APuZAus Politik und Zeitgeschichte 20/2010 · 17. Mai 2010

60 Jahre ARD

Dietrich Schwarzkopf Die ARD – Begleiterin deutscher Zeitgeschichte

Diemut Roether Spannungsverhältnisse – eine kritische Würdigung der ARD

Konrad Dussel Entstehung und Entwicklung einer Gemeinschaft

Gemma Pörzgen Die Welt im Blick: ARD-Auslandskorrespondenten

Michael Meyen Die ARD in der DDR

Hans-Jürgen Krug Von der Vielstimmigkeit zur Marke: 60 Jahre ARD-Hörfunk

Knut Hickethier „Tatort“ und „Lindenstraße“ als Spiegel der Gesellschaft Editorial Am 9. und 10. Juni 1950 beschlossen die Intendanten der sechs öffentlich-rechtlichen Sender im Westen des geteilten Deutsch- lands – Nordwestdeutscher Rundfunk (britische Besatzungs­ zone), Südwestfunk (französische Zone), , Süddeutscher Rundfunk, und Bre- men (alle amerikanische Zone) –, die „Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“ zu gründen. Vier Jahre später ging deut- sche Fernsehprogramm auf Sendung, gemeinschaftlich veran- staltet von der ARD und anfangs nur für zwei Stunden täglich.

Zum „Ersten“ sind inzwischen über zehn weitere Fernseh- programme, mehr als fünfzig Radioprogramme sowie diverse Onlineangebote dazugekommen. Die ARD spielt damit eine herausragende publizistische Rolle in Deutschland, die große gesellschaftliche Verantwortung für die unabhängige Meinungs- und Willensbildung der Bevölkerung mit sich bringt. Allerdings hat sie schon längst keine Monopolstellung mehr: Seit 1963 gibt es das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF), ebenfalls mit Gebüh- ren finanziert, seit 1984 auch Privatsender, welche die Öffent- lich-Rechtlichen vor allem im Unterhaltungsbereich konstant unter Zugzwang setzen. Zwar genießt die ARD im Bereich der „seriösen Berichterstattung“ nach wie vor einen Vertrauensvor- sprung beim Publikum, aber den Programmverantwortlichen wird vorgehalten, auch hier allzu häufig dem Druck der Quote nachzugeben – etwa, wenn erstklassige Dokumentationen erst spät abends „versendet“ werden.

Die weitere Entwicklung der ARD hängt auch vom Ausgang der aktuellen Debatte um ihre „Expansion“ ins Internet ab, de- ren Ende noch nicht abzusehen ist. Eines scheint indes sicher: Die publizistische Bedeutung der ARD ist in Zeiten sinkender Zeitungsauflagen und großer Unsicherheit, was die langfristige Finanzierung des unabhängigen Qualitätsjournalismus angeht, größer denn je. Umso mehr ist sie dem Gebot der Staatsferne verpflichtet.

Johannes Piepenbrink Dietrich Schwarzkopf aber nicht kann, weil die Wirkungskraft sich nicht entfaltet. Im Folgenden soll an einigen herausragenden Beispielen gezeigt werden, Die ARD – welche Rolle die ARD in den 60 Jahren ihres Bestehens als Begleiterin gespielt hat. Begleiterin deut- Wiedervereinigung

scher Zeitgeschichte Das wichtigste zeitgeschichtliche Ereignis in diesem historischen Abschnitt war die deut- sche Wiedervereinigung. Die Programme der Essay ARD waren von Anfang an Rundfunk für die deutsche Einheit. Dies galt auch für die er die ARD als Begleiterin deutscher Zeit, in der nicht wenigen Bürgern der Bun- WZeitgeschichte beschreiben will, muss desrepublik Deutschland, auch ARD-Redak- sich darüber klar sein, was Begleitung in die- teuren, das Streben nach Wiederherstellung sem Zusammenhang der deutschen Einheit als unrealistisch oder Dietrich Schwarzkopf bedeutet. Rundfunk, gar als nicht wünschenswert galt. Insbeson- Geb. 1927; Vorsitzender der His- öffentlich-rechtlicher dere das öffentlich-rechtliche Fernsehen aus torischen Kommission der ARD, zumal, hat die Aufga- Westdeutschland hatte zwischen dem Mauer- 1978 bis 1992 Programmdirektor be, Sachverhalte sach- bau 1961 und dem Mauerfall 1989 eine große Erstes Deutsches Fernsehen, lich darzustellen und gesamtdeutsche Bedeutung. zuvor unter anderem stellvertre- bewertend einzuord- tender NDR-Intendant und Leiter nen. Er tut dies im Die DDR-Führung hatte eingesehen, dass des Bonner Büros des Deutsch- Dienste des Publikums der Empfang westdeutscher Fernsehprogram- landfunks; Prinzenweg 1A, zu dessen Information, me in der DDR nicht zu verhindern war und 82319 Starnberg. der Voraussetzung für zog sich auf ein Verbot der Weiterverbreitung das Handeln als Bür- westlicher Informationen zurück. Das war ger in einer Demokratie. Zeitgeschichte bezieht eine informationspolitische Kapitulation. Das sich dabei nicht nur auf Sachverhalte, die von von der DDR-Führung angestrebte Informa- historischer Relevanz sind oder werden kön- tionsmonopol der eigenen Medien ließ sich nen, nicht nur auf die Politik im engeren Sinne, nicht verwirklichen. Stattdessen war sie da- sondern auf alle Lebensverhältnisse, die für die rauf verwiesen zu reagieren, zu dementieren, Bildung öffentlicher Meinung erheblich sind. abzustreiten und versuchte, die Glaubwürdig- keit westlicher Medien zu beschädigen. Der Was zeitgeschichtlich geschieht, wird von Erfolg einer solchen Politik setzt aber eigene den Medien dem Publikum vermittelt. Der Glaubwürdigkeit voraus, und die besaß die Rundfunk ist dabei, wie das Bundesverfas- Staats- und Parteiführung bei der DDR-Be- sungsgericht in seinem ersten Fernsehurteil völkerung nicht. Die DDR-Medien kamen in vom 28. Februar 1961 festgestellt hat – eine die Situation, westliche Nachrichten entweder Erkenntnis, an der das Gericht fortan in stän- aufzugreifen, um sie zu bekämpfen, oder ihre diger Rechtsprechung festhält –, Medium und Kenntnis beim Publikum vorauszusetzen. Faktor zugleich. Das heißt, der Rundfunk Damit verlor die DDR ihre informationspoli- (bislang bezogen auf Hörfunk und Fernsehen) tische Souveränität, wie sie sie sich vorgestellt ist nicht nur Mittler und Verteiler, sondern hatte, und die sie für die Erziehung der Be- auch in all seinen Programmen ein eminen- völkerung zum Sozialismus für erforderlich ter Faktor der öffentlichen Meinungsbildung. hielt. Die Erkenntnis, dass moderne Kommu- Eine solche Begleiterin schreitet nicht distan- nikationsmittel grenzenlos sind, und dass der ziert neben dem zeitgeschichtlichen Gesche- Versuch, sich dagegen abzuschotten, untaug- hen einher, sondern greift auch kraft medialer lich ist, kam der DDR-Führung zu spät. Wirkungsmacht willentlich oder unwillent- lich in das Geschehen ein. Dabei kann sich Den Grundlagenvertrag zwischen den bei- erweisen, dass die Begleiterin nicht eingreifen den deutschen Staaten und die Aufnahme in will, es aber trotzdem ihrer Wirkungskraft die Vereinten Nationen im Jahr 1973 verstand wegen tut, oder dass sie eingreifen möchte, die DDR-Führung als Anerkennung der Sou-

