C) halb ein Schritt in die richtige Richtung und wird auch Ihrer Fraktion in Debatten über rechtspolitische Themen. von uns unterstützt. Dieses Gesetz – auch das ist bereits (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesagt worden – weckt bei den Betrieben Hoffnungen, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der die mit Sicherheit nicht erfüllt werden können. Außer- SPD und der FDP) dem kommen den Linken die Verbraucherinnen und Ver- braucher in diesem Gesetz zu kurz. Denn der kleine Frau Kollegin Voßhoff, ich bin 2002 in den Bundes- Häuslebauer ist relativ unerfahren, und bei Pfusch am tag gewählt worden. Damals lief gerade die Debatte da- Bau – auch das ist ein Problem – ist er den Baufachleu- rüber, wie man die Zahlungsmoral heben kann. Auch ten häufig unterlegen. 2004 und 2006 haben wir über dieses Thema gespro- Der Schutz der Verbraucher wird mit diesem Gesetz chen. Mir war immer klar: Das wird nichts. Man kann nicht verbessert. Er bleibt im weiteren parlamentari- die Moral der Leute nicht mit den Mitteln des Werkver- schen Verfahren im wahrsten Sinne des Wortes eine of- tragsrechts heben und schon gar nicht mit den Mitteln fene Baustelle. Wir brauchen ein umfassendes Bauver- der ZPO. Vielleicht kann man die Zahlungsmoral der tragsrecht, durch das Unternehmen und Verbraucher Leute heben; aber das geht nicht mit den gesetzlichen gleichermaßen abgesichert werden; auch darauf wurde Normen, über die wir hier diskutieren. Deswegen hatten bereits hingewiesen. Ich verweise auf die Ausführungen wir weder 2002 noch 2004 noch 2006 Erfolg. von Professor Kniffka vom Bundesgerichtshof, der dies Zum Glück klappt es jetzt, und zwar weil der unselige in der Anhörung, wie ich meine, hervorragend darge- § 302 a ZPO jetzt nicht mehr im Gesetzentwurf ist. Kol- stellt hat. lege Danckert von der SPD, der bei dieser Debatte leider Er hat aber auch die Länder in die Pflicht genommen nicht dabei ist, hat diesen Paragrafen noch bei der letzten und darauf hingewiesen, dass Richter Allroundkönner Diskussion, am 6. April 2006, heiß verteidigt – ich zi- sein müssen. Er sagte, man müsse um 9.00 Uhr Miet- tiere –: sachen, um 9.05 Uhr Bausachen und um 9.30 Uhr Arzt- (Dirk Manzewski [SPD]: Das ist jetzt aber ge- haftungsrecht verhandeln. mein!) (Joachim Stünker [SPD]: Da können Sie mal Ob wir dies letztlich durch das Gesetz beseitigen sehen, was der alles kann!) können, kann man bezweifeln. Aber ich finde, jeder Es sei deshalb zwingend, Spezialkammern für das Bau- Versuch ist lohnenswert. recht zu schaffen. Wir haben uns intensiv mit dieser Thematik beschäftigt (Joachim Stünker [SPD]: Die gibt es!) und sind zu dem Ergebnis gekommen: So sollten wir (B) Dann hätte man Spezialisten zur Verfügung, und die Ver- Rechtspolitik nicht machen. Wir haben § 302 a ZPO aus (D) fahren würden beschleunigt. dem Gesetzentwurf gestrichen. Er forderte die Länder außerdem auf, die Fortbil- Wir werden nur das unterstützen, was vernünftig und dungspflicht auf Landesebene zu regeln, da das Vorha- richtig ist. Es gibt durchaus Verbesserungen, zum Bei- ben, sie im Deutschen Richtergesetz festzuschreiben, ge- spiel für die Bauhandwerker. So wird die Stellung des scheitert ist. Dieser Forderung schließen wir uns an. Wir Subunternehmers – das ist ein wichtiger Punkt – durch unterstützen auch seine Aussage, dass die Sicherung von die Durchgriffsfälligkeit verbessert. Forderungen nach Zahlungen unter anderem über Bürgschaftsbanken, wie Abschlagszahlungen werden erleichtert. Der Mängelein- es in Frankreich gehandhabt wird, eine für beide Seiten behalt wird abgesenkt und flexibilisiert. Die Feststel- vorteilhafte Regelung wäre. Deshalb wird sich die Linke lungsbescheinigung wird gestrichen; sie hat sich nicht weiterhin für das französische Modell einsetzen. bewährt. Die Sicherung der Bauhandwerker wird da- durch, dass Sicherheitsleistungen einklagbar werden, Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. verbessert. (Beifall bei der LINKEN) Für die Gegenseite, für die Häuslebauer, verbessern wir auch etwas: Es wird die Möglichkeit einer Besteller- Vizepräsidentin Petra Pau: sicherheit zur Sicherung rechtzeitiger Erfüllung geben. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Wir haben ferner dafür gesorgt, dass die Verbraucher Kollege Jerzy Montag das Wort. nicht mehr durch die VOB/B benachteiligt werden kön- nen. Das alles ist gut. Deswegen tragen wir Grünen das Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mit. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die herzliche Bitte an Sie, dass wir, wenn wir Sehr geehrter Herr Kollege Spieth, wir lassen es Ihnen im Herbst über Änderungen der ZPO nachdenken – Vor- nicht durchgehen, dass Sie den Leuten draußen vorspie- behaltsurteil, Grundurteil, was auch immer –, nicht geln, Sie würden hier in Rechtsangelegenheiten kon- schon wieder zu § 302 a ZPO greifen, Herr Kollege struktiv mitarbeiten. Das ist ein schlechter Witz. Dr. Gehb. Das wäre wieder ein Griff daneben. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schließe mich den Kolleginnen und Kollegen mit Nach- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der druck an: Wir brauchen ein Bauvertragsgesetzbuch. SPD und der FDP) (Zustimmung des Abg. Dr. Jürgen Gehb Tatsächlich ist es so, dass in den allermeisten Fällen, in [CDU/CSU] sowie der Abg. Mechthild denen Sachverstand vonnöten wäre, Sie durch Abwesen- Dyckmans [FDP]) 18312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Jerzy Montag (A) Wir fordern das seit vielen Jahren. Frau Kollegin der jetzigen Form nicht mit dem Grundgesetz in Ein- (C) Dyckmans, nicht nur wir sollten uns an die Arbeit ma- klang stehen. In der Sache hat es die Zusammenlegung chen, auch das Bundesjustizministerium sollte endlich der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe und das Prinzip einen Gesetzesvorschlag unterbreiten. Das wäre nicht „Hilfe aus einer Hand“ allerdings ausdrücklich positiv schlecht. bewertet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Trotzdem müssen wir nun bis Ende 2010 eine Neure- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gelung finden. Ich finde, bei der Überlegung darüber, SPD und der FDP) welche Neuregelung und Trägerstruktur wir künftig wol- len, sollte eines im Vordergrund stehen, nämlich die Vizepräsidentin Petra Pau: Frage, welche Lösung die beste Grundlage für eine er- Ich schließe die Aussprache. folgreiche Unterstützung der Arbeitssuchenden bietet. Dabei geht es bei den Langzeitarbeitslosen – das will ich Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes- an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen – rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung eben nicht nur um Arbeitsvermittlung und Qualifizie- von Werkunternehmeransprüchen und zur verbesserten rung, sondern es geht auch um eine umfassende und in- Durchsetzung von Forderungen. Der Rechtsausschuss dividuelle Hilfe aus einer Hand. empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/9787, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drucksache 16/511 in der Ausschussfassung anzuneh- Wir sollten alles, aber auch wirklich alles dafür tun, dass men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der es keinen Rückfall in eine alte bürokratische Doppel- Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- struktur geben wird. chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich enthal- ten? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einstimmig angenommen. sowie des Abg. Jörg Rohde [FDP]) Dritte Beratung Mit den von Minister Scholz vorgeschlagenen soge- nannten kooperativen Jobcentern werden diese von mir und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem gerade formulierten Anforderungen allerdings in keiner Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Weise erfüllt; denn das kooperative Jobcenter ist wirk- Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich enthalten? – lich im wahrsten Sinne des Wortes rückwärtsgewandt. Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls ein- Es basiert nämlich auf dem Modell der getrennten Trä- stimmig angenommen. gerschaft, einem Modell, das es gab, bevor wir die Ar- (B) (D) Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: beitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammengelegt haben, um gerade diese Hilfe aus einer Hand zu gewähr- Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte leisten. Pothmer, Britta Haßelmann, Markus Kurth, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NIS 90/DIE GRÜNEN]) Statt Kooperative Jobcenter – Grundsiche- Das kooperative Jobcenter ist Ausdruck eines zentra- rung für Arbeitssuchende aus einer Hand mit listischen Modells. Es war mühsam, sich die regionalen gestärkten kommunalen Kompetenzen organi- Spielräume vor Ort zu erkämpfen. Wenn sich dieses Mo- sieren dell durchsetzt, dann werden die Kommunen an den Kat- zentisch verbannt. Das ist so klar wie Kloßbrühe. – Drucksache 16/9441 – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) sowie des Abg. Jörg Rohde [FDP]) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Außerdem müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass dieses Modell auch keine Rechtssicherheit bieten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wird, weil es eben als untergesetzliche Regelung durch- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die gepaukt werden soll. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so (Jörg Rohde [FDP]: Ohne uns!) beschlossen. Das heißt, weitere rechtliche Auseinandersetzungen mit Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Bünd- denjenigen, die das nicht akzeptieren – das sind viele –, nis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer sind vorprogrammiert. das Wort. Ich prognostiziere Ihnen heute und gehe mit Ihnen jede Wette ein, dass es das kooperative Jobcenter nicht Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geben wird, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wahr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) scheinlich wissen Sie alle noch genau, dass das Bundes- verfassungsgericht in seinem Urteil vom 20. Dezember weil es die Genossen in den eigenen Ländern und in den 2007 festgestellt hat, dass die Arbeitsgemeinschaften in eigenen Kommunen nicht wollen, weil es der Koali- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18313

Brigitte Pothmer (A) tionspartner nicht will, weil es die Arbeits- und Sozial- eines kooperativen Jobcenters unterbreiten. Die Ein- (C) ministerkonferenz nicht will und weil es die unterschied- schätzung des Ministeriums, dass dies ohne Gesetzes- lichsten Verbände und die Fachleute in diesem Bereich änderung möglich ist, war offensichtlich falsch. Wir ha- mit sehr großer Mehrheit ablehnen. Ich fände es gut, ben diese Einschätzung nicht geteilt. Sie wird auch von wenn der Minister auf diese wirklich massive Kritik und den Bundesländern nicht geteilt. Ich denke, das wird auf diesen massiven Widerstand reagieren und das Mo- auch im Ministerium mittlerweile so gesehen. dell zurückziehen würde, um so den Weg für eine sinn- Gleichwohl ist das Konzept des kooperativen Jobcen- volle Regelung frei zu machen. ters eine gute Diskussionsgrundlage, indem der Versuch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unternommen wird, die Vorgaben des Verfassungsge- sowie bei Abgeordneten der FDP) richtsurteils umzusetzen. Bis vor kurzem war das der einzige Diskussionsvorschlag. Derzeit ist die Bund-Län- Inzwischen finden sich in den Bundesländern partei- der-Arbeitsgruppe dabei, Alternativen auszuarbeiten. übergreifende Koalitionen, um das Modell zu stoppen. In Niedersachsen haben sich CDU, FDP, Grüne und Ihre Es wird deutlich – das ist auch die Position unserer SPD zusammengetan Fraktion –, dass das kooperative Jobcenter nicht in der vorgesehenen Form umgesetzt werden kann, weil es zu (Jörg Rohde [FDP]: Ja!) mehr Bürokratie führt und die Vorgaben des Bundesver- und fordern neue Rechtsgrundlagen, die sowohl den Ar- fassungsgerichtsurteils – nämlich Hilfen aus einer Hand gen als auch den Optionskommunen eine Bestandsga- zu gewähren – nicht ohne Weiteres umsetzbar sind. Das rantie geben. Dafür stehen auch wir Grünen im Bundes- Bundesverfassungsgerichtsurteil stellt den Gesetzgeber tag. und uns alle vor die große Herausforderung, mit allen Beteiligten zu sachgerechten Lösungen zu kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]) Es ist gut, dass die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Auf- träge erteilt hat, um über die unterschiedlichen Modelle Dabei ist allen klar, dass das nur auf dem Weg einer Ver- zu diskutieren. Zu diesen Modellen gehört die Bun- fassungsänderung möglich ist. Ich betone aber, dass wir desauftragsverwaltung, wie sie von Bayern, Baden- damit nicht in die tiefen Werte der Verfassung eingrei- Württemberg und Sachsen diskutiert wird. Dazu gehört fen. Es handelt sich dabei eher um eine technische Kor- auch die Frage, ob es nicht doch eine Verfassungsände- rektur. rung geben könnte, um die bisherige Form der Argen Die Große Koalition ist seinerzeit mit dem Hinweis umzusetzen. Zur Diskussion gehört auch der Auftrag, zu darauf angetreten, für große Lösungen zu stehen. Sie ha- prüfen, wie das kooperative Jobcenter weiterentwickelt (B) ben in diesem Hause eine verfassungsändernde Mehr- werden kann, um das eigentliche Ziel zu erreichen, Hil- (D) heit. Auch in den Ländern gibt es große Sympathien für fen aus einer Hand zu organisieren. eine Verfassungsänderung in dieser Form. Ich finde, dem Weil wir uns in diesem Diskussionsprozess befinden Minister sollte es weniger um sich und darum gehen, und dabei sind, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, sein Gesicht zu wahren; er sollte vielmehr den Wider- lehnen wir zum jetzigen Zeitpunkt Ihren Antrag ab. stand aufgeben und den Weg für Vielfalt und Flexibilität im Sinne der Arbeitssuchenden frei machen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das verstehe ich nicht! Er spricht Ihnen Ich danke Ihnen. doch aus dem Herzen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Es führt nämlich letztlich nicht weiter, sich schon für ein Andrea Nahles [SPD]: Welchen Weg sollen Modell zu entscheiden, während es in der Politik noch wir denn frei machen?) eine breite Palette von Vorschlägen gibt. In der gesamten Diskussion geht es aber nicht nur um Vizepräsidentin Petra Pau: die Organisation, sondern auch um andere Fragen. Es Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Karl geht unter anderem um die Frage, was wir unternehmen Schiewerling. müssen, welche Strukturen wir schaffen müssen, um (Beifall bei der CDU/CSU) denjenigen, die schon lange ohne Arbeit sind, eine Pers- pektive auf dem Arbeitsmarkt und die Möglichkeit zu er- Karl Schiewerling (CDU/CSU): öffnen, wieder in Arbeit zu kommen. Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine (Beifall bei der CDU/CSU) Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat Wenn es stimmt, dass wir das Prinzip des Forderns am 20. Dezember letzten Jahres ein unerwartetes Urteil und Förderns im SGB II deswegen eingeführt haben, gesprochen. Man mag dieses Urteil je nach Sichtweise bedauern. Ich halte es für eine gute Gelegenheit, nicht weil wir es hier mit einer Zielgruppe zu tun haben, die der besonderen, liebevollen und nachhaltigen Hilfe be- nur über die Organisation und Zuständigkeiten, sondern darf, um wieder in Erwerbsarbeit zu kommen, dann auch über die Aufgaben und Ziele des SGB II nachzu- denken. brauchen wir dazu auch entsprechende Rahmenbedin- gungen. Das verlangt nach dezentralen Lösungen und Das BMAS hat sich weitsichtig auf mögliche Urteile der sachgerechten Nutzung der Kenntnisse der Kommu- eingestellt und konnte so relativ schnell den Vorschlag nen, die Erfahrungen mit der Sozialhilfe und im Umgang 18314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Karl Schiewerling (A) mit den Zielgruppen gesammelt haben. Deswegen hat Organisationsmöglichkeit und eigenständige Hilfsstruk- (C) das Bundesverfassungsgericht recht, wenn es sagt: Wir turen schaffen. brauchen Hilfe aus einer Hand und nicht nur unter einem (Beifall bei der CDU/CSU) Dach. Aber es will, dass die Verantwortung der Handeln- den, also von Bund und Kommunen, erkennbar bleibt. Die Antworten auf die Fragen, ob es uns gelingt, das partnerschaftlich zu organisieren, und ob wir bereit sind, Das Neue an der Grundsicherung ist, dass Arbeitslo- darüber so zu diskutieren, dass es nicht nur um Macht- senhilfe und Sozialhilfe zusammengeführt wurden, um und Zuständigkeitsfragen geht, und die Lebenssituation Langzeitarbeitlose zu aktivieren, sie aus der Grundsiche- der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, werden da- rung herauszuholen. Dank der guten Konjunktur und rüber entscheiden, ob es uns gelingt, ein geeignetes Or- dank der Tatsache, dass wir viel mehr neue sozialversi- ganisationsmodell zu finden. Es geht nicht nur um die cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben, Ermittlung der Kosten der Unterkunft und der Sätze der kommen wir nun an den verhärteten Bereich der Lang- passiven Leistungen. Es geht um die entscheidende zeitarbeitslosigkeit heran. Deswegen stehen wir vor der Frage, wie wir die aktiven Leistungen organisieren. Wir Frage, was wir nun tun müssen, um hier möglichst indi- werden die organisatorischen Fragen in der Koalition zü- viduelle und passgenaue Hilfen organisieren und anbie- gig angehen. Wir haben ein Interesse daran, schnell zu ten zu können. Lösungen zu kommen, damit den Betroffenen geholfen (Beifall bei der CDU/CSU) werden kann, aber auch daran – vergessen wir das nicht –, dass diejenigen, die zurzeit in diesem Bereich beruflich Es geht um die Frage, wie wir das organisieren. Das tätig sind, Klarheit über die gesetzlichen, rechtlichen setzt Personalkapazitäten und entsprechende Integra- Rahmenbedingungen erhalten, unter denen sie tätig sind. tionsinstrumente voraus. Ich bin zutiefst davon über- zeugt, dass es bei der Lösungssuche nach einer verfas- Die Richtung ist damit klar. sungsgemäßen Organisation im Rahmen des SGB II im (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kern um die Beantwortung der Frage geht, wer für die NEN]: Nein! Nichts ist klar! Das ist es ja ge- Arbeitsmarktpolitik verantwortlich ist: der Bund, die rade!) Länder oder die Kommunen. Die Weisheit eines alten deutschen Sprichworts mit der (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Taube und dem Spatz lautet: lieber die direkte Hilfe aus einer Hand als das Kompetenzgerangel unter einem Ich sage Ihnen: Es kann nur der Bund sein. Die entschei- Dach. dende Frage ist, wie er seine Aufgabe wahrnimmt, ob (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (B) wir zentralistisch oder möglichst dezentral arbeiten, ob (D) wir die Menschen so mitnehmen, dass sie Mut bekom- der SPD) men, vor Ort ihre Aufgaben anzupacken und zu lösen, oder ob wir alles im Detail vorschreiben. Ich sage Ihnen Vizepräsidentin Petra Pau: sehr deutlich: Es kann nur der Weg sein, Freiheiten zu Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDP- gewähren und dies durch entsprechende Steuerungs- Fraktion. instrumente zu organisieren. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Jörg Rohde (FDP): Natürlich muss die Zuständigkeit klar sein. Aber es Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen geht um das Erreichen des Ziels, Menschen, die arbeits- und Herren! Der heute von den Grünen vorgelegte An- fähig sind und lange nicht mehr in Erwerbsarbeit gestan- trag zum Thema „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ den sind, wieder in Erwerbsarbeit zu vermitteln. Damit geht teilweise in die richtige Richtung. Die FDP-Bun- haben wir mittlerweile viele Erfahrungen gesammelt, so- destagsfraktion teilt die Kritik der Grünen an den koope- wohl in den Argen als auch in den Optionskommunen. rativen Jobcentern, welche vom Bundesarbeitsminister Meine Fraktion ist entschieden dafür, das Optionsmodell ins Gespräch gebracht wurden. Der Arbeitsminister will zu entfristen, zumindest die vorhandenen Optionen zu anscheinend bei der Auflösung der als verfassungswid- erhalten und Ausweitungsmöglichkeiten zu eröffnen. rig eingestuften Arbeitsgemeinschaften die parlamenta- rische Gesetzgebung umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Andrea Nahles [SPD]: Das ist ja ganz ein- Unabhängig davon, wie wir dies organisieren, brau- fach! Wenn man keine Alternative bietet, dann chen wir für die Bekämpfung der verhärteten Langzeit- kritisiert man einfach den Vorschlag!) arbeitslosigkeit ein eigenständiges Instrumentarium. Ich Herr Schiewerling, ich hoffe, Sie haben mit Ihren Äuße- sehe darin übrigens den entscheidenden Punkt. Es kann rungen recht. nicht sein, dass wir ausschließlich das Instrumentarium des SGB III, das gerade einmal für 30 Prozent der Ar- Die kooperativen Jobcenter würden die Chancen für beitslosen gilt, für die restlichen 70 Prozent überneh- Arbeitsuchende sicher nicht verbessern. Die FDP-Bun- men, die sich im Rechtskreis des SGB II befinden. Wir destagsfraktion fordert seit Jahren für alle Arbeitsuchen- müssen sehen, dass wir Elemente aus dem SGB III er- den die Betreuung aus einer Hand in kommunaler Trä- halten, aber im Rahmen des SGB II eine eigenständige gerschaft. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18315

Jörg Rohde (A) (Beifall bei der FDP – Andrea Nahles [SPD]: nen. Gleichzeitig können die Prinzipien der Arbeitslo- (C) Eine Privatisierung! Etwas anderes fällt Ihnen senversicherung durch die Einführung von Pflicht- und nicht ein!) Wahltarifen gestärkt werden. Das erlaubt individuelle, flexible und unbürokratische Die FDP-Bundestagsfraktion hat am 28. Mai 2008, Lösungen für die Betroffenen. Stattdessen sollen jetzt also eine Woche vor den Grünen, auf Drucksache 16/9339 mit Kommunen und Arbeitsagenturen wieder zwei ge- einen eigenen Antrag zu dem Thema in die parlamentari- trennte Träger tätig werden. Das führt zu doppelter Ver- schen Beratungen eingebracht. Wir hätten über das waltung und zu entsprechenden Kosten. Weder wird das Thema lieber zu einem späteren Zeitpunkt diskutiert; Chaos bei der Betreuung der Arbeitsuchenden beseitigt schließlich soll in wenigen Monaten die offizielle Eva- noch ist eine höhere Effektivität zu erwarten. Arbeits- luation, das heißt die wissenschaftliche Untersuchung minister hat noch immer die Chance, dop- der unterschiedlichen Modelle der Wahrnehmung der pelte Verwaltungsstrukturen abzuschaffen. Nutzen Sie Aufgaben nach SGB II folgen. diese, Herr Minister! (Zuruf von der FDP: Das hätte wohl Sinn Mit seinem bisherigen Vorschlag läutet der Minister gemacht!) allerdings das Ende des Optionsmodells ein, ohne das zum Jahresende erwartete Ergebnis der schon mehr als Unsere vier Kernforderungen sind: Erstens. Die Ar- zwei Jahre andauernden Evaluation abzuwarten. Die beit der Optionskommunen und die Verantwortung der Vorschläge werden von einem neuen Bericht der Bun- Kommunen für die Betreuung Langzeitarbeitsloser müs- desagentur für Arbeit flankiert, die sich selbst hervorra- sen nachdrücklich unterstützt werden. Das fordern wir gende Arbeit bestätigt. Fachlich und methodisch ist analog zu den Grünen. dieser Bericht höchst fragwürdig. Dies gilt für den Un- Zweitens. Die Befristung der Optionsregelung auf tersuchungszeitraum, die herangezogenen Merkmale den 31. Dezember 2010 muss unverzüglich aufgegeben und die zugrunde gelegten Hypothesen. Die angeblichen werden; die Regelung sollte unbefristet – nicht nur bis Erkenntnisse sind als ungesichert und tendenziös anzu- 2013 – gelten. sehen. Drittens. Grundsätzlich sind die Kommunen mit der Wir schließen uns der Kritik von Landrat Hans Jörg Aufgabenwahrnehmung nach dem SGB II zu betrauen Duppré, dem Präsidenten des Deutschen Landkreistages, und die Finanzbeziehungen grundgesetzlich abzusi- an: chern. (Andrea Nahles [SPD]: Ach, das verwundert Viertens. Denjenigen Kommunen, die die alleinige aber wirklich!) (B) Trägerschaft für die Grundsicherung für Arbeitsuchende (D) Der Bericht verfolgt einzig und allein den Zweck, übernehmen wollen, ist dies zu ermöglichen. in der jetzigen Diskussion um die Neuorganisation Leider gehen die Grünen in ihrem Antrag nicht ganz der Verwaltung für die Langzeitarbeitslosen die so weit wie wir, aber in der Zielrichtung haben wir große Position der Bundesagentur zu stärken, indem sie Übereinstimmung. Mittlerweile steigt auch der Druck eigene Erfolge bei der Arbeitsvermittlung verkün- aus den Ländern, bei dieser Frage den Kommunen eine det und die Arbeit der Optionskommunen herab- Wahlfreiheit einzuräumen. Die FDP-Bundestagsfraktion würdigt. begrüßt daher ausdrücklich die fraktionsübergreifende Dem ist nichts hinzuzufügen. Initiative im Niedersächsischen Landtag, die von CDU, SPD, Grünen und FDP verabredet wurde und voraus- (Beifall bei der FDP) sichtlich nächste Woche im Landtag verabschiedet wer- Auch einer neuen Behörde unter der Kontrolle der den soll. zentralistisch organisierten Arbeitsagenturen wird es (Zuruf von der FDP: Sehr gut!) nicht gelingen, die Chancen für Arbeitsuchende zu ver- bessern. Alternativen zu den als verfassungswidrig ein- Frau Pothmer hat eben schon auf diese Initiative hinge- gestuften Arbeitsgemeinschaften dürfen nicht zur Schaf- wiesen. Die vier Fraktionen stellen übereinstimmend fung eines Bundessozialamts führen. Nach dem Urteil fest, dass die Erfahrungen der Optionskommunen in des Bundesverfassungsgerichts besteht jetzt die histori- Niedersachsen gezeigt haben, dass eine dezentrale Ar- sche Chance, die Bundesagentur für Arbeit aufzulösen beitsmarktförderung für Langzeitarbeitslose besser auf und die Aufgaben neu zu ordnen. deren Belange eingehen kann als eine zentrale Struktur. Gemeinsam fordert man in Hannover unter anderem die Wir fordern, dass die Betreuung und Beratung von entsprechende Wahlfreiheit für die Kommunen. Die Vor- Arbeitsuchenden unter eigener Verantwortung in kom- stellungen der FDP-Bundestagsfraktion gehen zwar munalen Jobcentern erfolgt. noch weiter, aber auch hier geht die Initiative eindeutig (Beifall bei der FDP) in die richtige Richtung. Die finanziellen Grundlagen sind im Grundgesetz fest- Der Deutsche Landkreistag erhebt diese Forderung zuschreiben. Die Gewährung aller Leistungen aus einer ebenfalls, und die Sozialminister der Länder haben im- Hand macht langwierige Abstimmungsprozesse mit den merhin eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich mit die- Arbeitsagenturen überflüssig. Sie erlaubt individuelle, sem Thema befasst. Daher gehe ich davon aus, dass die flexible und unbürokratische Lösungen für die Betroffe- niedersächsische Initiative auch aus anderen Bundes- 18316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Jörg Rohde (A) ländern Unterstützung erhält. Sicher zählen kann man Die Grünen haben gesagt: Um Gottes Willen, keine Op- (C) hier auf Hessen; aber auch Bayern sollte sich in dieser tionen. Wir waren uns darüber einig, ein ganz anderes Frage klar auf der Seite der Kommunen positionieren. Modell zu fahren. Jetzt loben viele plötzlich die Option über alles. (Zuruf von der FDP: Richtig!) (Jörg Rohde [FDP]: Man lernt aus Erfahrun- Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Die zu- gen, Herr Staatssekretär!) ständige Ministerin in der Bayerischen Staatsregierung hat zwar vor einigen Monaten schon einmal ihre Sympa- Die CDU/CSU war damals überwiegend für die Option. thie für eine Ausweitung der Anzahl der Optionskom- munen ausgedrückt, aber hier in Berlin wurde im Bun- Wir haben eine Situation, wo ich nur warnen kann. desrat noch keine bayerische Initiative gestartet. Ich möchte deutlich sagen, dass man dieses so bedeu- tende Thema angesichts der Leistung der Beschäftigten (Zuruf von der FDP: Dann müssen Sie es vor Ort in den Arbeitsagenturen und Arbeitsgemein- machen!) schaften, die letztlich den Rückgang der Arbeitslosigkeit durch ihre persönliche Arbeit entscheidend vorange- Jetzt wäre ein günstiger Zeitpunkt, wenigstens auf den bracht haben, nicht in Misskredit ziehen sollte. fahrenden Zug aufzuspringen, werte Kollegen der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion und werte Frau Stewens. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der FDP: Nicht, dass die wieder Das ist eine wichtige Angelegenheit, weil die Men- umfällt!) schen unter größten Schwierigkeiten genau diesen Er- folg herbeigeführt haben. Alle Erfahrungen in anderen Falls die Unterstützung aus Bayern vorläufig aus- Ländern, in denen solch eine große Reform angegangen bleibt, können die Wählerinnen und Wähler im Herbst ja worden ist, haben gezeigt: Man hat mindestens fünf noch entscheiden, ob diese zögerliche Staatsregierung Jahre gebraucht, bis dieses komplizierte Geflecht eini- nicht doch endlich abgewählt wird. germaßen so erfolgreich und effizient lief, Vielen Dank. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP – Lachen bei der CDU/ NEN]: Und wir sollen dieses komplizierte Ge- CSU und der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe flecht jetzt weiterführen?) [CDU/CSU]: Wieder zwei Prozent für Jörg Rohde!) dass das Ziel, nämlich nicht nur Arbeitsmarktvermitt- lung und Qualifizierung der Langzeitarbeitslosen, son- dern auch das Aufgreifen individueller Problemlagen (B) Vizepräsidentin Petra Pau: des Einzelnen und die Unterstützung durch individuelle (D) Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hilfen, erreicht werden konnte. Klaus Brandner. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Rohde [FDP]: (Beifall bei der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe Das kann man besser vor Ort!) [CDU/CSU]: Klaus, halt wieder eine gute Rede!) – Wo denn sonst, wenn nicht vor Ort? Etwa in Berlin? Die Menschen werden doch nicht aus den Wahlkreisen nach Berlin bestellt, lieber Kollege Rohde, um ihnen hier Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- die Hilfen zukommen zu lassen. minister für Arbeit und Soziales: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Aber hier in gen! Wir reden über einen Teilabschnitt der größten ar- Berlin wäre es besonders nötig!) beitsmarktpolitischen Reform, die wir in den letzten Jah- Lassen Sie uns zu dem Antrag der Grünen kommen; ren durchgeführt haben. Rot-Grün hatte sich seinerzeit auf die Linke komme ich gleich zurück. Ich glaube, dass zusammengefunden, um Vorschläge zu erarbeiten, wie uns allen die Organisation dieses Arbeitsfeldes am Her- das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit – die größte zen liegt. Nun hat das Bundesverfassungsgericht, wie Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt – gelöst werden von mehreren Rednern angesprochen wurde, die Ar- könnte. Bevor wir über diese Themen sprechen, möchte beitsgemeinschaften für unvereinbar mit der Verfassung ich zunächst sagen, was sich in diesem Land seit dieser erklärt. Es hat aber auch ausdrücklich gesagt, dass die Zeit – wir haben das mit der Großen Koalition fortge- Entscheidung, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe setzt – getan hat. Wir haben in gut drei Jahren mehr als zusammenzuführen und die Leistungen aus einer Hand 2 Millionen Arbeitslose weniger, fast 1,3 Millionen anbieten zu können, richtig war und positiv zu bewerten mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und ist. deutlich weniger Langzeitarbeitslose. Verfassungsgemäß ist insbesondere – das will ich be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie tonen – die Verantwortung des Bundes für die Vermitt- bei Abgeordneten der FDP) lung von Langzeitarbeitslosen. Das heißt im Kern: Für Das, was wir in den Reden vorher gehört haben, ist die Zusammenarbeit der Agenturen für Arbeit und der überwiegend das, was wir damals in Lagerauseinander- Kommunen bei der Gewährung der Grundsicherung für setzungen erlebt haben: Wer kann es besser? Wo soll es Arbeitsuchende müssen wir eine neue Form finden. Alle, hin? Die einen sagen, die BA muss abgeschafft werden. die jetzt auspacken und sagen: „Hier ist diese Form!“, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18317

Parl. Staatssekretär Klaus Brandner (A) sollten sich einmal fragen, ob sie nicht voreilig debattie- beschäftigt. Das war zwar überhaupt kein Thema, aber (C) ren; denn es sind eine Menge Aktivitäten in diesem Land Ihr Antrag behandelt dieses. notwendig, um diese Form umzusetzen. (Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND- Bundesminister Scholz, Staatssekretär Scheele und NIS 90/DIE GRÜNEN]) auch ich selbst haben dazu in den letzten Monaten un- – Entschuldigung, das ist eine ganz andere Ebene, über zählige Gespräche mit den Beteiligten im Bund, in den die wir reden. Ländern und in den Kommunen sowie mit Mitarbeiterin- nen und Mitarbeitern der Arbeitsgemeinschaften ge- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führt, um genau über dieser Fragestellung zu brüten und NEN]: Wir sagen, dass die Optionskommunen Vorschläge zu erarbeiten. Die Antworten auf die anste- weiterbestehen sollen!) henden Fragen, die die Grünen zuletzt vorgetragen ha- Sie wissen, dass die Optionskommunen auf der Basis ei- ben, sind – das muss ich mit Bedauern sagen – falsch. ner Experimentierklausel bestehen. Für diese Experi- Im Übrigen sind in dem Redebeitrag von Frau mentierklausel haben wir eine klare gesetzliche Grund- Pothmer – ich bitte Sie, sich diesen in Erinnerung zu ru- lage, die überhaupt nicht strittig ist und die bis 2010 gilt. fen – zig Widersprüche. Sie sagt, die Kommune sitze am (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Katzentisch. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wir wol- Wir wollen das entsprechend ändern!) len, dass die Kommune auf Augenhöhe an diesem Pro- zess beteiligt ist. Von Katzentisch kann überhaupt keine Der Bundesminister hat gesagt, dass er fest davon aus- Rede sein. Wenn man ein solches Vorurteil hat und die- geht – das hat er den Optionskreisen mitgeteilt –, dass ses verbreitet, dann sorgt man dafür, dass ein Teil gar sie bis 2013 weiterbestehen werden. Dann muss die poli- nicht mit ins Boot steigt. tische Entscheidung getroffen werden, nicht früher. Des- halb ist das ein Punkt, der diese Verabredung im Koali- Dann war von einem Rückfall in eine bürokratische tionsvertrag überhaupt nicht infrage stellt. Doppelstruktur und von „rückwärtsgewandt“ die Rede. Erstens will das keiner, und zweitens: Wie viel getrennte Ich lese in Ihrem Antrag weiter, die Anzahl der Op- Aufgabenwahrnehmung gibt es gerade in Niedersach- tionskommunen müsse erhöht werden. Ich habe Zweifel sen, – das will ich hier ganz deutlich sagen –, ob dieses Vor- haben mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Also doch getrennte Aufgabenwahr- (Jörg Rohde [FDP]: Dann muss man die nehmung!) Gesetze ändern!) (B) (D) wobei äußerst erfolgreiche Arbeit geleistet wird? Das – Dann muss man nicht nur die Gesetze, sondern dann heißt doch nicht, dass die Arbeit nicht gemeinsam unter muss man die Verfassung ändern, lieber Herr Rohde. einem Dach geleistet werden kann, liebe Frau Pothmer. Aber eine Verfassung ändert man nicht so einfach. Ich bitte Sie: Vermeiden Sie die voreiligen Urteile über (Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND- das, was geht, und das, was nicht geht. Damit tragen Sie NIS 90/DIE GRÜNEN]) zur Verunsicherung in diesem Land bei. – Dazu haben Sie keinen Antrag gestellt. Ich kenne we- (Beifall bei der SPD) der von den Grünen noch von irgendjemand anderem ei- nen Antrag zur Änderung der Verfassung. Das möchte Ich will einen weiteren Widerspruch in Ihrer Aussage ich ganz deutlich sagen. deutlich machen. Auf der einen Seite sagen Sie, da solle etwas durchgepaukt werden, auf der anderen Seite pro- Wichtig ist zuallererst, dass man sich bewusst ist, was phezeien Sie, dass das sowieso nicht komme. Was ist das bedeutet. denn jetzt richtig? Soll etwas durchgepaukt werden? (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Oder kommt es sowieso nicht? NEN]: Das sagen auch Ihre Genossen in Han- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nover!) NEN]: Ich sagte: Sie werden versuchen, das – Wir reden hier im Bundestag, Frau Pothmer. Hören Sie durchzupauken! – Jörg Rohde [FDP]: Wir hof- zu, und wenn Sie ein Anliegen haben, dann stellen Sie fen, dass es nicht kommt!) eine Zwischenfrage. Ich gehe gerne darauf ein. – Das, Gehen Sie sachlich an die Dinge heran, und überlegen was klipp und klar im Grundgesetz steht, ist der Boden, Sie einmal, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben. auf dem wir unsere Arbeit hier zu leisten haben, nicht mehr und nicht weniger. Eine solche Änderung stünde in Ich sage Ihnen, dass das Bundesverfassungsgericht krassem Widerspruch zu dem, was wir vor kurzem in festgestellt hat, dass die Arbeitsgemeinschaften unver- diesem Hause entschieden haben, nämlich die Entflech- einbar mit dem Grundgesetz sind. Deshalb müssen wir tung der Verwaltungsebenen von Bund und Ländern und eine alternative Lösung finden. Wie Sie wissen, haben die Schaffung klarer Verantwortlichkeiten gegenüber wir dazu etwas vorgeschlagen, nämlich die Form des ko- den Bürgerinnen und Bürgern. In der Föderalismuskom- operativen Jobcenters. Der große Irrtum in Ihrem Antrag mission haben wir beschlossen, dass eine direkte Aufga- besteht allein schon darin, dass sich das Bundesverfas- benübertragung vom Bund auf die Kommunen nicht sungsgericht mit den Optionskommunen überhaupt nicht möglich ist. Deshalb sage ich Ihnen klipp und klar: Was 18318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Parl. Staatssekretär Klaus Brandner (A) Sie hier vorschlagen, ist schlichtweg verfassungswidrig Vizepräsidentin Petra Pau: (C) und deshalb so nicht machbar. Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin Katja Kipping. Wie ist der Sachstand bei den politischen Überlegun- gen, die wir aufgegriffen haben? Die drei denkbaren (Beifall bei der LINKEN) Modelle, die von Bund und Ländern erarbeitet worden sind, werden geprüft und bewertet. Das erste Modell ist Katja Kipping (DIE LINKE): das kooperative Jobcenter. Es ist zu fragen, was zu tun Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist, um eine solche Einrichtung funktionsfähig auszuge- Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem Urteil eine stalten – nicht nur untergesetzlich, sondern auch im Rah- Frist bis Ende 2010 eingeräumt. Wir wären schlecht be- men gesetzlicher Regelungen. Das zweite Modell bein- raten, wenn wir diese Frist vollständig ausschöpften; haltet die Übertragung der passiven Leistungen auf die denn es häufen sich Berichte, wonach die Unsicherheit Kommunen in einer Form der Bundesauftragsverwal- bei den Beschäftigten der Argen zunimmt, einzelne Mit- tung. Bei dem dritten Modell geht es um die Entwick- arbeiter abgeworben werden oder sich verstärkt nach lung eines Arge-Modells, wofür es allerdings einer Ver- neuen Jobs umsehen. Ein solches Klima ist nicht wirk- fassungsänderung bedürfte. lich gut für die Qualität der Beratung. Kollege Schiewerling hat bereits gesagt, dass es unter (Andrea Nahles [SPD]: Das sollten Sie dem Bun- den Ländern derzeit keine ausreichende Mehrheit für desverfassungsgericht einmal mitteilen!) eine Verfassungsänderung gibt. Einige Länder beziehen diese Möglichkeit in ihre Erwägungen ein. Aus unserer Insofern wären wir wirklich gut beraten, möglichst bald Sicht gibt es dafür aber, wie gesagt, keine ausreichende eine Lösung zu finden. Das wäre sowohl im Sinne der Mehrheit. Das, was bisher diskutiert wurde, muss daher Beschäftigten der Argen als auch im Sinne der Erwerbs- kritisch hinterfragt werden. losen. Jedenfalls aus unserer Sicht müssen Finanz- und (Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles Durchführungsverantwortung in einer Hand bleiben. [SPD]: Richtig! Das wissen wir!) Man kann sich kaum vorstellen, dass der Bund zwar be- Aktuell gibt es eine Art Tauziehen zwischen denjeni- zahlt, dass aber allein auf lokaler Ebene entschieden gen, die Kommunalisierung wollen, und denjenigen, die wird. Das ist ein Problem, über das wir nachdenken müs- die Bundesagentur für Arbeit stärken wollen. Der Antrag sen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die solidari- der Grünen versucht, das Tauziehen eher zugunsten der sche Bundesfinanzierung bedingt, dass Mittel aus struk- Kommunalisierung zu entscheiden. Im Namen der Lin- (B) turschwachen und Mittel aus strukturstarken Regionen ken kann ich dazu nur sagen, dass Erwerbslosigkeit ein (D) zusammenfließen. gesamtgesellschaftliches Problem ist, das man nicht ein- fach auf die Kommunen abwälzen kann. Diesbezüglich Vizepräsidentin Petra Pau: stehen wir als Bund in der Pflicht. Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Zeit. (Beifall bei der LINKEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht ge- nau so im Antrag!) Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Arbeit und Soziales: – In Ihrem Antrag steht, dass Sie die Anzahl der Op- Dieses System kann nur so lange funktionieren, wie tionskommunen erhöhen wollen. Das ist natürlich im gewährleistet ist, dass in den strukturschwachen Regio- Sinne einer Kommunalisierung. nen keine besseren Standards gelten als in den struktur- Wir haben die möglichen Konsequenzen aus dem starken Regionen. Ich sage deshalb ganz deutlich: Ein Bundesverfassungsgerichtsurteil mit vielen lokalen Ak- solidarisches Modell, in dem der Bund die Verantwor- teuren diskutiert. Man hat immer wieder den Eindruck tung für die Finanzierung der Langzeitarbeitslosen be- gewonnen, dass die Entscheidung zwischen der real hält, setzt voraus, dass Bund und Länder sich darüber existierenden Optionskommune und der real existieren- verständigen müssen, wie man dem haushalterischen den Bundesagentur für viele wie eine Wahl zwischen Prinzip Rechnung tragen kann, dass der Bund wissen Scylla und Charybdis war. Wenn wir eine Stärkung der will, wohin das Geld fließt. Bundeskompetenz wollen, dann muss sich die Bundes- agentur zuallererst wieder darauf besinnen, dass sie vor Vizepräsidentin Petra Pau: allem einen sozialpolitischen Auftrag hat. Diesem so- zialpolitischen Auftrag muss sie sich wieder verstärkt Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. stellen. (Beifall bei der LINKEN) Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Arbeit und Soziales: Doch ganz unabhängig davon, wer das Tauziehen ge- Ich danke Ihnen. winnt: Entscheidend ist, dass die Qualität der Beratung verbessert wird. Der Umgang mit Anspruchsberechtig- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten ist immer noch viel zu oft von dem Geist oder zu- der CDU/CSU) mindest der unterschwelligen Einstellung geprägt, man Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18319

Katja Kipping (A) habe es mit Untertanen zu tun, die zu erziehen und zu schnell zu existenziellen Problemen führen. Das Min- (C) belehren sind. deste, was wir jetzt tun können, ist, dafür zu sorgen, dass Widersprüche eine aufschiebende Wirkung haben. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist jetzt kein Beitrag zur Struktur, Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Frau Kipping!) (Beifall bei der LINKEN) Eine moderne Sozialpolitik sollte stattdessen von dem Bewusstsein geprägt sein, dass auf beiden Seiten des Ti- Vizepräsidentin Petra Pau: sches Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind und dass Ich schließe die Aussprache. es sich auch auf der anderen Seite des Tisches um Men- schen mit Rechten handelt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9441 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall bei der LINKEN) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Es liegt einiges im Argen, was die Beratungsqualität verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sowohl in den Argen als auch in den Optionskommunen so beschlossen. anbelangt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- NEN]: Das bestreitet niemand!) gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Wenn wir als Linke dieses Problem ansprechen, wird uns Gesetzes zur Änderung des Bundesministerge- immer vorgeworfen, wir seien Miesmacher. Deshalb setzes möchte ich an dieser Stelle einfach einmal aus dem Be- – Drucksache 16/5052 – richt des Bundesrechnungshofs zitieren. Darin heißt es: Bei zwei Dritteln der 1-Euro-Jobs war mindestens eine Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Fördervoraussetzung nicht erfüllt. – Kurzum: Es muss schusses (4. Ausschuss) da noch einiges verbessert werden. Wir als Linke haben – Drucksache 16/9759 – hier bereits vor einigen Monaten einen entsprechenden Antrag eingebracht und ganz konkrete Maßnahmen vor- Berichterstattung: geschlagen. Abgeordnete Ralf Göbel Siegmund Ehrmann (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Max Stadler NEN]: Sie haben jetzt keinen Beitrag geleistet! Petra Pau (B) Was wollen Sie denn?) Silke Stokar von Neuforn (D) Wir sind aufgefordert, uns schnell darüber zu verständi- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gen, wie die zukünftige Struktur aussehen soll. gemäß § 96 der Geschäftsordnung Ich möchte aber schon an dieser Stelle einen ganz – Drucksache 16/9781 – konkreten Vorschlag unterbreiten. Liebe Sozialdemokra- Berichterstattung: ten, liebe Christdemokraten, Abgeordnete Dr. Michael Luther (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Oh nein!) Otto Fricke Roland Claus geben Sie sich bitte einen Ruck Alexander Bonde (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- Wir haben einen Ruck!) sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. – Ich und ermöglichen Sie, dass Widersprüche aufschiebende sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um Wirkung haben! Bereits jetzt wird jedem dritten Wider- die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ralf spruch in Gänze stattgegeben. Die Ungewissheit, die Göbel für die Unionsfraktion, Siegmund Ehrmann für hinsichtlich der Strukturen besteht, wird die Fehlerquote die SPD-Fraktion, Dr. Max Stadler für die FDP-Frak- nicht senken. Im Gegenteil: Sie wird die Fehlerquote tion, Volker Schneider (Saarbrücken) für die Fraktion womöglich erhöhen. Auch wenn wir eine Zeit der Um- Die Linke und Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion stellung haben, wird es Unsicherheiten geben, die die Bündnis 90/Die Grünen.1) Fehlerquote wiederum eher erhöhen werden. Dieses Problem, das auch durch die Unsicherheit in Vizepräsidentin Petra Pau: den Strukturen verursacht worden ist, dürfen wir nicht Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss auf dem Rücken der Erwerbslosen oder der Armen aus- empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- tragen; sache 16/9759, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5052 in der Ausschussfassung anzu- (Beifall bei der LINKEN) nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in schließlich reden wir hier von Menschen – damit komme ich zum Schluss –, bei denen falsche Bescheide sehr 1) Anlage 3 18320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Vizepräsidentin Petra Pau (A) der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Wir können vor dem Hintergrund der Spannungen (C) zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionen, Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den die im Nachgang zur Intervention der US-amerikani- Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge- schen Streitkräfte und der Koalitionstruppen erneut zum gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung Ausbruch gekommen sind, feststellen, dass einer der der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- wichtigsten Punkte im Irak die nationale Versöhnung ist. nen angenommen. Es handelt sich dabei um einen sehr komplexen Vorgang, der an den Grenzen des Iraks nicht haltmachen darf. Wir Dritte Beratung von der FDP-Fraktion sind zutiefst davon überzeugt, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem dass eine Stabilisierung des Iraks auch im nationalen In- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – teresse der Bundesrepublik Deutschland liegt. Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich enthalten? – (Beifall bei der FDP) Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke Der Krisenherd Irak liegt unmittelbar vor der Haustür bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd- der NATO; das NATO-Vollmitglied Türkei ist unmittel- nis 90/Die Grünen angenommen. barer Nachbar. Der Konfliktherd liegt damit auch vor unserer Haustür. Wir können uns diesem nicht entziehen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15: Wir müssen deshalb einen Weg finden, die positive Ent- wicklung im Land zu begleiten. Wir wissen, dass es in Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke der Vergangenheit schlimme Entwicklungen gegeben Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weite- hat. Wir haben über die Ursachen schon sehr umfassend rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP und hinreichend diskutiert. Wir sind der Meinung, dass Mehr deutsche und internationale Unterstüt- es nun an der Zeit ist, den Blick nach vorne zu richten, zung für den Wiederaufbauprozess im Irak statt ihn nach hinten zu wenden. Deswegen schlagen wir in unserem Antrag eine Reihe von Maßnahmen vor, die – Drucksache 16/9605 – insbesondere auf die Stabilisierung bzw. den Aufbau der Überweisungsvorschlag: Institutionen und der zivilgesellschaftlichen Strukturen Auswärtiger Ausschuss (f) abzielen. Innenausschuss Verteidigungsausschuss Wir wollen natürlich nicht, dass sich die Bundesrepu- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe blik Deutschland in irgendeiner Form an militärischen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Aktionen beteiligt. Wir wollen auch keine riesigen finan- Entwicklung ziellen Entwicklungsmaßnahmen auf den Weg bringen, (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die weil die finanzielle Situation des Iraks im Vergleich zu (D) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die der in Afghanistan relativ gut ist. Wir sind hierbei der Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre Auffassung, dass der jetzige Zeitpunkt richtig ist. Anders dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. als in Afghanistan, wo sich die internationale Gemein- schaft aufgrund des vollständigen Fehlens von staatli- Ich eröffne die Aussprache. Für die FDP-Fraktion hat chen Strukturen noch sehr lange wird engagieren müs- nun die Kollegin Elke Hoff das Wort. sen, können im Irak noch heute gewisse Grundstrukturen von Staatlichkeit wahrgenommen werden; diese müssen (Beifall bei der FDP) wir unterstützen. Jedes Jahr, das vergeht und in dem wir nicht versuchen, diese Stabilisierung herbeizuführen, Elke Hoff (FDP): bringt einen immer stärkeren Verlust dieser Strukturen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! mit sich. Liebe Kollegen! Wir haben in der vergangenen Sitzungs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten woche eine sehr intensive und umfassende Debatte zum des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Thema „Hilfe für irakische Flüchtlinge in der Bundesre- publik Deutschland“ geführt. Wir alle gemeinsam sind Deswegen sind wir trotz der nach wie vor sehr im Grunde genommen der Auffassung gewesen, dass es schwierigen Sicherheitslage der Auffassung, dass jetzt sehr notwendig ist, den bedrängten Menschen im Irak zu der Zeitpunkt gekommen ist, Maßnahmen zu ergreifen. helfen. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, sich durch eigene Regierungsvertreter vor Ort ein Bild zu machen Wir von der FDP-Fraktion sind darüber hinaus der und daraus eine Konzeption zu entwickeln – die sie dem Auffassung, dass wir noch einen weiteren Schritt gehen Deutschen Bundestag vorzulegen hat –, wie ein Aufbau sollten und weitere gemeinsame Anstrengungen der der Institutionen begleitet werden kann. Es wird dabei Bundesregierung und des Parlamentes auf den Weg brin- sehr wichtig sein, dass auch die Kontakte zwischen den gen sollten, um die Menschen im Irak umfassend beim Parlamenten mit Leben erfüllt und entwickelt werden, Wiederaufbau ihres zerstörten Landes zu unterstützen damit wir unsere irakischen Kolleginnen und Kollegen und ihnen vor allen Dingen auch dabei behilflich zu sein, bei der schwierigen Arbeit unterstützen können, die demokratische Strukturen im Irak nachhaltig zu veran- Wahrnehmbarkeit des Parlamentes zu verbessern. kern. Wir als föderal aufgebautes Land können sicherlich (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE auch einen Beitrag zur sinnvollen Entwicklung von Re- GRÜNEN]: Das ist richtig!) gionen leisten. Wir können einerseits dazu beitragen, die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18321

Elke Hoff (A) Wahrnehmbarkeit der Strukturen der Zentralregierung zu nicht so vorankommt, wie wir alle das gerne hätten, und (C) verbessern, und andererseits klarmachen, dass Autono- dass sich deshalb aller Aufwand lohnt, zur Stabilisierung mie in bestimmten Bereichen verhindert, dass den Leu- des Landes beizutragen. ten Konflikte, die ihre Ursache in den Schwierigkeiten Durch einen kurzen Blick auf die Lage im Irak wissen bei der Bildung der Zentralregierung haben, aufoktroy- wir, dass wir der Realität in diesem Land nicht gerecht iert werden, und darüber hinaus die Möglichkeit bietet, werden. Vielmehr müssen die innere Struktur, die inne- Inseln der Entwicklung zu schaffen. Hier können wir si- ren Machtverhältnisse, die Einflüsse von außen, die Be- cherlich eine Reihe von wertvollen Anregungen geben. deutungen der nach wie vor vorhandenen alliierten Trup- Wir sind allerdings auch der Auffassung, dass andere pen und die unterschiedlichen religiösen und kulturellen Bereiche ebenso wichtig sind. Aufgrund des Ausblutens Einflüsse berücksichtigt werden. Das alles sind Fakto- von Kapazitäten durch diese große Flüchtlingsbewegung ren, die zwar geradezu herausfordern, sich diesem Land und des Fehlens von Fachleuten, Ärzten, Ingenieuren, zu widmen und Lösungen zu finden, die gleichzeitig Lehrern und Wissenschaftlern, sollten wir irakischen aber auch dazu beitragen, dass die Umstände nach wie Studentinnen und Studenten die Möglichkeit geben, eine vor problematisch sind. Ausbildung in Deutschland zu machen. Sie können da- Ich glaube, dass wir diese Debatte nutzen sollten, um nach nach Hause zurückkehren und dazu beitragen, ihr zu zeigen, dass die Bundesrepublik Deutschland schon Land wieder aufzubauen. umfangreich Hilfe leistet und dass wir diese Hilfe beibe- Wir sind auch der Auffassung – insbesondere nach ei- halten wollen. Es ist aber sehr genau zu überlegen, wel- nem Besuch einer Gruppe irakischer Journalisten, die che weitere, stärkere Unterstützung wir gewähren. ihre wichtige Aufgabe unter größter Lebensgefahr erfül- Unser Schwerpunkt liegt in der Ausbildung irakischer len –, dass es wichtig ist, unsere Solidarität zu bekunden, Sicherheitskräfte. Dieser Aufgabe müssen wir uns wei- indem wir den Kontakt zu Journalistinnen und Journalis- terhin widmen, weil sie von uns besonders gut erfüllt ten pflegen, mit ihnen kommunizieren und ihnen behilf- werden kann. Die Herstellung der Sicherheit, der Stabili- lich sind, ihre Arbeit in Sicherheit verrichten zu können. tät staatlicher Strukturen und der Verlässlichkeit von (Zuruf von der FDP: Ganz wichtig!) staatlichen Einrichtungen ist eine ganz wesentliche Auf- gabe, unabhängig vom Bevölkerungsteil. Wir müssen sie dazu ermutigen, den Prozess der Demo- kratisierung im eigenen Land weiterhin zu begleiten. (Beifall des Abg. Thomas Bareiß [CDU/CSU]) (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Deutschland leistet nach wie vor Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für die irakischen Streitkräfte im Sani- (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass es täts-, Transport- und Baupionierwesen; auch da unter- (D) spät ist. Ich weiß auch, dass ein Fußballspiel im Rahmen stützen wir an der richtigen Stelle. Es gibt weitere Aus- der Europameisterschaft vor der Tür steht. Das kann bildungskurse in Führung und Logistik. Anfang 2008 aber kein Grund dafür sein, dass wir uns als Parlament, gab es weitere Materiallieferungen und Ausbildungshil- als Vertreter einer funktionierenden Demokratie diesem fen durch das BMVg. Hinzu kommen Ausbildungs- und Thema nicht mit aller Ernsthaftigkeit und Hingabe zu- Ausstattungshilfe für die irakische Polizei. Wir haben im wenden. Bereich „Kriminalpolizei, Strafjustiz und -vollzug“ aus- (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk gebildet. Die Mission ist gerade bis Juli 2009 verlängert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Hartwig worden. Durch Mittel des Auswärtigen Amtes wird Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das fand ich ebenfalls Ausbildung im Bereich „irakische Streit- und jetzt spitze! Ich hoffe, Sie bleiben bis zum Polizeikräfte“ ermöglicht. Schluss heute Abend, bis 23 Uhr! Das werden Wir wissen, dass die humanitäre Situation im Land wir ganz genau beobachten!) nach wie vor nicht sehr gut ist. Deshalb tritt die CDU/ Ich hoffe sehr, dass Sie unseren Antrag unterstützen. CSU-Bundestagsfraktion für eine humanitäre Flücht- lingspolitik ein. Wir unterstützen die Bemühungen der Ich darf mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit EU-Minister, die sich erst Anfang Juni für eine europa- bedanken. weite Lösung ausgesprochen haben. Wir stimmen Ihnen (Beifall bei der FDP und der LINKEN) zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass das Merkmal für eine Aufnahme die Schwere der indivi- duellen Bedrohung sein muss. Wer am schlimmsten be- Vizepräsidentin Petra Pau: droht ist, bekommt als Erster Hilfe. Das sind, wie wir Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Erich wissen, de facto ganz überwiegend Christen, die im Irak Fritz das Wort. die mit Abstand größte nichtmuslimische Minderheit (Beifall bei der CDU/CSU) stellen. Auch alleinstehende Frauen und Kinder sind eine Erich G. Fritz (CDU/CSU): wichtige Gruppe. 1,2 Millionen Christen machten 2003 Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! eine starke Gruppe aus; jetzt sind es noch 400 000, die Unstrittig ist, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie im Land sind. Viele Familien sind nach Jordanien oder vor sehr kritisch ist – deshalb ist der Antrag der FDP dis- Syrien geflüchtet oder vertrieben worden. Viele Fami- kussionswürdig –, dass der Wiederaufbau des Landes lien dort sind nicht in der Lage, für ihren Erwerb aufzu- 18322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Erich G. Fritz (A) kommen, sodass häufig die Kinder arbeiten müssen. sehr niedrigen Niveau; er bewegt sich so gut wie gar (C) Nach UNHCR-Schätzungen besuchen nur 25 Prozent nicht. Mittlerweile ist klar, dass die Deutsch-Irakische dieser Flüchtlingskinder Schulen. Ich glaube, das ist ein Wirtschaftskommission – sie unterbrach lange Zeit ihre Punkt, an dem wir unsere Hilfe verstärken sollten; denn Arbeit – wieder tagen wird. Dass davon Impulse ausge- es geht unmittelbar um Menschen. Um die Interessen hen, kann man nur hoffen. dieser religiösen Minderheiten – es geht auch um die Je- Die Bundesregierung hat durch die Ausweitung des siden, Mandäer, Sabäer – und um die Situation der unter- Außenwirtschaftsförderungsinstrumentariums – Stich- schiedlichen muslimischen Minderheiten müssen wir wort „Hermesdeckung“ – bereits einige Schritte unter- uns kümmern. nommen. Ein Doppelbesteuerungsabkommen befindet Von einem zurückhaltenden Engagement Deutsch- sich in der Pipeline. Ich glaube, dass das Öl- und Gas- lands beim Wiederaufbau des Irak, von dem im FDP- rahmengesetz für deutsche Investoren, die aufgrund ih- Antrag die Rede ist, kann also keine Rede sein. Seit rer traditionellen Beziehungen in den Startlöchern ste- 2003 hat Deutschland den Wiederaufbau im Irak mit fast hen, eine wichtige Rolle spielen wird. Sobald sich die 5 Milliarden Euro unterstützt. Situation verbessert, wird die Zusammenarbeit intensi- ver werden. (Gudrun Kopp [FDP]: Wie bitte? Eher 4 Milliar- den Euro an Schulden erlassen!) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Man braucht mehr Zusammenarbeit, damit die – Ja. – Allein im Jahr 2007 hat die Bundesregierung Situation besser wird! Umgekehrt wird ein 4,2 Millionen Euro aus Mitteln des Auswärtigen Amtes Schuh draus!) für Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge zur Verfügung ge- Wir alle tun gut daran, die Iraker zu ermuntern, das stellt. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten neue irakische Investitionsgesetz zu verabschieden und Nationen hat 2 Millionen Euro für die Versorgung von einen transparenten Privatisierungs- und Diversifizie- Binnenvertriebenen und von Irak-Flüchtlingen in Syrien rungsweg zu gehen. Das ist die Art von Hilfe, die zum und Jordanien bekommen. 1,5 Millionen Euro gingen an eigenen Wiederaufbau und zur Entwicklung einer eige- das Internationale Rote Kreuz, 205 000 Euro an das nen Wirtschaftsstruktur führt. Deutsche Rote Kreuz. Bundeskanzlerin Merkel wird beim Besuch des iraki- 10 Millionen US-Dollar stellte die Bundesregierung schen Ministerpräsidenten in Berlin im Juli sowie bei al- dem im August 2006 beigetretenen Internationalen Wie- len weiteren Gesprächen auf internationaler Ebene deraufbaufonds für den Irak zur Verfügung; diese Mittel Deutschlands Unterstützung für den irakischen Demo- werden überwiegend für die Berufsausbildung einge- kratisierungsprozess zusagen und gleichzeitig deutlich (B) setzt. Dieser Fonds bleibt bestehen, bis sämtliche Pro- machen, wie unerlässlich die Verbesserung der Sicher- (D) jekte beendet sind. heitslage und eine nationale Versöhnung für den nach- Über GTZ- und InWEnt-Projekte werden die für die haltigen Wiederaufbau des Staates sind. Berufsausbildung zuständigen irakischen Institutionen Ich glaube, dass die Bundesrepublik Deutschland ih- und Ministerien unterstützt. In Ägypten und Deutsch- rer Verantwortung, was die Verbesserung der Situation land haben wir darüber hinaus irakische Fach- und Lehr- im Irak betrifft, mehr als gerecht wird und dass wir auf kräfte aus dem Bereich der beruflichen Bildung qualifi- dem jetzt eingeschlagenen Weg weitermachen sollten. ziert, die mit ihren erworbenen Kenntnissen einen Beitrag zum zivilen Wiederaufbau im Irak leisten kön- Herzlichen Dank. nen. Wir agieren also in einer Weise, die dadurch ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Elke Hoff [FDP]: kennzeichnet ist, dass wir uns nicht exponieren, sondern Einfach mal hinfahren!) einen wirkungsvollen Beitrag zur Entwicklung innerer Strukturen und innerer Stabilität leisten. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der CDU/CSU) Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege Wolfgang Gehrcke. In Ägypten wurden im Rahmen eines GTZ-Projekts bis Ende April 2008 insgesamt 875 Iraker ausgebildet. (Beifall bei der LINKEN) Geplant ist, dieses Projekt bis 2011 fortzusetzen; das ist durchaus eine langfristige Perspektive. Wir unterstützen Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): das Land bei der wirtschaftlichen Transformation zu ei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nem marktwirtschaftlichen System, beispielsweise im Man kann seriöserweise über die Lage im Irak nicht dis- Bereich der Investitionsförderung durch Projekte wie kutieren, ohne tatsächlich einen Blick zurückzuwerfen, „Wirtschaftspolitisches Management im Irak“. Wir un- und zwar nicht deswegen, weil man sich beim Rück- terstützen das Land darüber hinaus im Bereich der Uni- wärtsgewandten aufhalten sollte, sondern weil die Ver- versitäten und der Infrastruktur. Diese Aufzählung gangenheit eigentlich die Gegenwart im Irak ist. Um könnte man fortsetzen. diese Tatsache kann man nicht drum herumreden. Wenn man zurückblickt, muss man ganz nüchtern feststellen: Ich glaube, dass wir sehr gut daran tun, uns jetzt stär- Der Krieg gegen den Irak war wohl die schlimmste Fehl- ker darauf zu konzentrieren, dort, wo sich die Situation entscheidung des US-Präsidenten Bush. verbessert, den wirtschaftlichen Austausch zu fördern. Noch befindet sich der Handel mit dem Irak auf einem (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18323

Wolfgang Gehrcke (A) Ich will hinzufügen: Es war ein völkerrechtswidriges dass es ohne einen Abzug der Truppen der USA aus dem (C) Verbrechen. Irak keinen zivilen Wiederaufbau geben wird. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Das muss im Bundestag einmal ausgesprochen werden, Das ist der entscheidende Punkt. und das, Kollegin Hoff, muss man einmal in einen An- Wir können die USA auffordern, ihre Truppen abzu- trag hineinschreiben. ziehen. Nicht nur von außen, sondern im amerikanischen Die Folgen erlebt die Bevölkerung im Irak heute. Präsidentschaftswahlkampf selbst wird dies als eines der 100 000 Menschen sind bislang während des Krieges zentralen Themen diskutiert. Lassen Sie uns das verstär- oder in der Folgezeit gestorben. Es gibt 4 Millionen ken. Der Deutsche Bundestag sollte die USA auffordern, Flüchtlinge. Die Vernichtung von Kultur und Kulturgü- ihre Truppen möglichst sofort aus dem Irak abzuziehen, tern wie Jahrtausende alte Städte und Raub von Kultur- damit ein ziviler Aufbau greifen kann. gütern sind Folgen des Krieges. Das ist die Bilanz. (Beifall bei der LINKEN) Am meisten erschreckt hat mich aber eine Äußerung Da wir schon bei Ratschlägen sind, sage ich Folgen- von Bush und Condoleezza Rice, sie hätten im Irak das des an unsere eigene Adresse: Die Flüchtlingsfrage ist Gesicht des neuen Nahen Ostens gesehen. eben nicht geklärt. (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Gott (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Rich- bewahre uns davor!) tig!) Wenn man in das Gesicht des heutigen Irak schaut, dann Kollege Fritz hat hier dafür plädiert, Flüchtlinge religiös sieht man Gewalt, Tod, Anarchie und Widersprüche. Wir orientiert aufzunehmen. Ich finde, es ist eine Katastro- müssen auch hier klarmachen: Das darf nicht das Ge- phe, sicht des neuen Nahen Ostens werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) wenn man sagt, die muslimischen Flüchtlinge sollen Wir wollen zumindest nicht dazu beitragen. nach Syrien gehen und wir sollen die Christen aufneh- men. Was machen denn die Atheisten im Irak? Man muss sich auch noch einmal in Erinnerung rufen, wie unverschämt die USA die Weltöffentlichkeit belo- (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Ja, wo- gen haben. Ich habe die Bilder von Colin Powell vor hin?) dem Weltsicherheitsrat noch vor Augen. Eine Welt- – Das weiß ich nicht; aber das ist ja auch nicht die (B) macht, die die Welt in dieser dreisten Art und Weise be- Hauptgruppe. (D) lügt, hat ihre Rolle als Weltmacht verspielt. (Elke Hoff [FDP]: Machen Sie doch einmal ei- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: nen konstruktiven Vorschlag, Herr Kollege! – Wenn ich mich richtig an Ihre Vergangenheit Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Da haben Sie nicht erinnere, haben Sie als DKP-Funktionär den genau zugehört!) Schießbefehl verteidigt!) Ich bin für die Aufnahme von Flüchtlingen unabhängig Auch das muss man einmal klar sagen. von ihrer religiösen Zugehörigkeit. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Wenn man ernsthaft über einen neuen Ansatz disku- Vieles von dem, was Sie vernünftigerweise in Ihren tiert, dann muss man auch ein paar Worte zur Rolle Antrag geschrieben haben, kann greifen, wenn von den Deutschlands sagen. Ich finde, es ist alles in allem eine USA endlich das Zeichen kommt, dass man dem Irak ein beschämende Rolle. Wenn es nach der heutigen Bundes- Stück Selbstbestimmung gewährt. Dann können wirt- kanzlerin gegangen wäre, dann hätte Deutschland Solda- schaftliche Maßnahmen, humanitäre Hilfe und all das, ten in den Irak geschickt. was man leisten muss, greifen. Solange die US-Truppen im Irak sind – fünf oder zehn Jahre oder was weiß ich –, (Beifall bei der LINKEN – Erich G. Fritz [CDU/ wird das Morden, das Töten in diesem Land kein Ende CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) haben. Das ist leider wahr, und das hat die Vergangenheit belegt. Das ist belegbar. Sie müssen sich das einmal klarma- chen. Ich fand es auch beschämend, dass die rot-grüne (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer Bundesregierung den USA Überflugrechte gewährt hat [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie haben gar nicht und ihnen damit die Gelegenheit gegeben hat, diesen den moralischen Anspruch mit Ihrer politi- Krieg zu führen. schen Vergangenheit!) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Auch das gehört zur Bilanz. Den Beitrag des Kollegen Niels Annen für die SPD- Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1) Meine Schlussfolgerung ist: Wenn man wirklich Ver- änderungen will – Kollegin Hoff, ich denke, dass man das hier aussprechen muss –, dann muss man feststellen, 1) Anlage 4 18324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die Eine zentrale Rolle spielt einerseits natürlich insbe- (C) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. sondere die Flüchtlingshilfe. In der Tat, bereits am 5. Juni haben wir hier eine Debatte über einen diesbe- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): züglichen Antrag der Grünen geführt. Da sind unsere Positionen im Grunde deckungsgleich. Leider ist dieser Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Antrag abgelehnt worden. Andererseits sind jetzt auch Ich begrüße ausdrücklich, dass Kollegin Elke Hoff für die FDP dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht Beiträge zur Stabilisierung möglich. Gerade die bessere hat. In der Tat, die Entwicklung im Irak ist von eminen- Sicherheitslage im Norden bietet mehr Spielräume, den ter Bedeutung für die europäische Sicherheit. Wir müs- wirtschaftlichen Aufbau und die Zivilgesellschaft zu för- sen uns viel stärker mit der Frage auseinandersetzen, dern. Die genannten Maßnahmen wie Journalistenaus- was wir zur Stabilisierung dieses äußerst schwierigen bildung, Studierendenaustausch und Parlamentarieraus- Konfliktherdes beitragen können. Genau aus diesem tausch sind ausgesprochen sinnvoll. Wir haben mit Grunde waren Claudia Roth und ich vor ungefähr einem Parlamentariern gesprochen und wissen, dass es ausge- Jahr im Nordirak. Wir sind auf die Spuren des Terrors zeichnete Gesprächs- und Austauschmöglichkeiten gibt. des Saddam-Hussein-Regimes gestoßen. Wir sind aber Im vorigen Jahr war das deutsche Engagement im Nor- auch auf eine Insel relativer Stabilität in einem Umfeld den des Irak noch ausgesprochen gering. Mittlerweile wahnsinniger Gewalt gestoßen; hierzulande werden der hat die Bundesregierung immerhin ein Verbindungsbüro Nordirak und die kurdischen Teile ja oft mit dem gesam- in Erbil aufgebaut. Dazu, wie sich das Irak-Engagement ten Irak zusammengeworfen. der Bundesrepublik in Zukunft gestalten soll, haben wir von der Bundesregierung aber noch nichts gehört. Des- Im vorliegenden Antrag steht folgende Bemerkung: halb ist es richtig, ein Konzept einzufordern. Die Zeit der kritischen Betrachtung der militäri- schen Intervention sollte heute auch angesichts des Es ist notwendig und absehbar: In Zukunft wird sich unendlichen Leids innerhalb der irakischen Zivilbe- der Deutsche Bundestag verstärkt um die Stabilisierung völkerung der Vergangenheit angehören. des Irak, um Aufbauhilfen kümmern müssen. Und das wird er auch tun. Es ist ja einerseits richtig, dass man nicht einfach nur in die Vergangenheit schaut und darüber Gegenwart und Danke schön. Zukunft vergisst. Aber andererseits hoffe ich, dass ihr es so nicht meint. Einen Schlussstrich kann es nicht geben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weil die Lehren aus diesem Beispiel einer ideologischen, und bei der FDP) verantwortungslosen und verheerenden Interventionspo- (B) litik in der Tat noch längst nicht zureichend gezogen Vizepräsidentin Petra Pau: (D) sind. Deshalb Blick nach vorn, aber ohne Schlussstrich! Ich schließe die Aussprache. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Unumgänglich ist auch – dazu kann ich natürlich in Drucksache 16/9605 an die in der Tagesordnung aufge- vier Minuten fast gar nichts sagen; ich deute es nur an – führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- eine kritische Auseinandersetzung mit der jetzigen US- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Politik. Zu Recht wird im Antrag betont, wie vordring- so beschlossen. lich die innerirakische Versöhnung ist. Dass die USA ge- rade langfristige Stationierungsabkommen mit der iraki- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf: schen Regierung ausgehandelt haben und weitreichende Verträge mit Ölfirmen abgeschlossen werden, wobei es a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- innerirakisch noch gar keinen Konsens dazu gibt, steht richts des Ausschusses für Familie, Senioren, im Gegensatz zu der notwendigen innerirakischen Ver- Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An- söhnung. trag der Abgeordneten Michaela Noll, Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, weiterer Abgeord- Nun zu den konstruktiven Ansätzen. Zum einen neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der kommt es darauf an, die Vereinten Nationen, die nach Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), dem fürchterlichen Anschlag vom August 2003 prak- tisch hinausgeflogen sind, wieder stärker darin zu unter- Renate Gradistanac, , weiterer Ab- stützen, eine größere Rolle zu spielen. Die Europäische geordneter und der Fraktion der SPD Union kann eine Rolle spielen, und sie wird das wohl Wirksame Bekämpfung der Genitalverstüm- auch tun müssen, spätestens nach der Wahl in den USA. melung von Mädchen und Frauen Was zum anderen die militärische und die polizeiliche Ausbildungshilfe angeht: Es ist zwar richtig, was da ge- – Drucksachen 16/9420, 16/9694 – macht wird. Aber ich glaube, viel mehr ist aufgrund der Berichterstattung: Kapazitäten nicht möglich. Dies ist allerdings wieder ein Abgeordnete Michaela Noll Hinweis darauf, dass unsere Kapazitäten für die strate- Angelika Graf (Rosenheim) gisch wichtige Aufgabe, zur Stabilisierung im Inland beizutragen, noch viel zu schwach sind. Sibylle Laurischk Diana Golze (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Irmingard Schewe-Gerigk Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18325

Vizepräsidentin Petra Pau (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Frauen und Jugend (13. Ausschuss) dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Schewe-Gerigk, Marieluise Beck (Bremen), gin Michaela Noll für die Unionsfraktion. Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der (Beifall bei der CDU/CSU) Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mädchen und Frauen vor Genitalverstüm- Michaela Noll (CDU/CSU): melung schützen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gefährlichste Ort für Frauen in Deutschland ist nach – zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle wie vor ihr Zuhause. Dort werden Frauen bedroht, zum Laurischk, Dr. Karl Addicks, Burkhardt Teil geschlagen, zum Teil beleidigt und im schlimmsten Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und Fall sogar getötet. Genau das habe ich schon vor einem der Fraktion der FDP Jahr an dieser Stelle gesagt. Ich muss leider feststellen: Genitalverstümmelung von Mädchen und Bis heute hat sich wenig geändert. Frauen ächten und bekämpfen Da wir in Berlin sind, habe ich mir die Zahlen vom Juni 2008 für Berlin angesehen. Für Berlin gilt genau das – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Gleiche: Jede vierte Frau in Berlin leidet unter häuslicher Tackmann, Monika Knoche, Sevim Dağdelen, Gewalt und braucht im Durchschnitt sieben Anläufe, um weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE sich von ihrem schlagenden Ehemann zu trennen. LINKE 75 Prozent der Opfer haben Scheu, sich irgendjemandem Weibliche Genitalverstümmelung verhin- anzuvertrauen, sich zu offenbaren. Ich hoffe, dass es uns dern – Menschenrechte durchsetzen gelingt, diesen Frauen ihre Scheu zu nehmen. Sie müs- sen wissen, dass sie mit ihren Ängsten und Problemen – Drucksachen 16/3542, 16/3842, 16/4152, nicht allein sind. Es darf keine Toleranz für Gewalt in 16/8657 – den eigenen vier Wänden geben. Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Abgeordnete Michaela Noll FDP) Angelika Graf (Rosenheim) Häusliche Gewalt ist keine Privatsache und muss recht- (B) (D) Sibylle Laurischk lich verfolgt werden. Jörn Wunderlich Irmingard Schewe-Gerigk Auf das Thema Genitalverstümmelung wird gleich meine Kollegin Sibylle Pfeiffer eingehen. Unseren An- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- trag zur häuslichen Gewalt habe ich bereits beim letzten richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Mal vorgestellt. Da die sichere Finanzierung von Frau- Frauen und Jugend (13. Ausschuss) enhäusern eine unserer Baustellen ist, war ich sehr froh darüber, dass wir uns heute auf Berichterstatterebene zu- – zu dem Antrag der Abgeordneten Michaela sammengesetzt haben, um eine Lösung für dieses Pro- Noll, Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, weite- blem zu finden. rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Renate Da ich Mitglied der Kinderkommission bin, möchte Gradistanac, Clemens Bollen, Angelika Graf ich heute ein Thema ansprechen, das mir besonders am (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und der Herzen liegt: die alarmierend hohe Zahl minderjähriger Fraktion der SPD Opfer. Gewalt trifft die Mütter und damit meistens auch die Kinder. Viele Opfer sagen uns: Die Kinder haben die Häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent Gewaltsituation gesehen und gehört; zum Teil sind sie weiter bekämpfen auch hineingeraten. Denn nicht wenige Kinder versu- – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- chen, sich schützend vor ihre Mütter zu stellen. Jedes rung zehnte Kind wird dabei tätlich angegriffen. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es so etwas miter- Aktionsplan II der Bundesregierung zur Be- leben muss? Ich glaube, für viele Kinder bricht eine Welt kämpfung von Gewalt gegen Frauen zusammen. Der Vater, den sie lieben, wird zum schla- – Drucksachen 16/6429, 16/6584, 16/9367 – genden Vater, zum verletzenden Vater. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass die Bundesregierung den neuen An- Berichterstattung: satz der verstärkten Täterarbeit in den Mittelpunkt rückt Abgeordnete Michaela Noll und diese Arbeit für wichtig und richtig hält. Welche Renate Gradistanac Folgen hat diese Erfahrung für die Kinder? Es gibt eine Ina Lenke gute Studie vom Deutschen Jugendinstitut, die besagt, Jörn Wunderlich dass diese Kinder zum Teil verhaltensauffällig, aggressiv Irmingard Schewe-Gerigk oder ängstlich sind und zum größten Teil Lernschwierig- 18326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Michaela Noll (A) keiten haben. Das sind sichtbare Folgen. Aber die Fol- sagen, warum Frau Hoff jetzt einfach gegan- (C) gen, die sich im Inneren abspielen, können wir oftmals gen ist! Zum Fußball! Das lässt mir keine gar nicht richtig feststellen. Viele Kinder sind an ihrer Ruhe! Hier angreifen und dann abhauen! So kindlichen Seele verletzt. Sie können zum Teil nicht da- kann man nicht vorgehen!) rüber sprechen, auch weil sie Angst um den Ruf ihrer Familie haben. Und was noch schlimmer ist: Sie geben Sibylle Laurischk (FDP): sich zum Teil selbst die Schuld. Sie glauben, dass sie die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch Ursache dafür sind, dass ihre Mutter geschlagen wird. wenn jetzt vielleicht Fußball angesagt ist und damit eher Das ist das eine. Noch viel schlimmer ist aber, dass ein Männerthema, befassen wir uns zu dieser Stunde mit Kinder – das halte ich für sehr bedenklich –, die so auf- einem gravierenden Thema für Frauen, und zwar mit wachsen, ein erhöhtes Risiko tragen, im Erwachsenen- dem Thema Gewalt gegen Frauen. Wir haben einen An- alter erneut zum Opfer zu werden. Und was noch viel trag zum Thema Genitalverstümmelung an Frauen vor- trauriger ist: Sie können sich sogar zum Täter entwi- liegen. Darin wird eine der schwersten Menschenrechts- ckeln. Diese Erfahrung während der Kindheit prägt ein verletzungen thematisiert, die weltweit an Frauen und Leben lang. Mädchen begangen werden. Wenn wir heute gemeinsam darüber diskutieren, bedauere ich es, Frau Noll, dass wir Deshalb ist es wichtig, dass wir diese Gewaltspirale uns nicht in einem gemeinsamen Antrag zu diesem relativ früh und rechtzeitig unterbrechen. Wir haben das Thema zusammenfinden können. Nationale Zentrum Frühe Hilfen geschaffen. Wir haben den Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk Deutschland 2005 – 2010 auf den Weg gebracht. Gerade [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) diesen Aspekt hat die Bundesregierung jetzt noch einmal in ihrem Aktionsplan II der Bundesregierung zur Be- Wir haben uns in einer sehr eindrucksvollen An- kämpfung von Gewalt gegen Frauen aufgegriffen. Dort hörung im Ausschuss im vergangenen Dezember mit heißt es: „Rechtzeitig an die Kinder denken – Prävention dem Thema Genitalverstümmelung befasst. Wir haben so früh wie möglich“. Ich glaube, damit sind grundle- dort ein Opfer angehört. Es war eine der eindrucksvolls- gende Strukturen für einen besseren Schutz des Kindes- ten Schilderungen, die ich im Rahmen meiner Arbeit im wohls auf den Weg gebracht worden. Bundestag erlebt habe. Es ist sicherlich sinnvoll, dass aufgrund dieser Anhörung die Thematik der Verjährung Ich war vor kurzem hier in Berlin auf einer Fachkon- neu angesetzt wurde und im vorliegenden Antrag der ferenz. Dort ging es um Prävention an den Schulen. Ich Regierungsfraktionen aufgegriffen worden ist. Die Ver- glaube, jeder, der hier sitzt, weiß, dass die Schulen in jährungsfrist soll für Mädchen, die von Genitalverstüm- (B) dem Punkt eine Schlüsselrolle haben; denn sie erreichen melung betroffen sind und die zum Tatzeitpunkt noch (D) alle Kinder. Dort habe ich gehört, dass die Lehrerinnen nicht volljährig waren, verlängert werden, damit sie als und Lehrer sagen, sie seien verunsichert. Sie fragen: Wie Erwachsene die Möglichkeit haben, Strafanzeige zu stel- sollen wir mit dem Wissen um Gewalt in einer Familie len, sodass sie tatsächlich ihr Trauma bearbeiten und im umgehen? – Die Lehrer brauchen Hilfestellung. Wir Rahmen eines möglichen Strafprozesses ihre Erfahrung müssen sie stärken. Damit helfen wir auch den Kindern. und ihr Leid bewältigen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Dazu brauchen sie flankierende Maßnahmen und un- bei Abgeordneten der FDP) sere Hilfe. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch außer- Ich glaube, in einigen Bundesländern sind bereits ei- halb des Strafrechts an diesem Thema arbeiten. Insbe- nige gute Ansätze auf den Weg gebracht worden. Der sondere diejenigen, die mit diesen Fragen und Anfang ist gemacht. Wenn es uns wirklich gelingt, die möglicherweise mit betroffenen jungen Mädchen und Maßnahmen komplett zu vernetzen, werden wir diese Frauen zu tun haben, müssen wir informieren, aufklären Gewaltspirale rechtzeitig unterbrechen können. Die Kin- und schulen. Dies sind Erzieher und Erzieherinnen, Leh- der brauchen unsere Hilfe, damit sie im Erwachsenenal- rer und Lehrerinnen, Ärzte und Ärztinnen, Mitarbeiter ter nicht erneut zum Opfer werden. Wir müssen es vor der Polizei und der Beratungsstellen, Mitarbeiter der Ju- allem schaffen, dass sie nicht zum Täter werden. Auch gendämter und der Ausländerbehörden. Sie alle müssen hier gilt unsere Devise – ich glaube, da besteht Konsens über diese Problematik informiert werden, damit sie, im ganzen Haus –: Uns darf kein Kind verloren gehen. wenn ihnen solche Fälle hierzulande bekannt werden, Daran sollten wir gemeinsam weiterarbeiten. frühzeitig eingreifen können. Danke schön. Eine solche Vernetzung und Schulung ist auch auf in- ternationaler Ebene notwendig. Ich denke, es ist eine (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der wichtige Aufgabe insbesondere der Entwicklungszusam- FDP) menarbeit und der Zusammenarbeit mit Nichtregie- rungsorganisationen, deutlich zu machen, dass die Geni- Vizepräsidentin Petra Pau: talverstümmelung, die vor allem in afrikanischen Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk das Wort für Staaten ein Problem darstellt, auf keinen Fall toleriert die FDP-Fraktion. werden darf. (Beifall bei der FDP – Hartwig Fischer [Göt- Wir müssen uns vor Augen führen, dass nach einer tingen] [CDU/CSU]: Sie kann uns vielleicht Schätzung von UNICEF weltweit circa 140 Millionen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18327

Sibylle Laurischk (A) genitalverstümmelte Frauen leben und dass jedes Jahr ist es uns doch noch gelungen, einen Antrag zu formulie- (C) circa 3 Millionen hinzukommen. Für uns in Deutschland ren, der Ihnen heute vorliegt. Dabei handelt es sich um ist das unvorstellbar. Aufgrund der Migration gewinnt einen umfassenden Maßnahmenkatalog, der, wie ich dieses Problem aber weltweit an Bedeutung. Deswegen denke, all die Maßnahmen beinhaltet, die wir im Augen- ist es wichtig, unter dem Stichwort „Verjährung“ tat- blick gegen die Praxis der Genitalverstümmelung ergrei- sächlich einen neuen Weg zu beschreiten. fen können und ergreifen müssen. Darüber hinaus muss sich der Bundestag in den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nächsten Monaten mit allen Formen von Gewalt gegen Frauen befassen. Ich möchte, dass im Zusammenhang Es geht um Maßnahmen in den Bereichen Strafrecht, mit diesem Thema auch die Situation bzw. die Finanzie- Forschung, Aufklärung, Beratung, Fortbildung, Präven- rung der Frauenhäuser behandelt wird. Frau Noll hat ge- tion und Entwicklungszusammenarbeit. rade eindrücklich dargestellt, dass die Traumatisierung Ich denke, mit diesem Antrag begegnen wir adäquat von Kindern infolge häuslicher Gewalt ein großes Pro- und zielgruppengerecht den komplexen soziokulturellen blem ist. Daher ist es wichtig, dass Kinder, die nach Ge- innerdeutschen und internationalen Herausforderungen walterfahrungen gemeinsam mit ihren Müttern in ein im Kampf gegen Genitalverstümmelung. Dabei wollen Frauenhaus gehen, dort Hilfe bekommen und, was ihre wir auch die für die Opferbetreuung zuständigen Stellen Traumatisierung betrifft, aufgefangen werden. Bei die- in den Bundesländern in die Pflicht nehmen. sem sehr ernsten Thema haben wir noch sehr viel Arbeit vor uns. Ich hoffe, dass wir in dieser Frage auch in Zu- Zur Bekämpfung von Genitalverstümmelung brau- kunft konstruktiv und sachgerecht zusammenarbeiten. chen wir einen integrativen Ansatz, bei dem die Eltern (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ von Anfang an in Aufklärung, Prävention und – selbst DIE GRÜNEN) wenn es zu spät ist – in Beratung und Betreuung einbe- zogen werden. Eltern lassen ihre Töchter – das hat die Anhörung gezeigt – ja nicht aus Böswilligkeit verstüm- Vizepräsidentin Petra Pau: meln, sondern – auch wenn nichts diese Praxis in ir- Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika gendeiner Form rechtfertigen kann – wegen sozialem Graf das Wort. Druck. Deshalb muss das Thema bei den Betroffenen aus der Tabuecke geholt werden. Dies fordern wir mit (Beifall bei der SPD) unserem Antrag genauso wie die Sensibilisierung der Berufsgruppen, die von Amts wegen – Polizei, Justiz, Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Lehrkräfte, Ärzteschaft, Angestellte von Sozial- und Ju- (B) (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gendämtern – mit Opfern von Genitalverstümmelung Meine Kollegin Renate Gradistanac wird den zweiten oder mit von Genitalverstümmelung bedrohten Mädchen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Frauen zu tun haben bzw. haben können. vorstellen. Ich möchte mich in meiner Rede einer ganz (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der besonders brutalen Form der Gewalt widmen, nämlich CDU/CSU) der Genitalverstümmelung. Ich denke, das ist eine be- sonders schwere Menschenrechtsverletzung und, wie ge- Besonders wichtig war es uns von der SPD, dass wir sagt, eine besonders brutale Form von Gewalt gegen die in der Anhörung von vielen Nichtregierungsorgani- Frauen. sationen und wissenschaftlichen Instituten formulierten offenen Forschungsfragen in unserem Antrag berück- Trotz internationaler Ächtung, zahlreicher Konventio- sichtigen. Wir benötigen noch mehr Informationen im nen, langfristigen politischen Engagements, umfangrei- Bereich der Prävention von Genitalverstümmelung. Wir cher Projekte in den Entwicklungsländern und einer müssen herausfinden, wie wir die in Deutschland leben- Fatwa in Kairo aus dem Jahre 2006 ist Genitalverstüm- den Familien, in denen das potenziell praktiziert wird melung immer noch ein gravierendes und hochaktuelles oder die bereits davon betroffen sind, mit unseren Ange- Problem. Die Zahl genitalverstümmelter Frauen steigt boten am effektivsten erreichen. von Tag zu Tag; Frau Laurischk hat darauf hingewiesen. Durch Migration und Flucht bedingt wurde die Geni- Neben der Arbeit der NGOs ist, wie schon erwähnt, talverstümmelung weltweit zu einem Thema. Schätzun- der ressortübergreifende Ansatz sehr wichtig. Deshalb gen zufolge sind etwa 30 000 Frauen und Mädchen hier haben wir auf die Einrichtung einer interministeriellen bei uns von Genitalverstümmelung betroffen oder be- Bund-Länder-NGO-Arbeitsgruppe unter der Federfüh- droht. Unsere Strategien im Kampf gegen diese frauen- rung und Koordination des BMZ gedrängt. Diese Ar- verachtende Praxis dürfen aufgrund der weltweiten Re- beitsgruppe soll sich an der Struktur und Arbeitsweise levanz dieses Themas nicht an unserer Landesgrenze der beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen „Häusliche Ge- oder an den Grenzen Europas haltmachen. walt“ und „Frauenhandel“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend orientieren. Mit Nach langen Verhandlungen innerhalb der Koalition diesen Arbeitsgruppen haben wir nämlich gute Erfahrun- – sie haben ein bisschen länger gedauert als erwartet – gen gemacht. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Einige bedauern, dass wir keinen eigenen Straftatbe- DIE GRÜNEN]: Anderthalb Jahre!) stand fordern. Die derzeitige Rechtslage ist, denke ich, 18328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Angelika Graf (Rosenheim) (A) dass Genitalverstümmelung als sittenwidrige und (Beifall bei der LINKEN) (C) schwere Körperverletzung (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): DIE GRÜNEN]: Das fällt nicht unter schwere Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Verehrte Kolleginnen Körperverletzung nach Strafgesetzbuch! Das und Kollegen! Dass heute zum Thema weibliche Geni- stimmt doch nicht! Es wird bestraft wie eine talverstümmelung Anträge von allen Fraktionen vorlie- Ohrfeige!) gen, zeigt die Bedeutung dieses Themas. Es zeigt aber auch, dass wir uns leider nicht auf einen gemeinsamen in Deutschland natürlich bereits verboten ist und infolge- Antrag einigen konnten. dessen keine irgendwie geartete Lücke besteht. Ein eige- ner Straftatbestand wäre meines Erachtens reine Symbo- Die Anträge der anderen Fraktionen haben ein ande- lik, über deren Sinn und Zweck man sicherlich streiten res Grundverständnis. Auch wenn wir einzelne Forde- kann. In der Anhörung des Ausschusses für Familie, Se- rungen durchaus unterstützen, werden wir uns bei der nioren, Frauen und Jugend haben einige dafür plädiert, Abstimmung über die anderen Anträge enthalten. Der einen eigenen Straftatbestand zu formulieren, Ruf nach dem Strafrecht kann aus Sicht der Linken im- mer nur ein Teil der Lösung sein. Die Erfahrung lehrt: (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE Der Glaube an die Wirksamkeit von Abschreckung er- GRÜNEN]: Nein, alle haben dafür plädiert!) weist sich meist als Illusion. andere haben ein höheres Strafmaß gefordert. Bis man Natürlich ist Genitalverstümmelung ein Verbrechen mir nicht das Gegenteil beweist, will ich sagen: Mit dem und muss bestraft werden; das ist völlig unstrittig. Strafrecht allein kann man kein Mädchen vor Genital- verstümmelung retten. Da hilft die Verjährung, die Frau (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Laurischk angesprochen hat, eher. Sie hilft, den Opfern DIE GRÜNEN]: Es wird aber nicht wie ein den Rücken zu stärken. Verbrechen bestraft!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Uns sind aber zwei weitere Ansatzpunkte wichtig: der CDU/CSU) Erstens. Der soziale Status der Frau muss nachhaltig Es muss darum gehen, in der Community die Einsicht gestärkt werden, um eine der Ursachen weiblicher Geni- zu fördern, dass es sich bei Genitalverstümmelung um talverstümmelungen anzugehen. eine schwere Menschenrechtsverletzung handelt. Des- Zweitens. Wir müssen einen Zugang zu den Gemein- halb fordern wir in unserem Antrag die Bundesländer schaften bekommen. Das gelingt eher mit sensiblen Be- (B) auf, die Betreuungs- und Beratungsmöglichkeiten weiter ratungsangeboten als mit Repression. (D) zu erhalten. Zwangsuntersuchungen, wie sie von man- chen Organisationen gefordert werden, lehnen wir defi- Das sind aus unserer Sicht die Voraussetzungen für nitiv ab. ein gesellschaftliches Umfeld, in denen Genitalverstüm- melungen nicht nur nicht toleriert, sondern auch verhin- dert werden. Das ist ja unser gemeinsames Ziel. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Graf, achten Sie bitte auf die Zeit. Meine Fraktion Die Linke greift in ihrem Antrag in diesem Zusammenhang noch zwei sehr konkrete Pro- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): bleme auf: die geschlechtsspezifische Verfolgung als Asylgrund und den Umgang mit weiblichen Asylbewer- Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Wir ha- berinnen. Wir fordern nachdrücklich: erstens eine unab- ben durchgesetzt, dass Länder wie Senegal und Ghana hängige, geschlechtssensible Beratung durch erfahrene bei der nächsten Gelegenheit bezüglich ihrer Einstufung Beratungsstellen oder Rechtsanwältinnen und Rechtsan- als sichere Herkunftsländer noch einmal überprüft wer- wälte, und zwar noch vor der Erstanhörung im Asylver- den. fahren, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der LINKEN) LINKEN – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen zweitens, dass bei Anhörungen von Asylbewerberinnen wir nicht erst überprüfen!) aus Ländern, aus denen weibliche Genitalverstümmelun- gen bekannt sind, diese Problematik besonders berück- Keine junge Frau darf von Deutschland aus in ein Land sichtigt wird, wozu speziell geschulte weibliche Mitar- abgeschoben werden, in dem Mädchen oder Frauen von beiterinnen des Asyl-Bundesamtes inklusive weibliche Genitalverstümmelung bedroht sind; das war uns extrem Sprachmittlerinnen notwendig sind, und drittens, dass es wichtig. nicht als verspätetes und damit gesteigertes Vorbringen (Beifall bei der SPD, der FDP und der LINKEN gewertet werden darf, wenn der Fluchtgrund Genitalver- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) stümmelung erst im Verlaufe des Asylverfahrens vorge- bracht wird, was oft der Fall ist. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Kirsten Tackmann das Wort. GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18329

Dr. Kirsten Tackmann (A) Hinsichtlich des Themas häusliche Gewalt lobt die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) Regierungskoalition das eigene Handeln. Das ist ange- Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Meine sichts der realen Situation, zum Beispiel der finanziellen Kollegin hat Sie vorhin vollkommen richtig und personellen Notlage vieler Zufluchtstätten und Bera- eingeschätzt!) tungsstellen, aber unangebracht. Statt sich auf die eigene In Ihren Vorlagen, über die wir hier diskutieren, haben Schulter zu klopfen, sind wirkliche Handlungsstrategien Sie zahlreiche Zeilen mit warmen Worten gefüllt. Sie ha- notwendig. Wie können diese Strukturen erhalten wer- ben ihnen ein hübsches Make-up aufgelegt. Wenn wir den, und wie kann vor allem endlich die 30 Jahre alte aber die Farbe abnehmen, dann bleibt nur wenig Sub- Forderung erfüllt werden, allen Frauen Zuflucht zu ge- stanz übrig. währen, unabhängig von ihrer sozialen Lebenslage? Nach der von den Grünen initiierten Anhörung im Im Aktionsplan II bilanziert die Bundesregierung vor Bundestag zur Genitalverstümmelung haben Sie ein wei- allen Dingen bestehende Projekte, statt neue Handlungs- teres Jahr gebraucht, um sich auf einen Antrag zu eini- ansätze wenigstens zu skizzieren. Einzelne, zumeist re- gen. Vollmundig haben Sie von der CDU/CSU und der gional begrenzte Projekte werden benannt, die sich den SPD in der Presse angekündigt – ich zitiere –: Wir reden Migrantinnen – vor allem vor dem Hintergrund der nicht nur, sondern handeln. – Na, das wäre bei Ihrer Zwangsheirat – und behinderten Frauen zuwenden. Na- Frauenpolitik ja eine wirkliche Neuheit. türlich ist das wichtig, angesichts der aktuellen Problem- lage aber völlig unzureichend. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Oh je!) Es hätte dem Ansehen dieses Hauses nicht geschadet, Folgendes fehlt aus Sicht der Linken im gerade zu diesem Thema einen fraktionsübergreifenden Aktionsplan II völlig: der Ausbau von Beratungsstellen, Antrag zu verabschieden. die Entwicklung von sozialen Programmen für Migran- tinnen, die weit über die sprachliche Förderung hinaus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehen und auf die eigenständige Existenzsicherung ab- sowie bei Abgeordneten der FDP) zielen, und eine bundesweit einheitliche Absicherung Ich sehe einige gute Ansätze. Zum Beispiel sollen Bund des Zugangs zu Frauenhäusern unabhängig vom SGB II. und Länder Fortbildungen und eine Sensibilisierung für Davon war heute schon einmal die Rede. Polizei und Justiz anbieten. Diese Forderung haben Sie (Beifall bei der LINKEN) direkt von uns übernommen. Auch die Bund-Länder- NGO-Arbeitsgruppe zur zielgruppensensiblen Aufklä- Solange diese Hausaufgaben nicht gemacht und die rung sowie zur fachlichen Unterstützung von Projekten Opfer häuslicher Gewalt noch viel zu oft auf sich allein ist ein guter Ansatzpunkt. An dieser Stelle möchte ich (B) gestellt sind, gibt es aus unserer Sicht eigentlich keinen der Ministerin Wieczorek-Zeul ausdrücklich danken, die (D) Grund dafür, dass sich die Koalition selbstgefällig auf großes Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit die Schultern klopft. zu diesem Thema bewiesen hat. Ich denke, wir müssen dringend an diesem Thema (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dranbleiben. Gerade heute haben wir eine Anhörung sowie bei Abgeordneten der SPD) zum Thema Finanzierung von Frauenhäusern vereinbart Wie von uns vorgeschlagen, wollen Sie auch sicher- und inhaltlich besprochen. Es ist für uns ein ganz wichti- stellen, dass Länder, in denen Genitalverstümmelungen ges Thema, dass auch sozial benachteiligte Frauen Zu- nicht verboten sind und nicht verfolgt werden, nicht als gang zu diesen Zufluchtsstätten erhalten. Ich denke, hier sichere Herkunftsländer eingestuft werden. Aber den sind wir sogar einer Meinung. Status von Ghana und Senegal wollen Sie deshalb noch einmal prüfen. An dieser Stelle wird das Make-up wirk- Vielen Dank. lich bröckelig. Sie müssen das doch nicht prüfen. Sagten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sie nicht, Sie handeln, statt nur zu reden? Wo bleibt denn neten der SPD) Ihr Antrag, zum Beispiel Ghana von der Liste der siche- ren Herkunftsländer zu streichen? Unsere Zustimmung wäre Ihnen gewiss. Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk das Wort. nicht die Entscheidung des Deutschen Bundes- tages!)