APuZ 20/2010 3 veränität des von ihr beherrschten Landes. für sich in Anspruch, die nationalsozialistische Gleichzeitig bewirkte die Zulassung west- Vergangenheit bewältigt zu haben und sich ge- deutscher Korrespondenten in Ost- ei- wissermaßen auf der Seite der Sieger über den nen weiteren Bedeutungsverlust der DDR- Faschismus zu finden, während alle Schuld für Medienpolitik. Es entstand nämlich eine in Nichtbewältigung, ja ein Fortleben dieser Ver- Ost und West gleichermaßen wahrgenom- gangenheit der Bundesrepublik anzulasten sei. mene innenpolitische Berichterstattung aus Der Antifaschismus der DDR war freilich ei- der DDR, die es bis dahin nicht gegeben hatte ner, bei dem die Bestimmung, wer zu den An- und die nicht dadurch zu verhindern war, dass tifaschisten gehöre, in der Hand der kommu- die DDR-Behörden die Korrespondenten der nistischen Bewegung lag. Antifaschismus in ARD und anderer bundesdeutscher Medien der DDR-Interpretation war auch ein Kampf- ständig drangsalierten. Das Motto der west- begriff zur Diffamierung der Bundesrepublik. deutschen Entspannungspolitik gegenüber Ost-Berlin lautete von Willy Brandt bis zu Diese verstand ihr Grundgesetz gerade- Helmut Kohl (insofern herrschte da Konti- zu als einen Gegenentwurf zu dem Totalita- nuität): „Die DDR nicht destabilisieren.“ Die rismus des nationalsozialistischen Regimes. westdeutschen Korrespondenten in der DDR Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete orientierten sich an dieser Grundhaltung der in seinem Urteil vom 4. November 2009, wel- Bundesrepublik. Doch natürlich enthielt ihre ches das Verbot der Friedensstörung durch Berichterstattung Elemente, die die DDR als öffentliche Billigung, Verherrlichung oder Destabilisierungsversuch ansah, zum Beispiel Rechtfertigung des NS-Regimes als verfas- die Berichte über die sich herausbildende Op- sungskonform bestätigte, die nationalsozia- position, zu einem nicht unerheblichen Teil listische Herrschaft als für die verfassungs- unter dem Dach der evangelischen Kirche. rechtliche Ordnung der Bundesrepublik von „gegenbildlich identitätsprägender Bedeu- Die Korrespondenten der ARD, wie an- tung, die einzigartig ist“. dere auch, nahmen die oppositionellen Kräf- te ernst. Demgegenüber suchte die SPD ge- Von dieser Grundposition aus und in Beglei- meinsam mit der SED nach einer Streitkultur tung der sich daraus ergebenden Politik setzte für Gespräche miteinander, und die west- sich die ARD kontinuierlich und umfassend deutschen Länder-Ministerpräsidenten stan- mit der nationalsozialistischen Vergangen- den Schlange, um dem Staatsratsvorsitzenden heit auseinander. Im Fernsehen geschah dies Erich Honecker ihre Aufwartung zu machen. mit Dokumentationen, auch Dokumentarrei- Niemand konnte die DDR daran hindern, sich hen („Europa unterm Hakenkreuz“, 1982/83) selbst zu destabilisieren, auch wenn das nicht und Spielhandlungen. Gemeinsames Merkmal das Ziel der Bonner Politik und einer beglei- dieser Programme war ein aufklärerisch-pä- tenden Berichterstattung war. Ihre größten dagogischer Ansatz. Er erschien dem öffent- Stunden hatte die Fernsehberichterstattung lich-rechtlichen Charakter angemessen, auch der ARD über die Demonstrationen 1989, die wenn das Publikum nicht selten zurückhal- schließlich zum Sturz des Regimes führten. tender reagierte, als es die Programmverant- Hier waren die Korrespondenten nicht nur wortlichen erwartet hatten. Begleitung, sondern Mit­akteure, bot doch die Anwesenheit westlicher Fernsehkameras Deshalb gab es in der ARD zunächst Vor- und die tagesaktuelle Berichterstattung in der behalte gegen die Übernahme des amerikani- „Tagesschau“ den Demonstranten auch einen schen Mehrteilers „Holocaust“ (1978), der die gewissen Schutz. Die Berichte über die Fried- Ermordung der europäischen Juden durch liche Revolution, den Mauerfall und den Weg die Nationalsozialisten mit den Mitteln emo- bis zur Wiedervereinigung 1990 waren Hö- tionsbetonter Dramaturgie zeigte. Auf Drän- hepunkte und Abschluss einer Begleitung bis gen des Westdeutschen Rundfunks wurde zum Ende der DDR. „Holocaust“ zunächst in den Dritten Fern- sehprogrammen der ARD gezeigt. Der Erfolg war außerordentlich. Die positive Reaktion Umgang mit der NS-Vergangenheit des Publikums ließ erkennen, dass es durch eine emotionsstarke personalisierte Darstel- Die DDR hatte sich dafür gerühmt, dass der lung von Figuren, mit denen man sich leicht Antifaschismus ihre Staatsräson sei. Sie nahm identifizieren konnte, einen Zugang zur Er-

4 APuZ 20/2010 kenntnis des Schreckenscharakters und der 1968 Dimension der Judenverfolgung fand, der ihm bisher so nicht geboten worden war. Der Rundfunkhistoriker und langjährige In- tendant des (inzwischen im Südwestrundfunk Deutsche Fernsehautoren und -produzen- aufgegangenen) Süddeutschen Rundfunks ten haben sich von „Holocaust“ inspirieren Hans Bausch meinte, das Rundfunksystem lassen, ohne dramaturgische Amerikanismen eines Landes sei Spiegel seines Staatswesens. zu kopieren. Die Erweiterung des Erkennt- Er bezog diese Aussage auf die Organisati- niszugangs zum Charakter nationalsozialis- on des Rundfunks und sein Verhältnis zum tischer Untaten dürfte im Verhältnis zur par- Staat. Man kann dies dahin ergänzen, dass tiellen Abkehr von belehrender Dramaturgie das Rundfunkprogramm, nicht zuletzt das als Gewinn zu verzeichnen sein. Die Klage, Fernsehprogramm, ein Spiegelbild des jewei- jetzt schleiche sich die Unterhaltung auch ligen Zustandes der Gesellschaft des betref- noch in die Darstellung der Verbrechen des fenden Landes ist. Diese Aussage wird dann NS-Regimes ein, greift zu kurz. Die Akzent- interessant – und brisant –, wenn die Gesell- veränderung in diesem Abschnitt der ARD- schaft gespalten ist. Das kann politische oder Begleitung für Zeitgeschichte kam aus der wirtschaftliche Gründe haben oder eine Ge- ARD selbst und diente ihrer Begleitfunktion. mengelage von Ursachen.

Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist Europa eine gesellschaftliche Integrationsaufgabe zu- gewiesen. Kann er die wahrnehmen, wenn er in Eine verstärkte erkenntnisfördernde Zu- einer gesellschaftlichen Konfrontationssituati- gangserweiterung zum Thema Europa/Euro- on Partei ergreift? Gelegentlich wird behauptet, päische Union als Begleitung der deutschen das Fernsehprogramm (bis zum Auftreten des Europapolitik wäre im Interesse des Publi- ZDF im Jahre 1962 war es allein das der ARD) kums wünschenswert. Der Korresponden- sei in Konrad Adenauers Zeit behäbiger gewe- tenplatz Brüssel ist deutscherseits reichhaltig sen als später. Freilich hielt der Bundeskanz- besetzt. Die dort stationierten Berichterstat- ler den politischen Teil des ARD-Programms ter sind für viele Redaktionen beinahe In- für zu aufsässig und zu links. Deshalb wollte er landskorrespondenten. Gleichwohl verengt mit einem formal privatrechtlichen, tatsächlich sich die Berichterstattung – auch die ARD ist aber vom Bund geleiteten „Deutschland-Fern- davon nicht frei – auf die thematischen Zu- sehen“ ein politisches Gegengewicht schaffen. gänge Deutschlandbezug und Verbraucher- Das Bundesverfassungsgericht verhinderte nutzen. Die Finanzmisere Griechenlands mit dies, indem es dem Bund die Zuständigkeit für ihren tatsächlichen oder befürchteten Folgen den Rundfunk (Auslandsrundfunk ausgenom- für die Europäische Union ist einer der we- men) absprach. So behäbig kann die ARD also nigen Fälle, in denen die großen Zusammen- nicht gewesen sein. hänge dem Publikum deutlicher werden. Die durch das Stichwort 1968 gekenn- Die Verengung auf Deutschlandbezug und zeichnete gesellschaftliche Situation in der Verbrauchernutzen verleitet zu der Publi- Bundesrepublik war konfrontativ. Die Ide- kumsreaktion, vorrangig darauf zu achten, en der außerparlamentarischen Opposition, ob Deutschland schon wieder zu viel bezah- der nicht nur gegen die universitäre Autorität len muss und an Einfluss zu kurz kommt oder aufbegehrenden Studenten, die neuen Vor- sich Brüssel mit seiner Harmonisierungs- stellungen von Erziehung und dem Verhält- fixierung erneut lästige Detailregulierun- nis der Geschlechter zueinander fanden nicht gen für Verbraucher hat einfallen lassen. Ein durchgängig, aber auffällig sympathisieren- spannender realitätsgerechter Fernsehfilm de Berücksichtigung in ARD-Programmen, über Machtverhältnisse und Machtkämp- nicht zuletzt im Fernsehen. Freilich strahlte fe in Brüssel könnte ebenso Verständnishil- der Norddeutsche Rundfunk, dessen politi- fe bieten wie eine intelligente und verständ- sches Magazin „Panorama“ sich an der Spitze liche dokumentarische Darstellung, wer nun des Fortschritts wähnte, auch den Fernseh- in den obersten Rängen der Europäischen film „Alma mater“ (1969) von Dieter Meichs- Union, die etwas überbesetzt erscheinen, tat- ner und Rolf Hädrich aus, eine scharfe Ab- sächlich für was zuständig ist. rechnung mit dem autoritären Gehabe von