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Die Verlängerung der Verjährungsfrist zu fordern, ist GRÜNEN): ein richtiger Schritt. Aber Sie gehen damit den zweiten vor dem ersten. Denn zunächst muss die weibliche Geni- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! talverstümmelung ausdrücklich ins Strafgesetzbuch auf- Den Stellenwert von politischen Initiativen erkennt man genommen werden. Nur so würde das klare Signal an an der Tageszeit, zu der sie diskutiert werden. Dass die Ärztinnen, Eltern und Opfern gesendet, dass eine solche Frauenpolitik bei der Großen Koalition keinen großen Menschenrechtsverletzung vom Staat nicht geduldet wird. Stellenwert hat, haben wir schon in der letzten Woche Zahlreiche europäische Länder haben das bereits getan, bei der Behandlung des Themas Lohndiskriminierung gesehen, und das zeigt sich auch heute Abend beim (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Ist das Thema Frauenrechte als Menschenrechte. dort auch so?) 18330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Irmingard Schewe-Gerigk (A) zum Beispiel Großbritannien, Schweden, Spanien und – Ja; denn dabei ist etwas herausgekommen, das Sie (C) Italien. Die UNO empfiehlt es ihren Mitgliedstaaten. wunderbar verwenden könnten, nämlich die interminis- terielle Arbeitsgruppe und die Verlängerung der Verjäh- (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Seitdem rungsfrist. Das ist wirklich wichtig; denn damit können gibt es das nicht mehr oder was?) wir den Frauen noch im Nachhinein die Möglichkeit ge- Ich weise ausdrücklich darauf hin, Frau Noll, dass das ben, wenigstens ein kleines bisschen Genugtuung zu er- auch in der Anhörung zu diesem Thema alle Experten reichen. Denn die Verletzungen – das muss ich Ihnen und Expertinnen gefordert haben. Niemand hat gesagt, nicht näher erläutern – bleiben für die Ewigkeit. Ent- die Aufnahme ins Strafgesetzbuch sei keine geeignete wicklungsprojekte zu unterstützen, liebe Frau Kollegin Lösung. Wenn Sie nun plötzlich einwenden, bei einer Schewe-Gerigk, ist Job der Entwicklungspolitiker. Das Verurteilung käme es zu einer Ausweisung der Eltern machen wir seit Jahren. und damit zu einem Auseinanderreißen der Familie, Ich berichte Ihnen aus der Praxis für die Praxis. Ich dann ist das aus dem Munde einer CDU-Abgeordneten war vor kurzem in Äthiopien und habe dort ein Projekt wirklich Zynismus. So viel Empathie für die Familien besucht, das vom EED betreut wird. Dort haben sich bei ausländerrechtlichen Bestimmungen wünschen wir 5 000 Menschen, darunter auch Männer und Dorfälteste, uns von der Union schon sehr lange. zu einer Community zusammengeschlossen und haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beschlossen, diverse Themen anzugehen, zum Beispiel Family-Planning und Nourishing, aber auch das Thema Sehen wir der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht: Beschneidung. Ich habe eine Frau, die dort saß und ein Das Thema ist Ihnen für eine Änderung im Strafgesetz- Baby auf dem Arm hatte, gefragt: Ist das ein Mädchen? buch nicht wichtig genug. Sie akzeptieren lieber, dass Sie hat geantwortet: Jawohl, das ist ein Mädchen. Dann diese grausame Menschenrechtsverletzung, der Verlust habe ich sie gefragt: Würden Sie jemals zulassen, dass eines wichtigen Körperteils, mit einer Ohrfeige gleich- dieses Kind beschnitten wird? Sie hat geantwortet: Nein, gesetzt wird. So kommen wir nicht zusammen. Die Kol- nie. Dann habe ich sie gefragt: Woher nehmen Sie Ihren legin Graf hat vorhin festgestellt, die Genitalverstümme- Mut? Darauf hat sie geantwortet: Die Community steht lung gelte als schwere Körperverletzung. Das ist hinter mir. – Genau das ist das Thema. Es gibt mittler- mitnichten der Fall. Wir möchten es ausdrücklich als weile in ganz vielen Entwicklungsländern Gesetze, die schwere Körperverletzung ins Strafgesetzbuch aufneh- Genitalverstümmelung verbieten. men. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Ich resümiere: Weniger Schminke und mehr Substanz DIE GRÜNEN]: Aber hier in Deutschland wären die Voraussetzung für eine Zusammenarbeit ge- wird nichts getan! Das ist der Punkt!) (B) wesen. Mit einer Vielzahl an schwammigen Forderun- (D) gen für den internationalen Bereich können Sie nicht Wir können uns aber kaum vorstellen, was es heißt übertünchen, dass Sie für die Frauen hier kaum etwas und welcher maximale politische Wille sich dahinter unternehmen werden. verbergen muss – wir reden hier von Traditionen –, ge- sellschaftliche Veränderungen vorzunehmen. Dieser Wegen einiger vernünftiger Ansätze werden wir uns massive politische Wille ist im Übrigen im Bereich des Ihrem Antrag enthalten. Eine Aufnahme ins Strafgesetz- Good Governance anzusiedeln. Für Regierungen ist das buch und ein echter Schutz vor der Abschiebung in ver- sehr schwierig, weil langwierig. Traditionen aufzubre- meintlich sichere Herkunftsländer bleiben für uns die chen, ist das Langwierigste, was wir uns vorstellen kön- zentralen Forderungen. nen. Wenn es uns aber gelingt, in den Entwicklungslän- Ich danke Ihnen. dern à la longue etwas zu erreichen wie der EED in Äthiopien, hat das auch Auswirkungen bei uns. Ich bin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ziemlich froh, dass ich in Deutschland geboren bin und hier aufwachsen durfte; denn wir Frauen wissen, was es Vizepräsidentin Petra Pau: bedeutet – ich glaube, wir alle spüren das sogar –, mit Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin dreckigen Glasscherben und stumpfen Rasierklingen ge- Sibylle Pfeiffer. nital verstümmelt zu werden, und das alles ohne Betäu- bung. Wenn es uns gelingt, dies in den Entwicklungslän- (Beifall bei der CDU/CSU) dern mittel- und langfristig auszumerzen, dann müssen wir darüber hoffentlich nicht mehr reden. Maßnahmen Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): sind getroffen worden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag decken Liebe Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich möchte zu- wir alles ab, was abzudecken ist. Ich denke, es ist ein gu- nächst kurz auf Ihre Rede eingehen. Unsere Sympathie ter Antrag. Sie alle können ihm zustimmen. für das Thema erkennen Sie daran, wie sorgfältig wir da- mit umgegangen sind. Dass letztendlich kein gemeinsa- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie mer Antrag formuliert werden konnte, lag daran, dass bei Abgeordneten der FDP) Sie keine Zeit hatten. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Petra Pau: DIE GRÜNEN]: Sollten wir noch länger als Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Renate eineinhalb Jahre warten?) Gradistanac. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18331

(A) Renate Gradistanac (SPD): Frauen mit Migrationshintergrund werden besonders (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und oft Opfer von Gewalt. Überdurchschnittlich oft sind tür- Herren! Zwangsverheiratung, Zwangsprostitution und kische Frauen betroffen: Fast die Hälfte von ihnen – das Genitalverstümmelung, jede Form von Gewalt gegen ist wirklich dramatisch – hat bereits körperliche Gewalt Frauen, ob sexuell, körperlich oder seelisch, zeigen die im häuslichen Umfeld erlebt. Wir Sozialdemokratinnen lange Geschichte der Diskriminierung gegen die Selbst- und Sozialdemokraten fordern den Ausbau von niedrig- bestimmung und Selbstachtung der Frauen auf. Deshalb schwelligen und mehrsprachigen Beratungs- und Infor- setzen sich die Vereinten Nationen, die europäische mationsangeboten. Ebene, zum Beispiel der Europarat mit seinem Be- schluss „Stoppt häusliche Gewalt gegen Frauen“, und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Deutsche Bundestag gegen Gewalt gegen Frauen DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katharina ein. Landgraf [CDU/CSU]) Gewalt gegen Frauen drückt sich in allen Sprachen Die Bundesregierung hat sich mit dem zweiten Ak- der Welt aus. Aus Rumänien stammt das Sprichwort: tionsplan verpflichtet, 133 Maßnahmen in zehn Hand- „Weiber sind wie Wildbret, je mehr Schläge, je besser lungsfeldern umzusetzen. Wir Sozialdemokratinnen und sind sie.“ Aus Ungarn kommt: „Einen Knochen für mei- Sozialdemokraten werden die Umsetzung aktiv unter- nen Hund, einen Stock für mein Weib.“ Ein deutsches stützen Sprichwort lautet: „Eine nicht geschlagene Frau ist wie (Michaela Noll [CDU/CSU]: Wir auch!) ein ungesalzener Kohl.“ und fordern an dieser Stelle das CDU-geführte Familien- Bis 1928 gab es das Züchtigungsrecht des Ehemanns. ministerium auf, auch im eigenen Haushalt Finanzmittel Fast 70 Jahre später, im Jahr 1997, wurde endlich die zur Verfügung zu stellen. Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Im Jahr 2002 machte das Gewaltschutzgesetz klar: Wer der FDP) schlägt, muss gehen. Wir sehen hier einen Paradigmen- wechsel. Die Geschlagene kann bleiben, der Schläger geht. Die Frauen haben nun die Wahl: Sie können zu Vizepräsidentin Petra Pau: Hause bleiben oder in ein Frauen- und Kinderhaus ge- Ich schließe die Aussprache. hen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- (B) Gewaltschutz braucht Gesetze. Gewaltschutz braucht ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem An- (D) aber auch eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel konsequent ächtet und bekämpft. Das zu erreichen, ist „Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von das Ziel der beiden schwarz-roten Anträge und des zwei- Mädchen und Frauen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner ten Aktionsprogramms. Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9694, den An- trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck- (Beifall bei der SPD) sache 16/9420 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- Das umfassende Gesamtkonzept des ersten rot-grü- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- nen Aktionsplans aus dem Jahre 1999 wurde erfolgreich hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- umgesetzt. Der zweite Aktionsplan setzt mit seinen ehr- men der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei geizigen Maßnahmen da an, wo noch besonderer Hand- Enthaltung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke lungsbedarf besteht. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Präventionsarbeit muss möglichst früh ansetzen; Frau Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Noll hat schon berichtet. Die erste repräsentative Studie schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf zur Gewalt gegen Frauen belegt, dass jedes vierte Kind Drucksache 16/8657. Der Ausschuss empfiehlt unter in Vorfälle häuslicher Gewalt involviert wurde und jedes Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des zehnte Kind selbst körperlich angegriffen wurde. Gewalt- Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf erfahrungen in der Kindheit prägen das Erwachsenenle- Drucksache 16/3542 mit dem Titel „Mädchen und ben. Um diesen Gewaltkreislauf zu durchbrechen, sind Frauen vor Genitalverstümmelung schützen“. Wer die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Kinder- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt schutzhäuser und Frauenhäuser von zentraler Bedeu- dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- tung. lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd- Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten for- nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion und dern insbesondere die Länder und Kommunen auf, die der Fraktion Die Linke angenommen. Beratungsangebote nicht weiter abzubauen, sondern aus- zubauen, und die Vernetzung – das geht nicht kostenneu- Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des tral – zu befördern. Es ist an der Zeit, Gewalt gegen äl- Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3842 mit tere Frauen und Frauen mit Behinderung verstärkt in den dem Titel „Genitalverstümmelung von Mädchen und Blick zu nehmen. Diese Frauen können sich vielfach Frauen ächten und bekämpfen“. Wer stimmt für diese nicht aus eigener Kraft vor Gewalt schützen. Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer 18332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Vizepräsidentin Petra Pau (A) enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Angebot an die namibische Nationalversamm- (C) Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge- lung für einen Parlamentarierdialog zur Ver- gen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der söhnungsfrage Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die – Drucksache 16/9708 – Grünen angenommen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Familie, Se- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe nioren, Frauen und Jugend unter Nr. 3 seiner Beschluss- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und empfehlung auf Drucksache 16/8657 die Ablehnung des Entwicklung Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4152 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die mit dem Titel „Weibliche Genitalverstümmelung verhin- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre dazu dern – Menschenrechte durchsetzen“. Wer stimmt für keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staats- Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge- minister Günter Gloser. gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimment- haltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/ Günter Gloser, Staatsminister für Europa: Die Grünen angenommen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Deutschland ist sich seiner historischen Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- und moralischen Verantwortung für Namibia bewusst. schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu Der Deutsche Bundestag hat dies in seinen wegweisen- dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD den Entschließungen im März 1989 und Juni 2004 be- mit dem Titel „Häusliche Gewalt gegen Frauen konse- kräftigt. quent weiter bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in Wir können das Geschehene nicht ungeschehen ma- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9367, in chen, aber wir können Namibia auf seinem Weg in die Kenntnis des Aktionsplans II der Bundesregierung zur Zukunft unterstützend begleiten. Dies tun wir eingedenk Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auf Druck- der gemeinsamen Vergangenheit mehr als in jedem an- sache 16/6584 den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU deren afrikanischen Land. und der SPD auf Drucksache 16/6429 anzunehmen. Wer stimmt für dieses Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Bereits auf dem Weg in die Unabhängigkeit 1990 hat dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Be- Deutschland als Mitglied der Fünfergruppe Namibia (B) schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak- ganz wesentlich unterstützt. Wir pflegen besondere Be- (D) tion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die ziehungen, die sich auf vielfältiger Ebene widerspiegeln. Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Der bilaterale Dialog ist umfassend und dicht. Dies gilt Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. nicht nur für die Regierung und die Parlamente, die Bun- desländer und die Kommunalebene. Auch auf privater Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatz- und zivilgesellschaftlicher Ebene wurde ein engmaschi- punkt 7 auf: ges Netz geflochten. Die deutschstämmige Minderheit ist als integraler Bestandteil der namibischen Gesell- 17 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schaft akzeptiert. Sie ist einer der namibischen Stämme, richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- so die Wortwahl des namibischen Staatspräsidenten schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Pohamba. Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Monika (Beifall bei der SPD) Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unsere Entwicklungshilfe für Namibia ist pro Kopf deutlich höher als für jedes andere afrikanische Land. Anerkennung und Wiedergutmachung der Für 2007 bis 2008 haben wir 56 Millionen Euro zuge- deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen sagt und damit unsere Pro-Kopf-Zahlungen für die Deutsch-Südwestafrika knapp unter 2 Millionen Einwohner verdoppelt. Auch das sollte unterstrichen werden. – Drucksachen 16/4649, 16/8418 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Berichterstattung: der CDU/CSU) Abgeordnete Anke Eymer (Lübeck) Auch bei der Entwicklungszusammenarbeit legen wir Brunhilde Irber im Einklang mit den namibischen Partnern Wert auf eine Marina Schuster zukunftsgerichtete Gestaltung, die der namibischen Be- Monika Knoche völkerung als Ganzem zugute kommt. Kerstin Müller (Köln) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Be- ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin schluss des namibischen Parlaments vom Oktober 2006 Müller (Köln), Dr. Uschi Eid, Ute Koczy, weite- unterstützt die von der Herero-Partei aufgestellte Forde- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- rung nach Entschädigungen. Die namibische Regierung NIS 90/DIE GRÜNEN hat sich bis heute nicht offiziell zu diesem Beschluss ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18333

Staatsminister Günter Gloser (A) äußert. Sie hat lediglich mehr als ein Jahr nach dem Par- Thema; ganz im Gegenteil. Das liegt an dem unendli- (C) lamentsbeschluss diesen Text kommentarlos übermittelt. chen Leid, das deutsche Kolonialtruppen im heutigen Der namibische Parlamentspräsident hat Ende 2007 ei- Namibia an den Volksstämmen der Herero und Nama nen Parlamentarierdialog angeboten, in dem auch dieser damals angerichtet haben. Wer die Berichte von damals Themenkomplex behandelt werden soll. Die Bundesre- liest, ist auch heute noch tief erschüttert und tief betrof- gierung unterstützt selbstverständlich Gespräche zwi- fen über die Menschenverachtung, mit der die Kolonial- schen Parlamentariern. Wir wollen aber den Eindruck truppen gegen Teile der Bevölkerung, insbesondere ge- vermeiden, dass durch einen institutionalisierten Dialog gen Herero und Nama, vorgingen. Es ist nicht das erste mit dem namibischen Parlament eine Anerkennung et- Mal, dass wir hier im Deutschen Bundestag darüber re- waiger Entschädigungsforderungen verbunden ist. den. Es ist bereits zu unterschiedlichen Zeitpunkten – der Herr Staatsminister hat es schon erwähnt – hier de- Wir haben gegenüber der namibischen Seite deutlich battiert worden. Es ist richtig, dass wir uns wieder an die gemacht, dass unsere Zusammenarbeit zukunftsgerichtet blutige Niederschlagung der Aufstände erinnern; denn ist. Dabei tragen wir den speziellen Bedürfnissen vor al- die Erinnerung an diese Ereignisse darf nicht verblassen. lem solcher Volksgruppen Rechnung, deren Vorfahren unter deutscher Kolonialherrschaft in besonderem Maße (Beifall bei der FDP und der SPD sowie der gelitten haben. So haben die Bundesregierung und die Abg. Monika Knoche [DIE LINKE]) namibische Regierung im November 2007 diese Ab- sichtserklärung über eine Sonderinitiative in den Der Kern der Debatte zum Umgang mit der deutschen Siedlungsgebieten der Herero, Nama und Damara unter- Kolonialvergangenheit konzentriert sich auf folgende zeichnet. Diese Initiative hat einen Umfang von 20 Mil- Frage: Wie können wir unserer historischen Verantwor- lionen Euro und soll die Lebensbedingungen in den be- tung am besten gerecht werden? Mehr als 100 Jahre troffenen Gebieten verbessern. Ein Schwerpunkt liegt nach den für uns so beschämenden Vorgängen der dabei auf der Kommunalentwicklung. Die Projekte ver- deutsch-kaiserlichen Kolonialherrschaft kann man diese folgen einen regionalspezifischen Ansatz und werden al- Frage nicht so beantworten, als wäre diese Zeit erst ges- len Bewohnern der Region zugute kommen. tern gewesen. Wir müssen für uns heute die Frage beant- worten, wie wir am besten das heutige Namibia als Gan- (Beifall bei der SPD) zes in seiner Entwicklung unterstützen. Wir wollen die Der namibischen Regierung liegen das sozialpoliti- Gesellschaft in Namibia nicht spalten. Das ist der ganz- sche Gleichgewicht und die nationale Versöhnung im heitliche Ansatz für die Zukunft, für den sich meine Vielvölkerstaat Namibia am Herzen. Mit unserem regio- Fraktion einsetzt, und das ist auch der geeignete Weg. nalspezifischen Ansatz der Sonderinitiative entsprechen Denn dass es gelungen ist, eine deutsch-namibische (B) wir diesem besonderen Anliegen der namibischen Re- Freundschaft zu entwickeln, ist eine der großen kulturel- (D) gierung. Die Deutsche Botschaft Windhuk steht in regel- len und auch politischen Leistungen unserer beiden Na- mäßigem Kontakt mit den traditionellen Herero-Königs- tionen und auch der jeweiligen Regierungen. häusern, aber auch mit Repräsentanten und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zivilgesellschaftlichen Vertretern der Herero. Gleiches der SPD) gilt für Vertreter anderer Bevölkerungsteile. Hauptge- sprächspartner der Bundesregierung ist aber die namibi- Die FDP hat sich in diesem Sinne immer für Namibia sche Regierung. und ein gutes deutsch-namibisches Verhältnis eingesetzt. Namibia ist der jüngste Staat Afrikas, 1990 gegründet, Im Bewusstsein der gemeinsamen Vergangenheit und und Deutschland spielte – der Herr Staatsminister hat es im Kontext der Gegenwart wollen wir zur Zukunft Na- angesprochen – eine entscheidende Rolle bei dem Pro- mibias und all seiner Menschen beitragen. Ansätze, die zess der Unabhängigkeit, der fast elf Jahre gedauert hat. die Vergangenheit in den Mittelpunkt unseres Handelns Die Resolution 435, die durch die intensive Unterstüt- stellen wollen, verkennen die Erfolge unserer mit der na- zung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich mibischen Regierung eng abgestimmten Politik für die Genscher zustande kam und nach langwierigen Verhand- heute in Namibia lebenden Menschen. lungen von den Vereinten Nationen verabschiedet wor- Vielen Dank. den ist, hat die Grundlage hierfür gelegt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 1989 verabschiedete der Bundestag eine Erklärung, mit der die Bundesregierung aufgefordert wurde, ihrer besonderen Verantwortung für Namibia dadurch gerecht Vizepräsidentin Petra Pau: zu werden, dass sie es zu einem Modellfall deutscher Das Wort hat nun die Kollegin Marina Schuster für Entwicklungszusammenarbeit macht. Wir bekräftigen die FDP-Fraktion. heute diese besondere Verantwortung für die Geschichte, (Beifall bei der FDP) aber auch die besondere Verantwortung für die Gegen- wart und die zukünftige Entwicklung Namibias. Marina Schuster (FDP): In der Tat gibt es sehr viele Probleme zu bewältigen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit denen Namibia zu kämpfen hat. Die Ursache hierfür Wir reden hier und heute über den Umgang mit den einzig in der Kolonialvergangenheit zu sehen, wäre aber Greueltaten, die in deutschem Namen vor mehr als sicherlich zu kurz gesprungen. Eine HIV-Infektionsrate 100 Jahren verübt wurden. Das ist kein einfaches von 20 Prozent und der Rückgang der Lebenserwartung 18334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Marina Schuster (A) von 60 auf 38 Jahre sprechen eine deutliche Sprache. Daher hat die Entschließung des Deutschen Bundes- (C) Welche Risiken und welche Bedeutung das für die Ent- tages von 1989 bis heute nichts an Bedeutung und Aktu- wicklung Namibias hat, ist uns allen klar. alität verloren. Schon zu diesem Zeitpunkt hat Deutsch- land die Bereitschaft zu einem besonderen Engagement Noch ein Wort zu den vorliegenden Anträgen: Den deutlich gemacht. Das entsprach und entspricht der his- Antrag der Linken werden wir ablehnen. Der Antrag der torischen Verbindung unserer Länder. Es entspricht au- Grünen wird an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen ßerdem der ausgezeichneten bilateralen und partner- werden. Aber auch diesen Antrag sieht die FDP-Fraktion schaftlichen Zusammenarbeit, die wir pflegen. mit sehr großer Skepsis, weil er am Ende in eine ähnli- che Richtung geht. Erinnern möchte ich an die Debatte, die wir hier im Deutschen Bundestag anlässlich des 100. Gedenktages (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE der Schlacht am Waterberg geführt haben. Wenn also der GRÜNEN]: Dann legen Sie doch selber etwas Eindruck erweckt werden sollte, über die deutschen Ver- vor! Sie können doch schreiben!) brechen an den Herero und Nama würde offiziell nicht gesprochen, so ist das absoluter Humbug. Deutschland bekennt sich zu seiner besonderen Ver- antwortung für Namibia. Das muss auch so bleiben. Des- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- halb müssen wir bei der Bewältigung der heutigen und neten der SPD) der kommenden Aufgaben unsere Unterstützung anbie- ten. Aber auch unsere historische Verantwortung entbin- Natürlich wurde darüber gesprochen und wird da- det uns nicht davon, klug abzuwägen, wie wir dieser im rüber gesprochen. Es wird auch debattiert. Es wird ver- Sinne eines integrativen Ansatzes am besten gerecht handelt. Hier im Bundestag war das, wie schon erwähnt, werden können. mehrfach der Fall. Öffentlicher geht es wohl kaum. Herzlichen Dank. Die zuständige Bundesministerin, Frau Wieczorek- Zeul, hat in Namibia im Jahr 2004 ebenfalls ganz ein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der deutig dazu Stellung bezogen. Es ist nicht bei einer Aus- SPD und des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU]) sage geblieben. Auch wenn Sie von der Linken 1989 noch nicht in Vizepräsidentin Petra Pau: diesem Haus vertreten waren Für die Unionsfraktion hat jetzt die Kollegin Anke (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Eymer das Wort. GRÜNEN]: Das war schön! – Dr. Stephan (B) (Beifall bei der CDU/CSU) Eisel [CDU/CSU]: Das war schön! – Gegenruf (D) des Abg. Dr. [DIE LINKE]: Lang- weilig war es wahrscheinlich!) Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und – ich beachte die Zwischenrufe: das war schön; das wa- Herren! Der vorliegende Antrag legt wieder einmal den ren noch Zeiten –, so können Sie in den Protokollen des Fokus auf ein Thema, das wir in diesem Hause schon öf- Bundestages doch nachlesen, was zwischen der Bundes- ter besprochen haben. Es geht um die Frage der deut- republik und Namibia im Besonderen schon ganz offi- schen Verantwortung im heutigen Namibia. Noch kon- ziell besprochen wurde. kreter: Es geht um die Geschehnisse in den drei Jahren Bis zu dem vorliegenden Antrag der Linken ist wohl von 1904 bis 1907. Wir reden also über das Vorgehen niemand so schnell und unkritisch bereit gewesen, sich des Deutschen Kaiserreiches gegen die Herero, die einer Argumentation anzuschließen, ohne den viel grö- Nama und die Damara vor 104 Jahren. ßeren eigentlichen Zusammenhang sehen zu wollen. Es ist auffällig, dass die Verantwortlichen der Herero eine Seitdem hat sich doch manches bewegt und verändert. auf ihre Bevölkerungsgruppe besonders konzentrierte Ent- Die kurze deutsche Kolonialzeit ging mit dem Kaiser- wicklungszusammenarbeit ablehnen und nach 104 Jahren reich 1918 zu Ende. Die Folgen der europäischen Kolo- auf Ausgleichszahlungen bestehen. nialzeit, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reichten, sind bis heute für viele aktuelle Probleme zahl- Die Forderung nach einseitiger Aufarbeitung deut- reicher afrikanischer Länder mitverantwortlich. scher Geschichte ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Es geht, so möchte ich vermuten, nicht nur um die For- Das alles ist bekannt, und zwar nicht erst seitdem die derungen einzelner Bevölkerungsgruppen nach massiver vorliegenden Anträge geschrieben wurden. Wir wissen finanzieller Wiedergutmachung; es geht vor allem auch sehr wohl um unsere koloniale Vergangenheit. Aus die- um ein drängendes Problem der namibischen Innenpoli- sem Wissen heraus erkennen wir die Verantwortung be- tik. Den Hintergrund bildet die gesellschaftliche Krise, sonders in der Zusammenarbeit mit Namibia. Denn es die droht, wenn Namibia seine Landreform nicht zügig geht darum, eine zukunftsgewandte bilaterale Politik mit und erfolgreich umsetzen kann. Es ist das Interesse vie- Namibia fortzuentwickeln. Es geht darum, an den guten ler Beteiligter, sich hierbei gut zu positionieren. und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutsch- land und Namibia weiterzuarbeiten. Es kann kein Zwei- Es geht wohl auch um die Frage: Wem gehört das He- fel daran bestehen, dass auch die Regierung in Namibia rero-Land heute, und wem soll es zukünftig gehören? das so sieht. Wer kann es sich leisten, den Grund und Boden heute zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18335

Anke Eymer (Lübeck) (A) kaufen, Herero, Nama, San oder Ovambo oder Weiße Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) oder andere? Hüseyin Aydin ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. Das ist der Hintergrund, vor dem auch die Entschei- dung der Nationalversammlung im Oktober 2006 und (Beifall bei der LINKEN) die geänderte Position der Regierung beleuchtet werden kann. Sich für diesen Prozess der Landreform mit or- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): dentlichen Finanzmitteln auszustatten, ist etwas ganz an- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Austra- deres als die geforderte moralische Aufarbeitung deut- lien, in Kanada und gestern in Neuseeland haben sich die scher Geschichte. Regierungschefs bei den Ureinwohnern ihres Landes für erlittenes Unrecht entschuldigt. Das wurde in den deut- Diese aktuellen Hintergründe in Namibia in einem schen Medien weithin berichtet. Nur eines bekommen Antrag und einer Debatte nicht zu nennen, wäre dumm wir nicht zu hören, nämlich dass sich die Bundesregie- und kurzsichtig. Die Zusammenarbeit zwischen unseren rung zu den Kolonialverbrechen bekennt, die im deut- Ländern sollte nicht so einseitig und kurzsichtig sein. schen Namen verübt worden sind. Keine Regierung von Wenn überhaupt, dann geht es um eine Entwicklungszu- Adenauer bis Merkel hat bis heute anerkannt, dass an sammenarbeit mit dem Ziel, die Zukunftschancen der den Völkern der Herero und Nama in den Jahren 1904 namibischen Bevölkerung insgesamt zu verbessern. bis 1908 ein Völkermord verübt wurde. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Brunhilde Irber [SPD]: Da irren Sie sich!) FDP) Völkermord ist ein Verbrechen, das die gemeinsame Aufarbeitung aller Demokraten erfordert. Deshalb haben Partikularinteressen zu bedienen, ist nicht verantwortbar. wir im November 2006 allen anderen Fraktionen vorge- Hier einen Versöhnungsdialog voranzubringen, in schlagen, einen gemeinsamen Antrag zur Aufarbeitung der Kolonialverbrechen einzubringen. Keine Fraktion dem alle Beteiligten zu Wort kommen, das arbeitet Ge- hat darauf reagiert. Das zeigt Ihre Ignoranz gegenüber schichte sinnvoll auf. Hier Entwicklungszusammenar- der deutschen Geschichte. beit auszuweiten, Berufschancen und Infrastruktur zu fördern, gemeinsame Strategien gegen die drohende (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aidspandemie voranzutreiben, das sichert Zukunfts- Es ist gut, dass sich nun die Grünen bewegen und einen chancen. Das ist der große Rahmen, in den die heutige Antrag zur Aufnahme eines deutsch-namibischen Parla- Debatte eigentlich gehört. Das ist ein Feld, in dem die mentsdialogs eingebracht haben. Das unterstützen wir. (B) (D) Bundesrepublik Gesprächs- und Handlungsangebote ge- Allerdings ist es schon etwas peinlich, wenn Frau Eid macht hat und weiterhin macht. darin als diejenige hochstilisiert wird, die als Leiterin der SADC-Parlamentariergruppe bereits 1995 den Völker- Sich einseitig zu einem Zahlmeister für wenige ma- mord anerkannt habe. Tatsächlich findet sich im Proto- chen zu lassen und deutsche Geschichte nicht in einem koll ihres damaligen Namibia-Besuches kein Wort vom größeren Zusammenhang europäischer Kolonialge- Genozid. Stattdessen heißt es dort, Wiedergutmachungs- schichte und deren Aufarbeitung zu sehen, das ist der forderungen seien – Zitat – „nicht akzeptabel“. falsche Ansatz. Bei den afrikanischen Partnern – nicht nur in Namibia – gibt es einen wichtigen Konsens. Für Im April hielt sich Bundestagspräsident Lammert in eine gleichberechtigte Zusammenarbeit und für ein er- Namibia auf. Selbst auf Nachfrage mochte auch er das starkendes afrikanisches Selbstbewusstsein ist das of- Wort „Völkermord“ nicht einmal aussprechen. Warum fene Eingestehen von Fehlern wichtig und unverzicht- verleugnen Bundestagspräsident, Bundesregierung und bar. Dazu zählen auch die grausamen Verbrechen Bundestag die historische Wahrheit? Sie haben Angst, deutscher Truppen in den wenigen Jahren deutscher Ko- dass daraus rechtliche Wiedergutmachungsforderungen lonialzeit ebenso wie die der anderen europäischen Län- abgeleitet werden könnten. Das zeigt doch nur eines, der. Dabei wird von afrikanischer Seite diesem offenen nämlich dass diese Forderungen berechtigt sind. Warum sollten Sie sich sonst weigern, über etwas zu sprechen, Eingestehen von Fehlern weit mehr Bedeutung beige- das längst historisch bewiesen ist? messen als partiellen materiellen Forderungen. (Christoph Strässer [SPD]: Machen wir!) Ich bin überzeugt, Deutschland wird sich auch wei- terhin seiner Verantwortung gegenüber Namibia be- Unser Antrag zwingt Sie, sich im Bundestag zu äu- wusst sein. Ich zweifle nicht daran, dass die Frage einer ßern. In der ersten Lesung hatten die Regierungsparteien gemeinsamen Geschichtsaufarbeitung auch vor dem nur die üblichen Ausreden wie heute parat. Angeblich Hintergrund der Entscheidung der namibischen Natio- habe sich der Bundestag 1989 und 2004 in einstimmig nalversammlung vom 26. Oktober 2006 in einem part- angenommenen Anträgen mit dem Thema beschäftigt. nerschaftlichen Dialog zu lösen sein wird. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Natürlich!) Ich danke für die Aufmerksamkeit. Das ist falsch. In beiden Anträgen wurde zwar die be- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der sondere Verantwortung für Namibia bekräftigt. Nur FDP) dazu, woraus sich diese Verantwortung ableitet, sagten 18336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Hüseyin-Kenan Aydin (A) Sie nichts. Von einem Völkermord ist darin nicht die Grundstein für die positive Entwicklung des deutsch- (C) Rede. Auch der Vernichtungsbefehl des Generals von namibischen Verhältnisses ist die Namibia-Entschlie- Trotha wurde verschwiegen. Ich sage: Diese Anträge ßung des Deutschen Bundestages von 1989. Der Bun- sind kein Beitrag zur Aufarbeitung der Kolonialverbre- destag forderte die Bundesregierung also bereits vor der chen, sondern eine Beleidigung der Völker der Nama nominellen Unabhängigkeit Namibias auf, mit dem und Herero. neuen Staat eine Sonderbeziehung zu entwickeln und zu pflegen. Ergänzt wurde diese Entschließung im Jahre Schließlich gibt es die Legende, die Herero seien in 2004 durch eine Vereinbarung, in der die besondere dieser Frage selbst zerstritten und Chief Riruako sei iso- Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia aus- liert. Auch das ist falsch. Die Deutsche Botschaft in drücklich anerkannt wird. Deutschland hat somit seiner Windhuk wies die Bundesregierung im letzten Herbst kolonialen Vergangenheit im Einverständnis mit der na- ausdrücklich darauf hin, dass sich der im Diplomaten- mibischen Regierung Rechnung getragen. deutsch als gemäßigt bezeichnete Chief Maharero offen hinter die Forderung nach Wiedergutmachung gestellt (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der hat – ebenso wie die Vertreter der Nama. Seit Dezember CDU/CSU) 2007 gibt es dazu ein gemeinsames Positionspapier der Repräsentanten beider Völker. Dieses Einverständnis findet seinen Ausdruck in der Form einer besonders intensiven Entwicklungszusam- Kurzum: Die Taktik der Bundesregierung, die Opfer menarbeit. So hat Namibia seit seiner Unabhängigkeit des deutschen Kolonial- und Vernichtungskrieges gegen- im Vergleich zu anderen afrikanischen Partnerländern einander auszuspielen, ist am Ende. Nama-Chief sehr hohe finanzielle Zuwendungen erhalten. Die Bun- Frederick klagte im vergangenen Monat öffentlich an – desrepublik ist seit der Unabhängigkeit im Jahre 1990 Zitat –: „Meine Großmutter wurde erschossen, als sie ihr der größte bilaterale Geber des Landes. Pro Kopf erhält Baby an sich drückte. Auch das Baby wurde von den Namibia die meisten deutschen Entwicklungshilfemittel Deutschen ermordet.“ Ich sage Ihnen: Die Nachfahren von allen Ländern in Afrika. der Opfer dieser Verbrechen werden nicht ruhen, bevor sie aus dem Mund einer Kanzlerin oder eines Kanzlers (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der oder des Bundestages hören: „Ich bitte im Namen des CDU/CSU) deutschen Volkes um Verzeihung.“ Kennzeichnend für das deutsche Engagement ist aber (Beifall bei der LINKEN) nicht nur die staatliche Entwicklungshilfe, sondern auch eine Vielfalt privater Initiativen und Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen. Das Gesamtvolumen al- Präsident Dr. Norbert Lammert: ler deutschen finanziellen Zusagen an Namibia seit der (B) Die Kollegin Kerstin Müller gibt ihre Rede zu Pro- Unabhängigkeit beträgt mehr als 500 Millionen Euro. (D) tokoll1). Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kolle- Darüber hinaus leistet Deutschland als maßgeblicher gin Brunhilde Irber für die SPD-Fraktion. Finanzier der Gemeinschaftshilfe der EU sowie den mul- tilateralen Entwicklungsorganisationen indirekt weitere Brunhilde Irber (SPD): finanzielle Unterstützung. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Deutschland hat es nicht bei der finanziellen Unter- nen und Kollegen! Mehr als 100 Jahre sind seit der bluti- stützung belassen. Wohl wissend, dass Geld allein das gen Niederschlagung der Aufstände im damaligen während der Kolonialzeit erlittene Unrecht nicht unge- Deutsch-Südwestafrika vergangen. Die Ereignisse von schehen machen kann, hat die Bundesregierung gemein- damals bestimmen nach wie vor unsere Beziehungen zur sam mit dem Deutschen Bundestag bereits vor vier Jah- heutigen Republik Namibia. Dass sich die Beziehungen ren eine Versöhnungsinitiative auf den Weg gebracht. zwischen Deutschland und Namibia seit der namibi- Anlässlich der Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des schen Unabhängigkeit im Jahre 1990 trotzdem so Herero-Aufstands im Jahre 2004 bat Bundesministerin freundschaftlich und umfassend entwickelt haben, liegt Wieczorek-Zeul im Namen der Bundesregierung die Op- unter anderem daran, dass sich Deutschland stets zu sei- fer offiziell um Vergebung: ner historischen Verantwortung bekannt hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute Umso ärgerlicher ist es, dass die Linke heute ver- als Völkermord bezeichnet würde … Wir Deut- sucht, aus der Vergangenheit politisches Kapital zu schen bekennen uns zu unserer historisch-politi- schlagen. Herr Kollege, ich finde es nicht in Ordnung, schen, moralisch-ethischen Verantwortung und zu wie Sie das hier vorgetragen haben. der Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE haben. Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen GRÜNEN]: Vor allem die, die aktuelle Völ- „Vater unser“ um Vergebung unserer Schuld. Ohne kermorde nicht verhindern wollen!) bewusste Erinnerung, ohne tiefe Trauer kann es keine Versöhnung geben. Ich möchte daher heute Abend die Gelegenheit nutzen, um das deutsche Engagement für Namibia zu würdigen So damals die Bundesministerin. und offensichtliche Missverständnisse auszuräumen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE 1) Anlage 5 GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18337

Brunhilde Irber (A) Dies könnte man mit dem Kniefall Willy Brandts in der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen (C) Warschau vergleichen. Es war eine Verneigung vor dem Deutsch-Südwestafrika“. Der Ausschuss empfiehlt in namibischen Volk. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8418, den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Druck- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE sache 16/4649 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- GRÜNEN]: Das wäre eine Chance für Frau schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Merkel, da mal hinzufahren!) hält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Die SPD hat diese Initiative zur Versöhnung von An- Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Fraktion fang an unterstützt. Bereits im Juni 2004 brachte sie in Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die der bereits erwähnten Entschließung ihr tiefes Bedauern Grünen angenommen. und ihre Trauer gegenüber den Nachkommen der Opfer Wir kommen zu Zusatzpunkt 7. Hier wird interfraktio- zum Ausdruck. Deshalb befürworten wir konsequent die nell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9708 Bereitstellung von 20 Millionen Euro für die deutsche an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Versöhnungsinitiative. Diese Mittel werden – wie Herr vorgeschlagen. Sind Sie hiermit einverstanden? – Das ist Staatsminister Gloser bereits ausgeführt hat – allen offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so be- Volksgruppen zugutekommen, vor allem denen, die einst schlossen. in besonderem Maße von der deutschen Kolonialherr- schaft betroffen waren. Die Fraktion Die Linke blendet Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: diese positiven Zeichen offensichtlich aus. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- So wirft die Linke der Bundesregierung unter ande- richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) rem vor, dass die von den Herero vorgebrachten Klagen gegen deutsche Unternehmen, die an der kolonialen – zu dem Antrag des Bundesministeriums der Ausbeutung beteiligt waren, ohne Folgen blieben. Tat- Finanzen sächlich haben im September 2001 200 Herero auf der Entlastung der Bundesregierung für das Grundlage des Alien Tort Claims Act vor dem Bezirks- Haushaltsjahr 2006 – Vorlage der Haus- gericht in Columbia, USA, drei deutsche Unternehmen halts- und Vermögensrechnung des Bundes verklagt. Allerdings vergisst die Linke, dass alle Klagen (Jahresrechnung 2006) – entweder zurückgenommen oder rechtskräftig abgewie- sen wurden. – zu der Unterrichtung durch den Bundesrech- nungshof Anstatt auf das uns Trennende zu verweisen, wäre es mir ein besonderes Anliegen, unsere Verbindungen mit Bemerkungen des Bundesrechnungshofes (B) (D) Namibia zu stärken. Ich wünsche mir daher für die Zu- 2007 zur Haushalts- und Wirtschaftsfüh- kunft einen intensiven Dialog zwischen dem Deutschen rung des Bundes (einschließlich der Feststel- Bundestag und unseren Kollegen im namibischen Parla- lungen zur Jahresrechnung 2006) ment. – Drucksachen 16/4995, 16/7100, 16/7376 Nr. 3, Ein solcher parlamentarischer Dialog, der auch Ver- 16/9640 – treter der damals betroffenen Bevölkerungsgruppen ein- Berichterstattung: beziehen muss, wäre ein wichtiger Impuls zu einem um- Abgeordneter Bernhard Brinkmann (Hildesheim) fassenden gesellschaftlichen Dialog zwischen Deutschen und Namibiern. Wir von der SPD sind hierzu bereit. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Herzlichen Dank! Herr Präsident, auch Ihnen herzli- Kolleginnen und Kollegen Steffen Kampeter, Bernhard chen Dank! Brinkmann, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Gesine Lötzsch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und Alexander Bonde.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ich schließe die Aussprache. Die Beratung zur Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2006, die heute auf der Tagesordnung Da der Kollege Aydin vorhin ausdrücklich auf meinen steht, erfolgt in einem gut eingespielten Verfahren. Der Besuch in Namibia vor wenigen Wochen Bezug genom- Bundesrechnungshof hat wie bisher auch umfangreiche men hat, erlaube ich mir den Hinweis, dass die gerade zi- Prüfungen durchgeführt und zahlreiche Bemerkungen er- tierten damaligen Äußerungen der Bundesministerin arbeitet. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedan- Wieczorek-Zeul in Namibia auf alle führenden Reprä- ken. Über die Details der Prüfungsergebnisse haben wir sentanten dieses Staates offenkundig mehr Eindruck hin- in den Ausschüssen intensiv beraten. Ingesamt sind wir zu terlassen haben als auf Sie, Herr Kollege Aydin. der Auffassung gelangt, dass keinerlei Bedenken beste- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem hen und daher die Entlastung der Bundesregierung für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 2006 erfolgen kann. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- Auf zwei wesentliche Aspekte, die der Bundesrech- gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke nungshof im Rahmen seiner Prüfungen angesprochen mit dem Titel „Anerkennung und Wiedergutmachung hat, möchte ich zunächst kurz eingehen. So hat er erneut 18338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Steffen Kampeter (A) die sogenannte Fifo-Methode bei der Inanspruchnahme denberg sitzen zu lassen, müssen wir gegensteuern. Nur (C) der Kreditermächtigung kritisiert, nach der bei der Kre- so schaffen wir die notwendigen Freiräume, um zukunfts- ditaufnahme zuerst die noch nicht beanspruchten Er- gerichtete Investitionen zu ermöglichen und unsere Bür- mächtigungen des Vorjahrs in Anspruch genommen wer- ger bei der Abgaben- und Steuerlast wirksam zu entlas- den. Die Koalition hat diesen Bedenken Rechnung ten. getragen und mit dem Haushalt 2008 eine Neuregelung im Sinne des Bundesrechnungshofs umgesetzt. Dies mag Von den im letzten Jahr geschätzten Steuermehrein- auf den ersten Blick als eine rein bürokratische Frage- nahmen für die Jahre 2007 bis 2011 in Höhe von etwa stellung angesehen werden; jedoch zeigt die Neuregelung 100 Milliarden Euro haben wir rund 60 Prozent zur Kon- eine neue Qualität in der Haushaltspolitik: Die Neurege- solidierung genutzt. Jedoch gehören zum politischen lung lässt noch nicht in Anspruch genommene Krediter- Dreiklang der Großen Koalition auch das Investieren und mächtigungen aus früheren Haushaltsjahren schneller das Reformieren. Daher haben wir auch einen Teil der verfallen und stärkt daher das Budgetrecht des Parla- Steuermehreinnahmen investiert, zum Beispiel zur Stabi- ments in besonderer Weise. lisierung der Beitragssätze bei der gesetzlichen Kranken- versicherung und damit zur Senkung der Lohnnebenkos- Weiterhin hat uns der Bundesrechnungshof auf die un- ten. Aber auch andere zukunftsgerichtete Investitionen befriedigende Praxis bei der Anwendung des Grundsat- haben wir angestoßen, wie in Forschung und Bildung, für zes der Wirtschaftlichkeit hingewiesen. Die von ihm auf- die Betreuung der unter Dreijährigen oder in entwick- gezeigten Mängel können so nicht hingenommen werden. lungs- und klimapolitische Leistungen. Insgesamt haben In allen Bereichen der Bundesverwaltung muss ein wirt- wir so die Investitionen gegenüber dem Jahr 2006 um schaftlicher Umgang mit Haushaltsmitteln durch die An- rund 10 Prozent steigern können. Auch finanzieren wir wendung entsprechender Methoden der Wirtschaftlich- aus den genannten Steuermehreinnahmen die bereits be- keitsuntersuchungen sichergestellt sein. Daher müssen schlossenen Ausgaben wie BAföG- oder Wehrsolderhö- Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit einge- hungen oder die Tarifanhebungen im öffentlichen Dienst. leitet werden. Der Bürger muss sich darauf verlassen Die Unternehmensteuerreform 2008 und andere Re- können, dass wir wirtschaftlich mit seinen Steuergeldern formvorhaben der Großen Koalition der jüngsten Zeit umgehen. Die Bundesregierung ist hier gefordert, die Vo- tragen dazu bei, die Grundlage für das insgesamt güns- raussetzungen für die uneingeschränkte Beachtung des tige Wirtschaftswachstum zu legen. Die Konjunktur hat Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit in allen Bundesbehör- sich überraschend robust gezeigt und bisher die Turbu- den und -einrichtungen zu verschaffen. lenzen um Finanzmarktkrise, Energiepreiserhöhung und 2006 war das Jahr, in dem Deutschland – erstmals seit starken Euro erfreulich gut gemeistert. Dank unserer Po- litik ist die Wirtschaft gut aufgestellt. Insgesamt ist die (B) 2001 – mit 1,6 Prozent Anteil des gesamtstaatlichen De- (D) fizits am Bruttoinlandprodukt unterhalb der 3-Prozent- Entlastung von Unternehmen und Beschäftigten seit 2006 Grenze des Europäischen Stabilitäts- und Wachstums- deutlich vorangeschritten. So wurde auch der Beitrags- pakts lag. Die Schuldenstandsquote hatte sich bei 68 Pro- satz zur Arbeitslosenversicherung von ursprünglich zent des Bruttoinlandprodukts stabilisiert. Im Juni 2007 6,5 Prozent auf jetzt 3,3 Prozent nahezu halbiert. Weitere – also erst vor einem Jahr – hat daraufhin die EU das seit Senkungen streben wir an. 2002 laufende Defizitverfahren gegen Deutschland ein- Dies alles trägt zur Verbesserung der Nachhaltigkeit gestellt. Gesamtwirtschaftlich hat Deutschland dann für unserer Finanzen bei. Das ist auch dringend notwendig, 2007 eine Null als Defizit an die EU melden können. Und wollen wir unseren Kindern und Enkeln nicht einen auch für dieses Jahr stehen die Chancen gut, diesen Wert Trümmerhaufen hinterlassen. Der Nachhaltigkeitsbe- zu erreichen. In dieser kurzen Zeit ist es der Regierung richt des Bundesfinanzministers, der Anfang Juni veröf- gelungen, vom Defizitsünder zum Musterknaben zu wer- fentlicht wurde, bestätigt dies. Er zeigt aber auch auf, den. Wir setzen hier europaweit „Benchmarks“! Das ist dass wir begonnene Reformen nicht einfach zurück- die Erfolgsstory der unionsgeführten Großen Koalition. schrauben dürfen, wenn wir unseren Erfolg nicht gefähr- Letztlich haben die Konsolidierungsanstrengungen den wollen. Vielmehr bestätigt dies, dass Reformen grei- der letzten Jahre dazu geführt, dass wir endlich Licht am fen und wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben dürfen. Ende des Tunnels sehen: Bis spätestens 2011 wollen wir einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen, den ers- Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): ten seit 1969. Dies wurde 2006 noch nicht für möglich ge- Obwohl wir uns heute mit dem Jahr – genauer gesagt halten. Damit legen wir auch den Grundstein für eine dem Haushaltsjahr 2006 – befassen, sind die Bemerkun- tragfähige Lösung und den Erfolg der Föderalismus- gen des Bundesrechnungshofes und die Beratungen des reform. Wir brauchen dringend eine wirksame Schulden- Rechnungsprüfungsausschusses hierzu keineswegs rück- bremse, um dauerhaft eine nachhaltige Haushalts- und wärtsgewandt, geht es doch darum, Maßnahmen einzu- Finanzpolitik umzusetzen. Dies hat uns das Bundesver- leiten, die in der Zukunft ihre positive Wirkung entfalten fassungsgericht in seinem letztjährigen Urteil zum Bun- sollen. deshaushalt 2004 bestätigt. Nach der entsprechenden Beschlussfassung im Aus- Konsolidierung ist aber kein Selbstzweck. Das hat et- schuss wird es in einer Vielzahl von Fällen dazu kommen, was mit Generationengerechtigkeit zu tun. Schulden dass Organisationsstrukturen verbessert, Konzepte über- heute bedeuten Belastungen morgen. Statt unsere Kinder prüft, Verfahren gestrafft und überarbeitet, Ansatzpunkte mit Zins- und Tilgungslasten auf einem riesigen Schul- der Fachaufsicht geschärft, finanzielle Rückforderungen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18339

Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (A) des Bundes eingeleitet oder Arbeitsgruppen zur Lösung Mehrfaches. Sozial- und Zinsausgaben sind dabei die (C) komplexer Sachverhalte eingerichtet werden. beiden größten Ausgabenblöcke. Daher gibt es insbeson- dere im Bereich der konsumtiven Ausgaben zum Konsoli- Neben solchen konkreten Einzelfällen, die ein Ressort dierungskurs der großen Koalition keine Alternative. oder auch das Handeln einer bestimmten Behörde betref- fen, finden sich stets übergreifende Aspekte. In seinen ak- 2006 lag die Nettokreditaufnahme immer noch um tuellen Bemerkungen hat der Bundesrechnungshof erneut 5,2 Milliarden Euro über den Investitionsausgaben von die Verpflichtung zu angemessenen Wirtschaftlichkeits- 22,7 Milliarden Euro. Dafür lassen sich gute Gründe be- untersuchungen für alle finanzwirksamen Maßnahmen nennen, die dies als zur Abwehr einer drohenden Störung hervorgehoben. Diese Verpflichtung folgt aus dem Gebot des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts notwendig der Wirtschaftlichkeit, das mit seiner Nennung in Art. 114 erscheinen lassen. Das ist allerdings auch ein weiterer Abs. 2 des Grundgesetzes Verfassungsrang hat. Hier ha- Beleg dafür, dass die Kreditbegrenzungsregel des Grund- ben die Prüfungen manchen Mangel ans Licht gebracht. gesetzes in der Praxis weitgehend wirkungslos bleibt. Die Beratung im Ausschuss hat jedoch nicht nur zu Dieser Umstand führt unmittelbar zur Arbeit der Födera- dem Ergebnis geführt, dass alle Bundesministerien auf- lismuskommission, die einheitliche Schuldengrenzen für gefordert werden, für noch sachgerechtere und nachvoll- Bund und Länder vorschlagen wird. Nur stringente und ziehbarere Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen bezüglich überprüfbare Anforderungen werden eine Ausweitung jeder finanzwirksamen Maßnahme in ihrem Geschäftsbe- der Neuverschuldung in der Zukunft wirksam eindämmen reich zu sorgen. Vielmehr wurde auch festgestellt, dass können. Die von Peter Struck und Ministerpräsident Mängel bei den Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen ihre Günther Oettinger vorgelegten Eckpunkte weisen hier in Ursachen auch darin haben, dass Regelungen und Anfor- die richtige Richtung. Allerdings sind noch zahlreiche derungen unklar, zu kompliziert, nicht eingeübt oder Fragen offen, und die Zeit drängt, um in der laufenden schlicht nicht bekannt sind. Daher ist die Bundesregie- Wahlperiode zu einem Ergebnis zu gelangen. Die Arbeit rung aufgefordert, hier ressortübergreifend Verbesse- des Bundesrechnungshofes allein kann eine Konsolidie- rungsansätze aufzuzeigen. Dies können Eckpunkte im rung des Bundeshaushalts nicht herbeiführen. Auch wenn Verfahren, eine verbesserte Methodik oder auch Überle- alle seine Vorschläge für Minderausgaben und Mehr- gungen zu einem IT-gestützten Verfahren sein. Gefordert einnahmen realisiert werden könnten, ließen sich Ver- sind in diesem Kontext betriebswirtschaftliche Qualifika- besserungen in einer Größenordnung von lediglich 2 bis tionen in der Verwaltung und ein gezielter Einsatz gebün- 3 Milliarden Euro realisieren. Bei den strukturellen Pro- delten Wissens über Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen. blemen, die weit größer sind, kann der Bundesrechnungs- hof nur auf die Probleme hinweisen. Die Beschlüsse, die im Rechnungsprüfungsausschuss (B) zu diesem Punkt und auch in der weit überwiegenden Die Beratungen in der Föderalismuskommission und (D) Zahl der übrigen Fälle gefasst wurden, erfolgten einver- im Rechnungsprüfungsausschuss berühren einander nehmlich. Auch wenn in Einzelfällen – insbesondere auch in einem weiteren zentralen Punkt: Der Bundes- wenn es um gesetzgeberische Maßnahmen ging, die der rechnungshof stellt bei seinen Prüfungen im Bereich der Bundesrechnungshof angeregt hatte – politische Grund- Allgemeinen Finanzverwaltung immer wieder Mängel satzpositionen der Fraktionen ein solches Einvernehmen und Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen nicht erlaubten, ist doch die vielfach erzielte Einigkeit ein Bund und Ländern bei der Steuererhebung fest. Die Hin- Beleg dafür, dass hier tatsächlich parlamentarische Kon- tergründe sind vielfältig. Kern der Problematik sind je- trolle des Regierungshandelns stattfindet. doch die ausgesprochen verflochtenen Strukturen zwi- schen Bund und Ländern. Von übergreifender Bedeutung ist stets auch die Ana- lyse der finanzwirtschaftlichen Entwicklung, die die Be- Die Länder vollziehen hier die entsprechenden Bun- merkungen des Bundesrechnungshofes liefern. Positiv ist desgesetze. Sie sind auch für den Behördenaufbau und hier zunächst der weitere Rückgang der Nettokreditauf- das Personal zuständig und müssen die entstehenden nahme zu verzeichnen. Im Rahmen der laufenden Finanz- Kosten tragen. Allgemeine Verwaltungsvorschriften kann planung soll – und an diesem Ziel gilt es festzuhalten – bis der Bund nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen. 2011 erstmals wieder ein ausgeglichener Bundeshaushalt Nach der ersten Stufe der Föderalismusreform ist immer- ohne weitere neue Schulden erreicht werden. Auch im hin klargestellt, dass das Bundesministerium der Finan- Hinblick auf die Europäische Wirtschafts- und Wäh- zen allgemeine fachliche Anweisungen, gemeinsame Voll- rungsunion entwickeln sich die Kennzahlen positiv. Die zugsziele, einheitliche Verwaltungsgrundsätze und Quote für das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Defi- Vorgaben zum Einsatz von IT-Programmen erlassen zit und dem Bruttoinlandsprodukt lag mit 1,6 Prozent kann. Dies gilt jedoch nur, wenn nicht die Mehrheit der erstmals seit 2001 wieder deutlich unter dem Referenz- Länder widerspricht. Dadurch sind auch weiterhin kom- wert von 3 Prozent. Das Verhältnis zwischen dem öffent- plizierte und langwierige Abstimmungsprozesse erforder- lichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandsprodukt liegt lich. Die Länder vertreten dabei – berechtigterweise – jedoch – obwohl ebenfalls rückläufig – mit 66 Prozent im- ihre eigenen Interessen. mer noch über dem Referenzwert von 60 Prozent. Der gegenwärtige Länderfinanzausgleich veranlasst Diese weitgehend positive Entwicklung kann aller- sowohl Geber- als auch Nehmerländer, jeweils die eigene dings über die weiterhin bestehenden strukturellen Pro- Steuerkraft zu schonen. Durch den Vollzug der Steuerge- bleme des Haushalts nicht hinwegtäuschen. Die konsum- setze soll die Wirtschaft des eigenen Landes möglichst ge- tiven Ausgaben übertreffen die Investitionen um ein fördert werden. Sparzwänge haben unter anderem in den

Zu Protokoll gegebene Reden 18340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (A) Finanzämtern dazu geführt, dass der Personalbestand zweifeln“: In der Tat hat sich der Art. 115 des Grundge- (C) seit 2000 um fast 13 Prozent reduziert worden ist, obwohl setzes als völlig zahnloser Tiger zur Begrenzung der Neu- Aufgaben und Anforderungen nicht gesunken sind. verschuldung erwiesen. Die Folge: Der öffentliche Schul- denberg wächst und wächst. Aktuell sind die öffentlichen Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich, Haushalte mit rund 1,5 Billionen verschuldet. Das bedeu- dass in den Eckpunkten zur zweiten Stufe der Föderalis- tet, dass jeder Bundesbürger, vom Baby bis zum Greis, mit musreform die Verbesserung der Zusammenarbeit zwi- über 18 000 Euro in der Kreide steht. schen Bund und Ländern angegangen wird. Wenn es hier gelingt, Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung klar Diese Schulden, die wir heute aufbauen, müssen zu- auf die einzelnen Ebenen zu verteilen, verbindliche sowie künftige Generationen über noch höhere Steuern abbe- einheitliche Standards zu etablieren und Doppelarbeit zu zahlen. Schon jetzt werden im Bundeshaushalt über vermeiden, kann bereits eine Menge erreicht werden. 40 Milliarden Euro nur für Zinszahlungen ausgegeben. Weitergehende Empfehlungen wie die nach der Einrich- Das ist nach den Sozialausgaben der zweitgrößte Ausga- tung einer Bundessteuerverwaltung beinhalten zwar die benposten. Diese ständig steigenden Lasten aus der Ver- Aussicht auf weit bedeutendere Verbesserungen und soll- gangenheit nehmen uns den Spielraum für Investitionen ten daher für die weitere Diskussion im Auge bleiben. in die Zukunft, für dringend benötigte Investitionen in Bil- Eine – auch nur mittelfristige – Umsetzung dieser Pläne dung, Infrastruktur oder Klimaschutz. würde jedoch weitreichende Einschnitte und Umgestal- Angesichts dieser Situation ist ein radikales Umden- tungen der etablierten Strukturen erfordern. ken in der Schuldenpolitik nötig. Wir müssen endlich auf- Wir sollten daher so zeitnah wie möglich umsetzen, hören, unsere Ausgaben über immer neue Schulden zu fi- was machbar und sachdienlich ist. Denjenigen, die das nanzieren. Die Kreditaufnahme darf nicht länger ein als Stückwerk kritisieren, sei gesagt, dass große Kon- normales Instrument zur Finanzierung der Staatsausga- zepte, deren Umsetzung dann auf halbem Wege stecken ben sein. Die FDP fordert ein striktes Verbot der Neuver- bleiben, weniger bewirken, als kleinere aber in naher Zu- schuldung – im Grundgesetz festgeschrieben. So schaffen kunft zu erreichende Fortschritte. wir eine klare und unmissverständliche Regel: Der Staat darf nur das ausgeben, was er einnimmt! Lassen Sie mich abschließend noch festhalten, dass der Bundesrechnungshof bei seiner Prüfung der Jahres- Umso enttäuschender ist das, was die beiden Vorsit- rechnung 2006 keine für die Entlastung wesentlichen Ab- zenden der Föderalismuskommission am Montag vorge- weichungen festgestellt hat und Einnahmen und Ausga- legt haben. Schuldenmachen soll bis zu einem bestimmten ben fast ohne Ausnahme ordnungsgemäß belegt waren. Grenzwert der Wirtschaftsleistung erlaubt bleiben. Das Die Bundesregierung hat zudem versichert, sie werde die heißt: Bessere Wirtschaftsleistung gleich höhere Schul- (B) gefassten Beschlüsse und die Anregungen des Bundes- den. Ein völlig untauglicher Vorschlag. Auch für den (D) rechnungshofes mit allen Ressorts gemeinsam umsetzen. Staat gilt der alte Satz: Spare in der Zeit, so hast du in der Der Rechnungsprüfungsausschuss wird diesen Prozess Not. verfolgen und begleiten. Einer Entlastung der Bundes- Übrigens: Der von Finanzminister Steinbrück vorge- regierung steht daher nichts entgegen. schlagene Wert von 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung Ich bitte um Ihre Zustimmung und bedanke mich für würde bedeuten, dass der Bund immer noch über 14 Mil- Ihre Aufmerksamkeit. liarden Euro neue Schulden aufnehmen dürfte – ein Fort- schritt ist das also nicht. Einen endgültigen Vorschlag Dr. Claudia Winterstein (FDP): soll nun eine Arbeitsgruppe erarbeiten, ganz nach dem Motto: „Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gründ’ Der Bundesetat für das Jahr 2006 ist ein Sinnbild der ich einen Arbeitskreis“. Hier zeigt sich, dass Union und grundsätzlich verfehlten Haushaltspolitik der Großen SPD kaum mehr die Kraft haben, wichtige Entscheidun- Koalition. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: gen für unser Land gemeinsam zu treffen. Aufgrund steigender Steuereinnahmen lagen die Einnah- men mit 233 Milliarden Euro fast 10 Milliarden höher Noch aber kann mit Mut und Weitsicht eine Reform für als in der Planung veranschlagt. Trotz dieser positiven mehr Generationengerechtigkeit geschaffen werden. Die Entwicklung nahm die Regierung immer noch fast Kommission muss jetzt möglichst schnell einen Gesetz- 28 Milliarden Euro neue Schulden auf – und verstieß da- entwurf vorbereiten, in den das von der FDP geforderte mit erneut gegen das Grundgesetz. Die Summe der Neu- Verschuldungsverbot eingearbeitet wird. Nicht nur bei verschuldung darf nach der Verfassung nicht höher als der Verschuldung brauchen wir dringend einen Mentali- die Ausgaben für Investition liegen. 2006 wurden tätswechsel, auch in der Frage der sparsamen Verwen- 22,7 Milliarden Euro investiert – die Neuverschuldung dung von Steuergeldern gibt es noch viel zu tun. lag also mehr als 5 Milliarden Euro über dem erlaubten Wert. 2006 war damit das fünfte Jahr in Folge, in dem In seinen Bemerkungen nennt der Bundesrechnungs- diese Regelkreditgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes hof eine Reihe von Beispielen von teilweise verantwor- überschritten wurde! tungsloser Geldverschwendung zulasten des Steuerzah- lers. 85 Prozent der vom Rechnungshof geprüften Eigentlich ein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Behörden haben keine Wirtschaftlichkeitsuntersuchun- Das Gericht hat schon in seiner Entscheidung zur Klage gen angestellt, bevor Gelder für Projekte ausgegeben von FDP und Union zum Haushalt 2004 festgestellt: „An wurden. Die Folge: Überflüssige Millionenausgaben in der Revisionsbedürftigkeit der geltenden verfassungs- allen Bereichen. Die Regierung muss Verfahren entwi- rechtlichen Regelungen ist gegenwärtig kaum noch zu ckeln, um die Wirtschaftlichkeit ihrer Ausgaben streng zu

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18341

Dr. Claudia Winterstein (A) überprüfen. Es handelt sich schließlich um das Geld der Das waren nur einige kleine Beispiele, die exempla- (C) Steuerzahler. risch zeigen, wie gleichgültig und verschwenderisch die Bundesregierung mit Steuermitteln umgeht. Die Liste sol- Sparsamkeit bei den Ausgaben und eine grundlegende cher Beispiele ist lang und es ist nicht das Bemühen bei Reform der Einnahmen – das sind die Eckpfeiler einer so- der Bundesregierung zu erkennen, diese Liste abzuarbei- liden Haushaltspolitik. ten. Die Linke wird deshalb einer Entlastung der Bundes- regierung nicht zustimmen. Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Die Bundesregierung ist nicht willens, eine ordnungs- Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gemäße Haushaltsführung zu gewährleisten. Die Bundes- Der Haushaltsausschuss und der Rechnungsprüfungs- regierung organisiert ihre Arbeit nicht effizient und neigt ausschuss haben der Bundesregierung für den Bundes- zur Verschwendung von Steuermitteln. haushalt 2006 die Entlastung erteilt. Formal betrachtet, Dafür einige Beispiele: Im November 2006 hat der also nach Bewertung der Ordnungsmäßigkeit der Haus- Bundesrechnungshof festgestellt, dass Einkunftsmillio- halts- und Wirtschaftsführung, ist die Entlastung in Ord- näre in einigen Bundesländern nur alle 30 Jahre geprüft nung. werden. Warum? Sind die Prüfungen so unergiebig? Die politisch-inhaltliche Bewertung des Zahlenwerks Nein, im Gegenteil. Jede Prüfung bringt im Durchschnitt Haushalt 2006 allerdings muss deutlich kritischer ausfal- 135 000 Euro in die Steuerkassen. Man sollte meinen, das len. Die Große Koalition hat mit dem Bundeshaushalt wäre für den Bundesfinanzminister und die Länderfinanz- 2006 eine wichtige Chance vertan. Sie hat die positive minister Anlass, die Prüfungsanstrengungen zu verstär- wirtschaftliche Entwicklung und die steigenden Steuer- ken. Doch weit gefehlt. Der Bundesfinanzminister einnahmen nicht für eine haushaltspolitische Konsolidie- fürchtete angeblich mehr Bürokratie und lehnte jede Ver- rungspolitik genutzt. änderung der Prüfungspraxis ab. Wenn man sich vor- stellt, welche bürokratischen Monster diese Regierung Vor einem Jahr kritisierte der Kollege Fuchtel an die- hervorgebracht hat, dann ist diese Position schon mehr ser Stelle: „Aus Sicht unserer Enkel dürfte das Haushalts- als anrüchig. ergebnis 2005 später einmal als Beitrag zur Belastung Besonders leichtfertig ist die Bundesregierung gegen- der künftigen Generationen eingeordnet werden.“ Rück- über den Wünschen der Bundeswehr. Da ist fast alles blickend gewinnt man den Eindruck, dass dies keine Kri- möglich, was gegen den gesunden Menschenverstand tik, sondern eine Ankündigung für den Haushalt 2006 verstößt. So wurden zum Beispiel Schulungshubschrau- war. Denn das Ergebnis des ersten von der Großen Ko- ber beschafft, die für die Schulung nicht verwendbar sind. alition verantworteten Haushalts schränkt den Gestal- (B) (D) Es wurde ein Verwundetentransportsystem gekauft, das tungsspielraum zukünftiger Generationen erheblich ein. für Lufttransporte nicht einsatzfähig ist. Verantwortliche Die Große Koalition ist mit großen Ankündigungen in der für dieses Desaster konnte und wollte die Bundesregie- Haushaltspolitik angetreten, doch sie hat die haushalts- rung nicht ausmachen. Verschwendung blieb wieder fol- politischen Risiken in diesem Bundeshaushalt nicht ent- genlos. schärft. Sie verlagert die Risiken vielmehr in die Zukunft. Bei manchen Vorgängen kann man einfach nicht glau- Ausgerechnet in einem Jahr mit positiver Wirtschafts- ben, dass nur Verschwendung dahintersteckt. So wurden und Steuerentwicklung lag die Nettokreditaufnahme um zum Beispiel für die Abfertigung von Lufttransporten 5 Milliarden Euro über den Investitionsausgaben. Der nach Afghanistan von der Bundeswehr in den Jahren Bundesrechnungshof bezeichnet dies in seinem Bericht 2005 und 2006 insgesamt 2 Millionen Euro an gewerbli- zum Haushaltsergebnis 2006 als „Beleg für eine weitge- che Anbieter gezahlt, obwohl ihre eigene Luftumschlags- hende Unwirksamkeit der verfassungsrechtlichen Kredit- kapazitäten seit Jahren nicht ausgelastet sind. Der Witz begrenzungsregel“. Dieser Satz sollte uns zu denken ge- ist, dass die Bundeswehr gar nicht weiß, welchen Bedarf ben. sie an Luftumschlagsleistungen hat. Sie hat nicht einmal ein Konzept, wie die Luftumschlagleistungen mit eigenen Eine ehrliche Betrachtung des Haushalts 2006 zeigt: und gewerblichen Kapazitäten gedeckt werden können. Die 3 Prozentpunkte Erhöhung des allgemeinen Umsatz- Das ist unglaublich. steuersatzes und des Regelsatzes der Versicherungsteuer im Haushaltsjahr 2006 sind nahezu komplett in Haus- Doch nicht nur die Bundeswehr ist verschwenderisch haltslöcher geflossen. Die Absenkung des Beitrags zur im Umgang mit Steuermitteln. Der Bund gab 29 Millio- Arbeitslosenversicherung wurde durch beschlossene Bei- nen Euro für das Kunst- und Kulturprogramm zur Fuß- tragssatzsteigerungen und erhebliche Beitragssatzrisiken ballweltmeisterschaft aus. Dafür wurden viele Vereinba- in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung rungen geschlossen. Unverständlich ist, dass für 20 nur wieder aufgezehrt. Diese Politik einer fehlenden Konso- mündlich abgeschlossene Vereinbarungen eine genaue lidierung im Haushalt 2006, einer massiven Ausweitung Dokumentation fehlt. Jeder Vereinskassierer muss für je- der Nettokreditaufnahme, einer Mehrwertsteuererhö- den Bleistift, den er kauft, eine Dokumentation anlegen, hung, die Haushaltslöcher stopft, und eines zu erwarten- doch wenn es um 29 Millionen Euro geht, da kann man den Nullsummenspiels bei den Sozialversicherungsbei- schon mal ungenaue mündliche Absprachen treffen. trägen ist keineswegs nachhaltig und zukunftsweisend. Nichts gegen Fußball – alle hatten viel Spaß während der Daran ändert auch nichts, dass die Große Koalition ihre Fußball-WM – doch nach der Party müssen die Rechnun- Haushalts- und Finanzpolitik regelmäßig als zukunfts- gen trotzdem stimmen. weisend zu verkaufen versucht.

Zu Protokoll gegebene Reden 18342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Alexander Bonde (A) Durch gezielte Anstrengungen, konkrete Konsolidie- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- (C) rung und Haushaltsdisziplin hätten sich durch verschie- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Dazu dene Maßnahmen in jedem Ministerium in der Summe stelle ich Einvernehmen fest. Hier handelt es sich um die große Etatverbesserungen realisieren lassen. Kurzfristig Beiträge der Kolleginnen und Kollegen Ute Granold, umsetzbar im Haushaltjahr 2006 waren Ausgabenkür- Christine Lambrecht, Sabine Leutheusser- zungen in einer Höhe von rund 2,3 Milliarden Euro. Schnarrenberger, Jörn Wunderlich, Ekin Deligöz und Durch den Abbau von Steuervergünstigungen und Sub- Bundesministerin Brigitte Zypries.1) ventionen wäre darüber hinaus eine kurzfristige Verbes- serung des Haushaltes 2006 um weitere 2 Milliarden Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Euro möglich gewesen, aufwachsend auf rund 4,5 Mil- Drucksache 16/9361 an die in der Tagesordnung aufge- liarden Euro in kommenden Haushaltsjahren. Das durch führten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich vermute, Sie sind die Grüne Bundestagsfraktion vorgelegte Zukunftshaus- damit einverstanden. – Das ist der Fall. Dann haben wir haltsgesetz unterbreitet der Haushaltspolitik klare Vor- so beschlossen. schläge, wie durch konjunkturgerechtes Wirtschaften Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 20 a über einen Konjunkturzyklus hinweg ein Haushaltsaus- und 20 b: gleich möglich ist. Die Lektüre dieses Gesetzentwurfs sei den Politikern der Großen Koalition noch einmal wärms- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette tens empfohlen. Politisch bequemer für die Koalition ist Hübinger, Ilse Aigner, , wei- es aber augenscheinlich, sich am Strohfeuer eines durch terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ unnötig hohe Neuverschuldung positiv erscheinenden CSU sowie der Abgeordneten Gesine Multhaupt, Haushalts 2006 zu wärmen. Jörg Tauss, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Präsident Dr. Norbert Lammert: Qualitätssicherung im Wissenschaftssystem Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haus- durch eine differenzierte Gleichstellungspoli- haltsausschusses auf der Drucksache 16/9640. tik vorantreiben Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung schlägt der – Drucksache 16/9756 – Haushaltsausschuss die Erteilung der Entlastung für das Überweisungsvorschlag: Haushaltsjahr 2006 vor. Sie finden sie auf den Ausschuss für Bildung, Forschung und Drucksachen 16/4995 und 16/7100. Wer stimmt für Technikfolgenabschätzung (f) diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Innenausschuss Rechtsausschuss Möchte sich hier jemand der Stimme enthalten? – Dann Finanzausschuss (B) ist das mit großer Mehrheit des Hauses so beschlossen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (D) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss, die Bundesregierung aufzufordern, Haushaltsausschuss a) bei der Aufstellung und Ausführung der Bundeshaus- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia haltspläne die Feststellung des Haushaltsausschusses zu Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zu befol- Abgeordneter und der Fraktion der FDP gen, b) Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlich- keit unter Berücksichtigung der Entscheidungen des Frauen auf dem Sprung in die Wissenschafts- Ausschusses einzuleiten oder fortzuführen und c) die Be- elite richtspflichten fristgerecht zu erfüllen, damit eine zeitnahe – Drucksache 16/9604 – Verwertung der Ergebnisse bei den Haushaltsberatungen gewährleistet ist. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und lung? – Stimmt jemand dagegen? – Möchte sich jemand Technikfolgenabschätzung (f) der Stimme enthalten? – Dann ist bei Stimmenthaltung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Faktion Die Linke diese Beschlussempfehlung im Übrigen mit den Stimmen der anwesenden Kolleginnen Wie die Tagesordnung bereits ausweist, werden die und Kollegen angenommen. Reden zu Protokoll genommen, und zwar die Reden von Anette Hübinger, Gesine Multhaupt, Cornelia Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Pieper, Dr. Petra Sitte und Krista Sager. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Priska Hinz Anette Hübinger (CDU/CSU): (Herborn), weiterer Abgeordneter und der Frak- Die zum Thema „Frauenförderung im deutschen Wis- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN senschaftssystem“ vorliegenden Anträge von allen im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen zeigen mir Sorgerechtsregelung für Nichtverheiratete Folgendes: Erstens, ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass reformieren ausnahmslos alle Fraktionen dieses Hauses die Wichtig- keit des Themas erkannt haben und durch Ihre Anträge – Drucksache 16/9361 – Wege aufzeigen, wie die Förderung von Frauen in der Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18343

Anette Hübinger (A) Wissenschaft zukünftig verbessert werden kann. Zwei- Selbstverpflichtungen, sinnvoll sein, und dies befürwor- (C) tens, auf Basis des umfangreichen vorliegenden Daten- ten wir. materials ist die Bewertung des Ist-Zustandes in dieser Frage vonseiten der verschiedenen Fraktionen des Deut- Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wann immer schen Bundestages nahezu deckungsgleich. Drittens, die Sie an das „Allheilmittel“ Quote oder die flächende- Rückschlüsse in Bezug auf das bisher Erreichte und die ckende Einführung des Kaskadenmodells denken, erin- zukünftig notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung der nern Sie sich bitte an die Expertenanhörung, die vom Repräsentanz von Frauen im deutschen Wissenschafts- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- system sind dagegen in den wichtigsten Punkten diame- schätzung des Deutschen Bundestages zum Thema tral verschieden. „Frauen in der Wissenschaft und Gender in der For- schung“ im Februar 2008 durchgeführt wurde. Bei den Grundsätzlich muss anerkannt werden, dass die konti- Stellungnahmen zum Kaskadenmodell plädierte nur eine nuierlichen Bemühungen von Bund, Ländern, Hochschu- Minderheit der eingeladenen Experten für die flächende- len sowie Wissenschaftsorganisationen zu messbaren ckende Einführung. Auch unter den Wissenschaftlerinnen Erfolgen in Bezug auf die Teilhabe von Frauen in ver- selbst ist das Modell bzw. sind Quotenregelungen mehr schiedenen akademischen Qualifikationsstufen geführt als umstritten. Sogar der Vorsitzende des Wissenschafts- haben. Besonders erfreulich ist, dass heute unter den Stu- rates Professor Dr. Peter Strohschneider, ein Befürworter dierenden Frauen und Männer gleich stark vertreten des Kaskadenmodells, merkte in der Anhörung an: Erst, sind. Diese Erkenntnis, sehr verehrte Kolleginnen und wenn zukünftig keine signifikanten Verbesserungen durch Kollegen, vermisse ich in allen vorliegenden Anträgen den Einsatz von anreizorientierten Instrumenten erreicht der Oppositionsparteien. werden können, sollte auf das Kaskadenmodell zurückge- Trotz der bisherigen Erfolge ist es aber unstrittig, dass griffen werden. Es stehen uns noch genügend Alternati- aus dem vorliegenden statistischen Zahlenmaterial zum ven zur Verfügung, welche sich auch in den verschiede- Ist-Zustand der Beteiligung von Frauen in der Wissen- nen Anträgen wiederfinden. schaft eindeutig Defizite erkennbar sind. Zu Recht wird Bund, Länder, Hochschulen sowie Wissenschaftsein- kritisiert, dass Wissenschaftlerinnen an bestimmten Stel- richtungen stellen sich heute der Verantwortung, alle len das Wissenschaftssystem verlassen, leaky pipeline. Potenziale zu nutzen, um in Zukunft im internationalen Des Weiteren kann es uns nicht zufriedenstellen, dass sich Wettbewerb zu bestehen. Frauen zählen in diesem Zusam- zu wenige junge Frauen für einen technologisch bzw. na- menhang zu den wichtigsten und bisher noch nicht aus- turwissenschaftlich ausgerichteten Studiengang ent- geschöpften Ressourcen unseres Landes. Als potenzielle scheiden. Allein diese beiden Befunde zeigen deutlich: Wissenschaftlerinnen bzw. Forscherinnen stellen sie Die zu bewältigenden Herausforderungen bei der vorlie- (B) einen wichtigen Wettbewerbs- und Standortfaktor dar. (D) genden Thematik sind erstens vielfältig und zweitens nur Vonseiten des Bundes sind viele erfolgversprechende durch eine differenzierte, breit gefächerte Gleichstel- Maßnahmen zur Frauenförderung in der jüngsten Ver- lungspolitik zu meistern. Diese Auffassung spiegelt sich gangenheit auf den Weg gebracht worden, um den Heraus- im Antrag der Großen Koalition wider. forderungen einer globalisierten Welt Rechnung zu tragen. Zu kurz greift meines Erachtens in diesem Zusammen- Der Bund nimmt trotz des neuen Aufgabenzuschnitts im hang das immer wieder ins Spiel gebrachte „Allheilmit- Bildungsbereich infolge der Föderalismusreform I seine tel“ der Quote. Dem breiten Problemspektrum in Fragen Verantwortung in Fragen der Frauenförderung im Wissen- der Gleichstellung im Wissenschaftssystem werden sol- schaftssystem auch weiterhin verantwortungsvoll wahr che Zwangsregelungen in keinster Weise gerecht! und tritt als wichtiger Impulsgeber auf. Nichts anderes als eine Quote ist auch die Forderung Bestes und jüngstes Beispiel dafür ist der von Bil- nach der Einführung des sogenannten Kaskadenmodells. dungsministerin Dr. Annette Schavan ins Leben gerufene Wenn als Bezugsgröße bei der Besetzung von Stellen je- nationale Pakt zur vermehrten Gewinnung von Frauen weils mindestens der Anteil von Frauen auf der direkt für Berufe, welche mit Mathematik, Informatik, Naturwis- vorhergehenden Qualifikationsstufe dient, dann ist dies senschaften und Technik, die sogenannten MINT-Berufe, zwar eine flexiblere Quote als es vielleicht noch in den zu tun haben. In diesen Bereichen, die für die Zukunft un- 70er-Jahren diskutiert wurde, aber es bleibt eine Quote seres Landes von entscheidender Bedeutung sein werden, unter dem Deckmantel einer neuen Bezeichnung. Dass fehlen Frauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dür- vonseiten der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen fen uns nicht von den positiven Schlagzeilen aus der vehement das Kaskadenmodell gefordert wird, über- Presse der vergangenen Woche in Bezug auf die zuneh- rascht mich nicht; dass allerdings die FDP in die glei- menden Habilitationen von Frauen täuschen lassen, wo- chen Denkmuster verfällt, überrascht nicht nur – es ent- nach 2007 fast jede vierte Habilitation von einer Frau täuscht. erlangt wurde. Denn gerade im Bereich der Naturwissen- schaften gibt es noch viel zu tun. In den gleichen Meldun- In ihren Anträgen nehmen alle Fraktionen Bezug auf gen war nämlich auch zu vernehmen, dass beispielsweise das Kaskadenmodell. Es kommt allerdings entscheidend in den Naturwissenschaften nur 16 Prozent Frauen habi- darauf an – und dies betone ich ausdrücklich – in welcher litiert wurden. Form dies geschieht. Die CDU/CSU-Fraktion hält die flächendeckende Einführung des Kaskadenmodells für Die in den vergangenen Jahrzehnten implementierten den falschen Weg. Allerdings kann die Orientierung am Gleichstellungsinstrumente im deutschen Wissenschafts- Grundprinzip des Kaskadenmodells, zum Beispiel bei system, ergänzt durch die Maßnahmen der jetzigen

Zu Protokoll gegebene Reden 18344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Anette Hübinger (A) Bundesregierung in Form des Professorinnenprogramms Verantwortlichen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft (C) und der Initiative „Power für Gründerinnen“, bieten eine angekommen. gute Grundlage für die Weiterentwicklung der Gleichstel- lungsbemühungen in Wissenschaft und Forschung. Da- Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, dass wir in rauf kann aufgebaut werden, und an vielfältigen Ansatz- unserer zehnjährigen Regierungsbeteiligung viele Initia- punkten mangelt es nicht. So fordern wir, zukünftig darauf tiven und Gesetzesänderungen, von denen Frauen in der hinzuwirken, die Vorbildfunktion von Frauen in Spitzen- Wissenschaft profitieren, auf den Weg gebracht haben. An positionen weiter zu stärken, Förderprogramme zur Stei- einigen Initiativen zeigt sich, dass wir gehandelt haben: gerung des Frauenanteils zu entwickeln, Forschungs- die Exzellenzinitiative, der Pakt für Forschung und Inno- und Institutionenförderung an verbindliche Zielvereinba- vation, das Professorinnenprogramm, die verbesserte rungen zu binden, die Anonymisierung von Beurteilungs- Kinderbetreuung, das Elterngeld sowie Änderungen beim verfahren, Double-blind-Verfahren, verstärkt einzuset- BAföG und bei der Umstellung der Stipendienförderung zen, auf verlässliche wissenschaftliche Karrierewege bei Studierenden mit Kindern. Hier gibt es gute Ansätze hinzuwirken, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu für mehr Chancengleichheit in der Wissenschaft. fördern sowie Coaching- und Mentoringprogramme zu Dennoch sind die Ergebnisse eindeutig nicht zufrie- unterstützen. denstellend: Auf der einen Seite sind wir stolz darauf, Mit den angestoßenen Maßnahmen der Bundesregie- dass die Barrieren für den Zugang junger Frauen zu einer rung befinden wir uns auf dem richtigen Weg. Es ist akademischen Ausbildung fast abgebaut sind. Nahezu die vollkommen richtig, auf anreizorientierte Programme, Hälfte der Erstimmatrikulierten und über die Hälfte, unterstützende Maßnahmen – wie auf den Kinderbetreu- nämlich 52 Prozent, der Erstabsolventen sind Frauen. ungszuschlag im Rahmen der BAföG-Novelle –, den Auf der anderen Seite nimmt der Anteil der Frauen im flankierenden Ausbau der Kinderbetreuung und auf weiteren Qualifikationsprozess jedoch dramatisch ab. In Kooperationen mit den deutschen Forschungs- und Wis- der höchsten Besoldungsstufe der Professuren sind senschaftseinrichtungen in Bezug auf konkrete Maßnah- Frauen nur noch mit 11 Prozent vertreten. Je höher die men zur Frauenförderung zu setzen. Qualifikation, desto weniger Frauen sind also vertreten. Die Zahlen sind eindeutig und Deutschland ist damit ei- Wir müssen uns bewusst sein, dass die Förderung von nes der Schlusslichter in Fragen der Gleichstellung im Frauen in Wissenschaft und Forschung als fortlaufender Wissenschaftssystem in Europa. Prozess zu begreifen ist, der differenzierter Antworten be- darf. Die Ursachen der Marginalisierung von Frauen im Unter den Experten – und unter den meisten Politikerin- Wissenschaftssystem sind zahlreich und komplex. Die nen und Politikern – ist daher völlig unstrittig, dass wir im Wissenschaftssystem mehr Chancengleichheit brauchen. (B) Antworten der Großen Koalition auf diese Fragestellun- (D) gen sind deswegen breit gefächert und stehen für eine dif- Die Sachverständigen stellten während der Anhörung am ferenzierte Gleichstellungspolitik, welche die Präsenz 18. Februar eindrucksvoll dar, dass die bisherigen Maß- von Frauen in unterschiedlichsten Qualifikationsstufen nahmen nicht ausreichen und noch sehr viel Handlungsbe- im deutschen Wissenschaftssystem weiter steigern wird. darf besteht. Um es mit den Worten des Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, Professor Strohschneider, zu sagen: „Wenn man so weitermacht, dann sind wir nicht 2040 bei Gesine Multhaupt (SPD): einem 50 : 50-Verhältnis, sondern erst 2090.“ Wir Die wohl bekannteste Wissenschaftlerin auf dem Ge- Sozialdemokraten werden dazu beitragen, dass Professor biet der Physik und Chemie könnte heute quasi Patin für Strohschneider in einigen Jahren bereits sagen wird, viele Frauen in der Wissenschaft stehen – Marie Curie. Politik und Wissenschaftseinrichtungen haben aufs Gas- Sie trat im Mai vor genau 100 Jahren einen Lehrstuhl für pedal gedrückt und endlich genügend Frauen auf die Physik an der Sorbonne an. Bis heute ist sie die einzige Lehrstühle gesetzt. Damit stellen wir uns den großen He- Frau, der ein Nobelpreis in Physik und Chemie verliehen rausforderungen. Wir werden unsere Anstrengungen ver- wurde. Darüber hinaus hat sie trotz ihrer Forschungsar- stärken, damit der Anteil der Frauen in der Wissenschaft beit zwei Kinder großgezogen. Bei dieser Lebensleistung auf allen Qualitätsstufen und insbesondere in den lohnt es sich ganz besonders zu überlegen, wie wir heute Frauen-untypischen Fachbereichen deutlich wachsen mehr Frauen in Spitzenpositionen in Wissenschaft und wird. Forschung bringen können. Frauen haben im deutschen Wissenschaftssystem nicht die gleichen Chancen wie Die Experten weisen insbesondere darauf hin, dass es Männer. Sie sind deutlich unterrepräsentiert und wir nut- eine ganze Reihe von Hindernissen gibt, die dazu führen, zen die Potenziale hochqualifizierter Frauen nicht genü- dass Frauen aus dem Wissenschaftsbetrieb aussteigen. gend. Diese Leckstellen müssen wir schließen. Ich bin froh, dass es unserer Fraktion gelungen ist, gemeinsam mit der Unser Ziel ist klar, wir brauchen mehr Frauen in der Union ein entsprechendes Maßnahmenpaket auf die Füße Wissenschaft und wir wollen, dass ihre Talente optimal zu stellen, um die Karrierehemmnisse für junge Frauen gefördert werden und zum Tragen kommen. Damit errei- aus dem Weg zu räumen. Es gilt, die Barrieren umfassen- chen wir Chancengleichheit und stärken die Wettbe- der in den Blick zu nehmen. Die – immer noch – unzurei- werbsfähigkeit der deutschen Wissenschaft durch neue chende Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist da nur ein Ideen, neue Methoden und Lösungsansätze. Erfreulicher- Problem, welches wir angehen werden. So wollen wir bei- weise ist das Thema Chancengleichheit für Frauen in der spielsweise Änderungen bei Beurteilungs- und Rekrutie- Wissenschaft mittlerweile im Bewusstsein der meisten rungsverfahren, die bisher dazu geführt haben, dass

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18345

Gesine Multhaupt (A) Männer vor allem ihre Geschlechtsgenossen auf deren abnimmt, kann dieses Instrument sehr wirksam sein. Da (C) Karriereweg unterstützen. Ich stimme den Gegnern einer der Bund hier keine Entscheidungsbefugnis hat, bleibt es Quotenregelung zu, wenn sie sagen, dass exzellente Wis- den Hochschulen überlassen, inwieweit sie dieses Instru- senschaft auf Leistung und nicht auf Geschlecht beruhe. ment durchsetzen können. Fakt ist aber, dass bei Einstellungs- und Beurteilungsver- fahren genau das stattfindet, eine Auslese aufgrund des Fest steht: Wir Sozialdemokraten nehmen zur Kennt- Geschlechts meist zugunsten der Männer. Notwendig ist nis, dass auf freiwilliger Basis für die Frauen zu wenig er- daher ein gerechteres Verfahren, welches wirklich die reicht wurde, wie die Stellungnahmen aus der Anhörung, Leistung bewertet. EU-Vergleiche und viele Studien nachhaltig belegen. Deswegen werden wir dazu beitragen, dass all jene Maß- Ein weiteres Hemmnis sind die noch an vielen Stellen nahmen von der Politik fokussiert werden, die mehr vorhandenen Altersgrenzen. Heute noch an Altersgren- Frauen einen Weg in Spitzenpositionen der Wissenschaft zen festzuhalten ist nicht mehr zeitgemäß. Wenn wir in an- eröffnen. deren Zusammenhängen von „Lebenslangem Lernen“ sprechen, dann müssen wir diese willkürlichen Grenzen Zum Schluss möchte ich noch einmal auf Marie Curie beseitigen. Wissenschaftliche Karrieren müssen auf viel- zurückkommen. Sie ist nicht nur Patin für erfolgreiche fältigen Wegen zum Ziel führen und nicht in einer starren Frauen in der Wissenschaft insgesamt. Sie war in Diszi- Abfolge von Stationen auf dem Weg bis zur Professur. Al- plinen erfolgreich, für die sich die meisten Mädchen und tersgrenzen werden insbesondere zum Problem, wenn jungen Frauen noch nicht begeistern können. Mit ande- sich Lebenssituationen verändert haben. Damit sind aber ren Worten: Wir brauchen deutlich mehr Frauen, die sich nicht nur Kinder gemeint, auch Pflege von Angehörigen, für Mathe, Naturwissenschaften und Technik interessie- eine andere Ausbildung oder sogar eine Krankheit kann ren. Auch wenn in der letzten Woche die Bildungsminis- zu einer Abweichung führen, die berücksichtigt werden terin den Startschuss für eine entsprechende Initiative ge- muss. geben hat, müssen wir in Zukunft intensiver daran arbeiten. Damit verbessern wir nicht nur die aktuell dis- Frauen steigen auch eher als Männer aus dem Wissen- kutierten Einkommenschancen, sondern federn auch das schaftssystem aus, wenn die wissenschaftliche Karriere Problem des Fachkräftemangels etwas ab. nicht verlässlich zu sein scheint. Für den hochqualifizier- ten wissenschaftlichen Nachwuchs gibt es keine ausrei- Auch wenn wir noch eine Weile brauchen, um Chan- chend gesicherte Perspektive für die Karriereplanung. Es cengleichheit in der Wissenschaft herzustellen, wir So- muss daher in unserem Interesse sein, für junge Wissen- zialdemokraten wollen – ganz im Sinne des Hamburger schaftlerinnen verlässliche und stabile Beschäftigungs- Grundsatzprogramms – gleiche Chancen für Frauen im (B) verhältnisse und Karrierewege aufzuzeigen. Erwerbsleben, in der Privatwirtschaft und an dieser (D) Stelle insbesondere in Wissenschaft und Forschung, nicht Dieses Problem beginnt übrigens schon bei der Stu- nur auf dem Papier, sondern im täglichen Leben. dienfinanzierung. Wenn hohe Schulden aufgrund von Stu- diengebühren anfallen, besteht die Gefahr, dass sich viele Cornelia Pieper (FDP): Frauen in Zukunft von den Gebühren abschrecken lassen und deswegen kein Studium aufnehmen. Für die Sozialde- Sicherlich haben Sie sich beim ersten Betrachten des mokraten kann ich an dieser Stelle nochmals sagen: Wir Antrages der FDP-Bundestagsfraktion die Frage ge- sprechen uns eindeutig gegen Studiengebühren aus. stellt: Was bezweckt dieser kurze Titel? Was will die FDP uns damit sagen? Bei näherer Betrachtung haben Sie si- Ich freue mich darüber, dass wir gemeinsam mit der cherlich die Kernaussage verstanden: Ja, wir sind auf Union verbindliche Zielvereinbarungen sowie das dem langen Weg zu einer wirklichen Gleichstellung von sogenannte Kaskadenmodell in den Koalitionsantrag Frau und Mann in Familie, Gesellschaft und Beruf in den einbringen konnten. Wir werden mit verbindlichen Ziel- letzten 100 Jahren und insbesondere seit dem Inkrafttre- vereinbarungen erreichen, dass in den Wissenschaftsein- ten des Grundgesetzes im Jahr 1949 einen großen Schritt richtungen verbindlich formuliert wird, welche Maßnah- vorangekommen. Vor allem das fast auf den Tag genau men und welche Ziele verfolgt werden, um den Anteil von vor 50 Jahren in Kraft getretene Gleichberechtigungsge- Frauen zu erhöhen. Vor allen Dingen werden wir diesen setz hat die Stellung der Frau in Gesellschaft, Politik und Prozess mit positiven Anreizen unterstützen. Wir scheuen Wirtschaft grundlegend verändert. Schritt für Schritt ha- uns auch nicht mehr, öffentliche Fördermittel davon ab- ben Frauen ihren Platz im Bildungs- und Wissenschafts- hängig zu machen, ob Zielvereinbarungen verabredet system, in der Berufsbildung und im Beruf, in Verwaltung und natürlich auch eingehalten werden. Wenn Vereinba- und Politik eingenommen. rungen nicht eingehalten werden, sollten auch negative Sanktionsmaßnahmen in Betracht gezogen werden. Jeder Schritt musste von den Frauen hart erkämpft werden. Dr. Dorothea Christiane Erxleben war die erste Des Weiteren wollen wir den Hochschulen mit dem und für eineinhalb Jahrhunderte auch die einzige Ärztin, Kaskadenmodell eine klare Orientierung vorgeben. Das die in Deutschland promovieren und ihren Beruf offiziell heißt: Wenn in einer unteren Qualitätsstufe ein bestimm- ausüben durfte. Daran erinnert in diesem Sommer eine ter Anteil an Frauen erreicht wird, muss es Ziel sein, in Ausstellung im Universitätsmuseum der Martin-Luther- der darüberliegenden Stufe ebenfalls diesen Anteil zu er- Universität in meiner Heimatstadt Halle, die sich dem reichen. Gerade in den Fachbereichen, in denen mit jeder Zeitgeist der Aufklärung und dem Frauenstudium in Qualifikationsstufe der Frauenanteil überproportional Halle zuwendet.

Zu Protokoll gegebene Reden 18346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Cornelia Pieper (A) An eine andere Frau sei erinnert. Caroline Franziska Stellenbesetzung sich nach Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz (C) Elsbeth, genannt Elisabeth, eine Wegbereiterin der evan- ausschließlich an Eignung, Befähigung und fachlicher gelischen und katholischen Frauenbewegung, Sozial- Leistung auszurichten hat. Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz ver- wissenschaftlerin, Lehrerin, Publizistin, war die erste bietet zu dem jede Diskriminierung aufgrund des Ge- deutsche Frau, die 1895 eine Sondererlaubnis des preu- schlechts. Der Bundesgesetzgeber hat sich entschieden, ßischen Kultusministers zum Studium der Volkswirt- eine aktive Förderungs- und Gleichstellungspolitik im schaftslehre und Staatswissenschaften an der Universität Sinne des Gender-Mainstreaming zuzulassen, § 8 Bun- Berlin erhielt. Heute wissen wir: Die gleichberechtigte desbeamtengesetz, § 8 Bundesgleichstellungsgesetz. In Teilhabe von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem den §§ 5 und 24 des Allgemeinen Gleichbehandlungsge- ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass Deutsch- setzes werden Handlungsmöglichkeiten zum Ausgleich land auch in Zukunft seine Exzellenz und seinen Wettbe- bestehender Nachteile eingeräumt, die zum Ergreifen po- werbsvorsprung in den konkurrierenden Wissenschafts- sitiver Maßnahmen berechtigen, wenn diese verhältnis- systemen der Welt halten bzw. ausbauen kann. mäßig sind. Doch wie gehen wir heute mit dieser Einsicht um? Ich Eine rechtliche Bewertung der Quotenregelungen aus komme jedenfalls zu der Auffassung, dass Staat und Ge- deutscher Sicht kann auf keine Leitungsentscheidung des sellschaft mit ihrer Verantwortung für den wissenschaft- Bundesverfassungsgerichts verweisen. Der Europäische lichen Nachwuchs insgesamt eher fahrlässig umgeht. Wir Gerichtshof hat Verfahrensquoten ohne Öffnungsklauseln wissen doch alle: Unsere Gesellschaft kann sich eine Zu- generell verworfen. Bei Verfahrensquoten mit Öffnungs- rückhaltung bei der Einbeziehung von Frauen im Wis- klauseln ist bei gleicher Qualifikation eine Frau zu bevor- senschaftssystem nicht mehr leisten. Wir haben uns im zugen, wenn nicht im Einzelfall bei vergleichender Be- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- trachtung dienstliche Unterschiede zugunsten des schätzung in einer öffentlichen Anhörung mit dem Thema männlichen Bewerbers bestehen oder ein sozialer Härte- „Frauen in der Wissenschaft und Gender in der For- fall vorliegt. schung“ auseinandergesetzt und die Beteiligung, Auf- stiegschancen und Repräsentanz sowie vorhandene Bar- Diese Rechtsprechung wird dem § 5 des Allgemeinen rieren für Frauen in den einzelnen Qualifikations- und Gleichbehandlungsgesetzes gerecht, der auf die notwen- Karrierestufen betrachtet. Es hat sich gezeigt, dass trotz dige Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und damit auf aller Anstrengungen es bis heute nicht gelungen ist, die eine Einzelfallprüfung verweist. Damit wird ein absoluter gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an allen Stufen und unbedingter Vorrang grundsätzlich benachteiligter des Wissenschaftssystems zu gewährleisten. Auch heute Gruppen ausgeschlossen. Insofern ist die Wahl eines Kas- noch sind Frauen in der wissenschaftlichen Forschung kadenmodells in der Zukunft eine mögliche Option für (B) unterrepräsentiert. Und das nicht nur in der öffentlichen Politik und Wissenschaft. Die FDP schlägt Ihnen daher (D) Forschung und Lehre, nein, auch in den forschenden Un- aus gutem Grund ein Kaskadenmodell vor. ternehmen. Die Wirtschaft trägt rund 70 Prozent der FuE-Ausgaben in Deutschland. Aber nur 10 Prozent der Eine Kaskade beginnt an der Spitze. Die Übertragung Forscher sind Frauen. von Verantwortung und Leitungsaufgaben an Frauen ist somit eine Führungsaufgabe ersten Ranges. Es muss sich Wir sind uns schnell einig darüber, dass der Anteil von Professorinnen in der deutschen Forschungslandschaft also auf jeder Stufe der Kaskade die Einsicht durchsetzen, nach wie vor zu gering ist. Nur, was nutzt uns der Ruf dass Frauen in dem Maße beteiligt werden, wie es ihrem nach festen Frauenquoten bei Berufungsverfahren? Ihre Anteil an der Vorstufe entspricht. In einem Wissenschafts- Position hierzu haben uns die Präsidenten der großen freiheitsgesetz muss ein Kaskadensystem verankert wer- Forschungsgesellschaften, der DFG, der Wissenschafts- den. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann gelangen akademien und der Generalsekretär des Europäischen wir sehr schnell zu der Einsicht, dass bereits im Kinder- Forschungsrates jüngst dargelegt. Ich habe mir die garten und in der Schule mit einer zielgerichteten Förde- Frage gestellt, ob eine starre Quotenregelung, die keine rung von Mädchen und jungen Frauen begonnen werden Abweichungen zulässt, wie sie zum Beispiel in den USA muss. Sehr früh muss ihr Interesse gerade auch auf ma- gilt, in Deutschland und Europa überhaupt zulässig ist? thematische, natur- und technikwissenschaftliche Diszi- Ist es möglich, in unseren Rechtssystemen Verfahrensquo- plinen, den sogenannten MINT-Disziplinen, gelenkt wer- ten ohne Öffnungsklauseln einzuführen, bei denen bei den. gleicher Eignung der weibliche Bewerber ohne Einzel- Ich unterstütze in diesem Zusammenhang den in der fallbetrachtung den Zuschlag erhält? Oder brauchen wir letzten Woche von Frau Dr. Schavan verkündeten Natio- Verfahrensquoten mit Öffnungsklauseln, durch die eine nalen Pakt für mehr Frauen in MINT-Berufen. Mir gefällt bevorzugte Einstellung von weiblichen Bewerbern im die klare Botschaft: Fachkräfte aus den Bereichen Ma- Grundsatz festgeschrieben ist, im Einzelfall aber eine thematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik leistungs- und sozialorientierte Abwägungsentscheidung haben vielfältige Arbeitsmöglichkeiten und hervorra- zugelassen wird, die auch zu ungunsten des weiblichen gende Berufsaussichten. Leider nutzen junge Frauen das Bewerbers ausgehen kann? Potenzial in diesen Zukunftsberufen bislang nur unzurei- Jetzt kommen wir zurück auf das Grundgesetz und das chend. Mit „Komm, mach MINT!“ zeigen die Verantwort- Gleichstellungsgesetz. Generell gilt für Berufungsent- lichen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, dass sie scheidungen – wie für alle Besetzungsverfahren im öffent- gemeinsam ihr Engagement wesentlich stärker als bisher lichen Dienst –, dass die Auswahlentscheidung bei der bündeln wollen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18347

Cornelia Pieper (A) Die Hochschulen etwa wollen ihre naturwissenschaft- Leitungspositionen halten wir für ganz wichtig. Warum (C) lichen und technischen Studiengänge attraktiver gestal- dann aber nicht über eine institutionalisierte Nachwuchs- ten und die Studienorientierung für Frauen erleichtern. förderung insgesamt nachdenken? In der Anhörung ha- Unternehmen werden jungen Frauen verstärkt deutlich ben viele Experten darauf hingewiesen, dass die Ansied- machen, dass in den MINT-Berufen attraktive Arbeits- lung von Promotionen und Habilitationen am Lehrstuhl plätze zur Verfügung stehen. Durch Berufsorientierungs- eine persönliche Abhängigkeit von den Betreuenden be- maßnahmen bekommen Frauen gute Chancen, in MINT- deutet, die sich für Frauen besonders nachteilig auswirkt. Berufe vermittelt zu werden, wobei sich mir hier die Deshalb fordern wir in unserem Antrag den Anstoß als Frage nach einer qualifizierten Berufsberatung der Ar- Debatte eine Nachwuchsförderung, die am Fachbereich beitsagentur stellt. geregelt und durch Personalverantwortliche professio- nell betreut wird. Einen Aufschlag dazu könnte der Wis- Ich freue mich besonders, dass die von Dr. Klaus senschaftsrat machen. Kinkel geleitete Deutsche-Telekom-Stiftung, aber auch die Fraunhofer-Gesellschaft sich mit einem gemeinsamen Der letzte und zugleich wichtigste Punkt, der mir am Angebot aus Ingenieur-Akademien und Talent Schools an Herzen liegt, erfordert eine andere Perspektive auf dem Pakt beteiligen. Der eingeschlagene Weg ist richtig, Frauen. Ich finde, man muss nicht nur die aktive Ausgren- denn bei der Wahl des Studienplatzes entscheiden sich zung von Frauen im Blick haben, sondern sich auch fra- heute junge Frauen immer noch öfter als ihre männlichen gen, wo sie sehr rational sind und sich trotz Befähigung Kommilitonen für die geistes-, kultur- und sozialwissen- vielleicht bewusst gegen eine wissenschaftliche Karriere schaftlichen Studiengänge. Es liegt es an uns, die letzten entscheiden. Weil ihre Vorstellungen von einem guten Le- Hürden niederzureißen. Deshalb appelliere ich an Sie: ben darin nicht unterzubringen sind. Ich spreche hier von Stimmen Sie unserem Antrag zu! der Vereinbarkeit von Karriereplanung, geregeltem Ein- kommen, Familie und sozialen Kontakten. Damit ist ei- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): nerseits die noch vielerorts mangelhafte Infrastruktur für Was lange währt, wird endlich gut, könnte man ange- Kinderbetreuung gemeint. Doch zu gleich großen persön- sichts der Tatsache, dass ich ziemlich genau vor einem lichen Belastungen führen auch die immer kürzer befris- Jahr bereits eine Rede zum heutigen Thema „Geschlech- teten Arbeitsverträge, die keine zumindest mittelfristige tergerechtigkeit in Wissenschaft und Forschung“ gehal- Planungssicherheit über Einkommen und den Ort der Be- ten habe, denken. Seitdem hat der Ausschuss für Bildung, schäftigung geben. Auch die völlige zeitliche Verfügungs- Forschung und Technikfolgenabschätzung eine öffentli- erwartung ohne Regelungen für Ausgleich macht für viele che Anhörung dazu durchgeführt, die Grünen und wir ha- Frauen die wissenschaftliche Berufung als Beruf unat- ben je einen Antrag vorgelegt, und nun legt gerade noch traktiv. Hier setzen wir auf wissenschaftsspezifische tarif- (B) vor der Sommerpause die Große Koalition ihre Strategie liche Regelungen für Hochschulen und Forschungsein- (D) für Gleichstellung in der Wissenschaft vor. Wird also alles richtungen, aber auch zum Beispiel auf Tenure-Track- gut? Verfahren für Nachwuchsprofessuren. Die Koalition spricht zwar das Problem fehlender Möglichkeiten für Es gibt zunächst einmal einen Erfolg zu verzeichnen: Karriereplanung an, warum aber scheut sie konkrete Lö- Die Problematik der geringen Repräsentanz von Frauen sungsansätze? Das ist nur lediglich gut gemeint. in der Wissenschaft ist breit in der Politik angekommen. Und – die Koalition hat sich wichtigen Ergebnissen der Vom FDP-Antrag schließlich trennen uns zwar nicht Anhörung angeschlossen, die auch wir vorgebracht ha- Welten, aber doch Grundansichten. Wir lehnen in der ben. Doch bei zentralen Aspekten hätten wir Ihnen mehr Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit die Fixierung Mut gewünscht. Es freut uns, dass die Koalition ver- auf die Elite der Wissenschaft ab. Man kann von Spitzen- bindliche Zielvereinbarungen zur Gleichstellung mit öf- kräften sprechen, von hervorragenden Individuen – statt fentlich geförderten Forschungseinrichtungen und mit von Elite als einer besonderen Schicht. Denn aus unserer Hochschulen einfordert. Dass die Zielvereinbarungen Sicht widerspricht diese Redeweise der Anlage unseres finanziell sanktioniert werden sollen, ist ein echtes No- Wissenschaftssystems, in dem diejenigen einen Platz fin- vum – darauf drängt Die Linke seit langem. den, die die besondere Eignung für eine weiterführende wissenschaftliche Qualifikation nachweisen. Machen wir Doch da Hochschulen Ländersache sind, hätte man uns doch nichts vor: Ein Blick nach ganz oben gaukelt auch die Bund-Länder-Verhandlungen zum Hochschul- vor, dass lediglich etwas Nachsteuerung notwendig ist. pakt II zum Anlass nehmen sollen, die Länder auf die Für Politikerinnen und Politiker ist das immer einfacher, Politik geschlechterorientierter Zielvereinbarungen zu als eine ganze Gruppe – Wissenschaftlerinnen auf unter- verpflichten. Dass das vonnöten ist, zeigt das sehr unter- schiedlichen Positionen – mit eben unterschiedlichen Be- schiedliche Verständnis von Frauenförderung in den ein- dürfnissen in den Blick zu nehmen. Und so macht es sich zelnen Ländern heute. aus meiner Sicht auch die FDP recht einfach, wenn sie ein „Wünsch dir was“-Konzert in ihrem Antrag einberuft. Erfreulich ist wiederum die Erkenntnis der Koalition, Für wen hier Politik gemacht werden soll, ist nicht wirk- dass ohne angemessene Vertretung von Frauen in Beru- lich erkennbar. fungs- und Gutachtergremien und ohne Geschlechtersen- sibilisierung durch Schulungen das Vorrücken von Frauen auf Spitzenpositionen nicht erfolgversprechend Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist. Transparente Bewerbungsverfahren mit verstärkter Die Hälfte aller Hochschulabsolvierenden hierzu- weiblicher Mitbestimmung und verbindliche Quoten für lande sind Frauen. Dieser erfreuliche Befund gilt aber

Zu Protokoll gegebene Reden 18348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Krista Sager (A) leider noch lange nicht für die nachfolgenden Qualifizie- mischte Forscherteams multiperspektivisch komplexe (C) rungs- und Karrierestufen des Wissenschaftssystems: Der Probleme bearbeiten, immer weniger mithalten. Anteil der Professorinnen zum Beispiel dümpelt auf inter- Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, national niedrigem Niveau, bei mickrigen 15 Prozent. der zunehmenden Konkurrenz um gut qualifizierte Ar- Umso besorgniserregender ist die schleppende Aufholdy- beitskräfte und der Altersstruktur des Wissenschaftsper- namik der letzten Jahre: Wenn es weiterhin so langsam sonals an den Hochschulen bleibt nur ein schmales Zeit- wie bisher vorangeht, dann ist ein ausgeglichenes Ge- fenster, um den Sprung zu deutlich mehr Frauen in schlechterverhältnis bei den Spitzenpositionen der Hoch- wissenschaftliche Positionen zu vollziehen. Was wir brau- schulen laut Wissenschaftsrat erst 2090 erreicht. Von chen, sind endlich faire und vorurteilsfreie Wettbewerbs- geschlechtergerechter Chancengleichheit im Wissen- strukturen, die allen Talenten einen gleichberechtigten schaftssystem sind wir derzeit also noch Lichtjahre ent- Zugang zum Wissenschaftssystem ermöglichen. Dazu fernt. Dies führt zu beruflichen Einbußen für hochquali- sind in Zukunft sicher auch weiterhin Coaching- und fizierte Frauen. Dies führt aber auch zu Defiziten bei der Mentoringprogramme, Karriereberatungen und Trai- Qualität von Forschung und Lehre und zu weniger Effizi- nings, Stipendien und Qualifikationsstellen wichtig. Sie enz und internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Nun sind haben nicht zu dem von einigen befürchteten Stigmatisie- sich die meisten Akteure im Wissenschaftssystem über die rungseffekten für die geförderten Frauen geführt, sondern Diagnose der Unterrepräsentanz von Frauen in der Wis- überhaupt erst zu mehr Sichtbarkeit von Wissenschaftle- senschaft, zumindest auf der rhetorischen Ebene, weitge- rinnen im System beigetragen. Um nachhaltige Verände- hend einig. Es gibt mittlerweile kaum eine wissenschaft- rungen der Strukturen aber schnell und im notwendigen liche Institution, die Chancengleichheit nicht als Teil Maße zu bewirken, müssen Politik und Leitungen der wis- ihres Leitbilds formuliert. An den Verhältnissen ändert senschaftlichen Einrichtungen darüber hinaus vor allem sich gleichwohl nicht viel. Wir haben es also vorwiegend den qualitativen Sprung zu mehr Verbindlichkeit schaffen, mit einem Umsetzungs- und nicht mit einem Erkenntnis- das heißt hin zu klaren und laufend überprüfbaren quan- problem zu tun. Bündnis 90/Die Grünen haben diesen titativen Steigerungsanteilen und qualitativen Anforde- Missstand daher in dieser Legislaturperiode aufgegriffen rungen. Diese müssen auf die Bedingungen einer zuneh- und neben zwei Anträgen auch eine Fachanhörung des mend wettbewerblich organisierten und am Prinzip der Forschungs- und Bildungsausschusses initiiert. Die über- Autonomie orientierten Wissenschaftslandschaft hin aus- aus große Publikumsteilnahme an der öffentlichen Anhö- gestaltet werden. rung im Februar gab uns darin recht, hier ein dringliches Problem aufgegriffen zu haben, bei dem trotz aller beste- Die Schweden machen vor, wie über staatlich vorgege- hender Bemühungen hoher Handlungsbedarf besteht. bene Zielquoten und deren fortwährende Kontrolle der Frauenanteil in der Wissenschaft signifikant und schnell (B) Dabei wurde einmal mehr deutlich: Was wir brauchen, (D) um nachhaltige Veränderungen zu erzielen, ist endlich gesteigert werden kann. Ein solches Steuerungsmodell ein echter qualitativer Sprung, ein turning point. Dies mit den Kernelementen „verbindliche Zielvorgaben“ und hinzubekommen, ist gleichwohl anspruchsvoller als all- „Erfolgskontrolle“ sollte sich auch bei uns endlich durch- gemeine politische Willensbekundungen oder die Neuauf- setzen. Grundsätzlich geht es darum, Gleichstellungsziele lage des einen oder anderen Einzelförderprogramms. spürbar an finanzielle Ressourcen zu knüpfen, indem man Das Problem muss von seinen Voraussetzungen her gelöst positive Anreizmechanismen schafft, die negative Konse- quenzen nicht ausschließen für den Fall, dass vereinbarte werden. Ziele nicht erreicht wurden. Jene Institutionen, die Ziele Ein System, in dem hochqualifizierte Frauen unterpro- verfehlen, müssen über das Controlling dazu angehalten portional vertreten sind, kann nicht glaubhaft machen, werden, ihre Misserfolge zu rechtfertigen und ihre Gleich- dass es sich durch Auswahl der Besten rekrutiert. Und ge- stellungsinstrumente ergebnisorientiert anzupassen. nau das führt ins Zentrum des Problems: Im Wissen- Hierbei ist der Bund in der Pflicht, überall dort Ein- schafts- und Forschungsbereich regiert entgegen dem fluss zu nehmen, wo er selbst Forschungs- und Institutio- wissenschaftlichen Selbstverständnis, objektiv Leistung nenförderung betreibt. Bislang hat er diese Aufgabe nur zu beurteilen, eben gerade keine geschlechtsneutrale äußerst zögerlich ausgeübt. Bei der Weiterentwicklung Bestenauslese. Der Vergleich insbesondere mit der der Exzellenzinitiative, einer möglichen Neuauflage des angloamerikanischen Wissenschaftskultur zeigt, dass in Hochschulpakts, bei der Steuerung des Pakts für For- Deutschland häufig personen- statt qualitätsorientierte schung und Innovation, in der Ressortforschung, beim Bewertungskriterien wissenschaftliche Bewerbungs- und Gender-Budgeting im Forschungshaushalt – überall Beurteilungsverfahren prägen. Ein fairer Zugang zum kann und sollte der Bund entschlossen tätig werden. Nicht Wissenschaftssystem wird offenkundig verhindert, nicht zu vergessen: Überall dort, wo der Bund als Geldgeber nur durch schlechte Arbeitsbedingungen, sondern maß- bzw. als Mitglied in Aufsichtsräten oder Kuratorien Ein- geblich durch diskriminierende Strukturen, die den vorur- fluss auf wissenschaftliche Einrichtungen und For- teilsfreien Blick auf wissenschaftliche Leistungen verstellt. schungsvorhaben hat, kann er dafür sorgen, überprüf- Unzureichende Genderkompetenz führt zu verzerrten Ur- bare qualitative und quantitative Vorgaben und teilen über Wissenschaftsinhalte, bei Bewerbungsverfah- Steigerungsquoten zu implementieren, durchzusetzen und ren und in der Personalführung. Die Folge: Unsere zu kontrollieren. Da nun endlich auch CDU/CSU und geschlossene, männerbündische Wissenschafts- und För- SPD in ihrem Antrag von mehr Verbindlichkeit in diesem derkultur kann mit den Anforderungen einer modernen, Bereich sprechen, wäre es sehr erfreulich, wenn Sie sich globalisierten Wissenschaft, in der zunehmend sozial ge- dazu durchringen könnten, das von uns vorgeschlagene

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18349

Krista Sager (A) Kaskadenmodell nicht nur weiter mit den Ländern zu prü- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) fen, sondern es tatsächlich anzuwenden. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre Die internationalen Gutachter zeigten sich im Exzel- dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah- lenzwettbewerb über die miserablen Karrierechancen ren. von Frauen an deutschen Hochschulen schockiert. Und auch auf europäischem Parkett werden die Nachteile der Bevor ich dem Kollegen Florian Toncar für die FDP- Unterrepräsentanz von Frauen im deutschen Wissen- Fraktion das Wort erteile, schaftssystem offenkundig: Dort kommen bei den streng (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE geschlechterparitätisch besetzten wissenschaftlichen GRÜNEN]: Eins zu Null für Spanien!) Kommissionen und Entscheidungspanels zunehmend skandinavische oder niederländische Wissenschaftlerin- bestätige ich den gerade durch Zwischenruf vermittelten nen zum Zuge. Andere Länder haben es sehr viel besser Spielstand, der auf der einen Seite sicherlich hochgradig und vor allem sehr viel schneller geschafft, den Anteil von aufschlussreich ist, aber noch keine abschließende Be- Frauen in der Wissenschaft zu steigern. Seit Ende der trachtung über den wahrscheinlichen Endspielgegner der 1990er-Jahre setzt die schwedische Regierung jeder Uni- deutschen Nationalmannschaft erlaubt. versität kontinuierlich steigende Zielwerte über die Frau- (Heiterkeit – Silke Stokar von Neuforn enanteile an den Professuren. Das Ergebnis: Der Frau- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Egal, wir enanteil an den Professuren stieg in den 11 größten Unis schlagen beide!) innerhalb von neun Jahren von 9 auf 17 Prozent. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum wir keinen vergleich- – Frau Kollegin, ist das als Antrag im Sinne der Ge- bar dynamischen Aufholprozess hinbekommen sollten. In schäftsordnung zu verstehen? diesem Sinne hoffe ich, dass, nachdem die Koalition nun (Heiterkeit – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ monatelang über ihre Erkenntnisse aus der Fachanhö- DIE GRÜNEN]: Ich bitte um sofortige Ab- rung im Februar gebrütet hat, wir nach der Sommer- stimmung, Herr Präsident!) pause endlich zu klaren Beschlüssen kommen und dann auch endlich Taten sehen. Dann wäre die Durchführung eines Hammelsprungs an- gesichts dieses Themas von besonderem sportlichem In- teresse. Präsident Dr. Norbert Lammert: Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der (Heiterkeit) Vorlagen auf den Drucksachen 16/9756 und 16/9604 an Das werden die Geschäftsführer jetzt sicherlich als An- (B) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- regung aufgreifen. (D) schlagen. – Widerspruch gibt es nicht. Dann haben wir so beschlossen. Nun hat zum aufgerufenen Tagesordnungspunkt der Kollege Florian Toncar das Wort. Ich rufe die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: (Beifall bei der FDP) ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), Florian Toncar (FDP): weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Menschenrechtslage in Tibet verbessern Kenntnis der ersten Halbzeit kann ich Ihnen versichern, dass Sie definitiv richtig entschieden haben, hierher zu – Drucksache 16/9747 – kommen. ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Iris Gleicke [SPD]: Wir waren schon da!) richts des Ausschusses für Menschenrechte und Das Spiel im Stadion ist nicht das beste. Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung Präsident Dr. Norbert Lammert: Festnahme des chinesischen Dissidenten Hu Das hätte für das gestrige Spiel übrigens auch gegol- Jia ten, Herr Kollege Toncar. Entschließung des Europäischen Parlaments (Heiterkeit) vom 17. Januar 2008 zur Inhaftierung des chi- nesischen Bürgerrechtlers Hu Jia EuB-EP 1652; P6_TA-PROV (2008) 0021 Florian Toncar (FDP): Das gilt grundsätzlich für diese Art von Veranstaltun- – Drucksachen 16/8609 A.9, 16/9822 – gen, Herr Präsident. Berichterstattung: Die Probleme in Tibet bestehen seit längerem. Doch Abgeordnete Erika Steinbach seit den Unruhen im März mit schweren Gewalttaten, Dr. Herta Däubler-Gmelin die wir allesamt verurteilen – ganz gleich, von wem sie Florian Toncar ausgingen –, aber auch vor dem Hintergrund der Olym- Michael Leutert pischen Spiele in Peking im August ist Tibet wieder ins Volker Beck (Köln) öffentliche Bewusstsein gerückt. Zudem besteht 18350 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Florian Toncar (A) Hoffnung, seit die chinesische Regierung die Gespräche in der Sache selbst geht. Da hätten wir uns geeinigt. (C) mit Abgesandten des Dalai-Lama wieder aufgenommen Meine Analyse ergibt, dass die Ursache eher ein Kampf hat. zwischen Kanzlerin und Außenminister um die Luftho- heit in der deutschen Außenpolitik ist Wir Liberale sehen die Entwicklung Chinas mit gro- ßem Respekt. Der enorme wirtschaftliche und soziale (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Fortschritt, die Überwindung des Hungers, die Moderni- GRÜNEN]: Von welcher Außenpolitik reden sierung, auch Fortschritte beim Aufbau des Rechtsstaats Sie bei China? Deutschland hat keine Außen- nehmen wir wahr und begrüßen es. Wir Liberale wollen politik!) China einbinden und nicht eindämmen. Bei seiner Mo- und dass Herr Steinmeier darin einen Erfolg sieht, in dernisierung muss dieses riesige und vielfältige Land China einen besseren Ruf zu haben als die Kanzlerin. stabil und friedlich bleiben. Das Ein-China-Prinzip war Deshalb scheut Herr Steinmeier alles, was diesem Ruf und bleibt deshalb Grundlage der China-Politik der FDP. schaden könnte, vor allem kritische Äußerungen zu be- Allerdings bezweifeln wir als freiheitliche politische stehenden Problemen in China. Es ist kein Zufall, dass Kraft, dass ein Zustand stabil genannt werden kann, die Idee eines gemeinsamen Antrags nicht in der SPD- wenn Unmut und Kritik wie in Tibet nur durch die ge- Fraktion gestoppt wurde, sondern in der Chefetage des ballte Staatsmacht im Zaum zu halten sind. Diese Stabi- Auswärtigen Amtes. Sie stellen sich damit beim Um- lität ist trügerisch, weil sie nicht auf Überzeugung durch gang mit Tibet ins Abseits, liebe Genossinnen und Ge- reale Verbesserungen setzt, sondern auf schiere Stärke. nossen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Zum Schutz der tibetischen Kultur ist noch vieles zu Ähnliches konnten wir übrigens schon in den vergan- tun. Zwar sieht die chinesische Verfassung Autonomie genen Wochen beobachten. Wenn eine Ministerin, die und Minderheitenrechte für die Provinz Tibet und die Ti- Ihrer Partei angehört – sie ist hier im Raum –, einen Ter- beter vor. Auch die Infrastruktur wurde deutlich verbes- min mit dem Dalai-Lama vereinbart, um ihn zu spre- sert. Trotzdem bangen viele Tibeter um ihre Kultur. Das chen, und Ihrem Parteivorsitzenden nichts anderes ein- liegt daran, dass ihre Bildungs- und Aufstiegschancen fällt, als dass er diesen – Zitat – „Scheiß“ am liebsten noch nicht gut genug sind, ihre Sprache benachteiligt unterbunden hätte, bleibt einem wahrlich die Spucke weg. wird und dass sie durch eine gesteuerte Zuwanderung von Han-Chinesen in Teilen der Provinz Tibet bereits (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das war in eine Minderheit sind. der Tat ein Skandal!) (B) Besonders besorgniserregend ist die Einschränkung Ich wundere mich sehr, dass eine so drastische Sprache (D) der Religionsfreiheit. Das Oberhaupt des tibetischen gewählt wird. Buddhismus, der Dalai-Lama, darf nicht ins Land. Wenn er verstirbt, ist unklar, ob es einen ordnungsgemäß aus- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gewählten Nachfolger gibt. der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der vorliegende Antrag zeigt auf, wie die Bundes- regierung auf eine Entspannung des Konflikts hinwirken Es ist völlig richtig, wenn der Außenminister an- merkt, dass öffentliche Symbolik allein nicht ausreicht kann. Er kommt zum richtigen Zeitpunkt, weil die Chi- und dass effektive Menschenrechtspolitik manchmal nesen und die Tibeter wieder miteinander verhandeln. auch vertrauliche Dialoge braucht. Dagegen ist über- Die Lebenserwartung des Dalai-Lama ist der Zeitraum, haupt nichts einzuwenden; da sind wir ganz beim Au- der für eine Lösung im Dialog noch verbleibt. Das heißt, ßenminister. Aber ich finde es wichtig, dass in unserem die Zeit drängt. Land weiterhin unsere Gepflogenheiten gelten, und das Der vorliegende Antrag ist sachlich und fair. Er ist heißt, dass es öffentliche Diskussionen über außenpoliti- klar, und er ist nicht polemisch. sche Fragen geben kann und geben muss. Was Minister und Diplomaten vertraulich tun, kann effektiv sein und (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das stimmt!) kann auch Erfolg haben. Aber es ist der öffentlichen Er ist vom ernsthaften Interesse getragen, einen Beitrag Kontrolle entzogen und darf deshalb nicht alles sein, was zur Lösung der Probleme in Tibet zu leisten, und soll die wir in diesem Themenbereich tun. Bundesregierung dabei stärken. Wenn es dann vom Bundesaußenminister heißt, öf- (Beifall bei der FDP) fentliche Symbolik wie beispielsweise der Empfang des Dalai-Lama durch die Kanzlerin schade anderen Instru- Der Ihnen vorliegende Text war seit Wochen zwischen menten wie dem erfolgreichen Rechtsstaatsdialog mit den Fraktionen abgestimmt. Es hätte selbstverständlich China, dann ist das in dieser pauschalen Aussage nicht einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema geben richtig. Das Problem an diesem Treffen war doch nicht, können. Ich hätte das für ein starkes Signal gehalten. dass das Treffen stattgefunden hat. Es ist völlig selbst- verständlich, dass deutsche Politiker sprechen können, Mittlerweile wollen die Sozialdemokraten nach der mit wem sie wollen. Das werden wir nicht preisgeben. China-Reise des Außenministers von einem gemeinsa- men Vorgehen nichts mehr wissen. Mein Eindruck ist, (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Genauso ist dass es dabei noch nicht einmal so sehr um die Haltung es!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18351

Florian Toncar (A) Warum war die Reaktion der chinesischen Seite gerade (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck (C) im Falle von Frau Merkel so heftig? Warum gab es ei- [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gentlich keine Krise, nachdem etwa Alfred Gusenbauer stellt sich nur die Frage, was politisch klug ist! oder Gordon Brown den Dalai-Lama getroffen hatten? Das können Sie zwar nicht beurteilen; das ist Weil Frau Merkel kurz vorher in China war und dieses aber trotzdem eine gute Frage!) Treffen dort nicht angekündigt hat, ein Fehler im Übri- gen, der dem Auswärtigen Amt in dieser Form nicht pas- Im Übrigen muss ich sagen: Der Antrag der Freien siert wäre, was Anlass sein sollte, zu überprüfen, wie es Demokraten ist Wort für Wort richtig. Ich bedauere auf- möglich ist, die Außenpolitik künftig wieder federfüh- richtig, dass es nicht zu einem gemeinsamen Antrag des rend im Auswärtigen Amt und nicht im Kanzleramt an- Hauses gekommen ist. zusiedeln. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie doch zu! Sie (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Haben sind frei gewählte Abgeordnete!) Sie heute Morgen die Rede von Herrn Hoyer gehört?) Die CDU/CSU hat einen Koalitionsvertrag mit den So- zialdemokraten geschlossen. Wir sind vertragstreu. Da- – Selbstverständlich, Herr Kollege. her werde ich diesen Antrag der Freien Demokraten mit (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Dann zusammengebissenen Zähnen ablehnen – lieber Kollege halten Sie diese Rede jetzt? – Volker Beck Strässer, ich bedauere Sie; Sie würden ja auch gerne zu- [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist stimmen –; die Kanzlerin?) (Christoph Strässer [SPD]: Dazu können Sie gleich etwas hören!) Diesen Vertrauensbruch muss man kritisieren. Aber wenn es doch eher die Umstände eines solchen Treffens aber es fällt mir sehr schwer. waren, die die Verstimmung erzeugt haben, dann darf man nicht allgemein davon ausgehen, dass öffentliche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gesten als solche die wichtigen Dialoge, die nötig sind und die wir auch weiterhin wollen, gefährden. Diesen Präsident Dr. Norbert Lammert: Antrag heute zu beschließen, wäre keine Beeinträchti- Michael Leutert von der Fraktion Die Linke gibt seine gung anderer Instrumente wie etwa des Rechtsstaatsdia- Rede zu Protokoll1), sodass jetzt der Kollege Christoph logs. Dies wäre kein Nachteil für die Dinge, die uns Strässer für die SPD-Fraktion der nächste Redner ist. selbstverständlich auch sonst in der Zusammenarbeit mit (B) diesem wichtigen Partner von Bedeutung sind. Christoph Strässer (SPD): (D) Ich wünsche mir, dass wir, der Bundestag, es schaf- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe fen, auch zukünftig – bei allen Schwierigkeiten, die sich Kolleginnen und Kollegen! Herr Toncar, ich finde die durch die Zustände in der Bundesregierung manchmal Einführung in Ihre Rede sehr spannend. Von dem, was ergeben – bei solchen wichtigen Fragen zu gemeinsamen Sie gesagt haben, steht aber nicht ein Satz in Ihrem An- Textgrundlagen und gemeinsamen Entschließungen zu trag. kommen; denn ich glaube, dass öffentliche Signale, Herr (Widerspruch des Abg. Florian Toncar [FDP]) Kollege Weisskirchen, in einem völlig einwandfrei, sachlich, objektiv und fair formulierten Antrag, der hier – Doch. – Sie haben Ihren Antrag nicht in das eingeord- vorliegt und an dem es textlich nichts zu beanstanden net, worüber wir heute Morgen, wie ich finde, andert- gibt, weiterhin möglich sind. halb Stunden lang auf allerhöchstem Niveau diskutiert haben. Aus Ihrer Fraktion stammt doch die Anmerkung: (Beifall bei der FDP) Wenn man in diesen Tagen über China debattiert, geht es nicht nur darum, Einzelprobleme herauszugreifen, Präsident Dr. Norbert Lammert: (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist kein Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/ Einzelproblem!) CSU-Fraktion. sondern dann geht es schlicht und ergreifend darum, das (Beifall bei der CDU/CSU) Land in seiner Entwicklung zu betrachten und an dieser Stelle klare Position zu beziehen. Das tun wir in diesem Erika Steinbach (CDU/CSU): Hohen Hause seit sehr vielen Monaten, lieber Kollege Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Toncar. ren! Ich habe zwar neun Minuten Redezeit; die benötige (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist kein Ein- ich aber nicht. zelproblem, sondern ein Grundproblem!) Herr Toncar, zunächst einmal: Die deutsche Bundes- – Ich komme gleich auf Tibet zu sprechen. Da brauchen kanzlerin muss nicht in China um Erlaubnis bitten, ehe Sie keine Sorge zu haben. sie sich mit jemandem trifft. Sie muss auch nicht vorher ankündigen, wenn sie sich mit dem Dalai-Lama trifft. Das ist ihr originäres Recht. 1) Anlage 7 18352 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Christoph Strässer (A) Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie mich beför- An dieser Stelle steht: (C) dert haben. Es ist ungewöhnlich, dass ein Abgeordneter Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abge- der Opposition einen Abgeordneten der Koalition in die ordneten der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Spitzenetage des Auswärtigen Amtes befördert. Das SES 90/DIE GRÜNEN finde ich bemerkenswert. Ich wäre froh darüber, wenn es so gelaufen wäre. Leider ist es aber nicht so. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Abg. Florian Toncar [FDP]) GRÜNEN]: Seitdem dort keine Politik mehr gemacht wird, ist das keine Beförderung! – Dann geht es weiter: Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Wieso ist das Wer weiß, was nach ihm kommt. eine Beförderung?) Wir erwarten, dass unsere chinesischen Partner die Dem Journalisten, dem Sie etwas erzählt haben, habe ich Gesetze zum Schutz der Tibeter tatsächlich umset- an anderer Stelle gesagt: Gehen Sie einfach einmal da- zen. Wir müssen allerdings unseren tibetischen Ge- von aus, dass in dieser Fraktion Leute sitzen, die einen sprächspartnern gegenüber klarmachen, dass auch eigenen Kopf haben, die selbst denken können und die Gewalt von ihrer Seite nicht nur nicht zielführend, Positionen vertreten, die sie für richtig halten. sondern inakzeptabel ist. (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist doch (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE völlig klar!) GRÜNEN]: Na ja!) Das heißt, dass wir in den Gesprächen mit dem reli- Gestatten Sie mir an dieser Stelle bitte, noch einmal giösen Führer der Tibeter – die wir selbstverständ- auf das zurückzukommen, worüber heute Morgen nicht lich führen dürfen – sagen müssen, dass wir um zum ersten Mal diskutiert worden ist. Frau Kollegin eine präzise Definition von Autonomie nicht he- Steinbach, ich darf daran erinnern, dass wir in der letzten rumkommen und dass wir keine Forderung unter- Sitzungswoche in diesem Hohen Hause in einer ganz stützen – die wird nicht von ihm kommen, aber konkreten Menschenrechtsfrage keine Einigkeit erzielt möglicherweise von anderen –, die auf eine Desta- haben und das an Ihnen gescheitert ist. Deshalb sage ich bilisierung Chinas hinauslaufen würde. in aller Deutlichkeit: Hier Krokodilstränen zu vergießen, ist kein angemessener Stil. (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Kommt da noch die eigene Rede?) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (B) Damit ist die Kernposition, die der Deutsche Bundestag (D) GRÜNEN]: Was war denn an der Freilassung vertreten sollte, benannt. All das findet sich leider Gottes der politischen Gefangenen falsch? – in Ihrem Antrag nicht wieder. Nichts davon steht darin. Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Was ist denn Deshalb dürften Sie eigentlich nicht verwundert sein, an dem Antrag falsch?) dass wir diesem Antrag nicht zustimmen. – Das sage ich Ihnen gleich. Warten Sie doch einfach Ich will Ihnen an dieser Stelle die Punkte Ihres An- einmal ab! Wir stehen doch erst am Anfang der Diskus- trags nennen, die aus meiner Sicht überflüssig sind. Sie sion. sind ja Jurist. Sie wissen aus früheren Klausuren: Was überflüssig ist, ist falsch. Sie sollten einmal – ich finde Herr Hoyer, Ihre Rede hat mich stark beeindruckt. Ich schade, dass Sie das nicht getan haben – genau nachle- fand, das war eine der besten Reden, die zum Thema sen, was die Bundesregierung, was der Außenminister China in diesem Hohen Hause gehalten worden sind. auf all die Punkte in der Großen Anfrage der Grünen, die Sie zitiert haben, geantwortet hat. Alle Ihre Fragen sind (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ beantwortet; alle Ihre Forderungen sind erfüllt. Ich weiß CSU und der FDP) überhaupt nicht, warum Sie fordern, was die Bundesre- gierung schon erklärt hat. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir gestatten würden, aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom heu- tigen Tag eine Passage aus Ihrer Rede zu zitieren: Präsident Dr. Norbert Lammert: Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Toncar Ab nächster Woche ist Tibet wieder für Ausländer zulassen? geöffnet. Das ist eine gute Nachricht. Ich danke dem Präsidenten dafür, dass er eine Anmerkung zur Christoph Strässer (SPD): Reise des Menschenrechtsausschusses gemacht hat. Natürlich. Auch in der Tibet-Frage sind Ehrlichkeit und Rea- lismus angesagt, sowohl was die Historie angeht als Präsident Dr. Norbert Lammert: auch was die Gegenwart und die Zukunft angeht. Bitte schön. Unser Rat an die chinesischen Freunde lautet: Ihr seid gut beraten, den direkten Dialog mit dem Da- Florian Toncar (FDP): lai-Lama zu suchen und den Dialog ernsthaft zu Herr Kollege Strässer, ich habe am Freitag in der führen. Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen dürfen, dass Sie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18353

Florian Toncar (A) sich in der letzten Woche noch nicht darüber im Klaren weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, dass es einen (C) waren, ob die SPD-Fraktion dem Antrag zustimmt oder Linienstreit in der Koalition gibt. nicht, dass Sie sich lediglich darüber im Klaren waren, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE dass Sie nicht als Antragsteller auftreten. Wenn Sie letzte GRÜNEN]: Das ist falsch! Es gibt gar keine Woche noch der Meinung waren, dass eine Zustimmung zu diesem Antrag nicht ausgeschlossen ist, warum kom- Linie!) men Sie dann heute zu einer so eindeutigen und drastisch Der Außenminister hat vor Studenten der Hochschule negativen Bewertung des Inhalts des Antrags? Können für Außenpolitik von sich aus das Thema Tibet ange- Sie mir das erklären? sprochen. Er hat öffentlich erklärt, wie die deutsche Bundesregierung zu Tibet steht und was sie von den Chi- Christoph Strässer (SPD): nesen erwartet. Er hat das thematisiert. Das stand zwar Sie wissen, wie das mit den Zeitungen ist. Den Satz, nicht in der Zeitung. Aber er hatte großen Erfolg; denn mit dem ich dort zitiert werde, habe ich definitiv nicht die Menschen dort haben ihm zugehört. Dasselbe gilt für gesagt. Das habe ich dem Journalisten, der mich angeru- die Gespräche mit Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrecht- fen hat und dem Sie bestimmte Dinge erzählt haben, lern. auch so deutlich gesagt. Ich kann nur sagen: Wir sollten an dieser Stelle abrüs- Ich sage es noch einmal, Herr Kollege Toncar: Sie ten. Ihr Antrag führt aus unserer Sicht nicht weiter. Wir machen mit diesem Antrag etwas, was wir übereinstim- haben mindestens fünf Ihrer Forderungen in diesem An- mend an dieser Stelle nicht praktizieren wollten. Sie trag erfüllt. Deshalb führt uns das an dieser Stelle in die spielen zum Schein Attaché. An diesem Punkt sagen wir Irre. Wir möchten eine vernünftige und richtungwei- alle – jedenfalls unsere Fraktion; soweit ich weiß, auch sende Chinapolitik unter Berücksichtigung aller Um- aus Überzeugung –: Das ist der falsche Weg. Ich sage Ih- stände. Diese werden wir in der Zukunft ganz konse- nen auch, warum. Sie ignorieren all das, was heute ange- quent verfolgen. sprochen worden ist, zum Beispiel zur Rücksichtnahme Herzlichen Dank. auf die Entwicklung in China. Sie schreiben in Ihrem Antrag nicht einen einzigen Satz über das, was in den (Beifall bei der SPD) letzten 30 Jahren in dieser Volksrepublik passiert ist. Deshalb ist dieser Antrag aus meiner Sicht kontrapro- Präsident Dr. Norbert Lammert: duktiv; er wird Ihrem Anliegen nicht gerecht. Im Gegen- Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der teil: Ich befürchte, dass er Ihrem Anliegen sogar schadet. Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen. Das ist genau der Punkt, um den es uns heute geht. (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Der macht das jetzt (D) (Beifall bei der SPD) wie Frau Steinbach!) Ich finde es auch sehr schade, dass wir diese Diskussion nicht heute Morgen vor etwas besser gefülltem Haus Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): führen konnten; denn dahin hätte es als ein Teilbereich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nein, ich der China-Politik dieser Bundesregierung gehört. lese jetzt keine Rede von Erika Steinbach vor. Ich will zum Schluss noch etwas dazu sagen, wer wen (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: besuchen und wer mit wem reden darf. Aus meiner Sicht Das wäre aber sehr lohnend!) gibt es da gar keine Frage. Natürlich dürfen und sollen Zunächst einmal möchte ich sagen: Solange nicht im deutsche Politiker mit dem Dalai-Lama reden. Warum Auswärtigen Amt, sondern noch im Kanzleramt Außen- denn nicht? Aber ich kritisiere – das sollte man, wenn politik gemacht werden darf, würde ich eigentlich erwar- dies angesprochen wird, auch sehr deutlich sagen –, ten, dass das Kanzleramt hier bei solchen Debatten ver- wenn diese Politik das Einzige ist und danach keine treten ist. Das ist leider nicht der Fall. Vielleicht hat das menschenrechtlichen Implikationen folgen. Reine Sym- bolpolitik nutzt den Menschenrechten in der Volksrepu- aber ein neues Verhältnis der Ressorts untereinander zur Folge. blik China nicht. Nun zum eigentlichen Thema. (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- loch] [SPD] – Zuruf des Abg. Hartwig Fischer Im Rahmen der Spiele der Neuzeit verkörpert das [Göttingen] [CDU/CSU]) Olympische Feuer die positiven Werte, die der Mensch diesem Element von jeher zuschreibt. Die – Kollege Fischer, regen Sie sich nicht so auf! Wir haben Reinheit des Feuers wird dadurch gewährleistet, das doch gesehen. dass es auf ganz besondere Art und Weise – mit- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie hilfe der Sonnenstrahlen – entzündet wird. … Auf haben keine Ahnung davon!) seinem Weg kündigt das Feuer die Olympischen Spiele an und vermittelt eine Botschaft des Friedens Der Kollege Wellmann und die Kollegin Dyckmans wa- und der Verbundenheit der Völker. ren bei der Reise dabei. Wir haben gemeinsam mit dem Außenminister vor Ort gezeigt, was eine offene und ehr- Diese Sätze findet man in einer Broschüre des Olympi- liche Menschenrechtspolitik ist. Man darf sich nicht du- schen Museums zur olympischen Bewegung und zur cken. Wir haben alle diese Themen angesprochen. Ich olympischen Idee der Neuzeit. Wenn man sich diese 18354 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Volker Beck (Köln) (A) Sätze vergegenwärtigt, muss man sagen: Was war der sich die Menschenrechtssituation für die Chinesinnen (C) Fackellauf in Lhasa am letzten Wochenende für eine Ge- und Chinesen in Tibet, Xinjiang und Zentralchina ver- spensterveranstaltung! bessert, oder nicht? Frau Steinbach, hierbei geht es auch um die Frage: Ist es klug, den Chinesen diesen Empfang (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei einem Besuch nicht anzukündigen, oder hätte es sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nicht geholfen, es vorher zu sagen, um dadurch den SPD und der FDP) Sprengstoff aus der Situation zu nehmen und den Men- Eine Regierung spricht der olympischen Idee Hohn, schenrechtsdialog, der ein sehr wichtiges Instrument ist, indem sie jede Beteiligung des Volkes an dieser Veran- um die Menschenrechtssituation in China zu verbessern, staltung verhindert, da sie das Volk fürchten muss, weil nicht zu gefährden? Das sind die Fragen, die wir uns sie es unterdrückt und die kulturellen und religiösen stellen müssen. Es geht nicht nur darum, was man darf. Rechte dieser Minderheit verhöhnt. An die olympische Entscheidend ist, was Politik bewirken kann. Bewegung gerichtet, an das Internationale Olympische Ich möchte noch einen Satz zu dem zweiten Antrag, Komitee und den Deutschen Olympischen Sportbund, den wir heute verabschieden, sagen, obwohl mich der der sich mit seinen Stellungnahmen nicht gerade mit Präsident bereits mahnt. Den Antrag der FDP zur Men- Ruhm bekleckert hat, schenrechtslage in Tibet werden wir unterstützen, weil er (Erika Steinbach [CDU/CSU]: Richtig!) zumindest nicht falsch ist. Ich finde allerdings, man sollte dieses Thema globaler fassen. Das haben wir in sage ich ganz deutlich: Wer an den olympischen Stätten unserem Antrag zur Menschenrechtssituation in Gesamt- Widerstand gegen die Verhöhnung der olympischen Idee china, den wir dem Ausschuss vorlegen werden, getan. leistet, dagegen sein Wort erhebt und symbolische Ak- Heute wird sich der Bundestag einmütig – ich weiß tionen durchführt, der hat unsere Solidarität verdient, allerdings nicht, ob sich die Linke aus Solidarität zu Pe- keine Sanktionen. king wieder enthalten wird – für die Freilassung des Bür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gerrechtlers und Umweltaktivisten Hu Jia einsetzen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Meine Damen und Herren, wir alle sind aufgrund der der SPD) Situation in Tibet besorgt. Es kam erneut zu einem Auf- Das ist ein richtiges Zeichen. Ich bin allen Fraktionen stand, der nach Angaben der tibetischen Exilregierung dankbar, dass sie unserem Vorschlag gefolgt sind, sodass mindestens 200 Todesopfer gefordert hat. Die Situation wir diese Entscheidung heute einmütig treffen können. in Tibet ist seit langem problematisch. Wir dürfen die Das nimmt nämlich ein Stück weit das Blamable aus der (B) Menschenrechtssituation in China aber nicht, weil die (D) Situation von vor zwei Wochen, westlichen Medien auf Tibet schauen und weil Tibet mit dem Dalai-Lama einen prominenten Fürsprecher hat, auf (Christoph Strässer [SPD]: Ja!) die Tibetfrage reduzieren. Das wäre völlig falsch. Des- halb haben wir vor zwei Wochen über die Große Anfrage als der Bundestag mit Hammelsprung einen Antrag un- der Grünen zur Menschenrechtslage vor den Olympischen serer Fraktion abgelehnt hat, mit dem wir erreichen Spielen diskutiert. Hierbei ging es uns um Tibet, um Xin- wollten, dass die Bundesregierung die Volksrepublik jiang, aber auch um die Dissidenten und die religiösen China auffordert, die politischen Gefangenen von ganz Minderheiten in Zentralchina, die um ihre Rechte kämp- China vor der Olympiade freizulassen. fen. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Menschen- (Beifall der Abg. Jürgen Trittin [BÜND- rechtspolitik nicht primär innenpolitisch induziert betrei- NIS 90/DIE GRÜNEN] und Christoph ben und uns nur danach richten, was populär ist. Strässer [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Präsident Dr. Norbert Lammert: CDU/CSU) Herr Kollege! Wir müssen uns an den Fragen orientieren: Was ist nach- haltig, was führt in diesem Land tatsächlich zu Konse- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): quenzen, und welche Probleme sind bereits vergessen? Ich finde, bei Menschenrechten sollten wir nicht auf Vor diesem Hintergrund haben wir diesem Hohen Hause den Antragsteller schauen, sondern darauf, ob die Forde- vor einiger Zeit einen Antrag zur Situation der Uiguren in rung richtig ist, und entsprechend zustimmen. Das ist Xinjiang vorgelegt. Denn der Dalai-Lama hat uns bei sei- glaubwürdige Menschenrechtspolitik. Gönnen Sie den nem Besuch in diesem Hohen Haus gesagt, dass die Situa- Oppositionsparteien, wenn sie das Richtige schreiben tion der Uigurinnen und Uiguren noch weitaus schlimmer – und sei es unvollständig – , die Zustimmung! ist als die der Tibeterinnen und Tibeter. Ich finde, auch das muss man am heutigen Tag einmal sagen. (Zuruf von der SPD: Jederzeit, Herr Kollege!) Wenn wir darüber diskutieren, was für eine China-Po- Denn in der Sache ist das das richtige Signal. litik wir betreiben sollten, müssen wir uns fragen: Ist Vielen Dank. das, was wir demonstrativ machen, zum Beispiel ein Empfang des Dalai-Lama im Kanzleramt, wirklich von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einer politischen Strategie gedeckt, die dazu führt, dass sowie bei Abgeordneten der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18355

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: hin zur Einsparung kostbarer Rohstoffe reicht ein breiter (C) In Menschenrechtsfragen, Herr Kollege Beck, pflegt Fächer von Effekten, die wir nicht erst in neuester Zeit das Präsidium auch bei der Umsetzung angekündigter freudig beobachten können. So können nachwachsende letzter Sätze besondere Großzügigkeit walten zu lassen. Rohstoffe langfristig einen wesentlichen Beitrag zur Si- cherung der Rohstoffversorgung, zur Importunabhängig- (Heiterkeit – Volker Beck [Köln] [BÜND- keit sowie zum Umweltschutz leisten. Die Veredelung NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kennen meine nachwachsender Rohstoffe in Bioraffinerien trägt dazu abenteuerliche Interpunktion nicht!) bei, dass in den ländlichen Gebieten neue Beschäfti- Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag gungsalternativen geschaffen werden und der Land- und der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9747 mit dem Forstwirtschaft Produktions- und Einkommensalternati- Titel „Menschenrechtslage in Tibet verbessern“. Wer ven geboten werden. Darüber hinaus kann die stoffliche stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer Nutzung nachwachsender Rohstoffe zum Erhalt der bio- enthält sich der Stimme? – Damit ist der Antrag mehr- logischen Vielfalt beitragen und die Kulturlandschaft be- heitlich abgelehnt. reichern. Nicht nur für ein Industrieland wie Deutschland ist die stoffliche Nutzung von Biomasse mit Vorteilen ver- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- bunden, sondern auch für Entwicklungs- und Schwellen- schusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf länder: Nachhaltig produzierte und angebaute Biomasse Drucksache 16/9822 – das ist der Zusatzpunkt 9 – zu der kann zu wünschenswert steigenden Exporterlösen, zur Unterrichtung durch die Bundesregierung über eine Ent- wirtschaftlichen und zur ländlichen Entwicklung in die- schließung des Europäischen Parlaments vom 17. Januar sen Ländern beitragen. Hierbei müssen mögliche Ziel- 2008 zur Inhaftierung des chinesischen Bürgerrechtlers konflikte in Bezug auf Umweltschutz, Biodiversität, Hu Jia. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unter- Flächennutzungskonkurrenzen zur Nahrungsmittelpro- richtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt duktion und auf die soziale Situation in den Anbaugebie- für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – ten beachtet werden. Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke mit den üb- Vor diesem Hintergrund wollen wir versuchen, die rigen Stimmen des Hauses so angenommen. vielfältigen Chancen der stofflichen Nutzung nachwach- sender Rohstoffe sinnvoll zu nutzen. Es bedarf dazu einer Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 22: Strategie, in der wir die vielfältigen erfolgversprechen- Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel E. den Ansätze bündeln und fortentwickeln. Ziel dieser breit Fischer (Karlsruhe-Land), Ilse Aigner, Katherina angelegten Strategie muss es vor allem sein, Verfahren Reiche (Potsdam), weiterer Abgeordneter und und Methoden zu entwickeln, mit denen nachwachsende (B) Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Rohstoffe langfristig wirtschaftlich genutzt werden kön- (D) Andrea Wicklein, René Röspel, Jörg Tauss, wei- nen. Technische Verfahren sind Voraussetzung für jede terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nutzung von Biomasse. Viele Ideen zum Einsatz nach- wachsender Rohstoffe sind von der konkreten Umsetzung Forschung und Entwicklung für die indus- im industriellen Maßstab noch weit entfernt. Welche Ver- trielle stoffliche Nutzung nachwachsender fahren in Zukunft möglich sind, müssen Forschung und Rohstoffe in Deutschland bündeln und stärken Entwicklung aufzeigen. Hier setzt die Forschungsstrate- – Drucksache 16/9757 – gie an. Überweisungsvorschlag: Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe unterliegt in Ausschuss für Bildung, Forschung und allen Wirtschaftsbereichen letztlich den gleichen Krite- Technikfolgenabschätzung (f) Finanzausschuss rien nachhaltigen Wirtschaftens wie Verfahren auf Basis Ausschuss für Wirtschaft und Technologie anderer Rohstoffe auch. Neue Produkte und Verfahren Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und müssen in akzeptabler Zeit rentabel sein und sich im in- Verbraucherschutz ternationalen Maßstab bewähren. Sie müssen in Bezug Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Wirtschaftlichkeit und Qualität konkurrenzfähig sein. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Letztendlich müssen die Rohstoffe für die Unternehmen Entwicklung zu Weltmarktpreisen zur Verfügung stehen. Das ist beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Einsatz von nachwachsenden Ressourcen heute nicht im- Haushaltsausschuss mer gegeben. Hier müssen unsere Forschungs- und Ent- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die wicklungsaktivitäten ansetzen, hier sind die Grundlagen Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die für eine erfolgreiche Nutzung zu legen. Im Rahmen dieser Reden der Kollegen Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land), Strategie muss vor allem die Grundlagenforschung zur Andrea Wicklein, Cornelia Pieper, Dr. Petra Sitte und stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe vorange- Sylvia Kotting-Uhl. trieben werden, damit es uns gelingt, zukunftsträchtige und innovative Konversionsverfahren zu entwickeln. Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Mit einer deutlich verbesserten Forschungsförderung, Wir alle kennen Vorzüge der stofflichen Nutzung nach- mit der Vernetzung aller Glieder der Wertschöpfungskette wachsender Rohstoffe. Von Beschäftigungseffekten in der und mit der Beseitigung von gesetzlichen Hürden sind Landwirtschaft über die Entlastung der Umwelt, die Ent- wichtige Voraussetzungen für den verstärkten Einsatz wicklung neuer Forschungs- und Produktionsfelder bis nachwachsender Rohstoffe geschaffen worden. Wir 18356 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) wollen hier einen Schwerpunkt weiter auf Biodiversität, motivierter Menschen Eingang finden. Im Idealfall wird (C) Bodenfruchtbarkeit, Wirkungsgrad, Kaskadennutzung bei Forschung und Lehre an den entsprechenden Lehr- und Ökobilanzierung legen. Wir wollen dazu die Förde- stühlen die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe rung von Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstra- in ihrer gesamten Breite berücksichtigt. tionsvorhaben fortführen, verstärkt über die Anwendungs- möglichkeiten aufklären sowie eventuell bestehende Deutschland ist ein rohstoffarmes Land. Wir stehen im Hemmnisse für den stofflichen Einsatz nachwachsender weltweiten Wettbewerb um die Nutzung knapper Roh- Rohstoffe beseitigen. stoffe. Wichtig ist ein schonender Umgang mit allen Roh- stoffen sowie die Entdeckung, Entwicklung und Nutzung Um den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen zu neuer Ressourcen. Mit unserer Forschungsstrategie wer- erhöhen und ihre Produktion effizient zu gestalten, müs- den wir die darin liegenden Chancen ergreifen, Innova- sen alle Möglichkeiten, insbesondere auch die der grünen tionen anregen und einen wesentlichen Beitrag für eine Gentechnologie, ergebnisoffen geprüft und erforscht erfolgreiche und nachhaltige Entwicklung unserer Roh- werden. Wir müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen, stoffbasis leisten können. neue Produktlinien auf Basis nachwachsender Rohstoffe entwickeln. Dazu bedarf es höchstmöglicher Flexibilität bei den verwendeten Technologien. Die notwendigen Andrea Wicklein (SPD): Rohstoffe müssen ganz bestimmte Eigenschaften aufwei- Das Deutsche Kunststoff-Museum in Düsseldorf klärt sen und hohe Qualitätsstandards erfüllen. Damit sie diese über eine Revolution auf, die vor 148 Jahren begann: Die Voraussetzungen erfüllen, müssen alle Möglichkeiten ei- Entwicklung des einmaligen Werkstoffs Celluloid, beste- ner nachhaltigen Pflanzenproduktion zur Verfügung ste- hend aus nitrierter Cellulose und Kampfer. „Anstoß für hen. Ein rein ökologischer Landbau wird den Erforder- die Entwicklung des Celluloids war ein Preisausschrei- nissen an Menge, Preis und Qualität der Rohstoffe nicht ben, bei dem ein neuer Werkstoff gesucht wurde, der das Rechnung tragen können. Die Grüne Gentechnik könnte teure Elfenbein der Billardkugeln ersetzen sollte“, so das in Zukunft ganz entscheidend dazu beitragen, Pflanzen Düsseldorfer Museum. als Lieferanten marktfähiger Rohstoffe zu etablieren. Sie bietet neue Möglichkeiten der Bereitstellung von nach- Doch schon wenig später haben die erdölbasierten wachsenden Rohstoffen. Dabei spielt sowohl die erreich- Kunststoffe ihren Siegszug angetreten und sind heute fes- bare Mengensteigerung als auch die gezielte Herstellung ter Bestandteil in unserem Alltag. Angefangen von Brenn- von benötigten Rohstoffen eine Rolle. stoffen über Kraftstoffe bis hin zu hochmodernen Werk- stoffen. Die erdölbasierte Chemie hat damit seit vielen Es kann nicht sein, dass uns hier in Deutschland weiter Jahrzehnten sehr erfolgreich hochkomplexe und effizi- überzogene ideologische Blockaden daran hindern, am (B) ente Nutzungsmöglichkeiten des Erdöls entwickelt. Welt- (D) weltumspannenden Fortschritt in diesem Bereich teilzu- weit wird unser Leben und auch unser Wohlstand davon haben, und dass damit die Nutzungsmöglichkeiten von bestimmt. Beispielsweise nenne ich: Fensterrahmen und nachwachsenden Rohstoffen stark eingeschränkt werden. Fußbodenbeläge aus PVC (Polyvinylchlorid), Schaum- Wenn wir zu den führenden Wirtschaftsnationen gehören stoffe in Polstermöbeln und Matratzen aus Polyurethan, wollen, dann können wir uns nicht systematisch bei einer Styropor-Verpackungen aus Polystyrol, Gießkannen, Ei- Spitzentechnologie nach der anderen aus dem internatio- mer und Fernsehgehäuse aus Polyethylen (PE), Arma- nalen Forschungskonzert verabschieden. Das gilt im turen, Folien und Trinkhalme aus Polypropylen (PP), Energiebereich für die Kerntechnik genauso wie in der Synthetikfasern aus Polyamid oder Wasch- und Reini- Landwirtschaft für die Grüne Gentechnik. gungsmittel aus Ethylenoxid. Auch unter humanitären Gesichtspunkten ist in Deutschland ein schnelles Umdenken notwendig: Die Aber das Erdöl ist endlich, wird knapper und immer Steigerung der energetischen und industriellen Nutzung teurer. Die Zeit ist deshalb reif, auch im Bereich der nachwachsender Rohstoffe führt zu einem verstärkten Kunststoffe und chemischen Produkte über sinnvolle und Wettbewerb um Anbauflächen. Bisher wurden diese vor- aussichtsreiche Alternativen zu diskutieren und Lösungs- wiegend für die Nahrungsmittelproduktion genutzt. Um ansätze zu entwickeln. Unbestritten ist, dass es bei den größeren Verwerfungen entgegenzuwirken, um den Hun- chemischen Erzeugnissen zum Erdöl nur eine einzige ger in der Welt nachhaltig zu bekämpfen, müssen wir echte Alternative geben wird: die nachwachsenden Roh- dringend Methoden entwickeln und anwenden, mit denen stoffe. Denn sie sind die einzige erneuerbare Rohstoff- pflanzliche Abfallstoffe besser als bisher genutzt werden. quelle, die die für die Chemie notwendigen Kohlenstoff- Hier schafft unter anderem auch die Einführung eines verbindungen enthält. Dagegen sind Kraftstoffe, Strom Bioraffinerie-Forschungsnetzwerks, in dem Kompeten- und Wärme auch durch andere Alternativen, wie Wind- zen und Aktivitäten in Forschung, Entwicklung und De- kraft, Erdwärme oder Sonnenenergie, ersetzbar. Dies ist monstrationsanlagen gebündelt werden, den notwendi- ein entscheidender Punkt, der sowohl bei der sinnvollen gen Rahmen für spürbare Fortschritte. Nutzung des Erdöls als auch beim sinnvollen Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen berücksichtigt werden muss. Es reicht allerdings nicht aus, die Schwerpunkte aus- Wenn wir also die nachwachsenden Rohstoffe nur für die schließlich auf die Forschung zu legen, wir müssen ande- energetische Nutzung denken, dann greift das zu kurz. Mit rerseits die Forschung eng mit den Hochschulen vernet- diesem Antrag wollen wir deshalb die unausweichliche zen, damit die gewonnenen Erkenntnisse möglichst Rohstoffwende im Bereich der Chemie unterstützen. Wir schnell und effektiv in die Lehre, in die Ausbildung junger, stehen langfristig vor einer neuen Revolution: der Roh-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18357

Andrea Wicklein (A) stoffwende vom Erdöl hin zu den nachwachsenden Roh- Doch auf dem Weg dahin ist es notwendig, schon jetzt (C) stoffen. die Weichen für strategische Entscheidungen in For- schung, Entwicklung und Demonstration der Bioraffina- Wie ist die Ausgangssituation? Von den rund 113 Mil- tion in Deutschland zu stellen. Deshalb verfolgen wir mit lionen Tonnen Erdöl, die Deutschland Jahr für Jahr ver- dem Antrag das Ziel, eine ressortübergreifende Strategie braucht, benötigt die chemische Industrie derzeit rund für die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe als 20 Millionen Tonnen für die stofflichen Chemieprodukte. Bestandteil einer integrierten Biomasse-Strategie zu er- Hinzu kommen etwa 2 Millionen Tonnen Biomasse als arbeiten und daraus konkrete Zielvorgaben sowie weitere Rohstoffbasis. Deutschland hat sich zu einem der Schwerpunkte für die weitere Forschungsförderung abzu- weltweit führenden Chemiestandorte entwickelt. Fast leiten. Darüber hinaus setzen wir auf die Vernetzung der 450 000 Beschäftigte zählt diese Branche, die zu entscheidenden Akteure, von der Landwirtschaft über 80 Prozent exportabhängig ist und pro Jahr einen Um- Wissenschaft und Forschung bis zu den Unternehmen. satz von 153 Milliarden Euro erwirtschaft. Allein Durch ein Bioraffinerie-Forschungsnetzwerk können 5,3 Milliarden Euro investiert die Branche pro Jahr in Kompetenzen und Aktivitäten in Forschung und Ent- neue Produkte, Technologien und Verfahren. Damit be- wicklung gewinnbringend gebündelt werden. Zu diesem legt Deutschland in Europa als Chemiestandort den ers- Ergebnis kommt auch der Bericht des Büros für Technik- ten Platz und in der Welt Platz vier. folgenabschätzung beim Deutschen Bundestag „Indus- trielle stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe“, Bei der Wende hin zu den nachwachsenden Rohstoffen das kürzlich feststellte: „Für die stoffliche Nutzung nach- stehen wir nicht am Anfang. Bereits seit den 80er-Jahren wachsender Rohstoffe ist ein zunehmender Stellenwert in nimmt das Interesse an Biokunststoffen und Materialien der Forschungsförderung zwar erkennbar, dennoch feh- aus nachwachsenden Rohstoffen wieder zu. Aber mit der len konkrete, übergeordnete Zielvorgaben. Daher wäre dramatischen Verteuerung des Erdöls seit etwa 2002 von zum Beispiel eine ‚Roadmap für die stoffliche Nutzung‘ damals rund 25 auf jetzt etwas über 140 Dollar pro Bar- erforderlich, um diese Ziele klarer zu definieren und ent- rel sind die Bemühungen weltweit rasant gestiegen, das sprechende Schwerpunkte, zum Beispiel in Form von Erdöl durch nachwachsende Alternativen zu ersetzen. Forschungsstrategien, zu formulieren.“ Mit dem vorlie- Kunststoffe aus Stroh oder Gras können sich so zu einer genden Antrag haben wir diese Hinweise aufgenommen echten Konkurrenz zum Erdöl entwickeln. Zahlreiche und wollen sie politisch umsetzen. Hochschulen, Forschungsseinrichtungen und Chemieun- ternehmen widmen sich verstärkt diesem Zukunftsfeld, Ein weiterer Aspekt ist mir in diesem Zusammenhang und es entstehen diverse Forschungsnetzwerke. sehr wichtig: Die Rohstoffe vom Acker gehen zwar nicht zur Neige. Aber auch die nachwachsenden Rohstoffe wer- (B) Auch Bund, Länder und die Europäische Union unter- den, je mehr sie von der Industrie nachgefragt sind, zu ei- (D) stützen auf vielfältige Weise diesen jungen Bereich; der nem knappen Gut. Uns muss es deshalb ebenso darum ge- Bund beispielsweise durch den Förderschwerpunkt „Bio- hen, mögliche Zielkonflikte in Bezug auf Klimaschutz, konversion nachwachsender Rohstoffe“, die Förderung Biodiversität, Flächennutzungskonkurrenzen zur Nah- der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e. V. (FNR), rungsmittelproduktion und auf die soziale Situation in die Etablierung des Deutschen Biomasseforschungszen- den Anbaugebieten zu achten. Auch das wird im Antrag trums mit Sitz in Leipzig, die Unterstützung des Deut- ausdrücklich berücksichtigt. schen Bioraffinerie-Kongresses oder die Clusterinitiative Für ein technologieintensives Land wie Deutschland zur Weißen Biotechnologie; die EU vor allem mit dem wird es wichtig sein, hier im internationalen Vergleich gut 7. Forschungsrahmenprogramm, in dem auch Biowissen- aufgestellt zu sein. Im Deutschen Bundestag ist eine schaften, Biotechnologie und Biochemie gefördert wer- breite Unterstützung für eine verstärkte stoffliche Nut- den. zung nachwachsender Rohstoffe erkennbar. Auch For- Doch bis zur industriellen stofflichen Nutzung nach- schung und Wirtschaft haben die riesigen Potenziale die- wachsender Rohstoffe ist es noch ein langer Weg. Enorme ser noch relativ jungen Branche entdeckt. Jetzt müssen Anstrengungen vor allem in Forschung und Entwicklung, dafür die richtigen politischen Weichenstellungen vorge- in Ausbildung und Lehre sowie in Demonstrationsanla- nommen werden, damit Forschung und Entwicklung vo- gen sind noch notwendig, um die stoffliche Nutzung nach- rankommen können. Dem dient dieser Antrag, für den ich wachsender Rohstoffe voranzubringen. Dabei wird es um Unterstützung werben möchte. entscheidend sein, die Bioraffinerie-Konzepte als Schlüs- seltechnologie für den effizienten, Ressourcen schonen- Cornelia Pieper (FDP): den und auch marktwirtschaftlich sinnvollen Einsatz Ende vergangenen Jahres haben wir im Ausschuss für nachwachsender Rohstoffe weiterzuentwickeln. Denn Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung den quasi analog zur Erdölraffinerie, in der das Erdöl zu Arbeitsbericht Nr. 114 „Industrielle stoffliche Nutzung zahlreichen chemischen Grundstoffen veredelt wird, kön- nachwachsender Rohstoffe“ des Büros für Technikfolgen- nen in einer Bioraffinerie alle Pflanzenteile zur Herstel- Abschätzung entgegengenommen. Er zeigt uns deutlich, lung entsprechender Plattformchemikalien, aber auch dass die aktuelle Biomasse-Diskussion und ein industriell anschließend für Kraftstoffe, Strom oder Wärme verwen- stoffliches und energetisches Gesamtnutzungskonzept det werden. Durch das Prinzip „Erst stoffliche, dann nur vor dem Hintergrund breitangelegter forschungs- energetische Nutzung“ kann die Wertschöpfung von und technologiepolitischer Prozesse betrachtet werden nachwachsenden Rohstoffen enorm gesteigert werden. können.

Zu Protokoll gegebene Reden 18358 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Cornelia Pieper (A) Der Rohstoff- und Energieverbrauch steigt weltweit 65 Prozent der heute 8 000 Quadratkilometer brachlie- (C) stark an. Die Verfügbarkeit fossiler Energiereserven ist genden landwirtschaftlichen Nutzflächen. jedoch endlich und eng mit dem Problem einer starken 9 Prozent des weltweiten Primärenergieverbrauchs ist CO -Belastung der Umwelt verbunden. Bei 11,9 Milliar- 2 heute auf die Nutzung „traditioneller Biomassen“ wie den Barrel erkundeten Ölreserven und geschätzten Brennholz und Holzkohle zurückzuführen. Die Verwen- 66 Milliarden Barrel potenziellen Reserven könnte die dung „moderner Biomassen“ zielt mehr auf den Ersatz Verfügbarkeit des Erdöls auf noch 55 Jahre angesetzt konventioneller fossiler Energieträger ab. Die Roh- werden. Heute beruhen rund 90 Prozent der chemischen stoffbasis hierfür bilden Energiepflanzen im landwirt- Rohstoffbasis auf den fossilen Rohstoffen Erdöl und Erd- schaftlichen Anbau, forstwirtschaftliche Nebenprodukte, gas. Doch die nachwachsenden Rohstoffe gewinnen ge- Reststoffe aus der Holzverarbeitung sowie organische rade für die chemische Industrie immer mehr an Bedeu- Nebenprodukte und Abfälle. Das setzt allerdings ihre tung. Aktuell beträgt der Anteil der Biomasse in der Konversion zu flüssigen und gasförmigen Sekundärener- chemischen Industrie bereits etwa 10 Prozent. gieträgern voraus, was landläufig als „Veredlung von Eine weitere Belastung der Atmosphäre mit klima- Biomasse“ bezeichnet wird. Dabei wird das Ziel verfolgt, schädlichen Gasen aufzuhalten bzw. zu verhindern, stellt die Energiedichte der Biomasse zu erhöhen, ihre Trans- heute eine der größten gesellschaftlichen Herausforde- portfähigkeit zu verbessern und ihre Nutzung mit vorhan- rungen dar. Die Forschung zur industriell stofflichen und denen Technologien der Endenergienutzung zu ermögli- energetischen Nutzung nachwachsender Rohstoffe ge- chen. winnt dabei zunehmend an Bedeutung. Sie fühlt sich dem Es gibt eine Reihe von Konversionstechnologien, die Ziel verpflichtet, einerseits mittelfristig einen Ersatz für bereits Stand der Technik sind. Die Konversionsverfahren die Nutzung fossiler Energiequellen zu schaffen und an- für Kraftstoffe der ersten Generation, die zucker- und dererseits eine Flächenkonkurrenz und damit eine Nah- stärkehaltige Samen und Feldfrüchte, wie Zuckerrüben, rungsmittelverknappung zu verhindern. Zuckerrohr, Mais, Roggen oder Weizen, zum Benzinersatz Bio-Ethanol oder Öl von Pflanzen, wie Raps, Soja oder Es setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass eine Palmen, zu Pflanzenöl und Biodiesel umwandeln, sind einfache Ausweitung der Biokraftstoffproduktion der ers- nicht wirtschaftlich und einer befriedigenden Kraftstoff- ten Generation auf der Grundlage von Zucker- und Stär- versorgung schon heute nicht zuträglich. Der Energieauf- kepflanzen sowie Ölpflanzen an natürliche Grenzen stößt wand für deren Herstellung ist oftmals größer als der und dass ein Nutzen für Mensch und die Umwelt nicht Energiegehalt der Kraftstoffe. Die Belastungen der mehr auszumachen ist. Auch ein Rückgriff auf Altfette, Ackerböden und der Luft ist allein durch die eingesetzten wie zum Beispiel das Altspeiseöl, ist nur begrenzt mög- Düngemittel und Pestizide außerordentlich hoch. (B) lich. Auch hier sind die Preise allein im vergangenen Jahr (D) von 340 auf 530 Euro je Tonne gestiegen. Biosprit der Statt auf Feldfrüchte, die eigentlich der Nahrungsmit- ersten Generation gilt heute schon als ein Preistreiber für telproduktion dienen, für die Energiegewinnung zu set- die Lebensmittelpreise. zen, muss künftig stärker auf die Verwendung cellulose- und ligninhaltiger Pflanzen von schnell wachsendem Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel sind in den Holz, ganzer Kulturpflanzen, Reststoffe aus der Wald- vergangenen drei Jahren um 83 Prozent gestiegen. Die und Holzwirtschaft gesetzt werden. Preise für Weizen, Mais, Soja und Ölsaaten steigen stetig. Darauf konzentrieren sich Forschung und Entwick- Allein der Preis für eine Tonne Weizen ist von 70 Euro im lung für Kraftstoffe der zweiten Generation. Das Poten- Jahr 2000 auf heute 230 Euro explodiert. Die Verfügbar- zial zur CO2-Einsparung ist bei den Kraftstoffen der zwei- keit von Ackerland in der EU ist eine entscheidende ten Generation nämlich doppelt so hoch. Bei der Restriktion für eine deutliche Ausweitung der Biokraft- Herstellung von Biokraftstoffen der zweiten Generation stoffproduktion. Zusätzliche geeignete Anbauflächen feh- werden – im Unterschied zu Biokraftstoffen der ersten len weltweit und können heute nur noch durch weitere Ro- Generation – nicht nur Teile, sondern die ganzen Pflan- dungen, zum Beispiel in Regenwaldregionen dieser Erde, zen genutzt. Sie haben in puncto CO2-Effizienz im Ver- erweitert werden. gleich zu allen realistischen Alternativen einen riesigen Eine nur zehnprozentige Beimischung von Biosprit be- Vorsprung. Die Produkte der zweiten Generation setzen deutet für Deutschland einen Jahresbedarf von 4 Millio- auf Konversionstechnologien wie Vergasung und Pyro- nen Tonnen. Hierfür werden 5 Millionen Tonnen Raps- lyse sowie Biomass-to-Liquid-Prozesse. Sie tragen heute saat und 6 Millionen Tonnen Getreide gebraucht. Die schon Markennamen, wie „bioliq“(KIT), „Erneuerbare hierfür benötigte landwirtschaftliche Nutzfläche von synthetische Kraftstoffe“ (Choren Industries), „Sunfuel“ 30 000 Quadratkilometern entspricht in etwa der Größe (Volkswagen) oder „Sundiesel“ (Daimler). von Brandenburg. Wissenschaftliche Untersuchungen be- Vier chemische Verfahren erscheinen aus heutiger legen, dass aus einem Hektar landwirtschaftlicher Nutz- Sicht besonders erfolgversprechend: das Karbon-V-Ver- fläche 1 550 Liter Rapsdiesel oder 2 560 Liter Bioetha- fahren der Choren-Industries-GmbH, die Direktverflüssi- nol, beide erste Generation, oder 4 000 Liter BtL-Diesel, gung von Biomasse mittels Katalysatoren der bayeri- zweite Generation, hergestellt werden können. Treibstoffe schen Firma Alphakat und der Hochschule für der zweiten Generation – hergestellt auf der Basis einer angewandte Wissenschaften Hamburg und das Bioliq- breitangelegten Biomassenutzung – wachsen auf weniger Verfahren des Karlruhe Institut of Technology (KIT), als einem Viertel der Fläche. Das entspräche etwa einem Verfahren der Schnellpyrolyse von Stroh zu Pyro-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18359

Cornelia Pieper (A) lysekoks und Pyrolyseöl zu einem sogenannten „Slurry“. wie den beteiligten Partnerinstitutionen: aus dem Aache- (C) Im Choren-Verfahren wird Biomasse bei 400 bis ner Fraunhofer-Institut für Molekulare Biotechnologie 500 Grad Celsius in teerhaltiges Schwelgas und Biokoks und Angewandte Ökologie sowie dem Max-Planck-Insti- umgesetzt, in Rohgas umgewandelt und in einem Fischer- tut für Kohlenforschung in Mühlheim an der Ruhr. Das Tropsch-Reaktor mit Hilfe von Katalysatoren in flüssigen integrative Forschungsfeld „Molekulare Transforma- Kraftstoff umgewandelt. Das Verfahren von Alphakat und tion“ konzentriert sich auf die gezielte Umsetzung bioge- der HfaW Hamburg dient der direkten Verflüssigung bio- ner Substrate aus den Rohstoffströmen Cellulose, He- logischen Ausgangsmaterials und setzt auf katalytische micellulose und Lignin zu molekular definierten Reaktionsbeschleuniger, die langkettige Kohlenwasser- Komponenten eines maßgeschneiderten Kraftstoffs. stoffe in minutenschnelle, bei weniger als 400 Grad Cel- sius und ohne Umweg über den Fischer-Tropsch-Prozess Aber auch am KIT wird im Rahmen der Erweiterung aufspalten. Mit dieser Direktverflüssigung werden ener- der Schnellpyrolyseanlage gemeinsam mit dem Anlagen- getische Wirkungsgrade von rund 70 Prozent erreicht. An bauer Lurgi daran gearbeitet, den „Slurry“ in einer Raf- der Hochschule in Hamburg werden derweil Holz, Stroh finerie mit Flugstromvergaser in Methanol und anschlie- und Kunststoffrückstände aus der Automobilindustrie zu ßend in einen maßgeschneiderten Kraftstoff der dritten Kraftstoffen umgewandelt. Die erste, im industriellen Generation zu verarbeiten. Biomasse und Biokraftstoffe Maßstab nutzbare Anlage zur Katalytischen Drucklosen sind auch künftig wichtige Forschungsfelder. Wissen- Verölung hat den Betrieb am 12. April 2007 in Barrie, schaftler und Ingenieure sind in den nächsten Jahren Kanada, aufgenommen. Die Anlage ist zur Verölung von verstärkt gefragt, damit der Einsatz solcher Kraftstoffe Reststoffen aus dem Aufbereitungsprozess von Elektro- technisch verträglich und zugleich umweltschonend er- nikschrott – Kunststoffgranulat, Kabelisolierungen – möglicht wird. ausgelegt. Sie wurde nach den technischen Vorgaben des Verfahrensgebers Dr. Christian Koch von der Alphakat Das Bundesministerium für Bildung und Forschung Engineering GmbH realisiert und in Betrieb gesetzt. (BMBF) hat im Rahmen seines Förderkonzepts „Grund- lagenforschung Energie 2020+“ die energetische Nut- Auch die Forscher am KIT arbeiten am Biosprit 2.0. zung von Biomasse zu einem Schwerpunkt gemacht. Dazu Hier geht man davon aus, dass aus einer Art Rohöl aus hat das Ministerium die Förderinitiative „BioEnergie Reststoffen der Landwirtschaft der sogenannte „Slurry“ 2021 – Forschung für die Nutzung von Biomasse“ ausge- herstellt wird. Der energiereiche „Slurry“ kann direkt zu schrieben. Für diese Initiative sind 50 Millionen Euro für Bioraffinerien gebracht werden und dort zu maßge- einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren eingeplant. For- schneiderten Kraftstoffen veredelt werden. Das ermög- scherteams aus Hochschulen, außeruniversitären Ein- licht, die Pyrolyse in jedem Landkreis in Deutschland zu (B) organisieren und von dort aus den energiereichen richtungen und aus der Wirtschaft werden gemeinsam an (D) „Slurry“ an die Raffinerien im Umkreis von 250 Kilo- neuen Prozessen für die Umwandlung von Biomasse ar- meter zu transportieren. beiten, damit aus pflanzlichen und sonstigen biologischen Abfällen Kraftstoffe der sogenannten zweiten Generation Nicht zuletzt ist das „Butalco-Verfahren“ eines werden. Ziel ist es, durch ausgewählte Forschung und schweizerisch-deutschen Unternehmens zu nennen. Hier- Entwicklung bereits vorhandene Technologien zur Bio- bei werden mittels Säuren mehrere Zuckerarten aus Holz massenutzung zu optimieren, Verfahren miteinander zu herausgelöst. Diese werden dann anschließend mit spe- verknüpfen – Kaskadennutzung – und neue Verfahren zu ziell gentechnisch gezüchteten Hefen in Ethanol oder so- entwickeln, um den begrenzt verfügbaren Rohstoff Bio- gar Butanol umgesetzt. Letzterer kann sowohl Benzin als masse so effizient und nachhaltig wie möglich energetisch auch Diesel beigemischt werden. zu nutzen. Der Exzellenzcluster „Maßgeschneiderte Kraftstoffe Ein besonderes Förderangebot richtet sich an Arbeits- aus Biomasse“ an der RWTH Aachen verfolgt einen in- gruppen unter Leitung von jüngeren Wissenschaftlerin- terdisziplinären Ansatz zur Erforschung neuer, syntheti- nen und Wissenschaftlern, die langfristig angelegte For- scher Kraftstoffe auf Basis von Biomasse. Durch die schungsvorhaben mit völlig neuen Ansätzen zur Nutzung Formulierung neuer Kraftstoffe mit spezifisch zuge- von Biomasse verfolgen wollen. Die Arbeiten der BMBF- schnittenen Eigenschaften soll das Potenzial effizienter Förderinitiative werden eng verzahnt mit laufenden Akti- und sauberer Niedertemperaturbrennverfahren für Ver- vitäten in den Forschungszentren der Helmholtz-Gemein- brennungsmotoren erforscht werden. Mit dem zu erfor- schaft. Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, schenden neuen selektiven Prozess zur Umwandlung des UFZ, beschäftigt sich in Forschungsarbeiten auch mit gesamten Pflanzenmaterials – Lignocellulose – in maß- Aspekten einer agrarökonomischen- und ökologischen geschneiderte Kraftstoffkomponenten wird dieser Exzel- Betrachtung von Biomasseerzeugung. Auch mit der lenzcluster Basis sein für die dritte Generation biogener Gründung des Biomasseforschungszentrums Leipzig sol- Kraftstoffe. Diese Kraftstoffe – ganz im Gegensatz zu len künftig die Forschungskapazitäten für die Biomasse- vielen heutigen Biokraftstoffen – werden dabei nicht im Wettbewerb zur Nahrungsmittelkette stehen! forschung koordiniert werden. Forschung und Entwick- lung für die umfassende Nutzung der regenerativen Das Kompetenzzentrum Kraftstoff-Design (Fuel De- Energien ist unverzichtbar; denn die mit der Biomasse- sign Center) dokumentiert die enge Zusammenarbeit von nutzung verbundenen Spitzentechnologien eröffnen Zu- Wissenschaftlern aus der naturwissenschaftlichen Fakul- kunftschancen für den Wissenschafts- und Wirtschafts- tät und der Fakultät für Maschinenwesen der RWTH so- standort Deutschland.

Zu Protokoll gegebene Reden 18360 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Zudem konkurrieren viele Rohstoffpflanzen trotz aller Be- (C) Der Antrag der Koalitionsfraktionen nimmt eine wich- mühungen um eine Kaskaden- und Mehrfachnutzung mit tige Entwicklung zur Kenntnis: Das Ende des fossilen dem Anbau von Nahrungsmitteln. Dazu kommen Über- Zeitalters rückt näher. Davon sind nicht nur unsere Sys- schneidungen der stofflichen mit der energetischen Ver- teme der Energieerzeugung, sondern viele Wirtschafts- wertung, zum Beispiel wegen aggressiver Biospritstrate- zweige betroffen, deren Produkte sich auf die Verfügbar- gien, und ökologische Restriktionen wegen der Erhaltung keit von Öl, Gas und Kohle stützen. Unsere ganze von Fruchtfolge und Biodiversität. Das TAB geht davon Wirtschaftsordnung hat sich auf der Grundlage billiger aus, dass bei fortschreitender Umstellung auf erneuer- fossiler Ressourcen entwickelt: Sie hat über mehr als bare Energien bereits 2015 die Nachfrage das Angebot an 150 Jahre ein enormes Wirtschaftswachstum generiert, Biomasse aus Reststoffen deutlich übersteigen wird und Träume von umfassender Mobilität und anhaltender ein expansiver Anbau an Nutzpflanzen oder Import in Wohlfahrtssteigerung zumindest für die industriell entwi- großem Maßstab nötig würde. Nachwachsend heißt eben ckelten Länder dieser Erde verwirklicht. Nun ist der nicht unbegrenzt wachsend. Das Gutachten des Sachver- „Fossilismus“, wie Professor Elmar Altvater von der FU ständigenrats für Umweltfragen zeigt: Eine schlichte Berlin dieses System bezeichnete, angesichts des Klima- Substitution des Erdöls durch Biomasse ist auf nachhalti- wandels, aber auch der Preisexplosion für Rohstoffe an ger Grundlage nicht möglich. Wer heute die Pfade für ein seine Grenze angelangt. neues Rohstoffregime einschlagen will, darf nicht wieder mit Raubbau an Natur und Menschen planen. Die zu ent- Ob heute der „Peak Oil“, also der Scheitelpunkt der wickelnden Verfahren stofflicher Biomassenutzung müs- Ölförderung, schon überschritten ist oder wir kurz davor sen einem umfassenden Nachhaltigkeitsansatz genügen, stehen, wird heiß diskutiert. Einig ist sich die Wissen- der Düngemittel- und Energieeinsatz, die CO2- und Hu- schaft jedoch darin, dass die weltweiten Vorräte den stän- musbilanz genauso berücksichtigt wie Auswirkungen auf dig steigenden Rohstoffhunger der sich globalisierenden Sozial- und Ökosysteme. Der Koalitionsantrag mahnt Weltwirtschaft auf lange Frist nicht decken können. Alle dies zwar an, Konzepte sind von Ihnen jedoch dazu nicht Industriezweige, die fossile Rohstoffe benötigen, sehen zu vernehmen. sich aufgrund von unsicheren Zukunftsprognosen zur Versorgungsstabilität nach Alternativen um. Denn im Mittelpunkt der Biomassestrategie der Bun- desregierung insgesamt steht eben nicht ein umfassender Bisher führten nachwachsende Rohstoffe in der indus- Nachhaltigkeitsansatz, sondern die Ermöglichung von triellen Produktion eher das Dasein eines Mauerblüm- Wirtschaftswachstum. Dieser Antrag beweist dies wieder chens und deckten Nischen ab: Nennenswerten Umsatz einmal: Es gelte, so der Wortlaut, den Chemiestandort generieren lediglich die Produkte mit biospezifischen Deutschland durch eine Strategie „Weg vom Öl“ zu un- (B) Eigenschaften – etwa kompostierbare Müllbeutel, natür- terstützen. Wenn dies gelänge, so die Logik, dann könne (D) liche Dämmaterialien oder selbstauflösende Implantate man auf die gleiche Weise Wirtschaftswachstum generie- in der Medizin. Forscher arbeiten derzeit an Technolo- ren wie bisher. Da liegt jedoch der Denkfehler. Genau gien, die Biomasse zur weitgehenden Substitution erdöl- dies wird eben nicht möglich sein, denn die nachwachsen- basierter Basisprodukte und Grundstoffe nutzen. Viele den Ressourcen sind endlich. Die Entwicklung neuer technische Verfahren dieser Bioraffinerien sind im Sta- Konversionstechnologien kann also nur ein Teil einer dium der absoluten Grundlagenforschung – es wird Jahr- nachhaltigen Rohstoffpolitik sein, die auch die „Grenzen zehnte dauern, um sie wirtschaftlich anwenden zu kön- des Wachstums“ im Blick hat. Rohstoffeffizienz, Down- nen. Wir begrüßen daher, dass die Koalition sich dieser sizing, Dezentralisierung und Kreislaufwirtschaft müss- Basistechnologien frühzeitig annimmt und eine inte- ten zentrale Forschungsthemen sein. Dazu hat diese Ko- grierte Strategie mit dem Schwerpunkt der Grundlagen- alition keine konkrete Strategie entwickelt, auch dieser forschung erarbeiten will. Ebenso sinnvoll ist das Agie- Antrag zeigt dies wieder. Wegen der Einseitigkeit dieser ren auf europäischer Ebene im Rahmen des Aktionsplans Politik wird sich unsere Fraktion enthalten. für biobasierte Produkte. Hier erscheint besonders die geplante Normung biotechnisch erzeugter Kunststoffe Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und Chemikalien vordringlich. Angesichts der bereits spürbaren Erderwärmung und Die Regierung sollte allerdings nicht ihre Fehler aus der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen stetig laufenden Initiativen ähnlicher Art wiederholen. Anders steigender Ölpreise müssen wir unsere Abhängigkeit vom als bei den Biokraftstoffen darf diesmal Nachhaltigkeit Erdöl schnell und drastisch verringern. Wir Grünen ha- nicht erst nach dem Protest von Experten und Umweltver- ben immer schon auf die gravierenden wirtschaftlichen, bänden in den Fokus rücken. Sie muss integraler Be- ökologischen und friedenspolitischen Konsequenzen die- standteil der Technologieförderung sein. ser Abhängigkeit gewarnt. Die aktuelle Preisentwicklung auf den weltweiten Ölmärkten verleiht unserer alten For- Die Schwierigkeiten mit der Strategie zum Biosprit derung „Weg vom Erdöl“ derzeit eine völlig neue Dyna- und bei der Erarbeitung der Biomassenachhaltigkeits- mik. Dass die Große Koalition heute einen Antrag zu die- verordnung zeigen: Importe von nachwachsenden Roh- sem Thema vorlegt, ist bezeichnend. stoffen in großem Maßstab lösen unser Rohstoffproblem nicht, auch wenn im Koalitionsantrag gut meinend die Die Alternativen zum Öl sind in Form von erneuerba- Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards angemahnt ren Energien und Biomasse ja längst vorhanden. Wenn wird. Deutsche oder europäische Normen lassen sich in wir aber in allen Wirtschaftsbereichen unabhängig vom Ländern der Dritten Welt kaum sinnvoll kontrollieren. Erdöl werden wollen, dann kommt vor allem der Bio-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18361

Sylvia Kotting-Uhl (A) masse als einem universellen Energie- und Rohstoffträ- stoffindustrie – mit einbezieht und – das ist entscheidend – (C) ger eine ganz entscheidende Rolle zu. Denn nicht nur die verbindliche Zielvorgaben formuliert und dafür auch die Bereiche der Wärmeerzeugung und des Verkehrs sind be- notwendigen Instrumente benennt. Dies ist überfällig. troffen, gerade auch die Chemie- und Kunststoffindustrie Sonst werden wir noch ewig weiterforschen, Produkte auf ist massiv abhängig vom Rohstoff Öl. Wollen wir unab- der Basis nachwachsender Rohstoffe aber trotzdem nicht hängig vom Erdöl werden, müssen wir vor allem bei der in den Regalen stehen. Die Wirtschaft muss endlich auch Nutzung der Biomasse den Effizienzgedanken viel stärker für den überfälligen Rohstoffwechsel „Weg vom Erdöl“ als bisher in den Vordergrund stellen, und zwar in zwei in die Pflicht genommen werden. Richtungen: Erstens, hin zu niedrigerem Verbrauch, und zweitens, in Richtung einer effizienteren Nutzung der vor- Präsident Dr. Norbert Lammert: handenen Biomasse. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Nur im Zusammenspiel von Effizienz und Substitution Drucksache 16/9757 an die in der Tagesordnung aufge- wird eine umweltverträgliche und nachhaltige Abkehr führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu stelle ich vom Erdöl gelingen. In Form von Bioraffinerien erfolgt Einvernehmen fest. eine solche hocheffiziente Nutzung von Biomasse. Denn Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Bioraffinerien erzeugen nicht nur Rohstoffe für die che- mische und pharmazeutische Industrie, sondern auch Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Energie in Form von Bioethanol oder auch Biogas. Sie Knoche, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, sind deshalb vor allen Dingen eine Antwort auf die Frank Spieth und der Fraktion DIE LINKE Frage, wie nachwachsende – aber nicht unbegrenzt zur Cannabis zur medizinischen Behandlung frei- Verfügung stehende – Rohstoffe effizient genutzt werden geben können. – Drucksache 16/9749 – Die Bundesregierung jedoch macht für die zukunftsfä- Überweisungsvorschlag: hige Technologie der Bioraffinerie einfach viel zu wenig. Ausschuss für Gesundheit (f) Auch die von der Bundesregierung aus den Einnahmen Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Verkauf von CO2-Zertifikaten geplante Förde- rung ist letztlich nicht viel mehr als ein Tropfen auf den Die Reden der Kollegen Maria Eichhorn, Dr. Marlies heißen Stein. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen haben des- Volkmer, Sabine Bätzing, Detlef Parr, Monika Knoche halb bereits im Mai 2007 einen Antrag in den Bundestag und Dr. Harald Terpe werden zu Protokoll genommen. eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, Bio- (B) raffinerien viel stärker als bislang zu fördern, in Form Maria Eichhorn (CDU/CSU): (D) von entsprechenden Forschungsprogrammen und De- Cannabis ist keine Spaßdroge. Sie ist deutschland- und monstrationsanlagen für die überfälligen Impulse zu sor- europaweit die am weitesten verbreitete illegale Droge. gen, darüber hinaus auch für die stoffliche Nutzung von Der Konsum hat in den vergangenen 10 bis 15 Jahren Biomasse verbindliche und ehrgeizige Ziele zu formulie- stark zugenommen, Während 1993 16 Prozent der 12- bis ren und bestehende rechtliche Hemmnisse für Produkte 25-Jährigen Erfahrungen mit dem Konsum von Cannabis aus nachwachsenden Rohstoffen abzubauen. hatten, waren es 2004 schon 32 Prozent. Mittlerweile sind Auch die Große Koalition ist inzwischen offenbar zu in Deutschland etwa 600 000 vorwiegend junge Men- der Ansicht gelangt, dass die Bundesregierung in dieser schen Cannabiskonsumenten, 220 000 sind stark ab- Hinsicht zu wenig tut und hat einen eigenen Antrag vor- hängig. Die Zahl der Behandlungszugänge hat sich von gelegt. Es ist durchaus zu begrüßen, dass Sie, liebe Kol- 2 600 im Jahr 1992 auf 14 700 im Jahr 2002 mehr als leginnen und Kollegen von der Großen Koalition, in verfünffacht. Ihrem Antrag die Potenziale und Chancen der Bioraffine- Im vorliegenden Antrag fordert die Fraktion Die Linke rietechnologie grundsätzlich richtig benennen und aner- nun, die medizinische Anwendung von Cannabis zuzulas- kennen. In Ihren Forderungen aber greifen Sie aus unse- sen. Für die Zulassung eines Arzneimittels gibt es in rer Sicht viel zu kurz. Deutschland klare Regelungen. Es liegt in unserem Inte- resse als Patienten, dass Arzneimittel hierzulande nur auf Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor al- der Grundlage des Arzneimittelgesetzes und des Betäu- lem ein forschungsorientierter Antrag. Natürlich ist es bungsmittelgesetzes, BtMG, in Verkehr gebracht werden richtig und notwendig, die Forschung zu intensivieren dürfen. Danach müssen insbesondere Qualität, Wirksam- und zu vernetzen; dies ist ja auch Bestandteil unsers ei- keit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels wissenschaft- genen Antrags. Aber angesichts der drängenden Pro- lich nachgewiesen werden. Nur wenn diese Voraussetzun- bleme – die Sie ja in Ihrem Antrag selbst benennen – wird gen erfüllt sind, können die entsprechenden Wirkstoffe es nicht ausreichen, nur auf eine verstärkte Forschung zu verschreibungsfähig gemacht und in die Anlage III des setzen oder einen bereits bestehenden – und unverbindli- BtMG aufgenommen werden. chen – Aktionsplan für biobasierte Produkte der Euro- päischen Union zu unterstützen. Wir müssen vor allen Dies ist bislang aufgrund klinischer Prüfungen nur für Dingen handeln. Wir brauchen auf europäischer und die Cannabiswirkstoffe Nabilon und Dronabinol erfolgt. nationaler Ebene eine Biomassestrategie, die alle(!) Be- Dagegen sind diese Voraussetzungen bei natürlichen Ge- reiche der Biomassenutzung – Verstromung, Wärme, mischen wie zum Beispiel dem Cannabisextrakt bisher Biokraftstoffe und Nutzung in der Chemie- und Kunst- nicht erfüllt: Zum einen ist der Nutzen der Behandlung 18362 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Maria Eichhorn (A) nicht erwiesen. Zum anderen sind bei Haschisch, Mari- Dr. Marlies Volkmer (SPD): (C) huana und anderen illegalen Hanfzubereitungen derzeit Auch bei der heute zur Debatte stehenden Vorlage ha- weder der Wirkstoffgehalt noch Art und Umfang schädli- ben wir es mit einem Fall zu tun, bei dem die Fraktion Die cher Beimengungen bekannt. Dazu kommen die Risiken Linke auf einen bereits fahrenden Zug aufzuspringen ver- der Einnahme: So weisen Studien auf eine Reihe akuter sucht. Denn im Gesundheitsausschuss beraten wir bereits und langfristiger Beeinträchtigungen durch Cannabis- seit über einem Monat über einen ähnlichen Antrag der konsum hin. Diese sind bei chronischem Dauerkonsum Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Es ist sogar bereits be- mit großen gesundheitlichen Risiken bis hin zur psychi- schlossen worden, im Oktober eine Expertenanhörung schen Abhängigkeit verbunden. Dies gilt auch für die An- zur medizinischen Anwendung von Cannabis durchzufüh- wendung zu medizinischen Zwecken. ren. Die Situation von schwerkranken Patienten, bei de- nen eine Behandlung mit Cannabis eine Linderung ihrer So fand im Jahr 2005 ein Forscherteam des Institut Leiden bewirken könnte, ist nicht befriedigend. Diese Universitaire de Medicine Legale in der Schweiz heraus, Menschen setzen ihre Hoffnung auf sachgerechte Lösun- dass Cannabis schädlicher ist als bisher vermutet. Den gen in die Politik. Diese Hoffnung enttäuschen Sie mit Ih- Probanden wurde eine geringe Dosis des aktiven Be- ren Vorschlägen, denn deren Umsetzung ist – was Ihnen standteils von Cannabis delta-9-THC verabreicht, bei ei- klar sein muss – unrealistisch. nem Teil der Testpersonen löste bereits diese geringe Do- sis schwerwiegende Angststörungen und in weiterer Der Antrag fordert, dass ein Arzt eine Bescheinigung Folge Realitätsverlust, Entpersonalisierung, Schwindel über Besitz und Anbau von Cannabis für den medizini- und paranoide Angststörungen aus. Wissenschaftler der schen Eigenbedarf ausstellen können soll. Grundsätzlich Universität Amsterdam konnten durch eine neue Studie habe ich natürlich Vertrauen, dass ein Arzt eine korrekte bestätigen: Jugendliche, die Cannabis rauchen, haben Indikation zu stellen fähig und willens ist. Aber gerade ein sechsfach höheres Risiko, später härtere Drogen zu bei einem Betäubungsmittel mit einem erheblichen Sucht- konsumieren, als Jugendliche, die kein Cannabis neh- potenzial ist Skepsis angebracht. Ich frage auch: Wie men. Damit ist erwiesen: Cannabis dient als Einstiegs- wollen Sie kontrollieren, ob der Patient den Hanf nur für droge für den späteren Konsum harter Drogen. Beide Un- den Eigenbedarf anbaut oder seine Nachbarschaft mit- tersuchungen weisen auf die „vielen Unbekannten“, die versorgt? Meiner Ansicht nach birgt zudem die Freistel- lung von der Strafverfolgung einen gefährlichen Anreiz, vielen offenen Fragen in diesem Zusammenhang hin und preiswert illegale Produkte zu erwerben. Diese aber kön- empfehlen weitere wissenschaftliche Untersuchungen im nen unter Umständen erhebliche gesundheitliche Gefah- Hinblick auf den Wirkmechanismus der Inhaltsstoffe von ren bergen. Wichtiger als diese Bedenken ist jedoch, dass Cannabis. Auch nach Auffassung des Gesundheitsminis- trotz wiederholt vorgetragener Behauptungen der thera- teriums und des Bundesinstituts für Arzneimittel ist der (B) peutische Nutzen von Cannabis bis heute nicht eindeutig (D) therapeutische Nutzen der Cannabiseinnahme nicht er- wissenschaftlich nachgewiesen ist. Es gibt zwar Studien wiesen. zu bestimmten definierten und standardisierten Cannabis- Seit 2007 besteht durch ein Urteil des Bundesverfas- extrakten. Einen eindeutigen Wirksamkeitsnachweis ha- sungsgerichts die Möglichkeit, dass Patienten eine Aus- ben diese Studien jedoch nicht erbracht. Bislang werden nahmegenehmigung zur medizinischen Verwendung von Ausnahmegenehmigungen durch das Bundesinstitut für Cannabis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erteilt. Neben Medizinprodukte beantragen können. Ab 2007 wurden den beschriebenen Gefahren ist es natürlich auch dem vereinzelt Genehmigungen auf Verschreibung eines stan- fehlenden eindeutigen wissenschaftlichen Beleg der dardisierten Cannabisextraktes für ein Jahr erteilt. Zwei Wirksamkeit geschuldet, dass die Anforderungen an die Personen erhielten bisher eine Ausnahmegenehmigung. Antragsteller sehr hoch sind. Eine Person brach die Behandlung vorzeitig ab, da die Vor dem Hintergrund der hohen Hürden, die gerade aus dem Cannabisextrakt hergestellte Tropflösung keine für schwer kranke Menschen belastend sein können, kann Wirkung zeigte. Von der anderen Person liegen keine Aus- ich verstehen, dass es zum Verfahren und den Entschei- künfte vor. Ein einzelner Bericht eignet sich nach Aussage dungen der Behörde Erläuterungsbedarf gibt. Vor diesem des Bundesinstituts für Arzneimittel nicht, um Schlüsse Hintergrund gehe ich davon aus, dass dieser Aspekt in hinsichtlich des therapeutischen Nutzens von Cannabis- der Anhörung eine wichtige Rolle spielen wird. extrakten zu ziehen. Ihre zweite Forderung betrifft dronabinolhaltige Re- Der Cannabiskonsum hat heute eine andere Dimen- zepturen. Dronabinol ist ein Derivat, das aus THC-ar- sion als noch zu Flower-Power-Zeiten. Tausende junger mem Nutzhanf teilsynthetisch hergestellt wird. Es kann Menschen sind abhängig von dieser Droge. Ihr therapeu- zwar als Rezeptursubstanz in jeder Apotheke erworben tischer Nutzen ist nicht erwiesen, die Risiken der Ein- werden; die Gesetzlichen Krankenkassen ersetzen aller- nahme hingegen sind längst bekannt. dings derzeit die Kosten nicht, da entsprechende Präpa- rate über keine Zulassung verfügen. Auch an dieser Stelle Vor dem Hintergrund dieser Fakten lehnen wir den An- kommen wir zurück zu den wissenschaftlichen Belegen trag der Linken zur medizinischen Verwendung von Can- der Wirksamkeit: Natürlich steht es dem Gemeinsamen nabis ab. Stattdessen muss die Präventionsarbeit vor al- Bundesausschuss frei, über dronabinolhaltige Rezeptu- lem an Schulen und in Vereinen ausgebaut werden. Ziel ren zu beraten. Seine Entscheidung darüber, ob die Re- ist es, den Einstieg junger Menschen in die Sucht zu ver- zepturen von den Gesetzlichen Krankenkassen bezahlt hindern. werden, ist aber wiederum vom Vorliegen solider wissen-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18363

Dr. Marlies Volkmer (A) schaftlicher Studien abhängig. Ohne Beleg der Wirksam- Denn – und das ist der andere Sachverhalt – auch für (C) keit kann die Solidargemeinschaft die Kosten für keine den Gemeinsamen Bundessausschuss (G-BA) sind nur Therapie übernehmen. Die beste Lösung wäre es sicher- solide wissenschaftliche Studien relevant, wenn es um lich, wenn ein pharmazeutischer Hersteller eine Zulas- eine Entscheidung über eine Finanzierung von Arznei- sung für Dronabinol erwerben würde. Ein zugelassenes mitteln durch die Krankenkassen geht. Für mich besteht Arzneimittel könnten die Kassen ohne Probleme erstat- auch bei Cannabis als Arzneimittel kein Grund, die be- ten. Ob mit Dronabinol die gleiche Wirkung bei den Pa- währten Verfahrensweisen der Selbstverwaltung mit der tienten erreicht werden kann wie mit Cannabis, ist dabei exakten Prüfung durch den G-BA hinsichtlich einer Ent- eine ganz andere Frage. Auch an dieser Stelle ist die Stu- scheidung über die Finanzierung aus den Mitteln der ge- dienlage eher dürftig. Derzeit sieht die SPD keine Alter- setzlichen Krankenversicherung außer Kraft zu setzen. native zu den aufwändigen Einzelfallprüfungen durch das BfArM. Wir sind aber gern bereit, mit den Experten der Ideal wäre die arzneimittelrechtliche Zulassung dro- Anhörung zu diskutieren, wie die Situation der unter ei- nabinolhaltiger und/oder auf Basis standardisierter Can- nem erheblichen Leidensdruck stehenden Patientinnen nabisextrakte hergestellter Fertigarzneimittel. Wegen der und Patienten verbessert werden kann. dann nachgewiesenen Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutischen Qualität wäre eine BtM-rechtliche Sabine Bätzing (SPD): Umstufung standardisierter Cannabisextrakte auf jeden Fall zu rechtfertigen und es bestünde zudem bei diesen Niemand von uns hat Zweifel daran, dass für viele Fertigarzneimitteln ein Leistungsanspruch der Ver- Menschen Cannabis als Medizin hilfreich sein kann. Wir sicherten gegenüber der GKV auf Kostenübernahme – haben im Gesundheitsausschuss letzten Monat darüber zumindest in den zugelassenen Indikationsgebieten. ausführlich gesprochen und eine Anhörung zu diesem Thema im Herbst 2008 verabredet. Für mich zeigte diese Leider ist diese Situation derzeit nicht gegeben. Würde aktuelle Debatte ganz klar: Um die Versorgung von Be- Cannabis als Medizin von der Strafverfolgung freigestellt troffenen mit Cannabis als Medizin zu gewährleisten, oder der Eigenanbau erlaubt, dann wäre ein Missbrauch braucht es kein Gesetz, wie es der vorliegende Antrag for- nur schwer auszuschließen. Unter diesen Umständen dert. wird es deshalb dabei bleiben müssen, dass das BfArM Allerdings: Wer Cannabis als Medizin nehmen auch weiterhin sorgfältig nicht nur alle Voraussetzungen möchte, der muss wissen, dass der für die Wirkung wich- des Betäubungsmittelgesetzes für die Erteilung einer tige THC-Gehalt einer Cannabispflanze sehr stark Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2, sondern auch die schwanken kann. Ein Eigenanbau von Cannabis ist des- Unbedenklichkeit der therapeutischen Anwendung im halb aus medizinischer und pharmazeutischer Sicht nicht konkreten Einzelfall prüft. Dieses Ausnahme-Erlaubnis- (B) (D) ratsam. Er wäre für die Betroffenen mit gesundheitlichen verfahren wird vom BfArM für alle Beteiligten – Patien- Risiken verbunden. Unter Berücksichtigung individueller ten, Ärzte und Behörde – als ungleich aufwendiger einge- Gegebenheiten, besonders zur Vermeidung einer Unter- schätzt als die für therapeutische Zwecke vorgesehene oder Überdosierung, sollten vielmehr Dronabinol oder ärztliche Verschreibung eines Betäubungsmittels. Den in standardisierte Cannabisextrakte verwendet werden. der Regel unter schwerwiegenden Krankheiten leidenden Dies alles spricht also gegen einen legalisierten Eigenan- Patienten ist es kaum zuzumuten. Ich bin überzeugt, das bau für Patienten. BfArM macht das Beste aus dieser Situation und bearbei- tet die Anträge zügig. Seit Mai 2005, als das einschlägige Zu den Forderungen der Fraktion Die Linke im vorlie- Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ergangen ist, sind genden Antrag sind vor allem zwei Sachverhalte von Be- 93 Patientenanträge beim BfArM eingegangen. 10 Pa- deutung: Zum einen die wissenschaftliche Beurteilung tientenerlaubnisse wurden erteilt, 5 Erlaubnisänderungen von Cannabis als Medizin. Gebetsmühlenartig wird im- vorgenommen, 32 Anträge abgelehnt und 27 Anträge im mer wieder von „wissenschaftliche Studien“ gesprochen, Verlauf des Antragsverfahrens zurückgenommen. 19 An- die die Wirksamkeit von Cannabis als Medizin für eine träge befinden sich derzeit noch in Bearbeitung. Vielzahl von Krankheiten beweisen würden. Fakt ist aber, dass der therapeutische Nutzen von Cannabis – abgese- Unter Berücksichtigung aller vorgetragenen Aspekte hen von Dronabinol bei bestimmten Indikationsbereichen – lehne ich den vorliegenden Antrag der Fraktion Die bis heute nicht eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen Linke derzeit ab. ist, auch wenn es zahlreiche Einzelfallbeispiele gibt, in denen Verbesserungen bei bestimmten Krankheitsbildern berichtet werden. Der Bundesregierung sind zwar Stu- Detlef Parr (FDP): dien zu bestimmten definierten und standardisierten Hanf auf Rezept, legaler Hanfanbau, Entwicklung ei- Cannabisextrakten bekannt, jedoch haben auch diese ner Cannabispille durch eine Pharmafirma, das alles gibt Studien bislang keinen endgültigen Wirksamkeitsnach- es in den Niederlanden schon. 2007 eröffnete in Gronin- weis erbracht. Deshalb kommt derzeit eine Umstufung gen die erste Apotheke der Welt, die Hanf als Medizin auf von Cannabisprodukten – über Dronabinol hinaus – nicht Rezept ausgibt. Eine Firma in der Nähe von Groningen in Betracht. Ich bin allerdings daran interessiert, dass so- darf Cannabis zu diesem Zweck legal kultivieren. Und in lide und umfassende Studien durchgeführt werden, die ei- fünf Jahren soll es eine sogenannte Cannabispille geben, nen Nachweis für die Wirkung liefern, der den heute gül- die speziell bei Patienten mit Multipler Sklerose Schmer- tigen Kriterien der Evidenzbasierung bei allen zen lindern soll. Bis wir in Deutschland so weit sind, Can- Arzneimitteln entspricht. nabis zur medizinischen Behandlung zuzulassen, könnten

Zu Protokoll gegebene Reden 18364 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Detlef Parr (A) ebenfalls noch Jahre vergehen, wenn man von den bishe- gang mit der Krankheit kann dadurch um vieles erträgli- (C) rigen Entwicklungen ausgeht. cher gemacht werden. Lassen Sie mich kurz die aktuelle Lage schildern. Seit Ich möchte festhalten: Es geht hier nicht um die allge- Mai 2005 sieht ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts meine Legalisierung des Konsums oder Besitzes der vor, den Gesundheitszustand Einzelner bei einem mögli- Droge Cannabis. Das lehnen wir als FDP entschieden chen Einsatz von Cannabisextrakten als Medikament zu ab. Es geht vielmehr darum, in begründeten Einzelfällen berücksichtigen. Zuvor wurden Einzelanträge grundsätz- schwerkranken Menschen zu helfen, ihr Leben wieder le- lich abgelehnt. Die Hoffnung, dass sich diese Praxis nun benswerter zu gestalten. ändert zugunsten der Antragsteller, hat sich bis heute nur teilweise erfüllt. Die Bundesopiumstelle, die über die An- Auch in der Bevölkerung gibt es breiten Rückhalt, eine träge zu entscheiden hat, hat im August 2007 erstmalig Behandlung von Schwerkranken mit Cannabisprodukten einem Antrag einer an Multipler Sklerose erkrankten zu akzeptieren. In einer 2006 durchgeführten Umfrage Frau zugestimmt. Mit heutigem Stand wurde bei knapp des Institutes für Demoskopie in Allensbach sprachen 100 gestellten Anträgen gerade einmal zwölf Anträgen sich 77 Prozent der Deutschen dafür aus, wie auch für die stattgegeben; sechzehn befinden sich momentan noch in Übernahme dieser Kosten durch die Krankenkassen. Bearbeitung. Wir müssen den Betroffenen helfen, indem wir rechtli- Für die Betroffenen bedeutet dies, dass sich de facto che Klarheit schaffen und die ohnehin durch ihre Krank- nicht viel verändert hat. Dronabinol, der synthetisch her- heit schwer belasteten Menschen nicht noch der Strafver- gestellte Cannabiswirkstoff, ist nach wie vor so teuer, folgung wegen illegalen Drogenbesitzes aussetzen. dass sich viele Betroffene dies schlichtweg nicht leisten Diesem Weg sollten wir uns nicht verschließen. können. Von den Krankenkassen werden diese Kosten nicht übernommen. Die schwerstkranken Patienten, die Monika Knoche (DIE LINKE): sich diesen Wirkstoff auf eigene Faust besorgen, machen Es ist historisch betrachtet ausschließlich einer politi- sich damit strafbar, denn er fällt unter das Betäubungs- schen Entscheidung geschuldet, dass Cannabis in mittelgesetz; der Besitz ist verboten. Deutschland verboten ist. Waren es einstmals agrarpoli- Bereits Anfang 2004 antwortete die damalige Bundes- tische Gründe, warum die Kulturpflanze Hanf verbannt regierung auf eine Initiative der FDP-Bundestagsfrak- wurde, ist zwar heute eine Nutzung für naturstoffliche tion zum Einsatz von Cannabiswirkstoffen in Arzneimit- Produktion möglich. Der Gebrauch der psychotropen teln, dass „entsprechend der Koalitionsvereinbarungen Substanzanteile jedoch ist unter das Dogma des „Krieges die Bundesregierung seit geraumer Zeit prüft, ob neben gegen Drogen“ gefallen. Aus diesen Gründen kann in (B) Dronabinol auch natürlicher Cannabisextrakt verschrei- Deutschland nicht nach rationalen und pharmakologisch (D) bungsfähig gemacht werden kann“. Die FDP-Bundes- korrekten Kriterien über den Einsatz von Cannabis in der tagsfraktion begrüßt deshalb grundsätzlich, dass mit dem Medizin entschieden werden. Obgleich die medizinische heutigen Antrag die medizinische Verwendung von Can- Wirkung von Cannabis eindeutig positiv zu bewerten ist, nabis erneut auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Wir steht das restriktive Betäubungsmittelgesetz einer Zulas- fordern die Bundesregierung auf, endlich lang gemachte sung nach den Regeln des Arzneimittelgesetzes entgegen. Versprechungen umzusetzen. Notwendig ist eine sichere Gleichzeitig ist sogar eine analoge arzneimittelrechtliche Rechtsgrundlage, um schwerstkranke Menschen, die von Bewertung, wie sie aus Erfahrungswissen bei anderen Cannabisextrakten profitieren, nicht zu kriminalisieren. Naturheilmitteln möglich ist, in diesem Fall nicht gege- ben. Es gibt verschiedene wissenschaftliche Studien, die be- legen, dass Cannabis Leiden tatsächlich lindert. Wenn ein Aus den USA und den Niederlanden zum Beispiel sind wissenschaftlicher Nachweis über die Wirksamkeit des hinlänglich die positiven Verwendungsbereiche des Me- Arzneimittels existiert, muss auch verschrieben werden dikaments Cannabis bekannt. So kann bei Krebserkran- dürfen. Profitieren würden davon schwerstkranke Patien- kungen, Multipler Sklerose, HIV/Aids, Asthma und ande- ten verschiedener Erkrankungen. Bei Aidskranken und ren chronischen Krankheitsbildern eine beachtenswerte Krebspatienten kann durch die appetitsteigernde Wir- Symptomverbesserung und gute Begleitwirkungsverbes- kung von Cannabis der fortschreitende Gewichtsverlust serung der Ursprungskrankheit erreicht werden. gestoppt werden, bei Patienten mit Multipler Sklerose Aus diesen Erfahrungen heraus und wegen der fort- können spastische Lähmungen und Krämpfe sowie dauernden Kriminalisierung der Nutzer von Cannabis Schmerzen gelindert werden. Cannabis hilft auch bei hat es in Deutschland diverse höchstrichterliche Ent- Asthma bronchiale, Glaukom, Epilepsie, Morbus Crohn scheidungen gegeben. Sie tragen dem Gesetzgeber auf, und dem Tourette-Syndrom. eine Legalregelung zu finden für Menschen, die mit einem Fragt man die Betroffenen selbst, ist die Antwort ein- ärztlichen Attest ausgestattet aus therapeutischen Grün- deutig: Heftige Schmerzen können gelindert werden, und den Cannabis besitzen und konsumieren können sollen die chronisch Kranken erhalten wieder ein Stück Lebens- und dabei straffrei bleiben müssen. Sogar der Eigenan- qualität zurück. Sie greifen zu Cannabis, weil sie keine bau für Eigennutzung bei vorliegender ärztlicher Indika- andere Wahl haben; die Schmerzen werden sonst uner- tion muss erlaubt werden, will man nicht eine bestimmte träglich. Alle herkömmlichen Medikamente versagen und Therapie ausschließen bzw. bestimmte Erkrankte wegen bleiben wirkungslos. Wenn auch Cannabis die Schmerzen ihrer Eigenmedikation diskriminieren. Die eindeutig aus nicht nehmen kann: Linderung ist möglich, und der Um- suchtstoffpolitischen Gründen illegalisierten Stoffe blie-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18365

Monika Knoche (A) ben für den gesundheitlichen Nutzen nicht verwendbar, nehmigungen zur medizinischen Verwendung von Canna- (C) würden wir als Gesetzgeber und Gesetzgeberinnen hier bis pauschal und ungeprüft abgelehnt hatte. Erst ein nicht endlich die Weichen auf Legalisierung stellen. Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes im Mai 2005 hat zumindest diesem Treiben des Bundesinstituts für Arznei- In unserem Antrag wird über die Anliegen der anderen mittel und Medizinprodukte ein Ende gesetzt. vorliegenden Anträge hinaus bewusst gefordert, bei Vor- liegen einer ärztlichen Indikationsbescheinigung den Ei- Das Bundesgesundheitsministerium und die drogen- genanbau zum Eigenkonsum ausdrücklich straffrei zu politischen Ideologen an der Hausspitze haben jedoch stellen. Mit dieser Forderung gehen wir auf lebensprak- dafür gesorgt, dass der Versuch der Patienten, eine sol- tische Bedingungen ein und wollen vor allem erreichen, che Ausnahmegenehmigung zu erlangen, zu einem selten dass alle Wirkstoffe des Naturheilmittels Cannabis einge- erfolgreichen bürokratischen Spießrutenlauf wird, bei nommen werden können und somit dem Recht auf Selbst- dem betäubungsmittelrechtliche Fragen im Vordergrund medikation auch voll umfänglich nachgekommen wird. stehen und nicht das Wohl der Patientin oder des Patien- Im Weiteren wollen wir, dass in Form der rezeptpflichti- ten. So hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medi- gen Verordnung der Weg geöffnet wird, diesen Wirkstoff zinprodukte eine Zeitlang versucht, die Antragstellerin- als Kassenleistung zu bekommen. Denn es ist nicht weiter nen und Antragsteller mit völlig überzogenen Auflagen vertretbar, allein den teuren synthetischen Wirkstoff Dro- für die Aufbewahrung von Cannabis abzuwimmeln. nabinol auf der Basis der Selbstzahlung zur Verfügung zu Patientinnen und Patienten, die Cannabis regelmäßig stellen. In seiner Reinform, in der er nur über Apotheken aus medizinischen Gründen gebrauchen, wird die Geneh- erhältlich ist, deckt er zudem nicht alle Behandlungsbe- migung mit der zynischen Begründung, sie seien canna- darfe ab, die die chronisch Erkrankten haben. Vielen von bisabhängig, verwehrt. ihnen machen mit der vollen Substanzwirkung von Can- nabis die besseren Erfahrungen. Die Patientinnen und Patienten, die einen Antrag stel- len, müssen im Übrigen umfangreiche Unterlagen bei- Schlussfolgernd daraus sagen wir Linke, das Arznei- bringen, Nachweise, dass sie alle anderen Medikamente mittelgesetz muss geändert werden, damit eine arzneimit- bereits erfolglos ausprobiert haben, Nutzen-Risiko-Ab- telrechtliche Zulassung möglich wird. Ohne diese gesetz- schätzungen und so weiter. Für mich klingt das alles sehr liche Regelung hat das BfArM über die Zulassung nur nach ideologisch motivierter Willkür. Das politische Ziel eingeschränkte Entscheidungsmöglichkeiten. Treten wir jedenfalls ist offensichtlich: Die medizinische Verwen- also in eine fachliche und sachliche Beratung der vorlie- dung von Cannabis soll um jeden Preis verhindert wer- genden Anträge ein. Wir wollen dies im Gesundheitsaus- den. Fragen wir also vor diesem Hintergrund ganz kon- schuss tun, weil es sich ausschließlich um eine gesund- kret: Welche andere Möglichkeit, als sich Cannabis auf (B) heitliche Frage handelt und weil es an der Zeit ist, dem Schwarzmarkt zu besorgen, haben zum Beispiel (D) Cannabis in der Medizin zu entdämonisieren. Schmerzpatienten, denen Cannabis hilft, nicht aber Dro- nabinol, das zudem vielleicht für sie nicht erschwinglich ist? Antwort: Keine. Das Bundesgesundheitsministerium Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zwingt diese Menschen faktisch, sich Cannabis auf dem Es ist wichtig, wenn der Gesellschaft von Zeit zu Zeit illegalen Markt zu besorgen, weil sie es auf anderem ein Spiegel vorgehalten wird. Das Thema Cannabis in der Wege nicht bekommen können. Die Folge ist, dass diese Medizin ist eine gute Gelegenheit, über den Stellenwert Menschen kriminalisiert und manchmal auch verhaftet des Menschen in der Gesundheitspolitik und in der Medi- werden und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz bekommen. zin zu diskutieren. Die Bundesregierung hat diesen Menschen bislang Es gibt Menschen in unserer Gesellschaft, die Canna- nichts anzubieten außer der gebetsmühlenartigen Leier, bis als Medizin gebrauchen, weil ihnen die herkömmli- dass Cannabis abhängig mache und gefährlich sei und es chen Medikamente nicht helfen können. Sie leiden unter noch keine ausreichenden Nachweise der Wirksamkeit schweren Schmerzen, epileptischen Anfällen oder Mul- gebe, zuletzt wiederholt von der Parlamentarischen tipler Sklerose. Cannabis verschafft ihnen Linderung. Mit Staatssekretärin Frau Caspers-Merk. Angesichts von in- Dronabinol existiert ein Arzneimittel, das zumindest ei- dividuellem Leid und umfangreichen Erfahrungen von nem Teil der Patientinnen und Patienten helfen kann. Das Ärzten und Patienten über die Wirksamkeit klingt das Problem: Eine Monatsdosis kostet zwischen 300 und seltsam herzlos. Der derzeitige Umgang mit diesen Pa- 600 Euro. Die Kosten dafür werden durch die gesetzli- tientinnen und Patienten wirft auch grundsätzliche medi- chen Kassen in der Regel nicht übernommen, weil Dro- zinethische Fragen auf: Können wir diesen Menschen ein nabinol arzneimittelrechtlich nicht zugelassen ist. Daher Medikament verweigern, nur weil die Gefahr besteht, ist dieses Medikament für die meisten Betroffenen dass es sie vielleicht abhängig macht? Bei Morphin oder unerschwinglich. Seit 2001 blockiert das Bundesgesund- anderen etablierten schmerzlindernden Präparaten spielt heitsministerium mit Ministerin Schmidt und der Parla- dieser Einwand offensichtlich keine Rolle. mentarischen Staatssekretärin Caspers-Merk eine am Menschen orientierte Lösung. Sie haben die noch unter Haben wir das Recht, von diesen Patientinnen und Pa- Andrea Fischer und der Drogenbeauftragten Christa tienten zu verlangen, dass sie zunächst alle anderen in- Nickels in Auftrag gegebene Rezepturvorschrift für einen frage kommenden Medikamente ausprobieren, um am Cannabisextrakt unter den Tisch fallen lassen. Sie sind Ende festzustellen, dass nur Cannabis ihnen helfen kann? dafür verantwortlich, dass das Bundesinstitut für Arznei- Ich halte es medizinethisch jedenfalls nicht für vertretbar, mittel und Medizinprodukte seinerzeit alle Ausnahmege- wenn an diesen Menschen aus ideologischen Gründen