APuZ 20/2010 5 Studenten, die sich als antiautoritär auswei- begleitet. Nach der Entführung des Arbeitge- sen wollten. berpräsidenten Hanns-Martin Schleyer war Bundeskanzler Helmut Schmidt entschlos- Die die neuen Ideen vorantreibenden Re- sen, dass sich ein Nachgeben nicht wiederho- dakteure wollten nicht eine gesellschaftspo- len sollte. Schleyer wurde ermordet. litische Entwicklung begleiten oder regis­ trieren, sondern sie aktiv fördern. Gern wird gesagt, die Auseinandersetzungen um die Duales Rundfunksystem Ideen von 1968 hätten den öffentlichen Dis- kurs gefördert. Wenn das so war, dann war In einer essentiellen eigenen Angelegenheit das jedenfalls nicht das Ziel des harten Kerns wäre die ARD wohl gern aus einer Begleit- der Achtundsechziger, die nicht eine deba- rolle, die in Wahrheit eine Objektrolle war, ting society wollten, sondern in Diskussionen herausgetreten, zumindest mit einer Beein- nur ein Mittel sahen, Gegner niederzuma- flussung des Meinungsklimas zu ihren Guns- chen. Jedenfalls wirkten die großen Erre- ten. Gegen die Pläne der Politik, vornehmlich gungen von 1968 nicht allzu lange nach. Das der CDU, privatwirtschaftlichen Rundfunk ARD-Programm nahm seinen Kurs der kri- einzuführen, konnten die öffentlich-recht- tischen Begleitung deutscher Politik wieder lichen Rundfunkanstalten nichts unterneh- auf, ohne in Behäbigkeit zu verfallen oder men, was zur Verhinderung der Realisierung sich zu entpolitisieren. Auf die Bundesrepu- dieser Pläne geführt hätte. Das generelle Mei- blik kam eine neue ­Herausforderung zu, mit nungsklima bewegte sich nicht zu Gunsten der sich auch die ARD auseinanderzusetzen einer Fortsetzung der Alleinstellung des öf- hatte: der ­Terrorismus. fentlich-rechtlichen Rundfunks. Wäre eine solche Mobilisierung möglich geworden, und hätte sie sich politisch durchgesetzt, so wäre Terrorismus sie ein Pyrrhussieg gewesen. Kommerziel- les Fernsehen in deutscher Sprache mit deut- Im Fall der Entführung des Berliner CDU- scher Werbung hätte Deutschland von außen Vorsitzenden Peter Lorenz durch Terroris- überflutet. ten (27. Februar 1975) trat die ARD, wie das ZDF, aus der Rolle der Begleiterin der Poli- Mit der Zulassung privatwirtschaftlicher tik he­raus. Die Entführer verlangten die Frei- Rundfunkveranstalter hat die ARD (wie das lassung mehrerer inhaftierter Gesinnungs- ZDF) auch bei der Begleitung deutscher Po- freunde, den Abflug der Freigelassenen ins litik Konkurrenz erhalten. So lange es den Ausland sowie die Übertragung des Abflugs öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt, ver- in Hörfunk und Fernsehen und die Ausstrah- langt das Gesetz freilich auf diesem Gebiet lung von Stellungnahmen der Freigelassenen geringere Anstrengungen der Privaten. Sie im Programm. Würden diese Bedingungen haben eigene Begleitakzente gesetzt, die ih- nicht erfüllt, so werde Lorenz sterben. rem wirtschaftlichen Auftrag entsprachen: Personalisierung, Vorrang von human touch, Bundesregierung und öffentlich-rechtli- ­Skandalisierung. cher Rundfunk gaben der Erpressung durch die Terroristen nach, Lorenz kam frei. In der In den Grenzen ihres Auftrags hat die ARD „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom in ihren Programmen vor allem die Persona- 7. März 1975 schrieb Robert Held: „Die De- lisierung stärker berücksichtigt. Auch ihre mütigung des Staates wurde in der elektroni- Talkshows haben dazu beigetragen, unter schen Walhall der Nation vollzogen.“ Aber den Politikern die Klasse der durch dieses hätten sich die öffentlich-rechtlichen Rund- Programmformat Begünstigten, weil immer funkanstalten entziehen können, wenn die wieder vorrangig Eingeladenen, zu schaf- Bundesregierung bereit war nachzugeben? fen, mit einem Gefolge von mitbegünstigten Der damalige ARD-Programmdirektor Hans Nichtpolitikern, bei denen die Auswahl gele- Abich sah im Fall Lorenz das Fernsehen in gentlich willkürlich erscheint. der Rolle des „genötigten Nothelfers“.

ARD und ZDF hatten die Bundesregie- rung in die Demütigung durch Terroristen

6 APuZ 20/2010 Diemut Roether rerseits aber als öffentlich-rechtliches Pro- gramm auch aufgefordert ist, Nischensen- dungen für kulturinteressierte Zuschauer Spannungsverhältnisse zu machen, stellt jeden ARD-Programmdi- rektor vor eine schwierige Aufgabe. Herres – eine kritische schreibt: „Das Erste muss Quote machen. Wir wollen ankommen – daran ist nichts verwerflich. Aber wir wollen das nicht um Würdigung der ARD jeden Preis.“ ❙5

ie beißendsten Spötter über die ARD Dsitzen im Senderverbund selbst: „Was Zwischen Quote und Qualität wäre ein Programmdirektor der ARD ohne die Fähigkeit zu lei- Dass das Erste nach Meinung vieler Feuille- Diemut Roether den? An der ARD zu tonisten gerade die Kulturinteressierten so Geb. 1964; verantwortliche leiden, genauer ge- schlecht bedient, hat der ARD immer wie- Redakteurin epd medien, sagt“, schrieb ARD- der heftige Kritik eingetragen. Im Jahr 2000 Emil-von-Behring-Straße 3, Programmdirektor schimpfte Jens Jessen in der „Zeit“ über die 60439 Frankfurt am Main. Günter Struve, der die „Quoten-Idioten“. Die Fernsehmacher bei [email protected] Geschicke des „Ers- ARD und ZDF hätten ein „schlechtes Ge- ten“, wie das Gemein- wissen, weil sie der privaten Marktkonkur- schaftsprogramm der ARD heißt, von 1992 renz entzogen sind und eigentlich ein be- bis 2008 maßgeblich bestimmt hat. Struve, liebig gutes Programm für beliebig wenige der einen charmanten Zynismus pflegt, be- Zuschauer machen könnten“, schrieb Jessen. kannte einmal, dass die programmstrategi- „Sie könnten, wie es die altmodischen Rund- schen Klausurtagungen „zu den unbestrit- funkstaatsverträge auch einmal vorsahen, tenen Höhepunkten im Leben eines Pro- ausschließlich tun, was sie für journalistisch grammdirektors zählen“. ❙1 geboten und künstlerisch wertvoll halten. Sie halten diese Freiheit aber heimlich für elitär Auch für eine Positionsbestimmung der und fürchten, das Volk könnte dahinter kom- ARD im 60. Jahr ihres Bestehens ist es auf- men und ihnen das Gebührenprivileg wieder schlussreich, den Blick auf Struve zu richten: entziehen. Darum blicken sie so angstvoll auf Von der „Zeit“ wurde er als „geschickter Ma- die Quote: Sie ist ihnen ein tägliches Plebiszit nager des Seichten“ beschrieben, ❙2 er selbst über die Berechtigung des öffentlich-rechtli- gab sich freimütig als „Lobbyist des Main- chen Rundfunksystems.“ ❙6 streams“ zu erkennen. ❙3 Als solcher führte er einen Kampf um die Zuschauerinnen und Zu- Anlass für diese Frontalattacke war ein schauer, die dem Ersten angesichts der stärker internes ARD-Papier, das pünktlich zum werdenden Konkurrenz durch die Privaten 50. Geburtstag der ARD bekannt gewor- verloren zu gehen drohten, und er erreichte, den war. Es hielt Kriterien und Vorgaben zur dass das Gemeinschaftsprogramm der ARD Optimierung von Fernsehfilmen und Haupt- seit 1998 wieder ganz vorne im Konzert der abendserien fest und forderte unter ande- Marktführer mitspielt. rem eine Erzählweise, die „unkompliziert, einfach, klar, auf keinen Fall verwirrend“ Struves Nachfolger ist seit November 2008 Volker Herres. Dass er ganz im Geis- te Struves denkt und handelt, machte er in ❙1 Beide Zitate nach: Diemut Roether, Der Quoten- einem Aufsatz für das ARD-Jahrbuch 2009 macher, in: epd medien, (2008) 87, S. 3 ff. deutlich, in dem er sich wie sein Vorgän- ❙2 Bernd Gäbler, Was bewegt … Günter Struve?, in: ger auf Goethes „Faust“ bezog und das Ers- Die Zeit, Nr. 31 vom 28. 7. 2005. te als „Gesamtkunstwerk“ bezeichnete, das ❙3 Vgl. D. Roether (Anm. 1). 4 nicht zur Erbauung der Eliten geschaffen ❙ Volker Herres, Qualität trotz Quotendruck, in: sei. „Das Erste“, so Herres’ Credo, „soll alle ARD-Jahrbuch 2009, S. 33. ❙5 Ebd., S. 29. ❙4 ansprechen, auch unterhalten“. Das Span- ❙6 Jens Jessen, Die Quoten-Idioten, in: Die Zeit, nungsverhältnis, dass das Erste einerseits Nr. 36 vom 31. 8. 2000, online: www.zeit.de/​2000/​ ein großes Publikum ansprechen will, ande- 36/200036_fernsehen.xml (7. 4. 2010).