Zu Protokoll gegebene Reden 18366 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Harald Terpe (A) herumgedoktert wird. Die Position, die medizinische Ver- gelungen, dem Schutz der biologischen Vielfalt, die die (C) wendung von Cannabis zu ermöglichen, ist übrigens bei- Lebensgrundlage für die gesamte Menschheit ist, den ihm leibe keine Außenseitermeinung spinnerter Grüner oder gebührenden Stellenwert in der Öffentlichkeit zu geben. Linker. Einer Befragung des Allensbacher Instituts für Insbesondere begrüße ich die Zusage der Bundeskanzle- Demoskopie zufolge sprechen sich nämlich 77 Prozent rin, in den Jahren 2009 bis 2012 einen zusätzlichen Bei- der Deutschen dafür aus, die Behandlung von Schwer- trag von 500 Millionen Euro für den globalen Schutz von kranken mit natürlichen Cannabisprodukten zuzulassen. Wäldern und bedrohten Ökosystemen bereitzustellen. Deutschland wird für diese Aufgabe ab 2013 dauerhaft Wir haben in unserem eigenen Antrag einen praktikab- eine halbe Milliarde Euro jährlich aufwenden. Das ist ein len Vorschlag für eine am Menschen orientierte Lösung klares Signal für unser ernst gemeintes Engagement, im gemacht. Die Linken haben diesen Vorschlag dankens- Artenschutz endlich eine Trendwende zu vollziehen. Mit werterweise durch ihren Antrag unterstützt. Wir wollen diesen Mitteln können wir im Rahmen unserer interna- mit diesem Vorschlag erreichen, dass für die Patientinnen tionalen Entwicklungszusammenarbeit wesentlich zum und Patienten eine legale Möglichkeit geschaffen wird, Erhalt der Wälder und Schutzgebiete beitragen. Das ist Cannabis zu therapeutischen Zwecken zu nutzen. Wer wichtig und richtig, denn sie sind für den Erhalt unseres Cannabis aus medizinischen Gründen benötigt, soll es Klimas und des ökologischen Gleichgewichts und als ohne Angst vor Strafverfolgung besitzen und anbauen Quelle für wichtige Forschungsvorhaben von zentraler dürfen. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen einer Bedeutung. ärztlichen Empfehlung anhand einer klaren Indikations- liste. Es gibt eine Vielzahl medizinischer Studien und Ich hoffe natürlich, dass dieser wichtige Vorstoß von Fallstudien, die belegen, dass Cannabis und Dronabinol deutscher Seite auch andere dazu bewegt, ihre Finanzzu- zum Beispiel bei Parkinson, starken Schmerzen, Tourette- sagen für den internationalen Naturschutz auszuweiten. Syndrom, spastischen Anfällen und Alzheimer helfen kön- Jeder zusätzliche Beitrag wird hierbei hilfreich und eine nen. Im Oktober wird sich der Gesundheitsausschuss in Investition in unsere gemeinsame Zukunft sein. Die Men- einer Anhörung dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen schen werden jedoch auch weiterhin gerade von Deutsch- und dem Antrag der Linken widmen. Ich hoffe sehr, dass land eine besondere Verantwortung und Führungsrolle es dann endlich eine praktikable und humane Lösung ge- bei den internationalen Verhandlungen erwarten, und vor ben wird, die zeigt, dass der Mensch das Maß der Dinge allem auch darauf achten, wie unsere Zusagen und Ver- in der Gesundheitspolitik ist. abredungen tatsächlich umgesetzt werden. In Bonn haben wir uns ein verbindliches Verhandlungsmandat erteilt, Präsident Dr. Norbert Lammert: den Arten- und Ökosystemschutz weltweit entscheidend Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf voranzubringen. Für unser großes Ziel, bis 2010 eine (B) Drucksache 16/9749 an die in der Tagesordnung aufge- deutliche Reduzierung des Artenverlustes zu erreichen, (D) führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch hierzu stelle bleiben uns nur noch zwei Jahre. Das heißt, wir müssen ich Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen. dort, wo es am dringendsten ist, schnellstmöglich eingrei- fen, damit unwiederbringliche Schätze der Natur nicht Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: für immer verloren gehen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Das trifft auch und insbesondere für den Nationalpark Dr. Christian Ruck, Anette Hübinger, Dr. Wolf Yasuní in Ecuador zu, der in der nordwestlichen Amazo- Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion nas-Region liegt. Er gehört aufgrund seiner einzigartigen der CDU/CSU und der Abgeordneten Dr. Sascha Artenvielfalt zum Weltnaturschutzerbe. 1989 wurde er Raabe, Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß, von der UNESCO ins Biosphärenschutzprogramm aufge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD nommen. Für Ecuador sind aber die reichen Erdölvor- sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Undine kommen im Amazonas-Gebiet überaus bedeutsam. Deren Kurth (Quedlinburg), Thilo Hoppe, weiterer Ab- Förderung bedroht die reich vorhandene Biodiversität. geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Auch auf dem Gebiet des Nationalpark Yasuní befinden GRÜNEN sich große Ölfelder. Der Förderblock mit dem Namen Vorschlag Ecuadors für den globalen Klima- Ishpingo-Tambococha-Tiputini liegt fast zur Gänze auf und Biodiversitätsschutz prüfen und weiter- dem Gebiet des Yasuní-Parks. Eine Erschließung dieses entwickeln – Schutz des Yasuní-Nationalparks Ölfeldes würde unweigerlich zum Verlust dieses gesamten durch Kompensationszahlungen für entgan- Ökosystems führen, den Lebensraum vieler einzigartiger gene Einnahmen erreichen Tierarten und vor allem aber den Lebensraum ursprüng- licher indigener Völker vernichten. Wenn wir also dieses – Drucksache 16/9758 – Gebiet schützen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass Die Reden der Kollegen Anette Hübinger, Dr. Sascha die Ölförderung in diesem Gebiet nicht begonnen wird. Raabe, Angelika Brunkhorst, Monika Knoche und Ute Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass Ecuador nach Koczy werden zu Protokoll genommen. Wegen sucht und Vorschläge unterbreitet, dieses Gebiet trotz seiner reichen Erdölvorkommen zugunsten seiner Anette Hübinger (CDU/CSU): biologischen Artenvielfalt zu bewahren. Deshalb möch- Vor ein paar Wochen hat in Bonn die 9. Vertragsstaa- ten wir diese Initiative mit unserem gemeinsamen Antrag tenkonferenz zur biologischen Vielfalt stattgefunden. Der unterstützen. Ecuador schlägt vor, dass die Hälfte der zu Bundesregierung als Gastgeber dieser Konferenz ist es erwartenden Einnahmeausfälle aus der Ölförderung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18367

Anette Hübinger (A) durch internationale Geber als deren Beitrag zum Erhalt trages sind daher sowohl unsere Anerkennung gegenüber (C) des weltweit einmaligen Ökosystems Yasuní kompensiert Ecuador für die Suche nach neuen, besseren Lösungsan- werden sollen. Diesen Vorschlag unterstützen wir zum sätzen als auch das Wissen um unsere Verantwortung für Teil. den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlage und Wahrung der Schöpfung. Gerade für Ecuador spielen Einnahmen aus der Ölför- derung für sein Wirtschaftswachstum eine entscheidende Ich bin der Ansicht, dass wir uns darin alle einig sind Rolle. Investitionen in wirtschaftliche Strukturen, bil- und freue mich daher, dass es uns gelungen ist, mit den dungs- und sozialpolitische Maßnahmen werden zum Grünen zusammen diese Initiative auf den Weg zu brin- großen Teil durch Einnahmen aus dem Ölgeschäft finan- gen. ziert. So ist es verständlich, dass ein Verzicht auf mögli- che Einnahmen, ohne dadurch die Entwicklung zu brem- Dr. Sascha Raabe (SPD): sen, Ecuador vor große Herausforderungen stellt, die es Über ein Jahr ist es nun her, genauer gesagt am 5. Juni nicht alleine bewältigen kann. Die vorgeschlagene Kom- 2007, da wurde der entwicklungspolitisch und ökologisch pensation entgangener Einnahmen erscheint für dieses revolutionäre Vorschlag des damaligen ecuadoriani- spezielle Gebiet des Yasuní-Parkes als geeignet. Wir müs- schen Energieministers, Alberto Acosta, auf die Erdölför- sen aber klar herausstellen, dass eine solche Lösung im- derung im Yasuní-Nationalpark zu verzichten, falls die in- mer nur ein Einzelprojekt sein kann. Wenn wir erfolgreich ternationale Gemeinschaft die Hälfte der zu erwartenden beim nachhaltigen Schutz von Biodiversität sein wollen, Einnahmen kompensiert, durch den Beschluss des ITT- müssen wir nach weitaus umfassenderen Ansätzen su- Projektes ins Leben gerufen. Dieses eine Jahr hätte die chen. internationale Weltgemeinschaft fast verschlafen, um ge- Unser Vorschlag ist daher, zunächst noch genauere meinsam nach einer Lösung zur Rettung dieses einmali- Studien über die derzeitige Situation und über mögliche gen Naturreservats zu streben. Mit unserem heutigen An- Finanzierungsalternativen zu erstellen. Dabei ist uns trag möchten wir unseren Beitrag leisten, damit das ITT- wichtig, in erster Linie nach Finanzierungsoptionen für Gebiet im Yasuní-Nationalpark durch den Verzicht auf die Erhaltung des Schutzgebietes zu suchen. Dabei muss Erdölförderung geschützt bleibt. der Ausfall der Erdöleinnahmen angemessen berücksich- Der Öl-Block ITT, der seine Abkürzung den indiani- tigt werden, kann aber nicht der Ausgangspunkt unserer schen Namen Ishpingo und Tambuccocha sowie dem Überlegungen sein. Entscheidend für den Erfolg wird Fluss Tibutini verdankt, beinhaltet knapp ein Fünftel der sein, Regelungen und Mechanismen zu finden, die auch Ölreserven Ecuadors unter der Erde. Oberhalb, und das politischen Veränderungen gegenüber standhalten kön- ist die eigentliche Besonderheit, beheimatet der National- nen. Mit dem gefundenen Konsens wollen wir dann ge- (B) park ein einmaliges Biosphärenreservat. Über 200 Säu- (D) meinsam mit unseren anderen Partnern in der EU und getierarten leben im Yasuní-Park, darunter der vom Aus- OECD für eine multilaterale Lösung und entsprechende sterben bedrohte rote Flussdelphin und der Tapir. Auf politische und finanzielle Initiativen werben. einem Hektar Land findet sich fast die gleiche Anzahl an Anhand des gefundenen Finanzierungs- und Vertei- Baumarten wie in gesamt Nordamerika, und auf einem lungsmechanismus werden wir prüfen, ob die gewonne- Baum sind mehr Käferarten beheimatet als in ganz nen Erkenntnisse auch für den Schutz vergleichbarer sen- Europa. Darüber hinaus leben in diesem nordöstlichen sibler Ökosysteme in anderen Entwicklungsländern Gebiet des Nationalparks indigene Stämme, sogenannte dienen können. Ich betone aber noch einmal: Es kann uns „verborgene Völker“, die bisher noch keinen Kontakt zur nur darum gehen, singuläre Fondslösungen höchstens als Außenwelt hatten. Diese Menschen und die einzigartige Überbrückungslösung zu betrachten. Auf Dauer müssen Artenvielfalt gilt es zu schützen. wir es schaffen, internationale marktkonforme Regime zu Im Februar dieses Jahres konnte ich mich mit einer etablieren. AWZ-Delegation vor Ort von der Einmaligkeit dieses Na- Dieser Vorschlag Ecuadors und das, was wir daraus turgebietes überzeugen. Leider jedoch wurde uns auch entwickeln, wird eine große Signalwirkung für den Um- vor Augen geführt, wie rücksichtslos und unverantwort- gang mit unseren natürlichen Ressourcen haben. Ich be- lich in den Gebieten des Nationalparks die Ölförderung grüße ausdrücklich, dass Ecuador diesen Vorschlag un- betrieben wird. Unzählige brachliegende und ungesi- terbreitet hat, denn es zeigt, dass auch unsere cherte Öltümpel befinden sich in dem von Ölkonzernen Partnerländer den Wert der Biodiversität anerkennen ausgebeuteten Teil des Yasuní. Dabei sickert das Öl un- und nach Lösungen suchen, um den Schutz der Biodiver- geschützt zurück ins Erdreich, verschmutzt das Trinkwas- sität mit nachhaltigem Bewirtschaften in Einklang zu ser von Mensch und Tier und zerstört damit unwiderruf- bringen. lich ein Stück Natur. Diese neue Herangehensweise hat weltweit für viel Das zentrale Problem der Ölförderung im gesamten Aufsehen gesorgt. Für uns wird es daher wichtig sein, Amazonasgebiet ist jedoch in den dezentralen Ölförder- dass wir als Geber, aber auch als Verbraucher und stationen zu sehen. Man muss sich das einmal vorstellen: Hauptverursacher des Klimawandels und des Verlustes Durch den gesamten Urwald schlängeln sich oberirdisch unser biologischen Ökosysteme unserer Verantwortung kilometerweit ungeschützte kleine Zuleitungsrohre, die gerecht werden. Wir können und müssen ein deutliches irgendwo auf die Hauptpipeline treffen. Für alle diese Zu- Zeichen setzen, indem wir uns an den Schutzmaßnahmen leitungsrohre werden Wege und Erschließungsstraßen in unserer Partner beteiligen. Kernbotschaften unseres An- den Urwald geschlagen. An diesen Erschließungsstraßen

Zu Protokoll gegebene Reden 18368 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Sascha Raabe (A) siedeln sich dann wiederum Menschen an, die die Rodung vergleichen. Hingegen gibt es durchaus Parallelen zur Si- (C) des wertvollen Baumbestandes weiter fortführen. Die lo- tuation in Indonesien, wo der verbleibende Regenwald kale indigene Bevölkerung wird zwangsläufig aus ihrem auch durch Kompensationszahlungen für die Nichtum- ursprünglichen Lebensraum verdrängt. Eine technisch wandlung in Ölpalmplantagen geschützt werden sollte. saubere Lösung der Ölförderung ist somit gar nicht mög- lich. Vergleicht man dazu den Zustand der jetzt schon er- Ecuador ist bereit, über 13 Jahre auf die jährlichen schlossenen Gebiete am Amazonas, dann wird jedem Einnahmen durch die Erdölförderung von circa 700 Mil- schnell klar, dass durch die infrastrukturelle Er- lionen US-Dollar zu verzichten, wenn wir als Weltge- schließung dieses Gebietes die Schäden für den Yasuní- meinschaft die Hälfte, also rund 350 Millionen US-Dol- Nationalpark unumkehrbar sind. Viele Leckagen und lar, dieses Einnahmeausfalls tragen würden. Wie diese mangelndes Umweltbewusstsein, verbunden mit Unzu- Gelder Ecuador zur Verfügung gestellt werden, ist noch verlässigkeiten, führen zu einer schleichenden Vergiftung unklar. Es liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch. des Amazonas. Ölförderung am Amazonas ist unwider- Die Kompensationszahlungen könnten demnach durch ruflich mit der Zerstörung der Natur und damit des Le- Schuldenerlasse, Beiträge von Staaten oder in Rahmen bensraums von Mensch und Tier verbunden. einer Fonds-Einzahlung geleistet werden. Dabei wird auch darauf zu achten sein, dass der Fonds gegebenen- Dass dieses Naturreservat schützenswert ist und die falls auch mit Landtiteln so abgesichert wird, dass auch ecuadorianische Regierung ernsthaft am Erhalt dieses in Zukunft eine Förderung des Öls in diesem Gebiet durch Gebietes interessiert ist, hat sie im Januar durch die Ein- eine andere Regierung ausgeschlossen werden kann. Wel- richtung eines ITT-Sekretariates und der Berufung eines cher Weg auch gegangen wird: Wir erwarten von der ITT-Sonderbeauftragten auch institutionell zum Aus- Bundesregierung, dass sie sich, nach Findung eines soli- druck gebracht. Man muss der Regierung Ecuadors da- den und gerechten Finanzierungsmechanismus, gemein- her ein großes Kompliment machen. Der ITT-Block, der sam mit anderen Gebern an den Zahlungen finanziell be- fast vollständig auf dem Gebiet des Nationalparks liegt, teiligt. Ich ermutige die Bundesregierung daher, auch fasst nachweislich mindestens 412 Millionen Barrel Öl. weiterhin der Regierung Ecuadors bei der Erarbeitung Dass Ecuador auf die Hälfte der Erlöse aus den Erdöl- konkreter Vorschläge zur Einrichtung eines Kompensa- vorräten verzichten will, das sind Schätzungen zufolge tionsfonds mit all ihrem Erfahrungsschatz zur Seite zu immerhin rund 4,5 Milliarden US-Dollar, ist daher keine stehen und sie bei der Einbindung anderer bi- und multi- Selbstverständlichkeit. Nicht unerwähnt lassen möchte lateraler Geber zu unterstützen. ich in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung, allen voran Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Sicherlich geht es bei dem Projekt auch um viel Geld. Wieczorek-Zeul, auch die Chance, die dieses Projekt in Um die Kosten auf möglichst viele Schultern zu verteilen, (B) sich trägt, erkannt hat. Schon seit längerem stellt daher wäre es daher wichtig und notwendig, dass die Bundesre- (D) das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenar- gierung auf das ITT-Projekt innerhalb der EU und OECD beit und Entwicklung zur Erarbeitung von Lösungsmög- sowie gegenüber vielen Partnerregierungen positiv auf- lichkeiten für noch offene Fragen Hilfe und Mittel für den merksam macht, damit möglichst viele Geber ins Finan- Einsatz von Experten bereit. zierungsboot mit einsteigen. Deutschland sollte, ähnlich wie bei dem 1992 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Einen Punkt möchte ich in dieser Diskussion nicht un- Kohl ins Leben gerufenen PPG7-Projekt zum Schutz des erwähnt lassen: Entwicklungsländer haben, wie es an- Amazonasregenwaldes in Brasilien, die politische Füh- dere Staaten auch schon immer eingefordert haben, ein rungsrolle des ITT-Projektes übernehmen und insbeson- Recht auf die Nutzung eigener Bodenschätze. Gleichzei- dere die EU-Mitgliedstaaten zum Mitmachen bewegen. tig sind sie aber auch der internationalen Staatengemein- Für Ecuador wie auch für die EU-Mitgliedstaaten und schaft gegenüber verpflichtet, diese Schätze so schonend andere Geberstaaten wird wichtig sein, dass es einen An- wie möglich zu nutzen, damit sie als globales, öffentliches sprechpartner bzw. einen Sprecher für die Moderation Gut nicht vernichtet werden. Dieses Bewusstsein war frü- und Koordination des Projektes gibt. Ich könnte mir her nicht vorhanden. Nun hat die neue Regierung unter Deutschland gut in dieser Rolle vorstellen. dem für Umweltschutz stark engagierten Präsidenten Correa entschieden, neue Wege zu beschreiten. Eine ein- Natürlich sind die Einnahmeausfälle unter ökonomi- malige Chance für die Natur, aber auch für uns als Welt- schen Gesichtspunkten insbesondere ein Verlust für die gemeinschaft, zu zeigen, dass wir nicht die Augen ver- dort lebende Bevölkerung. Mit einem Pro-Kopf-Einkom- schließen, sondern uns gemeinsam um den Erhalt und men von 3 270 US-Dollar zählt Ecuador zu den ärmeren damit um die Zukunft unseres Planeten sorgen. Wenn wir Staaten Lateinamerikas. Mit über 20 Prozent ist der Erd- nicht jetzt anfangen, den Yasuní-Nationalpark zu schüt- ölsektor immer noch der dominierende Sektor der ecua- zen, wird es schon bald zu spät sein. Das sollten all jene dorianischen Wirtschaft. Daher müssen wir den Men- bedenken, die immer noch eher die Bedenken als die schen bei der Suche nach alternativen Einnahmequellen Chancen des Projekts sehen. Den Kritikern und Skepti- unsere Hilfe anbieten. Diese kann nur im Verbund mit ei- kern sei auch gesagt, dass in diesem Zusammenhang die ner nachhaltigen Sicherung des Yasuní erfolgen und er- Forderungen Saudi-Arabiens als völlig abwegig zu sehen fordert daher unsere besondere Aufmerksamkeit. Vor al- sind, ebenfalls Kompensationszahlungen erhalten zu wol- lem wollen wir gemeinsam mit der ecuadorianischen len, sollten sie ihr Öl nicht fördern. Das ist Quatsch. Das Regierung, dass die Kompensationsmittel insbesondere ITT-Projekt steht für den Erhalt einer einmaligen Arten- der lokalen Bevölkerung in und um das Yasuní-Gebiet vielfalt und ist mit dem Gebiet einer Sandwüste nicht zu und dem Schutz der dortigen Natur zugutekommen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18369

Dr. Sascha Raabe (A) Um all diese ambitionierten Vorhaben zu realisieren Indem Ecuador darauf verzichtet, den Regenwald ab- (C) und damit dieses einzigartige UNESCO-Weltnaturschutz- zuholzen und das Erdöl zu fördern, werden die biologi- erbe zu erhalten, benötigen wir Zeit. Es ist daher funda- sche Vielfalt und die grüne Lunge der Erde geschützt, mental, dass die Bundesregierung die Regierung aber auch Treibhausgasemissionen vermieden. Von der Ecuadors um Aufschub der gesetzten Frist bis zum Ende Sauerstoffproduktion und der biologischen Vielfalt des des Jahres 2008 bittet. Diese Zeit sollte genutzt werden, Urwalds profitiert die ganze Welt. Wenn wir lebensfähige um eine wissenschaftliche Prüfung der vorliegenden Vor- Populationen von wild lebenden Tier- und Pflanzenarten schläge als Entscheidungsgrundlage zu haben. Und ich in ihren natürlichen Biotopen – in situ – erhalten wollen, bin zuversichtlich, dass dies auch gelingen wird. Auf der dann müssen wir ihre Lebensräume schützen. Dazu ist es Lateinamerikareise konnte ich Frau Merkel vor den Ge- einerseits wichtig, den ökonomischen Nutzen der biologi- sprächen mit dem ecuadorianischen Präsidenten Correa schen Vielfalt gerade für Schwellen- und Entwicklungs- die Vorteile und Wichtigkeit des Projektes erläutern, und länder herauszustellen, um deren Interesse am Schutz der sie hat ihm bereits grundsätzlich wohlwollende Unter- Biodiversität auch wirtschaftlich zu motivieren. Wir stützung zugesagt. brauchen zudem Schutzgebiete. Wir können aber nicht er- warten, dass die mit einer reichen Artenvielfalt gesegne- Nur wenn das ITT-Projekt vorangebracht wird, hat ten, aber wirtschaftlich vergleichsweise armen Länder dieses Biosphärenreservat mit seinen dort lebenden indi- ohne Gegenleistung auf wirtschaftliche Entfaltungsmög- genen Völkern, Tieren und Pflanzen eine Chance zu über- lichkeiten verzichten. Die Einrichtung von speziellen leben. Wir müssen diese Chance mit all unserem Willen, Fonds zur Sicherung der Gebiete ist eine Möglichkeit. Ernsthaftigkeit und politischer Verantwortung nutzen. Wenn wir nicht jetzt handeln, wird es in wenigen Jahren In diese Richtung geht der Vorschlag Ecuadors. Er schon zu spät sein. Dann werden der rote Flussdelphin, sollte daher wohlwollend geprüft werden. Dabei gilt es der Tapir und viele Käferarten nur noch Legende sein. insbesondere sicherzustellen, dass der Wert des ITT-Ge- Viele Pflanzen- und Tierarten, die wir noch gar nicht ken- biets und das darunter lagernde Ölvorkommen wissen- nen und die für die Heilung vieler Krankheiten in Zukunft schaftlich valide berechnet und entsprechend angesetzt eine große Rolle spielen können, würden unwiderruflich wird. Unnötiger Zeitdruck darf nicht dazu führen, dass vernichtet werden. Ich bitte Sie daher: Stimmen Sie die- ins Blaue hinein Versprechungen gemacht werden. Fi- sem Antrag zu, damit wir als Weltgemeinschaft beweisen nanzmittel dürfen nur konditioniert zur Verfügung gestellt können, dass wir der Verantwortung für unseren Planeten werden, um sicherzugehen, dass das Öl tatsächlich nicht und unsere nachfolgenden Generationen gerecht werden gefördert wird und die Natur erhalten bleibt. Das mit dem wollen. Vorschlag dem Grunde nach verbundene „Erpressungs- potenzial“ muss bei der Ausgestaltung im Auge behalten werden; sonst riskieren wir, dass ein Präzedenzfall mit (B) Angelika Brunkhorst (FDP): negativer Ausstrahlung geschaffen wird. Der Vorschlag (D) Anfang März 2008 hat der ehemalige Außenminister kann andererseits gleichwohl ein wichtiges Pilotprojekt Ecuadors, Francisco Carrión Mena, in Berlin gegenüber sein. Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein Angebot Klar ist aber auch: Deutschlands Beitrag kann gege- Ecuadors an die internationale Gemeinschaft vorgestellt. benenfalls nur ein Baustein in einem Gesamtkonzept sein. Das Angebot betrifft den Yasuní-Nationalpark, ein Wichtig ist, dass dabei flankierend auf der G-8-Ebene für UNESCO-Biosphärenreservat in Ecuador, im Ishpingo- den Klimaschutz Waldnutzungsprojekte einbezogen und Tambococha-Tiputini-Gebiet, ITT. Unter diesem Gebiet CO -Minderungsziele nicht nur in langfristiger, sondern lagert Öl. Man rechnet mit rund 900 Millionen Barrel. 2 auch in mittelfristiger Perspektive vorgesehen werden. Das wäre ein Fünftel der ecuadorianischen Ölreserven.

Der Vorschlag klingt bestechend: Wir erhalten den Re- Monika Knoche (DIE LINKE): genwald und beuten das Ölvorkommen nicht aus. Als Ge- Zwar ist aus der Sache heraus schwer nachvollziehbar, genleistung dafür erhalten wir von euch 13 Jahre lang je- warum Sie die Unterstützung der Linken für diesen über- weils die Hälfte des theoretischen Nettogewinns, auf den fraktionellen Antrag ausschlagen, dennoch wird das ver- wir verzichten, weil wir das Ölfeld nicht ausbeuten. Aus- tretene Anliegen von uns auch ganz eigenständig unter- gehend von einem Nettogewinn von 700 Millionen US- stützt. Dollar pro Jahr wären das jährlich 350 Millionen US- Dollar. Große, neue politische Prozesse gehen in Lateiname- rika vonstatten, die wir Linke sehr begrüßen. Dabei sehen Das ITT ist ein Biodiversitäts-Hotspot. Es ist allein wir neben den ökologischen Anstrengungen Boliviens die nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen Le- Verstaatlichungsprozesse in Venezuela, die beide in der bensraum für mehr als 630 Vogelarten, über 540 Fisch- breiten Bevölkerung Unterstützung dafür bekommen, arten und unzählige seltene Pflanzen. Auf einem Hektar endlich die desaströsen Folgen des Neoliberalismus zu des Yasuní-Nationalparks wurden 664 verschiedene überwinden. Bolivien zeichnet sich derzeit durch einen Baumarten identifiziert. Hier findet man auf einem Hek- Verfassungsprozess aus, in dem die Mutter Erde als tar so viele verschieden Arten wie in den gesamten Verei- Synonym für ökologisch soziale Politik einen Verfas- nigten Staaten von Amerika und Kanada zusammen. Im sungsrang erhalten soll. Und nun – das kann ich nur mit ITT leben zudem indigene Völker, die keinen Kontakt zur Begeisterung aufnehmen – ist die neue Regierung in Außenwelt haben und unter dem Schutz der UNO stehen. Ecuador daran, eine historische Zäsur zu vollziehen, was Dies allein ist Grund genug dafür, dieses Gebiet zu schüt- den Umgang mit fossilen Ressourcen angeht. Noch nir- zen. gendwo ist in solch emanzipatorischer und verantwor-

Zu Protokoll gegebene Reden 18370 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Monika Knoche (A) tungsvoller Weise vonseiten einer Regierung auf den konnte sich eine Delegation des Ausschusses davon über- (C) künftigen Umgang mit Bodenschätzen reagiert worden zeugen, dass es sich lohnt, diese Aufforderung ernsthaft wie hier. zu prüfen. Im Jahr 2007 überraschte die Regierung unter Präsi- Lasst das Öl im Boden, rettet den Amazonas – mit die- dent Correa die Weltöffentlichkeit mit einem völlig neuar- sem fast ein Jahr alten Vorschlag, damals noch von tigen Politikkonzept. Die Erdöllagerstätten, die im Gebiet Alberto Acosta vorgetragen und dann vom Präsidenten vom Nationalpark Yasuní – ihr Name lautet Ishpingo- Rafael Correa übernommen, soll ein riesiges Ölfeld im Tambococha-Tibutini – liegen, sollen nicht ausgebeutet Yasuní-Biosphärenreservat vor der Förderung bewahrt werden. Das Ziel ist, den Naturschutz, den Ressourcen- werden. Der entgangene Gewinn soll durch internatio- schutz mit den Fragen des Klimawandels aufgrund von nale Kompensationszahlungen teilweise gegenfinanziert CO2-Überfrachtung zu verbinden und insbesondere der werden. Wäre es irgendein Ölfeld, so wäre der Vorschlag indigenen Bevölkerung im Dschungel nachhaltig ihren vermutlich nicht auf die positive Resonanz gestoßen, die Lebensraum und damit ihre Kultur zu garantieren. Hat er seitdem bekommen hat. Es ist aber nicht irgendein be- man sonst bezüglich des Ressourcenreichtums in Ent- liebiges Ölfeld, sondern es liegt mitten in der grünen wicklungsländern auch gerne die Formel vom Ressour- Lunge Amerikas, im Amazonas. Das sogenannte ITT-Öl- cenfluch angewandt, um die katastrophalen Folgen der feld ist ein Teil des etwa 1 Million Hektar großen Natio- Ausbeutung zu beschreiben, so zeigt sich in diesem Vor- nalparks Yasuní. Der Nationalpark ist ein wahrer Bio- schlag der Regierung Correas eine hochverantwortungs- diversitäts-Hotspot: Auf einem Hektar gibt es fast so viele volle Umgangsweise mit Erdölvorkommen in sensiblen Baumarten wie in Nordamerika zusammen, und auf je- ökologischen Räumen. Diese neue Politik ist eine Innova- dem dieser Bäume tummeln sich mehr Käferarten als in tion, die den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts voll ganz Europa. entspricht. Aber ich möchte an dieser Stelle auch betonen, dass Mit dieser hoch zu schätzenden Politik ist selbstver- diese Naturvielfalt eng mit der Lebensweise indigener ständlich auch eine Forderung an die Welt und besonders Völker verbunden ist, die im Amazonas und speziell im an die erdölnachfragende westliche Welt verbunden, Yasuní leben und von denen zwei in freiwilliger Isolation nämlich den Verzicht auf die Ausbeute mit einer Kompen- zur Zivilisation leben. Internationales Recht fordert hier sation der zu erwartenden Einnahmeausfälle zu verbin- Respekt vor diesen Menschen, die seit Jahrhunderten in den. Dieser Forderung müssen Sie nachkommen. Alles und mit dem Urwald leben. Der Yasuní und das ITT-Ge- andere wäre grundfalsch und kontraproduktiv für den biet gehören zu den Schatzkammern der Welt, die nicht Kampf gegen den Klimawandel. Es ist völlig nachvoll- kurzfristigen ökonomischen Interessen geopfert werden ziehbar, dass die ecuadorianische Regierung an dieser dürfen. Doch sie sind in höchster Gefahr. (B) Kondition festhalten muss, will sie nicht unter ökono- (D) misch begründeten Druck reaktionärer Kräfte geraten, Was uns allen bewusst sein muss: Der Yasuní leidet be- die völlig ignorant gegenüber den herausragenden An- reits. Es gibt Ölfördergebiete im Grenzgebiet des Yasuní, forderungen des Klimawandels sind. Ausdrücklich hat die in den Nationalpark hineinreichen. Und die Konzes- die ecuadorianische Regierung die Frist für die Einrich- sionierung des Ölfeldes im sogenannten Block 31 in di- tung eines Kompensationsfonds auf November 2008 ver- rekter Nachbarschaft des ITT-Ölfeldes ist eine echte Be- längert und ihrerseits ein ITT-Sekretariat eingerichtet. drohung für das sensible Ökosystem. Dass bereits Ölförderung im Yasuní stattfindet, ist für manche ein Es ist nun gerade ein Jahr her, dass Bundeskanzlerin scheinbar starkes Argument, den ITT-Vorschlag als Heu- Frau Merkel auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm große chelei abzuwerten. Ich meine, das Gegenteil ist der Fall. Klimaschutzziele und Initiativen ankündigte. Bis heute Es ist ein starkes Argument, den Vorschlag zu unterstüt- wartet die Weltgemeinschaft auf die Erfüllung dieser. Bei zen und alles zu versuchen, dass er Wirklichkeit werden den Vereinten Nationen ist kein deutscher Vorschlag ein- kann. gegangen. Mit dieser Initiative Ecuadors aber besteht die Möglichkeit, zu einem anspruchsvollen ökologischen Kli- Ecuador ist ein Entwicklungsland und seine Wirtschaft maprojekt ganz konkret „Ja“ zu sagen. Es verdient alle in hohem Maße abhängig von den Einnahmen aus dem Unterstützung, denn es ist ausgesprochen mutig. Es kann Ölgeschäft. Schafft es die internationale Gemeinschaft, Modellcharakter bekommen und ausstrahlen auf OSZE das Gebiet rund um das besagte Ölfeld dauerhaft zu und UN-gestützte neue Wege des Umgangs mit Ressour- schützen, so setzen wir damit eine Dynamik in Gang, die cen, der den Frieden mit der Natur und keinen Krieg um es auch schaffen kann, den gesamten Nationalpark dau- Öl beinhaltet. erhaft unter Schutz zu stellen. Ecuador ist bereit, auf die Hälfte der erwarteten Ein- Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nahmen aus der Ausbeutung des ITT-Ölfelds zu verzich- Lasst das Öl im Boden – so lautete im letzten Jahr eine ten. Die andere Hälfte soll die internationale Gemein- an die Staatengemeinschaft gerichtete Aufforderung aus schaft kompensieren. Zurzeit rechnet Ecuador mit Ecuador. Wir Grünen haben diese Aufforderung ernst ge- möglichen Einnahmen von 700 Millionen US-Dollar nommen; denn ich konnte mich schon vor Jahren beim jährlich über einen Zeitraum von 13 Jahren. Das heißt, Engagement gegen den Bau einer Pipeline in Ecuador die internationale Staatengemeinschaft müsste 13 Jahre davon überzeugen, welche katastrophalen Verseuchun- lang 350 Millionen US-Dollar pro Jahr zahlen. Das Geld gen die Ölförderung im Amazonas hinterlassen hat. Nach will Ecuador in Sozialprogramme und den Aufbau erneu- der diesjährigen, von uns angeregten Reise nach Ecuador erbarer Energien investieren.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18371

Ute Koczy (A) Ich bin der Meinung, wenn es die Welt wirklich ernst ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl (C) meint mit der Bekämpfung des Artensterbens und des Kli- Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Christel mawandels sowie mit der Erreichung internationaler Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der Entwicklungsziele, dann sollte es dieses Vorhaben unter- Fraktion der FDP stützen. Wir brauchen einen Wandel in der internationa- Glaubwürdigkeit von G8 nicht verspielen – len Rohstoffpolitik. Dieser Wandel muss unserer Umwelt Maßnahmen zur Bekämpfung der Nahrungs- – dem Wald und anderen ökologisch sensiblen Gebieten – mittelkrise auf dem Gipfeltreffen in Hokkaido wieder den Wert beimessen, den sie hat; denn sie ist die beschließen Grundlage für unser Dasein auf diesem Planeten. Wir müssen Schluss machen mit einer Wirtschaftweise, in der – Drucksache 16/9750 – sich Umwelt- und Klimaschäden nicht im Preis des Pro- Überweisungsvorschlag: duktes niederschlagen. Wäre dies der Fall, so würde sich Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Erdölförderung im Urwald wahrscheinlich nicht mehr Entwicklung (f) lohnen. Finanzausschuss Die Unterstützung Ecuadors bei der Umsetzung des Die Reden der Kollegen Erich G. Fritz, Frank Vorschlags wäre ein starkes Symbol der Staatengemein- Schwabe, Dr. Karl Addicks, Eva Bulling-Schröter und schaft, dass sie bereit dazu ist, Verantwortung zu über- Thilo Hoppe werden zu Protokoll genommen. nehmen für ein Weltnaturerbe. Tut sie dies nicht, so ver- gibt sie die Chance, einen Kontrapunkt zu setzen gegen Erich G. Fritz (CDU/CSU): die allgemeine Praxis, Naturgüter der Erdölförderung Der G-8-Gipfel der Staats- und Regierungschefs vom unterzuordnen. 6. bis 8. Juni 2007 in Heiligendamm unter Vorsitz unserer Bundeskanzlerin war ein großer Erfolg. Unter dem Motto Noch gibt es viele offene Fragen, die einer wirklichen „Wachstum und Verantwortung“ hat die deutsche Präsi- Umsetzung des ITT-Vorschlags im Wege stehen. Dazu ge- dentschaft den Nerv der internationalen Problemlage ge- hört die seriöse Bestimmung des Ölvolumens und eines troffen und weitreichende Beschlüsse in den Schwer- Berechnungsmodus für Kompensationszahlungen. Dazu punktthemen Weltwirtschaft und Klimaschutz gefasst. gehört aber unter anderem auch die Frage, auf welchem Wege sichergestellt werden kann, dass das Gebiet dauer- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es sehr, haft geschützt wird. Aber dies sind Fragen, die beantwor- dass auf dem Gipfel in Japan vom 7. bis 9. Juli 2008 die tet werden können. Die Umsetzung von entsprechenden Schwerpunkte der deutschen G-8-Präsidentschaft fortge- Maßnahmen liegt im Bereich des Möglichen. Verschie- führt werden sollen. Anlässlich der Pressekonferenz zum EU-Japan-Gipfel im Juni 2007 war Bundeskanzlerin (B) dene europäische Staaten, unter anderem auch Deutsch- (D) land, haben Interesse gezeigt, den Vorschlag grundsätz- Merkel bereits zuversichtlich, dass auf der japanischen lich zu unterstützen. Diese Bereitschaft muss sich jetzt Nordinsel Hokkaido das fortgesetzt werden könnte, was konkretisieren und in Taten zeigen. in der deutschen Präsidentschaft erreicht wurde. Einig- keit besteht vor allem in drei Punkten: Dass aus dem Anliegen von Bündnis 90/Die Grünen, einen Beitrag zum Wald- und Klimaschutz durch Unter- Erstens. Klimawandel ist ein ernstes, weitgehend von stützung des ITT-Vorschlags zu leisten, ein gemeinsamer Menschen verursachtes Problem, das der politischen Lö- Antrag mit den Fraktionen der Regierungskoalition sung auf globaler Ebene bedarf. Wir Menschen müssen CDU/CSU und SPD geworden ist, verdanken wir einem darauf reagieren und dürfen die Augen nicht vor den Aus- verstärkten Bewusstsein für umwelt- und klimapolitische wirkungen des Klimawandels verschließen. Fragen, für das wir Grüne seit langer Zeit gekämpft ha- Zweitens. Wir stimmen darin überein, dass der welt- ben. weite Anstieg der Treibhausgasemissionen gestoppt wer- den muss. Langfristige Reduktionsziele werden von allen Präsident Dr. Norbert Lammert: G-8-Partnern angestrebt. Ein globales Ziel zur Reduzie- Wir stimmen ab über den Antrag der Fraktionen rung von Treibhausgasemissionen wird von allen G-8- CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Partnern angestrebt. Der Gipfel in Heiligendamm unter Drucksache 16/9758. Wer stimmt für diesen Antrag? – deutscher Führung hat mit der Formulierung, dass die Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – G 8 mindestens eine Halbierung der weltweiten Emissio- Dann ist dieser Antrag einvernehmlich angenommen. nen bis zum Jahr 2050 „ernsthaft in Betracht“ ziehen, ei- nen wichtigen Impuls zur Erreichung dieses Ziels gege- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 sowie den Zu- ben. Japan hat die Diskussion mit „Cool Earth 50“ satzpunkt 10 auf: fortgeführt und sieht sich von der EU und Canada beson- 25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo ders unterstützt. Nach wie vor gibt es aber keine Bereit- Hoppe, Ute Koczy, Jürgen Trittin, weiterer Abge- schaft, sich auf quantitative Ziele festzulegen, und eine ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Einigung über gemeinsames Vorgehen im Detail mit den GRÜNEN USA wird auch auf diesem Gipfel nicht zu erreichen sein. G8-Gipfel in Japan für Klimaschutz und nach- Drittens. Japan und Deutschland sowie die übrigen haltige Entwicklung nutzen G-8-Partner bekennen sich geschlossen zu Klimaver- handlungen unter dem Dach der Vereinten Nationen. – Drucksache 16/9751 – Dass ein solcher Prozess in ein UN-Rahmenwerk 18372 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Erich G. Fritz (A) eingebunden sein muss, ist wichtig, weil er nur so binden- an den Tag legen sollten, haben wir eine globale Verant- (C) den Charakter für die Weltgemeinschaft entwickeln kann. wortung im Bereich des Klimawandels.“ In diesem Sinne Deshalb sind wir sehr dafür, dass einzelne Initiativen wünschen wir Japan, besonders dem Premierminister weitgehend berücksichtigt werden sowie die großen und Yasuo Fukuda, viel Erfolg und den Beginn eines dauer- wichtigen Schwellenländer wie Brasilien, China, Indien haften Dialogs für eine nachhaltige Klimapolitik in der und Südafrika in den Dialog miteingebunden werden. Zukunft, die für die Menschen verträglich und für das friedliche Zusammenleben der Völker förderlich ist. Kli- Der Grundstein für die Zusammenarbeit mit den gro- maschutzpolitik ist in Zukunft mehr als nur Umweltpoli- ßen Schwellenländern wurde unter deutscher Präsident- tik. Sie wird zur zentralen Aufgabe der Gewährleistung schaft im Rahmen des sogenannten Heiligendamm-Pro- von Sicherheit, Entwicklung und Wohlstand auf der Welt. zesses gelegt. Die G 8 traf hier mit Brasilien, China, Indien und Südafrika die Vereinbarung, gemeinsam mehr Auch bei der Afrika-Politik wird die japanische Präsi- ökonomische und politische Verantwortung für globale dentschaft für Kontinuität sorgen. Japan selbst hat ein Herausforderungen zu übernehmen. Auf der Plattform Zeichen gesetzt und wird die Mittel zur Unterstützung der OECD wurde gemeinsam zwischen G 8 und den be- Afrikas und zur Erreichung der Millenniumsziele verdop- nannten Schwellenländern ein Dialog vereinbart zu wich- peln. Der Schwerpunkt, der gewählt wurde – Gesundheit, tigen Themen wie Investitionsbedingungen, Förderung Wasser und Bildung – zielt in den Kern der Entwicklungs- von Innovationen, Schutz geistigen Eigentums, Entwick- erfordernisse und bildet die Grundvoraussetzung für dau- lungszusammenarbeit, Steigerung der Energieeffizienz erhafte Erfolge auf allen anderen Feldern der Zusam- sowie Technologiekooperation in den Bereichen Kraft- menarbeit mit Afrika. werke und Gebäude. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt sehr, dass auf Grundlage dieses Dialogs eine ge- Es ist sehr zu begrüßen, dass sich der Gipfel auch mit meinsame Erklärung der G-8-Staaten mit den sogenann- den Fragen der Ernährungssicherheit und der Preisent- ten Outreach-Staaten verabschiedet wurde. Beim Thema wicklung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen beschäfti- Klima wird in der Erklärung auf die gemeinsame Verant- gen wird, ohne allzu viel von dieser Diskussion für aktu- wortung verwiesen. Ich schätze diesen Aspekt sehr, weise elle politische Handlungsmöglichkeiten zu erwarten. aber darauf hin, dass dies nicht genug ist. Die Schwellen- Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, dass der Gipfel er- länder sollten vielmehr ausdrücklich ihre Bereitschaft er- neut auch weltwirtschaftlichen Problemen ausreichenden klären, einen ausgewogenen und fairen Anteil zur Stabi- Raum gibt und die Ziele eines nachhaltigen Wachstums, lisierung der Emissionen beizutragen und an der Fragen von Investitionen, Handel und dem Schutz geisti- Entwicklung eines flexiblen, aber wirksamen internatio- gen Eigentums sowie von Rohstoffproblemen behandeln nalen klimapolitischen Regimes mitzuwirken. wird. (B) (D) Die japanische Präsidentschaft hat sich im Bereich Auch dass der Gipfel das Thema Nichtverbreitung, ins- der Klimapolitik ehrgeizige Zielvorhaben gesetzt. Diese besondere im Hinblick auf Nordkorea und den Iran, sowie kamen erneut anlässlich des Besuchs des japanischen eine Stärkung des Nichtverbreitungsregimes diskutieren Premierministers Yasuo Fukuda am 1. Juni im Bundes- wird, ist angesichts der internationalen Lage von großer kanzleramt zur Sprache. Fukuda beabsichtigt, über die in Bedeutung und hängt auch mit den zukünftigen Fragen Heiligendamm erklärte Absicht zur Halbierung der der Bekämpfung des Terrorismus zusammen, die eben- Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 hinauszuge- falls erneut aufgegriffen werden. hen. Er verfolgt das Ziel, die CO2-Emissionen bis 2050 um 60 bis 80 Prozent zu reduzieren. Ich schätze dieses Die erneute Einbeziehung der O 5 und afrikanischer Zielvorhaben, da in der vergangenen Zeit wie von der Länder trägt zu einer Verstärkung und zum Ausbau der „Financial Times“ zitiert Japans „Klimaschutzweste ei- Kommunikationsfähigkeit der G 8 bei und entwickelt mit nen hässlichen Fleck“ bekommen hat. Japan hat sich der Fortführung des Heiligendamm-Prozesses eine nicht an die Vereinbarungen im Kioto-Protokoll gehalten Struktur des Dialogs der wichtigsten Verantwortungsträ- und die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um ger, der so in keiner anderen Konstellation geleistet wer- sechs Prozent gesenkt, sondern noch erhöht. Es ist daher den kann. G 8 ist deshalb ein wichtiger Baustein der umso erfreulicher, dass Japan seine G-8-Präsidentschaft Akzeptanz für die Verantwortung internationaler Pro- nutzt und die Chance ergreift, eine Vorreiterrolle im Kli- blemlösung und etwa in Klimafragen ausdrücklich ein maschutz zu übernehmen. Befürworter von Lösungen innerhalb und durch die Ver- einten Nationen und nicht, wie Kritiker häufig mutmaßen, Noch ist offen, ob in Hokkaido Verbindlichkeiten zur ein Versuch der Schwächung des VN-Systems. Erreichung der klimapolitischen Ziele getroffen werden können. Insbesondere die USA als weltweit größter Emit- Auch bei diesem Gipfel wird es wieder so sein, dass tent sind bislang nicht bereit, die Ziele mitzutragen. Zu- diejenigen Kritiker, die den G 8 eigentlich jede Legitima- versichtlich stimmen jedoch die gemeinsamen Positionen tion absprechen, internationale Probleme zu behandeln, zwischen Deutschland und Japan, auf die ich anfangs hinterher den Eindruck erwecken, es hätte eigentlich kon- eingegangen bin. Sie zeigen, dass Klimaschutzpolitik krete Beschlüsse geben und die Setzung internationaler nicht das Hobby der Europäer ist. EU-Kommissionsprä- Regeln gelingen müssen. G 8 bleibt ein wichtiges interna- sident José Manuel Barroso sagte vor knapp einem Jahr tionales Dialogforum zur Angleichung von Standpunkten im Gespräch mit unserer Kanzlerin und dem damaligen für langfristig zu lösende Aufgaben. Seine Bedeutung japanischen Ministerpräsident Shinzo Abe: „Dort, wo wird durch die Verbindung mit den wichtigen Schwellen- wir eine Führungsrolle aufnehmen und Führungsstärke ländern und afrikanischen Partnern nur noch größer.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18373

Erich G. Fritz (A) Die CDU/CSU-Fraktion wünscht der Bundeskanzlerin keine gefährliche unberechenbare Energiegewinnung, (C) viel Erfolg auf dem japanischen G-8-Gipfel und erwartet die noch nicht einmal in den modernsten Industrielän- deutliche Signale für die Weltwirtschaft, für eine welt- dern beherrscht wird. Beim Ausbau der erneuerbaren weite Klimaschutzpolitik und zunehmende Sicherheit. Energien müssen wir noch stärker als bisher den Techno- logietransfer in den Entwicklungsländer vorantreiben. Frank Schwabe (SPD): Der Mechanismus CDM ist ein wichtiger Baustein, viel- Ein gutes Jahr ist es jetzt her: der G-8-Gipfel in Heili- leicht werden wir demnächst jedoch weitere Bausteine gendamm. Die Erwartungen damals an die Regierungs- entwickeln müssen. chefs der G-8-Staaten, vor allem an die Bundeskanzlerin Auf internationaler Ebene müssen wir auch weiter- waren hoch. Rückblickend kann man sa- kommen bei dem Thema der Anpassung an den Klima- gen, dass die Verhandlungsergebnisse als Erfolg gewertet wandel. Die Bundesregierung hat bisher schon finan- werden können. Nach Heiligendamm wurden im Rahmen zielle Zusagen gemacht. Auch die anderen G-8-Staaten der Klimakonferenz der Vereinten Nationen erste wich- müssen nachziehen. Und jetzt gilt es auch langfristig Pla- tige Schritte in Richtung Kioto-Nachfolgeabkommen zu- nungen zur Finanzierung der Anpassung zu machen. rückgelegt. Auf der Biodiversitätskonferenz vor wenigen Deutschland wird ab 2013 durch die Versteigerung der Wochen in Bonn wurden wichtige Zusagen zum Schutz Emissionszertifikate mehrere Milliarden Euro einneh- der Urwälder und gleichzeitig zur Unterstützung der Ent- men. Ein Teil muss direkt in den Anpassungsfonds für wicklungsländer gemacht. Entwicklungsländer fließen. Der Fonds braucht regelmä- Es reicht jedoch nicht aus, wenn wir sagen: Die G-8- ßige und zuverlässige Mittel, um die Kosten des Klima- Staaten können nach wie vor wichtige Entscheidungen wandels abzufedern. zum Klimaschutz, zum Schutz der Biodiversität und zur Zweitens darf das Signal, was von der Biodiversitäts- Bekämpfung der weltweiten Armut maßgeblich in der konferenz vor wenigen Wochen in Bonn ausging, nicht Weltgemeinschaft vorantreiben. Man muss es deutlicher verpuffen. Wir müssen den Entwicklungsländern einen formulieren: Nur wenn die G-8-Staaten sich ihrer Verant- Ausgleich dafür bieten, dass sie darauf verzichten, ihre wortung bewusst sind und wichtige Entscheidungen wie Wälder auszubeuten. Der Erhalt der Wälder muss zukünf- etwa zum Klimaschutz treffen, dann – und nur dann – tig mehr wert sein als ihre Zerstörung. Auch hier werden auch Länder wie China, Indien oder Brasilien brauchen wir einen zuverlässigen Finanzierungsmecha- Verpflichtungen zur CO -Reduktion, zum Waldschutz und 2 nismus. Die Bundesregierung ist auf der Biodiversitäts- zur Nachhaltigkeit eingehen. Und nur wenn die G-8-Staa- konferenz mit der Zusage der Kanzlerin Angela Merkel ten diese Aufgaben verantwortungsvoll bewältigen, wer- und des Bundesumweltministers Sigmar Gabriel vorweg- den sie in Zukunft weiterhin über die notwendige Legiti- gegangen. Jetzt müssen auch die anderen Staaten nach- (B) mität und Macht in der Weltgemeinschaft verfügen. (D) ziehen. Deshalb müssen auf dem Gipfel in Japan die Vereinba- rungen des G-8-Gipfels vom letzten Jahr in Heiligen- Außerdem müssen Entwicklungsländer weit mehr als damm aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Die bisher von der biologischen Vielfalt profitieren können. Bundesregierung, allen voran die Kanzlerin Angela Biopiraterie ist ebenfalls ein wichtiges Stichwort. Es kann Merkel, muss vor allem ihrer Vorbildfunktion im Bereich nicht sein, dass Pharmaunternehmen Profite für neuent- Klimaschutz, Biodiversitätsschutz und Nachhaltigkeit ge- wickelte Medikamente einstreichen, und die Menschen recht werden und die anderen Staaten der G8 mit ins Boot vor Ort von den Gewinnen keinen Cent sehen. holen. Drittens müssen wir bei vielen anstehenden Entwick- Erstens. Es gilt, verbindliche Reduktionsverpflichtun- lungen noch stärker in Nachhaltigkeit investieren. Das gen mittelfristig bis 2020 und langfristig bis 2050 einzu- gilt zum Beispiel für den Anbau von Energiepflanzen und gehen. Dabei müssen die G-8-Staaten mit ihren Klima- Futtermittel und für den legalen Holzeinschlag. Es muss schutzbemühungen deutlich zeigen, dass sie sich ihrer verhindert werden, dass Nahrungsmittelpreise weiter Verantwortung hinsichtlich der Ursache des Klimawan- steigen und das Welthungerproblem sich dadurch ver- dels bewusst sind. Ich möchte hier betonen, dass man in- schärft. Globale Finanzmärkte müssen weiter transpa- ternational ganz genau schaut, wie Deutschland sein rent gestaltet und dann eben im Zweifel reguliert werden. Ziel, 40 Prozent Reduktion bis 2020, erreichen wird. Wenn wir den Eindruck zulassen, dass wir hier in Auch das ist eine Aufgabe, die vor allem die G-8-Staa- Deutschland vieles ankündigen, später aber im Gesetzge- ten in Angriff nehmen müssen: Nach wie vor hungert auf bungsprozess nachlassen, wird das unsere Position ge- der Welt eine Milliarde Menschen. Ein unannehmbarer genüber China und Indien auf Dauer nicht unbedingt Zustand. Keine Regierung der Welt wird sich um den Kli- stärken. maschutz kümmern, wenn ihre Bewohner hungern müs- sen und keinen gesicherten Zugang zu sauberem Trink- Wenig hilfreich bei der Debatte sind auch die Pläne wasser haben. Nur wenn die globale Gerechtigkeit erhöht der Internationalen Energieagentur, die vorsehen, dass wird, dann können wir nachhaltige Klimaschutzpolitik der CO2-Ausstoß durch den Neubau von Atomkraftwer- betreiben. Gleiches gilt andersherum: Wenn wir die glo- ken gestoppt wird. Energieeffizienz und der Ausbau von bale Erwärmung nicht begrenzen können, werden mehr erneuerbaren Energien wird der Schlüssel zu Halbierung Menschen als bisher keinen Zugang zu sauberem Trink- des CO2-Ausstoßes bis 2050 sein. Wir brauchen weltweit wasser haben und sich nicht ausreichend ernähren kön- einen neuen intelligenten Umgang mit Rohstoffen und nen.

Zu Protokoll gegebene Reden 18374 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Frank Schwabe (A) Klimaschutz, saubere und preiswerte Energieversor- schlichtweg übersehen. Seit den 80er-Jahren hat die in- (C) gung sowie der Kampf gegen Armut hängen zusammen ternationale Gemeinschaft die Förderung der ländlichen und müssen auch in der Politik zusammen gedacht wer- Entwicklung kontinuierlich verringert. Seit 1998 hat die den. Eine Institution dafür ist die G8. Diese Staaten müs- Bundesregierung ihre Beiträge zur Ernährungssicherung sen die Aufgabe übernehmen und Lösungswege voran- und ländlichen Entwicklung um 100 Millionen Euro ge- treiben. Sie verfügen über die finanziellen Mittel, die kürzt. nötige politische Stärke, und – da bin ich mir vollkommen sicher – auch über den Willen, dies umzusetzen. Aber auch die Nehmerländer sind ihren Verpflichtun- gen nicht nachgekommen. So haben sich die afrikani- schen Staaten im Jahr 2003 dazu verpflichtet, 10 Prozent Dr. Karl Addicks (FDP): ihrer nationalen Haushalte für die Landwirtschaft ihres In nur wenigen Wochen treffen sich auf Hokkaido die Landes einzusetzen. Derzeit geben die Mehrheit der afri- Staats- und Regierungschefs der acht größten Industrie- kanischen Partnerländer lediglich 4 Prozent für den Be- staaten zu ihrem jährlichen Gipfeltreffen. Noch vor einem reich Landwirtschaft aus. Die ländliche Entwicklung Jahr haben wir an dieser Stelle über die Ziele und Vor- trägt aber maßgeblich zur Entwicklung eines Landes bei. stellungen der deutschen G-8-Präsidentschaft gespro- Der Weltbankbericht aus dem Jahr 2008 „Agriculture for chen. Die Bundesregierung hatte besonders den afrikani- Development“ hat dies unterstrichen. Investitionen in schen Kontinent ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Dies ländliche Entwicklung erzielen einen viermal größeren ist grundsätzlich zu begrüßen und muss auch weiterhin so Entwicklungseffekt als Investitionen in andere Bereiche. sein; denn die Entwicklungsfortschritte in Afrika sind bei Auf dem Gipfeltreffen in Hokkaido ist umso dringli- weitem noch nicht auf dem Niveau, wie wir sie nach fast cher, dass Maßnahmen zur Förderung von Landwirt- 50 Jahren Entwicklungszusammenarbeit gern hätten. schaft und Ernährungssicherheit beschlossen werden; Umso erfreuter zeigte ich mich über das Abschlussdo- denn infolge der rasant gestiegenen Lebensmittelpreise in kument von Heiligendamm. Was wollten die G-8-Staaten den letzten Monaten droht ein dramatischer Anstieg der nicht alles verbessern: die Förderung der Wirtschaft, In- an Hunger leidenden Menschen und damit ein Zunichte- vestitionen, gute Regierungsführung und die Gesund- machen der Erfolge der vergangenen Jahre. Schätzungen heitssysteme, insbesondere die Bekämpfung von HIV/ gehen davon aus, dass die Zahl von gegenwärtig 850 Mil- Aids, Malaria, Tuberkulose und anderen Tropenkrankhei- lionen Hungernden allein bis Ende des Jahres auf ten. Hilfszusagen in Milliardenhöhe, insbesondere an den 900 Millionen ansteigen wird. Das Ziel der Halbierung afrikanischen Kontinent, wurden von den G-8-Staaten der Armut bis 2015 ist in weite Ferne gerückt. Während damals gemacht. die Preise für Grundnahrungsmittel jahrelang relativ sta- bil gewesen sind, stiegen die Preise für Weizen, Reis, (B) (D) Im Hinblick auf das kommende G-8-Treffen auf Hok- Mais und Soja in den vergangenen drei Jahren drama- kaido im Juli dieses Jahres ist eine ehrliche Bilanz des tisch an; vor zwei Monaten explodierten sie regelrecht. Heiligendamm-Prozesses ebenso geboten wie ein Aus- Besonders Entwicklungs- und Schwellenländer sind von blick auf die anstehenden Themen unter japanischer G-8- diesen Preisexplosionen betroffen. Erste hungerbedingte Präsidentschaft; denn nichts schadet der Glaubwürdig- Proteste stellen zudem eine zusätzliche Gefahr für Leben, keit und dem Ansehen der G 8 mehr als nicht eingehal- Frieden und Stabilität in den Entwicklungsländern dar. tene Versprechen. Bereits heute ist klar, dass es sich bei den steigenden Le- bensmittelpreisen und den damit verbundenen Auswir- Rückblickend auf die Versprechungen der G-8-Staaten kungen nicht um ein vorübergehendes Phänomen, son- und die umgesetzten Verpflichtungen muss klar gesagt dern um eine grundlegende Entwicklung handelt, die es werden, dass den Worten nicht entsprechende Taten gilt, langfristig anzugehen. Erforderlich sind jetzt Sofort- folgten. Der jüngste Africa-Progess-Panel-Bericht hat maßnahmen, um hungerbedingte Katastrophen einzu- uns eindeutig vor Augen geführt, dass die Industrie- dämmen, vor allem aber mittel- und langfristige Maßnah- nationen ihren finanziellen Zusagen für Afrika bisher men, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern. nicht nachkommen. So sind die finanziellen Verspre- Die gestiegenen Weltmarktpreise für Grundnahrungsmit- chungen des G-8-Gipfels von Gleneagles, die Hilfen für tel bieten dafür die Gelegenheit, um durch höhere Erzeu- Afrika bis 2010 zu verdoppeln, nach gegenwärtigem gerpreise den landwirtschaftlichen Anbau lukrativer zu Stand um 40 Milliarden Dollar unterschritten. Die inter- machen und von der Subsistenzwirtschaft loszukommen. nationalen Herausforderungen und Themen sind seit dem letzten Gipfeltreffen aber nicht weniger geworden. Im Ge- Eine leistungsfähige, effiziente und innovative Land- genteil. Das größte und dringendste Problem beschäftigt wirtschaft in den entwickelten und weniger entwickelten uns seit Anfang des Jahres: die Nahrungsmittelkrise. Ländern ist der entscheidende Schlüssel zur Bekämpfung Während das Thema „Ländliche Entwicklung“ auf dem des weltweiten Hungers. Nur über effiziente landwirt- G-8-Gipfeltreffen in Heiligendamm lediglich am Rande schaftliche Produktionsverfahren, leistungsfähige Agrar- erwähnt wurde, wird es angesichts der aktuellen Ernäh- forschung auf nationaler und internationale Ebene und rungskrise, die insbesondere die Entwicklungs- und intakte und wirtschaftsstarke ländliche Räume lassen Schwellenländer betrifft, ein Schwerpunkt auf dem G-8- sich Hunger und Armut langfristig bekämpfen. Ein er- Gipfeltreffen in Japan sein. Die Bundesregierung hat wie folgreicher Abschluss der laufenden Welthandelsrunde, die gesamte internationale Gemeinschaft die ländliche WTO, und der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen sind Entwicklung sträflich vernachlässigt. Die Signale für ein vor allem für die Hungernden in den Entwicklungslän- frühzeitiges Gegensteuern wurden von allen Seiten dern von zentraler Bedeutung und für die europäische

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18375

Dr. Karl Addicks (A) Landwirtschaft eine unternehmerische Chance. Schließ- Gleichzeitig sind viele Beschlüsse oder Erklärungen, (C) lich muss die Erzeugung von Biokraftstoffen und Bio- beispielsweise zum Klimaschutz, kaum das Papier wert, masse nachhaltig erfolgen, und der Lebensmittelproduk- auf dem sie gedruckt wurden. Die Vertreter der USA, des tion ist Vorrang vor der energetischen Nutzung von wichtigsten globalen Players, drücken sie offensichtlich Biomasse einzuräumen. umstandslos in die Mülltonne, wenn sie in Washington aus dem Flugzeug steigen. Auf dem vom 7. bis 9. Juli 2008 stattfindenden G-8- Gipfeltreffen in Hokkaido, welches sich neben den The- Natürlich wäre es naiv, zu glauben, internationale Be- men Umwelt und Klimawandel sowie Entwicklung und ziehungen ließen sich allein über die Vereinten Nationen Afrika auch mit dem Thema der Nahrungsmittelpreise be- regeln. Auf dem Weg zu international verbindlichen Ab- fassen wird, haben die G-8-Staaten jetzt die Chance, klare kommen wird es immer eine Vielzahl formeller und infor- Maßnahmen zu beschließen. Um nachhaltig die globale meller Treffen von Regierungsvertreter und Regierungs- Ernährung zu sichern, bedarf es abgestimmter, über den vertreterinnen geben. Im Übrigen sind auch die UN kein Agrarsektor und die Armutsbekämpfung hinausgehender Hort seligmachender Gerechtigkeit. Gleichwohl unter- Konzepte auch für die Bereiche der Umwelt-, Klima- und stützt die Linke die außerparlamentarischen Proteste Wirtschaftspolitik. Aufgabe der Bundesregierung muss es gegen die dauerhafte Institutionalisierung eines unkon- sein, ihr Gewicht bei den Verhandlungen in Japan für ein trollierbaren First-Class-Gremiums, wie es G 8 ist. gemeinsames Vorgehen der G-8-Staaten einzusetzen. Alle Gleichzeitig wollen wir die Vereinten Nationen demokra- jetzt seitens der Bundesregierung beschlossenen Pro- tischer gestalten und stärken, nicht schwächen. gramme und Maßnahmen zur Verbesserung der globalen Heute beraten wir nun einen Antrag der Grünen, die Nahrungsmittelversorgung sind nicht nachhaltig, wenn sich als Partei im letzten Jahr von den Protesten gegen sie nicht kohärent abgestimmt und verfolgt werden, so- das G-8-Treffen in Heiligendamm distanziert haben. Na- wohl auf nationaler Ebene zwischen den deutschen Mi- türlich folgt der Antrag darum der Logik, vom G-8-Pro- nisterien als auch auf europäischer und internationaler zess ein Engagement für mehr Klimaschutz und nachhal- Ebene. Angesichts der immer größer werdenden Heraus- tige Entwicklung einzufordern, anstatt G 8 infrage zu forderungen in der Entwicklungszusammenarbeit ist es stellen. Rein inhaltlich ist gegen die einzelnen Forderun- umso wichtiger, dass die G-8-Staaten eine verlässliche gen gar nichts zu sagen, es fragt sich nur, ob die Adresse, und glaubwürdige Politik machen. an die die Forderungen gerichtet sind, die richtige ist. Ganz wohl ist den Grünen diesbezüglich offensichtlich auch nicht; denn die Fraktion schreibt in ihrem Antrag, Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): die G-8-Staaten könnten nicht für sich in Anspruch neh- Wie Sie sicher schon im Zusammenhang mit Heiligen- men, Entscheidungen zu treffen, die zum Teil erhebliche (B) (D) damm bemerkt haben, hält die Linke von der alljährli- Folgen für den Rest der Welt hätten. chen exklusiven G-8-Runde nicht allzu viel. Der Club der mächtigen Staaten dieser Welt trifft sich, um an den Ver- Auf die anschließenden 27 Forderungen möchte ich im einten Nationen vorbei globale Politik zu betreiben. Da- Einzelnen in diesem Rahmen nicht eingehen. Hervorhe- bei werden auch gelegentlich Zaungäste eingeladen – ben möchte ich aber, dass bekanntermaßen auch die Linke diesmal Vertreter der sogenannten Outreach-Länder aus dafür eintritt, eine Politik zu machen, die weg von Kohle, Asien, Lateinamerika und Afrika. Tatsächlich mitent- Öl und Atom führt, weil den Erneuerbaren die Zukunft ge- scheiden dürfen diese aber nicht. hört. In diesem Zusammenhang ist die absurde Forderung der Internationalen Energieagentur, IEA, zurückzuwei- Die Meinungen der G-8-Kritikerinnen und -Kritiker sen, das Klimaproblem mithilfe von 1 344 neuen Atom- gehen bisweilen auseinander, was die Relevanz der Tref- kraftwerken zu lösen. Das wäre ein energiepolitischer fen betrifft. Einige meinen, G 8 sei eine unverbindliche Amoklauf; nicht nur deshalb, weil das vorhandene Uran Quasselrunde, die nichts Verbindliches entscheiden kann, für diese Meiler nur wenige Jahre reichen würde, die Stra- weil ja im G-8-Prozess im Gegensatz zu vielen UN-Ver- tegie also sündhaft teure Kraftwerksruinen produzieren fahren keine Instrumente zur Umsetzung, Kontrolle und würde. Wer auf die Atomwirtschaft setzt, der setzt auch gegebenenfalls Sanktionierung der Beschlüsse existieren. auf eine unverantwortlich riskante und zentralisierte Form Demgegenüber fürchten andere die G 8 als nichtlegiti- der Energieerzeugung. Sie würde eine Energiewende zu miertes Machtzentrum der Weltpolitik jenseits der UN. nachhaltigen dezentralen Erzeugungsformen aus Sonne, Wind, Wasser und Biomasse dauerhaft blockieren. Ich denke, beide Aspekte sind richtig. Der Groß- machtsanspruch der wirtschaftsstarken Industriestaaten, Hier sind wir uns also mit den Grünen einig. Was die parallel zu den Vereinten Nationen einen neoliberalen Agrotreibstoffe betrifft, so warten die Grünen allerdings wieder mit ihrer Idee auf, über die Festlegung von Nach- Thinktank auf Regierungsebene zu unterhalten, also letzt- haltigkeits- und Menschenrechtskriterien ökologische lich Grundlinien der Weltpolitik an der UN vorbei festle- und soziale Verwerfungen beim Anbau in Indonesien, gen zu wollen, liegt auf der Hand. Entwicklungsländer Brasilien oder Kolumbien ausschließen zu wollen. Dazu und kleinere Industriestaaten bleiben dabei außen vor. können wir nur sagen: Träumen Sie weiter. Die Einhal- Natürlich auch Nichtregierungsorganisationen und von tung dieser Kriterien, sollte es sie denn irgendwann ein- der Politik Betroffene. In gewisser Weise ist das Ganze mal geben, wird nicht zu kontrollieren sein. eine Fortführung neokolonialer Attitüden des vergange- nen Jahrhunderts, auch wenn uns immer anderes weisge- Es tut mir leid. Aber solange sich die Grünen nicht macht wird. dazu durchringen können, sich der Forderung nach

Zu Protokoll gegebene Reden 18376 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Eva Bulling-Schröter (A) einem Importmoratorium für Agrotreibstoffe aus dem Sü- duktion um 30 Prozent bis 2020 und von 60 bis 80 Prozent (C) den anzuschließen – wie sie unzählige Umwelt- und Ent- bis 2050 verpflichten. wicklungsorganisationen formuliert haben – können wir Auch bei einem zweiten Thema ist offen, was der Gipfel an dieser Stelle das Engagement unserer Kollegen nicht bringt: bei der Reaktion auf die gegenwärtige – und an- ernst nehmen. haltende – globale Nahrungsmittel- und Agrarkrise. Na- türlich können die G 8 diese Krise nicht allein bewälti- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen, doch sie haben Hebel zur Verringerung der Krise Im letzten Jahr war die G-8-Präsidentschaft ein und sollten diese auch nutzen. Topthema und wurde auch im Parlament umfassend dis- Unsere Forderung ist hier ein klarer Beschluss der G 8 kutiert. Dieses Jahr ist alles anders. Wir haben keine Dis- zum Abbau aller Subventionen, die negative Auswirkun- kussionen über die vor und die hinter dem Zaun, wie sie gen auf den Agrarsektor in Entwicklungsländern haben, im letzten Jahr in Heiligendamm auf dem deutschen G-8- vor allem in Afrika. Doch die Wirklichkeit sieht anders Gipfel geführt wurden. Die Koalition macht sich nicht aus. Die Bundesregierung reiht sich in die Phalanx der- einmal die Mühe, mit einer eigenen parlamentarischen jenigen ein, die ein doppeltes Spiel spielen. Wer in Brüs- Initiative auf die Bedeutung des G-8-Gipfels in Japan sel die Finger für die Erhöhung der Exportsubventionen hinzuweisen. Generell scheint der Gipfel unter einem für Schweinefleisch in afrikanische Länder hebt – mit be- merkwürdigen Stern zu stehen. Der US-amerikanische kannt negativen Folgen –, braucht in anderen Foren Präsident gibt seine Abschiedsvorstellung, große Ambi- keine Lippenbekenntnisse über die negativen Wirkungen tionen der Bundesregierung lassen sich nicht erkennen von Agrarsubventionen auf Entwicklungsländer loszulas- und die selbst die japanische Regierung versucht schon sen. Dass Frankreich und die USA dem in nichts nachste- im Vorfeld des Gipfels, die Erwartungen tief zu hängen. hen, macht die Situation nicht besser. Dabei hätten alle Beteiligten gute Gründe, mit Ent- Der Gipfel wird sich auch zum Bericht der Task Force schlossenheit zu versuchen, substanzielle Fortschritte „Hunger“ der Vereinten Nationen verhalten müssen, der beim Gipfel anzustreben. Die zentralen Themen, die die Forderungen an die G 8 stellt. Diese sollen die grund- japanische Präsidentschaft platziert hat, reichen von der sätzliche Dimension der Agrarkrise in der Abschluss- Klima- und Energiepolitik, über die Stabilisierung der Fi- erklärung zum Ausdruck bringen. Klimawandel, hohe nanzmärkte, der Zusammenarbeit zwischen der G 8 und Energiepreise und steigende Weltbevölkerung werden die Afrika bis zur dramatischen Nahrungsmittel- und Hun- globale Landwirtschaft grundlegend verändern. Wird gerkrise. nicht gehandelt, wird nach Schätzungen der Weltbank die Zahl der Hungernden in wenigen Jahren von derzeit (B) Über grundsätzliche Fragen, beispielsweise einer 850 Millionen auf eine Milliarde ansteigen. Zehn Prozent (D) Transformation oder möglichen Erweiterung der G 8, der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit sollten für wird nicht diskutiert. An dieser Stelle verhält sich die ja- die Förderung der ländlichen Entwicklung ausgegeben panische Präsidentschaft wie die Bundesregierung im werden, marktzerstörende Subventionen abgebaut und Jahr zuvor. Aus meiner Sicht gehört diese Diskussion ge- die Nothilfe durch stärkere Unterstützung des Welternäh- rade auch wegen der Beteiligung der Schwellenländer, rungsprogramms ausgebaut werden. Aus unserer Sicht ist der sogenannten anderen fünf, China, Indien, Brasilien, die Bundesregierung aufgefordert, diese Vorschläge der Mexiko und Südafrika, auf die Tagesordnung. Gleiches UN-Experten zu unterstützen. gilt für die Reform und Stärkung des UN-Systems; denn nur ein wirklich globales Forum ist in der Lage, Antwor- Bezogen auf Afrika hat zumindest Japan angekündigt, ten auf globale Probleme zu finden. Gleichwohl bleiben die Hilfe bis 2012 schrittweise zu verdoppeln, die Reis- die G 8 ein Machtfaktor. Sie können Dinge zum Besseren produktion in Afrika zu unterstützen, 100 000 Afrikane- oder Schlechteren bewegen. rinnen und Afrikaner im Gesundheitsbereich auszubilden und Privatinvestitionen zu fördern. Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu den Themen des Gipfels machen: Aus grüner Sicht ist es ein Armuts- Die europäischen G-8-Staaten sollten die eigenen Be- zeugnis, das sich bereits abzeichnet, dass erneut keine schlüsse umsetzen. Diese sehen vor, die öffentliche Ent- wicklungshilfe der EU im Jahre 2010 auf mehr als verbindlichen CO2-Reduktionsverpflichtungen ange- strebt werden. Die japanische Präsidentschaft versäumt 66 Milliarden Euro zu verdoppeln. Mindestens die Hälfte es, für eine klare Botschaft an Schwellen- und Entwick- davon soll Afrika zugute kommen. Der Ausbau der Zu- lungsländer zu sorgen, die zeigt: Ja, wir sind entschlos- sammenarbeit im Wasserbereich, der Anpassung an den sen, mit aller Kraft gegen den Klimawandel zu arbeiten! Klimawandel und die Erreichung der MDG erfordern ein Übrigens wird auch versäumt, Signal zu setzen an die US- dringend aufgestocktes Engagement. amerikanische Politik und Gesellschaft nach Bush. Ein Afrikaexperten um den ehemaligen UN-Generalsekre- Jahr nach Heiligendamm herrscht Stillstand in dieser un- tär Kofi Annan stellen im „African Progress Panel Report geheuer bedeutenden Frage. 2008“ vom Juni dieses Jahres jedoch für die G 8 insge- samt fest, dass die Geber weit hinter ihren bereits ge- Die „Hausnummer“ für verbindliche CO -Reduk- 2 machten Zusagen zurückliegen. tionsziele der G 8 für die Zeit nach 2012 ist klar zu benen- nen. Deutschland sollte sich zu Reduktionen von 40 Pro- Um noch kurz auf das Thema Finanzmärkte einzuge- zent bis 2020 und 80 Prozent bis 2050 bereit erklären, die hen: Dass globale Finanzmärkte globale Regeln brau- anderen G 8 Staaten sollten sich mindestens zu einer Re- chen, wurde durch die Immobilienkrise in den USA und

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18377

Thilo Hoppe (A) die Auswirkungen auf das internationale Finanzsystem bewaffneten Auseinandersetzungen, das keine vergleich- (C) deutlich. Da sich zentrale Finanzplätze in den G-8-Staa- bare Öffnung der EU nach sich zog. Aufgrund der fortbe- ten befinden, tragen diese Staaten eine besondere Verant- stehenden Militärpräsenz Russlands in Transnistrien ga- wortung bei der Aufgabe, den Finanzmärkten ein effekti- ben letztlich auch machtpolitische Rücksichten den ves, verbindliches Regelwerk zu geben. Vor allem die Ausschlag. So wurde Moldau zwar noch in den Stabili- USA und Großbritannien betreiben bislang mit ihrer Wei- tätspakt für Südosteuropa einbezogen, nicht mehr jedoch gerung, systematisch ein effektives Regelwerk aufzustel- in den Erweiterungsprozess, der auf den westlichen Bal- len, Klientel- und Standortpolitik zum Schaden der Welt- kan beschränkt blieb. wirtschaft. Das muss ein Ende haben. Die anderen G-8- Staaten sollten im eigenen Interesse auf eine Zusammen- Mit dem vorliegenden Antrag wird der Deutsche Bun- arbeit drängen. destag die europäische Integration der Republik Moldau ausdrücklich unterstützen. Zwar sind die Voraussetzun- gen für eine formelle Beitrittsperspektive derzeit nicht ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: geben. Die EU muss zunächst die notwendigen Reformen Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der durchführen, um ihre Handlungsfähigkeit an ihre neue Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9751. und künftige Größe anzupassen. Doch auch nach dem Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Nein der Iren zum Lissabonner Vertrag wird dies nicht Wer enthält sich der Stimme? – Der Antrag ist abgelehnt. das letzte Wort bleiben können. Denn es lässt sich nicht Interfraktionell wird unter Zusatzpunkt 10 die Über- rechtfertigen, dass diejenigen Länder, die am schwersten weisung der Vorlage auf Drucksache 16/9750 an die in und längsten unter der Teilung Europas zu leiden hatten, der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- jetzt von den Vorteilen der europäischen Einigung ausge- gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das immerhin ist schlossen bleiben sollen. einvernehmlich. Die Republik Moldau wird noch einen langen Weg hin Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 26: zur EU zurückzulegen haben. Heute jedoch sollten wir ihr signalisieren, dass es für sie zumindest eine implizite Bei- Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, trittsperspektive geben wird; denn wenn sie künftig die SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kriterien erfüllt, wird ihr der Beitritt nicht verwehrt blei- Die europäische Integration der Republik ben. Moldau unterstützen Wir wollen mit unserem Eintreten für die europäische – Drucksache 16/9755 – Integration der Republik Moldau auch deren eigene Be- mühungen um eine Annäherung an die EU würdigen. Hierzu haben die Kollegen Manfred Grund, Markus (B) Aber wir tun dies nicht, weil wir über die Probleme hin- (D) Meckel, Michael Link (Heilbronn), Dr. Diether Dehm wegsehen wollten, die mit dem Transformationsprozess in und Rainder Steenblock Reden vorbereitet, die allesamt Moldau noch immer verbunden sind, sondern im Gegen- zu Protokoll genommen werden. teil, weil wir damit einem Impuls für eine nachdrückliche Stärkung des Reformprozesses gegen wollen. Manfred Grund (CDU/CSU): Wie kaum ein anderes Land in Europa hat die Republik Wir wollen, dass die Republik Moldau ihre Reformen Moldau nach wie vor unter den Folgen der großen histo- entschieden fortsetzt. Deshalb benennen wir auch die De- rischen Tragödien des 20. Jahrhunderts zu leiden. Nach fizite, die hinsichtlich der Demokratisierung des Landes, Jahrzehnten kommunistischer Diktatur und den Verwer- der Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Men- fungen, die dem Zusammenbruch der Sowjetunion folg- schenrechte noch zu beheben sind. Dass die Zahl der Kla- ten, ist die Republik Moldau zum ärmsten Land des Kon- gen moldauischer Bürger gegen die eigene Regierung tinents geworden. Ihre staatliche Einheit ging infolge des beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Konfliktes um die abtrünnige Region Transnistrien verlo- den vergangenen Jahren gestiegen ist, ist zwar vor allem ren, ein Zustand, der bis heute andauert. ein Zeichen für die Entwicklung der Zivilgesellschaft, die sich ihrer Rechte mehr und mehr bewusst wird. Festzu- Für kaum ein anderes Land westlich von Russland ist halten ist aber auch, dass diesen Klagen in den vergan- die europäische Perspektive von ähnlicher Bedeutung genen Jahren in mehr als 100 Fällen stattgegeben wurde. und mit ähnlichen Hoffnungen verbunden. Dabei ist es in erster Linie auf historische Zufälle zurückzuführen, dass So wird die Meinungsfreiheit noch nicht ausreichend die Republik Moldau im bisherigen Erweiterungsprozess gewährleistet. Die Zustände in Haftanstalten entsprechen der EU außen vor blieb. Wie die Länder des Baltikums fiel zuweilen nicht europäischen Menschenrechtsstandards. das Territorium Moldaus infolge des Zusatzprotokolls Die Unabhängigkeit der Justiz, insbesondere auch von zum Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjetunion. Doch anders politischen Einflussnahmen, ist nicht hinreichend gesi- als Litauen, Lettland und Estland vermochte Moldau chert. Der Verdacht der politischen Instrumentalisierung nach deren Ende schon infolge des andauernden Kon- von Strafverfahren ist jedenfalls in bestimmten Fällen flikts um Transnistrien keinen vergleichbar schnellen An- nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Problematisch schluss an den Westen zu finden. sind in dieser Hinsicht auch die Befugnisse der General- staatsanwaltschaft. Während die Bürgerkriege im ehemaligen Jugosla- wien letztlich als Katalysator des EU-Integrationsprozes- Wir haben große Erwartungen an unsere Freunde in ses wirkten, war es im Falle Moldaus das frühe Ende der der Republik Moldau. Wir erwarten einen entschiedenen 18378 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Manfred Grund (A) Ausbau der rechtsstaatlichen Garantien, und wir erwar- pen ab. Die Rechte der russischen Minderheit sind in der (C) ten eine verstärkte, eine wirklich durchgreifende Be- Republik Moldau umfassend gewährleistet, und Chisinau kämpfung der Korruption. Wir erkennen ausdrücklich an, dürfte auch zur Gewährung eines weitgehenden Autono- welche Fortschritte dabei bereits in der einschlägigen miestatus bereit sein. In letzter Konsequenz sind es der Gesetzgebung gemacht wurden. Probleme bestehen je- Charakter des Regimes in Tiraspol und indirekt die Hal- doch oft noch darin, dass diese Gesetzgebung nicht oder tung Russlands, die für eine Lösung ausschlaggebend nicht vollständig umgesetzt wird. sind. Besondere Aufmerksamkeit muss den für 2009 anste- Denn die Voraussetzung einer Wiedervereinigung henden Parlamentswahlen gelten. Zu fairen Wahlen wird muss sein, dass in Transnistrien ein ebensolcher Trans- die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs al- formationsprozess stattfindet, wie er sich in der Republik ler Parteien zu den Medien gehören müssen. Ich verhehle Moldau vollzieht. Die Alternative wäre nur ein Rück- nicht, dass die Anhebung der Sperrklausel von 4 auf schlag in der demokratischen und rechtsstaatlichen Ent- 6 Prozent und das Verbot von Listenverbindungen bei mir wicklung Moldaus insgesamt. Das ist der Grund, weshalb Bedenken hervorrufen. An sich wären diese Änderungen die EU das Kozak-Memorandum abgelehnt hat. grundsätzlich nicht zu beanstanden. Schließlich gibt es ähnliche Regelungen auch in anderen europäischen Län- Hoffnungen auf eine schnelle Lösung des Konflikts ha- dern. Dass sie so kurzfristig vor den Wahlen erfolgt sind ben sich bislang immer wieder zerschlagen. Die Europäi- und den Oppositionsparteien nur wenig Gelegenheit zur sche Union hat ihr Engagement in dem Konflikt in den Anpassung lassen, muss jedoch die Frage aufwerfen, ob letzten Jahren verstärkt. Aber wir sollten uns auch auf diese Maßnahmen nicht letztlich dem Erhalt bestehender eine langfristigere Strategie einstellen. Und wir sollten Mehrheitsverhältnisse dienen. Unverhältnismäßig er- dabei auch auf einen Wettbewerb der Systeme setzen. scheint mir auch die Tatsache, dass Doppelstaatsbürger Eine Republik Moldau, in der rechtsstaatliche und de- von bestimmten öffentlichen Ämtern ausgeschlossen wer- mokratische Reformen weiter voranschreiten, in der sich den sollen – obwohl ich durchaus verstehe, dass sich für ein wirtschaftlicher Aufbauprozess vollzieht, wird ihre viele Moldauer damit Sorgen um ihre nationale Identität Anziehungskraft gegenüber Transnistrien stärken. Eine verbinden. konsequente Politik der Westintegration wird über kurz Wir treten gleichwohl für eine schnellstmögliche Auf- oder lang auch Russlands Wahrnehmung seiner Interes- nahme von Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen sen in der Region beeinflussen und den strategischen des auslaufenden Partnerschafts- und Kooperationsab- Wert des Regimes in Tiraspol infrage stellen. Dafür aber kommens ein, und zwar für ein Abkommen, das auch den braucht Chisinau eine strategische Perspektive, die nur Erwartungen der Republik Moldau gerecht wird und da- die EU anbieten kann. (B) (D) mit substanziell über den bisherigen Rahmen hinausgeht. Die bisherigen Reformbemühungen in Moldau rechtferti- Die Republik Moldau wird darauf nicht unendlich lang gen es nicht, dass das Verhältnis zur Republik Moldau warten können. Der Abwanderungsdruck gerade der jun- hinter die Verhandlungen mit anderen Partnern zurück- gen, flexiblen und gut ausgebildeten Menschen ist seit fällt. Wir tun dies jedoch in der Hoffnung, dass die Repu- Jahren hoch. Er hat sich durch die jüngste Erweiterung blik Moldau ihrerseits die Wahlgesetzgebung noch ein- der EU eher noch verstärkt, indem sie Visaschranken an mal überprüft und gegebenenfalls auch Vorschläge der Grenzen schuf, wo vorher keine waren. Heute besteht Venedig-Kommission annimmt. schätzungsweise ein Drittel des Sozialprodukts in Moldau aus Rücküberweisungen seiner im Ausland lebenden Bür- Reformbedarf so deutlich zu benennen und gleichzeitig ger. für die europäische Integration der Republik Moldau ein- zutreten, stellt keinen Widerspruch dar. Im Gegenteil: Nur Sicher hat Moldau auch in wirtschaftlicher Hinsicht wer ein klares Bekenntnis zur europäischen Perspektive noch wichtige Reformaufgaben vor sich. Nicht zuletzt gilt der Republik Moldau abgibt, wer bereit ist, die Zusam- es, die Rechts- und Investitionssicherheit vor staatlichen menarbeit zu intensivieren und die Integration voranzu- Eingriffen deutlich auszubauen. Doch bringen wir nicht bringen, der kann erwarten, mit seiner Kritik als Partner zugleich die Perspektiven, die die EU zu bieten hat, nach ernst genommen zu werden und eine konstruktive Rolle zu Moldau, dann droht das Land seine potenziellen Leis- spielen. Kritik und Commitment müssen Hand in Hand tungsträger mehr und mehr an das übrige Europa zu ver- gehen. lieren, dann droht Moldau dauerhaft zum Armen- und Al- tenheim Europas zu werden. Dieses Bekenntnis zur europäischen Integration der Republik Moldau schließt unsere Bemühungen um eine Unser Interesse, das Interesse der EU an der Republik Lösung des Transnistrienkonflikts ein. Dieser Konflikt Moldau ist abstrakter, aber nicht weniger bedeutsam. darf einer EU-Integration der Republik Moldau auf Wenn es richtig ist, dass die Ausrichtung der EU weniger Dauer nicht im Wege stehen; denn dies würde das Land auf materiellen Egoismen als auf Prinzipien und Wertvor- nur dem Druck anderer Konfliktparteien ausliefern und stellungen beruht, dann ist die Republik Moldau ein Test- damit die Chancen für eine vertretbare Konfliktlösung fall für die Tragfähigkeit europäischer Politik. vermindern. Die europäische Integration der Republik Moldau zu Der Konflikt in Transnistrien folgt keinen ethnischen unterstützen, ist uns ein parteiübergreifendes Anliegen. oder religiösen Trennlinien. Seine Lösung hängt nicht von Ich freue mich, dass dieser Antrag breite Unterstützung einem Ausgleich zwischen unterschiedlichen Volksgrup- auch in die Oppositionsfraktionen hinein gefunden hat.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18379

(A) Markus Meckel (SPD): Bruttonationaleinkommens auf und stärkt lediglich Kor- (C) In den vergangenen Jahren hat die Republik Moldau ruption und organisierte Kriminalität. Das kann nicht in große Fortschritte auf ihrem Wege der Annäherung an die unserem Interesse sein. Europäische Union gemacht. Das Partnerschafts- und Der Umfang der Handelsbeziehungen zwischen der Kooperationsabkommen von 1998 sowie vor allem das Republik Moldau und der EU wächst stetig. Deutschland Aktionsprogramm der vergangenen drei Jahre bildeten nimmt dabei eine wichtige Rolle ein: Bei den Importen dazu einen geeigneten Handlungsrahmen. Die 2007 unter sind wir nach dem Nachbarland Rumänien bereits der der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ins Leben geru- zweitwichtigste EU-Partner und das viertwichtigste fene Schwarzmeersynergie hat zusätzlich dafür gesorgt, Hauptlieferland insgesamt. Zudem gilt es, die Entwick- dass dieses vergleichsweise kleine Land in unserer unmit- lung der moldauischen Wirtschaft auch weiterhin mit telbaren Nachbarschaft nicht übersehen wird. Aufbauhilfen und dem Abbau von Handels- und Visa- Dennoch steht die Republik Moldau weiterhin vor ei- schranken zu stärken. Nur so können die Bemühungen ner Reihe von Problemen, zu deren Lösung die EU und der Regierung Moldaus zur Verbesserung des Investi- damit auch Deutschland beitragen kann. In vielerlei Hin- tionsklimas wirksam unterstützt werden. Des Weiteren sicht entspricht der Respekt für Menschenrechte und würde sich dies positiv auf die Lage am Arbeitsmarkt aus- Grundfreiheiten in Moldau noch immer nicht unseren wirken und dazu beitragen, dass junge, gut ausgebildete Standards. Auch zur Rechtsstaatlichkeit ist es noch ein Moldauer nicht ins Ausland abwandern müssen, um das weiter Weg. Dabei sieht sich die Republik Moldau insbe- nötige Geld an Ihre Familien zurücküberweisen zu kön- sondere bei der Umsetzung der Gesetzgebung strukturell nen. bedingten Problemen gegenüber. Die jüngsten Anstren- gungen des Landes bei der Reform des Justiz- und Poli- Besonders lähmend für die Entwicklung der Republik zeiwesens sowie im Bereich der Korruptionsbekämpfung Moldau und hinderlich für ihren Weg der Annäherung an sollten daher auch künftig konstruktiv begleitet werden. die EU ist der weiterhin ungeklärte Transnistrien-Konf- Ein neues Rahmenabkommen kann dabei den Weg frei- likt. Immerhin hat Präsident Voronin im April dieses Jah- machen für neue gemeinsame Vorhaben. res die Gespräche mit der Führung der abtrünnigen Re- gion wieder aufgenommen. Zudem hat die moldauische Im Hinblick auf die Parlamentswahlen Moldaus im Regierung kürzlich Entwürfe für neuerliche Verhandlun- kommenden Jahr wird deutlich, dass der Demokratisie- gen im Rahmen des 5+2-Prozesses ausarbeiten lassen. rungsprozess noch viele Defizite aufweist. Die jüngsten Sie enthalten unter anderem einen Gesetzesentwurf für Änderungen der Wahlgesetzgebung und die gegenwärtige ein Autonomiestatut Transnistriens und Fristen zur Um- Lage von Meinungs- und Pressefreiheit geben dabei setzung dieses Gesetzes. Diese Schritte sind ausdrücklich (B) durchaus Anlass zur Sorge. Es darf nicht angehen, dass zu begrüßen, ebenso die aus Moskau signalisierte Bereit- (D) die moldauische Regierung über das Justizministerium schaft, zur Stärkung des beiderseitigen Vertrauens beizu- die Zusammenschlüsse von Parteien verhindert. Denn in tragen. Auch die russische Staatsduma hat beschlossen, Kombination mit der neuen Sechs-Prozent-Hürde soll da- dass eine Lösung dieses Konfliktes unter Achtung der ter- mit einzig und allein der Machterhalt der Kommunisti- ritorialen Integrität Moldaus erfolgen soll. Es ist wichtig, schen Partei oder gar ihre absolute Parlamentsmehrheit dass die EU in Fragen der gemeinsamen Nachbarschaft gesichert werden. eng mit Russland zusammenarbeitet. Neben der Fortsetzung des kritischen Dialogs und der Angesichts dieser positiven jüngeren Entwicklungen konstruktiven Zusammenarbeit im Rahmen von OSZE ist es unerlässlich, dass die Bundesregierung alle Gele- und Europäischer Nachbarschaftspolitik bedarf es des- genheiten wahrnimmt, im Rahmen des 5+2-Prozesses halb auch und vor allem des Engagements unserer Par- über OSZE, EU und die guten Beziehungen zu Russland teien und politischen Stiftungen, um die demokratische eine Lösung des Transnistrien-Konfliktes voranzutreiben. und freie Entwicklung der jungen moldauischen Demo- Wichtig ist dabei auch, dass die immer noch in Transnis- kratie zu unterstützen. Dies gilt sowohl mit Blick auf die trien lagernden Waffen kontrolliert abgezogen werden politischen Parteien als auch auf die Zivilgesellschaft. und somit deren Proliferation in andere Konfliktgebiete Einhalt geboten werden kann. Gerade im Kontext der in- Wirtschaftlich sieht sich die Republik Moldau eben- stabilen Lage im Nordkaukasus ist dies gewiss auch im falls zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Deren Interesse Russlands. Bewältigung ist für uns als Nachbarn von gleichermaßen außenhandels- und sicherheitspolitischer Relevanz. Ins- Viele Menschen in der Republik Moldau hoffen auf besondere in den ländlich geprägten Regionen Moldaus eine europäische Perspektive. Dem hat auch die mol- verarmt und überaltert die Gesellschaft zusehends. In dauische Regierung wiederholt Ausdruck verliehen. Der einer am Montag vorgelegten Studie hat die OECD die Weg allerdings ist noch weit und das Land hat noch viele dramatischen Auswirkungen skizziert, welche die Dop- herausfordernde Aufgaben vor sich. Eine zügige Fortset- pelbelastung von Transformation und Globalisierung für zung der konstruktiven Zusammenarbeit würde dabei bei- die Arbeitsmärkte der Schwarzmeerstaaten verdeutlicht. den Seiten viele Möglichkeiten eröffnen. Denn wenn die Ohne ausreichend zusätzliche Jobs kann das wirtschaftli- Moldauer entschlossen danach streben, ein Teil des in che Wachstum auch in der Republik Moldau nicht die Ab- Frieden und Freiheit vereinten, demokratischen Europas wanderung von Arbeitskräften verhindern – ob ins Aus- zu werden, dann müssen wir dies nach Kräften unterstüt- land oder in die Schattenwirtschaft. Und diese kommt zen und dem jeweiligen Fortschritt entsprechend beant- immerhin in der Republik Moldau für etwa die Hälfte des worten.

Zu Protokoll gegebene Reden 18380 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Michael Link (Heilbronn) (FDP): Nachbarschaftspolitik.“ Insofern sitzen die Moldauer (C) Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommis- zwischen den Stühlen. Was ist nun richtig? sion zur Umsetzung der EU-Nachbarschaftspolitik vom Das Beispiel Moldaus zeigt, dass sich Deutschland 3. April 2008 hat zu unser aller Freude festgestellt, dass und die Europäische Union in dieser Frage ihrer außen- die Republik Moldau bedeutsame Schritte auf dem Weg politischen Verantwortung stellen müssen. Dabei ist es der Annäherung an die EU vollzogen hat. So wurden po- auch ganz klar, dass wir in diesem Falle nicht nur einem sitive Entwicklungen im Bereich der Menschrechtspolitik Land zur Seite stehen. Es ist in unserem ureigenen Inte- und dem Ausbau der Rechtsstaatlichkeit erreicht. Diese resse, dass Länder, die sich in direkter Nachbarschaft zur Erfolge sind für uns besonders wichtig, ist die Republik EU befinden, ein möglichst hohes Maß an Stabilität errei- Moldau doch durch den Beitritt Rumäniens zur Europäi- chen. Deshalb begrüßt und unterstützt die FDP-Bundes- schen Union ein direktes Nachbarland geworden. Des- tagsfraktion diesen interfraktionellen Antrag, der an den halb ist es auch selbstverständlich, dass man sich nicht Antrag aus der letzten Legislaturperiode anknüpft. Die auf den Erfolgen ausruht. Es ist noch sehr viel zu tun. europäische Integration der Republik Moldau muss un- Das gilt für beide Seiten – für Deutschland und die EU terstützt werden. einerseits, aber vor allem für die Republik Moldau selbst. Denn noch immer muss man das Land am Dnjestr als ein Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): „Armenhaus Europas“ bezeichnen – das durchschnittli- Die Republik Moldau hat in den letzten Jahren eine che Pro-Kopf-Einkommen ist mit circa 100 Euro im Mo- sehr positive Entwicklung genommen. Dies freut die nat erschreckend niedrig. Noch immer fristet dieses Land Fraktion Die Linke umso mehr, als in der Republik Mol- in der öffentlichen Wahrnehmung ein „Schattendasein“. dau seit 2001 unsere Schwesterpartei, die PCRM, regiert. Wann kann man schon mal etwas in den Medien über Wir erinnern uns noch sehr gut an die kritischen Kom- Moldau erfahren? Noch immer müssen deutliche Fort- mentare aus den verschiedenen politischen Familien Eu- schritte vor allem bei der Stärkung demokratischer Ein- ropas, als die PCRM in demokratischen Wahlen erstmals richtungen, der Menschenrechte, der Bekämpfung der mit überwältigender Mehrheit gewählt wurde. Es spricht Korruption sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz er- ganz offensichtlich für politische Zustimmung und Akzep- zielt werden. Menschen- und Organhandel sind dabei als tanz unter den Wählerinnen und Wählern der Republik bedrückendste Probleme zu nennen. Moldau, dass ihr Regierungsauftrag bei der letzten Wahl Und noch immer ist die Transnistrien-Frage ungelöst. klar bestätigt wurde. Selbst die Unionsfraktion kommt Russland darf seine Rolle als wichtiger Wirtschaftspart- nicht umhin, die gute Zusammenarbeit mit den moldaui- ner und Energielieferant dieses Landes nicht ausnutzen, schen Kommunistinnen und Kommunisten zu würdigen! um es zu erpressen, wie es in der Vergangenheit häufig (B) Über eine solche Realitätseinsicht freut sich Die Linke (D) der Fall war. Herr Außenminister, auch das ist eine selbstverständlich, und vielleicht könnte dies, meine sehr Frage, in der Russland seiner Rolle im Sinne einer „Mo- verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Union, auch dernisierungspartnerschaft“ mit Deutschland und der ein Anlass sein, dass Sie einmal über Ihren verkrampften EU gerecht werden muss. Russland muss sich von seinem Umgang mit der Linken im Deutschen Bundestag nachden- ständigen „Njet“ und seiner zu sehr an Macht- und Ein- ken. Die Tatsache, dass der heute vorliegende interfraktio- flusspolitik ausgerichteten Strategie lösen, um an einer nelle Antrag zur europäischen Integration Moldaus unter konstruktiven Lösung dieses sogenannten frozen conflict Ausgrenzung der Linken zustande kam, zeigt wieder, dass mitzuarbeiten. Vertreter mancher Fraktionen ihre aus dem Kalten Krieg Wir müssen daran arbeiten, dass Transnistrien entmi- ererbte Wagenburgmentalität offenbar weiter pflegen litarisiert und entkriminalisiert wird. Es gibt kaum eine möchten. Damit erweisen Sie weder sich selbst, noch der Region in Europa mit einem derartig großen Arsenal kon- Republik Moldau einen Dienst. ventioneller Waffen. Transnistrien gilt auch als Geld- Denn gerade in der Republik Moldau haben wir durch waschanlage, als Drogenumschlagsplatz und als unsere guten Kontakte dazu beigetragen, dass sich mit Schmuggelhölle. der Kommunistischen Partei der Republik Moldawien Umso dringender ist hier gemeinschaftliches Handeln und ihrem Präsidenten, Vladimir Voronin, ein enger Aus- gefordert. Positiv zu erwähnen ist die Arbeit, die die tausch zwischen der Europäischen Union und der Repu- „EUBAM“, die „Border Assistance Mission“ der Euro- blik Moldau entwickelt hat. So haben wir bereits vor zwei päischen Union, an der ukrainisch-moldauischen Grenze Jahren bei unserer internationalen Europakonferenz hier mit 122 Experten aus 22 EU-Mitgliedstaaten leistet. Es im Deutschen Bundestag Vertreter der Kommunistischen bedarf aber eines Mehrs an Anstrengungen. Partei als Gäste und Referenten willkommen heißen kön- nen. Ich denke, wir alle sind uns einig: Die Republik Mol- dau ist ein Teil von Europa. Wenn wir uns darüber einig Wirtschaftspolitisch stellt sich die Entwicklung in der sind, dann müssen wir aber auch entsprechend handeln Republik Moldau noch immer als schwierig dar. Ein we- und die Republik Moldau als solche behandeln. Deshalb sentlicher Grund hierfür ist nicht zuletzt auch der unge- braucht sie weiterhin unsere Unterstützung, um die ange- klärte Konflikt in Transnistrien. Wir bekräftigen in die- sprochenen Probleme bewältigen zu können. Die Repu- sem Zusammenhang ausdrücklich die Forderung des blik Moldau ist das einzige Land des „Stabilitätspaktes interfraktionellen Antrags, dass eine Lösung des Trans- für Südosteuropa“ ohne konkrete EU-Betrittsperspektive. nistrien-Konflikts die volle Souveränität und territoriale Gleichzeitig ist sie Teilnehmerin der „Europäischen Integrität der Republik Moldau sichern muss.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18381

Dr. Diether Dehm (A) Trotz der schwierigen Situation in der Region konnte wird, halten wir für falsch. Sie muss dringend korrigiert (C) in der Republik Moldau ein Wirtschaftswachstum von werden. Wir treten zwar für eine Öffnung der Märkte der 4 bis 7 Prozent erreicht werden. Die Armut im Land hat Nachbarschaftsstaaten für die Waren in der EU ein, sehen sich von fast 80 Prozent auf zwischenzeitlich etwa aber die Notwendigkeit, diesen Staaten eigenständige 30 Prozent reduziert. Die offizielle Arbeitslosenquote ist Entwicklungsperspektiven zu belassen. Hierzu gehört vor von 8 auf 2,1 Prozent gefallen. Dabei dürfen wir jedoch allem die Förderung der binnenwirtschaftlichen Entwick- nicht vergessen, dass viele moldawische Bürger ihr Land lung mit öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur. Es verlassen mussten, um in anderen Staaten Arbeit zu fin- kann deshalb nicht angehen, dass die EU die Partner- den. Die Industrieproduktion konnte sich bei einem zwi- schaftsländer mit mehr oder minder sanftem Druck dazu schenzeitlich konsolidierten Wachstum von circa 6 Pro- zwingt, ihre vorhandenen oder weiter aufzubauenden In- zent erholen. frastrukturen rigoros zu privatisieren und die öffentliche Daseinsvorsorge immer weiter abzubauen. Deutschland ist für die Republik Moldau einer der wichtigsten Handelspartner: 12,2 Prozent aller Exporte Die Kommunistische Partei der Republik Moldau hat und 8,7 Prozent aller Importe des Landes werden mit ihren ersten großen Wahlerfolg vor dem Hintergrund ei- Deutschland abgewickelt. Trotzdem sollten wir nicht ver- ner extremen Armutssituation errungen und seither wich- kennen, dass aufgrund der geografischen Nähe und der tige Erfolge bei der Bekämpfung der Armut erreicht. Ge- traditionellen Handelsbeziehungen nach wie vor Russ- rade dieses neugewonnene Fundament zwischen land der Haupthandelspartner für die Republik Moldau ökonomischem Wiederaufbau und sozialem Ausgleich ist. Über 20 Prozent des gesamten Handelsvolumens der würde durch neoliberalen Privatisierungszwang wieder Republik entfallen auf den moldauisch-russischen Han- gefährdet. del. Auch aus diesem Grund ist eine friedliche und ein- vernehmliche Zusammenarbeit der Republik Moldau mit Des Weiteren beurteilen wir die im Antrag erwähnte Russland von großem Gewicht für die weitere wirtschaft- Schwarzmeer-Synergie deutlich differenzierter und kriti- liche Entwicklung. Alle Versuche der EU, durch ihre scher als die antragstellenden Fraktionen. In der Mittei- asymmetrische Nachbarschaftspolitik eine geostrategi- lung der Kommission zur Schwarzmeer-Synergie wird sche Veränderung zulasten Russlands durchzusetzen, explizit sofort darauf hingewiesen, dass die Schwarz- werden so die Entwicklung und Befriedung der Region meer-Region einen eigenen geografischen Raum bilde: spürbar erschweren. reich an natürlichen Ressourcen und an der strategischen Schnittstelle zwischen Europa, Nahost und Innerasien Die Fraktion Die Linke begrüßt den vorgelegten inter- liegend. Die Schwarzmeer-Synergie wird von EU-Seite fraktionellen Antrag grundsätzlich, wird sich in der Ab- primär aufgrund eigener imperialer Ambitionen forciert. (B) stimmung jedoch enthalten, da wir meinen, dass der An- Die Interessen der Anrainerstaaten der Schwarzmeer-Re- (D) trag einige problematische Aspekte beinhaltet, die zu gion geraten hierdurch ins Hintertreffen. Ein zentraler vermeiden gewesen wären, wenn es zu einem echten in- Punkt der Schwarzmeer-Synergie ist nicht zuletzt die terfraktionellen Antrag – unter Einbeziehung der Frak- Steuerung der Migration durch eine Verbesserung der tion Die Linke – gekommen wäre. Grenzsicherung. Damit wird – wie auch in der EU-Mit- telmeer-Strategie – die vermeintliche Sicherung der EU- Für problematisch halten wir die positive Bezugnahme Außengrenze in die Nachbarregionen der Europäischen auf die von der EU als Grundlage für Visaerleichterung Union vorverlegt. Soziale, wirtschaftliche und infrastruk- vorgeschriebenen Rückführungsabkommen. Die EU nutzt turelle Hilfe wird an die Erfüllung der Forderungen der die Visaerleichterungen für die Menschen in den Partner- EU geknüpft. Das halten wir für inakzeptabel. ländern dazu, ihre eigene, höchst restriktive Flüchtlings- politik durch Druck auf diese Staaten durchzusetzen und Positiv sind dagegen die gemeinsamen Projekte zur ihnen auch gleich noch die Rückführungskosten aufzu- Verbesserung der Umweltsituation. Hier wünscht sich bürden. Die Linke jedoch noch ein weitaus größeres Engagement der EU und Deutschlands. Die Fraktion Die Linke tritt dafür ein, dass mit der Re- publik Moldau schnellstmöglich ein Abkommen zur voll- Positiv ist im Antrag außerdem zu bewerten, dass der ständigen Visabefreiung abgeschlossen wird. Wir sind politische Dialog mit der Republik Moldau intensiviert davon überzeugt, dass dies auch eine wichtige Vorausset- und ein neues konsolidiertes Partnerschafts- und Koope- zung zur Stärkung der Souveränitat und territorialen In- rationsabkommen geschlossen werden soll. Die Linke un- tegrität ist, um panrumänische Begehrlichkeit einzudäm- terstützt die Forderung, schnellstmöglich Verhandlungen men. Viele Moldauer, die als zweite Staatsbürgerschaft zu einem Nachfolgeabkommen aufzunehmen. Gleichzei- die rumänische angenommen haben, taten dies vor allem tig erwarten wir ein größeres Entgegenkommen gegen- wegen der diskriminierenden Visapraxis und um Zugang über den berechtigten Forderungen der Republik Mol- zum europäischen Arbeitsmarkt zu bekommen. dau. Die Fraktion Die Linke unterstützt eine partnerschaft- Summa summarum unterstützt Die Linke jegliche Be- liche und gleichberechtigte Zusammenarbeit der EU mit mühung für eine bessere und sozial gerechtere Nachbar- ihren Nachbarn. Die bisherige Europäische Nachbar- schaftspolitik mit der Republik Moldau. Aufgrund der schaftspolitik, die in weiten Teilen primär für die einsei- vorgetragenen Argumente wird sie sich jedoch der tige Durchsetzung von EU-Handelsinteressen genutzt Stimme enthalten.

Zu Protokoll gegebene Reden 18382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- EUBAM: eine Hilfe zur Sicherung der moldauischen Au- (C) NEN): ßengrenze zur Ukraine. Nun müssen nach ziemlich genau Die Republik Moldova ist seit dem 1. Januar 2007 zweijähriger Aussetzung aber auch die Verhandlungen im unser unmittelbarer Nachbarstaat der EU. Sie liegt mit „Fünf-plus-Zwei-Format“ mit allen beteiligten Konflikt- nur knapp 4 Millionen Einwohnern an der Schnittstelle parteien über die informellen Gespräche hinaus unbe- zwischen der EU und der Gemeinschaft Unabhängiger dingt wieder aufgenommen werden. Die EU muss ihre Staaten. Sie strebt nach der europäischen Integration, Initiativen zur Beilegung des Konflikts fortsetzen und zur nach einer Annäherung an die EU mit dem Ziel der Mit- Vertrauensbildung auch innerhalb der ganzen Bevölke- gliedschaft und der gleichzeitigen Wahrung ihrer bünd- rung beitragen. Ziel muss eine Wiedererlangung der Ein- nispolitischen Neutralität. Das unterstützen wir natür- heit des Landes unter Rahmenbedingungen sein, die die lich. Ein jedes Land muss für sich entscheiden können, Souveränität und Sicherheit der Republik Moldova wie es sich entwickeln möchte. Und wenn es nach unseren ebenso wie den Fortgang des demokratischen und rechts- Spielregeln spielen möchte, dann ist das für uns nur gut. staatlichen Reformprozesses ermöglichen. Wie durch den Fortschrittsbericht der Europäischen Seit 2007 sind wir in der EU Haupthandelspartner der Kommission vom 3. April 2008 zur Umsetzung der EU- Republik Moldova. Die in diesem Jahr erworbenen auto- Nachbarschaftspolitik in Moldova bestätigt, ist Moldova nomen Handelspräferenzen sind ein guter Schritt nach auf dem richtigen Weg der Annäherung. Zu den Fort- vorne für Moldova; denn sie sollen dazu beitragen, dass schritten zählen beispielsweise die Annahme einer um- die negative Handelsbilanz ausgeglichen wird. Die Repu- fangreichen Strategie zur Reform des Justizsystems, die blik Moldova; macht leichte Fortschritte in ihrem Streben Ratifizierung der Konvention der Vereinten Nationen ge- nach Etablierung eines guten Investitionsklimas, sodass gen Korruption, die gesetzliche Heranführung an VN- sich die direkten ausländischen Investitionen zwischen Standards und Fortschritte bei der Wahrung der Men- 2006 und 2007 bereits nahezu verdoppelt haben. schenrechte. Autonome Handelspräferenzen und das Vi- Dennoch hat die Republik Moldova mit weiteren wirt- saerleichterungs- und Rückführungsabkommen mit der schaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Abhängigkeit EU sind Erfolge, die die Republik schrittweise erzielen von ausländischer Energieversorgung, insbesondere von konnte. Jedoch muss zur weiteren Annäherung an EU- Energielieferungen aus Russland, eine Agrarproduktion, Standards und internationale Menschenrechtsstandards die durch die Dürre des Jahres 2007 massiv geschädigt noch dringend die Umsetzung der Gesetzgebung bezüg- wurde, über ein Jahr anhaltende russische Importverbote lich der Gewährleistung der Meinungs- und Pressefrei- für moldauische Produkte, speziell Wein, haben zu dra- heit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Bekämpfung matischen ökonomischen Auswirkungen geführt. Laut der Korruption vorangetrieben werden. Menschenrecht- Fortschrittsbericht der EU-Kommission lebt jeder Vierte (B) (D) liche Probleme bestehen dabei vor allem noch immer bei der Moldauer und Moldauerinnen unter der Armuts- der Situation in Polizeigewahrsam und in Justizvollzugs- grenze. Die massive Abwanderung hat dazu beigetragen, anstalten. dass dem moldauischen Arbeitsmarkt junge qualifizierte Die Stärkung von demokratischen, rechtsstaatlichen sowie auch einfache Arbeiterinnen und Arbeiter fehlen. und marktwirtschaftlichen Strukturen ist eine Vorausset- Nach unterschiedlichen Datenerhebungen befinden sich zung sowohl für eine weitere Integration in die EU als zwischen 300 000 und 800 000 Moldauerinnen und Mol- auch für die politische, ökonomische und gesellschaftli- dauer zur oft illegalen Berufsausübung dauerhaft im Aus- che Zukunft von Moldova. Entscheidende Voraussetzun- land. Ein Drittel des moldauischen Bruttoinlandspro- gen dafür sind die Unterstützung durch die EU, wie sie duktes speist sich aus dem von Auslandsarbeiterinnen inzwischen im Rahmen des Instruments der EU-Nachbar- und -arbeitern nach Hause geschickten Geld. schaftspolitik erfolgt, und eine aktive innenpolitische Re- Diese Entwicklungen im ärmsten Land Europas an den formpolitik der moldauischen Regierung unter Wahrung direkten Grenzen der EU liegen weder im Interesse der außenpolitischer Stabilität. Menschen im Land noch in unserem Interesse in der EU. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass der Transfor- Deswegen fordern wir eine Stärkung der Zusammenar- mationsprozess in der Republik Moldova sich unter be- beit sowohl im bilateralen wie auch im europäischen sonderen Herausforderungen vollzog und vollzieht. Die Rahmen. territoriale Integrität und Stabilität wird seit mittlerweile Wir müssen daran interessiert sein, im Laufe der Um- eineinhalb Jahrzehnten durch die Abspaltung des Lan- setzung der EU-Standards durch die Republik Moldova desteils Transnistrien beeinträchtigt. Zu diesem einge- auch ihre weitere Heranführung an die EU zu unterstüt- frorenen Konflikt direkt an der Grenze der EU gehört zen. Ich freue mich, dass wir hier interfraktionell an un- nach Angaben der OSZE die Lagerung von circa sere Tradition anknüpfen und unseren gemeinsamen Be- 20 000 Tonnen russischer Restmunitionsbestände auf un- schluss von 2004 mit diesem Antrag bekräftigen. gefähr 100 Hektar Land. Auch vor diesem Hintergrund ist eine konstruktive Rolle Russlands bei der Lösung des Präsident Dr. Norbert Lammert: Konflikts mit Umsetzung der 1999 auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul getroffenen Vereinbarungen von entscheiden- Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen CDU/ der Bedeutung. CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9755? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Wir begrüßen das seit 2005 verstärkte Engagement hält sich? – Der Antrag ist bei Stimmenthaltung der Lin- der EU in der Region. Ein erfolgreiches Beispiel ist ken so angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18383

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatz- warten wir, dass Sie, die Träger der Bundesregierung, (C) punkt 11 auf: die Koalitionsfraktionen, diesem Antrag willig und fröh- lich zustimmen. 27 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, Elke Hoff, (Beifall bei der FDP) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Der Verteidigungsminister tut nichts, weil er eine an- Bekämpfung von Piraterie dere Agenda hat. Er will nämlich eine Grundgesetzände- rung veranlassen, und er möchte über eine Grundge- – Drucksache 16/9609 – setzänderung die in Deutschland so bewährte Trennung ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten von innerer und äußerer Sicherung aushebeln. Dr. Uschi Eid, Kerstin Müller (Köln), Marieluise (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Darum geht’s!) Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Krone setzt dem Ganzen dann noch der Parla- mentarische Staatssekretär Kossendey auf, Ursachen der Piraterie vor der somalischen Küste bearbeiten – Politische Konfliktlösungs- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wo ist er schritte für Somalia vorantreiben eigentlich?) – Drucksache 16/9761 – der wörtlich zum Thema Nothilfe, die er verweigert, sagt: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Aber sobald der Überfall abgeschlossen ist, die Pi- Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre raten mit dem Schiff abziehen, die Besatzung ge- fangen gesetzt haben, ist eine Verfolgung durch keinen Widerspruch. Vermutlich werden wir diese Zeit deutsche Marineeinheiten nicht mehr möglich … nicht ganz benötigen. Das ist bodenlos, unanständig und falsch. Das muss ge- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kol- geißelt werden. lege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP) DIE GRÜNEN)

Dr. Rainer Stinner (FDP): Nothilfe dauert eindeutig solange an, wie die Gefahr für die Opfer nicht gebannt ist. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (B) gen! Beim Thema Piraterie gibt es gegenwärtige zwei Das Verteidigungsministerium behauptet weiter, die (D) schlimme Entwicklungen. Ich weiß noch nicht genau, Bekämpfung von Soldaten sei eine Polizeiaufgabe und welche von beiden wirklich schlimmer ist. von daher von der Bundeswehr nicht durchzuführen. Das ist wieder falsch, Herr Minister. Die Bundeswehr Auf der einen Seite gibt es am Golf von Aden Pirate- nimmt heute im Ausland schon mehrfach Polizeiaufga- rie in großem Umfang. Über 20 Schiffe sind allein schon ben wahr, zum Beispiel im Kosovo beim Thema „Crowd in diesem Jahr der Piraterie zum Opfer gefallen. In den and Riot Control“. Das heißt, es werden Bundeswehrsol- letzten Tagen war es eine deutsche Jacht bzw. ein deut- daten ausdrücklich ausgebildet und ausgerüstet, um Poli- sches Schiff. Deutsche Bürger werden überfallen, und zeiaufgaben im Ausland wahrzunehmen. ihre Schiffe werden gekapert. Der internationale See- transport ist erheblich geschädigt. Auf der anderen Seite Diese meine Meinung wird auch vom Auswärtigen – das ist genauso schlimm – gibt es eine unglaubliche Amt gedeckt, wonach die Gewährleistung der öffentli- Konfusion und Widersprüchlichkeit der Bundesregie- chen Sicherheit durch den Einsatz gegen gewalttätige rung in diesem Fall. Die Bundesregierung ist hier nicht Demonstranten grundsätzlich eine Polizeiaufgabe sei. handlungsfähig. Auch das ist angesichts der Bedeutung Ich zitiere wörtlich: dieses Themas für unser Land eine schlimme Entwick- Daran ändert nichts, dass diese Aufgabe im Rah- lung. men eines Auslandseinsatzes auch von der Bundes- Zum Ersten. Der Deutsche Bundestag hat im wehr wahrzunehmen sein kann. Jahr 1994 ein Seerechtsübereinkommen mitratifiziert. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wo er recht hat, hat Damit haben wir uns zur Bekämpfung der Piraterie ver- er recht!) pflichtet. Das ist auch gemäß Art. 25 des Grundgesetzes Teil des Bundesrechts, wie mir die Bundesregierung auf Das ist eine öffentliche, eine amtliche Ohrfeige des Aus- meine Anfrage hin noch einmal bestätigt hat. Das sagt wärtigen Amtes für den Herrn Bundesverteidigungsmi- nister. das Auswärtige Amt, und das sage auch ich. Demnach kann die deutsche Marine schon heute ohne jede Geset- Das Innenministerium konnte mir hingegen auf meine zesänderung und ohne jede Verfassungsänderung gegen Frage vom 5. Juni, ob Polizeiaufgaben für die Bundes- Piraten vorgehen. wehr im Ausland zulässig sind, bis zum heutigen Tag – also nach Überschreiten der üblichen Frist für die Be- Wir haben heute in einem Antrag das zusammenge- antwortung von Fragen – keine Antwort geben. stellt, was die Bundesregierung auf unsere Fragen hin geantwortet hat. Wir haben kein Wort hinzugefügt, son- Überall herrscht Konfusion. Damit komme ich zum dern die Bundesregierung wörtlich zitiert. Deshalb er- zweiten Punkt. Die Bundesregierung ist in der Frage 18384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Rainer Stinner (A) nicht handlungsfähig. Sie ist nicht einig, und sie ist – das Tagesordnungspunkt 27. Wir kommen jetzt zur Ab- (C) ist das Schlimme – offensichtlich nicht einigungsfähig. stimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9609 mit dem Titel „Bekämpfung von (Zuruf von der FDP: Genau!) Piraterie“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt Dabei ist der Kern des Konflikts offensichtlich. Die dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mehrheit- CDU/CSU fordert vehement eine Änderung des lich abgelehnt. Art. 87 a des Grundgesetzes, obwohl dies überflüssig ist. Die SPD ist strikt dagegen und vertritt dies auch laut. In- Zusatzpunkt 11. Hierbei geht es um die Abstimmung sofern ist es für einen Außenstehenden völlig unerträg- über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lich, wenn der Verteidigungsminister als Mitglied der auf der Drucksache 16/9761 mit dem Titel „Ursachen Bundesregierung – die meines Wissens immer noch von der Piraterie vor der somalischen Küste bearbeiten – der SPD und der Union gestellt wird – nach wie vor sagt, Politische Konfliktlösungsschritte für Somalia vorantrei- dass eine Verfassungsänderung notwendig ist, aber kurz ben“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? – darauf prominente Mitglieder der SPD-Fraktion im Ver- Wer enthält sich? – Auch dieser Antrag ist mehrheitlich teidigungsausschuss das unter allen Umständen aus- abgelehnt. schließen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28: Dass sich die Koalition in keiner Frage mehr einig ist, Zweite Beratung und Schlussabstimmung des ist schon traurig genug. von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Herr Stinner, eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. No- jetzt weinen Sie doch mal richtig!) vember 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Volks- Dass aber diese Uneinigkeit auf dem Rücken unserer republik Algerien zur Vermeidung der Dop- Soldaten und unschuldiger Betroffener ausgetragen pelbesteuerung und zur Verhinderung der wird, halten wir für unanständig. Es gibt Soldaten, die Steuervermeidung und Steuerhinterziehung sich schämen – darüber reden sie, wenn man sie besucht; auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen wenn Sie dorthin fahren würden, Herr Weisskirchen, dann würden Sie das wissen – , weil sie die Verfolgung und vom Vermögen von offensichtlicher Piraterie anderen Ländern überlas- – Drucksache 16/9561 – sen müssen. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Deshalb fordern wir Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass schusses (7. Ausschuss) die Marine das tut, was sie schon lange darf! Sorgen Sie (B) dafür, dass Deutschland seinen Verpflichtungen nach- – Drucksache 16/9786 – (D) kommt! Sorgen Sie dafür, dass die Piraterie endlich be- Berichterstattung: kämpft wird! Es bedarf nur eines Befehls des Bundes- verteidigungsministers. Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding (Heidelberg) Vielen Dank und gute Nacht. Die Reden der Kollegen Manfred Kolbe, Lothar (Beifall bei der FDP) Binding, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Barbara Höll und Dr. Gerhard Schick werden zu Protokoll genommen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ganz so schnell geht es nicht. Dass Sie, Kollege Manfred Kolbe (CDU/CSU): Stinner, Ihren heutigen Geburtstag im Bundestag bege- Wir debattieren und beschließen heute das am 12. No- hen vember 2007 in Algier unterzeichnete und jetzt noch zu (Beifall) ratifizierende Doppelbesteuerungsabkommen mit der Demokratischen Volksrepublik Algerien. Der Begriff und mit einer Rede gegen Ende, wenn auch nicht ganz Doppelbesteuerungsabkommen ist hierbei allerdings et- zum Ende der Tagesordnung, krönen, haben wir alle mit was irreführend, denn es geht in diesem Abkommen genau großem Respekt zur Kenntnis genommen. Es hat im Üb- genommen um das Gegenteil, nämlich die Vermeidung rigen die umwerfende Wirkung, dass alle anderen ge- der Doppelbesteuerung. Die Doppelbesteuerung ergibt meldeten Redner der anderen Fraktionen in besonderer sich aus einer möglichen Steuerpflicht sowohl im Quel- Würdigung dieses Ereignisses auf Gegenreden verzich- lenstaat als auch im Ansässigkeitsstaat. tet haben Ziel des Abkommens ist es, die internationale Wirt- (Heiterkeit) schaftstätigkeit und die grenzüberschreitenden Investitio- und deswegen ihre sorgfältig vorbereiteten Reden zu nen vor Doppelbesteuerungen zu schützen. Gerade für Protokoll geben.1) Auch darin kommen die guten Wün- die Bundesrepublik Deutschland haben sowohl der Ex- sche des gesamten Hauses in einer, wie ich finde, ein- port als auch die ausgedehnten Auslandsaktivitäten der drucksvollen Weise zum Ausdruck. deutschen Unternehmen eine immense Bedeutung. Es liegt daher insbesondere auch in unserem Interesse, bei (Beifall) diesen Aktivitäten die wettbewerbsverzerrenden Ein- flüsse der internationalen Doppelbesteuerung zu vermei- 1) Anlage 8 den. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18385

Manfred Kolbe (A) Auch nimmt, bedingt durch den weltweiten Wettbe- gleichen werden. Somit werden für unser Land keine nen- (C) werb, die Aggressivität der internationalen Steuerpla- nenswerten Änderungen des Steueraufkommens von nung zu. Ziele dieser Planungen sind die weitgehende Bund, Ländern und Gemeinden entstehen. Dagegen wird Gestaltbarkeit der Steuerbelastung und die Minimierung die Wirtschaft durch das Abkommen entlastet. der weltweiten Steuerlastquote. Daher ist dieses Doppelbesteuerungsabkommen zu be- Obwohl ein Doppelbesteuerungsabkommen zunächst grüßen. Es verbessert die Wettbewerbssituation deut- primär die Aufgabe der Vermeidung von Doppelbesteue- scher Unternehmen in Algerien und benachteiligt auch rungen hat, gewinnt es auch immer mehr an Bedeutung nicht das deutsche Steueraufkommen. Die CDU/CSU be- bei der Verhinderung von Missbrauch steuerlicher Rege- dankt sich bei den Verhandlungsführern für das erzielte lungen. Zudem hilft es, Besteuerungslücken, die sich aus gute Verhandlungsergebnis und stimmt dem Gesetzent- den Unterschieden in den nationalen Rechtssystemen er- wurf zu. geben, zu schließen. Bei den außenwirtschaftlichen Beziehungen unseres Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Landes gewinnt neben vielen anderen Ländern der Welt Heute behandeln wir ein weiteres Doppelbesteue- auch die Demokratische Volksrepublik Algerien mehr und rungsabkommen, und zwar das erste dieser Art mit der mehr an Bedeutung. Nach der weitgehenden Überwin- Demokratischen Volksrepublik Algerien. Während wir dung der innenpolitischen Krise Algeriens in den 90er- früher üblicherweise stets nur von DBA, Doppelbesteue- Jahren und der anschließend folgenden wirtschaftlichen rungsabkommen, gesprochen haben, wird heute explizit Erholung bergen diese Beziehungen nun ein bedeutendes in der Überschrift erwähnt, dass es sich nicht nur um ein Potenzial. Algerien steht heute bei der Erdölproduktion Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, auf Platz elf und beim Erdgas auf Platz vier der wichtigs- sondern auch „zur Verhinderung der Steuervermeidung ten Produzenten. und Steuerhinterziehung“ auf dem Gebiet der Steuern Bereits in den 70er- und 80er-Jahren wurde ein großer vom Einkommen und Vermögen handelt. Das ist ein Teil der Industrieanlagen Algeriens mit deutscher Hilfe wichtiger Schritt, der anzeigt, dass wir bei unseren zwi- errichtet. Der Modernisierungsbedarf bei diesen Indus- schenstaatlichen Kontakten auf dem Gebiet des Steuer- trieanlagen und der Infrastruktur ist in Algerien hoch und rechts und in bilateralen Abkommen auch die Vermeidung kommt zudem der deutschen Produktionspalette entge- von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zum gen. Schutz des Steuersubstrats in Deutschland in den Blick nehmen. Heute sind bereits über 140 deutsche Unternehmen mit (B) Niederlassungen, Verbindungsbüros und Handelsvertre- Das Abkommen selbst beruht in seinen wesentlichen (D) tungen auf dem algerischen Markt aktiv. Die Ausfuhr von Teilen auf dem gültigen OECD-Musterabkommen, das Deutschland nach Algerien belief sich 2007 auf einen wir an dieser Stelle schon öfter besprochen haben. Da- Wert von rund 944 Millionen Euro, wobei sich diese im nach werden Doppelbelastungen dadurch vermieden, Wesentlichen auf 25,5 Prozent Maschinen, 23,8 Prozent dass dem Quellenstaat beschränkte Besteuerungsrechte Kfz und Kfz-Teile sowie 11,8 Prozent auf chemische Er- zugewiesen werden, und der Wohnsitzstaat diese Quellen- zeugnisse verteilten. Die Einfuhr aus Algerien nach steuerrechte auf seine Steuer anrechnet oder die Ein- Deutschland belief sich im gleichen Zeitraum sogar auf künfte von seiner Besteuerung freistellt. einen Wert von 1 196 Millionen Euro. Hier machte rund 98,6 Prozent das Erdöl aus, und der Rest setzte sich im Um die Systematik zur Vermeidung der Doppelbesteu- Wesentlichen aus Chemikalien und anderen Rohstoffen erung an einem Beispiel deutlich zu machen, stellen wir zusammen. uns eine Muttergesellschaft in Deutschland vor, die an ei- ner Tochtergesellschaft in Algerien über 10 Prozent der Das heute hier zu beschließende Abkommen wurde im Anteile hält. In diesem Fall wird der Gewinn der Tochter vergangenen Jahr anlässlich eines Besuches des Bundes- zunächst in Algerien der dort üblichen Körperschaftsteuer präsidenten in Algerien unterzeichnet. Es entspricht weit- unterworfen. Auf die anschließend an die deutsche Mutter gehend dem im Zeitraum der Verhandlungen gültigen ausgeschüttete Dividende kann Algerien eine 5-prozentige OECD-Musterabkommen und anderen in dieser Zeit von Kapitalertragsteuer erheben. Deutschland vermeidet eine Deutschland abgeschlossenen Abkommen. Der in Art. 26 Doppelbesteuerung dadurch, dass es diese Dividenden des Abkommens geregelte umfassende Informationsaus- freistellt. tausch zwischen den deutschen und algerischen Finanz- verwaltungen entspricht sogar dem neuesten OECD- Nach diesem Grundmuster werden auch zum Beispiel Standard. die grenzüberschreitenden Unternehmensgewinne zwi- schen Deutschland und Algerien behandelt. Algerien darf Durch dieses Abkommen zur Beseitigung der Doppel- danach Gewinne eines deutschen Unternehmens nur be- besteuerung verzichtet die Bundesrepublik Deutschland steuern, wenn das Unternehmen eine Betriebsstätte in Al- zwar in gewissem Umfang auf Steuern. Andererseits muss gerien hat und die Gewinne der Betriebstätte zuzurech- Deutschland aber auch bisher gewährte Anrechnungen nen sind. algerischer Steuern nicht mehr oder nicht mehr in bishe- riger Höhe gewähren, da Algerien auf Quellensteuern In diesem Zusammenhang verdient ein weiterer Erfolg verzichtet. Es kann derzeit davon ausgegangen werden, erwähnt zu werden: Die Regierung konnte Schutzvor- dass sich die Regelungen des Abkommens per Saldo aus- schriften bei den Unternehmensgewinnen vereinbaren,

Zu Protokoll gegebene Reden 18386 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Lothar Binding (Heidelberg) (A) die wir in dem Protokoll zu Art. 7 zum Abkommen entneh- die beiden neuen Ansätze 4 und 5 im betreffenden Artikel (C) men. Ich zitiere: über den Informationsaustausch hervor: a) Verkauft ein Unternehmen eines Vertragsstaats (4) Ersucht ein Vertragsstaat gemäß diesem Artikel durch eine Betriebsstätte im anderen Vertragsstaat um Informationen, so nutzt der andere Vertrags- Güter oder Waren oder übt er durch eine Betriebs- staat die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkei- stätte dort eine Geschäftstätigkeit aus, so werden ten zur Beschaffung der erbetenen Informationen, die Gewinne dieser Betriebsstätte nicht auf der selbst wenn dieser andere Staat diese Informatio- Grundlage des vom Unternehmen hierfür erzielten nen für seine eigenen steuerlichen Zwecke nicht be- Gesamtbetrags, sondern nur auf der Grundlage des nötigt. Die im vorhergehenden Satz enthaltene Ver- Betrags ermittelt, der der tatsächlichen Verkaufs- pflichtung unterliegt den Beschränkungen gemäß oder Geschäftstätigkeit der Betriebsstätte zuzurech- Absatz 3, sofern diese Beschränkungen einen Ver- nen ist; tragsstaat nicht nur deshalb an der Erteilung von Informationen hindern, weil er kein innerstaatli- b) Hat ein Unternehmen eine Betriebsstätte im an- ches steuerliches Interesse an diesen Informationen deren Vertragsstaat, so werden im Fall von Verträ- hat. gen, insbesondere über Entwürfe, Lieferungen, Ein- bau oder Bau von gewerblichen, kaufmännischen (5) Absatz 3 ist in keinem Fall so auszulegen, als oder wissenschaftlichen Ausrüstungen oder Ein- könne ein Vertragsstaat die Erteilung von Informa- richtungen, oder von öffentlichen Aufträgen die Ge- tionen nur deshalb ablehnen, weil sich die Informa- winne dieser Betriebsstätte nicht auf der Grundlage tionen bei einer Bank, einem sonstigen Finanzinstitut, des Gesamtvertragspreises, sondern nur auf der einem Bevollmächtigten, Vertreter oder Treuhänder Grundlage des Teils des Vertrags ermittelt, der tat- befinden …“. sächlich von der Betriebsstätte in dem Vertrags- staat durchgeführt wird, in dem die Betriebsstätte Sie sehen, ein sehr gelungenes Vertragswerk – dafür liegt. Gewinne aus der Lieferung von Waren an die hoffen wir auf Ihre konstruktive Mitarbeit und Unterstüt- Betriebsstätte oder Gewinne im Zusammenhang mit zung. dem Teil des Vertrages, der in dem Vertragsstaat Last but not least bedanke ich mich auch im Namen durchgeführt wird, in dem der Sitz des Stammhau- meiner Fraktion für das gute Verhandlungsergebnis ses des Unternehmens liegt, können nur in diesem unserer Regierung, hierbei insbesondere bei Herrn Staat besteuert werden. Dr. Lasars aus dem Bundesfinanzministerium. Lassen Sie mich auch auf die Zinsbesteuerung einge- (B) hen: Nach dem OECD-Musterabkommen und nach Art. 11 Carl-Ludwig Thiele (FDP): (D) Abs. 2 kann ein Quellenstaat Zinsen mit 10 Prozent Quel- Die FDP wird dem Abkommen der Bundesrepublik lensteuer belasten. Allerdings wollten wir mit der Regel Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik im Art. 11 Abs. 3 Nr. a sicherstellen, dass die Exportmög- Algerien zur Vermeidung von Doppelbesteuerung und zur lichkeiten deutscher Unternehmen verbessert werden. Ich Verhinderung der Steuervermeidung und Steuerhinterzie- denke, dass die Bundesregierung mit dieser Vereinbarung hung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und einen sehr guten Verhandlungserfolg errungen hat. vom Vermögen zustimmen. Schauen wir auf folgenden Beispielsfall, der sich auf Seitens der FDP wissen wir, dass in dem Abkommen Konzerne mit Sitz in Deutschland bezieht: Wir nehmen vom 12. November 2007 die Bundesregierung als Ver- an, ein deutscher Elektrokonzern liefert ein Kraftwerk handlungsführer mit der Volksrepublik Algerien dieses beispielsweise für 100 Millionen Euro nach Algier in Al- Doppelbesteuerungsabkommen erreicht hat. gerien, die 100 Millionen Euro können aber vom algeri- schen Kunden nicht sofort bezahlt werden. In diesem Fall Es ist zwar zutreffend, dass die Bundesrepublik wird der Konzern Ratenzahlungen zugestehen und die Re- Deutschland durch das Abkommen in gewissem Umfang finanzierungskosten dem Kunden in Rechnung stellen. auf Steuern verzichtet, die dem Bund, den Ländern oder Hier konnte vereinbart werden, dass Zinsen, die „im Zu- den Gemeinden zufließen. Andererseits muss Deutsch- sammenhang mit dem Verkauf gewerblicher, kaufmänni- land die gewährte Anrechnung algerischer Steuern nicht scher oder wissenschaftlicher Ausrüstung auf Kredit ste- mehr und nicht mehr in der bisherigen Höhe gewähren, hen, von der algerischen Steuer befreit sind. weil Algerien ebenfalls auf Quellensteuern verzichtet. Mit Blick auf die schon erwähnte Zielsetzung, Steuer- Seitens der FDP haben wir den Eindruck, dass sich die vermeidung und Steuerhinterziehung zu verhindern oder Regelungen des Abkommens per Saldo ausgleichen und ihr zu begegnen, möchte ich besonders den im Art. 26 ge- somit keine nennenswerten Änderungen des Steuerauf- regelten Informationsaustausch erwähnen. Der dort ge- kommens von Bund, Ländern und Gemeinden entstehen. regelte Informationsaustausch verläuft nach dem neues- Deutschland ist im Jahr 2007 auf der 59. Rangstelle bei ten OECD-Musterabkommen und geht damit weit über der Ausfuhr algerischer Exporte und auf der 56. Rang- bisherige Regelungen in diesem Zusammenhang hinaus. stelle bei den Einfuhren. Das bedeutet, dass Deutschland Wir ermöglichen den Austausch von Informationen, die Ausfuhren in Höhe von 944 Millionen Euro und Einfuhr zur Durchführung dieses Abkommens oder zur Verwal- in Höhe von 1 196 Millionen Euro tätigte. Im Dienstleis- tung, auch zur Vollstreckung des innerstaatlichen Rechts tungsbereich bestanden 260 Millionen Euro Einnahmen betreffend Steuern jeglicher Art notwendig sind. Ich hebe und 133 Millionen Euro Ausgaben.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18387

Carl-Ludwig Thiele (A) Im Jahr 2005 wurden deutsche Direktinvestitionen von kommen die Doppelbesteuerung auf deutscher Seite (C) 124 Millionen Euro und im Jahr 2006 von 89 Millionen durch Freistellung der wichtigsten Einkünfte vermieden. Euro getätigt. Über 140 deutsche Unternehmen sind mit Nur bei Zinsen, Lizenzgebühren, Dividenden aus Streube- Niederlassungen, Verbindungsbüros und Handelsvertre- sitz sowie einigen anderen eher unbedeutenden Ein- tern auf dem Markt aktiv. Im Jahr 2004 wurden Renten- kunftsarten findet die Anrechnung der ausländischen zahlungen an 29 deutsche Versicherte und 589 ausländi- Steuer auf die deutsche Steuer statt. Damit verzichtet der sche Versicherte geleistet. hiesige Fiskus zu großen Teilen bei in Algerien erzielten Einkünften von in Deutschland Ansässigen auf eine Zudem gewinnt Algerien als Energielieferant für Eu- adäquate Erfassung der steuerlichen Bemessungsgrund- ropa immer mehr an Bedeutung. Weltweit steht Algerien lage. Der Progressionsvorbehalt, also die Berücksichti- bei der Erdölproduktion auf Platz 11, beim Erdgas auf gung der ausländischen Einkünfte bei der Bestimmung Platz 4 der wichtigsten Produzenten. des Steuersatzes, kann diese faktischen Steuerbefreiungen Zudem muss beachtet werden, dass ein erheblicher nicht kompensieren: Würden ausländische wie inländi- Modernisierungsbedarf bei Industrieanlagen und Infra- sche Einkünfte gleich behandelt, ergäbe sich derselbe struktur besteht. Auch hier sind deutsche Firmen sehr in- durchschnittliche Steuersatz auf ein durch die Aus- teressiert, diese Arbeiten auszuführen. landseinkünfte erhöhtes zu versteuerndes Einkommen. Nur die konsequente Anwendung der Anrechnungsme- Insofern begrüßen wir, dass mit diesem Abkommen die thode könnte garantieren, dass Einkünfte von Inländerin- Wirtschaft und die Steuerpflichtigen von Bürokratie und nen und Inländern steuerlich gleich behandelt werden, Rechtunsicherheit entlastet werden, da steuerliche Hin- unabhängig vom Ort der Entstehung dieser Einkünfte. dernisse im bilateralen Wirtschaftsverkehr beseitigt wer- Die Umstellung in der Ausgestaltung der Doppelbesteu- den. erungsabkommen auf die Anrechnungsmethode böte eine Chance auf mehr Steuergerechtigkeit. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Die im vorliegenden Abkommen getroffenen Vereinba- Der Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens rungen zu Informationsaustausch und Amtshilfe gegen mit Algerien ist grundsätzlich zu begrüßen. Ein solches Steuervermeidung und Steuerhinterziehung sind von Abkommen schafft Rechtssicherheit und fördert somit neuer Qualität und daher zu begrüßen. Allerdings kann Handel und Investitionen. Algerien hat dringenden Kapi- sich deren Tauglichkeit erst im Praxistest unter Beweis talbedarf; denn das Land leidet nach wie vor an den Fol- stellen. Befremdlich mutet es an, dass diese Regelungen gen des Bürgerkriegs von 1992 bis 2005. Seine Wirt- gegen Steuervermeidung und -hinterziehung ausgerech- schaftsstruktur ist sehr einseitig ausgeprägt: Der Erlös net bei einem Land zur Anwendung kommen, das nun (B) aus dem Energieexport macht über 95 Prozent der Devi- wahrlich nicht als Steueroase bekannt ist. Es bleibt abzu- (D) seneinnahmen, über 35 Prozent des Bruttoinlandspro- warten, ob mit diesem Abkommen ein neuer Standard dukts, BIP, und rund 75 Prozent der Staatseinnahmen gesetzt wurde oder ob es ein Feigenblatt für die sonst ge- aus. Die inoffizielle Arbeitslosenrate betrug 2006 genüber Steueroasen laxe Handhabung bleibt. Als Nega- 28,4 Prozent. Besonders betroffen von Arbeitslosigkeit tivbeispiel sei hier auf die Verlängerung des Doppelbe- waren Jugendliche. Algerien braucht daher ausländi- steuerungsabkommens mit den Vereinigten Arabischen sches Kapital und Know-how, um sukzessive neue Sekto- Emiraten, VAE, vom letzten Jahr verwiesen. ren und Branchen jenseits von Erdölindustrie und Land- wirtschaft aufzubauen. Als grundsätzliche Kritik bleibt, dass Deutschland als Teil der EU Freizügigkeit nur bei Kapital- und Warenver- Aus der Perspektive internationaler Steuergerechtig- kehr kennt, nicht aber für die Menschen aus Nicht-EU- keit kann am vorliegenden Abkommen positiv hervorge- Staaten. So bekommen Jugendliche aus Algerien keine hoben werden, dass Algerien ein Besteuerungsrecht ge- Ausreisevisa in EU-Länder mehr. Das stößt in den betrof- genüber deutschen Unternehmen zugestanden wurde. fenen Ländern auf Kritik und Unverständnis: Beim Demnach kann Algerien den Gewinn besteuern, der in Staatsbesuch von Bundespräsident Köhler im letzten No- produktiv tätigen Betriebsstätten deutscher Unternehmen vember hatten algerische Intellektuelle eine EU-Politik in Algerien erzielt wurde. Auch wurde Algerien ein Be- der Abschottung kritisiert. steuerungsrecht auf im Lande erwirtschaftete Dividenden und Zinsen eingeräumt, die an in Deutschland ansässige Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Personen oder Unternehmen gezahlt werden. Allerdings wurden hier enge Besteuerungsgrenzen gesetzt: Maximal Wir behandeln heute abschließend das Doppelbe- 15 Prozent Quellensteuer sind zugestanden worden. steuerungsabkommen zwischen Deutschland und Alge- rien. Der Abkommenstext folgt in weiten Teilen dem Leider hat die Bundesregierung es auch bei diesem OECD-Musterabkommen. Insoweit begrüßen wir dieses Doppelbesteuerungsabkommen versäumt, konsequent Abkommen. Denn wenn sich die Bundesregierung nicht von der Freistellungsmethode auf die Anrechnungsme- an diese multilaterale Vereinbarung hält und ab- thode umzustellen. Die Fraktion Die Linke hatte bereits weichende Regelungen trifft, führt dies häufig zu einer im Mai des vergangenen Jahres die Forderung nach der geringeren Besteuerung, als sie das Musterabkommen er- Umstellung auf das Anrechnungsverfahren im Rahmen lauben würde. Ich möchte hier nur an das Doppelbe- des Antrags „Unternehmen leistungsgerecht besteuern – steuerungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Einnahmen der öffentlichen Hand stärken“, Drucksache Emiraten erinnern, nach dem dort erzielte Einkünfte in 16/5249, erhoben. Wie gehabt, wird auch in diesem Ab- beiden Staaten steuerfrei bleiben können.

Zu Protokoll gegebene Reden 18388 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Gerhard Schick (A) Auch in dem nun vorliegenden Abkommen verzichtet vereinbaren, nicht auf. Meine Fraktion stimmt diesem Ab- (C) Deutschland auf einen Teil seines Besteuerungsrechts, kommenstext deshalb nicht zu, sondern enthält sich. das das OECD-Musterabkommen vorsehen würde. Laut Musterabkommen gilt eine 5-prozentige Dividendenbe- Präsident Dr. Norbert Lammert: steuerung nur dann, wenn eine mindestens 25-prozentige Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss Beteiligung vorliegt. Ist die Beteiligung kleiner als empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- 25 Prozent, können 15 Prozent Dividendenbesteuerung sache 16/9786, den Gesetzentwurf der Bundesregierung anfallen. Die Bundesregierung will die Schwelle in ihrem auf Drucksache 16/9561 anzunehmen. Ich bitte diejeni- Gesetzesentwurf auf 10 Prozent senken. Ergebnis: Für gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu eine in Deutschland ansässige Gesellschaft oder Person erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der mit Dividendeneinkünften aus Algerien genügt bereits Stimme enthalten? – Damit ist der Gesetzentwurf mit eine 10-prozentige Beteiligung statt einer mindestens breiter Mehrheit bei einigen Enthaltungen angenommen. 25-prozentigen, um in den Genuss der niedrigeren Be- steuerung zu kommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Im Ausschuss hat die Bundesregierung dargestellt, Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla dass das mittlerweile ein üblicher Wert sei. Aber nur weil Jelpke, Wolfgang Nešković, Monika Knoche, etwas üblich ist, ist es noch nicht richtig. Mir ist nicht weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE klar, warum die Bundesrepublik auf diese Besteuerungs- LINKE möglichkeiten verzichten sollte. Meines Erachtens ver- Keine Abschiebungen in das Kosovo schärft Deutschland mit dieser Vorgehensweise nur den internationalen Steuerwettbewerb. – Drucksache 16/9143 – Doppelbesteuerungsabkommen sind eine Möglichkeit Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) für Deutschland, sich seine Steuereinnahmen im interna- Auswärtiger Ausschuss tionalen Steuerwettbewerb zu sichern. Das kann aber ef- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe fektiv nur gelingen, wenn in den Abkommen die Anrech- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nungsmethode angewendet wird. Jeder Steuerpflichtige Die Reden der Kollegen , Rüdiger Veit, mit Wohnsitz im Inland ist dann mit seinem gesamten Hartfrid Wolff, Ulla Jelpke und Josef Philip Winkler Welteinkommen inklusive Schenkungen und Erbschaften werden zu Protokoll genommen. nach deutschen Maßstäben voll steuerpflichtig. Auf diese Weise würde sich die Verlagerung von Einkommen und Helmut Brandt (CDU/CSU): (B) Vermögen ins Ausland allein aus steuerlichen Gründen (D) deutlich weniger lohnen. Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Entschlie- ßungsantrag die Bundesregierung auf, grundsätzlich Im vorliegenden Abkommen hat die Bundesregierung keine Flüchtlinge, die aus dem Kosovo stammen und in erneut darauf verzichtet, die Anrechnungsmethode von Deutschland leben, abzuschieben. Der Antrag ist insge- Vornherein festzuschreiben. Sie hat sich lediglich eine samt zurückzuweisen. Ich werde die einzelnen Gründe Umschwenkklausel gesichert, die ohne Abkommensände- hierfür noch darlegen. Zunächst jedoch erlauben Sie mir rung einen Methodenwechsel erlaubt. Zunächst aber hält einige grundsätzliche Bemerkungen. die Bundesregierung an der Freistellungsmethode fest. Das können wir nicht unterstützen. Die Fraktion Die Linke versucht mit ihrem Antrag un- terschwellig, das Kosovo nach der Unabhängigkeitser- Eine positive Neuheit in diesem Abkommen sind hinge- klärung mit Vorfällen aus der Vergangenheit in Misskre- gen die gegenseitigen Informationspflichten. Sie gehen dit zu bringen. So ist nicht nachvollziehbar, was der über den im OECD-Musterabkommen vorgesehenen Vorfall vom März 2004, auf den in der Begründung der Rahmen hinaus und greifen damit jüngere OECD-Vor- Anträge hingewiesen wird, mit der jetzigen Situation schläge auf. Sie erfassen auch Steuertatbestände, die es nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zu tun im anderen Staat nicht gibt. Das begrüßen wir. Hier gibt hat. es eine sinnvolle Erweiterung des Musterabkommens, die neue Chancen der internationalen Zusammenarbeit er- In der weiteren Begründung sind dann Unterstellun- möglichen. gen zu finden, die jeglichen Bezug zur Realität entbehren. So wird mit dem Antrag der Versuch unternommen, der In einer Welt, in der Kapital praktisch ungehindert zir- Bundesrepublik Deutschland zu unterstellen, dass die kulieren kann, müssen sich die Staaten gegenseitig Be- einseitig erklärte Unabhängigkeit von ihr für verstärkte steuerungsmöglichkeiten zusichern. Der Informations- Abschiebebemühungen genutzt würden. Anhaltspunkte austausch ist ein wichtiger Schritt in die richtige hierfür bestehen nicht, sodass diese Behauptung ins Richtung, ebenso die Klausel, dass die Vertragsstaaten Blaue hinein lediglich ein bezeichnendes Bild auf die Informationsansuchen nicht ablehnen können, nur weil Haltung der Fraktion Die Linke zur Unabhängigkeit des diese Informationen bei einer Bank oder einer anderen Kosovo wirft. Finanzinstitution liegen. Nun zu den einzelnen Forderungen: Die Linke möchte, Dieser Vorteil wiegt den Nachteil, auf die im OECD- dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf- Abkommen vorgesehene Besteuerung von Dividenden zu fordert, sich gegenüber den Bundesländern für eine Aus- verzichten, und die Freistellungsmethode einmal mehr zu setzung der Abschiebungen von Flüchtlingen aus dem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18389

Helmut Brandt (A) Kosovo gemäß § 60 a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes ein- Kommen wir schließlich zum dritten Antrag, nämlich (C) zusetzen. Weder aus dem Antrag der Fraktion Die Linke das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anzuwei- noch aus den aktuellen Lageberichten ergibt sich aber ein sen, gewährte Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennungen von hinreichender Anlass dafür, einen solchen generellen Ab- Flüchtlingen aus dem Kosovo nicht zu widerrufen und schiebestopp für das Kosovo zu empfehlen oder zu for- laufende Widerrufsverfahren einzustellen. dern. Der aktuelle Asyl-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. November 2007 besagt vielmehr, dass sich Hier wird zunächst eine merkwürdige Einstellung der im Kosovo unter der UNMIK-Verwaltung demokratische Fraktion Die Linke zum rechtsstaatlichen Handeln deut- Strukturen entwickeln und sich die Sicherheitslage nach lich. Ob Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung von Perso- den Unruhen im März 2004 weitgehend beruhigt hat. Si- nen kosovarischer Herkunft widerrufen werden, liegt cher ist, dass man die Sicherheitslage noch nicht als sta- nicht im Ermessen des Bundesamtes für Migration und bil ansehen kann. Allerdings gibt es nach den vorliegen- Flüchtlinge. Es handelt sich vielmehr um eine sogenannte den Auskünften auch keinerlei Repressionen von gebundene Entscheidung. Nach der einschlägigen Vor- staatlicher Seite, und zwar bereits seit dem Jahr 1999 schrift des § 73 Asylverfahrensgesetz sind die Anerken- nicht mehr. nung als Asylberechtigte und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann unverzüglich zu widerrufen, Weiterhin wird berichtet, dass auch Repressionen wenn die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen. Dritter gegenüber ethnischen Minderheiten seit den Vor- Eine wie von der Fraktion Die Linke geforderte generelle fällen im Jahr 2004 ständig abgenommen hätten. Fakt ist Weisung an das Bundesamt für Migration und Flücht- im Übrigen, dass UNMIK in jedem Einzelfall prüft, ob linge, solche Widerrufsverfahren nicht mehr durchzufüh- eine Person aus dem Kosovo stammt und überhaupt rück- ren, würde die gesetzlich vorgeschriebene Einzelfallprü- führbar ist. Für die Angehörigen der Gruppe der Roma fung unterminieren. Hierzu besteht kein Anlass. wird noch immer ein besonderes Schutzbedürfnis gesehen Zur Klarstellung möchte ich allerdings darauf hinwei- und wird auch das UNHCR-Positionspapier vom Juni sen, dass selbst bei einem erfolgten Widerruf dies nicht 2006 bis heute beachtet. Daher sind Personen, mit Aus- bedeutet, dass mit einem solchen Widerruf der Verlust ei- nahme besonders schwerer Straftäter, faktisch nicht rück- nes bestehenden Aufenthaltstitels für den Betroffenen ein- führbar, da UNMIK hierzu seine Zustimmung verweigert. hergeht. Diese Entscheidung obliegt vielmehr der zustän- Es besteht daher keinerlei Anlass anzunehmen, dass die digen Ausländerbehörde und nicht dem Bundesamt für Bundesrepublik Deutschland oder UNMIK ihrer Ver- Migration und Flüchtlinge. pflichtung zur sorgfältigen Prüfung im Einzelfall von Ab- schiebungen nicht nachkommen würden. Zusammenfassend möchte ich daher sagen, dass die derzeitige Lage im Kosovo keinerlei Raum gibt für die (B) Darüber hinaus erscheint es in jedem Falle sinnvoll, Empfehlung eines Abschiebungsstopps. Eine Rückfüh- (D) abzuwarten, wie sich die Situation darstellt, wenn der rung des von der Fraktion Die Linke angesprochenen Übergang der Kompetenzen von UNMIK auf die kosova- Personenkreises findet derzeit wegen mangelnder Zu- rischen Behörden erfolgt ist. Dies ist derzeit aber noch stimmung von UNMIK bis auf besonders schwere Straftä- nicht der Fall. Die Zahlen der tatsächlich zurückgeführ- ter nicht statt. ten Kosovaren sprechen im Übrigen auch gegen den An- trag der Fraktion Die Linke. Im Jahr 2007 wurden ledig- Anhaltspunkte dafür, dass die Selbstverpflichtung des lich 781 Kosovaren zurückgeführt, und im Jahr 2008 bis kosovarischen Präsidenten Sejdiu auf die Einhaltung zum 30. April 2008 waren es 209 Personen. menschenrechtlicher Standards nicht eingehalten wird, bestehen nicht. Vielmehr ist abzuwarten, wie sich die Si- Schließlich ist zu diesem ersten Antragspunkt der tuation entwickelt, wenn die kosovarischen Behörden die Fraktion Die Linke noch zu sagen, dass der Präsident des Aufgaben von UNMIK im vollen Umfang übernommen Kosovo, Herr Sejdiu, in einem Schreiben an den Bundes- haben. präsidenten vom 17. Februar 2008 für das Kosovo eine wirksame Selbstverpflichtung auf die Einhaltung men- Schließlich ist dem Bundesamt für Migration und schenrechtlicher Standards abgegeben hat. Insofern ist Flüchtlinge das volle Vertrauen auszusprechen, die Ein- der Antrag zu Ziffer 1 der Fraktion Die Linke abzulehnen. zelfallprüfungen zum Widerruf von Anerkenntnissen gründlich und gewissenhaft durchzuführen. Irgendwelche Mit dem Antrag zu Ziffer 2 fordert die Fraktion Die Anhaltspunkte dafür, dass die Prüfungen nicht der Geset- Linke die Bundesregierung auf, den Bundesminister des zeslage entsprechend geschehen, bestehen nicht. Sämtli- Inneren zu beauftragen, sein Einverständnis gegenüber che Forderungen der Fraktion Die Linke sind daher zu- den Bundesländern für eine Aufenthaltsgewährung aus rückzuweisen. humanitären Gründen nach § 23 Abs. 1 des Aufenthalts- gesetzes für Mitglieder nationaler Minderheiten und an- Rüdiger Veit (SPD): dere schutzbedürftigen Personen aus dem Kosovo zu er- Der Antrag, den wir heute beraten, verfolgt folgendes klären und sich für eine entsprechende Regelung Anliegen: Wir sollen die Bundesregierung auffordern, einzusetzen. Hierzu besteht keinerlei Veranlassung. Es sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung sind überhaupt keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, die der Abschiebungen von Flüchtlingen aus dem Kosovo ge- für eine Besserstellung der kosovarischen Flüchtlinge ge- mäß § 60 a Abs. 1 AufenthG einzusetzen. genüber anderen in Deutschland sich aufhaltenden Flüchtlingen sprechen. Auch insoweit ist der Antrag man- In der Sorge um Minderheiten teile ich das Anliegen gels jeglicher Begründung zurückzuweisen. des Antrages. Ich teile indes nicht die Auffassung, dass

Zu Protokoll gegebene Reden 18390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Rüdiger Veit (A) ein genereller Abschiebestopp das richtige Mittel ist, um Probleme nicht lösen. Sie vergießt Krokodilstränen in ih- (C) auf die gegenwärtige Situation im Kosovo zu reagieren. rem Antrag, wenn sie moniert, dass die KFOR-Truppen gegen Ausschreitungen gegen Minderheiten nicht vorge- Die Lage einzelner Minderheiten ist nach wie vor un- gangen seien. Gleichzeitig hat sie sich selbst lauthals ge- sicher. Das gilt vor allem für Roma, Ashkali und Ägypter. gen den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo ausgespro- Als das Kosovo im Februar dieses Jahres die Unabhän- chen. Das ist ein Widerspruch in sich, der nicht auflösbar gigkeit ausrief, habe ich mit großer Sorge beobachtet, wie ist. sich die Situation entwickeln würde. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand gewalttätige Übergriffe ausschließen. Mir scheint, die Linke will das Kosovo in möglichst Und auch nach der Unabhängigkeitserklärung bleibt die schlechtem Licht erscheinen lassen, sein staatliches Exis- Gesamtsituation unsicher. tenzrecht und seine Legitimität in Abrede stellen, keinen wirksamen Beitrag zur Problemlösung vor Ort leisten, Allerdings hatten die Repressionen bereits zum Zeit- schon gar nicht militärisch, das so systematisch unter- punkt der Unabhängigkeitserklärung kontinuierlich ab- stützte Chaos zur Forderung nutzen, dieses nun möglichst genommen. Auch hat sich meine Befürchtung, es könne umfassend noch zu einem innenpolitischen Problem der im Abschluss hieran zu Unruhen kommen, glücklicher- Bundesrepublik zu machen. Das ist keine Politik, das ist weise nicht bewahrheitet. Menschenrechtsorganisationen Propaganda unter dem Deckmantel der Humanität. Es ist haben über keine Zunahme gewalttätiger Übergriffe be- unerträglich, dass die Linke auch den Holocaust heran- richtet. Eine Eskalation der Art, dass ein genereller Ab- zieht, um ihre Chaosförderungspolitik zu begründen. schiebestopp erforderlich scheint, kann ich daher nicht feststellen. Solange sich die Sicherheitslage aber nicht Ein genereller Abschiebestopp, wie ihn die Linken for- verschlechtert, ist die sorgfältige Einzelfallprüfung des- dern, ist sachlich nicht angemessen. Gerade vor dem Hin- halb ein ausreichendes Mittel, um Schutz für die zu ge- tergrund der Verantwortung für andere Fälle muss die währen, denen Gefahr drohen kann. Notwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüft wer- den. Ein genereller Abschiebestopp ist ein politisches In- Das ändert jedoch nichts daran, dass wir die Lage strument im Falle einer akuten Entwicklung, die rasches nach wie vor kritisch beobachten müssen. Ich versichere Handeln erfordert. Dieses Instrument darf nicht inflatio- Ihnen, dass Bundesregierung und SPD dies tun. Wir ha- när verwendet werden. Eine individuelle Prüfung, ob ein ben uns bereits im November mit den Verantwortlichen Asylgrund vorliegt, bleibt ja nach wie vor nicht ausge- des Bundesministeriums des Innern über diese Frage schlossen. Eine darüber hinausgehende kollektive Aus- ausgetauscht und werden dies weiter tun. nahme von den ausländerrechtlichen Bestimmungen Der Antrag ist daher abzulehnen. scheint kaum angemessen. (B) Die Konflikte im Kosovo haben unzweifelhaft eine (D) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): lange Entwicklung. Die Probleme beim Zusammenleben Die Linke unternimmt einen neuen Anlauf, das deut- verschiedener Ethnien und verfeindeter Gruppen können sche Ausländerrecht auszuhebeln. Diesmal soll das Ko- nicht auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland ge- sovo als Notstandsgebiet dargestellt werden, in das löst werden. Stattdessen müssen wir helfen, dass diese Deutschland niemanden abschieben dürfe. Angesichts Konflikte im Kosovo beigelegt werden können. Wir tun der bisherigen Anträge der Linken zum Thema Auslän- das durch EULEX, der Rechtsstaatsmission der EU. Sie derrecht ist ohnehin klar, dass die ganze Welt ein Not- hilft, rechtsstaatliche Strukturen im Kosovo aufzubauen standsgebiet ist, und die Not nur auf deutschem Boden zu und nachhaltig zu entwickeln. Wir tun das, indem wir dem heilen ist: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen – Bundeswehreinsatz im Kosovo zugestimmt haben, der auf sozialistisch. hilft, diese Entwicklung militärisch abzusichern. Die Unabhängigkeit des Kosovo ist noch kein halbes Es ist gerade die Linke, die das ständig und systema- Jahr alt. Die Linke, so können wir auf ihrer Netzseite le- tisch zu torpedieren versucht. Ihr Antrag ist durchsichtig: sen, hält die Unabhängigkeit des Kosovo für „völker- Ihre Ideologie ist der Linken wichtiger als das langfris- rechtswidrig“; denn – so heißt es dort – letztendlich ist tige Wohl der Menschen. Der Antrag der Linken ist in sei- die Unabhängigkeit des Kosovo das Ergebnis des Krieges ner mehrfachen Zielsetzung – der Destabilisierung des der NATO gegen das damalige Jugoslawien und basiert unabhängigen Kosovo, der Diffamierung der westlichen dementsprechend auf einer gewaltsam herbeigeführten Anerkennung desselben und auch bei der Infragestellung Grenzveränderung. Damit sind die jetzigen Entwicklun- wesentlicher Merkmale des bestehenden deutschen Aus- gen eine direkte – zeitlich verzögerte – Folge des Krieges. länderrechts – allzu durchsichtig. Die FDP lehnt ihn ab. Dass an einem solchen, gegen den strammen Sozialis- Ulla Jelpke (DIE LINKE): mus eines Milošević und seiner Epigonen gegründeten Staat kein gutes Haar gelassen werden kann, ist in der Mit dem vorliegenden Antrag verlangt die Fraktion Linken-Logik klar. Deshalb muss natürlich aus Sicht der Die Linke, keine Abschiebungen in den Kosovo vorzuneh- Linken sofort ein Abschiebestopp her für Menschen, die men und keine Widerrufsverfahren gegen anerkannte zwar kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, aber Flüchtlinge durchzuführen. Der Versuch, nun massenhaft vor „diesem“ Kosovo unbedingt zu schützen sind. Menschen aus dem Kosovo zur Rückkehr zu zwingen, ist unverantwortlich. Schon mehrfach hat meine Fraktion Natürlich gibt es Probleme bei der inneren Ordnung hier klargestellt, dass die Sezession des Kosovo ein völ- des neugegründeten Staates. Aber die Linke will diese kerrechtswidriger Akt ist. Es wird Sie nicht überraschen,

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18391

Ulla Jelpke (A) zu hören, dass das auch die Republik Serbien so sieht. len werden [die Abgeschobenen] mit allen notwendigen (C) Daher bestehen im mehrheitlich von Serben bewohnten Mitteln versuchen, in ihre ehemaligen Aufnahmestaaten Norden des Kosovo Doppelstrukturen bei der Polizei, im zurückzukehren.“ Mit anderen Worten: Wer Flüchtlinge Bildungswesen und in anderen Bereichen fort. Zu wel- in den Kosovo abschiebt, treibt sie in die Arme von Men- chen Spannungen das in den kommenden Jahren noch schenhändlern und Schleppern und erzeugt damit neues führen wird, ist jetzt noch gar nicht absehbar. In dieses Elend und neue Unsicherheit. Pulverfass Menschen abzuschieben, die mittlerweile seit Jahren hier leben, ist unverantwortlich. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich will aber auch begründen, warum gerade Deutsch- NEN): land von diesen Abschiebungen absehen sollte. Entschei- Die Stabilisierung der kosovarischen Institutionen dungen in Deutschland über die Abschiebung von muss aus meiner Sicht so kurz nach der Unabhängigkeit Minderheitenangehörigen in den Kosovo haben Leitbild- das wichtigste Ziel sein. Die Stabilisierung der kosovari- funktion auch für andere Staaten. Von den geschätzten schen Institutionen benötigt Zeit und die notwendige, 100 000 Menschen aus dem Kosovo, die außerhalb ihres aber weiterhin durch Russland und Serbien behinderte Landes leben, befinden sich zirka 53 000 in Deutschland. Hilfestellung durch EULEX. Da trägt die Abschiebung Davon sind nach Schätzungen des UNHCR vom Januar Tausender Angehöriger ethnischer Minderheiten aus 2007 24 000 Roma, 8 200 Ashkali und 1 800 Kosovo- Deutschland nicht zur Entspannung bei und schafft ein Ägypter. Dazu kommen noch Serben und Kosovo-Alba- großes Risiko der Destabilisierung. ner, die in ihren Herkunftsorten die Minderheit bilden. Diese Menschen leben fast alle im Status der Duldung, da Es gibt nach wie vor im Kosovo keine Aufnahme- und keine Bundesregierung ihnen einen dauerhaften Aufent- Integrationskapazität für Minderheiten, Kranke oder halt in Deutschland ermöglichen wollte. Fast ein Drittel Rückkehrer, die mittellos sind. Es gibt für Abgeschobene – 896 – aller in den Kosovo Abgeschobenen – 3 125 ins- keinerlei Unterstützung im Kosovo, weder von kosovari- gesamt – kamen 2007 aus Deutschland. schen noch von internationalen Institutionen. Abgescho- bene Flüchtlinge sind völlig auf sich selbst gestellt bzw. Nach einer Abschiebung in den Kosovo droht den Be- auf Unterstützung aus dem Familienverbund angewiesen. troffenen nun auch noch, staatenlos zu werden. Der Roma und andere ethnische Minderheiten haben häufig UNHCR stellt in seinem Arbeitsprogramm für 2008/2009 keine Unterkunftsmöglichkeit und finden keine Arbeit etc. fest, dass Staatenlosigkeit besonders Roma, Ashkali und Es gibt keine nachhaltige Verbesserung der medizini- Kosovo-Ägypter droht, weil sie aufgrund ihrer sozialen schen Versorgungslage gerade im Bereich der Traumabe- Ausgrenzung schon in früheren Jahren Schwierigkeiten handlung, worauf auch zahlreiche Experten und die zu- hatten, sich registrieren zu lassen. Nach Schätzungen des (B) ständigen Behörden immer wieder hinweisen. Daher (D) UNHCR von Mitte 2006 sind 20 Prozent der Minderhei- finde ich das Grundanliegen des vorliegenden Antrags im tenangehörigen nicht registriert, und das über Genera- Prinzip richtig. tionen hinweg. Sie sind bereits heute vom Zugang zu sozialer Sicherung, Gesundheitsversorgung und Schul- Die Forderungen der Fraktion Die Linke im Einzel- bildung ausgeschlossen. Ihnen droht bei Abschiebung die nen: Obdachlosigkeit und weitere Marginalisierung. Die Forderung nach einem generellen Abschiebungs- Die soziale Situation im Kosovo ist insgesamt weiter- stopp für Flüchtlinge aus dem Kosovo, die keinen Aufent- hin schlecht, für die Minderheiten katastrophal. Der UN- haltstitel haben, also auch für alle ethnischen Albaner, ist Ombudsmann für den Kosovo berichtet für 2007, dass mir zu weitgehend. Minderheiten keinen Zugang zum regulären kosovari- schen Arbeitsmarkt haben. 70 Prozent der Serben sind Die zweite Forderung nach der Erteilung einer Aufent- arbeitslos, in den Siedlungen von Rückkehrern liegt die haltserlaubnis für ethnische Minderheiten teile ich aus- Arbeitslosigkeit teilweise bei 100 Prozent. Noch mehr drücklich. Ähnliches hatte die Fraktion Bündnis 90/Die Rückkehrer werden die Situation noch weiter verschär- Grünen schon mehrfach gefordert. Es geht insbesondere fen. um Roma, Serben und Albaner aus Gebieten im Kosovo, in denen sie eine Minderheit darstellen, zum Beispiel in Doch den Abgeschobenen wie den freiwilligen Rück- der Stadt Nord-Mitrovica. kehrern droht nicht nur der Ausschluss von wesentlichen politischen und sozialen Rechten. Dazu kommt noch der Auch die Beendigung bzw. Einstellung von Widerrufs- manifeste ethnische Hass der Mehrheitsbevölkerung. verfahren gegenüber Flüchtlingen aus dem Kosovo teilen Selbst bei Vorzeigeprojekten von Wiederansiedlung kön- wir prinzipiell. In der Sache sind die Widerrufsverfahren nen die Rückkehrer nicht in ihren Dörfern einkaufen – sie für Kosovaren allerdings schon weitgehend abgeschlos- werden in andere Dörfer gefahren. Dabei werden die sen. Transportbusse regelmäßig mit Steinen beworfen. Weiter- In der Begründung des Antrags wird meines Erachtens hin gibt es vereinzelt auch bewaffnete Angriffe auf Min- der Schwerpunkt zu sehr auf die instabile Sicherheitslage derheitenangehörige. gelegt. Es geht doch im Kosovo zurzeit primär vielmehr Ich will am Schluss noch auf eine mögliche Konse- um fehlende wirtschaftliche Möglichkeiten und soziale quenz hinweisen, die Abschiebungen in den Kosovo ha- Unterstützung und damit um eine mangelhafte Lebens- ben können. Der UN-Ombudsmann für das Kosovo perspektive für Angehörige von Minderheiten. Schließ- schreibt in seinem siebten Jahresbericht: „In vielen Fäl- lich: Den Hinweis auf die geschichtliche Verantwortung

Zu Protokoll gegebene Reden 18392 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Josef Philip Winkler (A) gegenüber Roma und Sinti finde ich in diesem Zusam- dafür geben kann, das Wahlrecht für bestimmte Perso- (C) menhang unpassend. nengruppen auszuschließen. Das ist vom Bundesverfas- sungsgericht anerkannt. Wohlgemerkt, es müssen zwin- Ich möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, gende Gründe sein. dass die Bundesregierung den Vorschlag des Sonderge- sandten des UN-Generalsekretärs für den zukünftigen Der entscheidende Gesichtspunkt ist in diesem Zusam- Kosovo, Martti Ahtisaari, unterstützt hat. Herr Ahtisaari menhang die Schlüssigkeit und Widerspruchsfreiheit un- hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass eine Rück- serer Rechtsordnung. Die Altersgrenze für das aktive und kehr ins Kosovo nur freiwillig erfolgen sollte. Im Annex passive Wahlrecht bei der Wahl zum Deutschen Bundes- zu seinem Bericht an den UN-Sicherheitsrat vom tag ist heute identisch mit der Altersgrenze der Volljäh- 26. März 2007 wird dies klar. Es ist sehr bedauerlich, rigkeit. Dies ist ein schlüssiges und stimmiges Gesamt- dass sich die Bundesländer der Umsetzung dieser Emp- konzept, an dem wir festhalten sollten. Die Volljährigkeit fehlung nicht verpflichtet fühlen. ist die Altersgrenze, an der die unbeschränkte Geschäfts- Mein Fazit: Das Grundanliegen des Antrags ist zu un- fähigkeit des bürgerlichen Rechts anknüpft. Das bedeutet, terstützen, die Begründung ist abzulehnen. vor Eintritt der Volljährigkeit werden junge Menschen vor negativen Folgen ihres eigenen Handelns geschützt, indem die Rechtsordnung nur die rechtlich vorteilhaften Präsident Dr. Norbert Lammert: Konsequenzen dieses Handelns gegen den jungen Men- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf schen gelten lässt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Drucksache 16/9143 an die ausgewiesenen Aus- der Jugendliche in seiner persönlichen Reife und Urteils- schüsse vorgeschlagen. – Hierzu stelle ich Einverneh- fähigkeit in aller Regel noch nicht so weit entwickelt ist, men fest. dass er für alle Folgen seines Tuns verantwortlich sein Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: sollte. Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Mit welchem Argument aber wollen Sie jemandem, Gehring, Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, weite- dem man im Zivilrecht nicht einmal zumutet, die – nach- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ teiligen – Konsequenzen seiner Handlungen für sich DIE GRÜNEN selbst zu tragen, die Verantwortung für politische Ent- scheidungen aufbürden, die die Grundlagen unseres Ge- Aktives Wahlalter bei Bundestagswahlen auf meinwesens und damit auch alle anderen Einwohner die- 16 Jahre absenken ses Landes betreffen? Wer das will, müsste auch bereit – Drucksache 16/6647 – sein, die Altersgrenze der Volljährigkeit auf 16 Jahre ab- zusenken, eine Forderung, die – so hoffe ich zumindest – (B) Überweisungsvorschlag: (D) Innenausschuss (f) nicht allzu viele ernsthaft hier erheben würden. Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Übereinstimmung zwischen Volljährigkeit und ak- tivem Wahlrecht ist richtig. Wer als Erwachsener persön- Hier werden die Reden von Stephan Mayer, Jürgen liche Selbstbestimmung – siehe bürgerliches Recht – aus- Kucharczyk, Gisela Piltz, Petra Pau und Kai Gehring zu üben kann, der soll auch aktiv Einfluss auf die Protokoll genommen. Zusammensetzung der demokratischen Vertretungsor- gane ausüben können. Dahinter steht letztlich die Ein- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): sicht, dass die Ausübung des Wahlrechts einen rationalen Die Diskussion über die „richtige“ Altersgrenze für Akt der Entscheidung voraussetzt. Vorausgesetzt wird, das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zum Deutschen Bun- mit anderen Worten, die Fähigkeit zur selbstständigen destag ist keineswegs neu. Der Deutsche Bundestag hat und rational begründeten politischen Willensentschlie- sich damit beispielsweise in der 14. Wahlperiode aus- ßung und Willensbildung. Ich zitiere hier den Staatsrecht- einandergesetzt, als die damalige PDS eine Absenkung ler Michael Kloepfer aus dem Standardwerk „Handbuch auf 16 Jahre gefordert hat. Damals wurde das Petitum des Staatsrechts in der Bundesrepublik Deutschland“ von abgelehnt. Heute wärmen die Grünen diese Thematik Isensee/Kirchhof. Er sagt, dass es ein Grundanliegen von wieder auf. Die Argumente, die sie anführen, sind alle- Demokratie und Verfassungsstaatlichkeit ist, dass Herr- samt gut bekannt. Ich halte sie nach wie vor für nicht schaft und Staatsgewalt nicht willkürlich, sondern ratio- durchschlagend. nal ausgeübt werden. Das setzt die Fähigkeit zur rationa- len Willensentschließung und Willensbildung bei der Die Grünen sagen, es würde ihnen um die Erweiterung Ausübung des Wahlrechts und somit ein hinreichendes der demokratischen Teilhabe der Jugendlichen gehen. Maß an persönlicher Reife voraus. Dies greift die altbekannte Kritik auf, wonach die 16- und 17-Jährigen im geltenden Bundeswahlrecht von demo- Es greift deshalb zu kurz, wenn die Antragsteller sa- kratischen Teilhaberechten ausgeschlossen wären. Dies gen, dass jede Wahlaltersgrenze politisch festzulegen ist. ist eine sehr vordergründige Argumentation, die nicht Das mag auf den ersten Blick zutreffen, es heißt aber trägt. Richtig ist, dass das aktive und passive Wahlrecht nicht, dass diese Festlegung willkürlich sein darf. Im Ge- ganz zentrale und entscheidende Elemente der Demokra- genteil: Die Wahlaltersgrenze muss sich in die Gesamt- tie sind. Das ist völlig selbstverständlich und wird von heit der Rechtsordnung auf überzeugende Art und Weise niemandem bestritten. Aber genauso anerkannt und un- einfügen, da es beim Wahlrecht um ein absolutes Kern- bestritten ist auch, dass es bestimmte zwingende Gründe element der Demokratie geht. Deshalb muss das aktive Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18393

Stephan Mayer (Altötting) (A) Wahlrecht ein Mindestmaß an persönlicher Reife voraus- litiker sind aufgerufen, die Interessen der Allgemeinheit (C) setzen, und hierfür bietet die Altersgrenze von 18 Jahren, im Auge zu haben, somit die Interessen der Kinder und die der Volljährigkeit entspricht, den richtigen Anknüp- Jugendlichen genauso wie die Interessen anderer Wäh- fungspunkt. So sehen es im Übrigen auch die allermeisten lergruppen. Ich halte es für wichtig, dass Abgeordnete EU-Mitgliedstaaten oder auch die USA, Kanada oder und Politiker den Kontakt und das Gespräch mit Jugend- Australien. lichen suchen und die Anliegen, die von Jugendlichen for- muliert werden, ernst nehmen und aufnehmen. Das ist Ich darf kurz an die anderen wesentlichen Rechtsfol- zielführender als eine Diskussion über die Absenkung von gen erinnern, die mit dem Eintritt der Volljährigkeit ver- Altersgrenzen im Wahlrecht. bunden sind. Das Recht der elterlichen Sorge endet mit der Volljährigkeit, § 1626 Abs. 1 Bürgerliches Gesetz- Das dritte Argument der Grünen lautet, dass die Ab- buch. Die Ehemündigkeit ist an die Volljährigkeit ge- senkung der Altersgrenze ein Anstoß für Jugendliche sein knüpft, § 1303 Abs. 1 BGB. Gleiches gilt für die unbe- kann, sich für Politik zu interessieren, sich politisch zu en- schränkte Testierfähigkeit, § 2229 Abs. 4 Bürgerliches gagieren und Mitverantwortung zu übernehmen. Letzt- Gesetzbuch, oder die Prozessfähigkeit, § 52 Zivilprozess- lich steckt dahinter die Annahme, dass das aktive Wahl- ordnung. Richtig ist zwar, dass von der Ehemündigkeit recht auch das Interesse an der Politik befördert. Dieser auf Antrag eine Ausnahme erteilt werden kann, dies Gedanke scheint wohlfeil zu sein. Dennoch halte ich es dürfte aber in der Praxis nur in wenigen Fällen von Inte- nicht für eine ausgemachte Sache, dass der von den Grü- resse sein. Auch die Wehrpflicht ist im Übrigen an das Er- nen behauptete Zusammenhang besteht. Ich denke nicht, reichen der Volljährigkeit geknüpft. dass man Interesse an politischen Zusammenhängen und Diese Regelungen, insbesondere aus dem Zivilrecht, Verständnis für Politik gleichsam verordnen kann, indem bestätigen noch einmal, dass unsere Rechtsordnung aus man das aktive Wahlrecht verleiht. Wahlrecht alleine gutem Grund in praktisch allen wichtigen Lebensberei- weckt noch kein Interesse an der Politik, sonst gäbe es chen, in denen es um mögliche nachteilige Folgen recht- vermutlich kaum Nichtwähler. Wesentlich wichtiger ist es licher Handlungen geht, davon ausgeht, dass die notwen- nach meiner Überzeugung, dass Politiker das offene Ge- dige persönliche Reife erst mit Eintritt der Volljährigkeit spräch mit jungen Menschen suchen, wo und wann immer gegeben ist. Diese Überlegungen gelten – übertragen auf es möglich ist. Wichtig ist ferner – und in diesem einzigen das Gemeinwesen – weitestgehend auch für die Ausübung Punkt teile ich die Position des Antrags ausnahmsweise –, der Staatsgewalt durch Wahlen in Gestalt des aktiven und dass die politische Bildung in den Schulen und außerhalb des passiven Wahlrechts. der Schulen einen wichtigen Platz einnimmt. Dies sind die Mittel, um jungen Menschen politische Zusammen- Im Übrigen würde der Antrag der Grünen auch zu ei- hänge näherzubringen und sie vielleicht sogar für politi- (B) nem Auseinanderfallen zwischen den Altersgrenzen beim sches Engagement zu begeistern. (D) aktiven und passiven Wahlrecht führen. Auch dies ist nicht schlüssig und nicht einzusehen. Das vierte Argument der Grünen lautet, Jugendliche seien heute in einem wesentlich früheren Lebensalter Auch der immer wieder, wenn auch nicht im Antrag der selbstständig, ihre soziale und intellektuelle Urteilsfähig- Grünen, angeführte Vergleich mit der Religionsmündig- keit entwickele sich in einem jüngeren Lebensalter, als keit – also dem Recht des Kindes, über seine Religionszu- dies noch bei früheren Generationen der Fall war. Auch gehörigkeit zu entscheiden –, die mit 14 Jahren eintritt, dies halte ich für sehr zweifelhaft. Zum einen führen die hinkt gewaltig. Bei der Religionsmündigkeit geht es um Grünen hierfür keine belastbaren Erkenntnisse an. Die höchstpersönliche, innere Fragen des Glaubens, der Ge- viel zitierte „frühere Reife“ bleibt letztlich eine unbewie- danken- und der Gewissensfreiheit. Beim Wahlrecht geht sene Behauptung oder letztlich eine Ansichtssache. Es es dagegen um ein Recht mit größtmöglicher Auswirkung gibt meines Erachtens sogar gewisse Gesichtspunkte, die auf die Allgemeinheit. Schon deshalb ist ein Vergleich in die entgegengesetzte Richtung deuten. So ist es eine zwischen den beiden Sachverhalten völlig neben der Sa- Tatsache, dass die Phase der Berufsausbildung heute we- che und bringt keinerlei neue Erkenntnisse. sentlich länger dauert als noch vor einigen Jahrzehnten. Das zweite Argument der Grünen ist, dass die Absen- Damit hängen auch andere Dinge zusammen: Die Men- kung des Wahlalters als Reaktion auf den demografischen schen heiraten später, gründen zum Teil deutlich später Wandel notwendig wäre. Junge Menschen würden in un- eine Familie als noch in früheren Generationen. Die serer Gesellschaft immer mehr zur Minderheit, deshalb Menschen werden damit oft später in feste Pflichten- und solle durch die Wahlrechtsabsenkung eine bessere politi- Verantwortungszusammenhänge eingebunden, als dies sche Berücksichtigung der Interessen der jungen Men- bei früheren Generationen der Fall war. Das bedeutet schen erreicht werden. Dieser Gedanke unterstellt gera- aber: Das Wahlrecht wird heute mit 18 Jahren in einem dezu, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestags Alter gewährt, das für die meisten Wahlberechtigten noch gewissermaßen Auftragnehmer bestimmter Wähler- oder deutlich vor der Gründung einer eigenen Familie und vor Interessengruppen wären. Das Grundgesetz hat aber ein dem Ende der Berufsausbildung liegt. Das bedeutet, dass ganz anderes Modell: Die Abgeordneten des Deutschen die Menschen bereits wählen können, obwohl sie noch Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes, also nicht lange nicht voll eigenverantwortlich ihr eigenes familiä- nur etwa einer bestimmten Altersgruppe. Es liegt in der res und berufliches Leben gestalten können. Damit er- Verantwortung der Abgeordneten, bei ihren politischen werben sie ihr aktives Wahlrecht heute in einer ver- Entscheidungen die Interessen aller Bürgerinnen und gleichsweise früheren Lebensphase, als dies bei früheren Bürger im Auge zu haben. Abgeordnete und generell Po- Generationen der Fall war. Ich möchte dies hier nicht bis

Zu Protokoll gegebene Reden 18394 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Stephan Mayer (Altötting) (A) ins letzte Detail diskutieren. Aber es ist unbestreitbar, Denn es leuchtet ein, den Bereich der Kinder- und Ju- (C) dass das von den Grünen heraufbeschworene angebliche gendbeteiligung innovativ und flexibel zu gestalten. „frühere Heranreifen“ keineswegs so eindeutig festge- stellt werden kann, wie dies im Antrag behauptet wird. Es Mit dem Programm „Europäischer Pakt für die Ju- bleibt letztlich festzustellen: Es fehlen seriöse, fundierte gend“ stellen wir uns den Herausforderungen, die einer wissenschaftliche Erkenntnisse zur Frage, mit welchem stärkeren Beteiligung der Jugendlichen unter anderem Alter die politische Urteilsfähigkeit einsetzt. Die von den entgegenstehen: Grünen behauptete zeitliche Verlagerung nach vorne Aktives Staatsbürgertum und die soziale Entwicklung bleibt eine bloße Behauptung. junger Menschen in den Mitgliedstaaten unterstützen wir Wir werden den Antrag der Grünen selbstverständlich durch gezielte Projekte – von kommunalen Jugendparla- im Innenausschuss sorgfältig beraten und uns mit dem menten bis zum Europäischen Jugendforum, dem Dach- Für und Wider auseinandersetzen. Ich kann aber keiner- verband europäischer Jugendorganisationen. lei Argumente erkennen, die es rechtfertigen würden, die Damit investieren wir nicht nur in die individuelle be- Altersgrenze für das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre herab- rufliche wie gesellschaftliche Zukunft der Jugend, son- zusetzen. Ich meine, alle Gesichtspunkte sprechen dafür, dern letztlich in die Zukunft der gesamten europäischen die Altersgrenze bei 18 Jahren zu belassen und damit den Gemeinschaft. Gleichklang zwischen dem aktiven Wahlrecht und der Volljährigkeit beizubehalten. Wir alle unterstützen das politische und soziale Engagement von Kindern und Jugendlichen und wollen, dass sie die aktive Beteiligung an der Demokratie und am Jürgen Kucharczyk (SPD): Gemeinwesen ernst nehmen. Dies geschieht am besten Die demokratische Wahl ist für die Willensbildung im mit örtlichem Bezug wie beispielsweise in den Jugend- Staat der entscheidende Akt. Das Wahlrecht beinhaltet stadträten. eine Verantwortung, die man Jugendlichen sonst nicht zu- mutet. Soziale Verantwortung und Solidarität mit Schwäche- ren entsteht durch Teilhabe und Bildung. Wir müssen ga- Selbstverständlich habe junge Menschen ein Recht auf rantieren, dass alle Schüler einen Zugang zu der Förde- ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten. rung bekommen, die sie benötigen, um sich selbst aktiv in Es ist auch richtig, dass Jugendliche bereits wichtige, ihr die Gesellschaft einzubringen. Leben betreffende, Entscheidungen fällen. 16-Jährige sind nach dem Gesetz aber nur beschränkt geschäftsfä- hig, ihre Eltern haften für sie. Gisela Piltz (FDP): (B) Seit den 80er-Jahren sinkt die Wahlbeteiligung konti- (D) Die hinreichende persönliche Reife und Urteilsfähig- nuierlich ab. Kritiker bezeichnen das Wahlsystem in keit, eine bewusste und vernunftgeleitete Wahlentschei- Deutschland als unverständlich, intransparent und parti- dung zu treffen, ist sicherlich mit 16 Jahren auf einem gu- zipationsfeindlich. ten Weg, aber auch noch in der Bildungsphase. Neben vielen anderen Vorschlägen zur Verbesserung Das politische Interesse oder die bloße Fähigkeit Ein- des Wahlsystems wird auch die Herabsetzung des Wahl- zelner, politisch differenziert zu beobachten, kann für sich alters diskutiert. In vielen Kommunen gibt es bereits ein genommen nicht das allgemeinverbindliche Recht be- aktives Kommunalwahlrecht ab 16 Jahren. In diesem Al- gründen, Politik verantwortlich mitzugestalten. ter besteht bei Schülern ein großes Interesse an Politik. Diese Form der Partizipation löst unsere gesellschaft- Die Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten auch lichen Probleme nicht. Die Beteiligung der Jugendlichen auf Jugendliche ist ein richtiger Schritt. Durch die He- am Urnengang über die Kommunalwahlen hinaus wird rabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre bei Bundestags- die Politikverdrossenheit eines großen Teils der Bevölke- wahlen wird die Politikverdrossenheit alleine jedoch rung nicht lindern. nicht beseitigt werden. Dafür ist schon ein ganzes Bündel an Maßnahmen notwendig, wie zum Beispiel auch die Die Zahlen und Daten aus den Bundesländern spre- schon hier im Hause diskutierten plebiszitären Elemente. chen eine deutliche Sprache: Der Anteil 16- bis 18-Jäh- Eine Beteiligung von Jugendlichen unter 18 Jahren an riger, die von einer Absenkung direkt betroffen wären, Bundestagswahlen alleine wird die Abkehr von Parteien liegt lediglich zwischen 2 und 4 Prozent. und das Desinteresse an der Politik nicht stoppen. „Wer Die politische Partizipation von Jugendlichen können Wahlen als Aufputschmittel für Jugendliche betrachtet, und müssen wir auf anderem Wege fördern. verwechselt sie mit Coca Cola“, so hat es Herr Professor Dr. Gerd Roellecke nicht ganz unzutreffend in seinem Auf- Deshalb lehne ich den Antrag von Bündnis 90/Die satz – NJW 1996, 2773 – auf den Punkt gebracht. Grünen, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken, ab. Die Senkung des Wahlalters ist auch in der Begrün- Ich unterstütze ausdrücklich die bereits bestehenden dung nicht konsequent durchdacht. Sich an Entscheidun- Projekte unter der Schirmherrschaft des Familienminis- gen zu beteiligen, heißt auch die Konsequenzen für etwas teriums, die sich im „Aktionsprogramm für mehr Jugend- zu tragen und für die Folgen einzustehen. Konsequenzen beteiligung“ bündeln. Es ist wichtig und richtig, dass be- oder die volle Verantwortung werden in der Regel aber währte Projekte weiter gefördert und neue initiiert erst mit der Volljährigkeit getragen. Erst dann kann man werden. alleine Kaufverträge abschließen oder für Schäden haf-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18395

Gisela Piltz (A) ten, ohne auf die Eltern zu verweisen. Zwar wurde auch dersprochen lassen will, auch nicht im Deutschen Bun- (C) 1970 das Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt, ohne zunächst destag. das damalige Volljährigkeitsalter von 21 Jahren zu sen- ken. Die spätere Angleichung bzw. Absenkung des Voll- So warnte zum Beispiel Altbundespräsident Roman jährigkeitsalter – fünf Jahre später – zeigt aber: Volljäh- Herzog vor einer „Rentner-Demokratie“, weil die Zahl rigkeit und Wahlalter gehen Hand in Hand und gehören der Alten zu und die Zahl der Jungen abnehme. Und er zusammen. sprach von der Gefahr, dass die Alten die Jungen aus- plündern könnten. Ich finde: Das grenzte schon an Senio- Es ist richtig, dass auch Jugendliche in der Lage sind, renrassismus. politische Zusammenhänge zu erfassen, zu durchschauen und sich kritisch mit Themen auseinanderzusetzen. Der Anlass für seine Auslassungen war übrigens ab- Ebenso ist es richtig, dass es auch Erwachsene gibt, die surd. CDU/CSU und die SPD, also die Große Koalition, nicht alle politischen Zusammenhänge durchschauen. hatten sich auf eine außerplanmäßige Rentenerhöhung Die Volljährigkeit ist aber Dreh- und Angelpunkt von um 1,1 Prozent geeinigt. Was bei den steigenden Preisen Rechten und Pflichten. Sie markiert den Zeitpunkt, wo ein nichts anderes bedeutet als einen realen Rentenverlust junger Mensch vollständig für sich Verantwortung über- um 2 Prozent. nimmt. Zu diesem Zeitpunkt ist man auch zivil- und straf- rechtlich verantwortlich. Und auch das Wahlalter zum Der reale Rentenverlust aber war für Roman Herzog Europäischen Parlament beträgt 18 Jahre. kein Thema. Übrigens auch nicht, dass dieselben Rentne- rinnen und Rentner den Scheingewinn in zwei Jahren mit Die Senkung des Wahlalters alleine wäre daher nur Verlusten zurückzahlen müssen. Herzog eröffnete die eine halbe Sache. Es gibt auch kein Wählen um des Wäh- Front: Jung gegen Alt. Genau das aber wird die Linke lens willen. Wahlen sind Ausdruck unseres demokra- nicht mitmachen. tischen Rechtsstaates. Wahlen sind auch ein Ausdruck der politischen Verantwortung nicht für sich selbst, sondern Vordem wollte schon der damalige Vorsitzende der vor allem für die Allgemeinheit. Und die mögliche Sen- Jungen Union, Herr Mißfelder, die Gesundheitsversor- kung des Wahlalters löst unter den betroffenen Jugendli- gung für Seniorinnen und Senioren kappen, weil sie sich chen selbst ein höchst unterschiedliches Echo aus. Nicht finanziell nicht mehr rechne. Und danach ging der Vorsit- alle sind von dieser Absenkung begeistert, weil sie um die zende des CDU-nahen Studentenverbandes RCDS, Herr große Verantwortung wissen. Ludewig, noch weiter. Er wollte das Wahlrecht für Senio- rinnen und Senioren ebenso beschränken wie das Wahl- Auch die auf kommunaler Ebene teilweise abgesenkte recht für Arbeitslose. Und da frage ich mich schon: Was (B) Wahlaltersgrenze kann für die Absenkung der Alters- (D) grenze bei Bundestagswahlen als Argument nicht herhal- für ein Menschenbild und Demokratieverständnis gras- ten. Bundestagswahlen sind hinsichtlich der Altersgrenze siert da inmitten der Christlich Demokratischen Union? auch nur begrenzt mit Kommunalwahlen vergleichbar. Vorwärts ins 15. Jahrhundert? Kommunalwahlen weisen nämlich einen starken Ortsbe- Das alles ist weder mit dem Gebot der Schöpfung noch zug auf. mit der unantastbaren Würde aller Menschen vereinbar. Um Jugendlichen politische Prozesse näher zu brin- Es widerspricht auch dem Grundgesetz. Und so zeigt sich gen und Politikverdrossenheit abzubauen, müssen an- erneut: Die Union ist fix dabei, andere als Verfassungs- dere, attraktivere Angebote gemacht und bestehende An- feinde abzustempeln. Aber sie übersieht den tiefschwar- gebote verbessert werden. Alle Parteien verzeichnen zen Balken im eigenen Auge. einen Mitgliederschwund. Und trotz der Vielzahl an Ju- gendlichen, die sich bei Vereinen, in Verbänden oder bei Richtig ist: Durch die demografische Entwicklung er- Initiativen engagieren, wäre eine noch höhere Beteili- halten die Stimmen der Älteren zahlenmäßig mehr Ge- gung wünschenswert. Wir Liberale halten Jugendparla- wicht als die Stimmen der Jüngeren. Völlig falsch aber ist, mente, die von den Schulen oder der Stadt organisiert daraus zu folgern, dass sich die Älteren deshalb zulasten werden, für einen guten Weg, demokratische Prozesse der Jüngeren bereichern wollen. Das ist schlicht eine auch vor Erreichen der Volljährigkeitsgrenze zu erlernen. böse Unterstellung. Ich habe bereits nach dieser Entgleisung von Roman Petra Pau (DIE LINKE): Herzog gesagt: Nur weil Menschen heute älter werden Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragt, das als früher, darf man sie nicht ihrer Bürgerrechte berau- aktive Wahlalter bei Bundestagswahlen von bisher ben. Das darf man überhaupt nicht. Viel klüger und weit- 18 Jahren auf künftig 16 Jahre zu senken. Dem werden reichender wäre es stattdessen, das Wahlalter für Jüngere wir zustimmen. Denn die Senkung des Wahlalters auch zu senken. Dafür ist Die Linke. auf Bundesebene gehört zum Gesamtpaket der Linken für mehr Demokratie. Das wäre mehr Demokratie und nicht weniger. Und vielleicht hilft der SPD bei alledem ihr Langzeitgedächt- Damit könnte ich meine Rede auch schon wieder be- nis. Denn Willy Brandt wurde mit dem Slogan „mehr De- enden. Aber es hat in den vergangenen Wochen ein paar mokratie wagen“ dereinst Kanzler. Sagen sie also Ja zum Äußerungen zum Thema Menschenrechte, Demokratie Wahlalter mit 16 Jahren und sie hätten endlich wieder ein und Wahlrecht gegeben, die ich für Die Linke nicht unwi- Positivthema auf ihrer Seite.