APuZ 20/2010 7 sein sollte. ❙7 Die ARD-Verantwortlichen di- tigen. Wer das Erste aufmerksam verfolgt, stanzierten sich zwar davon, aber viele Frei- findet auch zur besten Sendezeit beeindru- tagabendschmonzetten atmen bis heute den ckende Fernsehspiele und, allerdings meist Geist dieser Optimierungsvorgaben. Die zu späteren Sendezeiten, mutige, gut recher- ARD muss sich daher auch immer wieder chierte politische Dokumentarfilme zu aktu- gefallen lassen, dass Feuilletonisten sie der ellen und historischen Themen. Aber nicht Anbiederung an den Massengeschmack zei- immer gelingt es der ARD, das Gute popu- hen. Zuletzt brach sich dieses Unbehagen an lär und das Populäre gut zu machen, wie es den öffentlich-rechtlichen TV-Programmen Volker Herres im ARD-Jahrbuch fordert. ❙10 nach dem Auftritt des Großkritikers Marcel Ausgerechnet der Geschäftsführer des Deut- Reich-Ranicki bei der Verleihung des Deut- schen Kulturrats, Olaf Zimmermann, forder- schen Fernsehpreises 2008 Bahn. ❙8 Doch wer te die öffentlich-rechtlichen Sender kürzlich genau hinhört, erkennt in dieser Kritik den auf, mehr in die Unterhaltung zu investie- Nachhall einer typisch deutschen Debatte: ren. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei Hier wehrt sich die „E-Kultur“ (Hochkul- „nicht, wie vielfach beklagt wird, schwach tur) gegen die amerikanisch verseuchte „U- auf der Brust, wenn es um ,Hochkultur‘ geht, Kultur“ (seichte Unterhaltung). sondern vor allem im Genre Unterhaltung, also der eher leichten Kultur“. Hochkultur- Das Unbehagen am Fernsehen ist so alt wie liebhaber fänden auf , oder auch in das Medium selbst. Im Februar 1953 schrieb den Dritten Programmen durchaus Sendun- Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU) gen für ihren Geschmack. Doch „will der an den Direktor des Nordwestdeutschen öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht in die Rundfunks (NWDR), Werner Pleister: „Sah Rolle des Nischenanbieters gedrängt werden, eben Fernsehprogramm. Bedauere, dass Tech- muss er für die breite Masse der Zuschauer nik uns kein Mittel gibt, darauf zu schießen.“ ❙9 gute Unterhaltung anbieten“, mahnte er. ❙11 Das vom NWDR veranstaltete Programm war der Vorläufer des seit dem 1. November 1954 Die ARD-Tradition, den Shownachwuchs von der ARD veranstalteten Deutschen Fern- zunächst in den Dritten Programmen zu tes- sehprogramms, das heute „Das Erste“ genannt ten und dann im Erfolgsfall auch im Haupt- wird. Damals gab es nur dieses eine Programm, abendprogramm im Ersten auf das Publikum und es wurde nur an wenigen Stunden am Tag loszulassen, hat sich jahrelang bewährt (z. B. gesendet. Dennoch gelang es dem Medium of- Harald Schmidt, Jürgen von der Lippe, Hape fenbar, heftige Reaktionen auszulösen. Bundes- Kerkeling, Olli Dittrich alias „Dittsche“, Ina tagspräsident Norbert Lammert (CDU) steht Müller, Kurt Krömer). Doch in den vergan- also in einer alten Tradition, wenn er, wie er es genen Jahren scheint es mit den Transfers von nach seiner Wiederwahl im Oktober 2009 tat, den Dritten ins Erste nicht mehr so gut zu die öffentlich-rechtlichen Sender schilt, weil sie funktionieren. Das mag zum einen daran lie- es nicht für nötig befunden hätten, die kons- gen, dass Talente wie Anke Engelke oder Bas- tituierende Sitzung des Bundestags im Ersten tian Pastewka schon seit Jahren bei den Pri- oder Zweiten zu übertragen. Dabei gibt es für vatsendern viel bessere Bedingungen finden diese Zwecke doch Phoenix, den gemeinsamen als bei der ARD. Zum anderen scheint sich Ereigniskanal von ARD und ZDF, der mit der auch in den Dritten zunehmend Mutlosigkeit Übertragung der Sitzung gerade einmal drei breitzumachen. Es könnte den ARD-Verant- Prozent Marktanteil erreichte. wortlichen eines Tages noch leidtun, wenn sie ihre Experimentierfelder veröden lassen und Doch es ist viel zu einfach, die ARD der sich auch in den Dritten zunehmend an die Quotenfixiertheit und der hemmungslosen „bürgerliche Mitte“ anbiedern. Wie tragisch Anbiederung an den Mainstream zu bezich- das enden kann, zeigt sich derzeit vor allem am Hessischen Rundfunk (HR), der früher ❙7 Zit. nach: Uwe Kammann, Strengere Vorgaben für durch aufsehenerregende Dokumentations- ARD-Fernsehfilme, in: epd medien, (2000) 43–44, reihen wie „Das rote Quadrat“ (im Ersten) S. 12 f. von sich reden machte. Inzwischen ist sein ❙8 Diemut Roether, L’Eklat c’est moi, in: epd medien, (2008) 82, S. 3 ff. ❙9 Zit. nach: Fritz Pleitgen, Gedankenspiele. Die Rol- ❙10 Vgl. V. Herres (Anm. 4). le des Fernsehens in der deutsch-deutschen Geschich- ❙11 Olaf Zimmermann, Kulturelle Königsdisziplin, te, in: epd medien, (2002) 97, S. 3. in: epd medien, (2009) 67, S. 8 f.