Zu Protokoll gegebene Reden 18396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bei Kommunalwahlen. Wieso sollte das bei Bundestags- (C) Wir wollen, dass Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr wahlen anders sein? Ihre teilweise noch ausbaufähige an Bundestagswahlen teilnehmen und somit künftig frü- Wahlbeteiligung ist allerdings kein Argument gegen eine her Wahlentscheidungen treffen können. Es geht uns da- frühere Wahlmöglichkeit Jugendlicher. Sonst müsste im rum, endlich früher Demokratie zu wagen, wie es vor kur- Umkehrschluss bestimmten „wahlabstinenten“ Gruppen zem unser Nachbar Österreich vorgemacht hat. Mit das Wahlrecht entzogen werden – das wäre natürlich völ- unserem Antrag und dieser Debatte wollen wir erneut für lig absurd. die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre um parlamen- Im Übrigen haben wir in Deutschland ein Wahlrecht tarische Mehrheiten werben. Uns Grünen ist es ein und keine Wahlpflicht. Wenn wir das Wahlalter absenken, zentrales demokratie- und jugendpolitisches Anliegen, ist das vielmehr eine Chance, Jugendliche früher für De- 16- und 17-jährigen Jugendlichen das aktive Wahlrecht mokratie zu gewinnen und unsere demokratische Kultur zu eröffnen und sie nicht länger von der Wahlurne fern- insgesamt zu beleben. Denn eine systematische politische zuhalten. Dafür sprechen zwei Kernargumente: erstens Bildung müsste und würde sich flankierend in Elternhaus, die demografische Schrumpfung und Alterung der Ge- Schule und Jugendeinrichtungen fester, früher und selbst- sellschaft und zweitens unser Vertrauen in die Urteils- verständlicher verankern. kraft und Reife der Jugendlichen. Jede Wahlaltersgrenze ist begründungsbedürftig; das Zum Demografieargument: Wer in einer schrumpfen- gilt genauso für die bestehende. Das Wahlalter an die den und alternden Gesellschaft einen fairen Interessen- Volljährigkeit zu binden, ist keinesfalls zwingend, son- ausgleich zwischen den Generationen gewährleisten will, dern hat sich überholt. Ich frage gerade Sie, liebe Kolle- darf Jugendliche vom Wahlrecht nicht länger ausschlie- ginnen und Kollegen von der Union, warum Sie diese ßen, sondern muss deren demokratische Beteiligung auch Bindung für unabänderlich halten, obwohl beispielsweise auf diese Weise sichern. Denn: Jugendliche werden im- die Religionsmündigkeit sogar schon mit 14 Jahren ein- mer mehr zur gesellschaftlichen Minderheit. Bereits in setzt. Das Recht knüpft hierbei an die Einsichtsfähigkeit zwei Jahren werden erstmals weniger Jugendliche unter an. Auf das Wahlrecht übertragen bedeutet dies: Jugend- 20 als ältere Menschen über 65 Jahre in Deutschland le- liche Wählerinnen und Wähler müssen in der Lage sein, ben. 2050 wird die Zahl der Älteren schließlich fast dop- sich ein Urteil zu bilden und die Tragweite ihres Wahlak- pelt so hoch sein wie die der Jüngeren. Bereits heute zeigt tes zu erkennen. Wir gehen davon aus, dass sie dies spä- sich der ungute Trend, dass die Interessen der jüngeren testens im Alter von 16 Jahren können. Generationen vernachlässigt werden. Dies dürfte sich angesichts der demografischen Alterung weiter verschär- Vermutlich werden einzelne Redner gegen unseren An- fen. Dabei wirken sich zentrale politische Entscheidun- trag einwenden, es müssten andere Maßnahmen für mehr (B) gen vom Klimaschutz über Sozial- und Ausbildungssys- Beteiligung ergriffen werden. Ich halte gar nichts davon, (D) teme bis hin zur Staatsverschuldung auf die jüngeren und eine Wahlalterabsenkung gegen andere Partizipations- künftigen Generationen besonders stark aus. Anstatt formen auszuspielen. Es geht nicht um ein „Entweder- nachhaltig und generationengerecht zu handeln, werden oder“, sondern um ein „Sowohl-als-auch“: Denn gerade dabei immer wieder Belastungen in die Zukunft verscho- die Senkung des Wahlalters ist ein zentraler Bestandteil ben. Das großkoalitionäre, rein wahltaktische Herum- einer umfassenden Beteiligungsstrategie und steht kei- doktern an der Rentenformel ist nur das jüngste Negativ- nesfalls im Widerspruch dazu! Im Übrigen wäre es ein beispiel dafür. Eine Wahlalterabsenkung wäre ein gutes starkes Stück, wenn die Regierungsfraktionen die Ju- Mittel dagegen, vor allem aber ein wichtiges Signal des gendlichen auf etwas vertrösten, was Sie wiederum gar Bundestages und der gesamten Gesellschaft an die junge nicht einlösen. Wir Grüne haben dagegen längst ein Bün- Generation: Wir wollen euch mit euren Sichtweisen ernst del an Vorschlägen für eine breitere und bessere Kinder- nehmen, wir wollen euch „auf gleicher Augenhöhe“ mit- und Jugendbeteiligung vorgelegt. Durch eine echte Betei- entscheiden lassen und euch ein wirkungsvolles Beteili- ligungsoffensive in Kindertagesstätten, Bildungs- und Ju- gungsrecht eröffnen. Damit sind wir beim zweiten gendeinrichtungen kann Demokratie früh gelernt, erlebt Kernargument. Unsere Auffassung ist, dass 16- und und gelebt werden. 17-Jährige urteilsfähig und entscheidungskompetent ge- Ich rufe Sie daher dazu auf, die Wahlrechtsdebatte nug sind, um an Bundestagswahlen teilzunehmen. Ich for- ernsthaft zu führen und sich unserem pragmatischen Vor- dere Sie alle auf, Jugendliche nicht länger zu unterschät- schlag anzuschließen – anstatt mit unsinnigen Vorschlä- zen. gen die Titelseiten der Boulevardpresse zu füllen! Ein be- sonders zynisches Musterbeispiel ist der Vorschlag eines Die Jugend- und Entwicklungsforschung zeigt, dass „doppelten Wahlrechts für Leistungsträger“, das jüngst Jugendliche reifer und kompetenter sind, als Sie ihnen zu- ein Mitglied des CDU-Bundesvorstandes propagiert hat. gestehen. Viele engagieren sich in Verbänden oder leisten Freiwilligendienste. Jugendliche entscheiden zunehmend Auch das von Kolleginnen und Kollegen der CDU/ selbstständig über ihre Bildungsbiografie. Sie wollen für CSU, SPD und FDP geforderte Elternwahlrecht – getarnt sich und andere Verantwortung übernehmen und ihre ei- unter dem Slogan „Wahlrecht ab 0“ – ist ein Irrweg. gene Zukunft aktiv mitgestalten. Eine mangelnde politi- Denn: Das persönliche Wahlrecht kann und soll nicht de- sche Reife von 16- und 17-Jährigen ist jedenfalls empi- legiert werden! Ein Stellvertreterwahlrecht der Eltern wi- risch nirgendwo belegt. Wovor haben Sie eigentlich derspricht nicht nur den Verfassungsgrundsätzen der All- Angst? Dass 16-jährige Jugendliche sehr wohl verant- gemeinheit und Gleichheit sowie dem Prinzip der wortungsvoll ihr Wahlrecht nutzen, erleben wir bereits Höchstpersönlichkeit der Wahl. Es basiert auch auf dem

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18397

Kai Gehring (A) Irrtum, dass Elternwille und Kinderwille stets identisch Mehrheit der Großen Koalition bereits eine Vielzahl von (C) seien. Es wäre schlicht undemokratisch, wenn Ministerin Maßnahmen zur Flexibilisierung und Liberalisierung der von der Leyen stellvertretend für ihre Kinder weitere sie- ärztlichen Berufsausübung beschlossen haben. Daraus benmal das Kreuz bei der CDU machen dürfte! Ich frage gehen unsere Richtung und das Ziel, das wir verfolgen, Sie: Was wäre, wenn Frau und Herr von der Leyen sich ganz klar hervor: Wir begrenzen und reduzieren die ge- nicht auf eine Stimmabgabe einigen können? Wie soll un- setzlichen Vorgaben für die ärztlichen Berufsausübung, ter Einhaltung des Wahlgeheimnisses ein Einvernehmen wo immer es möglich und sinnvoll ist. Bestes und eindeu- in der Familie und unter den Ehepartnern erzielt werden? tiges Exempel dafür ist das Vertragsärzterechtsände- Und nicht zuletzt: Womit lässt sich die krasse Benachtei- rungsgesetz, das Anfang 2007 in Kraft getreten ist. Es ligung von Kinderlosen rechtfertigen? transformierte nicht nur vielfach bereits bestehende be- rufsrechtliche Regelungen der freien Ärzte und Zahnärzte Nein, ein Wahlrecht von Geburt an, verbunden mit ei- in das geltende Vertragsarztrecht. Die neuen Regelungen nem Elternwahlrecht, ist starker Tobak. Es geht doch ge- setzen auch zahlreiche Erleichterungen der vertragsärzt- rade darum, junge Menschen selbst als Bürgerinnen und lichen Leistungserbringung um und kommen den Wün- Bürger mit eigenen demokratischen Rechten ernst zu neh- schen und Erwartungen der Ärzte in weiten Bereichen men. Mir geht es darum, dass Jugendliche früher wählen zweifellos sehr entgegen. können, und nicht Eltern stellvertretend für ihre Kinder. Das Prinzip „one man – one vote“ darf nicht einfach über Mit dem Ziel, dem Ärztemangel in ländlichen Regio- Bord geworfen werden. Wir sollten uns deshalb nicht wei- nen, wie es ihn zum Beispiel in Ostdeutschland, aber nicht ter beim Elternwahlrecht verzetteln, sondern früher De- nur dort gibt, zu begegnen und um die ambulante Versor- mokratie wagen! gung flexibler zu gestalten, haben wir maßgebliche Ände- rungen vorgenommen. Hinsichtlich der Altersgrenzen für Lassen Sie uns einen mutigen, aber durchführbaren den Beginn und das Ende der vertragsärztlichen Tätigkeit Weg einschlagen, der Jugendliche in ihrem Recht wirk- sind dies die folgenden Änderungen: Erstens. Die Alters- lich stärkt: Lassen Sie uns gemeinsam eine Grundge- grenze von 55 Jahren für die Erstzulassung als Vertrags- setzänderung einleiten, damit 16- und 17-Jährige schon arzt bzw. -zahnarzt wurde aufgehoben. Zweitens. Für im nächsten Jahr den Deutschen Bundestag mitwählen Planungsbereiche, in denen eine Unterversorgung be- können. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung! steht oder droht, ist die Altersgrenze von 68 Jahren für die vertragsärztliche und -zahnärztliche Berufsausübung Präsident Dr. Norbert Lammert: aufgehoben. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/6647 an die in der Tagesordnung aufge- Was die Zahnärzte anbelangt, so ist der hier einge- brachte Antrag der FDP-Fraktion schon heute vollstän- (B) führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Darüber herrscht (D) Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so beschlos- dig überflüssig und gegenstandslos: Wie Sie in Ihrem An- sen. trag ausdrücklich anführen, haben wir im jüngsten Gesundheitsreformgesetz, dem GKV/WSG, schon die im Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Bereich der Zahnmediziner überflüssig gewordene Be- darfszulassung aufgehoben. Für die Zahnärzte sind die Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel bedarfsorientierten Zulassungsbeschränkungen seit Bahr (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad April 2007 komplett abgeschafft. Darüber hinaus sind Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion wir dabei, die Altersgrenze von 68 Jahren für Vertrags- der FDP zahnärzte aufzuheben, was voraussichtlich noch in die- Vertragsärzte und -zahnärzte nicht mit sem Jahr realisiert werden kann. Die Kollegen der CDU/ 68 Jahren zwangsweise in den Ruhestand schi- CSU-Bundestagsfraktion haben sich auf meine Initiative cken hin für die entsprechende Änderung im Bundessozialge- setzbuch eingesetzt. Es wurde daraufhin in der Koalition – Drucksache 16/9445 – verabredet, dass wir die Regelung zur Aufhebung der Al- Überweisungsvorschlag: tersgrenze von 68 Jahren zur Behandlung von Kassenpa- Ausschuss für Gesundheit tienten für die Zahnärzte in ein laufendes Gesetzgebungs- Die Reden der Kollegen Dr. Rolf Koschorrek, Peter verfahren einbeziehen. Friedrich, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth, Dr. Harald Diese erfolgreiche Initiative zur Aufhebung der Alters- Terpe und der Parlamentarischen Staatssekretärin grenze für Vertragszahnärzte, die große Zustimmung in Caspers-Merk werden zu Protokoll genommen. unserer Fraktion gefunden hat, macht deutlich, dass wir einer Aufhebung der Altersgrenze für alle Vertragsärzte Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): keineswegs grundsätzlich ablehnend gegenüber stehen. Im Mai 2003 brachte die FDP schon einmal einen An- Insbesondere die Annahme, jede patientenbezogene Be- trag zur Aufhebung der Altersgrenze von 68 Jahren für rufsausübung durch ältere (Zahn-)Ärzte gefährde die Pa- Vertragsärzte und -zahnärzte ein. Er fand in der letzten tienten, weisen wir ausdrücklich zurück und lehnen sie Legislaturperiode keine Mehrheit. Sie legen jetzt unter als Begründung für die 68er-Regelung ab. Diese „Schutz- dem neuen Titel „Vertragsärzte und -zahnärzte nicht mit behauptung“ ist allein schon durch die uneingeschränkte 68 Jahren zwangsweise in den Ruhestand schicken“ wie- privatärztliche Tätigkeit auch über das 68. Lebensjahr der einen Antrag zur Aufhebung der Altersgrenze vor, ob- hinaus widerlegt. Allerdings gibt es derzeit leider noch wohl wir in dieser Legislaturperiode seit 2006 mit der nicht zu ignorierende Gründe, die uns von einer generel- 18398 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Rolf Koschorrek (A) len Aufhebung der 68er-Regelung für alle Vertragsärzte der Arzt die heutige Altersgrenze voll aus. Im Gegenteil: (C) zum jetzigen Zeitpunkt abhalten müssen. Viele Ärztinnen und Ärzte finden schon vor dem 65. Le- bensjahr einen Übergang in den Ruhestand oder sind Im Unterschied zu der vertragszahnärztlichen Versor- nach wie vor im medizinischen Umfeld tätig, praktizieren gung haben wir im Bereich der Haus- und Fachärzte lei- aber nicht mehr. der noch nicht überall die Situation, dass wir auf die Steu- erungswirkung der 68er-Regelung verzichten können, um Wenn wir die Altersgrenze aufheben, kommen auf die eine ausgewogene und flächendeckende ärztliche Versor- Ärztekammern und Zahnärztekammern sowie die Kas- gung zu gewährleisten. Wir können zum jetzigen Zeit- senärztlichen und die Kassenzahnärztlichen Vereinigun- punkt noch nicht auf die Bedarfsplanung mit Zulassungs- gen neue Herausforderungen zu, um die hochwertige me- beschränkungen verzichten. Solange diese besteht, ist dizinische Versorgung dauerhaft sicherzustellen. So eine generelle Aufhebung der Altersgrenze nicht sinnvoll. müssen die kontinuierlichen Weiterbildungsmaßnahmen gewährleisten, dass bis ins hohe Alter hinein die ärztliche Unser Ziel ist und bleibt es gleichwohl, sobald wie Behandlung auf dem aktuellen fachlichen Stand gesichert möglich die Bedarfsplanung überflüssig zu machen. Um ist. Dazu gehört auch, dass die Ärztekammern und Zahn- dies zu erreichen, ist ein Maßnahmebündel notwendig, ärztekammern die Anforderungen an die ärztliche Leis- das die Attraktivität des Arztberufs und einer Niederlas- tungsfähigkeit offen kommunizieren und der eigenen, in- sung für junge Mediziner auch in den Regionen verbes- dividuellen persönlichen Einschätzung ihrer Mitglieder sert, in denen eine Unterversorgung besteht oder droht. gegenüberstellen. Dabei muss es sowohl um finanzielle Anreize als auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gehen. Ein Zudem muss im Falle von Fehlbehandlungen schnell Beispiel für eine geeignete Maßnahme sind zum Beispiel und transparent gehandelt werden: Sollte sich ein Arzt die beschlossenen Honorarzuschläge für Ärzte, die in un- oder eine Ärztin – unabhängig von seinem oder ihrem Al- terversorgten Regionen arbeiten. ter – selbst überschätzen, sodass ein möglicher Schaden für die Patienten droht oder gar eintritt, muss dies von Peter Friedrich (SPD): den berufsständischen Organisationen schnell und trans- Die FDP-Fraktion begehrt in ihrem Antrag etwas, was parent aufgegriffen und angemessen sanktioniert werden. ohnehin kommt und vonseiten der Koalitionsfraktionen Dazu gehört, dass sich eine positive Fehlerkultur noch auch bereits öffentlich angekündigt worden ist. Es hätte stärker als bislang entwickelt, die einen angemessenen dieses Antrags folglich nicht bedurft, aber wir freuen uns Umgang mit Behandlungsfehlern sicherstellt. Es ist we- immer, wenn die Opposition unsere Politik mit unter- der einem Arzt oder einer Ärztin noch ihren Patientinnen stützt. Vielleicht sollten Sie, meine Damen und Herren und Patienten gedient, wenn Missstände in der ärztlichen (B) von der FDP-Fraktion, aber im Sinne des propagierten Behandlung infolge einer falsch verstandenen Solidarität (D) Bürokratieabbaus überdenken, ob Sie nicht sich und uns unter den Teppich gekehrt werden sollen. solche Anträge in Zukunft ersparen wollen. Abschließend möchte ich auf den vermeintlichen Ärz- Wie die Parlamentarische Staatssekretärin Marion temangel eingehen, der in der Öffentlichkeit immer wie- Caspers-Merk in ihrer Rede beschreibt, zeigen die Erfah- der beklagt wird. Auch die FDP-Fraktion konnte bei der rungen mit den unterschiedlichen bereits jetzt geltenden Erarbeitung ihres Antrages nicht der Versuchung wider- Ausnahmeregeln, dass eine Aufhebung der Altersgrenze stehen, in diesen populistischen Chor miteinzustimmen. nicht zu einer Qualitätsverschlechterung in der Versor- Nach wie vor ist der Arztberuf jedoch sehr attraktiv – und gung geführt hat. Von einer generellen Aufhebung der Al- zwar trotz aller gegenteiliger Darstellungen in der Öf- tersgrenze versprechen wir uns zudem eine Reihe von fentlichkeit, mit denen unsere politischen Reformpro- Vorteilen: In vielen Fällen wird der Weiterverkaufswert zesse im Gesundheitswesen immer wieder angegangen einer Praxis steigen, weil der Inhaber oder die Inhaberin werden. Die Ärztestatistik 2007, die unlängst von der in Zukunft in einem längeren Prozess und ohne Zeitdruck Bundesärztekammer veröffentlicht worden ist, belegt, geeignete Nachfolgerinnen und Nachfolger suchen kann. dass die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in den vergange- Dies ist wichtig, weil für viele Ärztinnen und Ärzte ihre nen Jahren sowohl im ambulanten wie auch im stationä- Praxis einen wesentlichen Teil ihrer Alterssicherung ren Bereich weiter zugenommen und somit zu einer er- darstellt. Darüber hinaus ermöglichen die Aufhebung heblichen Verbesserung der Ärztedichte beigetragen hat. der Altersgrenze gemeinsam mit den flexiblen Anstel- Auch ist – ebenfalls entgegen aller öffentlich vorgetrage- lungsmöglichkeiten, die wir durch das Vertragsarzt- nen Krisenszenarien – die Abwanderung von Ärzten und rechtsänderungsgesetz geschaffen haben, eine koopera- Ärztinnen, die in Deutschland tätig waren, alles andere tive Praxisführung von Vorgängerinnen und Vorgängern als ein Massenphänomen und zudem in ihrem Ausmaß mit ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern. Die Erfah- deutlich niedriger als die Zahl der nach Deutschland zu- rung zeigt, dass eine gemeinsame Übergangszeit nicht gewanderten Ärztinnen und Ärzte. Deshalb möchte ich nur den Patientinnen und Patienten eine längere Umstel- hervorheben, dass wir die Altersgrenze nicht zur Behe- lungszeit ermöglicht, sondern auch vieles an praxisspezi- bung eines Mangels an Nachwuchsärztinnen und Nach- fischem Wissen und beruflicher Erfahrung weitergegeben wuchsärzten aufheben, denn diesen Mangel gibt es nicht. und somit erhalten bleiben kann. Allerdings wird der Wunsch, über das 68. Lebensjahr Dr. Konrad Schily (FDP): hinaus als Ärztin oder Arzt zu praktizieren, bereits heute Die derzeit noch geltende rechtliche Regelung ist – um sehr unterschiedlich laut. Schon jetzt nutzt keineswegs je- es dem Thema entsprechend zu formulieren – veraltet. Sie

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18399

Dr. Konrad Schily (A) war schon bei der Inkraftsetzung 1999 als äußerst proble- 2009 eine erste Überprüfung der Umsetzung dieser Ge- (C) matisch zu bewerten. Heute sprechen drei gewichtige setzesregelung vorgenommen wird! Gründe für ihre Aufhebung. Zum Ersten werden Ärzte ebenso wie die Gesamtbevölkerung immer älter und blei- Trotz dieser Regelungen will die FDP die Abschaffung ben doch länger jung; das heißt, Alter kann nicht alleine der Altersgrenze für Ärzte. Doch die Begründung, die zu numerisch definiert werden, sondern hat eine kulturelle der Altersgrenze für Vertragsärzte geführt hatte, ist auch und soziale Komponente. Zum Zweiten wird schon jetzt heute noch aktuell. Denn wie die FDP in ihrem Antrag durch die Aufhebung der Altersgrenze wirksam der Un- richtig zitiert, wurde in der Begründung des Gesund- terversorgung in manchen ländlichen Regionen Deutsch- heitssystemstrukturgesetzes von 2003 festgestellt: „Die lands entgegengewirkt. Wenn Ärzte in ländlichen Gegen- Entwicklung der Vertragsarztzahl stellt eine wesentliche den dazu in der Lage sind, qualitativ hochwertig nach der Ursache für überhöhte Ausgabenzuwächse in der gesetz- Überschreitung der Altersgrenze weiter zu arbeiten, sind lichen Krankenversicherung dar. Angesichts einer stän- sie es in allen anderen Regionen unseres Landes auch. dig wachsenden Zahl von Vertragsärzten besteht die Not- Zum Dritten glaube ich, dass die Frage der Altersgrenze wendigkeit, die Anzahl der Vertragsärzte zu begrenzen. nicht per Bundesgesetz geregelt werden muss, sondern Die Überversorgung kann nicht durch Zulassungsbe- der Verantwortung der örtlichen ärztlichen und zahnärzt- schränkungen und damit zulasten der jungen Ärztegene- lichen Körperschaften obliegen kann. Vor Ort wissen die ration eingedämmt werden. Hierzu ist auch die Einfüh- Verantwortungsträger am besten, was für ihre Region das rung einer obligatorischen Altersgrenze für Vertragsärzte Richtige ist. erforderlich.“ Wenn die FDP jetzt behauptet, dass sich diese Situa- Berücksichtigt man diese drei Argumente, so wird klar, tion grundlegend verändert hat, möchte ich angesichts dass der FDP-Antrag der Lebenswirklichkeit in Deutsch- der Entwicklung der Arztzahlen erhebliche Zweifel an- land sehr gut gerecht wird und zudem adäquat auf die melden. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Alters- Versorgungsschwierigkeiten in Teilen unseres Landes re- grenze im Jahr 1998 waren 124 621 Ärztinnen und Ärzte agiert. Ich bitte daher um Zustimmung für die Druck- ambulant tätig. Ende 2006 betrug ihre Zahl 136 105, also sache 16/9445. eine Steigerung von knapp 12 000 Ärztinnen und Ärzten. Von einem flächendeckenden Ärztemangel kann also Frank Spieth (DIE LINKE): überhaupt nicht geredet werden. Richtig ist, dass es ei- Als ich vor kurzem die Praxis meiner Hausärztin auf- nerseits Über- und andererseits lokale Unterversorgung suchte, war diese im Urlaub. Ihre Urlaubsvertretung war gibt. einer der Ärzte, über die in diesem Antrag geredet wird. Um hier den Patientinnen und Patienten zu helfen, (B) Ich schätze, er wird um die siebzig Jahre alt gewesen sein braucht es wesentlich mehr Anstrengungen als die Aufhe- (D) und machte auf mich zeitweilig einen abwesenden Ein- bung der Altersgrenze. Deshalb ist dieses Argument der druck. Und ich will Ihnen sagen, ich fühlte mich von die- Liberalen nicht stichhaltig. Wir werden in den weiteren sem Arzt überhaupt nicht kompetent behandelt. Es ist ja Beratungen sehen, ob der dünnen Basis dieses Antrags nur zu verständlich, dass mit zunehmendem Alter auch noch etwas mehr Substanz gegeben werden kann. Die eine nachlassende geistige und körperliche Verfassung Linke wird dazu konstruktive Vorschläge machen. vonstatten gehen kann. Deshalb lehnen wir eine generelle Freigabe der Altersgrenze ab, wir wollen aber nicht den Stab über alle älteren Ärzte brechen. Wir wollen erst recht Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): keine Altersdiskriminierung. Wenn ein Arzt oder eine Ärz- Der Antrag der FDP greift mit der drohenden Unter- tin nach dem 68. Lebensjahr weiter praktizieren möchte, versorgung in manchen vertragsärztlichen Planungs- sollte das unter gewissen Bedingungen gestattet werden: regionen ein wichtiges Thema auf. Es lohnt sich deswe- Wir plädieren dafür, dass für die Fortsetzung der ärztli- gen, vertieft über den richtigen Weg zur Vermeidung von chen Tätigkeit der Nachweis über die individuelle Eig- Unterversorgung zu diskutieren. Die drohende ärztliche nung sowie die kontinuierliche Fortbildung erbracht Unterversorgung in manchen ländlichen Regionen Ost- werden muss. deutschlands ist mittlerweile fast sprichwörtlich. Wer sich genauer umhört und umsieht, der weiß aber, dass es Mit den Neuregelungen aus dem Vertragsarztrechtsän- diesbezügliche Meldungen inzwischen beispielsweise derungsgesetz 2007 wurde die Möglichkeit geschaffen, in auch aus sozial benachteiligten Stadtteilen großer Städte unterversorgten Regionen die Altersgrenze aufzuheben. im Westen gibt, wo die Nachfolge für Hausarzt- und Das findet unsere volle Unterstützung, wenn dafür ein Facharztsitze fraglich ist. Einzelnachweis erbracht wird. Diese Unterversorgung besteht hauptsächlich in den neuen Bundesländern. Aber Mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz wurden nicht nur dort sind Arztpraxen verwaist. bereits wichtige Änderungen vorgenommen, die helfen können, Unterversorgung künftig zu vermeiden. Dazu Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 gibt zähle ich vor allem die nunmehr von den Kassen finan- es außerdem die Möglichkeit, eine lokale Unterversor- zierten Sicherstellungszuschläge. Auch die Regelung, gung festzustellen, obwohl die Versorgungsregion gut dass niedergelassene Vertragsärzte in unterversorgten oder überversorgt ist. Die Krankenkassen und die Kas- Regionen über das 68. Lebensjahr hinaus tätig sein dür- senärztlichen Vereinigungen müssen dann alle Maßnah- fen, ist als Übergangslösung sicher hilfreich. Ich bin mir men ergreifen, um diese Unterversorgung zu beenden. aber ziemlich sicher, dass diese Maßnahmen nicht aus- Wir erwarten von der Bundesregierung, dass Anfang reichen werden. Wir brauchen vor allem gemeinsame

Zu Protokoll gegebene Reden 18400 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Harald Terpe (A) Anstrengungen des Bundes, der Länder und der Selbst- insbesondere für niedergelassene Vertragsärzte abzu- (C) verwaltung, um Unterversorgung zu verhindern. Ich be- schaffen. Damit verhindert man aus meiner Sicht den Be- grüße daher die Bemühungen von Bundesländern wie rufseinstieg junger Vertragsärztinnen und Vertragsärzte, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, junge Ärztinnen die sich niederlassen wollen. Dies kann das Problem des und Ärzte schon während des Medizinstudiums für die Ärztemangels sogar noch verschärfen. Natürlich gibt es Niederlassung in unterversorgten Gebieten zu gewinnen. auch Gründe für die Aufhebung der Altersgrenze, bei- Sinnvoll ist es sicher auch, den Wiedereinstieg in das Be- spielsweise für Vertragszahnärzte, weil dort ohnehin rufsleben etwa nach einer Erziehungspause zu fördern keine Bedarfszulassung mehr existiert. Auch der Grund- und so den Mangel an qualifizierten Ärztinnen und Ärzten satz der freien Berufsausübung und die Verhinderung von zumindest teilweise zu beheben. Vorschläge, wie die der- Altersdiskriminierung mögen solche Gründe sein. Die ge- zeit unzulängliche Bedarfsplanung etwa durch feinere forderte Liberalisierung der Ruhestandsregelung würde Planungskriterien verbessert werden kann, liegen eben- allerdings die Bereitschaft der Ärzte erfordern, gegebe- falls auf dem Tisch. nenfalls im Alter den Fortbestand der Fähigkeit zur ver- antwortlichen Berufsausübung nachzuweisen. Dass der Diese Dinge sind sicher wichtig und richtig. Sie be- FDP-Antrag einer differenzierten Betrachtung genügt, rücksichtigen aber nicht die Frage, woran es eigentlich darf bezweifelt werden. liegt, dass die Niederlassung als Vertragsarzt in einigen Regionen nicht attraktiv ist. Schauen wir uns die Bedin- gungen zum Beispiel in Ostdeutschland an: In Ost- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei deutschland treten bestimmte chronische Erkrankungen der Bundesministerin für Gesundheit: deutlich häufiger als im Westen auf. Die Behandlung die- Passen strikte Altersgrenzen, ab wann man nicht mehr ser chronischen Erkrankungen verursacht etwa 80 Pro- beruflich tätig sein darf, eigentlich noch in eine Gesell- zent der Kosten im Gesundheitswesen. Dies hat schaft des längeren Lebens? Wir meinen: Nein. Denn wir verbunden mit der höheren Fallzahl eine höhere Arbeits- brauchen aktive Ältere und ihren gesellschaftlichen Bei- belastung und Betreuungsintensität für die Ärztinnen und trag. Deshalb ist es auch folgerichtig, über die 68er-Re- Ärzte zur Folge. Auch die finanziellen Rahmenbedingun- gelung für Ärzte und Zahnärzte neu nachzudenken. Wir gen der niedergelassenen Ärzte im Osten sind ungünsti- werden Ihnen deshalb gemeinsam mit den Koalitionsfrak- ger: So sind die Einkünfte aus der Behandlung privat ver- tionen vorschlagen, diese Zwangsverrentungsgrenze auf- sicherter Patienten, die häufig zur Quersubventionierung zuheben. Es ist bereits zwischen den Koalitionspartnern der Praxis verwandt werden, deutlich geringer. Im Wes- verabredet, dass ein Änderungsantrag zum Gesetz zur ten liegt der Anteil der PKV-Patienten bei circa 10 Pro- Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der zent, im Osten hingegen nur bei 3,6 Prozent. Auch die GKV eingebracht werden soll, der die Aufhebung der Al- (B) Vergütungssituation stellt sich für die niedergelassenen tersgrenze sowohl für Vertragszahnärzte als auch für Ver- (D) Ärzte in Ostdeutschland schlechter dar: Nach Berech- tragsärzte vorsieht. Der Antrag der FDP fordert deshalb nungen des Bundesgesundheitsministeriums stehen für etwas, was bereits öffentlich zugesagt war. Aber immer- die ambulante Behandlung je Versichertem im Vergleich hin gibt der Antrag die Möglichkeit, nochmals die wich- zum Westen Deutschlands lediglich circa 85 Prozent der tigsten Argumente auszutauschen. Vergütung zur Verfügung. Nach Angaben der Kassenärzt- Die Aufhebung der Altersgrenze für Vertragsärzte be- lichen Bundesvereinigung betragen die Fallwerte, also deutet für die Ärzte mehr Planungssicherheit und mehr die durchschnittlichen Einnahmen je Fall, nur rund Freiheit bei der Organisation ihrer Nachfolge. Damit 80 Prozent des Westniveaus. Nur durch die aus der grö- wird einem wesentlichen Anliegen der Ärzte entsprochen, ßeren Fallzahl resultierende Mehrarbeit der Ärztinnen selbstbestimmt über den Zeitpunkt ihrer Nachfolge zu ent- und Ärzte erreichen die Praxisüberschüsse in den meisten scheiden. Zugleich kann die Aufhebung der Altersgrenze ostdeutschen Bundesländern etwa 95 bis 100 Prozent des ein Beitrag zu mehr Versorgungssicherheit sein, wenn Westniveaus. Ärzte über die Altersgrenze von 68 Jahren hinaus tätig Wenn wir das Problem der Unterversorgung lösen bleiben, weil sie keinen Nachfolger finden. Zudem ist es wollen, müssen wir zuerst die Frage beantworten, wie wir gut, wenn leistungsfähige Ärzte ihre Berufs- und Lebens- beispielsweise mittels der Vergütung die Niederlassung in erfahrung der Gesellschaft zugutekommen lassen, auch unterversorgten Gebieten attraktiver gestalten. Genauer über die Altersgrenze von 68 hinaus. gefragt: Ist es nicht sinnvoll, das Engagement niederge- lassener Ärzte in strukturschwachen Regionen höher zu Von der starren Altersgrenze sind in vergangenen Ge- vergüten als die Tätigkeit in wirtschaftlich starken Re- setzgebungsvorhaben bereits Ausnahmen geregelt wor- gionen? Sodann müssen wir uns damit beschäftigen, wie den. Durch das im Januar des letzten Jahres in Kraft ge- die häufig hinderliche sektorale Trennung zum Zwecke tretene Vertragsarztrechtrechtsänderungsgesetz wurde der Verhinderung von Unterversorgung überwunden eine Aufhebung der Altersgrenze für die Fälle geregelt, in werden kann. Ziel muss es sein, die Kooperation und Ar- denen der jeweilige Landesausschuss eine eingetretene beitsteilung zwischen dem ambulanten und dem stationä- oder drohende Unterversorgung festgestellt hat. Zuvor ren Sektor zu vertiefen, wie dies in einigen regionalen Ge- galt bereits die Regelung, dass sich die Zulassung von sundheitsnetzwerken bereits praktiziert wird. Ärzten und Zahnärzten, die zum Zeitpunkt der Vollendung des 68. Lebensjahres weniger als 20 Jahre als Vertragsarzt Der Antrag der FDP sagt dazu nichts. Ich denke im bzw. als Vertragszahnarzt tätig und vor dem 1. Januar Übrigen nicht, dass es zur Vermeidung von Unterversor- 1993 zugelassen waren, bis zum Ablauf der 20-Jahres- gung nötig ist, gleich die komplette Ruhestandsregelung Frist verlängert. Ehemaligen Vertragsärzten ist es zudem,

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18401

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) auch wenn sie über 68 Jahre alt sind, möglich, Vertretun- Ich spreche damit gezielt nicht nur den besserwisseri- (C) gen eines Vertragsarztes zu übernehmen. Schließlich ist es schen Zeigefinger der EU-Kommission an, die Deutsch- Ärzten und Zahnärzten auch erlaubt, über das Alter von land und anderen Ländern vorschreiben will, wie Diskri- 68 Jahren hinaus Privatpatienten zu behandeln. minierungsschutz zu funktionieren hat. Um es mit den Worten unseres CSU-Landesgruppenvorsitzenden zu sa- Hinzu kommt bei den Vertragszahnärzten die beson- gen: Es handelt sich dabei um einen „ungezügelten Kom- dere Situation, dass diese seit Inkrafttreten des GKV- petenzanmaßungswahn“, den wir nicht unterstützen wol- Wettbewerbsstärkungsgesetzes im April vergangenen len. Jahres keinen Zulassungsbeschränkungen mehr unterlie- gen. Eines besonderen Schutzes jüngerer Ärzte – wie vom Das Gleiche gilt für das Gejammer einiger Fraktionen Bundesverfassungsgericht und Bundessozialgericht un- dieses Hauses, das den Eindruck vermittelt, in Deutsch- ter anderem zur Rechtfertigung der Altersgrenzenrege- land und Europa würden nur diskriminierte Menschen lung angenommen, bedarf es für sie daher nicht mehr. herumlaufen. Dabei handelt es sich dann um „ungezügel- tes Gutmenschentun“, das mit der funktionierenden Rea- Wir haben gute Erfahrungen mit den Ausnahmen ge- lität unserer Gesellschaft nichts mehr zu tun hat. Es ist be- macht, machen wir sie doch zur Regel. dauerlich, das die Arbeit des Hohen Hauses davon aufgehalten wird, indem wir uns immer wieder mit den Präsident Dr. Norbert Lammert: gleichen überflüssigen Anträgen und Forderungen aus- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf einandersetzen müssen, die schon lange ausdiskutiert Drucksache 16/9445 an den Ausschuss für Gesundheit sind. Wir wollen uns nicht mit weiteren Initiativen von vorgeschlagen. – Darüber herrscht Einvernehmen. Dann Kommissar Spidla beschäftigen müssen, die er schon für ist die Überweisung so beschlossen. den 2. Juli angekündigt hat, weil diese immer wieder in die falsche Richtung gehen. Es gibt über das AGG hinaus Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf: keinen weiteren Handlungsbedarf in Deutschland. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Unser Rechtssystem besaß schon vor dem unseligen Dağdelen, Karin Binder, Dr. Barbara Höll, weite- Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz einen umfassen- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE den Diskriminierungsschutz, weshalb Deutschland als ein Vorreiter diesbezüglich gelten muss. Eine Amerikani- Effektiven Diskriminierungsschutz verwirkli- sierung unseres Rechts sollten wir daher auf jeden Fall chen verhindern, und wir lehnen somit sowohl die Forderung – Drucksache 16/9637 – nach einer Beweislastumkehr als auch ein mögliches Ver- bandsklagerecht kategorisch ab. Wir brauchen keine Er- (B) Überweisungsvorschlag: (D) Rechtsausschuss (f) weiterung oder Änderung. Ihre Vorschläge sind zu ab- Innenausschuss surd, um auch noch im Einzelnen darauf einzugehen. Es Ausschuss für Wirtschaft und Technologie existiert ein umfassender Schutz vor Diskriminierung we- Ausschuss für Arbeit und Soziales gen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit oder der Religion. Darüber hinaus wird es mit der Union Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe keine Erweiterung oder Modifikation geben. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Christine Lambrecht (SPD): Haushaltsausschuss Die Fraktion Die Linke hat den Antrag „Effektiven Dis- Die Reden der Kolleginnen und der Kollegen Daniela kriminierungsschutz verwirklichen“ vorgelegt, mit dem Raab, Christine Lambrecht, Mechthild Dyckmans, eine deutliche Ausweitung des schon bestehenden Schutzes Sevim Dağdelen, Volker Beck und Gert Winkelmeier vor Diskriminierung gefordert wird. Ich sage es vorab: Wir werden zu Protokoll genommen. lehnen diesen Antrag ab. Ich sage Ihnen auch warum: Die Linke fordert, das Merkmal „aus Gründen der Rasse“ im AGG zu ersetzen und durch die Formulierung „aus rassis- Daniela Raab (CDU/CSU): tischen Gründen“ zu ersetzen. Hier sind wir an die Vor- Vor zwei Monaten haben wir uns schon zum wiederhol- gabe der EU gebunden, die genau diese Formulierung ge- ten Male mit diesem Thema beschäftigt; damals war es wählt hat, auch wenn Ihnen das nicht gefällt. Eine ein Antrag von den Grünen, heute von den Linken. Veränderung können wir daher nicht mittragen. Auch dieses Mal kann und will ich dazu eigentlich nur Weiter fordern Sie die Erweiterung des Anwendungs- eines sagen: Das AGG, so wie es zurzeit besteht, ist schon bereichs des AGG um Diskriminierungsmerkmale wie zuviel des Guten. Der Schutz vor Diskriminierung ist aus- „soziale Herkunft“ oder „soziale Lebensumstände“. reichend vorhanden, und es bedarf keiner weiteren An- Eine solche Erweiterung des Anwendungsbereichs ist passung oder Erweiterung. Die Annahme, dass es den eu- schon alleine aufgrund der mangelnden Bestimmtheit ropäischen Vorgaben „offensichtlich“ widerspricht, teile nicht möglich. Was ist unter dem Begriff „soziale Le- ich ganz und gar nicht. Ich halte Ihre Aussagen für ein bensumstände“ zu verstehen? Eine solch unkonkrekte Be- rein populistisches Machwerk, das mal wieder die Tatsa- grifflichkeit hilft sicherlich niemanden im Kampf gegen chen verdreht und uns unnötig Zeit und Mühen kostet, Diskriminierung, wird aber den Gerichten Auslegungs- weil wir darauf auch noch eingehen müssen. schwierigkeiten bereiten. Wem soll damit geholfen sein? 18402 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Christine Lambrecht (A) Eine weitere Forderung aus Ihrem Antrag erscheint Zusammenleben der Bürger untereinander geben muss. (C) ebenfalls nicht sinnvoll. Da soll das Verbandsklagerecht Das Grundgesetz verbietet in Art. 3 Abs. 3 GG dem Staat auf Organisationen ausgeweitet werden, die gerade nicht jede Form der Ungleichbehandlung wegen der in dieser das Merkmal eines Verbandes haben. Die Erweiterung Vorschrift aufgeführten absoluten Diskriminierungsver- des Verbandsklagerechts auf alle Gruppierungen, die ent- bote. Dieser Verfassungsgrundsatz strahlt auch aus auf sprechend ihrer Satzung die besonderen Interessen von das Privatrecht. benachteiligten Personengruppen im Sinne des AGG wahrnehmen wollen, würde zu einer inakzeptablen Auf- Das Grundgesetz begründet eine Schutzpflicht des weichung des Verbandsklagerechtes führen. Das vorge- Staates, auch im Privatrechtsverkehr für die Beachtung schlagene Sanktionsrecht ohne Begrenzung der Scha- dieser Wertungen zu sorgen. Anknüpfungspunkte im Pri- densersatzhöhe würde bei Schadensersatzprozessen vatrecht sind hier die §§ 134, 138 BGB. Verträge, die ras- letztlich zu Verhältnissen wie in den USA führen. Das ist sistische und geschlechtsspezifische Diskriminierungen somit keine akzeptable Ausweitung. enthalten, sind nach § 138 BGB schlechthin unwirksam. Es stellt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts gemäß Deutschland hat die vier Antidiskriminierungsrichtli- § 823 Abs. 1 BGB dar, wer einem anderen einen Schaden nien der EU durch das Allgemeine Gleichbehandlungsge- dadurch zufügt, dass er ihn wegen eines in Art. 3 Abs. 3 setz umgesetzt und nimmt im gesamteuropäischen Ver- GG genannten Merkmals diskriminiert. gleich eine Vorbildstellung ein. Das AGG hat keineswegs zu der Prozessflut geführt, die von einigen Kritikern be- Unsere Rechtsordnung garantiert schon heute den fürchtet worden ist. Wir haben vielmehr mit Augenmaß Schutz von Minderheiten und stellt sich bewusst gegen den Schutz vor Diskriminierung vorangebracht. Die Hin- Diskriminierung. Es besteht Einigkeit im Deutschen weise der Kommission der Europäischen Gemeinschaften Bundestag, dass kein Bürger wegen seiner Rasse, seiner zu der Umsetzung in Deutschland haben wir aufgenom- ethnischen Herkunft, seiner Religion, seiner Weltan- men, und sie werden einer Prüfung unterzogen. In diesem schauung, seiner Behinderung, seines Alters, seines Ge- Zusammenhang erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, schlechts oder seiner sexuellen Orientierung benachtei- dass in vielen Mitgliedstaaten wegen angeblich unzurei- ligt und diskriminiert werden darf. Die FDP- chender Umsetzung derzeit die Klärung wichtiger Fra- Bundestagsfraktion bekennt sich ausdrücklich zu den gen zur Auslegung der Richtlinie erfolgt. Die Forderung Diskriminierungsverboten, wie sie in der Europäischen im Antrag der Linke führen hierbei nicht in die richtige Menschenrechtskonvention und in den europäischen Ver- Richtung. trägen festgehalten sind. Die Freiheit, unbeschwert von Diskriminierung und Verfolgung leben zu können, ist ge- rade für uns ein zu verteidigendes Menschenrecht. Die Mechthild Dyckmans (FDP): (B) Bekämpfung von Diskriminierung und Intoleranz sind für (D) Zum wiederholten Male berät der Deutsche Bundestag den Zusammenhalt einer Gesellschaft schlicht unver- über das Antidiskriminierungsrecht. Die uns hierzu vor- zichtbar. Es gehört daher unbestritten zu den Kernaufga- liegenden Initiativen zeugen von einem gegenseitigen ben des Staates, den Bürgerinnen und Bürgern ein freies Überbietungswettbewerb. Minderheiten werden bewertet und selbstbestimmtes Leben ohne Diskriminierung zu ge- und für wichtig oder weniger wichtig erachtet, ein Wust währleisten. von Sanktionsmöglichkeiten wird präsentiert und die Forderungen an Brüssel, Europa endlich diskriminie- Uns trennen jedoch unterschiedliche Auffassungen rungsfrei auszugestalten, nehmen an Schärfe zu. Diese über den Weg, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Toleranz Forderungen mögen bei bestimmten Gruppen oder Initia- zeigt sich im Handeln. Nur eine vernünftige und sachori- tiven Eindruck hinterlassen; den Menschen helfen sie je- entierte Politik hilft den Menschen und ist damit der beste doch in keiner Weise. Es wird nicht gelingen, Diskrimi- Schutz vor Diskriminierung. Eine intelligente Arbeits- nierung abzubauen, indem man Bürgerinnen und Bürger markt- und Sozialpolitik sowie vermehrte Anstrengungen bevormundet und ihre Handlungsfreiheit mit immer mehr zur Integration von Migranten und Behinderten wären Regeln und Vorschriften einschränkt. geeignet, Schutz und Teilhabe von sozial Schwachen, Be- nachteiligten und Minderheiten in unserem Land ent- Es ist ein Irrglaube, Antidiskriminierung lasse sich von scheidend zu verbessern. Mit bloßer Symbolpolitik jedoch oben per Gesetz verordnen. Es ist von jeher der Grundge- wird den Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen ge- danke der Privatautonomie, dass der Bürger seinen Wil- streut. Es werden Versprechungen gemacht, die sich nicht len als Privatrechtssubjekt frei und fern vom Staat gestal- erfüllen werden. ten kann. Es gehört zu den Grundvoraussetzungen unseres liberalen Rechtsstaates, dass ein Vertragsschluss Die Fraktion Die Linke listet in ihrem Antrag ein Sam- frei von staatlicher Zensur erfolgen kann. Der Staat melsurium von Forderungen auf, die erneut die blinde schützt dabei die Wahlfreiheit der Bürger und schreibt Staatsgläubigkeit und Ideologie dieser Partei betonen. ihm nicht vor, was korrekt, tugendhaft, anständig und gut Der Bürger als mündiges Wesen ist nach Auffassung der für ihn ist. Fraktion Die Linke abgemeldet. Antidiskriminierung wird nicht als gesellschaftliche Aufgabe verstanden, son- Zum Kernbestandteil der verfassungsrechtlich garan- dern als verpflichtende Staatsdoktrin, die keinen Wider- tierten allgemeinen Handlungsfreiheit gehört es, dass der spruch duldet. Die Absurdität der Vorschläge gipfelt in Bürger keine Rechenschaft über die Beweggründe seines der Forderung, den Anwendungsbereich des Allgemeinen Handelns geben muss. Es ist völlig unbestritten, dass jede Gleichbehandlungsgesetzes um die Diskriminierungs- Rechtsordnung auch den notwendigen Rahmen für das merkmale „Staatsangehörigkeit“ und „soziale Herkunft“

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18403

Mechthild Dyckmans (A) oder „soziale Lebensumstände“ zu erweitern. Danach Sevim Dağdelen (DIE LINKE): (C) reicht möglicherweise schon der Wohnort in einer struk- Bereits im Juni 2006 hatte die Fraktion Die Linke zur turschwachen Region als Diskriminierungsmerkmal aus. zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung einen Entschließungsantrag zur Umset- Weitere Auskunftsrechte, erweiterte Verbandsklage- zung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des rechte, Beweislastumkehr, verschuldensunabhängiger Grundsatzes der Gleichbehandlung mit der Drucksa- und unbegrenzter Schadensersatz, Streichung fast sämtli- chennummer 16/2034 eingebracht. Neben Ausgestal- cher zurzeit im Gesetz vorgesehener Differenzierungen, tungsmängeln im Einzelnen litt der damalige Gesetzent- ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen, mehr- wurf der Bundesregierung vor allem darunter, dass er sprachige Öffentlichkeitsarbeit, all dies sind nur einige nicht alltagstauglich war. Für die vorrangig von Diskri- der überzogenen Forderungen der Linken. In der Begrün- minierung Betroffenen war er ein schwaches Instrument dung zu dem Antrag wird auf die Verantwortung des Ge- zur Durchsetzung ihrer unantastbaren Menschenwürde setzgebers dafür hingewiesen, dass Regelungen klar und und des Diskriminierungsverbots. Die Umsetzungsge- eindeutig sein müssen. Hier möchte ich darauf hinweisen, setzgebung zielte ganz eindeutig auf ein möglichst nied- dass der Gesetzgeber auch die Verantwortung für Maß riges Schutzniveau gegen Diskriminierung. Wir wollten und Mittel seiner Initiativen trägt. Mit diesem Antrag hat europarechtswidrige Vorschriften jedenfalls nicht unter- sich die Fraktion Die Linke aus der Sachdebatte verab- stützen. Unsere damalige Forderung, den durch die Bun- schiedet. desregierung eingebrachten Gesetzesentwurf grundle- gend zu novellieren, wurde aber mehrheitlich abgelehnt. Mit dem Antidiskriminierungsrecht werden wir uns, Selbst die Grünen, die ja stetig Anträge einbringen, ha- unabhängig von dem Antrag, künftig wieder zunehmend ben sich auf den faulen Kompromiss damals eingelassen zu befassen haben. Die Europäische Kommission wird in und dem Gesetzentwurf ihre Zustimmung nicht verwei- diesen Tagen ihren Richtlinienvorschlag über die Gleich- gert. behandlung außerhalb des Arbeitsplatzes vorstellen. Die- Ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Allgemeinen sen Entwurf wollte der Bundestag zum Gegenstand eines Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, zeigt sich, wie berech- erneuten Testlaufs zur Subsidiaritätsprüfung machen. tigt unsere damalige Kritik und Forderungen waren. Diese Subsidiaritätsprüfung muss, aufgrund der vorgege- Auch der Antidiskriminierungsverband Deutschland äu- benen Fristen, in der parlamentarischen Sommerpause ßerte seine wesentliche Kritik an dem Gesetz. In seiner stattfinden. Völlig überraschend hat die Koalition im Stellungnahme begründete er diese anhand von konkre- Rechtsausschuss gestern angekündigt, dass sie auf die ten Beispielsfällen. Kritik an der Umsetzung der EU- Teilnahme an dem Testlauf verzichten wolle, da sich in Richtlinie kommt aber auch von der EU-Kommission. Sie (B) der Sommerpause ein geordnetes Verfahren nicht sicher- hat sogar ein erneutes Vertragsverletzungsverfahren ge- (D) stellen lasse. Diese Aussage ist feige und unehrlich. Die gen die Bundesrepublik eingeleitet. Dabei hat sie die Ausschüsse des Bundestages haben bereits seit Monaten Bundesregierung zur Stellungnahme eben auch zu jenen ein Verfahren für die Sommerpause abgestimmt, das den Punkten aufgefordert, die wir im damaligen Gesetzge- Besonderheiten dieser Zeit Rechnung trägt. Die Entschei- bungsverfahren problematisiert haben. dung der Koalition liegt nur darin begründet, dass es ihnen offensichtlich nicht gelingt, eine gemeinsame Stellung- Durch die Kritik der EU-Kommission bestätigt, haben nahme zu dem EU-Vorschlag zu formulieren. Während die wir nun diesen vorliegenden Antrag eingebracht, der un- sere damals vorgebrachte Kritik nochmals aufgreift. Das SPD gegenüber den europäischen Plänen aufgeschlossen ist umso notwendiger, da die Bundesregierung nach wie ist, werden sie von der Union abgelehnt. Wir erinnern uns vor an ihrer europarechtswidrigen Umsetzung der EU- noch gut an den Unmut im Deutschen Bundestag vor ei- Antidiskriminierungsrichtlinie festhalten will. Ja, sie will nigen Jahren, als die ungeliebten EU-Antidiskriminie- sogar verhindern, dass die EU-Kommission einen erwei- rungsrichtlinien in deutsches Recht umzusetzen waren. terten Schutz für alle Diskriminierungsmerkmale auch Übereinstimmend haben die Fraktionen festgestellt, dass für das gesamte Zivilrecht durch Richtlinien festlegt. der Bundestag seinerzeit bei der Verabschiedung der ent- sprechenden Richtlinien in Brüssel seine Beteiligungs- Unser Antrag will speziell noch einmal das Ineinan- rechte nur unzureichend wahrgenommen hat. Die Koali- dergreifen von Rechten und deren Durchsetzbarkeit an- tion scheint aus diesen Vorgängen nichts gelernt zu mahnen. Aufgegriffen wird deshalb neben der bereits er- haben. Der Bundestag muss schnellstens eine Position zu wähnten Kritik der EU-Kommission, auf die ich noch dem Kommissionsvorschlag entwickeln und frühzeitig die zurückkommen werde, vor allem die Kritik des Antidiskri- nationalen Interessen einbringen. Die FDP-Bundestags- minierungsverbandes Deutschland. Dessen Stellung- fraktion hat bislang die Einlassung der Bundesregierung nahme zum einjährigen Bestehen des AGG verdeutlicht begrüßt, wonach zunächst die Erfahrungen mit dem All- einmal mehr an typischen Praxisfällen, welche Probleme gemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgewartet werden bei dessen Anwendung entstehen. Hinsichtlich niedrig- schwelliger Anlaufstellen für Betroffene liest sich die Kri- sollen, bevor neue Richtlinien aus Brüssel verabschiedet tik wie folgt: werden. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss diese Haltung nach wie vor Bestand haben. Wir fordern Ohne unabhängige, regionale Antidiskriminie- die Koalition auf, sich umgehend zu positionieren und rungsbüros oder -stellen und ohne wirksame Instru- den Bundestag an der Entscheidungsfindung angemessen mente zur Rechtsdurchsetzung bleiben Antidiskri- und frühzeitig zu beteiligen. minierungsgesetze nur Lippenbekenntnisse.

Zu Protokoll gegebene Reden 18404 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) Dass bisher so wenig Fälle zum AGG anhängig seien, einem Artikel in der „FAZ“ vor einer Erweiterung des (C) liege nicht daran, dass Diskriminierung wenig verbreitet Diskriminierungsschutzes gewarnt hat. Nach ihrer An- sei. sicht braucht der Schutz nicht hinsichtlich aller Diskrimi- nierungsmerkmale auch im Zivilrecht auf ein höheres Ni- Diese Förderung der regionalen Beratungsstellen ist veau gestellt werden. Frau Köppen sollte vielleicht lieber keine Bundesangelegenheit. Dennoch ist es wichtig, wenn bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber- der Bundestag hier ein Signal an die Länder sendet. Ein verbände anheuern. Dort steht Demokratie ohnehin im- weiteres Signal ist für den Bereich der Bildung erforder- mer unter Finanzierungsvorbehalt. lich, wo die Länder die Verantwortung tragen, die euro- päischen Richtlinien umzusetzen. Zu guter Letzt möchte ich auf einen Punkt eingehen, der mir besonders am Herzen liegt. Die vorhandenen Dis- Anders sieht es bei den nachfolgenden Kritikpunkten kriminierungsmerkmale sind nicht umfassend. Ein ent- aus; hier wird die Regierung gesetzliche Vorschläge vor- scheidender Ansatzpunkt millionenfacher Erniedrigung legen müssen. So kann sich betreffend des von uns vehe- und Benachteiligung taucht beim Diskriminierungs- ment eingeforderten Verbandsklagerechts für die Anti- schutz nicht auf: die soziale Herkunft und die sozialen Le- diskriminierungsverbände die Bundesregierung nicht bensumstände. Soziokulturelle Herkunft und sozialer Sta- rausreden. Hier ist es eindeutig, dass die Bundesregie- tus haben in der kapitalistischen Gesellschaft eine sehr rung die Möglichkeit erschweren will, sich gegen Diskri- große Auswirkung auf die Behandlung der Einzelnen und minierung zu wehren. Für viele Betroffenen ist gerade das ziehen eine daran anknüpfende Diskriminierung nach Verbandsklagerecht von immenser Bedeutung. Ihnen sich. Das Merkmal bietet in vielfältiger Weise Anknüp- fehlt es an Zeit, Energie und Geld, sich selbst gerichtlich fungspunkte für sozial verwerfliche und rechtsstaatlich zu wehren. Viele Diskriminierungen setzen sich damit unerträgliche Benachteiligungen. Sozial ausgegrenzt letztlich schon an dieser Stelle gegen das eigentlich beste- werden nicht nur Millionen Erwerbslose, sondern zum hende Recht nach dem AGG faktisch durch. Auch bezo- Beispiel auch Menschen aus bestimmten Stadtteilen und gen auf die Beweislasterleichterung ist die Bundesregie- Regionen, denen Leistungen des „vertragsfreien Markts“ rung in der Verantwortung. Wir wollen, dass es zu einer wie Funktelefon etc. nie zuteil werden. Beweislastumkehr kommt. Darüber hinaus ist der Vor- schlag aus der Praxis, ein Auskunftsrecht gegenüber den Eine der Auswirkungen der digitalen Erfassung kann Unternehmen einzuführen, zu debattieren, ganz zu beispielsweise schon dazu führen, dass man keinen Kredit schweigen von den absurden Rechtfertigungsgründen bekommt, wenn man eine Wohnung im „falschen“ Stadt- und Ausnahmen hinsichtlich des Diskriminierungsschut- teil hat. Beschwerden aus den unterschiedlichen Lebens- zes, beispielsweise die diesbezügliche Ausnahme vom bereichen von Millionen Bürgerinnen und Bürgern sta- (B) Massengeschäft bei der Wohnungsvermietung. peln sich schon bei den Verbraucherschützern. Meist geht (D) es um das sogenannte Verfahren „Scoring“ oder „Redli- Schutzlücken gibt es unter anderem auch bei der un- ning“. Diese Verfahren helfen zum Beispiel Unterneh- terschiedlichen Behandlung aufgrund des Geschlechts im men, aus käuflichen Informationen und Daten über die Arbeitsrecht. Darüber hinaus ist die Ausnahmeregelung Bevölkerung so etwas wie eine Matrix des Makels zu er- für unterschiedliche Behandlung durch Religionsgemein- stellen, bei der Kunden aus bestimmten Regionen schon schaften nicht angemessen geregelt. Aber die Bundesre- aufgrund ihres Wohnortes zu potenziellen Problemfällen gierung schafft es ja nicht einmal, diskriminierungsfrei werden. Anwohner von sogenannten Sperrbezirken wer- gegenüber ihren eigenen Beamtinnen und Beamten zu den diskriminiert, etwa wenn sie in Callcentern anrufen agieren. Im Zusammenhang mit der Anhörung zur Le- und allein wegen der Herkunft ihrer Festnetznummer in benspartnerschaft der Fraktion Die Linke haben wir die- der Warteschlange nach hinten durchgereicht werden. sen Skandal bereits thematisiert. So diskriminiert die Bundesregierung im Bereich der Beamtenversorgung Die soziale Diskriminierung betrifft somit auch Berei- Personen in eingetragenen Lebenspartnerschaften we- che, die sich eklatant auf die Betroffenen auswirken – gen ihrer „sexuellen Ausrichtung“ hinsichtlich Beihilfe, nämlich auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Benach- Familienzuschlag und Witwen- und Witwergeld. Auch die teiligungsverbote sind in diesen Bereichen durch Ein- anderen, wie beispielsweise die steuerlichen, Unter- schränkungen sogleich wieder abgeschwächt worden. So schiede in der Behandlung von Ehen und eingetragenen ist „eine unterschiedliche Behandlung im Hinblick auf Lebenspartnerschaften müssen sofort abgeschafft wer- die Schaffung und Erhaltung sozialer stabiler Wohnstruk- den. Der Staat spielt hier eine Vorreiterrolle der ganz üb- turen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie aus- len Art. geglichner wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ver- hältnisse“ zulässig. Derart offen und allgemein gehaltene Aber in noch einer anderen Art! Die neoliberale Logik Formulierungen lehnt Die Linke ab, denn sie öffnen Dis- und Politik der Bundesregierung – also die zunehmende kriminierung im Wohnbereich Tür und Tor und führen das Durchdringung aller Lebensbereiche wie Gesundheit, Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Grunde ad ab- Bildung, öffentliche Dienste und andere durch das Markt- surdum. prinzip à la „Standortpolitik bzw. -logik“ – zieht sich komplett durch ihre (Anti-)Diskriminierungspolitik. Dis- Wir wollen einen effektiven Diskriminierungsschutz kriminierungsschutz ja, aber nur, wenn es nichts kostet verwirklichen. Das Gesetz soll grundsätzlich auf alle bzw. den Unternehmen und der Wirtschaft nicht schadet. Rechtsgebiete Anwendung finden, es sei denn, spezialge- Trotzdem ist es verwunderlich, dass die Leiterin der An- setzlicher Schutz ist weitergehend. Damit würde das Ge- tidiskriminierungsstelle des Bundes, Frau Dr. Köppen, in setz wirksamen Schutz bieten und eine Gleichbehandlung

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18405

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) fördern, wie sie auch durch die Art. 1, 3 und 20 des gen. Dazu gehört auch eine aktivere Arbeit der (C) Grundgesetzes vorgegeben ist. Nur durch eine solche ge- Antidiskriminierungsstelle des Bundes. nerelle Anwendbarkeit des Gesetzes ist Rechtssicherheit Zweitens: Das europäische Antidiskriminierungsrecht gewährleistet, so dass allen Bürgerinnen und Bürgern muss weiterentwickelt werden. Statt den Fortschritt auf und allen staatlichen Stellen ersichtlich ist, welches Ver- europäischer Ebene zu blockieren, sollte die Bundesre- halten rechtswidrig ist. Darüber hinaus ist uns ein zentra- gierung das vom Europäischen Parlament unterstützte les Anliegen, dass die „soziale Herkunft oder die sozialen Vorhaben der Kommission, eine neue, umfassende Rah- Lebensumstände“ als Diskriminierungstatbestand in den menrichtlinie vorzulegen, unterstützen. Für die Merk- Katalog des AGG aufgenommen wird. male Geschlecht, Alter, Behinderung, Religion/Weltan- schauung und sexuelle Orientierung ist europaweit Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zumindest der hohe Schutzstandard erforderlich, der ge- Der Schutz vor Diskriminierung in Deutschland ist un- gen Diskriminierung aufgrund von „Rasse“ oder ethni- zureichend. Der in dieser Woche veröffentlichte Bericht schen Herkunft besteht. der EU-Grundrechteagentur zeigt erneut: Das nationale Der Grundsatz „gleiches Recht für alle“ ist im AGG Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) greift bis- bereits verwirklicht. In diesem Punkt ist das deutsche her kaum. Im Jahr 2007 gab es in Deutschland keine ein- Recht dem europäischen ausnahmsweise einmal voraus. zige Sanktion wegen rassistischer oder fremdenfeindli- (Dafür haben sich Grüne lange eingesetzt, und auch die cher Diskriminierung – im Gegensatz zu vergleichbaren Linke erkennt nun an, dass sich dieser Ansatz gelohnt europäischen Ländern. Auch in anderen Bereichen gibt hat.) Es ist in Europa niemandem vermittelbar, wenn sich es wenig Urteile, und die Summen der Entschädigungs- ausgerechnet Deutschland dagegen sperrt, dass dieser und Schadensersatzzahlungen sind gering. Das Gerede richtige Ansatz auch im Europarecht verankert wird. über Gefahren für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist ebenso abwegig wie Warnungen vor der Belastung der Es ist schön, dass nun auch die Linke das Thema Anti- Gerichte. diskriminierung entdeckt hat und dass sie zumindest bei diesem Thema ihre Europhobie suspendiert. Das Prinzip Der Antrag der Linken weist in eine ähnliche Richtung der Nichtdiskriminierung ist einer der Grundpfeiler der wie die bereits vorliegenden Anträge von Bündnis 90/Die Europäischen Union. Mit dem von der Linken abgelehn- Grünen: Entschließungsantrag „Europäisches Jahr der ten Vertrag von Lissabon würde die Antidiskriminie- Chancengleichheit für alle“ (16/7536) und Antrag „Das rungspolitik noch weiter ins Zentrum der europäischen europäische Antidiskriminierungsrecht weiterentwi- Politik rücken. Fortschritte könnten nicht mehr so ein- ckeln“ (16/8198). Zu diesen Anträgen wird am fach durch Njet-Sager wie die deutsche Bundesregierung (B) 15. Oktober eine Sachverständigenanhörung im Rechts- blockiert werden. Zudem würde die Europäische Grund- (D) ausschuss stattfinden. Dazu steuert Die Linke nun einen rechte-Charta rechtsverbindlich, in der es heißt: „Diskri- eigenen Antrag bei. minierungen …wegen … der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“ Wir brauchen zweierlei: Erstens: Eine Nachbesserung des deutschen Antidiskriminierungsrechts. Die bestehen- Statt Tiraden über die angeblich turbokapitalistische den Richtlinien müssen vollständig und europarechtskon- EU loszulassen, stützt sich die Linke in diesem Antrag form umgesetzt werden. Schwarz-Rot hat beim AGG Ab- völlig zu Recht auf die Positionen der Europäischen striche vom rot-grünen Entwurf vorgenommen. Die Folge Kommission, die auch vom Europäischen Parlament mit von Abweichungen vom Europarecht sind Vertragverlet- breiter Mehrheit geteilt werden und der Rechtsprechung zungsverfahren. des Europäischen Gerichtshofs entsprechen. Dass nun die Linke dieses Anliegen unterstützt, bedeutet allerdings In ihren Mahnschreiben beanstandet die Europäische nicht umgekehrt, dass es sich beim Antidiskriminierungs- Kommission unter anderem: Diskriminierte haben nur recht um ein sozialistisches Projekt handelte, wie Union zwei Monate Zeit, um Schadensersatzansprüche geltend und FDP glauben machen. Vorreiter bei der Antidiskrimi- zu machen. Die Beteiligung von Antidiskriminierungsver- nierung sind Länder wie Großbritannien und Irland. Von bänden an Gerichtsverfahren ist zu stark beschränkt. Im diesen Ländern wird sich kaum behaupten lassen, dass AGG fehlen Regelungen zum Schutz vor Entlassungen. dort der Sozialismus ausgebrochen oder die Wirtschaft Die Sanktionsregelungen bei Verstößen gegen Diskrimi- zusammengebrochen wäre. nierungsverbote sind unzureichend. Sie setzen ein Ver- schulden des Arbeitgebers voraus. Das war in früheren Auch in Deutschland haben moderne Unternehmen in Gesetzen zum Schutz vor Diskriminierung aufgrund des Deutschland längst erkannt, dass Diskriminierung sie Geschlechts oder einer Behinderung nicht der Fall. Im langfristig viel teurerer zu stehen kommt als Maßnahmen Beamtenrecht sind Lebenspartnerschaften gegenüber gegen Diskriminierung. Warum soll es also erlaubt sein, Ehen benachteiligt hinsichtlich Beihilfe, Familienzu- Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ih- schlag, Witwen- oder Witwergeld. Die Ausnahmeklauseln res Alters, einer Behinderung, ihres Glaubens oder ihrer für Kirchen und Religionsgemeinschaften sind zu weit ge- sexuellen Identität von gleichen Arbeits- und Aufstiegs- fasst. chancen auszuschließen oder sie beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen zu benachteiligen? Diskriminie- Zudem sind vor dem Hintergrund der bisherigen Er- rung verzerrt den Wettbewerb. Dieser Verfälschung des fahrungen Verbesserungsvorschläge von Sachverständi- Marktes kann mit Mitteln des Rechts entgegengewirkt gen und Nichtregierungsorganisationen zu berücksichti- werden. Darum setzen sich europaweit auch Liberale für

Zu Protokoll gegebene Reden 18406 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Volker Beck (Köln) (A) eine effektive Antidiskriminierungsgesetzgebung ein. Die Zusatzkosten, mehr Bürokratie und Rechtsunsicherheit (C) Liberalen stimmten am 20. Mai 2008 einer Entschließung für die Betriebe. des Europaparlaments zu, in der Maßnahmen für einen Für meinen Teil kann ich nur hoffen, dass die Meldung effektiveren Schutz vor Diskriminierung gefordert wer- aus der „FTD“ nicht der Realität entspricht. Antidiskri- den. Nur eine liberale Partei stimmte dagegen: die deut- minierung ist halt nicht zum Nulltarif zu haben. Der Ge- sche FDP. setzentwurf, den der EU-Kommissionsvorsitzende Antidiskriminierung ist aber an sich weder ein linkes Barroso am 2. Juli vorlegen will – das Europaparlament noch ein rechtes Projekt. Es geht nicht um Ideologie, son- hatte die Verschärfungen beschlossen –, wird es zeigen. dern um die Gewährleistung von Grundrechten. Es sollte Fest scheint aber zu stehen, dass in einigen Ländern im Sinne aller Parteien sein, dem Grundsatz der gleichen – und leider eben auch in Deutschland – die bereits gel- Menschenwürde Geltung zu verschaffen. tenden Richtlinien nur unzureichend umgesetzt werden. Der am Dienstag veröffentlichte Bericht der zuständigen Gerd Winkelmeier (fraktionslos): EU-Grundrechteagentur (FRA) macht dies mehr als Es ist bedauerlich, dass ein für das Zusammenleben in deutlich. Bis Ende 2007 sind in diesem Land keinerlei einer Gesellschaft so wichtiges Thema wie das Antidiskri- Sanktionen wegen Diskriminierung aus rassistischen minierungs- und Gleichstellungsrecht in diesem Hause oder ethnischen Gründen verhängt worden. Mir kann nie- unter Ausschluss der Öffentlichkeit mitten in der Nacht mand erzählen, dass es solche Diskriminierungen nicht abgehandelt wird. Dabei wären die Entwicklungen der gegeben hätte. In Großbritannien kam es im gleichen letzten Monate Grund genug gewesen, wieder vor aller Zeitraum zu 95 Geldstrafen allein wegen Diskriminie- Augen und Ohren darüber zu debattieren, wer und warum rung am Arbeitsplatz. in Deutschland benachteiligt wird. Wir täten also gut daran, uns selbst etwas mehr auf die Ich erinnere mich mit Grausen an das Feilschen der Finger zu schauen und Mahnungen, die anscheinend be- Koalitionspartner, als das Gesetz vor zwei Jahren verab- rechtigt vonseiten der EU ausgesprochen werden, ernst schiedet wurde. Herausgekommen ist ein unzulänglicher zu nehmen. Kompromiss, den Anfang dieses Jahres auch die Europäi- sche Kommission beanstandet hat. Bisher aber hat die Präsident Dr. Norbert Lammert: Bundesregierung noch keinerlei Anstalten gemacht, auf Es wird Überweisung der Vorlage auf Druck- die Vorhaltungen durch den zuständigen EU-Kommissar sache 16/9637 an die in der Tagesordnung aufgeführten Spidla zu reagieren. Deshalb ist der Antrag der Fraktion Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine Einwände. Die Linke berechtigt und notwendig. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (B) (D) Es ist bekannt, dass die Bundesjustizministerin keiner- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: lei Nachbesserungsbedarf sieht und der CSU-Landes- Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin gruppenchef lieber über Herrn Spidla herzieht, als die Andreae, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Mahnungen ernsthaft zu prüfen. Diese Mahnungen könn- Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der ten auch als willkommener Anlass genommen werden, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Gesetz an der einen oder andere anderen Stelle nach- zubessern. Rahmenbedingungen für eine nachhaltige in- ternationale Investitionspolitik schaffen – Warum wehrt sich die Union so vehement dagegen, Multilaterale Regeln für Staatsfonds entwi- dass ein Partner aus einer eingetragenen Lebenspartner- ckeln schaft nach dem Tod des Gefährten Anrecht auf Witwen- oder Witwergeld erhält? Dadurch würde mitnichten, wie – Drucksache 16/9612 – die CSU es behauptet, eine solche Partnerschaft der Fa- Überweisungsvorschlag: milie gleichgestellt. So weit sind wir in Deutschland Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss lange noch nicht. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Warum erhalten die Kirchen in Deutschland Sonder- rechte, wenn es um die religiöse Diskriminierung geht? Hierzu hätten die Kollegen Alexander Dobrindt, Das beste, gern verwendete Beispiel ist die Reinigungs- Dr. Ditmar Staffelt, Rainer Brüderle, Ulla Lötzer sowie kraft, die in einer katholischen Schule nicht putzen darf, Kerstin Andreae Reden halten können, die sie aber frei- weil sie selbst nicht katholisch ist. Das klingt nicht nur willig zu Protokoll geben. absurd, es ist absurd. Aber es ist vorgekommen. Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Gestern ließ die „Financial Times Deutschland“ ver- Die globale Finanzwirtschaft stellt uns vor neue Auf- lauten, dass Brüssel im Streit um die Diskriminierungs- gaben: Alle Wirtschaftszweige werden zum internationa- richtlinie entgegenkommen wolle, weil insbesondere len Investitionsobjekt, und gleichzeitig spielen nationale Unionsparteien und Wirtschaftsverbände Sturm liefen. Interessen keine Rolle mehr. Worte wie „Bürokratieungeheuer“ (Söder/CSU), „EU- Überregulierung“ (Bosbach/CDU) machten die Runde, Die Politik muss allerdings in der Lage sein, diese und der Arbeitgeberpräsident Hundt war der Richtlinie nationalen Interessenlagen gegenüber nicht marktwirt- wegen mit „allergrößter Sorge“ erfüllt und befürchtete schaftlich begründeten Investitionen zu schützen. Deswe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18407

Alexander Dobrindt (A) gen ist es richtig, eine Investitionskontrolle bei begründe- ihren Investitionen auch politische Ziele verfolgen. In (C) ter Gefahr für die öffentliche Sicherheit einzuführen. diesen sehr engen Ausnahmefällen muss die Regierung Kontrollmöglichkeiten haben. Unser Ziel ist es, die Prinzipien der sozialen Markt- wirtschaft auch im globalen Ordnungsrahmen zu veran- Daher gibt es einen Gesetzentwurf, der vorsieht, Inves- kern. Gerade im Jahr 2008, nach 60 Jahren sozialer titionsvorhaben auf ihre Vereinbarkeit mit der öffentli- Marktwirtschaft, wollen wir diesen Prinzipien treu blei- chen Sicherheit überprüfen zu können. Die Prüfung einer ben. Investition soll an enge Fristen gebunden sein, um Unter- nehmen und Investoren möglichst viel Rechtssicherheit zu Wir wissen, eine Freiheit ohne Ordnung führt zu Un- geben. Konkret soll sich die Prüfungspflicht nur auf In- freiheit und Ungerechtigkeit. Wir wissen ebenso: Freiheit vestitionen beschränken, die die öffentliche Sicherheit und Verantwortung gehören zusammen. Wir wollen einen oder Ordnung gefährden. Das von der Bundesregierung weltweiten Wettbewerb, in dem Freiheit und Fairness vorgelegte Gesetz würde seine beste Wirkung entfalten, gleichermaßen gewährleistet sind. Wir müssen für eine wenn es in der Praxis nie angewandt werden müsste. So nationale, strategische Standortpolitik mit dem Ziel ste- wird es dann seiner beabsichtigten, abschreckenden Wir- hen, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands in Europa und kung gegenüber unerwünschten Staatsfonds voll gerecht. der Welt zu gewährleisten. Wir wollen den Menschen in unserem Land auch im Zeitalter der Globalisierung die Zusammengefasst: Die Zielrichtung des Gesetzent- Freiheit der Entfaltung garantieren und eine verlässliche wurfs der Bundesregierung ist ausschließlich der Schutz Umwelt schaffen. Dadurch können wir den Menschen der nationalen Sicherheit. Das grundsätzliche Bekenntnis Chancengleichheit bieten. zur Investitionsfreiheit wird dabei nicht infrage gestellt. Dafür müssen wir unsere nationalen Interessen defi- Aber ein gesetzlicher Schutz sensibler deutscher Firmen nieren und uns für deren Durchsetzung auf europäischer vor Übernahmen fragwürdiger ausländischer Investoren bzw. globaler Ebene einsetzen. Das Risiko der Globali- ist nur ein konsequenter Schritt, die soziale Marktwirt- sierung darf und kann nicht der einzelne Mensch – das In- schaft in Deutschland zu stärken. dividuum – abfedern. Hier muss die Politik einspringen und den Menschen und den Unternehmen in Deutschland Dr. Ditmar Staffelt (SPD): zur Seite stehen. Es ist eben auch unsere Aufgabe, Gefah- Uns liegt der Antrag der Grünen „Rahmenbedingun- ren zu erkennen und zu bannen. gen für eine nachhaltige internationale Investitionspoli- Ausländische Staatsfonds können attraktive Investoren tik schaffen – Multilaterale Regeln für Staatsfonds entwi- sein, müssen sie aber nicht. Genau aus diesem Grund sind ckeln“ vor, indem sich die Grünen zum Umgang mit den (B) wir für eine staatliche Prüfmöglichkeit von Investitionen, Staatsfonds und anderen Fonds äußern. (D) die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden Was fordern die Grünen in ihrem Antrag? Die Grünen könnten. Daher begrüße ich die Absicht des Bundeswirt- stellen 14 Forderungen zur Investitionskontrolle von schaftsministers , das Außenwirtschaftsge- Staatsfonds und anderen Fonds an die Bundesregierung. setz zu ändern und eine Kontrollmöglichkeit bei auslän- Im Wesentlichen wollen die Grünen keine nationalen Ein- dischen Direktinvestitionen in deutsche Unternehmen zellösungen, sondern fordern die Bundesregierung auf, einzubauen. Wir wissen: Deutschland ist weltweit einer internationale Gemeinschaftslösungen anzuregen. Die der attraktivsten Investitionsstandorte und profitiert sei- Grünen sprechen dabei durchaus viele Punkte an, die von nerseits von offenen Märkten. uns geteilt werden. Wir unterstützen ausdrücklich, dass Im „Weltinvestitionsbericht 2007“ der UNCTAD ran- zunehmend mehr vereinbarte globale Standards in den giert Deutschland unter den zehn attraktivsten Investi- globalen Institutionen durchgesetzt und angewendet wer- tionsstandorten. Ausländische Unternehmen investierten den. Das gilt unter anderem für soziale und ökologische bei uns mit knapp 43 Milliarden US-Dollar rund 20 Pro- Standards in der WTO, wie auch von den Grünen gefor- zent mehr als noch im Jahr 2005. Seit 2005 stiegen die dert. deutschen Auslandsinvestitionen um 43 Prozent auf knapp 80 Milliarden US-Dollar. Deutsche Unternehmen Multilaterale Regeln allgemein zu formulieren wie in sichern mit ihren Investitionen rund 5 Millionen Arbeits- dem vorliegenden Antrag, reicht hier jedoch nicht. Die plätze im Ausland, und umgekehrt sind 2,2 Millionen Bundesregierung hat bereits eine solche Initiative im Deutsche für ausländische Arbeitgeber im Inland tätig. Rahmen des Heiligendamm-Prozesses angestoßen und Mit anderen Worten: Für Deutschland ist die Investitions- damit mehr erreicht, als wir uns vorstellen konnten. Un- freiheit ein Stützpfeiler für Wirtschaftswachstum, Wohl- ter dem deutschen Vorsitz haben die G-7-Finanzminister stand und Beschäftigung. beispielsweise den von den Grünen in diesem Antrag ge- forderten Dialog mit den Staatsfondsländern begonnen, Aus gutem Grund haben wir uns dafür eingesetzt, die um so die Forderung der Transparenz insbesondere bei Investitionsfreiheit in der G-8-Gipfel-Erklärung von Hei- dem Anlageverhalten von Staatsfonds zu unterstützen. ligendamm hervorzuheben. Unser Land soll offen bleiben Die Bundesregierung handelte hier deutlich schneller als und es wird offen bleiben. Aus gutem Grund unterstützt die Grünen, die erst mit diesem Antrag diese Forderung Deutschland beispielsweise den Internationalen Wäh- stellen. Initiiert durch die deutsche Bundesregierung ba- rungsfonds bei seiner Forderung nach mehr Transparenz ten die G-7-Finanzminister sowohl den IWF, Verhaltens- und Verhaltensregeln für Staatsfonds. Denn es ist nicht regeln für die Staatsfondsländer, als auch die OECD, Ver- auszuschließen, dass einzelne ausländische Erwerber mit haltensregeln für die Empfängerländer zu erarbeiten.

Zu Protokoll gegebene Reden 18408 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Ditmar Staffelt (A) Insgesamt behandeln die Grünen einen sehr komple- rung muss dafür Sorge tragen, dass der deutsche Wirt- (C) xen Bereich leider nur sehr allgemein. Es wird mit Über- schaftsstandort weiterhin für internationale Investitionen schriften gearbeitet, statt konkret tiefer in die Materie attraktiv bleibt. Nur so können wir unsere Stellung als Ex- einzusteigen. Das wird beispielsweise deutlich, wenn die portland dauerhaft erhalten. Grünen fordern, dass „monopolistische und oligopolisti- sche Strukturen“ verhindert werden müssen. Hier finden Wir erwarten, dass der G-8-Gipfel in Japan im Juli sich Formulierungen, die in der Sache nicht weiterführen. 2008 einen weiteren internationalen Anstoß in Fragen der Staats- und Hegdefonds, Private-Equity-Unterneh- Und bitte sagen sie uns: Wer will die Einstufung von men und damit für die Transparenz und Kontrolle der glo- Investoren als marktgefährdend vornehmen und für ver- balen Finanzmärkte geben wird. Der Bundestag tut gut bindlich erklären, wie von Ihnen in Punkt 12 gefordert? daran, sich dieses Themas weiter anzunehmen. Dies Wo und wer will Grenzen ziehen zwischen den Staatsfonds sollte jedoch konkreter erfolgen, als es die Grünen mit ih- in Norwegen, in den Emiraten, in Russland, in China und rem Antrag tun. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. anderswo? Dies alles wird ein sehr behutsamer Prozess sein müssen. Nur so wird eine globale Verbindlichkeit er- reicht werden können. Ihr Antrag ist leider ein zu allge- Rainer Brüderle (FDP): meines Sammelsurium von Einzelmaßnahmen und politi- Deutschland profitiert vom internationalen Handel schen Absichtserklärungen. und der Globalisierung wie kaum ein Land sonst. Deut- sche Produkte sind fast überall auf der Welt gefragt. Um- Die Grünen verlangen in ihrem Antrag multilaterale gekehrt bietet der Welthandel uns Produkte und Dienst- Maßnahmen. Die Bundesregierung möge sich „für ein leistungen, die wir selbst gar nicht oder nur deutlich multinationales Investitionsabkommen auf globaler teurer herstellen könnten. Ebene“ einsetzen. Dieser Ansatz der Grünen, einheitliche Lösungen in den internationalen Gremien wie EU und Wir profitieren auch von ausländischem Kapital, das IWF zu finden, ist zwar durchaus begrüßenswert, jedoch in deutsche Unternehmen investiert wird. Das schafft Ar- wird sich dieser Wunsch aufgrund der Mehrheitsverhält- beitsplätze bei uns und erhöht unseren Wohlstand. Diese nisse in den internationalen Institutionen kurzfristig Freiheit des Kapitalverkehrs müssen wir uns erhalten. Sie kaum durchsetzen lassen. Deshalb werden wir zunächst ist nicht zuletzt unverzichtbarer Bestandteil des europäi- national agieren müssen, ohne dabei das Augenmaß für schen Binnenmarkts und Grundlage unserer Wirtschafts- die Investitionsfreiheit zu verlieren. ordnung. Protektionistischen Tendenzen, wie sie in der Wir teilen die Ansicht der Grünen, dass der Deutsche Diskussion um die Abschottung Deutschlands gegenüber Bundestag Instrumente der Investitionskontrolle in ausländischen Staatsfonds in den vergangenen Monaten (B) Deutschland dann ablehnen sollte, „wenn sie die Pla- immer wieder bedient wurden, sollte der Bundestag nicht (D) nungs- und Rechtssicherheit für die Investoren und den nachgeben. Sorgen, ausländische Eigentümer könnten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der klaren Kalku- unser Land lahmlegen wollen, sind unbegründet. Das se- lierbarkeit missachten und rein als nationale Abwehr- hen offensichtlich auch die Bundesregierung und deut- strategie gestaltet sind“. Gleichwohl wird über das Au- sche Staatsunternehmen wie die Deutsche Bahn so, wenn ßenwirtschaftsgesetz ein Instrumentarium eingeführt, das sie jetzt aktiv um Investitionen der russischen Staatsbahn Deutschland vor unzulässigen Eingriffen schützt. werben. Es wird derzeit ein Gesetzentwurf durch die Bundesre- Auf Wettbewerbsmärkten ist es kein Problem, wenn ein gierung erarbeitet, das diesem Ziel im Ausnahmefall die- Unternehmen auch ausländische Staaten als Eigentümer nen soll. Damit wird Deutschland das nachvollziehen, hat. Um in der Konkurrenz bestehen zu können, müssen was in den USA und anderen europäischen Ländern wie sich alle ökonomisch verhalten. Auch China will keine Frankreich, Großbritannien, Schweden und Italien längst Milliarden an Staatsvermögen in den Sand setzen. Hier gilt. Dabei geht es nicht darum, einen Generalverdacht brauchen wir also überhaupt keine Beschränkungen, we- gegenüber Staatsfonds oder anderen Investoren zu be- der Meldepflichten noch besonders geschützte einzelne gründen, sondern eventuelle Risiken für die nationalen Betriebe. Sicherheitsinteressen abzufedern. Dazu wird das derzei- Wenn durch Unternehmensübernahmen die Struktur tige Außenwirtschaftsgesetz um ein Prüfverfahren erwei- eines Marktes gefährdet wird, ist es Aufgabe des Kartell- tert werden, das den Erwerb von ausländischen Investi- amts, dies zu prüfen und gegebenenfalls einzuschreiten. tionsbeteiligungen an nationalen Unternehmen in Das Bundeskartellamt war in den 50 Jahren seines bishe- seltenen und gut begründeten Fällen prüfen soll. In Fäl- rigen Bestehens immer ein Garant dafür, dass der Wett- len, in denen die Investition die öffentliche Ordnung und bewerb in Deutschland geschützt wird und sich Monopo- Sicherheit gefährdet, soll eine Beteiligung untersagt und lisierungstendenzen nicht durchsetzen können. Warum so das nationale Sicherheitsinteresse gewahrt werden sollten die Wettbewerbshüter in Zukunft nicht genauso er- können. folgreich weiterarbeiten? Selbstverständlich ist es nicht Wir sollten bei allen Regelungen immer darauf achten, sinnvoll, ein staatliches, halbstaatliches oder privates in- dass Deutschland selbstverständlich ein großes Interesse ländisches Monopol durch ein ausländisch beeinflusstes an ausländischen Investitionen hat. Bereits heute sind Monopol zu ersetzen. Die Antwort kann aber nicht Ab- ausländische Investoren für die Erhaltung von zahlrei- schottung lauten; die Antwort muss Wettbewerb lauten. chen Arbeitsplätzen verantwortlich und im Bereich der Wettbewerb ist und bleibt das beste Entmachtungsinstru- Zukunftsindustrien wichtige Partner. Die Bundesregie- ment.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18409

Rainer Brüderle (A) Es gibt natürlich Märkte, auf denen sich Wettbewerb sen die Kapitalverkehrsfreiheit einzuschränken oder (C) nicht durchsetzen lässt. In Märkten mit natürlichen Mo- über öffentliche Unternehmen bzw. öffentliche Beteili- nopolen, auf denen kein Wettbewerb herrschen kann, gung an privaten Unternehmen, politischen Einfluss auf muss aber auch nicht zwischen guten und unerwünschten das Wirtschaftsgeschehen zurückzugewinnen. Investoren unterschieden werden. Hier muss straff regu- liert werden, aber nicht mit Eigentumsverboten, sondern Wir haben deshalb in dieser Legislaturperiode bereits über eine Verhaltensregulierung. viele Instrumente dazu vorgelegt. Zum einen Anträge, mit denen die Interessen von Finanzinvestoren, seien es Die FDP hat vorgeschlagen, den Instrumentenkasten Hedgefonds, Private Equity-Fonds oder Staatsfonds, die des Kartellamts um ein Entflechtungsinstrument als Ul- mit Übernahmen und Beteiligungen kurzfristig Rendite- tima Ratio zu erweitern. Wer sich als marktbeherrschen- steigerungen zulasten von Beschäftigung und langfristigen des Unternehmen dauerhaft wettbewerbswidrig verhält, Interessen des Unternehmes erreichen, eingeschränkt muss die Konsequenzen zu spüren bekommen. Wenn die werden. Ein Mittel dazu ist die gesetzliche Beschränkung Grünen das in ihrem Antrag jetzt auch aufgreifen, ist das von übermäßig kreditfinanzierten Unternehmenskäufen, zu begrüßen. das Verbot von Sonderausschüttungen, sogenannte Gol- dene Aktien und alle Maßnahmen, die die Haltdauer von In der Vergangenheit haben wir uns bemüht, mehr Di- Aktien verlängern. rektinvestitionen ins Land zu holen, und haben im Aus- land dafür geworben. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus- Da von diesen Entscheidungen vor allem Beschäftigte ländische Staatsfonds nun ihre kompletten Reserven in betroffen sind, ist für uns der Ausbau der Mitbestimmung Deutschland anlegen wollen, ist allerdings gering. Jeder dabei zentral: Beschäftigte müssen rechtzeitig und umfas- vernünftige Investor streut seine Anlagen. Wenn die freien send informiert werden, wenn ein oder mehrere Investo- Devisenreserven alle in die G-7-Länder fließen würden, ren für den Kauf von Anteilen in erheblicher Höhe an ei- und zwar proportional zum jeweiligen Bruttoinlandspro- nem Unternehmen bieten. Nur auf Grundlage frühzeitiger dukt der Empfängerländer, wäre das für Deutschland ein Information wird es Gewerkschaften und Betriebsräten im Vergleich zur Wirtschaftskraft und zu den bestehenden möglich, den Verkauf eines Unternehmens oder von An- ausländischen Investitionen eher geringes Volumen. Re- teilen an einem Unternehmen mit dem Unternehmer zu alistisch dürfte sein, dass sich die ausländischen Direkt- beraten und wenn nötig gegen dieses Geschäft initiativ zu investitionen in Deutschland künftig um einige Prozent werden. erhöhen – jedenfalls wenn wir den Investoren keine Knüp- Betriebsräten und Gewerkschaften ist dazu ein Veto- pel zwischen die Beine werfen. recht bei wesentlichen Beteiligungen einzuräumen, wenn Mehr ausländische Investitionen in Deutschland sind diese Arbeitsplätze oder den Bestand des Unternehmens (B) (D) alles andere als ein Anlass zur Sorge und schon gar kein gefährden und den Gewerkschaften das Recht einzuräu- Grund, Industriepolitikern eine Spielwiese für staatliche men, die Beteiligung vom Abschluss eines ergänzenden Eingriffe in die Wirtschaft zu schaffen – auch nicht für Tarifvertrags abhängig zu machen. Darüber hinaus for- ökologische und soziale Standards im Kapitalverkehr. dern wir die Ausweitung der paritätischen Mitbestim- Statt den Freihandel jetzt infrage zu stellen, muss mung und der Befugnisse des Aufsichtsrates in diesen Deutschland ein ganz anderes Ziel verfolgen: Wir sollten Fragen. darauf dringen, dass die Welthandelsorganisation neben Seit langem diskutiert die Bundesregierung jetzt über dem Freihandel auch den Wettbewerb schützt. Deutsch- Staatsfonds. Wir werden hoffentlich nach der Sommer- lands Schicksal hängt von offenen Märkten und mehr pause endlich erfahren, wie sie deren Einfluss auf sen- Wettbewerb ab. Wir sollten uns auch auf europäischer sible Unternehmen im Inland begrenzen will. Der beste und internationaler Ebene dafür einsetzen, dass die Schutz für die Leistungen der Daseinsvorsorge und zen- politische Einflussnahme auf ausländische Direktinvesti- trale Infrastrukturen wie die Deutsche Bahn ist aller- tionen überall verringert wird. Wir brauchen keinen Pro- dings, sie erst gar nicht zu privatisieren oder wieder in die tektionismus. Das Außenwirtschaftsgesetz muss interna- öffentliche Hand zu überführen. Solange diese wichtigen tionalen Handel und Investitionen unterstützen und nicht Bereiche aber nicht in öffentlicher Hand sind, treten wir unterbinden. Deshalb gilt es, international für mehr schlicht und einfach dafür ein, deren Übernahme durch Transparenz auf den Kapitalmärkten zu werben und das Finanzinvestoren zu verbieten und damit meinen wir Wettbewerbsrecht konsequenter anzuwenden. nicht nur Staatsfonds, sondern auch Hedge-Fonds und andere. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Bundesregierung will sicherheitsrelevante inlän- Ich begrüße für Die Linke im Bundestag, dass jetzt dische Unternehmen vor dem Einfluss ausländischer Fi- auch die Grünen Direktinvestitionen nachhaltig regulie- nanzinvestoren schützen. Gleichzeitig betreibt sie auf ren wollen. Angesichts des gestiegenen Einflusses internationaler Ebene bei der WTO, im Heiligendamm- grenzüberschreitend tätiger Unternehmen und Finanz- Prozess, mit Global Europe und über bilaterale Handels- investoren ist das ein wichtiger Schritt, ihnen gegenüber abkommen die Durchsetzung der Investitionsfreiheit für Gestaltungsmacht zurückzugewinnen, sie auf Men- die eigenen Exportunternehmen. Das lehnen wir ab. schenrechte und soziale und ökologische Ziele zu ver- pflichten. Es ist ein legitimes Interesse der verschiede- Wer sich selbst die Regulation von Investitionen zu- nen staatlichen Ebenen aus industrie- oder gesteht, muss dies auch anderen Ländern ermöglichen. sozialpolitischen Gründen oder ökologischen Interes- Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in interna-

Zu Protokoll gegebene Reden 18410 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Ulla Lötzer (A) tionalen Verhandlungen das Recht aller Staaten auf Ka- land kommen bisher 0,05 Prozent aus China und 0,2 Pro- (C) pitalverkehrskontrollen zu unterstützen, um die Steue- zent aus Russland. Wer da vor einer Verdreifachung des rung und soziale sowie ökologische Qualität von Direkt- Engagements warnt, sollte diese Dimensionen klar ha- investitionen in den Geber-, als auch in den Nehmerlän- ben. Er sollte auch wissen, dass wir ausländische Inves- dern zu garantieren. toren brauchen. Aus Deutschland fließt schließlich dop- pelt so viel Kapital ins Ausland, wie zurückkommt. Die bisherigen Erfahrungen mit dem von der OECD vorgelegten multilateralen Investitionsabkommen, MAI, Die internationalen und europäischen Gremien und den WTO-Verhandlungen zum Thema Handel und Inves- Institutionen haben begonnen, multilaterale Lösungs- titionen oder den multi- und bilateralen Freihandelsab- wege zu entwickeln. Diese Regelungen müssen auf inter- kommen haben gezeigt, das allein unter dem Dach der nationaler oder auf europäischer Ebene weiterentwickelt UN ein alternatives multilaterales Investitionsregime ent- und umgesetzt werden. Wir wollen eine verantwortungs- wickelt werden kann, das transnationale Konzerne wirk- bewusste deutsche Beteiligung an der internationalen Re- sam auf soziale und ökologische Ziele verpflichtet und die gelsetzung und keinen nationalen Alleingang. Protektio- staatliche Verantwortung für die Leistungen der Daseins- nismusdrohungen tragen zur Problemlösung nichts bei. vorsorge absichert. Sie schaden dem Investitionsklima und verunsichern auch erwünschte langfristig orientierte Anleger. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unser Antrag zum Thema formuliert einen sinnvollen Seit dem Landtagswahlkampf in Hessen warnt die deutschen Beitrag zu dieser Debatte. Deutschland sollte Union vor der Macht der Staatsfonds. Im Herbst letzten sich einsetzen, für die Beteiligung an multilateralen In- Jahres gab es einen Gesetzentwurf, ab 25 Prozent auslän- vestitionsabkommen auf globaler Ebene, für soziale und discher Beteiligung an Unternehmen dem Wirtschaftsmi- ökologische Standards im internationalen Handel sowie nisterium das letzte Wort zu geben. Erst ging es gegen für internationale Regeln, die mehr Transparenz in der Staatsfonds. Dann warnte Wirtschaftsminister Glos vor Investitionspolitik der Fonds schaffen. dem Einfluss russischer Firmen auf das deutsche Ener- gienetz und verkämpfte sich zeitgleich in Brüssel gegen Statt monatelang Gesetzesänderungen hin- und herzu- eine Regelung, die die Macht im Energiebereich be- tragen, die in der Sache nichts bringen, soll sich die Bun- grenzen und dem Staat mehr Wettbewerbskontrolle er- desregierung für eine gemeinsame europäische Initiative möglichen soll. einsetzen, durch die Investitionsregeln in der EU harmo- nisiert werden. Machtbegrenzungen in Unternehmen sind Die Ressortabstimmung hat dieser Entwurf nicht ver- schon lange nötig. Wenn wir sie umsetzen, schützen sie lassen und machte immer wieder erstaunliche Metamor- auch vor unerwünschtem Einfluss von außen. (B) phosen durch. Da wollte der Arbeitsminister mitreden, (D) dann sollte das ganze Kabinett entscheiden. Dann ver- Das Bundeskartellamt arbeitet seit Jahren mit viel zu kündete Glos, noch vor der Sommerpause solle es ein Ge- wenig Personal. Wenn die Regierung die Wirtschaftskon- setz geben. Jetzt kündigt er es für nach dem Sommer an. trolle verbessern will, muss sie hier mit dem nächsten Und – last but not least – jetzt meldet sich auch Roland Bundeshaushalt für Aufstockung sorgen und kann Hand- Koch wieder zu Wort. Ein Ausweis von Fachkompetenz ist lungsfähigkeit demonstrieren. Der Haushalt geht ja die sein Artikel in der „Financial Times Deutschland“ vom nächsten Wochen durchs Kabinett. Montag nicht. Die Beteiligung des chinesischen Staats- Wer Deutschland vor fehlgeleiteten Monopolen schüt- fonds an Blackstone zitiert er als Kronzeugen für eine zen will, kann schon heute im Energiebereich anfangen. politisch gesteuerte Einflussnahme. Thema verfehlt: Die Da steuern vier Konzerne fast die ganze Stromerzeugung Blackstone-Aktien, die China gekauft hat, sind alle und bestimmen über die Netze. Eine deutsche Netzgesell- stimmrechtslos. Was treibt Koch und die Union? Bereiten schaft mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung wäre ein we- sie sich schon auf den nächsten Hessen-Wahlkampf vor? sentlicher Beitrag, um dieses Machtkartell zu brechen. Das deutsche Wettbewerbsrecht ist insgesamt voller Lü- Richtig: Zunehmend engagieren sich weltweit staatli- cken. Wer Wirtschaftsmacht begrenzen will, muss in allen che Fonds. Viele Menschen befürchten, dass sie die Ge- Bereichen gegen Monopole vorgehen. Die Konzentration schicke der Unternehmen beeinflussen könnten. Deswe- nimmt zu, nicht nur bei Strom, Gas und Lebensmitteln. gen brauchen wir gemeinsame Regeln, die staatlichen Marktgefährdende Investoren sind ein Problem, das ins- Finanzinvestitionen einen Handlungsrahmen geben. Wir gesamt gelöst werden muss. Wer sicherheitsrelevante Be- sollten aber auf Panikmache verzichten. Und wir sollten reiche schützen will, muss auch klar sagen, was damit ge- kein Gesetz durchwinken, das ausländische Investoren meint ist, und nicht im Ungefähren bleiben wie alle unter Generalverdacht stellt und dem Investitionsstand- bisherigen Vorschläge aus dem Hause Glos. ort schadet. Eine politische Einflussnahme der Fonds wird zwar befürchtet, ist aber noch nie erfolgt. Bei Wir müssen jetzt mit Augenmaß handeln. Richtig ist: Blackstone hat China selbst bewusst stimmrechtslose Ak- Die Bedeutung der Staatsfonds nimmt zu. Durch sie wer- tien verlangt. Und in der Finanzkrise in der Schweiz hat den Währungsreserven investiert, Wechselkursschwan- der Staatsfonds aus Singapur eine sehr positive Rolle bei kungen abgesichert oder Preisschwankungen bei Roh- der Absicherung der schwankenden UBS-Bank übernom- stoffen ausgeglichen. Und das ist immer mehr nötig. men. Genau dabei sind die Fonds einer hohen Renditeer- Wir sollten auch die Größenordnungen klar benennen. wartung unterworfen. Politische Einflussnahme über Bei den ausländischen Direktinvestitionen in Deutsch- Fondsinvestitionen würde dem Renditeziel widerspre-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18411

Kerstin Andreae (A) chen. Da gibt es Grenzen. Es spricht einiges dafür, jetzt Aber die Rechtspolitiker der FDP sind dann letztendlich (C) für Klarheit bei den Regeln zu sorgen, aber auch für eine doch davor zurückgeschreckt, ein Sonderrecht für kom- Offenheit bei Investitionen. Es darf nicht der Eindruck munale Gesellschaften in privater Rechtsform zu schaf- entstehen, Deutschland würde sich gegen ausländisches fen. Kapital wehren. Wir brauchen es und müssen es willkom- men heißen. Verständlich wird dies bei näherer Betrachtung des Problems. Denn durch Änderungen im GmbHG und AktG Ein verantwortungsvoller Vorschlag für gemeinsame würden privatrechtlich betriebene kommunale Gesell- internationale Regeln schafft Vertrauen und ist zielfüh- schaften einem Sonderregime unterstellt, wodurch das rend. Er muss jetzt engagiert vertreten werden. Dafür GmbH- und Aktienrecht in unnötiger und unvertretbarer steht unser grüner Antrag. Die Regierung wäre gut bera- Weise verkompliziert würde. Warum soll – nur weil eine ten, ihn genau zu lesen und umzusetzen, statt weiter po- GmbH von einer Kommune betrieben wird – anderes pulistisch am Thema vorbeizuagieren. Recht gelten als für eine GmbH ohne kommunale Beteili- gung? Ermöglicht man den Kommunen den Betrieb von Präsident Dr. Norbert Lammert: Unternehmen unter privatrechtlicher Flagge, darf man Die Vorlage auf Drucksache 16/9612 soll nach einer ihnen keine kürzeren Segel geben. Entscheidet sich eine Vereinbarung der Fraktionen an die in der Tagesordnung Kommune für diese Rechtsform, soll sie auch alle Vor- aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. – Es gibt und Nachteile dieser Rechtsform akzeptieren, mit denen keine Einwände. Dann ist die Überweisung so beschlos- auch ein Privater zurechtkommen muss. sen. Unsere Absicht war, mit dem MoMiG ein in sich ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf: schlossenes, konsistentes und modernes Gesellschafts- recht zu schaffen. Das ist uns auch gelungen. Eine Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- „GmbH privatrechtlich“ und eine „GmbH öffentlich- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu rechtlich“ ist keine zeitgemäße Antwort auf die europäi- dem Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz, schen Herausforderungen des deutschen Gesellschafts- Dr. Max Stadler, Patrick Döring, weiterer Abge- rechts. ordneter und der Fraktion der FDP Gegen Geheimniskrämerei – Entscheidungen Befindet sich eine Gesellschaft zu 100 Prozent in kom- kommunaler Gesellschaften transparent ge- munaler Hand, gelten schon heute bestimmte Verschwie- stalten genheitspflichten nicht, mangels eines Schutzbedürfnis- ses. Im § 394 AktG kommt dies auch klar zum Ausdruck: – Drucksachen 16/395, 16/9732 – (B) Werden Aufsichtsräte durch Gebietskörperschaften ent- (D) sandt, unterliegen sie hinsichtlich ihrer Berichte an die Berichterstattung: Gebietskörperschaft keinerlei Verschwiegenheitspflich- Abgeordnete Dr. Günter Krings ten. Für die GmbH wird diese Vorschrift übrigens ent- Klaus Uwe Benneter sprechend angewandt. Das heißt, schon jetzt besteht ge- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sellschaftsrechtlich die Möglichkeit, Transparenz in den Wolfgang Nešković Entscheidungswegen herzustellen. Jerzy Montag Die Reden der Kollegen Dr. Günter Krings, Klaus Die FDP verkennt in ihrem Antrag zudem, dass keine Uwe Benneter, Max Stadler, Katrin Kunert und Britta Kommune gezwungen ist, eine GmbH oder AG zu grün- Haßelmann werden nicht wegen vereinbarter Geheim- den, sondern dass den Städten, Gemeinden und Kreisen niskrämerei, sondern zur Beschleunigung der Abwick- bereits heute sinnvolle und langerprobte Alternativen zur lung der Tagesordnung zu Protokoll gegeben und blei- Verfügung stehen, wenn sie meinen, die Regeln des Ge- ben auf diesem Weg transparent. sellschaftsrechts entsprächen nicht ihren Bedürfnissen. Ich möchte hier vor allem die Anstalt öffentlichen Rechts (Heiterkeit) erwähnen. Diese Rechtsform erfüllt die Ziele, die sie von der FDP mit einer kommunalen Sonder-GmbH auch be- Dr. Günter Krings (CDU/CSU): absichtigen. Sie hat eine größere Flexibilität und sorgt für Die Beratungen haben gezeigt, dass das Anliegen der eine einfache Kreditbeschaffung an den Finanzmärkten. FDP kommunalpolitisch zum Teil verständlich ist, aber Schnellere Entscheidungswege führen zu einer stärkeren gesellschaftsrechtlich kein Handlungsbedarf besteht. Die Handlungsfähigkeit. Es ergeben sich steuerliche Vorteile Probleme, die die FDP in ihrem Antrag anspricht, betref- und außerdem eine günstigere Kostensituation. Dies alles fen nicht das GmbH-Recht oder das Aktiengesetz, son- leistet eine Anstalt öffentlichen Rechts und übertrifft da- dern beziehen sich auf das Kommunalrecht. mit teilweise sogar noch die Vorteile einer GmbH. Daher kann ich auch nachvollziehen, warum die FDP Allerdings ist hier der Landesgesetzgeber gefragt, nicht mit Änderungsanträgen zum MoMiG in dieser Sa- wenn es um Transparenz- und Informationsvorschriften che aufgewartet hat. Hätte die FDP eine Änderung des geht, denn das Anstaltsrecht fällt in die Gesetzgebungszu- GmbH-Rechts auch rechtspolitisch wirklich für angezeigt ständigkeit der Länder. Sie sind weitgehend frei in der gehalten, dann wäre diese umfassende GmbH-Rechtsno- Ausgestaltung der Transparenz und können so schon jetzt vellierung, die gestern in diesem Hause verabschiedet für nachvollziehbare Entscheidungswege in Kommunal- wurde, der richtige Ort und die richtige Zeit gewesen. unternehmen dieses Typs sorgen. 18412 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Günter Krings (A) Es ist Ihnen auch in den Ausschussberatungen nicht schwiegenheitspflichten des Aufsichtsrates gegenüber (C) gelungen, irgendwelche Defizite im Bundesrecht aufzu- der Kommune. zeigen, die eine Änderung des GmbH-Rechts oder des Ak- tiengesetzes zwingend erforderlich gemacht hätten. Es In einer Einmann-GmbH ist der Aufsichtsrat gegen- gibt keine Defizite im Gesellschaftsrecht, die die Offenle- über dem Einmanngesellschafter voll auskunftspflichtig. gung von Unternehmensinformationen unzumutbar und Das ergibt sich auch aus dem im FDP-Antrag zitierten unangemessen behindern. Und wenn es nicht notwendig Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg. Eine Ge- ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es nach Überzeugung heimhaltungspflicht des Aufsichtsrats gegenüber dem der Unionsfraktion eben notwendig, kein neues Gesetz zu Einmanngesellschafter würde doch auch überhaupt kei- erlassen. nen Sinn ergeben. Es gibt umgekehrt auch keine gesellschaftsrechtliche Klaus Uwe Benneter (SPD): Geheimhaltungspflicht des Einmanngesellschafters. Er darf über seine GmbH alles öffentlich machen, was er Die FDP möchte einen Prüfauftrag an die Bundesre- möchte, auch Ungünstiges und auch Betriebsgeheim- gierung beschließen lassen. Geprüft werden sollen Ände- nisse. Eine Kommune als Alleingesellschafterin einer rungen des GmbH-Rechts und des Aktiengesetzes für GmbH ist also gesellschaftsrechtlich zu keinerlei Ge- GmbHs und Aktiengesellschaften, bei denen eine Kom- heimhaltung genötigt. mune Alleingesellschafterin ist. Im Interesse einer kriti- schen Öffentlichkeit sollen die Verschwiegenheitspflichten Allerdings: Es gibt kommunalrechtliche Geheimhal- der von den Kommunen entsandten Aufsichtsratsmitglie- tungspflichten. Nach dem Kommunalrecht ist ein Aus- der zwar nicht aufgehoben, aber deutlich eingegrenzt wer- schluss der Öffentlichkeit und eine Geheimhaltungs- den. pflicht der Kommunalvertreter zum Beispiel dann vorgesehen, wenn es um Betriebs- und Geschäftsgeheim- So steht es in dem Antrag, den wir ablehnen werden. nisse Dritter geht, bei Steuer- und Abgabenangelegenhei- Wir brauchen keinerlei Änderungen im Gesellschafts- ten Einzelner usw. Diese Geheimhaltungspflichten blei- recht. Für die Fälle, die hier in den Blick genommen sind, ben bestehen. gilt das Primat des Kommunalrechts. Das führt zu sach- gerechten Lösungen. Es gibt also nichts Geheimes, was die Gemeinde als Alleingesellschafterin nicht erfahren darf. Der Aufsichts- Zunächst zum Aktienrecht. Im Aktiengesetz ist genau rat ist gegenüber dem Gemeinderat oder gegenüber dem diese Konstellation der von einer Kommune entsandten im Gesellschaftsvertrag bestimmten Gremium voll aus- Aufsichtsratsmitglieder ausdrücklich geregelt. Es gibt kunftspflichtig. Was die Gemeindevertretung oder das (B) zwar eine grundsätzliche Verschwiegenheitspflicht für Auf- sonst bestimmte berichtsempfangende Gremium geheim (D) sichtsratsmitglieder bei vertraulichen Angelegenheiten. halten muss, bestimmt sich ausschließlich nach dem Aber: § 394 AktG bestimmt für Aufsichtsratsmitglieder, die Kommunalrecht. Das wird nach meiner Auffassung der gegenüber einer Gebietskörperschaft berichtspflichtig Demokratie und dem Prinzip der demokratischen Öffent- sind, dass insofern keine Verschwiegenheitspflicht besteht. lichkeit gerecht. Die entsandten Aufsichtsratsmitglieder dürfen also ge- Wer aber in diesen Fällen noch mehr Öffentlichkeit genüber ihrer Gebietskörperschaft auch über Vertrauli- und Offenlegung möchte, der muss die Kommunalgesetze ches berichten. der Länder ändern. Das Aktiengesetz und das GmbH-Ge- Um aber die Interessen der Aktiengesellschaft zu wah- setz müssen jedenfalls nicht geändert werden. ren, müssen jetzt die Empfänger der Berichte Verschwie- genheit über diese vertraulichen Angelegenheiten wah- Dr. Max Stadler (FDP): ren, § 395 AktG. Konsequenz daraus ist, dass diese Die Große Koalition hätte heute die Chance, aufgrund Berichte der entsandten Aufsichtsratsmitglieder nicht in eines Antrags der FDP-Bundestagsfraktion die Bundes- öffentlicher Sitzung abgegeben werden dürfen, jedenfalls regierung zur Lösung eines Problems aufzufordern, das nicht, soweit Vertrauliches zur Sprache kommt. Der Be- in den Kommunen sehr viele Menschen beschäftigt. Es richt darf also nur gegenüber einem Gremium abgegeben geht um mehr Öffentlichkeit und Transparenz bei der Ent- werden, das nach Mitgliederzahl und Zusammensetzung scheidungsfindung in der Kommunalpolitik. Die Lösung die Vertraulichkeit rechtlich und tatsächlich gewährleis- wäre, wie ich noch ausführen werde, einfach. Mir ist völ- tet. Fazit: Die Kommune erfährt alles, muss aber über lig unverständlich, warum CDU/CSU und SPD offenbar vertrauliche Dinge schweigen. Das ist, soweit es Mitge- dieses Thema nicht anpacken wollen. sellschafter gibt, vollkommen in Ordnung und kann meines Erachtens nicht besser geregelt sein. Aktiengesellschaften, Tatsache ist, dass aus unterschiedlichen Gründen die ausschließlich einen öffentlichen Gesellschafter haben, landauf, landab vielfach die Erfüllung kommunaler Auf- gibt es meines Wissens nicht. gaben in neu gegründete Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder sogar Aktiengesellschaften ausgelagert Praktisch bedeutsam sind also nur die kommunalen worden ist. Wir reden nicht über echte Privatisierung, GmbHs, bei denen die Kommune Alleingesellschafter ist. sondern nur über eine Änderung der Rechtsform; denn Bei diesen GmbHs kann die Kommune einen Aufsichtsrat der FDP-Antrag bezieht sich auf solche Gesellschaften, einrichten und im Gesellschaftsvertrag regeln, wem ge- die vollständig in kommunaler Hand sind. Dabei handelt genüber der Aufsichtsrat Bericht erstatten muss. Es gibt es sich beispielsweise um den Betrieb von Schwimmbä- aber in diesem Falle keine gesellschaftsrechtlichen Ver- dern, die Erbringung von Leistungen der Daseinsvor-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18413

Dr. Max Stadler (A) sorge, die Verwaltung kommunaler Grundstücke, die nicht erfüllt, besteht die Gefahr, dass öffentlich gefasste (C) örtliche Energieversorgung. Diesen Beispielen ist ge- Beschlüsse rechtswidrig sind und dass Aufsichtsratsmit- meinsam, dass in den Aufsichtsgremien der so gegründe- glieder sich wegen Verletzung von Verschwiegenheits- ten Gesellschaften kommunalpolitische Entscheidungen pflichten schadensersatzpflichtig oder sogar strafbar ma- getroffen werden, übrigens regelmäßig von denselben chen könnten. Kommunalpolitikern, die vorher Mitglieder des entspre- chenden Stadtrats- oder Kreistags- oder Gemeinderats- Es wird auch noch eingewandt, in der Gesellschafter- ausschusses gewesen sind. Wir haben es aufgrund dieser versammlung – also beispielsweise in einem Stadtratsple- Organisationsprivatisierungen also mit kommunalpoliti- num – könnten Themen, die im Aufsichtsrat einer städti- scher Entscheidungsfindung im privatrechtlichen Ge- schen GmbH nichtöffentlich beraten worden sind, wande zu tun. nachträglich der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Dies geht an der Realität vorbei. Wieso soll man denn eine Dass es diese Entwicklung gegeben hat, hat nachvoll- Wiederholung von Beratungen in einem anderen Gre- ziehbare, häufig steuerrechtliche Gründe. Zu Recht wird mium vorschlagen, wenn es mit einem kleinen Feder- aber von interessierten Bürgerinnen und Bürgen als strich des Gesetzgebers möglich wäre, sofort die Origi- Manko empfunden, dass damit kommunalpolitische De- nalberatung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? batten in nichtöffentlichen Sitzungen stattfinden. Dies ist Daher setzen sich diejenigen, die dem Anliegen der ein Verlust an Offenheit und Transparenz, der nicht sein FDP nicht folgen, dem Verdacht aus, sie wollten in Wahr- müsste, wenn man für kommunale Gesellschaften Sonder- heit die von vielen Bürgerinnen und Bürgern gewünschte regeln zulassen würde. Transparenz kommunaler Entscheidungsfindung gar Das GmbH-Gesetz schreibt zwingend die Nichtöffent- nicht herstellen. Sollte dieser Vorwurf unberechtigt sein, lichkeit von Aufsichtsratssitzungen vor und unterwirft die dann sind wir gespannt, welche Alternativen denn die Ko- Aufsichtsratsmitglieder einer Verschwiegenheitspflicht. alition vorschlägt. Bisher tragen CDU/CSU und SPD un- Diese strengen Regelungen sind verständlich, da sie ur- verständlicherweise nichts zur Lösung des Problems bei. sprünglich natürlich für echte private Gesellschaften vor- gesehen waren. Auf die Entscheidungsfindung kommuna- Katrin Kunert (DIE LINKE): ler GmbHs passen diese Vorschriften nicht. Vielmehr gilt Gegen Geheimniskrämerei – Entscheidungen in kom- im Kommunalrecht der Grundsatz der Öffentlichkeit der munalen Gesellschaften sollen transparent gestaltet wer- Verhandlungen. Kommunalrecht als Landesrecht hat den, und wir debattieren überhaupt nicht, geben zum aber hinter Bundesrecht zurückzutreten. Dies ist unbe- zweiten Mal unsere Reden zu Protokoll. Transparenz sieht friedigend. anders aus, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP! We- (B) Selbstverständlich gibt es auch nach Auffassung der nigstens die Abschlussdebatte hätten wir führen können. (D) FDP in kommunalen Gesellschaften einzelne Fragen, die Zum anderen frage ich mich ernsthaft, wenn Ihnen das nichtöffentlich zu verhandeln wären, wie etwa Personal- Thema so wichtig erscheint, warum haben Sie keinen fragen oder Themen, bei denen eine GmbH im Wettbe- konkreten Antrag im Rahmen der GmbH-Novelle einge- werb zu anderen GmbHs steht. Die allermeisten Fragen bracht? Und deshalb habe ich meinem ersten Redebei- könnten aber ohne irgendeinen Schaden für die kommu- trag nichts hinzuzufügen. nalen GmbHs öffentlich und ohne Verschwiegenheits- pflicht verhandelt werden. Dies wird zunehmend auch in Erstens: Kompliment an die FDP, sie hält ein Super- der Rechtsprechung so gesehen. Das Verwaltungsgericht Plädoyer gegen die Privatisierung von Aufgaben der öf- Regensburg hat in einer Entscheidung vom 2. Februar fentlichen Daseinsvorsorge. Alle in ihrem Antrag aufge- 2005 den Grundsatz der Öffentlichkeit für vorrangig er- führten Probleme würden sich heute nicht so drastisch klärt. Mit Hinweis auf diese Tendenz in der Rechtspre- darstellen, wenn die Aufgaben der Daseinsvorsorge kom- chung meint die Koalition offenbar, es bestehe keinerlei munal erbracht würden. Handlungsbedarf. Es steht auch in der Begründung des Regensburger In den Ausschussberatungen ist von der Koalition vor- Urteils, dass mit zunehmender Privatisierung die öffent- getragen worden, die gewünschte Transparenz könne lich-rechtlichen Bindungen ausgehebelt werden können. auch durch örtliches Satzungsrecht hergestellt werden. Eine zweite Vorbemerkung: Würde man das Mitsprache- Dieser Lösungsvorschlag reicht jedoch nicht aus. Denn und Entscheidungsrecht der Bürgerinnen und Bürger und nach wie vor bewegt sich eine untergerichtliche Recht- der Kommune als Vertretungskörperschaft wirklich stär- sprechung, die nur aus allgemeinen Erwägungen heraus ken wollen, wäre zunächst an eine Rekommunalisierung den Öffentlichkeitsgrundsatz für vorrangig erklärt, auf von Aufgaben der Daseinsvorsorge zu denken. schwankendem juristischen Boden. Den Bürgerinnen und Das haben inzwischen auch die Kommunen erkannt. In Bürgern, aber auch den Mitgliedern der Aufsichtsgre- seiner Presseerklärung vom März dieses Jahres begrüßt mien wäre mehr gedient, wenn im Bundesrecht eine ein- der Deutsche Städte- und Gemeindebund ausdrücklich deutige Klärung der strittigen Rechtslage erfolgen die Überlegungen einiger Städte und Gemeinden, bisher würde. Zu denken wäre etwa daran, im GmbH-Gesetz privat erbrachte Leistungen der öffentlichen Daseinsvor- eine Öffnungsklausel für kommunale GmbHs vorzusehen, sorge wieder zu kommunalisieren. sodass die ansonsten im GmbH-Gesetz angelegte strikte Nichtöffentlichkeit gelockert werden könnte. Solange der Die neue Vorsitzende des Ausschusses für Finanzen Bundesgesetzgeber diese seine Aufgabe der Klarstellung und Kommunalwirtschaft des Städte- und Gemeinde-

Zu Protokoll gegebene Reden 18414 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Katrin Kunert (A) bundes, Frau Ursula Pepper, wies darauf hin, dass eine Unternehmen eingeräumt. Es stellt sich die Frage, was (C) Rekommunalisierung von Aufgaben der öffentlichen Sie mit dieser Einengung wirklich wollen. Daseinsvorsorge dazu dienen könne, kommunale Gestal- tungsmöglichkeiten zurückzugewinnen. Die Stadt Ah- Zweitens werden in Ihrem Antrag Unternehmen, an rensburg in Schleswig-Holstein, in der Frau Pepper BM denen Bund und Länder beteiligt sind, vollkommen aus- ist, hat sich entschieden, die Gasversorgung in der Stadt geblendet. Wir meinen, auch diese Beteiligungen müssen nicht mehr von einem privaten Unternehmen, sondern in die Diskussion um mehr Transparenz einbezogen wer- von einer kommunalen Gesellschaft durchführen zu las- den. sen. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und wenn Sie sich in der FDP-Fraktion Gedanken über die Transparenz bei kommunalen Unternehmen ma- In der ersten Lesung zum Antrag der FDP-Fraktion chen, frage ich, wie Sie mit Transparenz bei echten Pri- erklärten die Rednerinnen und Redner von Union und vatisierungen umgehen wollen. SPD, dass sie es eigentlich für eine Zumutung halten, die- sen Antrag überhaupt beraten zu müssen. Deshalb Tatsache ist, dass bereits heute immer mehr Aufgaben möchte ich eingangs an die Adresse der Regierungsfrak- der öffentlichen Daseinsvorsorge durch kommunale Un- tionen gerichtet feststellen: Dass der FDP-Kollege Max ternehmen erbracht werden; zu 75 Prozent sind dies Un- Stadler ein wahlkreisfolkloristisches Interesse daran hat, ternehmen in der Rechtsform der GmbH. Tatsache ist die mangelnde Transparenz von Aufsichtsräten kommu- auch, dass aus den unterschiedlichsten Gründen die naler Gesellschaften hier zu thematisieren, ist wohl unbe- Kommunen immer mehr an Einfluss auf ihre eigenen Un- stritten. Es ist ihm allerdings auch unbenommen. Be- ternehmen verlieren. zeichnend an Ihrer Haltung ist im Übrigen nicht, wie Sie mit Oppositionsanträgen umgehen, sondern dass Sie der Eine Ursache dafür ist, dass Öffentlichkeit und die Sache selbst überhaupt kein Gewicht beimessen. Denn es Wahrung der Interessen der Unternehmen nicht unter ei- sollte sich auch zu Ihnen herumgesprochen haben, dass nen Hut zu bringen sind. Kommunale Mandatsträger in die Überführung kommunaler Aufgaben in privatrechtli- den Aufsichtsräten sind zur Verschwiegenheit verpflich- che Gesellschaftsformen vor Ort zu sehr problematischen tet. Diese Verschwiegenheitspflicht kann dann zu Interes- Entwicklungen geführt hat. senkonflikten führen, wenn sie sich ihrer Gemeinde ge- genüber verpflichtet fühlen, über Angelegenheiten des Bezeichnend ist allerdings auch, dass die FDP-Frak- Unternehmens von besonderer Bedeutung berichten zu tion ihren Antrag über beinahe zwei Jahre im Ausschuss müssen. Es ist nicht definiert, in welchem Maße eine Ver- vergilben lässt. Ich konnte der lokalen Berichterstattung schwiegenheitspflicht der kommunalen Vertreter in den – namentlich der „Passauer Neuen Presse“ – entnehmen, (B) Aufsichtsräten im Interesse des Gemeinwohls – im Inte- dass Herr Stadler sich öffentlichkeitswirksam darüber (D) resse der Kommune und damit der Bürgerinnen und Bür- beklagt hat, dass die Koalition dem FDP-Antrag nicht ger – eingeschränkt werden kann. folgt. Herr Kollege Stadler, ich bin der altmodischen Auf- Dies ist in den Gemeindeordnungen der Länder sehr fassung, dass das Werben um parlamentarische Mehrhei- ten damit beginnt, dass man einen Antrag auch auf die Ta- unterschiedlich geregelt. Es ist nämlich ein Aushand- gesordnung des Ausschusses setzt. So eilig scheinen Sie lungsprozess, der von Kommune zu Kommune unter- schiedlich ausgehen kann, also nach dem Motto: einmal es also nicht zu haben mit der Transparenz. Man erkennt das populistische Ansinnen und ist verstimmt. mehr und einmal weniger Transparenz. Die Leidtragen- den sind in jedem Fall die Bürgerinnen und Bürger. Bes- Doch nun zum Antrag selbst. Die Freien Demokraten tes Beispiel sind Unternehmen im Verkehrs- oder Versor- beschreiben hier ein Problem, das auch wir als Bündnis- gungsbereich, die nicht bereit sind, ihre Tarif- bzw. grüne sehen. So bedenklich, wie sich einige Privatisie- Preiskalkulation offenzulegen. Hier gibt es also tatsäch- rungen öffentlicher Leistungen auf die politische Steue- lichen Handlungsbedarf. Das sehen wir nicht anders. rungsfähigkeit der Kommunen ausgewirkt haben, so Es müssen bundesweite einheitliche Standards in Be- bedenklich sind auch die Folgen, wenn die Leistungser- zug auf die Einschränkung der Verschwiegenheitspflicht bringung zwar vollständig oder mehrheitlich in kommu- im Interesse des Gemeinwohls vorgegeben werden. Dies naler Hand verbleibt, der Kontrolle der Öffentlichkeit je- kann nicht im Belieben der Länder oder einer Kommune doch aufgrund privatrechtlicher Vorschriften entzogen oder gar des Bürgermeisters liegen. Insofern stimmen wir wird. Die Anwendung privaten Gesellschaftsrechts führt dem Grundanliegen Ihres Antrages zu. beispielsweise zu einer Situation, in der sich Stadtwerke in Eigentümerschaft einer Kommune am Bau eines Koh- Allerdings geht uns der Antrag nicht weit genug. Ers- lekraftwerkes im Nachbarkreis beteiligen, ohne dass die tens geht es Ihnen in der FDP um eine deutliche Erhö- Öffentlichkeit von der bevorstehenden Entscheidung in- hung der Transparenz von Entscheidungen nur kommu- formiert wird. Da zudem kleinere Gemeinderatsfraktio- naler Unternehmen. Und Ihre gewünschte Neuregelung nen in den Aufsichtsgremien dieser Gesellschaften oft- soll sich ausschließlich auf kommunale GmbHs und AGs mals nicht vertreten sind, wird den großen Fraktionen beziehen, die zu 100 Prozent kommunal sind. Das derzeit hier die Möglichkeit geboten, unbehelligt von öffentli- geltende GmbH- und AG-Recht bezieht sich aber aus- chen Diskussionen und Auseinandersetzungen ihre poli- drücklich auf alle Unternehmen, das heißt mit jedem Ge- tischen Ziele zu verfolgen. Das ist das Sinnbild dessen, sellschafter, unabhängig von der Höhe der Beteiligung, was wir umgangssprachlich als „kommunalen Klüngel“ wird ein umfassendes Informationsrecht gegenüber dem bezeichnen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18415

Britta Haßelmann (A) Der Antrag der Liberalen – so kann man bei der erst- widersprüchlich und springt zu kurz. Wir werden uns des- (C) maligen Lektüre denken – sieht das ganz genauso. Aber, halb zu diesem Antrag enthalten. Aber, meine Damen und liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion: Herren von der Regierungskoalition, ob Sie sich damit Manchmal reicht ein einzelner Satz in einem Antrag, um nun befassen wollen oder nicht: Wir werden dafür sorgen, sein Ansinnen in das Gegenteil zu verkehren. Denn in Ih- dass dieses Thema, fundierter aufbereitet, erneut auf der rem Antrag schreiben sie, dass „echte“ Privatisierungen Tagesordnung des Deutschen Bundestages auftaucht. ordnungspolitisch selbstverständlich vorzugswürdig wä- Und dann ist Herr Stadler gerne eingeladen, mit mir ge- ren. Das wirft Fragen auf. Sie bemängeln die fehlende meinsam im Ausschuss um parlamentarische Mehrheiten Transparenz der privaten Gesellschaftsform kommunaler zu werben. Unternehmen, wollen aber eigentlich viel lieber gleich alles privatisieren? Reden wir Klartext. Hier drängt sich Präsident Dr. Norbert Lammert: doch der begründete Verdacht auf, dass ihr Ziel darin be- Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss steht, kommunalen Gesellschaften Sonderbedingungen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- aufzuerlegen, um einen Leidensdruck in Richtung Priva- che 16/9732, den Antrag der FDP-Fraktion auf Drucksa- tisierung zu erzeugen. Da gebe ich Ihnen den wohlmei- che 16/395 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- nenden Ratschlag: Mauern Sie sich mit Ihrer „Privat vor empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Staat“-Ideologie in der kommunalen Daseinsvorsorge Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenom- nicht ein. Denn eine solche Politik geht am Bedürfnis der men. Bürgerinnen und Bürger nach einer verlässlichen, be- zahlbaren Daseinsvorsorge vorbei, und sie untergräbt Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 sowie Zusatz- das Vertrauen in die Gestaltungskraft der kommunalen punkt 12 auf: Selbstverwaltung. Ihrem „Privat vor Staat“ setzen wir ein 35 Beratung des Antrags der Abgeordneten „Sicherheit in Vielfalt“ entgegen. Das heißt: Privatisie- Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Dr. Lothar rung oder Rekommunalisierung – diese Entscheidung Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion muss sich am Einzelfall orientieren, und daran, wie eine DIE LINKE Leistung am Besten zu erbringen ist –, am besten im Sinne der Kosteneffizienz, aber vor allem der ökologischen Für eine qualitätsgesicherte und flächende- Nachhaltigkeit, demokratischen Transparenz und lang- ckende Arzneimittelversorgung – Versand- fristigen Verlässlichkeit. handel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen Die Leistungserbringung in Form einer GmbH mit – Drucksache 16/9754 – ausschließlicher oder mehrheitlich kommunaler Träger- Überweisungsvorschlag: (D) (B) schaft kann dabei ein geeigneter Weg sein. Die privat- Ausschuss für Gesundheit (f) rechtliche Organisationsform ändert aber nichts am We- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sen der Leistung. Aufgaben der Daseinsvorsorge sind Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz dem Gemeinwohl verpflichtet und werden aus öffentli- chen Mitteln finanziert. Sie haben sich deshalb auch ho- ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel hen Anforderungen an die Transparenz unternehmeri- Bahr (Münster), Martin Zeil, Heinz Lanfermann, scher Entscheidungen zu stellen. Hier liegt die weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Notwendigkeit begründet, Öffentlichkeit bei Aufsichts- Auswüchse des Versandhandels mit Arznei- ratssitzungen herzustellen, und nicht in einer Strategie, mitteln unterbinden die Kommunen in die Privatisierung treiben soll. – Drucksache 16/9752 – Ein weiterer Kritikpunkt an Ihrem Antrag ist aus unse- rer Sicht: Sie spitzen die Lippen, aber pfeifen nicht. Wa- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) rum sind Sie in Ihren Forderungen so mutlos und wenig Ausschuss für Wirtschaft und Technologie konkret? Wir wissen, dass es unterschiedliche rechtswis- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und senschaftliche Auffassungen dazu gibt, ob Gemeinden die Verbraucherschutz Öffentlichkeit selbst über das Satzungsrecht herstellen Wolf Bauer, Marlies Volkmer, Daniel Bahr, Martina können oder ob es dazu einer Änderung im GmbH-Recht Bunge, Birgitt Bender und Rolf Schwanitz für die Bun- und Aktienrecht bedarf. Auch die Rechtsprechung ist hier desregierung geben dazu Reden zu Protokoll. uneinheitlich. Alleine dies weist darauf hin, dass es einer rechtlichen Klarstellung bedarf, und zwar ganz konkret einer Verpflichtung zur Öffentlichkeit von Aufsichtsrats- Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): sitzungen kommunaler Gesellschaften durch eine ent- Für eine ausreichende und sichere Arzneimittelversor- sprechende Ergänzung in § 52 Abs. 1 GmbH-Gesetz und gung der Bevölkerung zu sorgen, ist eine grundgesetzlich § 109 Abs. 1 Aktiengesetz. Da müssen Sie die Bundesre- verankerte Aufgabe des Staates – Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. gierung nicht auffordern, zu prüfen; da brauchen Sie nur Die Erfüllung dieser Aufgabe liegt in den Händen der uns Grüne nach der Lösung zu fragen. Präsenzapotheken. Sie haben sich über lange Zeit als ver- lässlicher Partner bewährt. Aus Sicht der CDU/CSU- Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Antrag der Bundestagsfraktion sind sie der Garant für die ordnungs- FDP weist auf einen wichtigen legislativen Handlungsbe- gemäße und sichere Arzneimittelversorgung unserer Be- darf hin. Er ist allerdings ordnungspolitisch inkonsistent, völkerung. 18416 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Dr. Wolf Bauer (A) Nicht zuletzt im Interesse des Patientenschutzes unter- Auch vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber da- (C) liegt ihr Betrieb vor allem den strengen Anforderungen für Sorge getragen, dass nur solche Arzneimittel über den des Apothekengesetzes und der Apothekenbetriebsord- Versandhandel ausgeliefert werden dürfen, die zum einen nung – zum Beispiel Abgabe der Arzneimittel durch phar- für den deutschen Markt zugelassen sind und zum ande- mazeutisches Personal, Vorhaltung eines Vollsortiments, ren Informationen in deutscher Sprache enthalten. Da- Mindestgröße für Betriebsräume, Vorhaltung einer Re- rüber hinaus gibt es hohe Anforderungen an die auslän- zeptur und eines Labors, Räumlichkeiten für Nachtdienst- dischen Versandhandelsapotheken. So müssen auch diese bereitschaft. Apotheken dürfen nur von approbierten eine durch einen Apotheker geleitete Präsenzapotheke Apothekern betrieben werden, Apotheken in der Hand vorweisen und in ihrem Heimatland zum Beispiel an der von Kapitalgesellschaften sind verboten – Fremdbesitz- Nacht- und Notfallversorgung teilnehmen. verbot. Inzwischen hat sich beim Versandhandel neben der Ursprünglich durfte die Abgabe apothekenpflichtiger „klassischen“ Form des Direktversands an den Endver- Arzneimittel grundsätzlich nur innerhalb der Apotheken- braucher – Face-to-Face – eine zweite Vertriebsform betriebsräume erfolgen. Eine Abgabe von Arzneimitteln über Bestell- und Abholstationen – Pick-up-Stationen – im Wege des Versandhandels war verboten. Dieses Ver- entwickelt. Diese Stationen können in jeder Art von Ge- sandhandelsverbot war im Jahr 2003 Gegenstand eines werbebetrieb – Supermarkt, Getränkemarkt, Drogerie- Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof. ketten, Tankstelle etc. – eingerichtet werden. Im Unter- schied zu Präsenzapotheken unterliegen die Pick-up- Im Vorfeld der Entscheidung und als Kompromiss bei Stationen bei der Vor-Ort-Abgabe von Arzneimitteln nicht den Verhandlungen zum Gesundheitsmodernisierungsge- den Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung. So setz 2003 wurde unter bestimmten Auflagen der Versand- wird zum Beispiel auf jegliche Apothekeninfrastruktur handel mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln zugelas- verzichtet. Die Vor-Ort-Abgabe kann durch nicht phar- sen. Dabei muss ein Höchstmaß an Verbraucherschutz mazeutisches Personal erfolgen. Die in letzter Zeit ent- und Arzneimittelsicherheit gewährleistet sein. Es müssen standenen Pick-up-Stationen und die damit verbundenen faire Bedingungen für den Wettbewerb von Versandapo- Variationen des Versandhandels wurden zum Zeitpunkt theken mit Präsenzapotheken bestehen. der Gesetzgebung nicht vorhergesehen. Seitdem können deutsche Präsenzapotheken, die eine Diese neue Versandform war Gegenstand mehrerer Versandhandelserlaubnis besitzen, und entsprechend Gerichtsverfahren. Zuletzt entschied das Bundesverwal- qualifizierte Versandapotheken aus anderen EU-Län- tungsgericht in seinem Urteil vom 13. März 2008, dass dern, apothekenpflichtige Arzneimittel im Wege des Ver- aufgrund der generellen Zulassung des Versandhandels (B) sandhandels abgeben. Wie die nachfolgende Entschei- mit allen apothekenpflichtigen Arzneimitteln die Abgabe (D) dung des Europäischen Gerichtshofs ergab, wäre eine im Wege des Versandes über Pick-up-Stationen rechtlich solche generelle Zulassung des Versandhandels aber gar nicht zu beanstanden ist. nicht nötig gewesen, da ein Verbot des Versandhandels Dieses Urteil mag sich vielleicht aus der derzeitigen mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln mit europäi- Rechtslage ergeben, wirft aber aus meiner Sicht verschie- schem Recht vereinbar ist. dene Fragen auf: Ich zitiere wörtlich aus dem EuGH Urteil: Während die Apotheker weiterhin an die umfassenden Angesichts der Gefahren, die mit der Verwendung Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung gebunden dieser Arzneimittel verbunden sein können, könnte sind – zum Beispiel Vorhaltung von Laboren und Räum- das Erfordernis, die Echtheit der ärztlichen Ver- lichkeiten für den Nachtdienst, Mindestgröße der Betriebs- schreibungen wirksam und verantwortlich nachprü- räume –, sollen diese offenbar für Pick-up-Stationen nicht gelten. Dies hätte aus meiner Sicht eine ungerechtfertigte, fen zu können und die Aushändigung des Arzneimit- verfassungswidrige Ungleichbehandlung der Präsenz- tels an den Kunden selbst oder an eine von ihm mit apotheken zur Folge. Außerdem wird die aus Verbrau- dessen Abholung beauftragte Person zu gewähr- cherschutzgründen wichtige Beratung durch Apotheker leisten, ein Verbot des Versandhandels rechtferti- abgeschwächt, und es kommt zur Beliebigkeit bei der Ab- gen. Wie die irische Regierung dargelegt hat, gabe von Arzneimitteln. könnte die Zulassung einer Ausgabe verschrei- bungspflichtiger Arzneimittel erst nach Erhalt der Schließlich dürfen wir auch nicht übersehen, dass Verschreibung und ohne weitere Kontrolle das Ri- durch die Abgabe apothekenpflichtiger Arzneimittel über siko erhöhen, dass ärztliche Verschreibungen miss- Pick-up-Stationen bei Schlecker, dm etc. die besondere bräuchlich oder fehlerhaft verwendet werden. Im Ware „Arzneimittel“ aus Sicht des Verbrauchers mit Kon- Übrigen kann die tatsächlich gegebene Möglich- sumgütern – zum Beispiel Bonbons, Reinigungsmitteln keit, dass ein Arzneimittel, das ein in einem Mit- oder Hygieneartikeln – gleichgestellt wird. Damit wird gliedstaat wohnender Käufer bei einer Apotheke in insbesondere der Gebrauch verschreibungspflichtiger einem anderen Mitgliedstaat erwirbt, in einer ande- Arzneimittel in den Augen der Verbraucher verharmlost. ren Sprache etikettiert ist als in der Sprache des Auch die immer stärker stattfindende Werbung mit Nied- Heimatstaats des Käufers, im Fall von verschrei- rigpreisen kann die Verbraucher verleiten, mehr Arznei- bungspflichtigen Arzneimitteln gravierendere Fol- mittel als nötig zu verwenden. Beides fördert den Arznei- gen haben. mittelmissbrauch.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18417

Dr. Wolf Bauer (A) Vor diesem Hintergrund müssen wir überlegen, wie eröffnen – oder auch Pick-up-Stellen. Eine Kombination (C) wir diesen Auswüchsen des Versandhandels durch Pick- aus der Aufhebung des Fremdbesitzverbotes und des Ab- up-Stationen Einhalt gebieten. Erste Vorstöße wurden be- baus von Mindestanforderungen an die Arzneimittelab- reits gemacht. So haben die Bundesländer Bayern und gabe würde unserer Arzneimittelversorgung ein neues Sachsen entsprechende Initiativen im Bundesrat ergriffen Gesicht geben. Arzneimittelsicherheit und Beratungsqua- bzw. angekündigt, denen sich der jetzt vorgelegte Antrag lität, die Grundpfeiler unserer heutigen Versorgungs- der Partei Die Linke inhaltlich annähert. Auch der An- landschaft, würden leiden. trag der FDP, der einen weniger umfassenden Ansatz lie- fert, zielt auf eine Beseitigung der Auswüchse ab. Der Gesetzgeber hat die Sicherstellung der Arzneimit- telversorgung nicht ohne Grund den Apotheken übertra- Damit wir uns über die entsprechenden Konsequenzen gen. Ich denke hier vor allem an das hochqualifizierte ausreichend Klarheit verschaffen können, ist es aus mei- Personal, das jederzeit beraten kann, nicht nur auf Nach- ner Sicht erforderlich, die in den Initiativen angesproche- frage und nicht nur telefonisch, und an die Verpflichtung nen Handlungsoptionen genau zu prüfen und zu bewer- zu Nacht- und Notdiensten. Was kann man also tun, um ten. ein Ausfransen der Vertriebswege zu verhindern? Ge- Gegenwärtig befinden wir uns innerhalb der CDU/ werbliche Abholstellen lassen sich nicht einfach verbie- CSU-Bundestagsfraktion in einem entsprechenden Be- ten, da dies in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen- wertungsprozess. Erst wenn wir diesen abgeschlossen der Weise in die Berufsfreiheit der potenziellen Betreiber haben, können wir uns auf eine Handlungsoption festle- eingreifen würde. Die einzige rechtliche Handhabe sehe gen. ich persönlich in der Beschränkung des Versandhandels auf das europarechtlich gebotene Maß und damit auf Dr. Marlies Volkmer (SPD): nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel. Der Euro- päische Gerichtshof hatte den Versandhandel mit re- Es ist sehr zu begrüßen, dass wir noch vor der Som- zeptpflichtigen Arzneimitteln in das Ermessen der Mit- merpause die Gelegenheit haben, uns mit einem überaus gliedstaaten gestellt, da von diesen besondere Risiken wichtigen Thema zu befassen, nämlich der Frage, wie die Arzneimittelversorgung der Zukunft aussehen soll. ausgehen. Allein deshalb unterliegen sie der Verschrei- bungspflicht. Umso bedauerlicher ist die Qualität des zur Debatte stehenden Antrags. Auch wenn ich persönlich die Ziel- Warum hat sich die damalige rot-grüne Koalition mit richtung der Vorlage unterstütze: Wenn man möchte, dass Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion nicht schon 2003 ein Anliegen in jedem Fall abgelehnt wird, dann muss gegen den Versandhandel mit diesen besonderen Arznei- man es so begründen, wie Sie das getan haben, liebe Kol- mitteln entschieden? Tatsächlich haben wir damals der- (D) (B) leginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke – näm- art strenge Regelungen gesetzlich verankert, dass der di- lich gar nicht. Die Gefährdung der Arzneimittelsicherheit rekte Versand aus einer deutschen Versandapotheke an durch den Versandhandel mit rezeptpflichtigen Arznei- einen Patienten sicher ist. Für den Versand aus einer mitteln bleibt bei Ihnen leider eine bloße Behauptung. Apotheke der Länder, deren Sicherheitsstandards den Dabei stellt uns das im März ergangene Urteil des Bun- deutschen Regelungen entsprechen sollen, dürfte im We- desverwaltungsgerichts tatsächlich vor ein gewaltiges sentlichen Gleiches gelten. Was der Gesetzgeber aber da- Problem. Zur Erinnerung: Das Gericht hatte geurteilt, mals nicht vorhergesehen hat, war die Zulassung von dass der Arzneimittelbestell- und -abholdienst, der von Pick-up-Stellen und damit die Unterbrechung des Ver- einigen Drogeriemärkten in Kooperation mit Versand- triebswegs. apotheken angeboten wird, zulässig ist. In den nun anstehenden parlamentarischen Beratun- Ich sehe drei Gefahren: Erstens sehe ich eine Unüber- gen werden wir natürlich alle Wege prüfen müssen, die sichtlichkeit auf die bestehenden Arzneimittelvertriebs- eine qualitativ hochwertige und sichere Arzneimittelver- wege zukommen, die die Arzneimittelsicherheit unmittel- sorgung gewährleisten. So werden wir zu diskutieren ha- bar gefährdet: Jede Instanz, die zwischen die Abgabe ben, ob eine Kennzeichnung legaler Versandapotheken durch die Apotheke und den Empfang des Patienten ge- im Internet eingeführt werden kann. Denn nach wie vor schaltet ist, erhöht das Risiko der Verwechselung, der fal- geht das größte Sicherheitsproblem davon aus, dass die schen Lagerung usw. Patientinnen und Patienten heute nicht erkennen können, Zweitens. Was beim Versandhandel für verzichtbar ge- ob sie es mit einem seriösen Versender zu tun haben und halten wird, kann in der Konsequenz auch nicht für die in welchem Land er überhaupt ansässig ist. Ein anderer Versorgung in der öffentlichen Apotheke vorgeschrieben Vorschlag ist, dass spezifische Anforderungen an die werden. Das hätte vor allem Konsequenzen für die Bera- Pick-up-Stellen formuliert werden. Auch hierüber werden tungsleistungen, aber auch für Notdienste und Laborleis- wir eingehend zu beraten haben. tungen – mit negativen Auswirkungen für die Bevölke- Unsere Vorstellung einer Arzneimittelversorgung der rung. Zukunft sieht im Zentrum ein kompetentes Arzneimittel- Drittens dürfen die Entwicklungen im Apothekenbe- management, insbesondere bei chronisch Kranken und reich nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Stel- pflegebedürftigen Menschen. Hier liegen die Kernkompe- len Sie sich vor, dass das Fremdbesitzverbot fiele. Durch tenzen des Apothekers, die es zum Wohl der Patienten zu die Niederlassungsfreiheit könnten Kapitalgesellschaften fördern gilt. Unsere Aufgabe ist es, dafür die gesetzlichen nach ihrem Markteintritt unbegrenzt eigene Apotheken Rahmenbedingungen zu gewährleisten.

Zu Protokoll gegebene Reden 18418 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Daniel Bahr (Münster) (FDP): die nicht gewollten Auswüchse verhindert werden kön- (C) Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist Apo- nen. Etwas anderes ist nämlich die nun durch das Bun- theken ab 1. Januar 2004 die Möglichkeit eingeräumt desverwaltungsgericht Leipzig eröffnete Möglichkeit ei- worden, Versandhandel mit apothekenpflichtigen Arznei- ner Abgabe von Arzneimitteln in Abgabestellen, die nicht mitteln zu betreiben. Es waren SPD, Grüne und CDU und die Bedingungen erfüllen, die an eine Apotheke gestellt CSU, die im Jahre 2003 den Versandhandel in Deutsch- werden. Damit ist es nach geltender Rechtslage möglich, land gegen die Stimmen der FDP beschlossen haben. Die dass anstelle des Apothekers auch zum Beispiel Kioskbe- FDP hat damals vor den Folgen gewarnt. SPD, Grüne treiber oder Tankwarte unkontrolliert Rezepte einsammeln und CDU und CSU hatten seinerzeit nicht die Entschei- und die bestellten Arzneimittel ausgeben. Eine sachge- dung des Europäischen Gerichtshofes abgewartet, son- mäße Behandlung und Lagerung ist damit nicht gewähr- dern schon zuvor den Versandhandel sowohl für rezept- leistet. Eine weitere Problematik entsteht dadurch, dass pflichtige als auch für rezeptfreie Arzneimittel erlaubt. die Abgabestellen zum Teil Gutscheine für ihren eigentli- Das Gericht hat dann in seinem Urteil festgestellt, dass chen Geschäftsbetrieb ausstellen, wenn Patienten Arznei- der Versandhandel mit rezeptfreien Arzneien in EU-Län- mittel über sie beziehen. Damit schwindet das Bewusst- dern zugelassen werden muss, die Länder aber bei rezept- sein dafür, dass es sich bei Arzneimitteln um ein ganz pflichtigen Arzneien andere Bestimmungen treffen kön- spezielles Gut handelt, das mit Nebenwirkungen verbun- nen. Der Versandhandel ist seit über vier Jahren zulässig, den ist und bei dem eine sorglose Ausweitung des Kon- und damit wurden Fakten geschaffen. sums auf jeden Fall verhindert werden muss. Apotheken haben sich auf Versandhandel eingestellt, Arzneimittel gehören nicht zwischen Waschmittel und und einige haben entsprechend investiert. Patienten ha- Schokoriegel. Eine solche Entwicklung kann weder unter ben sich an diesen Service gewöhnt. Jetzt braucht es sehr Sicherheitsaspekten noch im Hinblick auf gleiche Wettbe- gute Gründe, um den Versandhandel wieder abzuschaf- werbsbedingungen gewollt sein. Wettbewerb kann nur fen. Laut Apothekervereinigung ABDA lösen 93 Prozent unter fairen Bedingungen funktionieren. Es ist eine Be- der Deutschen das zuletzt vom Arzt ausgestellte Rezept in nachteiligung, wenn Wettbewerber Pflichten zu erfüllen einer unabhängigen und wohnortnahen Apotheke ein. haben, die andere nicht erfüllen müssen. Die Apotheke Der Versandhandel macht heute noch nur einen kleinen vor Ort erfüllt wichtige Gemeinwohlaufgaben wie Nacht- Teil aus, stellt je nach Annahmen etwa 1 bis 3 Prozent des und Wochenenddienst, muss Labor und Mindestgrößen Marktes dar. Ob die in dem Antrag der Linken genannte der Ladenfläche und entsprechend fachkundiges Perso- Zunahme an Arzneifälschungen als Grund für ein Verbot nal gewährleisten. Wir alle haben ein Interesse daran, des Versandhandels für rezeptpflichtige Arzneimittel aus- dass diese Pflichten erfüllt werden, damit die Arzneimittel- reicht, ist rechtlich betrachtet aufgrund der vorliegenden versorgung auf einem entsprechend hohen Niveau er- (B) Erkenntnisse unwahrscheinlich. Die FDP ist genauso wie reicht wird. Wenn jetzt Drogerien oder andere versuchen, (D) die Linken besorgt, dass die Zahl an Arzneimittelfäl- über die Ausnutzung des Versandweges sich den Anschein schungen zunimmt. Die FDP beobachtet daher die Ent- einer Apotheke zu geben, ohne die Pflichten zu erfüllen, wicklungen genau. Die FDP will, dass der Verbraucher dann sind das unfaire Wettbewerbsbedingungen für die weitestgehend vor Fälschungen geschützt ist und sich auf Apotheken vor Ort. Hinzu kommt, dass Apotheken eine eine hohe Arzneimittelsicherheit verlassen kann. Das Vielzahl von Voraussetzungen erfüllen müssen, um den Si- Bundeskriminalamt jedenfalls schätzt das Risiko, eine cherheitsstandard zu gewährleisten. Es könnte eine Ge- Arzneimittelfälschung in einer niedergelassenen Apo- fahr für die Sicherheit und die Versorgung vor Ort entste- theke zu erhalten, genauso niedrig ein wie in einer lega- hen. len Versandapotheke. Am meisten treten Fälschungen laut Bundeskriminalamt im Bereich Dopingmittel und Diese Ausfransung durch Abholstellen war meines Er- Lifestyle-Präparate wie zum Beispiel Viagra auf. Die bei- achtens selbst von der Mehrheit derjenigen nicht gewollt, den Hauptvertriebswege sind Sportstudios und illegaler die damals der Aufhebung des Versandhandelsverbotes Internethandel. Leider ist zu befürchten, dass auch bei ei- zugestimmt haben. Das Gesetz ist insofern nicht exakt nem Verbot des Versandhandels von rezeptpflichtigen genug formuliert. In der Urteilsbegründung des Bundes- Arzneien weiterhin mit Arzneifälschungen zu rechnen ist. verwaltungsgerichtes heißt es dazu: „Zwar dürfte der Deshalb ist dringend erforderlich, dass die Bundesregie- Gesetzgeber von dem ,klassischen‘ Versandhandelsmodell rung mit Apothekern und Pharmabranche darüber mit individueller Zustellung ausgegangen sein; doch hat spricht, wie zum Beispiel durch verbesserte Kennzeich- er seine Regelung nicht auf dieses Modell beschränkt.“ nungen oder andere Maßnahmen die Sicherheit erhöht Wir brauchen daher eine gesetzliche Klarstellung, dass werden kann. Falls der Versandhandel wieder verboten ein Versand von Arzneimitteln nur aus Apotheken durch würde, ist auf jeden Fall mit Klagen zu rechnen, deren Apotheken selbst oder von diesen beauftragten Trans- Ausgang schwer abzuschätzen ist. Einschränkungen des portunternehmen unmittelbar an den Endverbraucher zu- grundgesetzlich verbürgten Rechtes der Berufsfreiheit lässig ist. Die FDP legt einen Antrag vor, der genau die- bedürfen immer einer besonderen Begründung. Ohne ses Problem anpackt. CDU, CSU und SPD müssen sich triftige Gründe des Gemeinwohls wäre damit die Wahr- jetzt bewegen. Sie haben den Versandhandel erlaubt und scheinlichkeit, dass Klagen von Betroffenen gegen die damit die Möglichkeit für solche Ausfransungen erst ge- Wiedereinführung des Versandhandelsverbots erfolg- schaffen. Bisher sagt die schwarz-rote Bundesregierung reich sind, sehr groß. Den Versandhandel komplett wie- auf unsere Forderungen, dass sie nichts unternehmen der zu verbieten, halte ich für nicht mehr gangbar. Wir wolle. Wenn Schwarz-Rot nichts macht, dann fördern Sie sollten deshalb gemeinsam an einem Weg arbeiten, wie ungleiche Wettbewerbsbedingungen und Verzerrungen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18419

(A) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): finanziellen Aspekten „gelockt“, beispielsweise über den (C) Mit ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke im teilweisen oder gänzlichen Wegfall von Zuzahlungen. Bundestag die Bundesregierung auf, einmal voraus- Aber hierzu ist zu sagen: Zuzahlungen passen prinzipiell schauend zu agieren, nicht alles über den Markt „regeln“ nicht zur Bereitstellung medizinisch notwendiger Güter zu lassen und hinterher vor einem Zustand zu stehen, den in einem solidarischen Gesundheitssystem. Die Zuzah- man eigentlich so nicht gewollt hatte. lungen müssen weg – nicht die Apotheken. Mit einer soli- darischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung für alle Alle proklamieren, es ginge ihnen um eine qualitätsge- wäre das auch möglich. sicherte und flächendeckende Arzneimittelversorgung. Aber unübersehbar ist, dass der Anteil über das Internet Doch heute geht es um die Vorsorge, dass uns das Apo- bezogener rezeptpflichtiger Arzneimittel permanent thekensystem nicht zerbricht. Daher unser Appell an die steigt. Absehbar ist der Zeitpunkt, an dem dieser Umsatz- Bundesregierung: Legen Sie sofort einen Gesetzentwurf verlust die Apotheken massiv unter Druck bringt, viele vor, der den Versandhandel auf nicht verschreibungs- Apotheken in ihrer Existenz bedroht. Die Infragestellung pflichtige Arzneimittel begrenzt! des flächendeckenden Apothekennetzes wird über kurz oder lang ein Versorgungs- und Beratungsproblem der Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bevölkerung insbesondere im ländlichen Raum und für Versandapotheken müssen Anforderungen an die Pa- ältere, zumeist mehrfach erkrankte Menschen bringen. tienteninformation und die Sicherheit ihrer Dienstleis- Die Freigabe des Versandhandels auch für rezept- tung erfüllen, die denen entsprechen, die auch an eine Of- pflichtige Arzneimittel mit dem Gesundheitsmodernisie- fizinapotheke gestellt werden. Dazu kommen besondere rungsgesetz ab 2004 ist für uns nicht zuvörderst ein Si- Anforderungen an die Sicherheit des Transports und die cherheitsproblem hinsichtlich möglicher Gefahren des Art und Weise der Auslieferung. Wenn es hier rechtliche Bezugs „gepantschter“ Arzneimittel oder der Abwick- oder praktische Defizite geben sollte, wären diese konkret lung des Vertriebs auch über Drogeriemärkte; insofern zu benennen. Das macht aber niemand von denen, die die greift unseres Erachtens auch der ebenfalls zu dieser De- Kampagne gegen den Versandhandel führen. Stattdessen batte eingebrachte FDP-Antrag zu kurz. Für uns steht die werden diffuse Ängste geschürt. Rettung der bewährten inhabergeführten Präsenzapo- Als Hilfsargument wird häufig der Schutz vor Arznei- theke im Mittelpunkt. Die Apotheke mit einem ausgebil- mittelfälschungen angeführt. Richtig ist, dass Arzneimit- deten Pharmazeuten an der Spitze und vielen kundigen telfälschungen nicht mehr ausschließlich ein Problem der Angestellten soll auch in Zukunft eine qualitätsgesicherte Dritten Welt sind. Im Zuge der Globalisierung und auch und flächendeckende Arzneimittelversorgung für die Be- über das Internet gelangen Medikamente, die gar keine (B) völkerung in der Bundesrepublik garantieren. Die Bedeu- oder nicht die auf der Packung angegebenen Wirkstoffe (D) tung bzw. Rolle des Apothekers und der Apothekerin als enthalten, zunehmend auch zu uns. Zwar bewegt sich Heilberufler und Heilberuflerin ist angesichts der älter nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation der werdenden Bevölkerung und der Komplexität medizini- Anteil der Fälschungen am Arzneimittelumsatz in den scher Neuerungen bzw. permanenter Veränderungen im westlichen Industrieländern noch unter 1 Prozent. Aller- Gesundheitssystem eher noch zu stärken als zu schwä- dings ist dieser vermeintlich kleine Anteil alles andere als chen. beruhigend, zumal man von einer hohen Dunkelziffer und einem weiteren Anstieg ausgehen muss. Hier ist der Gesetzgeber gefordert, die rechtlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie dieses Er- Dem aber mit einem Verbot des Versandhandels be- fordernis unterstützen und nicht behindern. Nicht um- gegnen zu wollen, ist völlig illusorisch. Der Großteil der sonst hat der Europäische Gerichtshof die Ausgestaltung Arzneimittelfälschungen stammt aus Ländern der Dritten des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arz- Welt. Der Versand von Arzneimitteln von Ländern außer- neimitteln in das Ermessen der Länder gegeben. halb des Europäischen Wirtschaftsraums direkt an End- verbraucher in Deutschland ist aber ohnehin verboten. Die Freigabe des Versandhandels für alle zugelasse- Zudem ist die weit überwiegende Anzahl gefälschter Arz- nen Arzneimittel ab 2004 war eingebettet in die Kosten- neimittel nicht verschreibungspflichtig. Bei ihnen handelt dämpfungsbemühungen des Gesetzgebers. Sicher haben es sich um „Lifestyle“-Medikamente, Potenzmittel, Ana- wir eine Vielzahl von Apotheken, womit wir allerdings bolika, Schlafmittel und auch Nahrungsergänzungspro- „nur“ im europäischen Mittelfeld liegen. Aber die Apo- dukte, die die Kundinnen und Kunden auf eigene Rech- theken sind nicht die Preistreiber der permanent steigen- nung bestellen. Dieser Versandhandel lässt sich aber den Arzneimittelausgaben. So sind die Ausgaben für – soweit er aus der Europäischen Union kommt – mit den Arzneimittel von 1995 bis 2005 von 8,94 Milliarden Euro Instrumenten des Arzneimittelrechts nicht verhindern, auf 15,44 Milliarden Euro gestiegen. Im gleichen Zeit- rechtlich, weil ein Versandhandelsverbot für rezeptfreie raum haben sich aber die Rohgewinne der Apotheken und Arzneimittel nicht mit der Rechtsprechung des Europäi- des Großhandels von 5 Milliarden in 1995 auf schen Gerichtshofs zu vereinbaren wäre, aber auch 4,94 Milliarden in 2005 sogar geringfügig reduziert. „technisch“, weil man ein solches Verbot ohne die Ab- Kostentreiber sind folglich die Pharmakonzerne. Also schaffung des Internets nicht umsetzen könnte. nicht einmal das Argument der Minderung der Arzneimit- telausgaben zieht bei der Ermöglichung des Versandhan- Das Nebeneinander unterschiedlicher Vertriebswege dels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln. Sicher werden auf dem Arzneimittelmarkt ist eine Tatsache. Diese Plu- etliche Menschen auch zum Versandhandel vor allem aus ralisierung wird nicht zuletzt durch die Rechtsprechung

Zu Protokoll gegebene Reden 18420 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Birgitt Bender (A) des Europäischen Gerichtshofs weitergehen. Der da- ligen sie sich an den Gemeinwohlaufgaben wie Nacht- (C) durch entstehende Wettbewerb kann für die Verbraucher- und Wochenenddienst, und sie beraten ihre Patientinnen innen und Verbraucher und das Gesundheitswesen vor- und Patienten. teilhafte Wirkungen haben. Voraussetzung ist allerdings, dass die wettbewerbliche Dynamik durch ein Gerüst von Wenn wir die Fakten ganz nüchtern ansehen, dann Qualitätsanforderungen und Kontrollmechanismen so zeigt sich, dass seit der Einführung des Versandhandels eingehegt wird, dass die Arzneimittelsicherheit nicht in- die flächendeckende und ordnungsgemäße Versorgung frage gestellt wird. Dazu gehört zum Beispiel, dass Apo- der Menschen mit Arzneimitteln uneingeschränkt besteht theken auch weiterhin von ausgebildeten Apothekerinnen und dass es kein Apothekensterben gibt. und Apothekern geleitet werden müssen. Und dazu gehört auch, dass die Abgrenzung zwischen frei verkäuflichen Seit Einführung des Versandhandels ist die Zahl der und apothekenpflichtigen Arzneimitteln erhalten bleibt. Apotheken um fast 200 auf rund 21 500 gestiegen. Es gibt keinerlei Hinweise auf eine regionale Unterversorgung In diesem Zusammenhang wird man auch darüber re- mit Arzneimitteln. Der Anteil der Ausgaben der gesetzli- den müssen, ob man – wie die FDP fordert – die Aushän- chen Krankenversicherung für Arzneimittel aus Ver- digung bestellter Arzneimittel zum Beispiel in Drogerie- sandapotheken beträgt weniger als 1 Prozent der Arznei- märkten verbietet. Zwar glaube ich nicht, dass durch mittelausgaben. einen solchen Abholservice die Arzneimittelsicherheit un- mittelbar gefährdet wird. Gleichgültig, ob das bestellte Diese Fakten verdeutlichen, dass von einer Gefähr- Arzneimittel direkt an den Patienten oder die Abholsta- dung der Präsenzapotheke keine Rede sein kann. Viel- tion geschickt wird – für die Arzneimittelsicherheit bleibt mehr sind die Apotheker aufgefordert, stärker mit ihrem auch weiterhin die Versandapotheke verantwortlich. Al- lokalen Standortvorteil zu werben. lerdings muss vermieden werden, dass ein solcher Abhol- service zum Türöffner für die Aufhebung der Apotheken- Das Argument der Arzneimittelfälschungen ist ge- pflicht für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel nauso vielschichtig wie der Fälschungsbegriff selbst. Er wird. Rezeptfreie Arzneimittel könnten dann überall ver- reicht von der falschen Kennzeichnung der Arzneimittel- kauft werden. Das würde ich mit Blick auf die Risiken des packung über Patentverstöße bis hin zur Fälschung von Arzneimittelkonsums für falsch halten. Die Verbreitung Wirkstoffen. Unbestritten ist, dass jede Fälschung eines von Arzneimittelfälschungen werden wir aber nur sehr Arzneimittels eine zuviel ist. Wenn wir die Zahlen des begrenzt mit apothekenrechtlichen Instrumenten verhin- Zollberichts 2007 genauer ansehen, dann entfallen von dern können. Hier kommt es vor allem darauf an, dass den Arzneimittelfälschungen mit einem Warenwert von sich die Verbraucherinnen und Verbraucher mündig ver- 8,3 Millionen Euro über 90 Prozent auf einen einzigen (B) halten. Dazu muss mehr Transparenz geschaffen werden. Fall, und dabei geht es um einen Patentstreit. Ohne die- (D) sen Fall reduziert sich der Warenwert an gefälschten Me- Die mit falschen oder fehlenden Wirkstoffen verbunde- dikamenten von 2,5 Millionen Euro in 2006 auf 0,6 Mil- nen Risiken müssen noch stärker öffentlich thematisiert lionen Euro in 2007. Dabei findet die Fälschungsproble- werden. Außerdem müssen die Verbraucherinnen und matik im illegalen und nicht im legalen Arzneimittelver- Verbraucher darüber informiert werden, wie sie unseriöse sandhandel statt. von seriösen Versandhändlern unterscheiden können. In diesem Zusammenhang ist die Zertifizierung von Ver- Das Bundesverwaltungsgericht hat im Versandhandel sandhandels-Apotheken besonders wichtig. Keinen Bei- mit Einbeziehung eines Bestell- und Abholservice keine trag zu mehr Arzneimittelsicherheit leisten aber Ruf- besonderen Risiken für den Endabnehmer gesehen. Für mordkampagnen, in denen seriöse Versandhändler mit die Sicherheit der Lieferkette, also auch für Transport dubiosen Geschäftemachern in einen Topf geworfen wer- und Lagerung, ist der versendende Apotheker verant- den. wortlich. Dabei darf in den Bestell- und Abholstellen nicht der Anschein erweckt werden, dass dort Arzneimit- Rolf Schwanitz, Parlamentarischer Staatssekretär tel abgegeben würden. Für die Abgabe ist allein ein Apo- bei der Bundesministerin für Gesundheit: theker verantwortlich. Zum 1. Januar 2004 ist der Versandhandel mit Arznei- Den Versandhandel auf verschreibungsfreie Arznei- mitteln in Deutschland legalisiert worden. Wesentlich da- mittel gesetzlich zu begrenzen, würde den illegalen Ver- für war, dass chronisch Kranke, immobile Menschen und sandhandel bestärken. Wir wollen jedoch, dass die Men- Beschäftigte einen besseren Zugang zu Arzneimitteln er- schen ihre Arzneimittel legal beziehen. Deshalb sehen wir halten. Klar war, dass der Versandhandel nur in den Fäl- keine Gründe, die Regelung des Versandhandels zu än- len infrage kommt, in denen Arzneimittel nicht akut benö- dern. tigt werden.

Damals wie heute werden die immer gleichen Szena- Präsident Dr. Norbert Lammert: rien gegen den Arzneimittelversand herangezogen. Bis- her ist noch keines eingetreten. Es wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf Druck- sachen 16/9754 und 16/9752 an die in der Tagesordnung Heute gibt es über 2 000 Apotheken, die eine Erlaub- aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Es gibt keine nis zum Versandhandel haben. Gleichzeitig sind diese Einwände. Dann sind die Überweisungen so beschlos- Versandapotheken auch Präsenzapotheken. Damit betei- sen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18421

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b auf: rot-grünen Bundesregierung mit über 25 000 behinderten (C) Menschen im Jahre 2002 gegenüber 2001. Dieser Zu- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg wachs war in etwa dreimal so hoch wie im Jahr zuvor und Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, danach. Die außergewöhnlich starken Zuwächse fielen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP genau in die Zeit der rot-grünen Kampagne „50 000 Jobs Wettbewerb in der Eingliederungshilfe stär- für Schwerbehinderte“. Tatsächlich hatte die rot-grüne ken – Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Bundesregierung von Oktober 1999 bis Oktober 2002 die Menschen mit Behinderung erhöhen Zahl arbeitsloser Schwerbehinderter um fast 50 000 ge- senkt. Es stellte sich nur die Frage, wohin diese fast – Drucksache 16/9451 – 50 000 weniger Arbeitslosen entschwunden waren. Ob Überweisungsvorschlag: hier zwischen der gesunkenen Zahl an arbeitslosen Ausschuss für Arbeit und Soziales schwerbehinderten Menschen in Unternehmen des allge- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus meinen Arbeitsmarktes und dem außergewöhnlichen Zu- Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe- wachs in Werkstätten im Jahre 2002 ein Zusammenhang Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion bestehen könnte, kann jeder für sich selbst beantworten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Parallel zu der Entwicklung in Werkstätten für behin- Persönliche Budgets für berufliche Teilhabe derte Menschen muss die Entwicklung bei Förderschü- jetzt ermöglichen lern betrachtet werden, die häufig nach Abschluss der – Drucksache 16/9753 – Förderschule ausschließlich Leistungen in Werkstätten Überweisungsvorschlag: für behinderte Menschen erhalten. Von 1996 bis 2005 Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) stieg die Zahl der Förderschüler alleine in Westfalen- Rechtsausschuss Lippe, dort, wo ich wohne, bei körperbehinderten Kindern Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend um 22 Prozent, bei Kindern mit sogenannter geistiger Be- Ausschuss für Gesundheit hinderung um 33 Prozent und auf Förderschulen für Er- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ziehungshilfe um 81 Prozent. Diese Entwicklung dürfen wir nicht weiter hinnehmen. Es muss in allen Bereichen Hubert Hüppe, Silvia Schmidt, Jörg Rohde, Dr. Ilja mehr gemeinsame Lebensräume von Menschen mit und Seifert und Markus Kurth geben dazu Reden zu Proto- ohne Behinderung geben. Insbesondere im Bereich des koll. Arbeitslebens und der Schule haben wir einiges aufzuho- len. Klar ist: Wir brauchen die Werkstätten für die Men- Hubert Hüppe (CDU/CSU): schen mit Behinderungen. Ich glaube, unter dem Dach (B) In der Koalitionsvereinbarung haben wir uns darauf der Werkstätten ist mehr möglich, beispielsweise bei aus- (D) geeinigt, mehr für die berufliche Integration von Men- gelagerten Werkstattplätzen. Bisher gibt es hier nicht schen mit Behinderungen zu tun. Wir haben uns entschie- genügend Möglichkeiten. Im Jahre 2006 gab es im Be- den, mehr behinderten Menschen die Möglichkeit zu rufsbildungsbereich der Werkstätten für behinderte Men- eröffnen, außerhalb von Werkstätten für behinderte Men- schen nur 1 Prozent ausgelagerte Werkstattplätze, im Ar- schen ihren Lebensunterhalt im allgemeinen Arbeits- beitsbereich waren dies lediglich 3 Prozent. Übergänge markt erarbeiten zu können. Ein Vorschlag, der behinder- von Werkstätten für behinderte Menschen in eine Be- ten Menschen mehr Möglichkeiten außerhalb von schäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt liegen un- Werkstätten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eröffnet, ter 0,5 Prozent. Das muss sich ändern. Ich spreche mich wird zurzeit im Bundesministerium für Arbeit und Sozia- dafür aus, behinderten Menschen, die in Unternehmen les unter dem Titel „Unterstützte Beschäftigung“ erar- des allgemeinen Arbeitsmarktes ihre Teilhabemöglichkei- beitet. ten in Anspruch nehmen wollen, diese Möglichkeit zu eröffnen, zum Beispiel in Integrationsfirmen. Neue Ar- Durchgreifende Lösungen für verbesserte Teilhabe beitsmarktinstrumente, wie der Zuschuss zu den Arbeits- von behinderten Menschen am Arbeitsleben sind nur entgelten in § 16 a SGB II sollte genutzt werden, bevor schwierig zu erreichen. Die Situation ist geprägt durch ein Mensch mit Behinderungen in Werkstätten beschäftigt unterschiedliche Kostenträger, unterschiedliche Interes- wird. Eine Möglichkeit, dem Wunsch- und Wahlrecht im sen von Bund und Ländern und eingefahrene Strukturen. Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben in besonderer Dieser Schwierigkeit sind sich offenbar auch die Antrag- Weise Rechnung zu tragen, ist das Persönliche Budget. steller der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grü- Lange bestand Unklarheit darüber, wie weit das Persön- nen bewusst. Bündnis 90/Die Grünen legen nicht etwa ei- liche Budget im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben nen Gesetzentwurf vor, der eine ausdifferenzierte Lösung reicht. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales präsentiert. Vielmehr bleibt der Antrag bei eher vagen hat mir seine Position auf meine Nachfrage erläutert. Es Forderungen auf ein Persönliches Budget für berufliche vertritt eine eher enge Auffassung des Persönlichen Bud- Teilhabe. gets. Aus meiner Sicht müssen wir hier weitergehen. Al- In der Tat sehe ich den Zuwachs an belegten Plätzen in lerdings ist für mich nicht nachvollziehbar, warum in dem Werkstätten für behinderte Menschen kritisch. Von 1996 vorliegenden Antrag hauptsächlich jungen Leuten das bis 2006 stieg die Anzahl der belegten Plätze um über Persönliche Budget im Arbeitsleben ermöglicht werden 100 000 von 166 356 auf 268 046. Dies ist ein Zuwachs soll. Sollen behinderte Menschen, die schon länger in von über 60 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Den mit Werkstätten sind, nicht in gleicher Weise die Chance ha- Abstand höchsten Zuwachs gab es übrigens zu Zeiten der ben, eine Beschäftigung oder Berufsbildung in einem 18422 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Hubert Hüppe (A) Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarktes mithilfe des Per- über die günstigste Preisgestaltung geführt wird. In der (C) sönlichen Budgets auszuüben? Wenn man das Persönli- ambulanten und in der stationären Pflege wird die Minute che Budget für Leistungen am Arbeitsleben stärken will, zur Abrechnungseinheit für alles, was ein pflegebedürfti- so muss es allen behinderten Menschen, die zurzeit aus- ger Mensch braucht und was ihm zusteht. Das zum schließlich Leistungen in Verantwortung von Werkstätten Beispiel wollen wir ändern. Deshalb haben wir eine erhalten können, in gleicher Weise eröffnet sein. Der An- Kommission zur Überarbeitung des Pflegebedürftigkeits- trag von Bündnis 90/Die Grünen erfüllt diese Anforde- begriffs eingesetzt, die diese Grundlagen überarbeiten rungen nicht. wird. Die Grundlagen für menschliche Zuneigung und für das Kümmern um die Menschen kommen zu kurz. Das ha- Die FDP will mehr Wettbewerb zwischen Erbringern ben Sie aus der Kohl-Ära mitzuverantworten. von Leistungen der Eingliederungshilfe. Auch ich kann mir vorstellen, mehr Wettbewerb im Bereich der Einglie- Weiterhin haben wir zunehmend ein Maß an Vergütung derungshilfe zuzulassen. Hier muss dann aber für die ent- der Mitarbeiter, auch und gerade bei der wachsenden sprechenden Rahmenbedingungen gesorgt werden. Wenn Zahl an privaten Pflegeheimen, die zum Teil als sittenwid- die FDP im Bereich der Eingliederungshilfe mehr Wett- rig zu bezeichnen ist. Tausende Mitarbeiter rackern Tag bewerb fordert, so sind hiervon auch behinderte Men- für Tag in der Pflege und bekommen nicht die ihnen zu- schen betroffen, die bisher ausschließlich vom Leistungs- stehende Anerkennung. Das ist ein Wettbewerb, den wir erbringer Werkstatt für behinderte Menschen Leistungen bei der Eingliederungshilfe nicht wollen. der Eingliederungshilfe erhalten können. Die behinder- ten Menschen in den Werkstätten haben besondere Nach- Die Pflegeversicherung ist geradezu ein abschrecken- teilsausgleiche, wie die besondere rentenversicherungs- des Beispiel für offenen Wettbewerb: Hier hat sich bisher rechtliche Absicherung, die Aufnahmeverpflichtung der nicht Qualitäts-, sondern Preiswettbewerb durchgesetzt. Werkstätten oder den Status des arbeitnehmerähnlichen Heimstrukturen werden verfestigt. Die Menschen haben Rechtsverhältnisses. Mit keinem Wort erwähnt die FDP keine Chance zu wählen, welche Dienstleistung sie von in ihrem Antrag diese besonderen Rahmenbedingungen. wem kaufen wollen. Langfristig wird nichts daran vorbei- Es sind keine Ausführungen zu finden, ob oder wie diese führen, den Wettbewerb über Qualität und Transparenz Rahmenbedingungen gelten sollen, wenn nicht die Werk- zu verstärken. Dazu haben wir mit der Pflegereform 2008 statt für behinderte Menschen der Leistungserbringer ist. die Grundlagen geschaffen. Es ist daher eine trügerische Der Antrag ist vielleicht gut gemeint, sieht aber sehr nach Freiheit, die wir in der Eingliederungshilfe nicht wollen. „aus der Hüfte geschossen“ aus. Er ist unausgegoren. Hier arbeiten die Leistungserbringer seit vielen Jahren erfolgreich mit den Kostenträgern zusammen. Die Wahl- Wichtig ist, das Recht behinderter Menschen auf Teil- freiheit der Menschen wird nicht durch die Anzahl der (B) habe am Arbeitsleben umfassend zu gewährleisten. Es ist konkurrierenden Angebote gewährleistet – das ist ein al- (D) auf eine hohe Qualität der Teilhabeleistungen zu achten. ter und falscher Glaube der Wirtschaftsliberalen! Im Ge- Eine gute soziale Absicherung der behinderten Menschen gensatz zur Pflegeversicherung herrscht das Individuali- muss dabei gesichert sein. Teilhabe am Arbeitsleben ist sierungsprinzip. Die Wahlfreiheit ergibt sich aus dem im besonderen Maße geeignet, das Selbstwertgefühl be- Anspruch eines jeden Einzelnen, bedarfsgerechte Leis- hinderter Menschen zu stärken, ein selbstbestimmtes Le- tungen selbst wählen zu können. Sie wird gefördert durch ben zu führen. Das Wunsch- und Wahlrecht muss bei Leis- die Stärkung von persönlichen Budgets – eines der Instru- tungen zur Teilhabe am Arbeitsleben noch mehr in den mente des SGB IX. Wir fördern sie auch durch den Aufbau Mittelpunkt rücken. Veränderungen im Bereich der Leis- eines ambulanten Dienstleistungs- und Unterstützungs- tungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind nur schwierig systems für gemeindenahe Hilfen. Wir fördern sie durch zu erreichen. Es lohnt sich aber, weiter für eine gleichbe- die Unterstützung für Eltern und Kinder mit Behinde- rechtigte Teilhabe behinderter Menschen zu kämpfen. rung. All das sind Elemente unserer Politik, die sich ganz auf die Wahlfreiheit der Menschen und auf selbstbe- stimmte Teilhabe ausrichten. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Der vorliegende Antrag der FDP nimmt die Leistungs- Einen Verdrängungswettbewerb um die Leistungser- trägerstruktur in der Eingliederungshilfe auf. Es wird bringung brauchen wir nicht. Wir überlassen es den Trä- festgestellt, dass die Eingliederungshilfe des SGB XII im gern der Eingliederungshilfe zu entscheiden, welcher Be- Gegensatz zur Sozialen Pflegeversicherung des SGB XI darf an Ergänzungen der Trägerstruktur vor Ort besteht. eine andere Trägerstruktur begünstigt. Es gehört in die Entscheidungshoheit der Kostenträger, welche Maßnahme zur bedarfsgerechten Leistungser- Herr Rohde kreidet der Eingliederungshilfe an, sie bringung angemessen ist. Daran soll sich auch die Trä- würde Träger von der Leistungserbringung ausgrenzen gerstruktur orientieren, und so den Wettbewerb verhindern. Im Gegensatz zur FDP sind wir Sozialdemokraten nicht so sehr am Inte- Wir verzichten aber nicht darauf, die Kosten- und Leis- resse der Träger und dafür umso mehr am Interesse der tungsträger weiter zu einer bedarfsgerechten und teilha- Bürgerinnen und Bürger mit Behinderung interessiert. beorientierten Vorgehensweise anzuhalten. Wir drängen Sicherlich muss es einen Schub für mehr Wettbewerb ge- darauf, dass die Zumutbarkeit enger ausgelegt wird als ben – aber nicht zum Wohle der Träger, sondern zum bisher oder sogar eine Änderung erreicht wird. Wir wol- Wohle der Menschen mit Behinderung. Sie verkennen, len auch über die Deckelung des Persönlichen Budgets dass es in der Pflegeversicherung natürlich einen offenen erneut beraten. Ich denke, das sind ausgezeichnete Wege, Wettbewerb gibt, dieser aber zumeist über den Preis und die Wahlfreiheit der Menschen zu stärken. Denn wir

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18423

Silvia Schmidt (Eisleben) (A) wollen die Eingliederungshilfe als bedarfsdeckende indi- hätten, würden wir heute nicht die vorliegenden Anträge (C) viduelle Teilhabeleistung weiterentwickeln und neu ord- diskutieren. Denn die traurige Realität von drei Jahren nen. schwarz-roter Behindertenpolitik ist: Es gibt sie nicht! Lieber Herr Rohde, liebe Kolleginnen und Kollegen, Nichts ist passiert in all den Jahren. Weder ist es Ihnen lassen Sie uns hier gemeinsam ansetzen. Es braucht eine von SPD, CDU und CSU gelungen, dem Trägerübergrei- Reform der Eingliederungshilfe – dass will ich nicht ver- fenden Persönlichen Budget zum Erfolg zu verhelfen, hehlen –;aber Sie kennen auch die politischen Rahmen- noch konnten Sie die Arbeitslosigkeit unter Behinderten bedingungen. nennenswert senken. Ihre Wahlversprechen und die Ab- Zu den Schiedsstellen. Auch eine begrenzte Erweite- sichtserklärungen des Koalitionsvertrages haben sich in rung der Schiedsstellenfähigkeit für den Bereich der Ein- Schall und Rauch aufgelöst. Geblieben ist nichts. Einer gliederungshilfe dürfte aktuell keine Aussicht auf Erfolg grundlegenden Reform der Eingliederungshilfe ist man haben. Die Länder lehnen es ab, die Leistungsvereinba- im Ministerium für Arbeit und Soziales keinen einzigen rung in die Entscheidungskompetenz der Schiedsstelle zu Schritt näher gekommen. legen. Diese könnte damit im Streitfall auf Antrag einer Symptomatisch für die eingefrorene Behindertenpoli- Partei auch die Leistungsstandards einschließlich der tik der Großen Koalition ist auch die von der Behinder- personellen Ausstattung einer Einrichtung bestimmen. tenbeauftragten der Bundesregierung betreute Home- Der Vorsitz der Schiedsstelle würde darüber befinden page www.sgb-IX-umsetzen.de. Unter der Überschrift müssen, welcher Leistungsstandard für eine bedarfsge- „Neuigkeiten“ wird einem hier ein Eckpunktepapier von rechte Hilfe erforderlich ist. Diese Anforderungen an das 2005, also von vor vier Jahren, offeriert. Allein der Be- fachpolitische und pädagogisch-therapeutische Beurtei- grüßungstext wurde beim Wechsel von Karl-Hermann lungsvermögen dieser einen Person wären nicht zu erfül- Haack zu Karin Evers-Meyer verändert, ansonsten sieht len. Eine Leistungssteuerung im Sinne einer systematisch die Bundesregierung anscheinend keinen weiteren Um- aufeinander abgestimmten Fach- und Finanzverantwor- setzungsbedarf mehr beim SGB IX. tung bliebe dabei auf der Strecke. Darüber ist mit den Ländern schon ausgiebig verhandelt worden. Es besteht Menschen mit Behinderungen genießen bei der Bun- hier keine realistische Aussicht, und ich hielte sie auch desregierung ganz offensichtlich keine Priorität. Es muss fachlich für nicht gerechtfertigt. deshalb nicht verwundern, dass allein die Fraktionen der Opposition immer wieder mit Vorschlägen zur Weiterent- Jörg Rohde (FDP): wicklung der Eingliederungshilfe und damit auch zur Op- Lassen Sie mich meine Rede mit einem Zitat beginnen. timierung der Teilhabechancen von Menschen mit Behin- (B) Im Koalitionsvertrag von 2005 haben Union und SPD derung in die Bresche springen. (D) Folgendes vereinbart: Damit komme ich zu den heute zur Beratung vorlie- … genden Anträgen. Mehr ambulante Angebote, mehr Leis- tungsvielfalt, ein funktionierendes Wunsch- und Wahl- Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den recht – all das kann es nur geben, wenn der Vielzahl von Verbänden behinderter Menschen werden wir die Leistungsempfängern mit ihren individuellen Pflege- und Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so wei- Betreuungsbedürfnissen ein entsprechend plurales Leis- terentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und tungsangebot gegenübersteht. Daran mangelt es derzeit. leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die Einer der Hauptgründe für die Existenz von Oligopo- Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, len im Sozialmarkt ist der schwierige Markteintritt für Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die neue Leistungsanbieter. Wer Leistungen für behinderte Umsetzung der Einführung des Persönlichen Bud- Menschen anbieten möchte, muss vom Kostenträger da- gets einen zentralen Stellenwert. Wir wollen, dass für zugelassen werden. Einen Anspruch auf Zulassung die Leistungen zur Teilhabe an Gesellschaft und Ar- gibt es aber nicht, die Entscheidung über eine Zulassung beitsleben zeitnah und umfassend erbracht werden. liegt im Ermessen des Trägers. Träger, denen die Zulas- Hierzu bedarf es der effektiven Zusammenarbeit sung verweigert wird, können auch keine Schiedsstellen der Sozialleistungsträger. anrufen, sondern müssen den Weg über die Gerichte su- Die berufliche Integration von Menschen mit Be- chen. Die Zahl der Leistungserbringer und damit die Plu- hinderungen werden wir intensivieren. Wir wollen, ralität des Leistungsangebotes kann somit, zum Nachteil dass mehr von ihnen die Möglichkeit haben, außer- der Menschen mit Behinderung, begrenzt werden. halb von Werkstätten für behinderte Menschen ih- Bei der Pflegeversicherung geht man bereits andere ren Lebensunterhalt im allgemeinen Arbeitsmarkt Wege: Hier haben Leistungsanbieter, sofern sie be- erarbeiten zu können. Dabei werden wir auch prü- stimmte Qualitätsvorgaben erfüllen, einen Anspruch auf fen, wie die Eingliederungszuschüsse an Arbeitge- Zulassung zur Leistungserbringung. Die FDP fordert ber ausgestaltet werden, um die Planungssicherheit deshalb die Bundesregierung auf, die Zulassung zur Er- für die dauerhafte Integration von behinderten Ar- beitnehmern in neue Beschäftigung zu verbessern. bringung von Leistungen der Eingliederungshilfe offener zu gestalten. Wer gesetzlich zu definierende Qualitätskri- Meine sehr verehrten Damen und Herren der Regie- terien erfüllt und die Leistungen zu einem marktgerechten rungskoalition: Wenn Sie dieses Versprechen eingelöst Preis anbietet, muss wenigstens das Recht zugestanden

Zu Protokoll gegebene Reden 18424 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Jörg Rohde (A) bekommen, vor einer Schiedsstelle gegen eine Ablehnung nicht oder nur eingeschränkt die Möglichkeit der Teil- (C) vom Kostenträger vorzugehen. habe am Leben in der Gesellschaft. Das beginnt mit dem Lernen in einer Sonderschule, geht weiter mit der Berufs- Darüber hinaus fordern wir Liberale die Bundesregie- ausbildung in einer speziellen Einrichtung, der Arbeit in rung auf, zu überprüfen, ob die Schaffung eines An- einer Behindertenwerkstatt und endet mit dem Lebens- spruchs auf Zulassung, wie es ihn bereits jetzt im SGB XI abend in einem Heim. Verwunderlich ist, dass es noch gibt, auch bei der Eingliederungshilfe zielführend wäre. keine Sonderfriedhöfe gibt. Wunsch- und Wahlfreiheit des behinderten Menschen Nur 14 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Be- bedeutet, dass dieser sich nach Möglichkeit seinen Leis- hinderungen lernen in einer Regelschule, Tendenz abneh- tungsanbieter selbst aussuchen kann. Die Interessen des mend, EU-Quote circa 60 Prozent. 80 Prozent von ihnen Kostenträgers bleiben auch bei unserem Vorschlag, etwa verlassen die Schule ohne Abschluss, statistisch gesehen, durch Fortbestand des Mehrkostenvorbehalts, gewahrt. erreichen 0 Prozent das Abitur. Die Chance, von der Son- Leistungs- und Anbietervielfalt kann es nur mit mehr derschule den Übergang auf eine Regelschule zu schaf- Markt im Sozialmarkt geben. Dafür steht die FDP. fen, existiert so gut wie gar nicht. Inklusiv unterrichtet Ausdrücklich begrüße ich den Ansatz der Initiative der wird hauptsächlich in Grundschulen, in der Sekundar- Grünen, die Leistungsform des Persönlichen Budgets stufe nimmt die Integrationsquote deutlich ab. Der Bun- auch bei der beruflichen Teilhabe zu stärken. Immer mehr desregierung – nimmt man ihren aktuellen Bildungsbe- Menschen mit Behinderung befinden sich in der Klemme, richt zur Hand – scheint das egal zu sein. Lediglich die dass sie in der Werkstatt unterfordert und auf dem regu- Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behin- lären Arbeitsmarkt überfordert sind. Das Persönliche derter Menschen, Karin Evers-Meyer, spricht hier klare Budget kann hier ein geeignetes Instrument sein, behin- Worte: derten Menschen berufliche Teilhabe individuell nach ih- Der Weg des Aussonderns und Sortierens hat uns in ren Fähigkeiten und Unterstützungsbedarf zu ermögli- eine Sackgasse geführt. Es wird Zeit, dass dieser chen. Ich freue mich darauf, im Ausschuss detailliert den Erkenntnis endlich Taten folgen. Wir brauchen Antrag der Grünen zu beraten. Schulen für alle, in der jedes Kind individuell ge- fördert wird … Wer auf einer Sonderschule war, hat Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): später kaum noch eine Chance auf berufliche Ein- Jedes Land dieser Welt muss sich künftig in der Behin- gliederung. Im Schnitt gehen mehr als 80 Prozent dertenpolitik an der Umsetzung der am 13. Dezember dieser Kinder in eine Werkstatt für behinderte Men- 2006 in der UN-Vollversammlung verabschiedeten und schen. Die beruflichen Chancen von behinderten seit dem 3. Mai 2008 in Kraft getretenen UN-Konvention Kindern, die auf einer Regelschule unterrichtet (B) (D) über die Rechte von behinderten Menschen messen las- wurden, liegen dagegen um ein Vielfaches höher. sen. Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland, Das ist nicht nur eine unfassbare gesellschaftliche welche zwar zu den Erstunterzeichnern der Konvention Diskriminierung. Das ist volkswirtschaftlicher Un- gehörte, diese aber noch nicht ratifiziert hat. Es geht um sinn. die umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, Leider scheint Evers-Meyer die einzige in der Bundes- um Barrierefreiheit und Nachteilsausgleich. Notwendig regierung mit behindertenpolitischer Kompetenz zu sein. sind also erstens eine breite Diskussion in der Gesell- Da sie aber nur Beauftragte der Bundesregierung ist, hat schaft über die Rechte von behinderten Menschen, beste- sie nichts zu entscheiden. Eine reine Alibifunktion hende Defizite und Barrieren, zweitens die nationale Ge- braucht niemand. setzgebung, einschließlich die der Bundesländer, im Sinne der UN-Konvention zu überprüfen, zu ergänzen Ein Recht auf inklusive Bildung ist im nationalen bzw. zu ändern und drittens das dann neu geltende Recht Recht durchaus verankert: Im Grundgesetz – Art. 3 in die Praxis umzusetzen. Abs. 3; Art. 7 Abs. 1 –, im Bundesgleichstellungsgesetz und im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz. Langfristig Die vorliegenden Anträge von FDP und Bündnis 90/ muss deswegen meines Erachtens das Ziel die Etablie- Die Grünen geben uns die Möglichkeit, hier im Hohen rung einer Schule für alle sein. Das heißt mittelfristig Ab- Haus abermals darüber zu reden, machen sie doch auf be- schaffung der Sonderschulen. Wir müssen sie überflüssig stehende Probleme bei der beruflichen Teilhabe von Men- machen. Das erfordert einen pädagogischen, personalen schen mit Behinderungen aufmerksam. In diesem Zusam- und baulichen Umbau der Regelschulen. Auch andere menhang wichtige Artikel der UN-Konvention sind das Zahlen sprechen für sich: Während sich die Zahl der in Recht auf Bildung – Art. 24 – sowie auf Arbeit und Be- den Werkstätten beschäftigten Menschen mit Behinderun- schäftigung – Art. 27. Wie ist die Situation in Deutsch- gen von 1994 bis 2006 von circa 150 000 auf circa land? Der Anteil an Menschen mit Behinderungen ist mit 270 000 erhöhte, bleibt die Zahl der bei den Arbeitsäm- circa 10 Prozent ähnlich hoch wie in allen anderen Län- tern und Jobcentern als arbeitsuchend registrierten Men- dern der Erde. Es gibt körperliche Beeinträchtigungen, schen mit Behinderungen überdurchschnittlich hoch – sie mentale, sogenannte geistige, Beeinträchtigungen der haben auch laut dem letzten Arbeitsmarktbericht der Sinnesorgane sowie chronische und psychische Erkran- Bundesregierung am wenigsten von der Konjunktur pro- kungen. Es gibt Behinderungen von Geburt an, infolge fitiert. von Krankheit und Unfällen oder altersbedingte. Die Mehrzahl der Menschen mit Behinderungen in Deutsch- Wir brauchen, und dies sei auch mit Blick auf die vor- land wird zwar irgendwie versorgt und betreut, hat aber liegenden Anträge gesagt, andere Grundlagen und Rah-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18425

Dr. Ilja Seifert (A) menbedingungen für mehr Wahlfreiheit und Selbstbestim- rungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwi- (C) mung der Menschen mit Behinderungen. Wir brauchen ckeln“, Drucksache 16/7748. Dieser Antrag sowie ein einen wirklichen Nachteilsausgleich der sich am Bedarf Antrag der Fraktion Die Linke, „Gesetz zum Ausgleich ausrichtet, unabhängig von der Ursache für die Be- behinderungsbedingter Nachteile vorlegen“, Drucksa- hinderung und unabhängig von Einkommen und Vermö- che 16/3698, waren am 2. Juni 2008 Gegenstand einer gen der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Meine Frak- Anhörung im Ausschuss Arbeit und Soziales. Ohne der tion Die Linke hat mit ihrem Antrag auf Schaffung eines weiteren Diskussion im Ausschuss vorwegzugreifen, muss Nachteilsausgleichgesetzes, Drucksache 16/3698 vom man doch feststellen, dass eine überwiegende Mehrheit 30. November 2006, entsprechende Vorschläge unter- der Sachverständigen die überwiegende Mehrheit unse- breitet, und viele Sachverständige haben in der erst kürz- rer Forderungen ausdrücklich gut heißt. Die Bundesar- lich stattgefundenen Anhörung im Ausschuss für Arbeit beitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger, und Soziales die Notwendigkeit für solch ein Gesetz un- BAGüS, erklärt in ihrer schriftlichen Stellungnahme, dass terstrichen. Das schließt nicht aus – um auf den FDP-An- erste Ergebnisse zur Weiterentwicklung der Eingliede- trag noch einmal zurückzukommen – dass wir etwas für rungshilfe seitens der Länder „noch in diesem Jahr mit eine breitere Angebotsvielfalt bei der Eingliederungshilfe allen Beteiligten diskutiert werden“. Spätestens dann ist tun. Aber dies mit dem Ziel, etwas für die Betroffenen zu auch die Bundesregierung in der Bringschuld. Es liegen tun und nicht, um einen Unterbietungswettbewerb mit im- genügend vernünftige Vorschläge zu Gesetzesänderun- mer schlechteren Bedingungen und Löhnen zu forcieren. gen auf dem Tisch. Ein weiteres Ergebnis der Anhörung Das schließt auch nicht aus, die von den Grünen aufge- am 2. Juni 2008 war, dass natürlich auch der Bereich der zeigten Widersprüche und Hemmnisse im Sozialrecht auf- Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur Weiterent- zulösen, denn es geht um die Förderung von Teilhabe von wicklung der Eingliederungshilfe in das Zentrum der Be- Menschen mit Behinderungen und nicht um deren Verhin- mühungen gerückt werden muss. Dieser Teil würde im derung durch fehlende Kompatibilität der einzelnen So- Antrag der Grünen Bundestagsfraktion nur am Rande er- zialgesetzbücher und anderen gesetzlichen Regelungen. wähnt, so der Vorwurf. Auch das vielgepriesene Wundermittel Persönliches Bud- get wird seine Wirkungen nicht entfalten können, wenn Diesen Schuh ziehen wir uns gerne an. Nur in einem die Kardinalfehler bleiben: die Kopplung an die Bedürf- Punkt haben wir auf die Probleme im Zusammenhang mit tigkeit und die Begrenzung der Leistungen auf dem Ni- den Werkstätten für behinderte Menschen, WfbM, hinge- veau bisheriger Sachleistungen anstatt auf den behinde- wiesen, doch das aus gutem Grund. Schon jetzt ist unser rungsbedingten Bedarf abzustellen. Antrag zur Eingliederungshilfe mit insgesamt sechzehn Forderungen und zwölf Seiten äußerst umfangreich und Auch bei der Eingliederungshilfe zeigt sich, dass die komplex. Das Thema „Teilhabe am Arbeitsleben“ kann (B) Betroffenen selbst und ihre Interessenvertretungen aktiv da nicht in einem Abwasch mitgenommen werden. Hier- (D) einzubeziehen sind. Dazu gehören unter anderem die für bedarf es ausgewogener und überlegter Initiativen, Hinweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der überört- die einem abgestimmten Gesamtkonzept folgen müssen. lichen Träger der Sozialhilfe, BAGüS, zur praktischen Geschieht dies nicht, kommt so etwas heraus, was die Ar- Umsetzung der Empfehlungen des deutschen Vereins zur beit der Bundesregierung bzw. der Bundesagentur für Weiterentwicklung zentraler Strukturen in der Eingliede- Arbeit prägt: purer Aktionismus und die Gefahr der se- rungshilfe vom Mai dieses Jahres. quenziellen Betrachtung. Der jüngst vorgelegte Referen- tenentwurf zur unterstützten Beschäftigung sowie die Maß- Mein Fazit: Berufliche Teilhabe von Menschen mit Be- nahme „Diagnose-Arbeitsmarktfähigkeit“, DIA AM, sind hinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wäre die besten Beispiele für solch eine Politik. In dieses Horn eine von vielen Maßnahmen auf dem Weg zur vollen Teil- bläst nun auch der Antrag der FDP „Wettbewerb in der habe in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die UN-Kon- Eingliederungshilfe stärken – …“, Drucksache 16/9451. vention gibt das Ziel vor. Wir haben noch lange Strecken Es steht außer Frage, dass die Inanspruchnahme ambu- zurückzulegen. lanter Leistungen in der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch oft an der nicht ausrei- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chend vorhandenen Angebotsvielfalt ambulanter Dienste Die Eingliederungshilfe hat es bislang nicht vermocht, scheitert. Die fehlenden Angebotsstrukturen wurden auch den Bedürfnissen nach mehr Selbstständigkeit und ganz klar von den Sachverständigen am 2. Juni kritisiert. Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen Ebenso sollte außer Frage stehen, dass auch private Trä- nachzukommen. Das System der Hilfen in seiner jetzigen ger Leistungen anbieten sollen, sofern die Qualität Form wird den Lebenswirklichkeiten längst nicht immer stimmt. gerecht und schöpft auch die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu Verwirklichung eines eigenständigen Jetzt hier aber mit einem Antrag „aufzukreuzen“, der Lebens nicht aus. Eine Unterstützungslandschaft mit ei- diese hochkomplexe Thematik auf die Ausführungen ei- ner Vielfalt unabhängiger Leistungsanbieter steckt noch nes einzigen Vorschlages beschränkt, ist politisches Ha- in den Kinderschuhen. rakiri. Die FDP hat die Debatte um die Eingliederungs- hilfe verschlafen. Wahrscheinlich hat sie sich sogar nie Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen richtig dafür interessiert. Anders ist auch nicht zu erklä- hat im Januar dieses Jahres einen umfassenden Antrag ren, welch unterschiedliche Töne von dieser Fraktion zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in den kommen. Erst im Mai des vergangenen Jahres wollte die Bundestag eingebracht mit dem Titel: „Die Eingliede- FDP in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung,

Zu Protokoll gegebene Reden 18426 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

Markus Kurth (A) Drucksache 16/5347, wissen, warum die Leistungen der Bündnis 90/Die Grünen schon in dem Antrag zur Einglie- (C) Eingliederungshilfe nicht vergaberechtlich ausgeschrie- derungshilfe entsprechende Forderungen aufgenommen. ben würden. Nur so könne ein Wettbewerb unter den Leis- Damit dieses Wunsch- und Wahlrecht nun auch für den tungserbringern um die effizienteste und wirtschaftlichste Bereich der beruflichen Teilhabe gilt, fordern wir die Dienstleistung entstehen. Bundesregierung in dem aktuellen Antrag „Persönliche Budgets für berufliche Teilhabe jetzt ermöglichen!“, Eine vergaberechtliche Ausschreibung in diesem Fall Drucksache 16/9753, auf, die Schwierigkeiten bei der In- schränkt aber gerade die Anzahl der Anbieter ein. Am anspruchnahme des Persönlichen Budgets zu beheben. Ende wird ein Anbieter vom Sozialhilfeträger ausgewählt, Denn es steht doch außer Frage: Nimmt man Selbstbe- der womöglich aus Kostengründen einfach der billigste stimmung, Wunsch- und Wahlrecht wirklich ernst, so wäre. Die Qualität bliebe auf der Strecke. Außerdem würde muss den Menschen mit Behinderungen die Leistung di- das, was die FDP in ihrem jetzigen Antrag fordert – die rekt zukommen. Nur so können sie selbst entscheiden, Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Menschen mit welche Hilfe sie sich davon einkaufen. Das Persönliche Behinderung –, auf der Strecke bleiben. Budget stellt das zentrale Instrument hierfür dar. Eine konsequente personenbezogene Sozialpolitik ist zudem Die Anhörung am 2. Juni zur Eingliederungshilfe hat der größte Garant dafür, auch Wettbewerb unter den hingegen ganz viele Hinweise gegeben, wie man zu einer Leistungserbringern zu erzeugen. Der oder die Einzelne größeren Angebotsvielfalt kommen könnte. So gibt es die achtet stärker auf Kosten und Qualität. Möglichkeit, die objektive Strukturverantwortung der Re- habilitationsträger nach § 19 SGB IX – gemeinsam auf die Entwicklung der notwendigen vielfältigen Angebots- Präsident Dr. Norbert Lammert: strukturen hinzuwirken – auch aufsichtsrechtlich durch- Es wird Überweisung der Vorlagen auf Druck- zusetzen. Ein weiterer Vorschlag ist, die Transparenz des sachen 16/9451 und 16/9753 an die in der Tagesordnung Leistungsangebotes zu erhöhen. Bisher sind Leistungsart aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine und Leistungsintensität schwer zu entschlüsseln. Möglich Einwände. Dann sind die Überweisungen so beschlos- wäre, diese einrichtungsübergreifend und überregional sen. zu beschreiben. So würden differenzierte Leistungsange- Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord- bote sichtbar und könnten individuell genutzt werden. Ein nung. Problem ist auch, dass die Grundsätze der Investitions- förderung – das heißt Zweckbindung der Gebäude, Ab- Inzwischen ist abzusehen, wer der Gegner der deut- schreibung sowie Tilgung von Darlehen – die Umsetzung schen Mannschaft am kommenden Sonntag in Wien sein ambulanter Vorhaben hemmen. Hier sollten die Förder- wird. (B) bestimmungen hinsichtlich der Angleichung der Leis- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (D) tungsformen, ambulant/stationär, geändert und frühzeitig Gut, dass da keine Plenarsitzung ist!) Klarheit zwischen Zuwendungsgeber und -nehmer getrof- fen werden. Außerdem sollten weitere Rahmenbedingun- – Bisher liegen keine Anträge auf Einberufung einer gen geschaffen werden, wie wohnortintegrierte Leistungs- Sondersitzung des Bundestages am kommenden Sonntag angebote, Beratungs- und Begegnungsmöglichkeiten, vor. barrierefreier Wohnraum, Kultur- und Freizeitangebote Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- usw., eine ganze Palette an Vorschlägen also, die mit dem destages auf morgen, Freitag, den 27. Juni 2008, um Antrag der FDP nicht leichtfertig übers Knie gebrochen 9 Uhr, ein. werden dürfen. Ich wünsche allen noch einen schönen Abend. Um das Wunsch- und Wahlrecht sowie die Selbstbe- Die Sitzung ist geschlossen. stimmung der Menschen mit Behinderungen endlich kon- sequent durchzusetzen, hat die Bundestagsfraktion von (Schluss: 22.39 Uhr) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18427

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 26.06.2008 Pronold, Florian SPD 26.06.2008

Andres, Gerd SPD 26.06.2008 Raidel, Hans CDU/CSU 26.06.2008

Barnett, Doris SPD 26.06.2008* Ramelow, Bodo DIE LINKE 26.06.2008

Bellmann, Veronika CDU/CSU 26.06.2008 Dr. Scheer, Hermann SPD 26.06.2008

Bodewig, Kurt SPD 26.06.2008 Schily, Otto SPD 26.06.2008

Dr. Däubler-Gmelin, SPD 26.06.2008* Dr. Schui, Herbert DIE LINKE 26.06.2008 Herta Seib, Marion CDU/CSU 26.06.2008 Deittert, Hubert CDU/CSU 26.06.2008* Stöckel, Rolf SPD 26.06.2008 Dörmann, Martin SPD 26.06.2008

* Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 26.06.2008* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Land), Axel E.

Gerster, Martin SPD 26.06.2008

(B) Goldmann, Hans- FDP 26.06.2008 Anlage 2 (D) Michael Erklärung nach § 31 GO Golze, Diana DIE LINKE 26.06.2008 der Abgeordneten Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf Hänsel, Heike DIE LINKE 26.06.2008 eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzli- chen Unfallversicherung (Unfallversicherungs- * Haibach, Holger CDU/CSU 26.06.2008 modernisierungsgesetz – UVMG) (Tagesord- nungspunkt 10 a) Hintze, Peter CDU/CSU 26.06.2008 Ich kann dem Unfallversicherungsmodernisierungs- * Hörster, Joachim CDU/CSU 26.06.2008 gesetz nicht zustimmen. Die mit dem UVMG beabsich- tigte Organisationsreform einschließlich der völligen Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 26.06.2008 Neustrukturierung des bestehenden Lastenausgleichs DIE GRÜNEN geht zwar grundsätzlich in die richtige Richtung, berück- Ibrügger, Lothar SPD 26.06.2008 sichtigt aber letztlich nicht in ausreichendem Maße die berechtigten Interessen der gewerblichen Wirtschaft, die Dr. Keskin, Hakki DIE LINKE 26.06.2008* dieses System allein und ausschließlich finanziert. Es ist zwar zu begrüßen, dass auf Initiative der CDU/CSU im Koczy, Ute BÜNDNIS 90/ 26.06.2008 Rahmen der Beratungen noch zahlreiche Verbesserun- DIE GRÜNEN gen zugunsten der betroffenen Unternehmen erreicht werden konnten, gleichwohl reichen diese allein nicht Korte, Jan DIE LINKE 26.06.2008 aus, die bestehenden Bedenken auszuräumen.

Lafontaine, Oskar DIE LINKE 26.06.2008 Die Wirkungsweise und Zielgenauigkeit des geplan- ten Verteilungsschlüssels von 70 : 30 ist zwar aus Sicht Lips, Patricia CDU/CSU 26.06.2008 der besonders vom Strukturwandel betroffenen Bran- chen verständlich, belastet aber über Gebühr andere Müntefering, Franz SPD 26.06.2008 Branchen. Auch lassen Berechnungen der Wirkungs- weise dieses Verteilungsschlüssels Verwerfungen erken- Nitzsche, Henry fraktionslos 26.06.2008 nen, die nicht hinnehmbar sind. 18428 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Ebenso ist die geplante Freibetragsregelung für Klein- del werden unsere Gesellschaft daher in nicht allzu kur- (C) unternehmen unzureichend. Es ist zutreffend, dass eine zer Zeit spürbar verändern. Vielzahl von Kleinunternehmen der bisher ausgleichsbe- rechtigten Berufsgenossenschaften eine Entlastung er- Zugleich geht mit dem Bevölkerungsrückgang auch fahren, Kleinunternehmen der bisher ausgleichspflichti- die bisherige bewährte Alterssicherungsstruktur verlo- gen Berufsgenossenschaften werden aber wegen der ren. Infolge der demografischen Entwicklung steht im- einschränkenden Regelung des Freibeträges belastet wer- mer weniger Beitragszahlern eine stetig steigende Zahl den. Umfang und Auswirkungen dazu sind nur unzurei- an Beziehern von Altersversorgung gegenüber. Dass chend geprüft worden. Es fehlt zudem die klare politische diese wenigen die zu zahlenden Beiträge, insbesondere Absichtserklärung, auch die Unternehmen in den Lasten- die der Alterssicherung, nicht mehr allein tragen können, ausgleich einzubeziehen, an denen die öffentliche Hand leuchtet mittlerweile jedem ein. Deshalb erfordert diese zum überwiegenden Teil beteiligt ist und die sich am für alle Gruppen schwierige Situation Einschnitte in Markt auch dem Wettbewerb stellen, aber bisher, durch zahlreichen Bereichen. die Zugehörigkeit zu den Unfallkassen des Bundes oder So hat im Bereich der Alterssicherung jede Gruppe der Unfallkassen der öffentlichen Hand, an diesem soli- und damit auch jedes Mitglied dieser Gruppe einen sys- darischen Lastenausgleich der gewerblichen Wirtschaft temgerechten Beitrag zur Sicherung und Aufrechterhal- nicht beteiligt sind. tung des jeweiligen Alterssicherungssystems zu leisten. Konsequent abzulehnen ist die künftige Durchfüh- Dies gilt zunächst für alle Bürgerinnen und Bürger, die rung des neuen Überaltlastenausgleichs durch das Bun- in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert desversicherungsamt auf Kosten der Unternehmen. Wie sind. Sie haben in der Vergangenheit bereits spürbare auch in der Vergangenheit hätte die Selbstverwaltung, Leistungseinschränkungen und Belastungen hinnehmen die zudem die Grundstruktur des neuen Lastenausgleichs müssen. entwickelt hat, wegen der Sachnähe diese Aufgabe auch Gleiches gilt auch für die Beamtinnen und Beamten weiter erledigen können. Die Hereinnahme zusätzlicher des Bundes, der Länder und Gemeinden, die durch die Belastungen aus dem Bereich Bergbau in den neuen wirkungsgleiche Übertragung der Kürzungen auf die Be- Überaltlastenausgleich ist zwar aus Sicht der betroffenen amtenversorgung ebenso finanzielle Einbußen erfahren Berufsgenossenschaft und der ihr angehörenden Unter- haben. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zu- nehmen verständlich, hier hätten aber politische Lösun- sammenhang darauf hingewiesen, dass die Grenze des gen gefunden werden müssen, die zu keiner einseitigen Zumutbaren bei den Beamtenpensionen nahezu erreicht Belastung der gewerblichen Wirtschaft führen. ist. (B) Nicht hinnehmbar ist die geplante Ausgestaltung der Den zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes erfor- (D) unternehmerischen Meldepflichten zur künftigen UV-Be- derlichen Sparmaßnahmen will sich aber auch die triebsprüfung. Neben der Erweiterung der künftigen oberste politische Leitungsebene des Bundes nicht ver- DEÜV-Meldungen ist insbesondere die individualisierte schließen. Dass auch sie zu Einsparungen bereit ist, zeigt Angabe der geleisteten Arbeitsstunden praxisfern und der dem Deutschen Bundestag vorliegende Entwurf ei- bedeutet neue bürokratische Belastungen. Hier hätte im nes Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesminister- Sinne der Zielsetzung des Zweiten Mittelstandsentlas- gesetzes, über den wir heute in zweiter und dritter Le- tungsgesetzes ein Verfahren gefunden werden müssen, sung beraten. das für die Unternehmen zu einer bürokratischen Entlas- tung führt und nicht die Gefahr des Gegenteils bewirkt. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass die Bundesre- Aufgrund der Komplexität der Probleme im Rahmen der gierung nicht erst mit dem vorliegenden Gesetzentwurf Umstellung des Meldeverfahrens hätte hier im Zweifel zur Stabilisierung des Haushaltes beiträgt, sondern bereits eine Zurückstellung der Umstellung bis zur Klärung der in der Vergangenheit mehrfach Sparbeiträge erbracht und damit verbundenen offenen Fragen – wie vom Bundesrat auf allgemeine Einkommenserhöhungen verzichtet hat, gefordert – erfolgen müssen. so zuletzt im Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes 2006 mit der vollständigen Abschaffung der jährlichen Sonder- zahlung, des Weihnachtsgeldes. Anlage 3 Weitere finanzielle Sparbeiträge erbringt die oberste Zu Protokoll gegebene Reden Leitungsebene nun mit dem uns vorliegenden Entwurf. Dieser sieht Einschnitte in die Versorgung sowohl der zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset- Bundesminister als auch, durch entsprechende Verweise, zes zur Änderung des Bundesministergesetzes der Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Staatsse- (Tagesordnungspunkt 14) kretäre vor. Im Wesentlichen sieht der Entwurf folgende Ände- Ralf Göbel (CDU/CSU): Die Gesellschaft befindet rungen vor: sich im Umbruch. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird bis zum Jahr 2050 die Bevölkerung in Erstens. Anhebung der Altersgrenze für den Bezug Deutschland um rund sieben Millionen Menschen auf von Ruhegehalt von derzeit 55 Jahren bzw. 60 Jahren auf dann insgesamt 75 Millionen schrumpfen. Die demogra- die für Beamte geltende Regelaltersgrenze sowie die fische Entwicklung und der fortschreitende Strukturwan- Möglichkeit, ab Vollendung des 55. Lebensjahres vor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18429

(A) zeitig Ruhegehalt, allerdings unter Hinnahme von Ab- dritter Lesung nach intensiven koalitionsinternen Bera- (C) schlägen, in Anspruch zu nehmen. tungen abschließend Änderungen des Ministergesetzes. Im Kern setzen wir auch für die Mitglieder der Bundes- Zweitens. Heraufsetzung der Mindestamtszeit für den regierung ein höheres Pensionsalter, Element des im Bezug von Ruhegehalt von zwei auf vier Jahre. November letzten Jahres veränderten Rechtes der Abge- Drittens. Nachversicherung in der gesetzlichen Ren- ordnetenentschädigung, um. Schließlich ist es nach sorg- tenversicherung bei einem Ausscheiden ohne Anspruch fältiger Abwägung unser Anliegen, die Versorgung der auf Ruhegehalt. Mitglieder der demokratisch legitimierten letzten DDR- Regierung in das Ministergesetz einzubeziehen. Viertens. Reduzierung der Bezugsdauer von Über- gangsgeld von maximal drei Jahren auf dann maximal Mit dem Gesetzentwurf soll grundsätzlich die Regel- zwei Jahre. altersgrenze für Beamte – künftig 67 Jahre – auf die Ver- sorgung der Bundesminister übertragen werden. Wäh- Fünftens. Erweiterung der Ruhensregelung für die rend bei Beamten der vorzeitige Ruhestand mit Anrechnung von Erwerbs- und Erwerbsersatzkommen Vollendung des 63. Lebensjahres möglich ist, sollen die sowie Rentenzahlungen entsprechend den Regelungen Bundesminister die Versorgung bereits mit Vollendung im Beamtenversorgungsrecht. des 60. Lebensjahres, also sieben Jahre früher, in An- Die Regelungen sollen dabei auch schon für die Mit- spruch nehmen können. Da für jedes Jahr vorzeitigen Be- glieder der jetzigen Bundesregierung gelten. Allerdings zugs ein Abschlag von 3,6 Prozent von der Versorgung sieht eine Übergangsregelung vor, dass durch zurücklie- abgezogen wird, würde sich ein maximaler Versorgungs- gende Amtszeiten bereits erworbene Anwartschaften auf abschlag von sieben mal 3,6 Prozent, also 25,2 Prozent Ruhegehalt ungemindert fortbestehen. Private Erwerbs- ergeben. Um dies zu vermeiden, wird die Minderung auf einkommen und Renten werden aber auch für die jetzi- 14,4 Prozent begrenzt. Das entspricht dem höchstmögli- gen Mitglieder der Bundesregierung, die bereits einer chen Abschlag in der Beamtenversorgung. früheren Bundesregierung angehörten, angerechnet. Die Mindestamtszeit für den Bezug von Ruhegehalt Daneben enthält der Gesetzentwurf auch Regelungen, wird von zwei auf vier Jahre heraufgesetzt, umfasst somit die die Mitglieder des letzten Ministerrates der ehemali- eine ganze Wahlperiode. Sollte das Amtsverhältnis der gen Deutschen Demokratischen Republik, die aufgrund Bundeskanzlerin enden oder der Bundestag vorzeitig auf- der ersten und gleichzeitig letzten freien Wahlen in der gelöst werden, gilt dies wiederum nicht. Allerdings soll ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in ihr ergänzend geregelt werden, dass bei der Mindestamtszeit Amt kamen, betreffen. Diese haben die demokratische auch Zeiten vorangegangener Mitgliedschaften in einer Landesregierung berücksichtigt werden, wenn diese zu (B) Umgestaltung der Gesellschaft gestaltet und zur Herstel- (D) lung der Einheit Deutschlands maßgeblich beigetragen. keinem Anspruch auf Versorgung nach Landesrecht ge- Sie hatten Anteil an der historischen Leistung, die für die führt haben. Doch bleibt der geltende Ruhegehaltssatz politische, wirtschaftliche und soziale Vorbereitung des von 27,74 Prozent nach einer Amtszeit von vier Jahren 3. Oktober 1990 notwendig waren. Diese historisch ein- unverändert. Konsequenterweise muss im Ministergesetz malige Aufgabe wurde bis heute in keiner Weise ange- die Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversi- messen berücksichtigt. So besitzen sie auch nach fast cherung für den Fall geregelt werden, dass ein Mitglied 18 Jahren Deutscher Einheit keine ihrem Amt und ihrer der Bundesregierung ohne Ruhegehaltsanspruch aus- historischen Rolle entsprechenden Altersversorgungsan- scheidet. Die maximale Bezugsdauer des Übergangsgel- sprüche. Und dies, obwohl nur wenige im Anschluss an des wird von drei auf zwei Jahre verkürzt. ihr Amt eine Zukunft in der Politik oder im öffentlichen Zu guter Letzt werden die sogenannten Ruhensrege- Dienst fanden und nun auf eine Mindestversorgung an- lungen erweitert. Das bedeutet, dass Erwerbs- und Er- gewiesen sind. werbsersatzeinkommen nicht nur auf das Übergangs- Dem soll nun abgeholfen werden. Nach dem Entwurf geld, sondern auch auf das Ruhegehalt angerechnet wird. werden die Mitglieder der Übergangsregierung erstmals Ebenso werden Rentenzahlungen auf das Übergangsgeld in das System der Ministerversorgung einbezogen. Nach und das Ruhegehalt angerechnet.Soweit zu den wesentli- Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfes erhalten die Mitglie- chen Änderungen der bereits heute im Bundesminister- der des Ministerrates der ehemaligen Deutschen Demo- gesetz normierten strukturellen Elemente. kratischen Republik unter Ministerpräsident a. D., Dr. Nun zum Thema der versorgungsrechtlichen Behand- Lothar de Maizière, die diesem ab dem 12. April 1990 lung der letzten und einzigen durch demokratische Wah- angehört haben, ab dem 55. Lebensjahr 5 Prozent der len legitimierten Regierung der ehemaligen DDR. Ist es Amtsbezüge eines Bundesministers. im Ergebnis recht und billig, dass ihren Mitgliedern ein Im Ergebnis stellt das Gesetz einen weiteren Beitrag Ruhegehaltsanspruch verwehrt, den Mitgliedern des Deut- zur Konsolidierung der staatlichen Finanzen dar, an der schen Bundestages hingegen, die zuvor der ersten demo- sich das Kabinett als oberste Leitungsebene der Bundes- kratisch gewählten ehemaligen Volkskammer angehör- republik Deutschland ebenso beteiligt wie die Bürgerin- ten, diese Mitgliedszeit wie eine Mitgliedszeit im nen und Bürger unseres Landes. Deutschen Bundestag angerechnet wird? Unstreitig waren die ersten, aber auch letzten freien Siegmund Ehrmann (SPD): Im November 2007 ins Wahlen zur Volkskammer der Höhepunkt der friedlichen Plenum eingebracht, beraten wir heute in zweiter und Revolution durch die Menschen der ehemaligen DDR. 18430 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Es ist mehr als angemessen, auch die besondere Stellung Bundestag über die Erhöhung der Abgeordnetendiäten (C) der dabei gewählten Abgeordneten als Mitglieder eines beraten. Die massive Kritik der parlamentarischen Op- demokratisch legitimierten Verfassungsorganes, dem position sowie der Öffentlichkeit hat die Koalitionsfrak- überdies die herausragende und historisch außergewöhn- tionen schließlich dazu bewogen, von ihren Ursprungs- liche Aufgabe oblag, den eigenen Staat abzuwickeln und plänen Abstand zu nehmen. Immer dann, wenn sich die damit die Voraussetzung für ein geeintes Deutschland zu Abgeordneten mit ihren eigenen Rechtsverhältnissen be- schaffen, durch eine Mindestabsicherung zu würdigen. fassen, steht automatisch der Vorwurf der Selbstbedie- Verglichen damit ist es nicht angemessen, dass die Mit- nung im Raum. Dieser Umstand ist jedoch zentraler Be- glieder der von dieser frei gewählten Volkskammer beru- standteil des Systems. Aus diesem Grund wirbt die FDP- fenen DDR-Regierung keine dem Amt angemessene Bundestagsfraktion seit Jahren für einen Systemwechsel Mindestversorgung erwerben. bei der Entschädigung von Politkern. Der Gesetzentwurf trägt dieser Bewertung Rechnung. In der Regel befassen wir uns im Deutschen Bundes- Abweichend hierzu beantragen die Koalitionsfraktionen tag mit einer Erhöhung oder einer Anpassung der Ver- mit dem vorliegenden Änderungsantrag, den bisher vor- sorgungsleistungen für Abgeordnete. Es ist daher grund- gesehenen Ruhegehaltssatz von 7 Prozent der Bezüge auf sätzlich anzuerkennen, dass die Bundesregierung mit 5 Prozent zu senken. Die zugrunde liegenden Bezüge der ihrem Gesetzentwurf für ein Drittes Gesetz zur Änderung Bundesminister sind ihrerseits – auch das darf ich hier des Bundesministergesetzes Regelungen vorschlägt, die einmal bemerken – mehrfach von der allgemeinen Ein- im Ergebnis zu Kürzungen bei der Ministerversorgung kommensentwicklung der Beamtinnen und Beamten ab- führen. Der Gesetzentwurf bemüht sich, die Einschnitte gekoppelt worden. Das bedeutet, dass dem Ministerpräsi- und Änderungen, die Arbeiter, Angestellte und Beamte denten circa 800 Euro und den Ministern circa 650 Euro in jüngster Zeit bei der Altersversorgung erfahren haben, im Monat zustehen. Die Anrechnungsregelungen des Mi- auch für Bundesminister nachzuvollziehen. Dazu gehört nistergesetzes, abgesehen von privaten Erwerbseinkom- beispielsweise die schrittweise Anhebung der Regelal- men, gelten auch für die Mitglieder des letzten Minister- tersgrenze auf 67 Jahre, die Heraufsetzung der Mindest- rates. Bei einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst ruhen die amtszeit für den Bezug von Ruhegehalt auf vier Jahre Ruhegehaltsansprüche nach den allgemeinen Regeln des sowie die Kürzung der maximalen Dauer des Bezuges Bundesministergesetzes gegebenenfalls vollständig. Bei von Übergangsgeld auf zwei Jahre – soweit so gut. Ein Abgeordneten des Deutschen Bundestages richtet sich näherer Blick auf den Gesetzentwurf zeigt jedoch, dass die Anrechnung nach § 29 des Abgeordnetengesetzes der Gesetzeszweck durch zahlreiche Ausnahmetatbe- stände in vielen Fällen vereitelt wird. So bleiben die Mit- Intensiv haben wir uns damit auseinandergesetzt, ob glieder der derzeitigen Bundesregierung von den Kür- (B) und in welchem Umfange ebenfalls die Staatssekretäre zungen in dem Gesetzentwurf weitgehend verschont. (D) der letzten DDR-Regierung in diese Modifikation einbe- Von der Neuregelung werden alle Minister ausgenom- zogen werden können, was der Regierungsentwurf nicht men, die bereits vor dem Regierungswechsel im Novem- vorsieht. Hierzu ist anzumerken, dass die Staatssekretäre ber 2005 im Amt waren. Darüber hinaus werden ehema- in Deutschland seit jeher ihr Amt im Regelfall im Beam- lige Mitglieder einer Landesregierung so behandelt, als tenstatus wahrnehmen und damit dem Beamtenversor- wären sie die gesamte Zeit Mitglied der Bundesregie- gungsrecht unterfallen. In seltenen Ausnahmefällen wer- rung gewesen. Damit ist auch an die Bundesminister de den sie außertariflich als Angestellte beschäftigt. In beiden Maiziere, Schavan und von der Leyen gedacht. Ich will Fällen stehen sie aber nicht in einem öffentlich-rechtlichen keineswegs bestreiten, dass Regelungen zum Vertrau- Amtsverhältnis wie Minister. Dies gilt lediglich für die ensschutz notwendig und rechtlich geboten sein können. 1966 auf Bundesebene eingeführten Parlamentarischen Wenn der Bundesregierung aber daran gelegen ist, die Staatssekretäre, die grundsätzlich Bundestagsabgeordnete Einschnitte, die den Bürgerinnen und Bürgern in den sind und Mitgliedern der Bundesregierung beigegeben letzten Jahren zugemutet wurden, auf sich selbst zu werden können, aber nicht müssen. Ein derartiges Amt übertragen, hätte ich mir durchaus mutigere Schritte vor- sah das Recht der ehemaligen DDR nicht vor, obwohl die stellen können. Auch bei der Regelung über die Früh- Funktion von Staatssekretären auch von Volkskammerab- pensionierung gelingt die Gleichstellung an Beamte geordneten wahrgenommen wurde. Ich persönlich bin der nicht. Während Bundesbeamte erst ab dem 63. Lebens- Auffassung, dass wir dieses Thema weiterhin intensiv un- jahr die Möglichkeit der Frühpensionierung haben, soll tersuchen sollten, wobei hier in besonderer Weise aber dies für Mitglieder der Bundesregierung bereits ab dem eventuelle Folgerungen für die Angehörigen der ehema- 60. Lebensjahr gelten. ligen DDR-Sonderversorgungssysteme zu bedenken sind und die Grundentscheidungen des Einigungsvertrags Im Zentrum der Diskussion der vergangenen Monate nicht ohne Not infrage gestellt werden dürfen. stand die sogenannte Ehrenpension für die Mitglieder der letzten frei gewählten DDR-Regierung de Maizière. Für meine Fraktion empfehle ich, dem Gesetzentwurf Das Ruhegehalt ist gedacht als Anerkennung für den und dem vorliegenden Änderungsantrag zuzustimmen, Einsatz der Regierung de Maizière beim demokratischen wie vom Innenausschuss mehrheitlich empfohlen. Neuanfang nach der Wende 1989. Mit der Bundesregie- rung ist die FDP-Bundestagsfraktion der Auffassung, Dr. Max Stadler (FDP): Der Gesetzgeber tut sich be- dass die Arbeit der letzten DDR-Regierung zu würdigen kanntlich schwer, wenn er in eigener Sache zu entschei- ist und ihr Beitrag für die parlamentarische Demokratie den hat. Erst vor wenigen Wochen hat der Deutsche dauerhaft Bestand haben wird. Dennoch ist es den Bür- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18431

(A) gerinnen und Bürgern nur schwer vermittelbar, wenn der zügen der Bundesminister angelehnte Pension von aktu- (C) ehemalige Ministerpräsident und seine Minister auf- ell 650 bis 800 Euro erhalten. Diese Großzügigkeit steht grund einer Amtszeit von nur wenigen Monaten nach in keinem Verhältnis zu der Knauserigkeit, die sie bei dem 55. Lebensjahr Anspruch auf eine Pension in Höhe der Gestaltung der Opferrente an den Tag gelegt haben. von rund 800 Euro bzw. 650 Euro haben. In welchem So äußert sich die Gemeinschaft der ehemaligen politi- Verhältnis steht dies zu der Rente, die Arbeitnehmerin- schen Häftlinge für uns nachvollziehbar in einem Schrei- nen und Arbeitnehmern zusteht, nachdem sie mehrere ben, das den meisten Abgeordneten vorliegen dürfte: Jahrzehnte in die gesetzliche Rentenkasse einbezahlt ha- „Nicht nur uns als älteste und größte Vereinigung der ben? Hier liegt es allein in der Verantwortung der Bun- Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft fällt es desregierung, den Bürgerinnen und Bürgern diese Rege- schwer, Verständnis für eine solche Ehrung aufzubrin- lung zu vermitteln. Ein gutes Gefühl scheint die gen. Unsere Mitglieder können beim besten Willen nicht Bundesregierung bei dieser Regelung wohl auch nicht die großen Verdienste sehen, die hier geehrt werden sol- gehabt zu haben. Schließlich haben die Koalitionsfrak- len. … Das ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die ihre tionen kurz vor der Abstimmung noch einen Änderungs- Freiheit, Gesundheit – und manchmal auch das Leben – antrag präsentiert, mit dem der Ruhegehaltssatz von ur- für die Durchsetzung der Demokratie in unserem Land sprünglich 7 Prozent auf 5 Prozent der Bezüge abgesenkt geopfert haben. Soweit sie diese Versorgungsleistung als wird. Würdigung für die historisch einmalige Aufgabe der Herstellung der deutschen Einheit verstanden wissen So begrüßenswert der Ansatz des Gesetzentwurfes wollen, gebietet die historische Wahrheit den Hinweis, insgesamt auch ist, so bedauerlich ist, dass die Bundesre- dass nicht nur die Mitglieder letzten DDR-Regierung gierung nicht den Mut zu einer grundlegenden Reform sich diesbezüglich Verdienste erworben haben. Vielmehr des Bundesministergesetzes gefunden hat. Elf Jahre nach hat den Grundstein dafür – und dies ist zu anderen Zei- der letzten Änderung des Gesetzes wäre die Zeit dafür ten von führenden Politikern aus Parteien aller anderen reif gewesen. Gerade bei den Anrechnungsvorschriften Fraktionen dieses Hauses durch Zitate belegbar aner- von Versorgungsbezügen gibt es, gerade auch aus jüngs- kannt worden – die Regierung von Hans Modrow gelegt. ter Zeit, Fälle, die einer intensiveren Diskussion bedurft Wenn also die Herstellung der Einheit Deutschlands ei- hätten. Nicht in allen Fällen kann eine Doppelversor- nen Anspruch auf Altersversorgung nach diesem Gesetz gung tatsächlich vermieden werden. So hat zum Beispiel begründen soll, dann müsste dies auch für die Mitglieder das Verwaltungsgericht Kassel in einer Entscheidung dieser Modrow-Regierung gelten. vom April diesen Jahres darauf hingewiesen, dass das geltende Recht keine Vorschriften für die Anrechnung Weiter halten wir auch die Art und Weise für bedenk- von Ruhegehältern kennt, wenn jemand erst in der Kom- lich, wie die Einbeziehung der – ich zitiere – „einzig frei (B) mune und dann im Bundestag tätig gewesen ist. Es wäre gewählten Regierung“ der DDR erfolgen soll, der die (D) wünschenswert gewesen, wenn die Bundesregierung Bundesregierung immerhin bescheinigt, zügig und verant- auch solche Fälle bei der Ausgestaltung ihres Entwurfs wortungsvoll gehandelt zu haben: Nur Ministerpräsident im Blick gehabt hätte. und Minister erhalten ein Ruhegehalt. Staatssekretäre wer- Trotz einiger positiver Ansätze bei der Reform der den nicht berücksichtigt. Hinter dieser Diskriminierung Ministerversorgung wird sich die FDP-Bundestagsfrak- steht nicht Respekt vor einer historischen Leistung, son- tion bei der Abstimmung enthalten. dern eine kleinliche Siegermentalität, die den deutschen Einigungsprozess von Anfang an in vielen Bereichen ver- dorben hat und zum Anschluss verkommen ließ. Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): An- gesichts der in diesem Hause beschlossenen Heraufset- Einen besonders üblen Nachgeschmack hinterlässt zung des Rentenalters für Angestellte und Beamte ist der § 21 Abs. 3, letzter Satz. Die Linke hält es für selbstver- Schritt, die Alterssicherungssysteme der Minister denen ständlich, dass Berechtigte, die gegen die Grundsätze der der Beamten dem Grunde nach anzugleichen, folgerich- Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder tig. Aber folgerichtig muss nicht immer folglich richtig in schwerwiegendem Maße die Stellung zum eigenen bedeuten. Für eine grundlegende Reform mit dem Ziel Vorteil oder Nachteil anderer missbraucht haben, nicht einer nachhaltigen Stärkung der Alterssicherungssys- in den Genuss einer so gut ausgestatteten Ruhegehaltsre- teme, durch Einbeziehung der Bundesminister wie auch gelung kommen sollen. Aber wieso unterstellt der Ge- aller Beamter in die gesetzliche Rentenversicherung, setzentwurf ein solches Verhalten eigentlich ausgerech- fehlt es leider in diesem Haus an den notwendigen Mehr- net den Ministern und Ministerinnen der letzten DDR- heiten. Insoweit stimmen wir notgedrungen den einzel- Regierung? Doch wohl kaum weil Günter Krause, nach- nen Regelungen, die eine Besserstellung der Bundesmi- dem er Minister der Bundesregierung wurde, wegen Un- nister gegenüber den Beamten und Beamtinnen treue, Betrug und Steuerhinterziehung zurücktreten beseitigen wollen, zu. Damit enden aber die Überein- musste? So viel Arroganz steht uns Westlern, zu denen stimmungen. Die Art und Weise, wie sie die Mitglieder ich mich ja zählen darf, nicht an. Oder meinen wir, dies- des letzten Ministerrats der ehemaligen DDR in die Mi- bezüglich eine blütenweiße Weste vorweisen zu können? nisterversorgung einbeziehen wollen, stößt nur noch auf Wollen wir etwa vergessen, dass es ein Mann wie Hans unser Unverständnis und wird in weiten Teilen der Be- Globke, immerhin Kommentator der Nürnberger Rasse- völkerung nur das Vorurteil der Selbstbedienungsmenta- gesetze, bis in Adenauers Kanzleramt geschafft hat? Und lität bedienen. Für maximal 174 Tage Amtszeit werden das ist nur ein Beispiel für eine alles andere als ge- die Anspruchsberechtigten eine dynamische, an den Be- glückte Aufarbeitung einer Vergangenheit, in der gegen 18432 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit ter und Vollzeit Regierungsmitglied sein. Die derzeit (C) in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß verstoßen gültigen Anrechnungen sind viel zu niedrig. wurde. Auch hier hat den Verfassern des Textes offen- sichtlich jedes Fingerspitzengefühl gefehlt. In der Kon- Wir werden uns enthalten, weil Sie zwar einiges rich- sequenz bleibt mir daher nur die abschließende Feststel- tig machen, aber insgesamt nicht den Mut haben, die lung: Die Fraktion die Linke lehnt den vorliegenden doppelte Altersversorgung von Regierungsmitgliedern Gesetzentwurf ab. wirklich zu reformieren.