8 APuZ 20/2010 Drittes durch Sendungen wie „Die unglaub- funktionieren kann, zeigt sich an der Krimi- lichsten Fahrzeuge der Hessen“, „Hessens reihe „Tatort“, die in diesem Jahr ihr 40-jäh- schönste Weihnachtsmärkte“ oder „Hessens riges Bestehen feiert. Die Kommissarinnen beliebteste Ausflugziele“ zur Karikatur eines und Kommissare, die zwischen Kiel und Bo- Regionalprogramms verkommen. densee ermitteln, bringen sonntagabends ein sehr unterschiedliches, jeweils regional ge- Allzu oft zeigen die ARD-Verantwort- färbtes Deutschlandbild in die Wohnzimmer. lichen Angst vor der eigenen Courage, wie Der „Tatort“ wird von Autoren wie Regis- im September 2006, als die Intendanten den seuren genutzt, um gesellschaftlich brisante später vielfach ausgezeichneten Fernsehfilm Themen in populärer Form aufzubereiten. ❙12 „Wut“ kurzfristig von einem Sendetermin um 20:15 Uhr auf 22 Uhr verschoben. Mag sein, Auch wenn es in den kommenden Jahren dass hier auch die Angst vor den berüchtigten noch einige schmerzhafte Sparrunden geben „Gremien-Gremlins“ (wie Moderator Gün- wird, weil die Rundfunkgebühren eher we- ther Jauch die Rundfunkräte nannte) eine niger denn mehr werden, so sollte die ARD Rolle spielte, die sich bei politisch unkorrek- doch darauf achten, sich Labore zu erhalten, tem Inhalten allzu leicht provozieren lassen. Experimentierfelder, auf denen Neues ge- Doch gerade bei solchen Sendungen ist Mut wagt und gewonnen werden kann. Früher gefordert. Es sind nicht die musterschüler- waren häufig die kleinen Landesrundfunk- haften „Themenwochen“, mit denen die ARD anstalten wie die kreativen public value liefert, es sind vor allem provo- Labore, in denen interessante neue Forma- zierende, unbequeme Inhalte, die bei den Pri- te entstanden. Doch heute fehlt den kleinen vatsendern schon lange keine Sendefläche Sendern häufig das Geld für das Nötigste. So mehr finden. Wer, wenn nicht die ARD (und war es ein Armutszeugnis im Wortsinn, als das ZDF) soll den Diskussionsstoff für die der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) Selbstverständigung der Gesellschaft liefern? Ende 2008 ausgerechnet seinen Integrations- Dass dabei Reibungen entstehen, ist nicht nur sender Radio Multikulti einstellte. Obwohl unvermeidbar, es ist wünschenswert. sich die ARD ein Jahr zuvor in ihrer Integra- tionsstrategie zu einer „Kultur der Anerken- Dass die Spannungen zwischen Qualität nung“ bekannt und darauf hingewiesen hatte, und Quote manchmal durchaus produktiv wie wichtig es sei, „Menschen mit Zuwande- sein können, beweisen erfolgreiche Produkti- rungsbiografie hinter dem Mikrofon und auf onen wie etwa „Contergan“ von Adolf Win- dem Bildschirm“ in die Produktionen einzu- kelmann. Der im November 2007 nach einem beziehen, ❙13 reichte das Geld offenbar nicht, langen juristischen Streit mit dem früheren um eine Welle zu finanzieren, deren jährliche Contergan-Vertreiber Grünenthal gesende- Kosten senderintern auf gerade mal zwei bis te Zweiteiler erhielt nicht nur Fernsehprei- drei Millionen Euro beziffert wurden. se, er bescherte der ARD mit mehr als sieben Millionen Zuschauern auch eine traumhafte Die Einstellung von Radio Multikulti of- Quote. Es sind Filme wie dieser, mit denen fenbarte eine große Schwäche des ARD-Sys- die ARD zeigt, dass sie nicht nur groß und tems: Die Egoismen der einzelnen Sender mächtig ist, sondern dass sie auch mutig sein blockieren häufig die Versuche, eine gemein- und Themen setzen kann. same Programmstrategie zu entwickeln. Zwar konnte man mit Recht fragen, warum eine so kleine Anstalt wie der RBB sieben Ra- Gemeinsam einsam? dioprogramme brauchte, doch andererseits arbeitet der RBB bereits so kostengünstig, Spannungsreich ist auch die föderale Struk- dass freie Mitarbeiter den Sender scherzhaft tur der ARD, die so häufig verwünscht wird, „Bangladesch“ nennen, weil die Honorare im wenn es darum geht, rasch Entscheidungen Vergleich zu denen anderer ARD-Sender so zu fällen. Intern wird das Kürzel ARD gern niedrig ausfallen. Vergeblich hatte sich RBB- mit „alle reden durcheinander“ aufgelöst. Doch zugleich ist die Binnenkonkurrenz und ❙12 Zum „Tatort“ siehe auch den Beitrag von Knut die Vielfalt der Sender ein Pfund, das der Sen- Hickethier in diesem Heft. derverbund nicht leichtfertig verspielen soll- ❙13 Zit. nach: Diemut Roether, Armutszeugnis, in: te. Wie gut die föderale Struktur der ARD epd medien, (2008) 42, S. 3–6.

APuZ 20/2010 9 Intendantin Dagmar Reim darum bemüht, Fernsehfilmchefin des Norddeutschen Rund- den ARD-internen Lastenausgleich anders funks (NDR), Doris Heinze, die im August zu regeln. Zwar wurde der Anteil des RBB an 2009 fristlos entlassen wurde. Zunächst hatte der Programmzulieferung für das Erste um die „Süddeutsche Zeitung“ aufgedeckt, dass 0,25 Prozentpunkte auf 6,6 Prozent gesenkt, Heinze jahrelang Drehbücher ihres eigenen doch die Intendantin sprach auch danach Mannes redaktionell betreut hatte, die dieser noch von „eklatanten Ungerechtigkeiten“ im unter Pseudonym geschrieben hatte. Im Lau- System. Diese Ungerechtigkeiten betreffen fe der internen Ermittlungen stellte sich später vor allem den RBB und den Mitteldeutschen heraus, dass Heinze sogar selbst unter Pseu- Rundfunk (MDR), in deren Einzugsbereich donym ein Drehbuch für ihren Arbeitgeber überproportional viele Bürger von den Ge- verfasst hatte. Die Staatsanwaltschaft ermit- bührenzahlungen befreit sind. ❙14 telt nun wegen Betrugsverdachts, der Image­ schaden für die ARD ist nicht bezifferbar. Die ARD rechnet in den kommenden zehn Jahren mit Einnahmeverlusten von bis zu Auch die Fälle der Sportchefs von HR 15 Prozent. Die Rundfunkanstalten wollen und MDR, Jürgen Emig und Wilfried Moh- daher vor allem in Technik und Verwaltung ren, zeigen, dass es verantwortlichen Redak- enger zusammenarbeiten. ❙15 Aber auch im teuren im System ARD offenbar jahrelang Programm finden bereits Kooperationen statt. möglich war, in die eigene Tasche zu wirt- So senden seit 2009 die ARD-Kulturwellen schaften. Emig und Mohren hatten Geld von im Sommer zwei Monate lang abends von 20 Sportveranstaltern angenommen, über die sie bis 24 Uhr ein gemeinsames Radioprogramm. in ihren jeweiligen Programmen berichteten. Kritiker warnten, dies sei ein weiterer Schritt Während Emig vom Landgericht Frankfurt in Richtung der Zentralisierung der Kultur- am Main wegen Untreue und Bestechlichkeit wellen. Befürchtungen, es werde ein nationa- zu zwei Jahren und acht Monaten Haft ver- les Kulturprogramm vorbereitet, wurden von urteilt wurde, sorgte ein gerichtlicher „Deal“ der ARD zwar zurückgewiesen, aber in den im Fall Mohren dafür, dass die Öffentlichkeit Häusern gilt es als ausgemacht, dass die teuren nicht darüber aufgeklärt wurde, wieso Moh- Kulturwellen von Sparanstrengungen auch in ren seine Geschäfte jahrelang unbehelligt tä- Zukunft nicht verschont bleiben. Wie viel der tigen konnte, weshalb also jahrelang sämtli- Senderverbund durch dieses „ARD-Radio- che Kontrollen im MDR versagten. Die Frage, festival“ einspart, wollte die ARD-Pressestel- ob es nicht ein Verrat an der Rundfunkfrei- le nicht mitteilen. Man wolle, hieß es im Mai heit ist, wenn ein öffentlich-rechtlicher Sen- 2009, „nicht von einem Spar-, sondern von ei- der eine Sportübertragung davon abhängig nem Bündelungseffekt reden“. ❙16 macht, ob der Veranstalter zahlt, wurde von den Gerichten gar nicht problematisiert. ❙17

Mangelnde Selbstkontrolle Gerade im Sport zeigte die ARD gelegent- lich eine ungute Nähe zu den Akteuren, die In den Sendern wird bemängelt, dass die Dis- einer kritischen Berichterstattung im Weg kussionen über solche Einsparungen nicht stand. So schloss der Senderverbund, der seit offen geführt würden. In der Tat tut sich die Jahren die Rechte für die Übertragung der ARD häufig schwer mit der Transparenz, zu Tour de France hält, 1998 auch noch einen der sie auch gegenüber den Gebührenzah- Partnerschaftsvertrag mit der Deutschen Te- lern verpflichtet ist. Dass einzelne Personen lekom, der ihm das Recht gab, das Logo des im ARD-System eine große Machtfülle auf Ersten und den Schriftzug „Radio & TV“ auf sich vereinen, ohne ausreichend kontrolliert der Kleidung der Fahrer des Teams Telekom zu werden, zeigte sich nicht zuletzt an hand- zu platzieren. Im Gegenzug durfte die Deut- festen Skandalen wie dem um die einstige sche Telekom bei der ARD Werbespots im Wert von jährlich vier Millionen DM schal- ten. ❙18 Als Ende der 1990er Jahre erste Do- ❙14 Vgl. ebd. ❙15 Vgl. Ellen Großhans/Diemut Roether, ARD- Rundfunkanstalten wollen enger zusammenarbeiten, ❙17 Vgl. Michael Ridder, Systemsünden, in: epd medi- in: epd medien, (2009) 96, S. 6. en, (2009) 95, S. 6. ❙16 Zit. nach: Diemut Roether, Gemeinsam schwach?, ❙18 Vgl. Claus Morhart, Telekom kündigt Radsport- in: epd medien, (2009) 42–43, S. 3 ff. vertrag mit der ARD, in: epd medien, (2000) 60, S. 8 f.