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Anlage 4 NEN): Die Große Koalition hat über ein Jahr gebraucht, das immer wieder öffentlich angekündigte Ministerge- Zu Protokoll gegebene Rede setz auch tatsächlich vorzulegen. Erst durch unseren An- trag, einen Bericht über den Stand der Beratungen nach zur Beratung des Antrags: Mehr deutsche und § 62 Abs. 2 zum Bundesministergesetz im Plenum auf- internationale Unterstützung für den Wieder- zusetzen, haben Sie das vergessene Gesetz aus den Schub- aufbauprozess im Irak (Tagesordnungspunkt 15) laden geholt. Nach Ihrem peinlichen Versuch, die Abge- ordnetendiäten im Doppelpack zu erhöhen, erklärte die Niels Annen (SPD) Der uns hier zur Beratung vor- Bundeskanzlerin, dass auch die Regierungsmitglieder liegende FDP-Antrag analysiert eingangs durchaus rich- keine Übertragung des Tarifabschlusses auf ihre Minis- tig, dass die Lage im Irak auch fünf Jahre nach dem Ein- ter- und Staatssekretärsbezüge wollen. Der Verzicht auf marsch der sogenannten Koalitionstruppen unter der Gehaltserhöhung war angesichts der berechtigten öffent- Führung der USA weiterhin hochgradig instabil ist. Die lichen Empörung unumgänglich. Zahl der Terrorangriffe ist von monatlich 1 200 auf etwa 200 gesunken. Der britische Economist titelte deshalb Sie haben mit dem jetzt zur Abstimmung stehenden sogar, der Irak „repariere sich selbst“. Die Frage ist je- Dritten Gesetz zur Änderung des Bundesministergeset- doch, wie dauerhaft dieser Erfolg ist. Denn die Situation zes einige Punkte aufgegriffen, die wir Grünen immer kann jederzeit kippen. Selbst die US-Streitkräfte und das wieder gefordert, aber bislang – auch nicht unter Rot- Pentagon zweifeln an der Nachhaltigkeit des bisher Er- Grün – durchsetzen konnten. Die Volksparteien waren reichten. Der US-Kongress forderte daher jüngst „eine sich in den vergangenen Jahren in einem Punkt immer neue Strategie“. einig: An den eigenen Privilegien wird nicht gerüttelt. Die Minister- und Staatssekretäre blieben verschont von Dies sollte uns aufhorchen lassen. Denn die Konzepte, den Reformen und Nullrunden, die es im Bereich der die in Washington spätestens seit Ende 2001 für einen (B) (D) Abgeordneten durchaus immer wieder gab. Regimewechsel im Irak entwickelt worden waren, haben die momentane Lage dort mitzuverantworten. Verstehen Die nachfolgenden von Ihnen vorgeschlagenen Ände- Sie mich nicht falsch: Ich rede die Verbrechen der Regie- rungen begrüßen wir durchaus und wir tragen sie mit: rung Saddam Husseins damit alles andere als klein. Al- Die Kürzung der Bezugsdauer des Übergangsgeldes von lein bei dem Giftgasangriff auf die nordirakische Stadt bislang maximal drei Jahren auf zwei Jahre. Die Anhe- Halabja kamen 1988 etwa 5 000 überwiegend kurdisch- bung der Altersgrenze für den Bezugsbeginn des Ruhe- stämmige Menschen ums Leben. Auch die Verfolgung gehalts. Die Heraufsetzung der Mindestamtszeit für den der politischen Opposition unter Saddam und massive Bezug von Ruhegehalt von bislang zwei Jahren auf vier Menschenrechtsverletzungen sind uns noch allzu prä- Jahre. sent. Die dafür Verantwortlichen sollten daher mit rechts- Wir sind einverstanden mit der Entscheidung, dass staatlichen Mitteln zur Rechenschaft gezogen werden. die Mitglieder des letzten Ministerrats der ehemaligen DDR, die aufgrund der ersten und gleichzeitig letzten Doch führt kaum ein Weg an der Erkenntnis vorbei, freien Wahlen in der ehemaligen Deutschen Demokrati- dass die US-Regierung vor der militärischen Interven- schen Republik in ihr Amt kamen, eine „Ehrenpension“ tion im Irak wichtige Hinweise und Warnungen vonsei- erhalten. ten ihrer eigenen Nahost- und Militärexperten in den Wind geschlagen hat. Sie haben nicht nur die ethnischen Wir haben allerdings kein Verständnis dafür, dass die und religiösen Spannungen im Land falsch eingeschätzt. Regierungsfraktionen nicht an die Regelungen zur Al- Die USA haben auch die Bedeutung des Irak für die Sta- tersversorgung der Regierungsmitglieder insgesamt he- bilität in der Region unterschätzt. Der Iran würde heute rangehen. Nach wie vor besteht eine Doppelversorgung nicht mit derartigem Selbstbewusstsein agieren können, dort, wo ein Ruhegehalt als Kabinettsmitglied und eine wenn nicht der Irak als sein größter Widersacher am Bo- Altersentschädigung als Abgeordneter bezogen wird. Im den läge. Viele Nachbarstaaten in der Golfregion zeigen Zusammenhang mit dem Ministergesetz hätten Sie die sich darüber mit Recht ausgesprochen besorgt. Ihre Ant- überfällige Reform des § 29 Abs. 4 des Abgeordnetenge- wort darauf liegt zum einen in eigenen Aufrüstungsplä- setzes in Angriff nehmen müssen. Es bleibt dabei, dass nen. Zum anderen bemühen sich die Golfstaaten zuneh- Regierungsmitglieder zeitgleich Versorgungsansprüche mend um eine Integration des Iran. Dies drückte auch als Bundestagsabgeordnete und als Regierungsmitglieder die Einladung des Golfkooperationsrates an den Iran an- erwerben. Es ist gerade diese Kumulierung von Versor- lässlich seines letzten Gipfeltreffens aus. Die USA kön- gungsansprüchen, die der Öffentlichkeit nicht zu vermit- nen aber weder an einer regionalen Aufrüstung ein Inte- teln ist. Niemand kann gleichzeitig Vollzeit Abgeordne- resse haben noch heißen sie die Einbindung des Iran in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18433

(A) politische Gespräche am Golf gut. Ja, wie hätten sie es führungsgesetze ist ein zentraler Teil der Verfassung – ich (C) denn dann gern? Wie es also um die Konzepte und Stra- nenne hier nur die Medien und den Ölsektor – im wahrs- tegien der scheidenden US-Administration in Bezug auf ten Sinne des Wortes auf Sand gebaut. den Irak und auf die weitere Region steht, erfüllt mich angesichts dessen doch mit Sorge und Zweifel. Die Naumann-Stiftung hat – auch dies noch zu Ihrer Information – sich außerdem kürzlich auf einer Konfe- Apropos Konzepte: Die oberste Forderung der FDP in renz mit der sehr komplexen Kirkuk-Frage beschäftigt. ihrem Antrag ist ja die Entwicklung eines „Konzepts, Welche Bedeutung auch die Bundesregierung dem Nord- das definiert, welchen Beitrag Deutschland für den Wi- irak zumisst, zeigt die geplante Eröffnung eines deut- deraufbau des Iraks leisten kann“. schen Generalkonsulats in Erbil. Meine Damen und Herren Kollegen von der FDP, Auch im Bereich der Flüchtlingsproblematik ist die wenn Sie sich bei der Vorbereitung Ihres Antrags mit Bundesregierung ausgesprochen aktiv gewesen. Bundes- den zuständigen Ministerien und allen voran dem Aus- ministerin Wieczorek-Zeul hat sich dafür eingesetzt, wärtigen Amt und dem BMZ in Verbindung gesetzt hät- schnelle Hilfe für die irakischen Flüchtlinge in Syrien zu ten, dann wäre Ihrem Antrag vielleicht der Boden entzo- liefern. Darüber hinaus hat sie hohe Summen in den Wi- gen worden. Es grenzt ja schon beinahe an ein Ärgernis, deraufbaufonds für den Irak eingezahlt. Damit soll das dass Sie der Bundesregierung unterstellen, dass keine Schicksal der Binnenflüchtlinge im Irak gelindert wer- Konzepte für eine derartig wichtige Region entwickelt den. Das BMZ hat darüber hinaus Studien finanziert, wie würden. Wie ich ja eingangs dargelegt habe, waren es Syrien und Jordanien mit dem Flüchtlingsstrom umge- gerade die Strategien und Konzepte der rot-grünen Bun- hen können und wie sie bei dieser schweren Aufgabe zu desregierung, auf deren Grundlage wir eine militärische unterstützen sind. Intervention abgelehnt haben. Als wenig zielführend fand ich in diesem Zusammen- Diese Konzepte wurden selbstverständlich weiterent- hang allerdings – und auch dies muss an dieser Stelle er- wickelt und angepasst. Aber ich vermute, dass Ihnen das wähnt sein – den Vorstoß von Bundesinnenminister ohnehin bekannt ist, sodass ich diesen Teil Ihrer Forde- Schäuble und einigen Koalitionskollegen, irakische rung als rhetorische Stilblüte betrachten werde. Christen privilegiert in Deutschland aufzunehmen. Mit Recht haben Nichtregierungsorganisationen und Flücht- Umso problematischer finde ich jedoch, dass Sie so lingshilfswerke dagegen protestiert. tun, als wäre die Bundesregierung nicht bereits umfas- send am Wiederaufbau des Irak beteiligt, und das auch in Ich möchte betonen, dass ich die innerreligiöse Ge- den meisten der Bereiche, die Sie in Ihrem Antrag expli- walt im Irak aufs Schärfste verurteile. Es tut mir weh zu (B) zit ansprechen. Eine solche Verdrehung der Tatsachen sehen, wie die religiöse und kulturelle Vielfalt im Irak (D) kann doch aber weder in Ihrem noch in unserem Inte- zugrunde gerichtet wird. Es ist eine traurige Wahrheit, resse liegen. Warum sollten wir unseren westlichen Part- dass es heute im Irak auch deshalb ruhiger geworden ist, nern und den Irakern vermitteln wollen, wir täten weni- weil die religiös-ethnischen Säuberungen wohl weitge- ger als wir tun? hend abgeschlossen sind. Viele Stadtteile sind inzwi- schen rein sunnitisch oder schiitisch. Gemischtreligiöse Lassen Sie mich daher im Folgenden ein paar Bei- Wohnviertel gibt es kaum noch. Und die Minderheit der spiele für unseren Beitrag zum Wiederaufbau des Irak in nichtmuslimischen Bevölkerung gerät hierbei zwischen politischer und wirtschaftlicher Hinsicht nennen. So leis- die Fronten. Doch müssen wir uns davor hüten, unter tet das Auswärtige Amt direkt und über die politischen den Flüchtlingen positiv oder negativ zu diskriminieren. Stiftungen einen umfangreichen Beitrag zum Aufbau der Das Schicksal eines Flüchtlings ist grausam. Lassen Sie demokratischen Institutionen des Irak. Vieles davon uns deshalb auf die Ursachen dafür konzentrieren. Das muss leider in den Nachbarländern stattfinden, sodass es intellektuelle und kulturelle Ausbluten des Irak muss ge- manchmal weniger sichtbar ist, als man sich vielleicht stoppt werden. Dazu gehört auch, dass wir uns dafür ein- wünschen würde. Aber allein die Friedrich-Ebert-Stif- setzen, dass irakische Flüchtlinge zum geeigneten Zeit- tung hat innerhalb von sechs Wochen zu Beginn dieses punkt wieder in einen friedlicheren und stabileren Irak Jahres 10 000 Wahlbeobachter ausgebildet. Diese sollen zurückkehren können. ab dem Sommer – ebenfalls mit deutschen Mitteln finan- ziert – eingesetzt werden, um den gesamten Prozess hin Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, meine zu Regionalwahlen im Herbst zu beobachten. Liste mit deutschen Initiativen zum Wiederaufbau des Irak ist damit jedoch noch lange nicht zu Ende! Die FDP Und – wenn ich meine Kolleginnen und Kollegen von fordert auch einen umfangreicheren Studierendenaus- der FDP darüber informieren darf – auch die FDP-nahe tausch. Nach meinen Informationen werden derzeit vom Friedrich-Naumann-Stiftung hat sich in den letzten Jah- DAAD jährlich 100 Postgraduiertenstipendien für den ren umfassend im und für den Irak engagiert. Denn sie hat Irak finanziert. Dies ist im Vergleich mit anderen arabi- das irakische Parlament im Prozess der Verfassungsge- schen Ländern nicht nur eine hohe Anzahl von Stipen- bung unterstützt. Parallel dazu hat übrigens die Ebert- dien, sondern entspricht auch in etwa der Nachfrage. Stiftung die zivilgesellschaftliche Beteiligung an diesem Prozess sichergestellt. Als Fortführung dieses Prozesses Sicherheitstrainings in Deutschland für irakische wird die Ebert-Stiftung in Zukunft den Irakern beratend Journalisten finde ich jedoch – mit Verlaub – keine be- bei der Erarbeitung der Ausführungsgesetze zur iraki- sonders sinnvolle Idee. Experten aus diesem Bereich ha- schen Verfassung zur Seite stehen. Denn ohne diese Aus- ben mich darin bestätigt. Zum einen gibt es bereits zahl- 18434 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) reiche solcher Trainings, die von einschlägigen NGOs sche Ministerin für Menschenrechte, auch Ministerpräsi- (C) wie „Reporter ohne Grenzen“ durchgeführt werden. dent Maliki wird Ende Juli wieder in Deutschland erwar- Zum anderen – und dies wiegt schwerer – verfügen Ak- tet. Der irakische Industrieminister hat sein Kommen teure, die selbst militärisch im Irak engagiert sind, über ebenfalls angekündigt. Liebe Kolleginnen und Kollegen wesentlich mehr Wissen über die konkreten Sicherheits- von der FDP, auch diese Anregung wäre also nicht nötig bedingungen als deutsche Institutionen. Ihnen sollten da- gewesen! her auch die Trainings überlassen werden. Lassen Sie mich aber abschließend noch ein ernstes Dies bedeutet aber mitnichten, dass ich die Unterstüt- Wort zum Nachbarstaatenprozess sagen. Die FDP for- zung irakischer Journalisten nicht für einen ganz wichti- dert, diesen Prozess konstruktiv zu unterstützen. Liebe gen Punkt halte. Nur auch hier ist festzustellen, dass die Kolleginnen und Kollegen, ich muss nicht betonen, wie Bundesregierung und deutsche Stiftungen schon seit wichtig wir die regionale Komponente der Krisenprä- Jahren aktiv sind. So hat Deutschland einen zentralen vention und Krisenbeilegung in der Region nehmen. Es Anteil daran, dass die Internetseite www.niqash.org zu ist nicht zuletzt Bundesaußenminister Steinmeier, der der zentralen Informationsbörse von Journalisten über auf einen Dialog mit dem Iran drängt. Und der die G-8- die Lage im Irak geworden ist. Sogar die UNO nutzt die- lnitiative für die Einbindung Pakistans für weitere regio- ses Onlineradio, um sich zu informieren. Durch die deut- nale Stabilität ergriffen hat. Deutschland hat deshalb sche Initiative in diesem Bereich konnten irakische Jour- auch die Finanzierung eines Sekretariats für den Nach- nalisten aus verschiedenen Landesteilen wieder barschaftsprozess angeboten, in der Hoffnung, dass es miteinander in Verbindung treten und so ihr Wissen tei- den Prozess effizienter gestaltet und beschleunigt. Doch len. ist dies nur möglich, wenn alle regionalen und überre- gionalen Kräfte das Interesse an einem solchen Prozes- Grundsätzlich aber ist Deutschland durchaus im Be- ses teilen. Dies ist momentan nicht gegeben und kann reich der Sicherheitstrainings weiterhin aktiv und inves- auch nicht von uns erzwungen werden. Wir können uns tiert unter anderem in die Ausbildung von Bombenent- schon zufrieden zeigen, dass die Akteure bereit sind, an schärfern. Die von der FDP geforderte Unterstützung der einem Tisch zu sitzen und über gemeinsame Interessen NATO-Trainingsmission im Irak sollten wir aber viel- zu diskutieren. Ich möchte daher gegen den implizierten leicht doch lieber denjenigen NATO-Mitgliedern über- Vorwurf protestieren, dass die Bundesrepublik sich hier lassen, die auch tatsächlich im Irak militärisch aktiv einer konstruktiven Unterstützung verschließen würde. sind. Das Gegenteil ist der Fall! Wir sollten uns lieber weiterhin auf die zivilen Berei- Ich will zum Ende kommen, denn das zweite Halbfi- che konzentrieren. Ich möchte an dieser Stelle auf die nale steht kurz bevor, und es wird heute noch über Geg- (B) (D) 400 Richter, Staatsanwälte und Polizisten hinweisen, die ner ganz anderer Art entschieden. Aber erkennen Sie jährlich vom BKA im Rahmen der EU-Rechtsstaatsiniti- bitte an, dass Deutschlands Agieren gegenüber dem Irak ative in Deutschland ausgebildet werden. Eine Auswei- in der Vergangenheit gut durchdacht war und hoffentlich tung dieses Projekts unter anderem auf Gefängnisperso- auch in der Zukunft gut durchdacht bleibt. Deshalb sind nal, die derzeit in der EU diskutiert wird, unterstütze ich allein für 2009 rund 20 Millionen Euro für Krisenprä- ausdrücklich. vention in Bezug auf den Irak vorgesehen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, Sie stim- Die zentrale Bedeutung des Irak hat die Entscheidung men mir zu, dass diese Auswahl von Projekten bereits von Bundeskanzler Schröder geleitet, als er sich gegen eine mehr als beeindruckende Liste darstellt. Sie de- eine militärische Intervention im Irak aussprach, und sie monstriert, welche Bedeutung die Bundesrepublik dem leitet unser heutiges politisches, humanitäres und wirt- Irak zumisst. Mehr ist ohne deutsches Personal – jenseits schaftliches Engagement in der Region. der Botschaft – auch kaum leistbar. Ich mache hier die FDP noch einmal auf die Reisewarnungen des Auswärti- gen Amtes aufmerksam. Denn derzeit wird von solchen Anlage 5 Reisen – mit Ausnahme des kurdischen Autonomiege- biets im Norden – massiv abgeraten. Projekte, die aus öf- Zu Protokoll gegebene Rede fentlichen Geldern finanziert werden, untersagen sogar zur Beratung der Anträge: explizit den Einsatz von deutschem Personal. – Anerkennung und Wiedergutmachung der Solange aber deutsche Organisationen nicht mitsamt deuschen Kolonialverbrechen im ehemali- ihrer Mitarbeiter im Zentral- und Südirak arbeiten dür- gen Deutsch-Südwestafrika fen, ist konkrete Projektarbeit innerhalb des Irak etwas erschwert. Dies gilt übrigens nicht nur für deutsche Insti- – Angebot an die namibische Nationalver- tutionen, sondern für viele der großen internationalen sammlung für einen Parlamentarierdialog NGOs. Solange all diese Experten jedoch nicht im Irak zur Versöhnungsfrage arbeiten können, ist auch die Stärkung des Engagements (Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord- eine nicht ganz einfach umzusetzende Forderung. nungspunkt 7) Für Trainings und Austausch mit irakischen Politi- kern werden aber Nachbarländer und auch Deutschland Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bereits eifrig genutzt. Demnächst besucht uns die iraki- NEN): Der Völkermord an den Herero, Nama und ande- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18435

(A) ren Volksgruppen Namibias ist eines der dunkelsten Enttäuschung und überbrücken gerade nicht die beste- (C) Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte, dessen Aufar- henden Gräben. Im Gegenteil: Wir laufen Gefahr, sie so- beitungszeit mehr als 100 Jahren überfällig ist. gar noch zu vertiefen. Der systematische Vernichtungskrieg, der zwischen Nicht dass sie mich falsch verstehen: Es geht mir ge- 1904 bis 1907 auf Befehl der deutschen Reichsregierung rade nicht um Geld – oder um mehr Geld. Es geht uns in von der sogenannten deutschen Schutztruppe geführt unserem Antrag darum: Endlich einen breit angelegten wurde, kostete Zehntausende Herero, Nama und Ange- Dialog auf Ebene des Parlamentes – nicht der Regierung – hörige anderer Volksgruppen das Leben. Erstmals wur- zu beginnen. Einen Dialog, der erst mal ergebnisoffen ist den sogenannte Konzentrationslager eingerichtet, in de- und der versucht, viele Ebenen der gesellschaftlichen nen viele Menschen zu Tode gequält wurden. Versöhnung einzubeziehen. Bei dem es aber eben nicht sofort und unmittelbar um materielle Wiedergutmachung Viel zu lange hat es gedauert, bis sich die Bundesre- gehen soll, wie sie es vorschlagen. publik zur Verantwortung zu dem Völkermord deutscher Kolonialtruppen bekannt hat. Auch ihr Antrag widerspricht einer wirklich partner- Erst die rot-grüne Bundesregierung hat 2004, vertre- schaftlich entwickelten Agenda, weil er schon jetzt ein- ten durch die damalige Entwicklungshilfeministerin, seitig konkrete Vorgaben nennt – sich festlegt auf das, Frau Wieczorek-Zeul, offiziell um Vergebung gebeten. was vor allem eine Seite, nämlich Chief Riruako und seine Anhänger wollen. Auch ich möchte an dieser Stelle noch einmal aus- drücklich sagen: Wir Grüne bekennen uns zur deutschen Wir greifen mit unserem Antrag die Initiative des Prä- Verantwortung für den Völkermord an Hereros, Namas sidenten der namibischen Nationalversammlung, Theo- und Angehörigen anderer Volksgruppen. Ben-Gurirab, auf und wollen der namibischen National- versammlung einen unfassenden deutsch-namibischen Ich möchte in diesem Zusammenhang aber betonen, Parlamentarier-Dialog anbieten, auf unserer Seite hoch- dass eine nur symbolische Übernahme von Verantwor- rangig geführt durch das Präsidium des Deutschen Bun- tung ohne konkrete und vor allem der historischen Son- destages. derbeziehung angemessene Versöhnungsschritte wenig wert ist. Deshalb hätte ich mir auch sehr gewünscht, dass wir diesen Antrag hier interfraktionell verabschiedet hätten Ich frage deshalb die Bundesregierung heute: Was ist – Leider waren sie dazu nicht bereit. Sie – meine Damen dieser Geste der Entwicklungsministerin im Jahr 2004 und Herren – von der Koalition nicht, weil sie Angst ha- gefolgt? Wo sind ihre konkreten Schritte für eine ange- ben, es könnten mehr als 20 Millionen dabei herauskom- messene Aussöhnung zwischen Namibia und Deutsch- (B) men. Und sie von der Linken, weil sie sich schon jetzt (D) land? festgelegt haben, dass es mehr sein muss. Auch wenn ich Bemühungen der namibischen Regierung, die bereits festhalten will, dass sie immerhin über ihren Antrag hin- 2006 von der namibischen Nationalversammlung den aus zu solch einem Dialog bereit gewesen wären. Auftrag erhielt, mit der Bundesregierung in Verhandlun- Ich finde das alles beschämend. Die namibische Seite gen über Entschädigungen zu treten, sind bislang weit- wartet auf einen ehrlichen und ernstgemeinten Dialog, gehend ins Leere gelaufen. der nicht nur die Chance bietet, den begangenen Völker- Zwar haben sie im November 2007 eine sogenannte mord in das geschichtliches Bewusstsein der deutschen Versöhnungsinitiative mit der namibischen Regierung Gesellschaft zu bringen, sondern vielleicht auch zur verabschiedet. Doch umfasst diese Initiative bislang nur Aussöhnung zwischen den verschiedenen Volksgruppen Zusagen über weitere Entwicklungsgelder in Höhe von auf der namibischen Seite beitragen kann. 20 Millionen Euro für die Regionen, in denen die betrof- Noch ist es für einen solchen Dialog nicht zu spät. fenen Volksgruppen leben. Lassen sie uns auf diesem Wege unserer Verantwortung Sie sagen damit vorweg ohne Dialog, was ihnen „die Rechnung tragen. Versöhnung“ wert ist. Das stößt zurecht auf Widerspruch auf der namibischen Seite der Hereros und andere. Und das sieht fast so aus, als wollte die Bundesregierung sich Anlage 6 von ihrer – wie Frau Wieczorek-Zeul es 2004 nannte – Zu Protokoll gegebene Reden „historisch-politischen“ und „moralisch-ethischen“ Ver- antwortung freikaufen. zur Beratung des Antrags: Sorgerechtsregelung Ich meine: Das ist eher ein unmoralisches und völlig für Nichtverheiratete reformieren (Tagesord- unzureichendes Angebot für eine Aussöhnung. nungspunkt 19)

Notwendig ist endlich ein umfassender und ergebnis- Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute in ers- offener Dialog zur gemeinsamen Aufarbeitung der Ver- ter Lesung den Antrag der Grünen, der sich mit der elter- gangenheit, aus dem dann gemeinsame Initiativen zur lichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern be- Versöhnung erwachsen können. Wir können doch nicht fasst. mit einer großen Rede Erwartungen auf der namibischen Seite schüren und dann 20 Millionen Euro anbieten. So Lassen Sie mich zunächst die heutige Rechtslage ist keine Versöhnung möglich. So verstärken wir nur die skizzieren: 18436 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Bis zur Kindschaftsrechtsreform 1998 stand dem Va- justizministerium aufgefordert, zu prüfen, ob es nach In- (C) ter nur dann das gemeinsame Sorgerecht zu, wenn er krafttreten des Gesetzes zur Umsetzung familienrechtli- zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter verheiratet war cher Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder beide nach der Geburt heirateten. Mit dem Inkraft- notwendig sei, für nicht miteinander verheiratete Eltern, treten der Kindschaftsrechtsreform wurden die bis dahin die sich nach dem 1. Juli 1998 getrennt haben, ein ge- geltenden Unterschiede zwischen ehelichen und nicht- richtlich begründetes gemeinsames Sorgerecht zu schaf- ehelichen Kindern weitestgehend aufgehoben. Dies hatte fen, wenn sie längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zur Folge, dass sich auch im Bereich der elterlichen mit dem Kind gelebt haben und dies dem Kindeswohl Sorge deutliche Verbesserungen ergaben. Nicht mitei- dient. nander verheiratete Eltern haben seitdem die Möglich- keit, die gemeinsame elterliche Sorge auszuüben, wenn Die gesellschaftliche Realität von Familie hat sich in sie übereinstimmende Sorgeerklärungen abgeben. Lehnt den vergangenen Jahren, vor allem im großstädtischen die Mutter die gemeinsame Sorge allerdings ab, hat sie Bereich, durchaus weiter verändert. Neben der „klassi- weiterhin die Alleinsorge. schen“ Familienstruktur haben sich zunehmend neue Fa- milienformen herausgebildet. Immer mehr Kinder leben Der Gesetzgeber hatte damals bewusst die gemein- in nichtehelichen Lebensgemeinschaften. In Deutschland same elterliche Sorge von der Zustimmung der Mutter wird heute ein Drittel aller Kinder nichtehelich geboren, abhängig gemacht, da er die Lebenssituationen, in die in den neuen Bundesländern und vielen Großstädten sind nichteheliche Kinder hineingeboren werden, als weniger es sogar mehr als die Hälfte. Vor dem Hintergrund der ge- stabil eingeschätzt hat als die ehelicher Kinder. Wir kön- sellschaftlichen Veränderungen ergeben sich neue rechts- nen nicht in jedem Fall davon ausgehen, dass die Eltern politische Herausforderungen. Aus Sicht der Union muss bereit und in der Lage sind, zum Wohl des Kindes zu ko- bei allen Fragen stets das Kindeswohl an erster Stelle ste- operieren. Die gemeinsame Sorge wird daher davon ab- hen. Dieses stellt den entscheidenden Maßstab für et- hängig gemacht, dass die Eltern ihre Übereinstimmung waige gesetzgeberische Initiativen dar. Auch mit Blick und Kooperationsbereitschaft durch die Abgabe von auf das elterliche Sorgerecht stellen sich daher die zentra- Sorgeerklärungen dokumentieren. len Fragen: Worin besteht das Kindeswohl, und was ent- spricht ihm? Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil vom 29. Januar 2003 dem Gesetzgeber aufgegeben, bis Das Grundgesetz enthält hierzu eine wichtige Wertent- Ende 2003 eine Übergangsregelung für Eltern zu schaf- scheidung: Mit dem Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG hat fen, die mit ihrem nichtehelichen Kind zusammengelebt, der Verfassungsgeber zum Ausdruck gebracht, dass es sich aber noch vor Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsre- grundsätzlich im Interesse des Kindes ist, mit Vater und (B) formgesetzes getrennt hatten. Der Gesetzgeber hat da- Mutter aufzuwachsen. Dies hat das Bundesverfassungs- (D) raufhin die vom Bundesverfassungsgericht monierte Ge- gericht mit seiner jüngsten Entscheidung vom 1. April setzeslücke durch eine Übergangsregelung geschlossen. 2008 zur Durchsetzung des Umgangsrechts noch einmal Nichtsorgeberechtigte Väter, die sich vor dem 1. Juli bestätigt. Darüber hinaus benötigt das Kind jedoch auch 1998 getrennt und mit ihren Kindern ein Familienleben Stabilität und Kontinuität. Vater und Mutter müssen be- im Sinne einer tatsächlichen gemeinsamen elterlichen reit und auch dazu in der Lage sein, zum Wohle des Kin- Sorge geführt haben, ohne jedoch Letztere wegen der des zusammenzuwirken. Andernfalls, das heißt in den damals geltenden Gesetzeslage durch Sorgeerklärungen Fällen, in denen die Eltern nicht zusammen-, sondern rechtlich absichern zu können, konnten in der Folge die vielmehr gegeneinander wirken, ist es in der Regel für das Sorgeerklärung der verweigernden Mutter beim Fami- Kind besser, dass das Sorgerecht alleine bei der Mutter liengericht ersetzen lassen, wenn dies dem Kindeswohl liegt. diente. Von einer solchen, auf Vertrauen und Kooperation an- Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht die gelegten Beziehung zwischen Vater und Mutter geht das geltende gesetzliche Regelung zum Sorgerecht nicht Gesetz grundsätzlich nur bei der Ehe aus; denn hier zei- miteinander verheirateter Eltern für verfassungskonform gen Eltern, dass sie auf Dauer zusammenleben, gemein- erklärt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ange- sam Kinder erziehen und in jeder Lebenslage füreinan- führt, dass die gesetzgeberischen Annahmen mangels der einstehen wollen. Bei nichtehelichen Beziehungen empirischer Daten im Zeitpunkt des Urteils nicht in kann danach hingegen nicht von vornherein angenom- Zweifel gezogen werden könnten. Das Bundesverfas- men werden, dass die Eltemteile dauerhaft bereit und in sungsgericht hat in seiner Entscheidung jedoch zugleich der Lage sind, zum Wohle des Kindes zusammenzuwir- festgestellt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, die tat- ken. Dies gilt erst recht für solche Lebenssituationen, in sächliche Entwicklung zu beobachten und zu prüfen, ob denen Vater und Mutter nicht einmal zusammenleben. die gesetzlichen Annahmen auch vor der Wirklichkeit Die gemeinsame Sorge wird daher in diesen Fällen da- Bestand haben. von abhängig gemacht, dass die Eltern ihre entspre- chende Kooperationsbereitschaft durch die Abgabe von Das geltende Recht geht davon aus, dass sich eine Sorgeerklärungen dokumentieren. Mutter nur ausnahmsweise dem Wunsch des Vaters nach einer gemeinsamen Sorge verweigert, das heißt wenn sie Mit der Herausbildung neuer Formen des familiären dafür schwerwiegende Gründe hat und das Wohl ihres Zusammenlebens hat sich gleichzeitig die Rolle der Vä- Kindes schützen will. In diesem Sinne hat auch die ter ganz erheblich verändert. Entgegen eines lange ver- 75. Justizministerkonferenz im Juni 2004 das Bundes- breiteten Vorurteils wollen auch nichteheliche Väter Ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18437

(A) antwortung für ihre Kinder übernehmen und sich an der Lage ist, die Sorge auszuüben, kann der Vater sein eige- (C) Erziehung ihres Kindes engagiert beteiligen. Insofern nes Sorgerecht erwirken. stimme ich dem Antrag der Grünen grundsätzlich zu: Auch diese Väter haben ein natürliches Elternrecht, das Gleichzeitig fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- ihnen nur bei schwerwiegenden Einwänden und aus nen eine Öffnung der bisherigen Regelung dahin ge- Gründen des Kindeswohls verweigert werden sollte. Der hend, dass ein Anspruch auf gerichtliche Einzelfallent- heute zur Beratung stehende Antrag schlägt deshalb vor, scheidung zum gemeinsamen Sorgerecht möglich wird. dass die gemeinsame Sorge bei nicht miteinander verhei- Sie fordern eine neue Regelung, wonach eine gerichtli- rateten Eltern künftig unter bestimmten Bedingungen che Einzelfallentscheidung zugunsten des gemeinsamen auch durch gerichtliche Entscheidung begründet werden Sorgerechts auch gegen den ausdrücklichen Willen der kann. Dies ist aus unserer Sicht ein moderater Vorschlag, Mutter möglich ist. Einigen sich also die Elternteile aus der durchaus diskussionswürdig ist. Allerdings ist zu be- welchen Gründen auch immer nicht darauf, eine einver- nehmliche Sorgeerklärung abzugeben, bleibt es bislang rücksichtigen, dass es sich hier um eine gravierende beim alleinigen Sorgerecht für die Mutter. Dem lag bei Neuregelung handeln würde. Deshalb darf eine solche der Reform 1998 die Annahme zugrunde, dass ein gegen erst und nur aufgrund einer umfangreichen Datenbasis den Willen der Mutter erzwungenes Sorgerecht nicht erfolgen. dem Wohl des Kindes entsprechen kann. Diese Regelung Leider wissen wir derzeit immer noch zu wenig über hat das Bundesverfassungsgericht auch in seinem Urteil die Lebenssituation der betroffenen Väter, Mütter und vom 29. Januar 2003 als verfassungskonform bestätigt. Kinder. Daran hat auch eine Umfrage des Bundesjustiz- Der Gesetzgeber kommt aber seiner Verantwortung ministeriums bei Rechtsanwälten und Jugendämtern im nach, zu prüfen, ob es Gründe gibt, die für die Änderung Herbst 2006 nichts geändert. Statistisch belegt ist ledig- der Regelung sprechen und in wie vielen Fällen ein ge- lich seit 2004, dass etwa 45 Prozent aller nicht miteinan- meinsames Sorgerecht der unverheirateten Eltern dem der verheirateten Paare gemeinsame Sorgeerklärungen Kindeswohl entspricht. Die Gründe, aus denen es nicht abgegeben haben. Die Gründe, warum 55 Prozent dies zu einem gemeinsamen Sorgerecht kommt, mögen viel- nicht getan haben, waren hingegen vielfältig. Im Übri- fältig sein, sowohl bei Eltern, die niemals eine Bezie- gen handelte es sich hierbei auch nicht um eine Untersu- hung hatten, als auch bei solchen, die zusammenleben. chung, die wissenschaftlichen Anforderungen genügt. Tatsächlich kann man sagen, dass die Familienformen in Deshalb plädiere ich dafür, jetzt keine vorschnelle Ent- Deutschland vielfältiger werden, die Zahl der nichteheli- scheidung zu treffen. Stattdessen wollen wir ergänzend chen Lebensgemeinschaften mit Kindern steigt und die zu den bisherigen Erhebungen eine wissenschaftliche Unterschiede in der Lebensweise zwischen verheirateten Untersuchung in Auftrag geben. Das Bundesministerium und nichtverheirateten Paaren insgesamt geringer wer- (B) (D) der Justiz erarbeitet bereits ein Forschungsdesign und den. wird auf dieser Grundlage tätig werden. Und in der Tat gibt es ein gewandeltes Selbstver- ständnis von Vätern, die sich zu ihrer Erziehungsverant- Da uns als Union dieses Thema – vor allem auch im wortung bekennen, Umgangs- und Unterhaltspflichten Interesse der Kinder – sehr wichtig ist, drängen wir da- erfüllen und bereit sind, alltägliche Verantwortung für rauf, dass dieser Auftrag zeitnah ausgeschrieben und ihre Kinder zu übernehmen, also auch für die wesentli- vergeben wird. Ich bin zuversichtlich, dass wir in dieser chen Entscheidungen im Leben des Kindes, die das Sor- Frage schon in Kürze Konkretes vorweisen können. Zu- gerecht betreffen. mindest zum derzeitigen Zeitpunkt lehnen wir jedoch aus genannten Gründen eine Gesetzesänderung ab. In seinem Urteil vom 29. Januar 2003 hat das Bundes- verfassungsgericht dem Gesetzgeber allerdings keine Vorgaben gemacht, wie er den Prüfauftrag erfüllt. Insbe- Christine Lambrecht (SPD): In ihrem Antrag „Sor- sondere hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetz- gerechtsregelung für Nichtverheiratete reformieren“ for- geber nicht aufgegeben, bereits im Jahr 2003 eine wissen- dert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundesre- schaftliche Untersuchung in Auftrag zu geben. In seinen gierung dazu auf, den Entwurf eines Gesetzes zur Urteilsgründen hat es festgestellt, dass angesichts der neu Änderung des § 1626 a BGB, der das Sorgerecht nicht geschaffenen Rechtsform zum damaligen Zeitpunkt des verheirateter Eltern betrifft, vorzulegen. Seit der Kind- Urteils noch keine tragfähigen empirischen Aussagen schaftsrechtsreform im Jahr 1998 sieht das Gesetz vor, möglich waren; vergleiche BVerfGE 107, 150 ff., 179 f. dass nichtverheiratete Eltern das gemeinsame Sorgerecht So fehlten insbesondere gesicherte Erkenntnisse darüber, nur dann erhalten können, wenn die Eltern erklären, dass ob es trotz der neu geschaffenen Möglichkeit gemeinsa- sie entweder die Sorge gemeinsam übernehmen wollen mer Sorgetragung von Eltern eines nichtehelichen Kindes oder einander heiraten. Ansonsten bleibt es aber immer dauerhaft eine beachtliche Zahl von Fällen gibt, in denen bei der Regelung, dass die Mutter das Sorgerecht behält. es bei Zusammenleben der Eltern mit dem Kind nicht zu Es betrifft die wesentlichen Entscheidungen im Leben einer gemeinsamen Sorge kommt, und welche Gründe des Kindes, das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Vor- hierfür maßgeblich sind. namensgebung, Festlegung der Religion, Einwilligung in die ärztliche Behandlung, Anmeldung zur Kinderta- Die bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen gesstätte, Schule usw. Nur in den seltenen Fällen, dass nähern sich diesen beiden Fragen durch eine Befragung, der Mutter das Sorgerecht entzogen wurde oder sie aus die mittels Fragebögen bei Jugendämtern durchgeführt praktischen oder rechtlichen Gründen selbst nicht in der wurde; zum Beispiel Fink, „Die Verwirklichung des Kin- 18438 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) deswohls im Sorgerecht für nichtverheiratete Eltern“, Diese Neuregelung war damals ein wichtiger und bedeu- (C) Seite 136 ff. Hierdurch kann man sicherlich einen gewis- tender Schritt hin zur gemeinsamen Sorge, um dem Kin- sen Einblick in die Häufigkeit dieser Fälle und die Motiv- deswohl gerecht zu werden. lage der Mütter bekommen. Die Befragung im Rahmen dieser Untersuchungsmethode bezog sich nicht auf be- Der Gesetzgeber hat die gemeinsame Sorge bei un- lastbare statistische Daten, sondern beruhte auf Eindrü- verheirateten Elternteilen zum damaligen Zeitpunkt ganz cken, Erinnerungen und Schätzungen dritter Personen. Es bewusst von der Zustimmung beider Elternteile abhän- handelt sich nicht um eine ausreichend gesicherte empi- gig gemacht. In den meisten Fällen, in denen der Vater rische Untersuchung. Um belastbare Erkenntnisse zur die elterliche Sorge mitbeansprucht, zum Beispiel inner- wahren Motivlage der Mütter zu erhalten, müssten die be- halb nichtehelicher Lebensgemeinschaften, dürfte die troffenen Mütter und Väter vielmehr durch geschulte In- Mutter auch mit der Abgabe einer Sorgeerklärung ein- terviewer gezielt und direkt befragt werden. Aus diesem verstanden sein. Daneben gibt es auch Fälle, in denen die Grund beabsichtigt das Bundesministerium der Justiz, Eltern zusammenleben und der Vater die elterliche Sorge nunmehr eine entsprechende wissenschaftliche Untersu- faktisch wahrnimmt, ohne die rechtliche Alleinsorge der chung in Auftrag zu geben. Mutter zu beanstanden. Hinsichtlich dieser Fälle wirft die aktuelle Rechtslage keine praktischen Probleme auf. Bei der Klage des Vaters soll nach Meinung der Frak- Schwierigkeiten bietet die aktuelle Rechtslage höchstens tion Bündnis 90/Die Grünen die gerichtliche Prüfung für in Fällen, in denen der Vater ein gemeinsames Sorge- alle Fälle gelten, in denen der Vater seinen Anteil an el- recht wünscht, die Mutter jedoch keine Sorgeerklärung terlicher Fürsorge erfüllt oder dies tun will, aber bislang abgibt. nur daran gehindert wurde. Eine solche Klage des Vaters soll nach dem Antrag im Wesentlichen voraussetzen, Nichteheliche Kinder werden aber nicht nur in intak- dass der Vater seinen Anteil an elterlicher Fürsorge er- ten nichtehelichen Lebensgemeinschaften geboren, son- füllt, die Mutter sich jedoch aus kindeswohlfremden dern sind eben oftmals auch das Ergebnis sporadischer Gründen weigert, eine gemeinsame Sorgeerklärung ab- und instabiler Beziehungen. Eine gemeinsame elterliche zugeben. Bevor es jedoch zu einer so weitreichenden, Sorge setzt jedoch Übereinstimmung und Kooperations- unter Umständen gegen die Interessen alleinerziehender bereitschaft der Eltern voraus. Das Bundesverfassungs- Mütter gerichteten Regelung kommt, sollte auf jeden gericht hat insoweit bereits klargestellt, dass ein gemein- Fall zuerst die vom Bundesjustizministerium in Auftrag sames Sorgerecht eine „tragfähige soziale Beziehung der gegebene wissenschaftliche Untersuchung sorgfältig Eltern zueinander“ und „ein Mindestmaß an Überein- ausgewertet werden. Es muss selbstverständlich sein, zu- stimmung“ voraussetzt; BVerfG, NJW 1995, 2155. Sind nächst mehr über die Motivlagen der Mütter zu erfahren, diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist ein gemeinsames (B) warum diese nicht mit einem gemeinsamen Sorgerecht Sorgerecht gerade vor dem Hintergrund des Kindes- (D) einverstanden sind. Dies entspricht auch dem Kindes- wohls zumindest fraglich. Wenn eine Mutter eine ge- wohl. Es ist davon auszugehen, dass die Mütter sich meinsame Sorgeerklärung verweigert, ist zunächst da- nicht ohne Grund weigern werden, eine gemeinsame von auszugehen, dass schwerwiegende Gründe für diese Sorgeerklärung abzugeben. Nicht klar in dem Antrag ist, Entscheidung vorliegen und es kein Missbrauch der warum der Gesetzgeber diesen Müttern von vorneherein Machtposition gegenüber dem Vater ist. misstrauen sollte. Daher lehnen wir den Antrag ab. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Ur- teil im Jahre 2003 – BVerfG, NJW 2003, 955 – diese ge- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): fundene Regelung für verfassungskonform erklärt. Der Unter dem Stichwort „Sorgerechtserklärung für Nicht- Gesetzgeber sei jedoch verpflichtet, die tatsächliche Ent- verheiratete reformieren“ verbirgt sich ein seit langem wicklung zu beobachten und zu prüfen, ob die der Rege- bekanntes und hoch sensibles Thema. Eine Behandlung lung zugrunde liegenden Annahmen auch der Wirklich- dieses Themas um diese späte Uhrzeit wird der schwieri- keit entsprechen. Die Bundesregierung hat vor diesem gen Materie kaum gerecht. Hintergrund eine Rechtsvergleichung der EU-Mitglied- staaten untereinander durchgeführt. Das Statistische Mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz aus dem Jahr Bundesamt erfasst seit 2004 die Zahl der gemeinsamen 1998 wurde unter anderem das Sorgerecht in Deutsch- Sorgeerklärungen, und das Bundesjustizministerium hat land neu geregelt. Die Vorbereitungen dieses Gesetzent- eine nicht repräsentative Umfrage bei Jugendämtern und wurfes habe ich als damalige Bundesjustizministerin in- Rechtsanwälten durchgeführt. Alle diese Maßnahmen tensiv und leidenschaftlich begleitet. Vor der Reform sind jedoch letztendlich nicht geeignet, abschließend den stand die elterliche Sorge bei einem nichtehelichen Kind Prüfauftrag des Bundesverfassungsgerichtes zu erfüllen. allein der Mutter zu. Eine gemeinsame Sorgetragung für Hier besteht noch dringender Nachholbedarf. Vor der das nichteheliche Kind war gar nicht vorgesehen. Erst Klärung dieser Grundlagen wird es jedoch schwer zu be- durch die Kindschaftsrechtsreform wurde die Eigenver- urteilen sein, inwieweit überhaupt Reformbedarf besteht. antwortung der nichtehelichen Lebenspartner gestärkt. Seit diesem Zeitpunkt haben nicht miteinander verheira- Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, tete Eltern eines Kindes dann die gemeinsame elterliche stellt diese selbstständige Entscheidung der Mütter, ob Sorge, wenn die beiden Elternteile übereinstimmende tragfähige Gründe gegen die gemeinsame Sorgeerklä- Sorgeerklärungen abgegeben haben oder wenn sie einan- rung sprechen, nun infrage. Dem Vater soll eine gericht- der heiraten. Fehlen solche übereinstimmenden Sorgeer- liche Einzelfallentscheidung zur Erlangung der gemein- klärungen, hat die Mutter die alleinige elterliche Sorge. samen Sorge gegen den Willen der Mutter eingeräumt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18439

(A) werden. An diesem Punkt stellen sich die Fragen: Inwie- eventuell ähnliche Wirkungen haben. Außerdem muss (C) weit wird die Sorgeerklärung tatsächlich als Machtposi- darüber diskutiert werden, ob der Vorschlag des Antrags tion gegenüber dem Vater missbraucht? Was bringt eine überhaupt praktikabel ist. Eine Regelung über die elterli- gemeinsame Sorge, wenn keine Übereinstimmung und che Sorge, die nicht im Einvernehmen der Eltern erreicht Kooperationsbereitschaft der Eltern besteht? Was bringt werden kann, entspricht nach den Erfahrungen in der das gemeinsame Sorgerecht insbesondere dem betroffe- Praxis gerade nicht dem Kindeswohl. nen Kind? Ist dem Kindeswohl, das im Mittelpunkt der Überlegungen stehen muss, damit wirklich gedient? – Auch Argumente des Bundesverfassungsgerichts Eine Sachverständigenanhörung des Rechtsausschusses, sprechen für diese Auffassung, Entscheidung vom die zu diesem Antrag dringend geboten erscheint, wird 29. Januar 2003, ich zitiere: sich mit diesen offenen Problemstellungen auseinander- Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass eine setzen müssen. Auch die von dem Antrag der Fraktion gegen den Willen eines Elternteils erzwungene ge- Bündnis 90/Die Grünen nicht umfassten, aber in der meinsame Sorge regelmäßig mit mehr Nachteilen Rechtswissenschaft diskutierten Modelle einer pauscha- als Vorteilen für das Kind verbunden ist. Die ge- len gesetzlichen Zuweisung der gemeinsamen Sorge an meinsame Sorge setzt im Interesse des Kindes ein beide rechtlichen Elternteile oder die gemeinsame Sorge Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen den El- kraft Gesetzes bei zusammenlebenden Elternteilen ge- tern voraus. Dass hierdurch der Zugang des Vaters hört in diese Diskussion mit einbezogen, auch wenn die eines nichtehelichen Kindes zur elterlichen Sorge FDP-Fraktion sie nicht präferiert. auch von der Bereitschaft der Mutter abhängt, mit ihm gemeinsam Sorge zu tragen, ist verfassungs- Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Die Grünen fordern rechtlich nicht zu beanstanden. Auch die Mutter in ihrem Antrag die Einführung der Möglichkeit einer kann ohne Bereitschaft des Vaters nicht mit ihm die gerichtlichen Überprüfung der Weigerung der Mutter, Sorge für das Kind teilen. Beide Eltern erhalten da- eine gemeinsame Sorgeerklärung mit dem Vater des mit gleichermaßen Zugang zur gemeinsamen Sorge Kindes abzugeben. Die gemeinsame elterliche Sorge bei nur, wenn sie dies übereinstimmend wollen. Hierin unverheirateten Eltern wurde mit der Kindschaftsrechts- liegt allein keine unberechtigte Einschränkung des reform 1998 eingeführt. Sie kann durch gemeinsame väterlichen Elternrechts. Sorgeerklärung begründet werden. Wenn die unverheira- Durch die Einführung eines Überprüfungsverfahrens, tete Mutter der gemeinsamen Sorgeerklärung nicht zu- wie es die Grünen vorschlagen, wird das Kindeswohl in- stimmt, behält sie das alleinige Sorgerecht, § 1626 a strumentalisiert und zum Spielball der Elterninteressen. BGB. Ein enttäuschter Vater, der sich vielleicht eine Beziehung (B) (D) In einer intakten Paarbeziehung bzw. Einvernehm- mit der Mutter gewünscht hat, bekommt so ein Druck- lichkeit der unverheirateten Eltern wird in der Regel die mittel über das Kind in die Hand. Oder gar wenn das gemeinsame Sorge erklärt. Wir wissen doch viel zu we- Kind aus einer Vergewaltigung entstanden ist; soll die nig über die Gründe, warum Eltern die gemeinsame Mutter wirklich befürchten müssen, dass der Vergewalti- Sorge nicht erklären. Zu diesem Ergebnis kam auch eine ger das Sorgerechtsüberprüfungsverfahren einleitet? Umfrage des Bundesministeriums der Justiz unter Sollen die Jugendämter und Familiengerichte abwägen, 400 Jugendämtern und Rechtsanwälten. Zwar erklären ob die gemeinsame elterliche Sorge in einem solchen über 50 Prozent der unverheirateten Eltern die gemein- Fall dem Kindeswohl entspricht, wenn zum Beispiel Ge- same Sorge, aus dieser Zahl lässt sich aber nicht schlie- walt gegen das Kind nicht zu erwarten ist? Welche ßen, dass die übrigen Eltern wegen einer Weigerung der Gründe der Mutter, keine gemeinsame Sorge zu wollen, Mütter auf die Abgabe einer gemeinsamen Sorgeerklä- können überhaupt als Gründe des Kindeswohles aner- rung verzichten. Wir brauchen belastbare Ergebnisse, kannt werden? Das alles muss diskutiert werden, der bevor gesetzliche Neuregelungen angestrebt werden. Vorschlag der Grünen kann auf keinen Fall der Weisheit letzter Schluss sein. Natürlich ist der Wunsch, Kindern zu ermöglichen, Kontakt zu beiden Eltern zu haben und von beiden El- Wenn das Kindeswohl prinzipiell über Erwachsenen- tern sowohl finanziell als auch tatsächlich versorgt und interessen gestellt wird, kann es eben auch für Erwach- erzogen zu werden, ein frommer Wunsch. Gerade in den seneninteressen missbraucht werden. Eine Untersuchung strittigen Fällen ist die Frage, wie weit der Gesetzgeber des Bundesministeriums der Justiz führt als einen Grund wirklich eingreifen kann. Nicht nur die Durchsetzung der fehlenden gemeinsamen Sorgeerklärung an, dass die der gemeinsamen elterlichen Sorge stößt an ihre Gren- Eltern über die rechtlichen Folgen sehr häufig nicht aus- zen, sondern auch die Durchsetzung der tatsächlichen reichend informiert seien. Hier muss angesetzt werden. Übernahme von Verantwortung für ein Kind gegen den Vor nicht allzu vielen Jahren standen Kinder lediger Willen eines Elternteiles. Mütter noch unter Amtsvormundschaft des Jugendam- tes, weil man ihnen nicht zutraute, eigenständig und Darauf hat auch das Bundesverfassungsgericht vor überlegt im Sinne des Kindes zu entscheiden. Darüber kurzem hingewiesen, als es um die Pflicht eines Vaters sind wir inzwischen hinaus. Deshalb gilt es, Lösungen zum Umgang mit seinem Kind ging. Ein erzwungener zu finden, die Kindeswohl und Elterninteressen berück- Umgang, dem ein Vater nur widerwillig nachkommt, sichtigen, umfassende Beratung und Unterstützung von kann für ein Kind traumatisierend sein, argumentierte Eltern und geschultes Fachpersonal vor Ort anzubieten, das Gericht. Eine erzwungene gemeinsame Sorge kann die bei Konflikten auch vermitteln und Lösungen aufzei- 18440 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) gen können. Und nicht gerichtlich erzwungenes Sorge- konkreten Einzelfall entscheiden sollen. Ziel muss es (C) recht. Über weitere Schritte kann man nachdenken, sein, eine neue Balance zwischen dem Wohl und Inte- wenn das Ergebnis der vom Justizministerium beabsich- resse des Kindes und beiden Eltern zu finden. Unser tigten wissenschaftlichen Untersuchung vorliegt. Vorschlag würde dem Recht des Kindes auf beide Eltern mehr Geltung verschaffen. Es würde die Rechtsschutz- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit und damit die Gerechtigkeitslücke für die Väter schlie- der Kindschaftsrechtsreform 1998, aber auch seit 2003, ßen, und es würde dem Grundgedanken der UN-Kinder- als das Bundesverfassungsgericht über den § 1626 a zu rechtskonvention gerecht. befinden hatte, haben sich unsere Gesellschaft und mit Eine moderne und zeitgemäße Familienpolitik kann ihr auch die familiären Realitäten augenscheinlich ver- sich dem Problem nicht verschließen, dass die derzeitige ändert. Zumindest eine politische Debatte über die Regelung in speziellen Fallkonstellationen die Ausgren- Frage, ob die derzeitige Regelung zum gemeinsamen zung von verantwortungsbewussten Vätern fördert. Dies Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern noch steht aktuellen Entwicklungen wie der wachsenden Inan- zeitgemäß ist, wäre längst angebracht gewesen. spruchnahme des Elterngeldes von Vätern diametral ent- Die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften gegen. mit Kindern ist binnen sieben Jahren von 550 000 auf Die öffentliche Aufmerksamkeit und Sensibilität für 770 000 im Jahr 2005 angewachsen. Inzwischen werden die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder aufwach- gut 200 000 Kinder jährlich nichtehelich geboren. Das sen und unter denen Eltern ihrer Verantwortung gerecht ist fast ein Drittel aller in einem Jahr geborenen Kinder! werden, war selten so groß wie derzeit. Die Vereinbar- Auch wenn immer mehr Eltern nach der Geburt des Kin- keit von Familie und Beruf ist als Schlüsselproblem des heiraten oder eine Sorgeerklärung abgeben, wächst identifiziert worden. Das Elterngeld und der Ausbau der von Jahr zu Jahr die Zahl der Kinder, für die nur die Betreuungsangebote sind logische Konsequenzen. Mit Mutter das Sorgerecht hat bzw. bei denen es zu keiner der Reform des Unterhaltsrechts wurde das Familien- gemeinsamen Sorgeerklärung gekommen ist, aus wel- recht den aktuellen Gegebenheiten jüngst weiter ange- chen Gründen auch immer. Diese Entwicklungen ver- passt. Die Reform des Sorgerechts für die Nichtverheira- weisen allerdings auch auf eine Gerechtigkeitslücke. Es teten ist ein wesentlicher weiterer Schritt. Es ist an der ist an der Zeit, sie zu schließen. Zeit, diesen Schritt zu gehen. Es zeichnet sich doch ab, dass eine wesentliche An- Schon Anfang 2003 hat das Bundesverfassungsge- nahme des Bundesverfassungsgerichts in dieser Pau- richt dem Gesetzgeber klar und unmissverständlich ei- schalität offensichtlich nicht Bestand haben kann: Wenn nen Auftrag erteilt. Es kam zu dem Ergebnis, dass die (B) die Mutter die Abgabe der Sorgeerklärung verweigert, derzeitige Regelung zwar verfassungsgemäß ist, der Ge- (D) mag dies oftmals daran liegen, dass sie denkt, dass dies setzgeber aber zu beobachten und zu prüfen hat, ob die das Beste für das Kind ist. In vielen Fällen mag dies Gründe, die zu dieser Entscheidung geführt haben, den auch richtig sein. Aber eben nicht immer! Die Gründe, realen Gegebenheiten auch weiterhin entsprechen. Für aus denen es nicht zu einer gemeinsamen Sorgeerklä- uns ist nicht erkennbar, dass die Bundesregierung bzw. rung kommt, sind vielfältig. Wir können nicht davon die Große Koalition ihre Hausaufgaben gemacht hat. ausgehen, dass das Kindeswohl bei der mütterlichen Entscheidung immer im Vordergrund steht. Zahlreiche Im Juni letzten Jahres haben wir die Bundesregierung Experten bestätigen, dass sich aus der Annahme, das gefragt, was aus dem Prüfauftrag geworden ist. Sie kön- Kindeswohl würde von den Müttern immer vorrangig nen dies unter der Drucksachennummer 16/5852 gerne berücksichtigt, kein gesetzlich vertretbarer Regelmecha- nachlesen. Die Antwort der Bundesregierung lautet auf nismus ableiten lässt. Eine immer größer werdende Zahl den Punkt gebracht: Das Bundesministerium der Justiz an Vätern und Kindern ist betroffen von dieser Gerech- prüft, ob und wie Väter, die mit der Mutter des gemein- tigkeitslücke. Sie wird auch nicht beseitigt werden, so- samen Kindes nicht verheiratet sind, stärker an der elter- lange wir als Gesetzgeber nicht handeln. lichen Sorge beteiligt werden können. Bei dieser vielver- sprechenden Antwort ist es dann aber auch geblieben. Auch wenn es immer noch an einer umfassenden Da- Die sichtbaren Aktivitäten, mit denen das BMJ dem tengrundlage mangelt, sprechen die meisten Gründe da- Prüfauftrag bisher nachgekommen ist, zeugen nicht ge- für, dass das gemeinsame elterliche Sorgerecht dem Kin- rade von einer engagierten und verantwortungsbewuss- deswohl am ehesten entspricht. Auch deswegen haben ten Wahrnehmung dieser Aufgabe. Auf die meisten der wir die gemeinsame elterliche Verantwortung bei den von uns gestellten Fragen konnte die Bundesregierung Geschiedenen schon 1998 zum Regelfall erklärt. Es ist keine Antwort geben. Forschungsergebnisse: Fehlan- nicht angemessen, dass bei nichtverheirateten Eltern der zeige! Vater nicht einmal mehr eine Möglichkeit hat, das Veto der Mutter von einer neutralen Instanz überprüfen zu las- Im April dieses Jahres hat der Europäische Gerichts- sen. Väter, die Verantwortung für ihr Kind übernehmen hof für Menschenrechte eine Klage zum § 1626 a ange- wollen und sich bisher engagiert an der Erziehung betei- nommen. Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Bun- ligt haben, dürfen nicht länger aufgrund einer pauscha- desregierung dort zu verteidigen gedenkt. Die grüne lierenden Regelung ausgegrenzt werden. Bundestagsfraktion ist den Anliegen des Verfassungsge- richts gerecht geworden. Mit unserem Antrag legen wir In unserem Antrag fordern wir daher, dass die Fami- das vor, was sich als zwingende Konsequenz ergibt: eine liengerichte unter speziellen Voraussetzungen über den moderate Öffnung der jetzigen Regelung für die Väter. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18441

(A) Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Kin- hin mehr als die Hälfte der nichtverheirateten Eltern (C) der haben ein Recht auf beide Eltern – unabhängig da- keine Sorgeerklärungen ab. Diese Zahlen sind aber nur von, ob ihre Eltern miteinander verheiratet sind oder bedingt aussagekräftig. Wir kennen nicht die Gründe da- nicht. Ich bin überzeugt davon, dass es für ein Kind am für, warum viele Eltern keine Sorgeerklärungen abge- allerbesten ist, wenn beide Eltern präsent sind und wich- ben. Einige dieser Eltern dürften geheiratet, andere wie- tige Angelegenheiten des Kindes gemeinsam entschei- derum nie zusammengelebt haben. den. Allerdings dürfen wir nicht die Augen davor ver- Um die Hintergründe näher zu beleuchten, hat das schließen, dass nicht alle Eltern in der Lage sind, in dem dafür notwendigen Umfang zu kooperieren. Bundesministerium der Justiz eine Praxisbefragung bei Rechtsanwälten und Jugendämtern durchgeführt. Diese Mit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 hat der Befragung hat ein vielschichtiges Bild ergeben und ge- Gesetzgeber nicht miteinander verheirateten Paaren erst- zeigt, dass hierzu eine wissenschaftlichen Ansprüchen mals die Möglichkeit gegeben, die elterliche Sorge ge- genügende empirische Untersuchung erforderlich ist. Ich meinsam auszuüben. Der Gesetzgeber hat damit aner- denke, dass die Regelung des § 1626 a BGB nun – zehn kannt, dass inzwischen viele Paare ohne Trauschein Jahre nach Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformge- zusammenleben und sich gemeinsam um ihre Kinder setzes – hinreichend gesellschaftlich verankert und er- kümmern. Allerdings musste der Gesetzgeber dabei probt ist, um sie auf den Prüfstand einer umfassenden auch eine Tatsache berücksichtigen, die ich für sehr wissenschaftlichen Untersuchung zu stellen. Auf der wichtig halte: Viele der nichtverheirateten Paare leben Grundlage ihrer Ergebnisse kann dann entschieden wer- nicht oder nicht auf Dauer in einer stabilen Beziehung, den, ob und gegebenenfalls wie Väter künftig stärker an sondern auch in flüchtigen oder instabilen Beziehungen. der gemeinsamen Sorge beteiligt werden sollen. Vor Ab- Nach einer Studie zur Lebenslage nichtehelicher Kinder, schluss dieser Untersuchung sehe ich keinen gesetzgebe- die zur Vorbereitung der Kindschaftsrechtsreform in rischen Handlungsbedarf. Auftrag gegeben worden war, führen nichtverheiratete Eltern zu Beginn der Schwangerschaft zu 81 Prozent eine Partnerschaft; ist das Kind sechs Jahre alt, so sind es Anlage 7 noch 17 Prozent. Wir können daher nicht davon ausge- hen, dass nicht miteinander verheiratete Eltern in jedem Zu Protokoll gegebene Rede Fall bereit und in der Lage sind, zum Wohl des Kindes zur Beratung: zu kooperieren. Würden wir einen Elternteil zur gemein- samen Sorge zwingen, entstünde die Gefahr, dass für das – Antrag: Menschenrechtslage in Tibet ver- Kind wichtige Entscheidungen durch Streitigkeiten der bessern (B) Eltern verzögert oder überhaupt nicht getroffen werden. – Beschlussempfehlung und Bericht: Fest- (D) Dies ginge zulasten des Kindes, dessen Schutz das Sor- nahme des chinesischen Dissidenten Hu Jia gerecht als „Pflichtrecht“ der Eltern in erster Linie dient. Aus diesem Grund verlangt die gesetzliche Regelung, Entschließung des Europäischen Parlaments dass die Eltern übereinstimmende Sorgeerklärungen ab- vom 17. Januar 2008 zur Inhaftierung des geben und dadurch ihre Bereitschaft dokumentieren, in chinesischen Bürgerrechtlers Hu Jia Angelegenheiten des Kindes zu kooperieren. (Zusatztagesordnungspunkte 8 und 9) Ich weiß, dass die bestehende gesetzliche Regelung vor allem vonseiten betroffener Väter vielfach kritisiert Michael Leutert (DIE LINKE): Die Menschen- wird. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2003 rechtslage in der Volksrepublik China im Allgemeinen, den Zeitraum seit dem Inkrafttreten der Regelung noch in Tibet im Besonderen, ist völlig zu Recht immer wie- für zu kurz gehalten, um das Regelungskonzept infrage der Thema in der politischen Öffentlichkeit und daher zu stellen. Ich finde, das Bundesverfassungsgericht hat auch im Bundestag. In China finden Modernisierungen hier eine sehr überlegte Entscheidung getroffen, indem von Staat und Gesellschaft statt, die immer mehr deut- es die Regelung des § 1626 a BGB für verfassungskon- lich machen, dass menschenrechtliche Mindestnormen form erklärte und gleichzeitig den Gesetzgeber ver- unzureichend erfüllt sind. Die Bindung staatlichen Han- pflichtet, die tatsächliche Entwicklung zu beobachten delns an Menschenrechtsnormen ist eine notwendige Be- und die gesetzlichen Annahmen zu überprüfen. dingung für eine humane Praxis. Wir haben seit der Entscheidung des Bundesverfas- Sicher, der Bundestag ist kein wissenschaftliches sungsgerichts verschiedene Maßnahmen ergriffen, um Institut, in dem an der Erörterung einer sehr überschau- diesem Prüfauftrag nachzukommen, von denen ich Ih- baren Themen- und Problempalette mit viel Zeit und Er- nen folgende kurz vorstellen möchte: Durch eine Ände- kenntnisorientierung gearbeitet werden kann. Aber das rung des Achten Buchs Sozialgesetzbuch wird seit dem heißt für uns nicht, dass wir uns unbeeindruckt von Jahr 2004 die Begründung der gemeinsamen Sorge Sachkenntnis auf schwierige Probleme werfen dürfen, durch Sorgeerklärung statistisch erfasst. Die erhobenen was ja auch Folgen haben soll für politisches Handeln. Statistiken zeigen, dass etwa 45 Prozent der nicht mit- Die FDP erfüllt in ihrem hier vorliegenden Antrag die einander verheirateten Eltern die gemeinsame Sorge Kenntnisanforderungen nicht. Woher wissen Sie eigent- durch Sorgeerklärungen begründen. Dies bedeutet, dass lich, dass das Vorgehen der chinesischen Sicherheits- das Rechtsinstitut der Sorgeerklärung zu einem großen kräfte in Tibet nach dem Gewaltausbruch in Tibet unan- Teil gut angenommen wird. Andererseits geben immer- gemessen war? Als es noch eine Presseöffentlichkeit 18442 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) gab, konnte man von deutschen Beobachtern wie Georg die Angaben bestätigen; danach sieht es aus – die Ent- (C) Blume hören, dass die Reaktionen auf die Gewaltausbrü- führung und Verschleppung von deutschen Segeltouris- che eher zurückhaltend waren. Selbst die tibetische Exil- ten. Dies sind nur zwei Fälle, die exemplarisch für einen regierung hat ihre Angaben über die Anzahl der Todes- ernormen Anstieg von Piraterie stehen. Dies gilt welt- opfer ebenso massiv wie kleinlaut heruntergeschraubt. weit, aber besonders in den Gewässern vor der somali- Ebenso abenteuerlich ist es, von Protesten und Demonst- schen Küste. Im vergangenen Jahr meldeten deutsche rationen dort zu reden, wo es sich um xenophobe Gewalt- Reederein fast vier Dutzend Piraterievorfälle weltweit exzesse handelt. von insgesamt 263 gemeldeten Fällen. 80 Prozent der Angriffe finden in Küstennähe statt. In diesem Jahr wa- Wir sind alle hier im Plenum durch Herrn Staatsmi- ren es bereits 20 Angriffe vor den Küsten Somalias. Der nister Erler informiert worden. Erklären Sie mir doch Golf von Aden, die Gewässer um das Horn von Afrika, bitte, was Xenophobie mit kulturellen und religiösen gehören zu den meist befahrenen der Welt. Hier verläuft Rechten zu tun haben könnte! Nein, derartige Anträge eine Hauptader des internationalen Seehandelsverkehrs. muss meine Fraktion ablehnen. Nun liegt noch ein An- trag vor: ein Antrag zu einer „Entschließung des Euro- Deutschland als Exportnation Nummer eins, mit der päischen Parlaments vom 17. Januar 2008 zur Inhaftie- größten und modernsten Containerflotte und der dritt- rung des chinesischen Bürgerrechtlers Hu Jia“. Meine größten Handelsflotte weltweit, hat ein vitales Interesse, Fraktion wird sich enthalten. dass Piraterie bekämpft wird. Dies kann als Nothilfe auf Zunächst: Wie so häufig ist unsere Fraktion nicht in die See auf der Grundlage des Seerechtsübereinkommens, Erarbeitung einbezogen worden, alle anderen Fraktionen das wir 1994 ratifiziert haben, bereits geschehen. Im dieses Parlaments schon. Sie haben das nicht aus alter Ge- Rahmen der Antiterrormission Enduring Freedom ist die wohnheit heraus vergessen, sondern im Menschenrechts- deutsche Marine im Bereich der Gewässer um das Horn ausschuss sogar ausdrücklich abgelehnt. Wenn der vorlie- von Afrika präsent. Zurzeit leistet die Besatzung der Fre- gende Antrag richtig und sinnvoll sein sollte, kann er gatte „Emden“ hervorragenden Dienst. Auch das muss nicht plötzlich dadurch falsch oder sinnlos werden, wenn hier einmal erwähnt werden. ein Antragsteller mehr dabei ist. Genau das behaupten Sie Die besondere Lage in den Gewässern vor Somalia aber durch Ihr Verhalten. Das sollte eigentlich schon für hat die internationale Staatengemeinschaft aber vor ein eine Enthaltung reichen. neues Problem gestellt. Somalia ist ein Land, dessen Nun steckt da aber tatsächlich etwas, was meine Frak- Verantwortliche nicht in der Lage sind und nicht die Mit- tion so nicht teilen kann. Wenn Sie die Entschließung tel haben, die Staatshoheit in den eigenen Gewässern des Europäischen Parlaments genau lesen, so müsste Ih- und an den eigenen Küsten auszuüben. Ein Ende dieser (B) nen eigentlich auffallen, dass neben einer Reihe richtiger desolaten und instabilen Situation in Somalia wird nicht (D) Forderungen eine sehr problematische aufgestellt wird: kurzfristig möglich sein. Daher war der Bereich der Ho- Das Europäische Parlament fordert darin vom Rat, ge- heitsgewässer bisher ein Schutzraum für operierende Pi- eignete Schritte gegenüber der VR China zu unterneh- raten, die teilweise in kleinen Schiffsverbänden operie- men, ohne auch nur ansatzweise zu konditionieren, was ren, bestens ausgerüstet und schwer bewaffnet sind. Sie eigentlich „geeignet“ sein soll. Damit wird politische konnten von fremden Kriegsschiffen bisher nicht in der Legitimation überanstrengt. Sie mögen darin kein Pro- 12-Meilen-Zone aufgebracht werden. Somalia selbst blem sehen, wir schon. Aus diesen Gründen ist es uns aber fehlen dazu die Mittel. nicht möglich, die Entschließung des Europäischen Par- Durch die Resolution 1816 der Vereinten Nationen laments uneingeschränkt zu begrüßen, sondern wir wer- können Piraten nun für zunächst sechs Monate auch in den uns enthalten. den Hoheitsgewässern Somalias von Kriegsschiffen an- derer Staaten verfolgt werden. Diese Resolution ist der besonderen politischen Situation Somalias geschuldet. Anlage 8 Sie ist in Übereinstimmung mit der Übergangsregierung Zu Protokoll gegebene Reden in Somalia verabschiedet. Es ist sicherlich richtig, diese besonders schwierige politische Übergangssituation So- zur Beratung der Anträge: malias auch als einen wesentlichen Faktor für die ver- – Bekämpfung von Piraterie mehrte Piraterie in diesen Gewässern zu benennen. Es ist keine Frage, dass eine stabile, politische Situation in So- – Ursachen der Piraterie vor der somalischen malia so schnell als möglich mit internationaler Hilfe er- Küste bearbeiten – Politische Konfliktlö- reicht werden muss. sungsschritte für Somalia vorantreiben Dazu hat es hier im Haus entsprechende Debatten und (Tagesordnungspunkt 27 und Zusatztagesord- Entschließungen gegeben. Es ist aber sicherlich nicht nungspunkt 11) sinnvoll, in dieser Situation, in der schnelles Handeln an- gezeigt ist, den ganzen, sehr komplexen Themenbereich Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Die Nachrichten mit auf den Tisch zu heben. Deshalb halte ich den noch über Piraterie und Entführungen in den Gewässern um kurzfristig von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ein- das Horn von Afrika sind bedrückend ernst und fordern gebrachten Antrag in dieser Situation für nicht hilfreich, uns zum schnellen Handeln auf. Nach dem Lübecker sondern eher bremsend und ablenkend. Wir müssen uns Frachter „Lehman Timber“ schockiert nun – wenn sich heute um die Lösung eines deutschen Dilemmas bemü- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18443

(A) hen. Wie kann die deutsche Marine befähigt werden, au- Es ist also in der Tat an der Zeit – und ich denke hier- (C) ßerhalb eines Verteidigungsfalles und außerhalb der Not- über sind sich alle einig –, dass die internationale Ge- hilfe gegen Piraterie vorzugehen? Das ist die Frage. Die meinschaft das Piratenunwesen auf den Weltmeeren Antwort liegt in der Schaffung einer verlässlichen, ein- wirksamer und effektiver bekämpfen muss! Ich möchte deutigen Rechtsgrundlage. Dazu müssen Veränderun- hier aber auch betonen, dass meines Erachtens die völ- gen, ja, Erweiterungen der grundgesetzlichen Vorausset- kerrechtlichen Voraussetzungen zur Bekämpfung der zungen geschaffen werden. Piraterie bereits gegeben sind. Hierfür ist eine Änderung Akte der Piraterie sind grundsätzlich kein Terroris- des Grundgesetzes nicht notwendig. Die Deutsche Ma- mus. Es sind kriminelle Verbrechen. Die Verbrechensbe- rine hat bereits heute alle rechtlichen Befugnisse, die sie kämpfung übernimmt bei uns die Polizei, nicht das Mili- zur Bekämpfung von Piraterie braucht. So ist Nothilfe tär. Das Mandat im Rahmen der Operation Enduring natürlich auch auf Hoher See jederzeit möglich und be- Freedom sieht Maßnahmen zur Bekämpfung des interna- darf keiner weiteren rechtlichen Klärung: Wenn deut- tionalen Terrorismus vor, nicht die Bekämpfung der Pi- sche oder Schiffe anderer Länder in unmittelbarer Not raterie. Nach dem internationalen Seerechtsübereinkom- sind, kann die Bundeswehr gegebenenfalls eingreifen. men, das Deutschland 1994 ratifiziert hat, hat aber jedes Die Befugnis von Kriegsschiffen, Seeräuberschiffe auf- Kriegsschiff das Recht, ein Piratenschiff aufzubringen zubringen, gehört zu den allgemeinen Regeln des Völ- und die Personen des Schiffes festzunehmen. Dieses ist kergewohnheitsrechtes. Den völkerrechtlichen Rahmen aber auf den Fall der Nothilfe, also die Zeit des tatsächli- hierfür bietet seit 1982 das 3. Seerechtsübereinkommen chen Angriffs beschränkt. Die weitere Verfolgung der der Vereinten Nationen, welches der Deutsche Bundes- Kriminellen auf See ist nach unseren Gesetzen Polizei- tag am 2. September 1994 ratifiziert hat und in dem sich aufgabe. auch Deutschland in Art. 100 ausdrücklich zur Bekämp- fung der Piraterie verpflichtet. Des Weiteren hat der UN- Eine Veränderung und Erweiterung unseres Grundge- Sicherheitsrat, angesichts der Situation vor der Küste setzes könnte eine klare Grundlage für bewaffnete Ein- Somalias, am 2. Juni 2008 per UN-Resolution 1816 die sätze der Bundesmarine schaffen. Diese Notwendigkeit vor Ort operierenden Seestreitkräfte ermächtigt, auch in- wird im Antrag der Liberalen leider so nicht deutlich nerhalb der somalischen Hoheitsgewässer (12-Meilen- hervorgehoben. Dabei ist es auch nicht das Ziel, eine Vermischung von Einsätzen der Bundeswehr im Innern Zone) gemäß Seerechtsübereinkommen gegen Piraten und Äußeren zu schaffen. Vielmehr brauchen wir Klar- vorzugehen. Das heißt, die somalische Regierung hat heit in den deutschen Gesetzesgrundlagen, damit wir den ausdrücklich die Vereinten Nationen um Hilfe gebeten. Verpflichtungen aus dem Seerechtsübereinkommen und Nach Art. 24 des Grundgesetzes wäre das eine Maß- nahme der kollektiven Sicherheit und durch eine UN- (B) den Notwendigkeiten der Bekämpfung moderner Pirate- (D) rie entsprechen können. Es ist wichtig, hier entspre- Resolution abgedeckt. chende Grundlagen zu schaffen, um unserer Marine die Bei der Frage, ob eine Erweiterung des OEF-Manda- nötige Handlungssicherheit zu geben. Daher ist es rich- tig, dass die Bundesregierung die Möglichkeiten einer tes ein geeigneter Weg zur Bekämpfung der Piraterie ist, Verfassungsänderung prüft. Wir müssen schnell zu habe ich jedoch meine Zweifel. OEF verfolgt andere einem Ergebnis kommen, damit die deutsche Marine an Ziele, eine Erweiterung des Mandats wäre deshalb mei- der Absicherung der Gewässer vor Somalia effektiv mit- nes Erachtens der falsche Weg. Es ist in diesem Zusam- wirken kann. Die Gefahr durch Piraterie muss schnellst- menhang auch durchaus lohnenswert über den franzö- möglich eingedämmt werden. sisch-spanischen Vorschlag nachzudenken. Spanien und Frankreich haben eine eigenständige ESVP-Mission zur Bekämpfung der Piraterie in die Diskussion eingebracht. Dr. Rolf Mützenich (SPD): Die heutige Debatte hat Dies wird unter anderem auch Thema beim Allgemeinen einen traurigen aktuellen Anlass. Vor zwei Tagen haben Rat Ende Juni in Brüssel sein. Eine solche ESVP-Mis- somalische Piraten bei einem Überfall auf eine Jacht sion scheint mir ein gangbarer Weg zur Bekämpfung der eine dreiköpfige deutsch-französische Familie und den Piraterie zu sein und würde natürlich ebenfalls eine Kapitän des Schiffes gekidnappt. Die Gewässer vor So- Mandatierung durch den Deutschen Bundestag erfor- malia gehören für die internationale Schifffahrt zu den gefährlichsten der Welt, weil Piraten dort immer wieder dern. Die Ansicht des Verteidigungsministeriums, dass Schiffe und Boote überfallen. Insgesamt ist die Piraterie die deutsche Verfassung es der Marine bisher verbiete auf nahezu allen Weltmeeren auf dem Vormarsch. Die einzugreifen und dies Aufgabe der Bundespolizei sei, moderne Piraterie ist gewalttätiger, blutiger und brutaler kann ich nicht teilen. Die Gegebenheiten vor der deut- geworden. Am gefährlichsten sind die Gewässer vor In- schen Küste und die Kompetenzstreitigkeiten, die sich donesien und Sri Lanka. Als riskant gelten auch die aus dem deutschen Föderalismus ergeben, können und Malakkastraße – vor allem bei Singapur und Kuala Lum- sollten auch nicht auf die Hohe See übertragen werden. pur –, das Rote Meer und neuerdings die Küste Soma- Die Forderung, Art. 87 zu ergänzen, damit die Bundes- lias. Doch nicht nur der Indische Ozean ist Jagdgebiet wehr ausdrücklich bisherige Polizeibefugnisse überneh- von Seeräubern. Auch der Ostpazifik – hier vor allem men dürfte, macht im Zusammenhang mit der Bekämp- die Philippinen und die chinesischen Küstengewässer – fung der Piraterie jedenfalls wenig Sinn. Hier stellt sich und der Südatlantik und die Küste vor Nigeria sind Pira- die Frage, ob dies nicht vielmehr ein weiterer Versuch tengebiet. Allein 2007 sind 43 deutsche Schiffe von Pi- von Teilen der Union ist, die Grenzen zwischen innerer raten überfallen worden. und äußerer Sicherheit zu verwischen. 18444 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) Rolf Kramer (SPD): Die Piraterieüberfälle am Horn Wie sieht es nun mit dem Einsatz deutscher Kriegs- (C) von Afrika und in den Küstengewässern Somalias häu- schiffe in fremden Hoheitsgewässern aus. Nach § 16 fen sich in den letzten Wochen und Monaten. Sie gefähr- Seeaufgabengesetz ist dort die Bundespolizei zuständig, den zum Teil massiv die internationale und lokale zivile wenn Deutschland von dem jeweiligen Küstenland um Seeschifffahrt in diesem Bereich. Erst am Wochenende Hilfe gebeten wird. Um nun die Marine einsetzen zu ist wieder die Entführung eines deutschen Ehepaares von können, bedarf es aus unserer Sicht aber auch hier keiner einer Jacht nach Somalia bekannt geworden. Neben den Grundgesetzänderung. Auch die Änderung des Seeauf- Fällen sogenannter Gelegenheitspiraterie mehren sich gabengesetzes und anderer einschlägiger Verordnungen am Horn von Afrika Fälle von organisierter Piraterie. ist nicht erforderlich. Es besteht kein plausibler Grund, Davon betroffen sind auch humanitäre Hilfslieferungen, das Seeaufgabengesetz auf hoher See und in fremden die für die notleidende Bevölkerung in Somalia be- Küstengewässern anders auszulegen. Die dort beschrie- stimmt sind. Die Übergangsregierung von Somalia ist bene Kompetenzzuweisung an die Bundespolizei ist aus zur Pirateriebekämpfung in ihren Küstengewässern nicht unserer Sicht nicht abschließend zu verstehen, sodass die in der Lage und hat sich deshalb an die Staatengemein- Kriegschiffe der Marine zur Pirateriebekämpfung, wie schaft mit der Bitte um Unterstützung gewandt. im Seerechtsübereinkommen vorgesehen, eingesetzt werden können. Der UN-Sicherheitsrat hat am 8. Juni 2008 einstim- mig die Resolution 1816 (2008) zu „Maßnahmen gegen International stehen damit aus unserer Sicht der Pira- Piraterie und bewaffneten Raub vor Somalias Küste“ teriebekämpfung durch die deutsche Marine keine ver- verabschiedet. Der Kern dieser unter Kapitel VII der fassungsrechtlichen Probleme entgegen. Diese stellen VN-Charta verabschiedeten Resolution ist, dass die im sich nur im nationalen Küstenmeer. Aber dieses Thema allgemeinen Völkerrecht – und dem Seerechtsüberein- stellt sich heute ja noch nicht. kommen – für den Bereich der hohen See vorgesehenen Befugnisse zur Piratenbekämpfung auf die Küstenge- Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Seit der Entmach- wässer Somalias ausgedehnt werden. Damit sind auch tung der Union Islamischer Gerichte, UIC, durch den dort Kriegsschiffe aller Staaten befugt, Piratenschiffe Einmarsch des äthiopischen Militärs in Somalia beschäf- aufzubringen, ihre Besatzung festzunehmen und an Bord tigen wir uns mit einer Kette von Piratenüberfällen vor befindliche Vermögensgegenstände zu beschlagnahmen. der Küste Somalias. Die somalische Übergangsregie- rung, die im Land wie auf ihren Gewässern weitgehend Die Resolution 1816 schafft damit quasi einen einheit- handlungsunfähig ist, hat den UN-Sicherheitsrat mehr- lichen „Pirateriebekämpfungsraum“ vor der somalischen fach um Hilfe bei der Bekämpfung von Piraterie gebe- Küste. Diese Befugnis gilt für Schiffe jener Staaten, die (B) ten. Als Konsequenz hat der UN-Sicherheitsrat am (D) mit der Übergangsregierung in Somalia zusammenarbei- 2. Juni 2008 Resolution 1816 verabschiedet, die es den ten und die von Somalia dem Generalsekretär der Verein- Staaten erlaubt, Piraten auch in somalischen Küstenge- ten Nationen vorab notifiziert werden. Diese Autorisie- wässern zu verfolgen und zu bekämpfen. Die Bundesre- rung gilt für zunächst sechs Monate und ist auf den gierung hat schnell signalisiert, dass sie nur zu bereit ist, Einzelfall Somalia beschränkt. Soweit ist hier völker- einen aktiven militärischen Part bei der Piratenbekämp- rechtlich alles klar. fung zu übernehmen. Seither ist in Deutschland eine De- batte darüber entbrannt, welche verfassungsrechtlichen Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Dürfen Möglichkeiten und Grenzen für eine Beteiligung der sich deutsche Marineverbände, die im Rahmen der OEF Bundeswehr an der aktiven, also militärischen, Bekämp- in der Region tätig sind, an dieser Pirateriebekämpfung fung von Piraterie bestehen. beteiligen? Auch wenn völkerrechtlich alles klar ist, ver- fassungsrechtlich gibt es noch einigen Klärungsbedarf. Die Bundesregierung spricht von einer Rechtsun- Für den Einsatz der deutschen Streitkräfte bedarf es ei- sicherheit, die sich aus Art. 87 a des Grundgesetzes er- ner verfassungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlage, dass gibt, der den Einsatz der Bundeswehr auf den Verteidi- heißt, das Grundgesetz muss den Einsatz der Streitkräfte gungsfall beschränkt. Diese Rechtunsicherheit möchte ausdrücklich genehmigen. Dies ergibt sich aus Art. 87 a die Bundesregierung mit einer Verfassungsänderung Abs. 2 GG. Nun stellt sich die Frage, ob über die Art. 24 ausräumen. Die FDP argumentiert in ihrem knapp gehal- und Art. 25 des Grundgesetzes nicht eine solche Er- tenen Antrag in die entgegengesetzte Richtung: Eine mächtigungsgrundlage hergestellt werden kann. Verfassungsänderung sei nicht nötig, da die Grundge- setzartikel 24 und 25 auf den Vorrang des Völkerrechts Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion ist dies mög- vor dem Bundesrecht verweisen und damit die Bundes- lich, da das Völkergewohnheitsrecht ebenso wie Art. 105 wehr der Ermunterung des UN-Sicherheitsrates, aktiv des VN-Seerechtsübereinkommens von 1982 den gegen Piraten vorzugehen, nachkommen könne bzw. so- Kriegsschiffen und besonders damit beauftragten Staats- gar müsse. schiffen aller Staaten erlauben, auf hoher See gegen Pi- ratenschiffe vorzugehen. Diese Vorschriften finden ins- Am Ende steht hinter dieser juristischen Debatte das- besondere über Art. 25 direkt Eingang in das nationale selbe politische Ziel: Deutsche Soldaten sollen einen Recht. Einer Verfassungsänderung hinsichtlich des Art. Freibrief erhalten, über die im Seerechtsübereinkommen 87 a Grundgesetz bedarf es daher aus unserer Sicht der Vereinten Nationen vorgesehene Nothilfe hinaus nicht. Der Parlamentsvorbehalt bleibt im Übrigen davon eine aktive, militärische Rolle in der Piratenbekämpfung unberührt. einzunehmen. Sie sollen dafür auch präventiv und ohne Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008 18445

(A) parlamentarische Debatte stationiert werden können. Die mutiert ist. Hier wollen die Liberalen die Union rechts (C) Linke lehnt einen Einsatz der deutschen Marine gegen überholen. Piraten ab. Die Bekämpfung von Piraterie ist und bleibt eine Polizei- nicht eine Militäraufgabe. Wir lehnen des- Die FDP distanziert sich mit diesem Antrag von ihrer halb den Antrag der FDP ab. eigenen Regierungspolitik. Als 1994 das Seerechtsüber- einkommen in deutsches Recht überführt wurde, lag die Ganz im Gegensatz zu dem Antrag der FDP befasst Federführung bei der FDP. Sie stellte damals den Außen- sich der vorliegende Antrag der Grünen mit den Ursa- minister und die Justizministerin. Wir sind bislang im- chen der Piraterie in Somalia: dem vollständigen Fehlen mer davon ausgegangen, dass es ein Kernanliegen der jeder Staatlichkeit und dem seit Jahren andauernden Ge- FDP war und ist, dass die Bekämpfung der Piraterie eine waltkonflikt. Wir teilen die Position der Grünen, dass polizeiliche Aufgabe und keine militärische Aufgabe Somalia politische Lösungen braucht. Ebenso teilen wir sein darf. die Hoffnung auf einen Friedensprozess und die Forde- Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine rung nach einem Abzug des äthiopischen Militärs aus Frage des Kollegen Stinner bekräftigt, dass es sich bei dem Land. Allerdings können wir uns in der Frage des den Pirateriebekämpfungsbestimmungen des VN-See- internationalen militärischen Engagements dem Antrag rechtsübereinkommens um Völkergewohnheitsrecht han- nicht anschließen. Die von der Afrikanischen Union ge- delt. Das wurde bislang auch von niemandem bestritten. führte Militärmission AMISOM ist gescheitert, eine In einer Antwort auf eine FDP-Anfrage hat sie im Mai Überführung in eine UN-geführte Mission nach demsel- dieses Jahres aber ebenfalls klargestellt: „Die allgemeine, ben Muster würde ebenfalls scheitern. Somalia braucht gefahrunabhängige Befugnis zum Aufbringen von Pira- einen Friedensprozess. In diesen müssen jedoch alle tenschiffen ist eine Befugnis, keine unbedingte Verpflich- Konfliktparteien und die Zivilbevölkerung eingebunden tung.“ Und sie fügte hinzu: „Ob und gegebenenfalls unter sein. Das ist bei dem aktuellen Übereinkommen zwi- welchen Voraussetzungen ein Schiff der Deutschen Ma- schen der somalischen Übergangsregierung und der „Al- rine von dieser völkerrechtlichen Befugnis Gebrauch ma- lianz für die Befreiung Somalias“ leider nicht der Fall chen kann, ist verfassungsrechtlich nicht abschließend und daher ist das Übereinkommen in der Tat fragil. Um geklärt.“ es zu stabilisieren, braucht man keine internationalen Truppen mit robustem Mandat, sondern einen von allen Dies ist der entscheidende Punkt. Alle Bundesregie- Seiten akzeptierten und beauftragten echten Blauhelm- rungen und die Mehrzahl der Völkerrechtsexperten hat- einsatz, um den vereinbarten Waffenstillstand zu über- ten sich bisher darauf verständigt, dass eine Beteiligung wachen. Wenn die Grünen sich dazu entschließen könn- deutscher Kriegsschiffe und Flugzeuge verfassungs- rechtlich nicht zulässig ist. Auch deshalb fordert die Ma- (B) ten, ihren Antrag an dieser Stelle präziser zu formulieren (D) und sich von der Forderung nach einer UN-geführten rine und insbesondere die Union eine Änderung des Kampftruppe zu trennen, würde es meiner Fraktion Art. 87 a. Wir können die FDP nur davor warnen, mit leichter fallen, diesem Antrag zuzustimmen. So werden dem Grundgesetz Schindluder zu treiben. Dies gilt auch wir uns enthalten. für die Arbeitsgruppe der Regierungskoalition. Wenn Sie der Auffassung sind, die Bekämpfung von Piraterie sei eine Daueraufgabe, die mit militärischen Mitteln und Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von der Bundeswehr wahrgenommen werden soll, dann NEN): Die Frage der Pirateriebekämpfung ist kein neues müssen Sie das Grundgesetz ändern. Thema. Neu ist jedoch, dass die FDP heute den Antrag vorlegt, dass die Bundeswehr unter Berufung auf Art. 25 Hinter dem ganzen Hin und Her, ob Grundgesetzände- Grundgesetz – und damit ohne Verfassungsänderung – rung oder keine Grundgesetzänderung, steckt eigentlich eine ganz andere Frage, nämlich: Soll sich Deutschland weltweit Jagd auf Piraten machen soll. Das heißt, es geht länger mit Marineeinheiten an der Antiterror-Operation um die hochbrisante Frage der verfassungsrechtlichen „Enduring Freedom“ am Horn von Afrika beteiligen. Wir Zulässigkeit von Einsätzen der Marine im In- und Aus- meinen, ganz klar nein. Nicht nur die Rechtfertigung land. Nicht mehr und nicht weniger verbirgt sich hinter über das Selbstverteidigungsrecht ist nach mehr als sechs diesem Antrag. Jahren äußerst brüchig geworden. Es gab in den vergan- Dies ist ein klarer Kurswechsel und eine völlige Neu- genen Jahren auch keine terroristischen Bewegungen, die interpretation des Grundgesetzes. Wir hatten beantragt, auf diesem Wege aufgeklärt werden konnten. darüber in den Ausschüssen zu debattieren. Das hat die Wir wissen, dass viele Abgeordnete der Koalition den FDP abgelehnt. Die FDP weiß sehr gut, dass sie mit ih- OEF-Einsatz lieber heute als morgen beenden möchten. rer gewagten Interpretation die Büchse der Pandora öff- Dass dies nicht geschieht, liegt daran, dass die einen den net. Das ist alles nicht durchdacht. Ich habe doch den Zorn Washingtons fürchten und die anderen mit der Eindruck: Ihnen geht es nicht um die Sache, sondern um deutschen Marine sowieso Größeres vorhaben. Manche zweifelhafte politische Stimmungsmache. Daran werden sähen sie gerne als weltweit operierende maritime Welt- wir uns nicht beteiligen. polizei zur Sicherung deutscher Rohstoffwege, Absatz- märkte und sonstiger Interessen. Es fällt schon auf, dass die FDP mit ihrem Ruf nach robusterem und offensiverem militärischen Vorgehen in In dieser Gemengelage kommen einigen von Ihnen Afghanistan und am Horn von Afrika inzwischen zu den die Piraten am Horn von Afrika gerade recht. Sie sehen militärischen Scharfmachern im Deutschen Bundestag in der UN-Resolution 1816 über Maßnahmen gegen Pi- 18446 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2008

(A) raterie und bewaffneten Raub vor der Küste eine neue kooperative Zukunftsperspektive gibt. Das ist wichtiger (C) Rechtsgrundlage für eine Bundeswehrbeteiligung. Sie als die von der FDP heute angestoßene Geisterschiffde- plädieren dafür, die Pirateriebekämpfung zum Auftrag batte. von OEF zu machen. Wir lehnen das entschieden ab. Antiterrorkampf und Bekämpfung der Piraterie sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Wenn sich die Bun- Anlage 9 desregierung mit bewaffneten Streitkräften an der Um- setzung der Resolution 1816 im Küstenmeer Somalias Neuabdruck der Antwort beteiligen will, dann muss die dem Bundestag auf jeden der Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl auf die Fragen Fall ein neues Mandat vorlegen und darlegen, warum der der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) Einsatz bewaffneter Streitkräfte gegen Piraten nun ver- 171. Sitzung (Drucksache 16/9683, Fragen 34 und 35): fassungsrechtlich konform sein soll. Wie haben sich die Gehälter der Vorstände der zehn größ- ten Unternehmen (bezogen auf die Höhe des Nennkapitals), Allerdings haben wir erhebliche Zweifel, ob diese an denen der Bund unmittelbar beteiligt ist, in den letzten fünf taktischen juristischen Manöver auf stürmischer politi- Jahren entwickelt (bitte Angaben in absoluten Zahlen)? scher See die angemessene und die vordringlichste Art Wie haben sich die Bonuszahlungen für die Vorstände der und Weise sind, dem Problem der Piraterie an der soma- zehn größten Unternehmen (bezogen auf die Höhe des Nenn- lischen Küste Herr zu werden. Wer die Ursachen der Pi- kapitals), an denen der Bund unmittelbar beteiligt ist, in den letzten fünf Jahren entwickelt (bitte Angaben in absoluten raterie vor der somalischen Küste beseitigen will, muss Zahlen)? sich an die Ursachen machen, und die liegen an Land, nämlich in einer weiter zunehmenden Destabilisierung Die zehn größten Unternehmen, an denen der Bund Somalias. Meine Fraktion hatte hierzu bereits einen An- unmittelbar beteiligt ist, sind – bezogen auf das Nenn- trag vorgelegt, dem der Bundestag im Juni 2007 mehr- kapital zum 31. Dezember 2006 – die Deutsche Telekom heitlich zugestimmt hat. Gefolgt ist daraus leider seitens AG, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Deutsche der Bundesregierung nichts. Bahn AG, die Flughafen München GmbH, die DFS Deutsche Flugsicherung GmbH, die TLG IMMO- Die Bundesregierung muss dem Somalia-Konflikt BILIEN GmbH, die Internationale Mosel-Gesellschaft endlich mehr Aufmerksamkeit widmen und sich aktiver mbH, die Duisburger Hafen AG, die Deutsche Gesell- an Initiativen zur Beilegung des Konflikts zwischen schaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH Äthiopien und Eritrea beteiligen. Dazu legen wir Ihnen und die BWI Informationstechnik GmbH. heute erneut einen Antrag vor. Die äthiopische Armee Die Entwicklung der Gehälter und Bonuszahlungen muss sich schnellstmöglich aus Somalia zurückziehen, der Mitglieder des Vorstandes der Aktiengesellschaften (B) und eine Stabilisierungstruppe der Vereinten Nation – (D) bzw. der Geschäftsführer der Gesellschaften mit be- übergangsweise AMISOM – muss entsandt werden. Der schränkter Haftung kann überwiegend den Geschäftsbe- Sondergesandte des VN-Generalsekretärs muss zur Um- richten bzw. dem Beteiligungsbericht entnommen wer- setzung des Übereinkommens vom 9. Juni zwischen den. Übergangsregierung und ARS aktiv unterstützt werden. Und wir müssen Somalia in Aussicht stellen, dass es für In einzelnen Fällen wird unter Bezugnahme auf § 286 eine von allen maßgeblichen politischen Kräften ein- Abs. 4 HGB auf die Angabe der Gesamtbezüge verzich- schließlich der UIC getragene Übergangsregierung eine tet, so aktuell bei der Duisburger Hafen AG.

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980