10 APuZ 20/2010 pingvorwürfe gegen die Radsportler laut Insgesamt, so wurde bekannt, hatten Kunden wurden, hielten sich die ARD-Reporter in zwischen 1998 und 2004 3,5 Millionen Euro der Berichterstattung darüber auffallend zu- bezahlt, um ihre Werbebotschaften in Serien rück. 2006 wurde obendrein bekannt, dass unterzubringen, die von der ARD-Produkti- die ARD den Radrennfahrer Jan Ullrich seit onstochter Bavaria produziert wurden. Unter 1999 dafür bezahlt hatte, dass er ihr für „be- anderem gehörten auch Pharmaproduzenten sondere Berichterstattungsmöglichkeiten“ zu den Kunden der vermittelnden Agentur. exklusiv zur Verfügung stand. ❙19 Sie bezahlten zum Beispiel dafür, dass in der ARD-Erfolgsserie „In aller Freundschaft“ Fritz Pleitgen, der damalige Intendant des Dialogzeilen wie diese untergebracht wurden: Westdeutschen Rundfunks (WDR), räumte „Sie leiden an Epilepsie. Ihr altes Medikament anschließend in einem Interview ein, dass die wird in Zukunft nicht mehr reichen, derartige ARD zu viel Nähe zur Tour de France gehabt Anfälle zu vermeiden. (…) Es gibt ein neues, habe und gelobte, dies werde nicht wieder hochwirksames Antiepileptikum. Diesen neu- vorkommen. In der ARD wurde eine Clea- en Wirkstoff werde ich Ihnen verschreiben.“ ❙24 ringstelle Sport eingerichtet, und seit Anfang Das Erschreckende an der „Bavaria-Connec- 2007 gibt es im Senderverbund auch eine Fach­ tion“ war genau dies: Dass es Werbetreiben- redaktion für Doping-Berichterstattung. ❙20 den gelungen war, bis in die Dramaturgie und Doch weder dem verantwortlichen ARD- die Dialoge von Serien vorzudringen und diese Programmdirektor noch dem damals amtie- so zu gestalten, dass für sie ein möglichst gro- renden ARD-Sportkoordinator schadeten die ßer Effekt entstand. Der Glaubwürdigkeit der Einzelheiten, die über den Vertrag mit Ullrich ARD hat das sehr geschadet. bekannt wurden. Ihre Verträge wurden wenig später verlängert. ❙21 Einmal mehr konnte man Ob die ARD aus den Skandalen der vergan- den Eindruck gewinnen, dass in der ARD ein genen zehn Jahre gelernt hat? Die Sender ha- System der organisierten Verantwortungslo- ben in jüngerer Zeit zahlreiche Leitlinien und sigkeit dazu führt, dass letztlich keiner für Selbstverpflichtungen verabschiedet, aber ob Fehler den Kopf hinhalten muss. diese mehr wert sind als das Papier, auf dem sie stehen, kann nur die Praxis zeigen. Immer- Ähnlich glimpflich war für Programmdi- hin ist der NDR im Fall Heinze entschlossen rektor Günter Struve schon der „Marienhof“- vorgegangen und hat jüngst auch schnell re- Skandal ausgegangen. Nachdem „epd medien“ agiert, als Vorwürfe gegen einen NDR-Re- 2005 berichtet hatte, dass in der gleichna- dakteur laut wurden, er habe von einer Fir- migen Vorabendserie im Ersten jahrelang mengruppe Geld dafür erhalten, dass er ihr Schleichwerbung platziert worden war, gab Sendezeiten im Fernsehen verschafft habe. ❙25 der ARD-Programmdirektor den unschuldig In all diesen Fällen jedoch scheint vor allem Betrogenen. ❙22 Vorwürfe des Bavaria-Produ- die kollegiale Kontrolle versagt zu haben. zenten Thilo Kleine, Struve selbst habe die Es sind doch die betreuenden Redakteurin- „Ko-Finanzierung“ der Serie angeregt, wies nen und Redakteure, denen auffallen müsste, er unter juristischen Drohungen zurück. wenn Beiträge oder Dialogzeilen zu werblich Markig kündigte Struve damals ein „Regime daherkommen, oder wenn Drehbuchautoren des Schreckens“ gegen Schleichwerbung an angeblich nie erreichbar sind. und versicherte, die ARD werde in den kom- menden Jahren „das sicherste Gebiet der Welt Der Verband der Drehbuchautoren schrieb in Sachen Schleichwerbung sein“. ❙23 nach Bekanntwerden des Drehbuchskandals von einem „Geschmacksdiktat“, mit dem beim NDR die „Fantasie der Kreativen un- ❙19 Vgl. Michael Ridder, Struve will wegen umstritte- ner Ullrich-Verträge nicht zurücktreten, in: epd me- terdrückt“ worden sei. Er kritisierte, in den dien, (2006) 71, S. 10. Sendern werde oft willkürlich darüber ent- ❙20 Vgl. Daniel Bouhs, WDR geht Selbstverpflichtung schieden, „wer inszeniert, wer spielt und wer für Sportberichterstattung ein, in: epd medien, (2008) produziert“. Dieses System habe „Unterwer- 16, S. 8 f. ❙21 Vgl. Michael Ridder, ARD verlängert Verträge mit Struve und Boßdorf, in: epd medien, (2006) 73, S. 9. ❙24 Zit. nach: Volker Lilienthal, Lektion für Pillen- ❙22 Vgl. Volker Lilienthal, Die Bavaria-Connection, dreher, in: epd medien, (2008) 43, S. 3. in: epd medien, (2005) 42, S. 3–15. ❙25 Vgl. Ellen Reglitz, Staatsanwaltschaft Kiel ermittelt ❙23 Zit. nach: D. Roether (Anm. 1), S. 5. gegen NDR-Mitarbeiter, in: epd medien (2010) 21, S. 7.

APuZ 20/2010 11 fung, Einverständnis und Fantasielosigkeit Rücksichten besetzt. In den Funkhäusern produziert“. ❙26 Hier müssen sich die Sender trat der Proporz die Herrschaft an.“ ❙27 nach ihrer Kultur der Kritik und Selbstkri- tik fragen lassen, denn nur in einem offenen Der frühere ARD-Programmdirektor Klima kann auch die größtmögliche Kreativi- Diet­rich Schwarzkopf schrieb kürzlich op- tät entstehen. Es ist ja nicht so, dass die ARD timistisch, bei der ARD sei der „Proporz- ihre Ressourcen, die sie den Gebühren aller stern inzwischen stark verblasst. Es gab In- verdankt, mutwillig verschwenden könnte. tendantenberufungen ohne die Frage nach der Parteiorientierung und solche gegen den erklärten Willen von Landesregierungen des Einfluss der politischen Parteien Sendgebiets“. ❙28 Doch die Parteien scheinen den Anspruch, die Spitzenposten im öffent- Das Thema Gebühren führt zum nächsten lich-rechtlichen Rundfunk nach Gutsherren- Spannungsfeld, in dem sich die ARD bewegt. art besetzen zu können noch nicht aufgegeben Denn für regelmäßige Gebührenerhöhungen zu haben. Dass der Rundfunkrat des Bayeri- und auch den Schutz gegen allzu dreiste Lob- schen Rundfunks (BR) den Regierungsspre- byistenforderungen von Privatsendern und cher (CSU) zum BR-Inten- Verlagen braucht sie den Rückhalt aus der danten gewählt hat, zeugt in dieser Beziehung Politik. Wie selbstverständlich die Symbiose nicht gerade von politischer Sensibilität. Be- zwischen Politik und öffentlich-rechtlichen fördert wird die Gutsherrenmentalität der Po- Sendern noch immer ist, zeigten jüngst die litiker in den Gremien von ARD-Vertretern, Auseinandersetzungen um ZDF-Chefredak- die fürchten, ihre Sender könnten in der Be- teur Nikolaus Brender, dessen Vertragsver- deutungslosigkeit verschwinden, wenn sie längerung von der Unionsmehrheit im ZDF- sich aus der Umklammerung durch die Politik Verwaltungsrat verhindert wurde. Aber auch befreien. Nicht wenige in den Anstalten haben die ARD ist seit ihren Anfängen nicht frei von sich daher beizeiten auf das Links-Rechts- der politischen Farbenlehre, nach der verant- Strickmuster eingestellt und ein entsprechen- wortliche Posten in den Anstalten auch vom des „Parteiticket“ gebucht, um leichter in der Parteiticket abhängen. Hierarchie aufsteigen zu können.

Bereits vom britischen Gründer und ers- ten Chef des NWDR, Hugh Carlton Greene, Streitpunkt Internet ist eine Anekdote überliefert, in der er schil- dert, wie er vergeblich gegen den Einfluss der Die ARD braucht zwar starke Befürworter, Parteien in den deutschen Rundfunkanstal- doch man würde sich wünschen, dass diese ten kämpfte. Nachdem er den Sender an den weniger eigennützig agierten, da die Angrif- Generaldirektor Adolf Grimme übergeben fe von Seiten der Lobbyisten der Verleger und hatte, setzte sich Greene in seiner Abschieds- Privatsender nicht nachlassen. Zurzeit sind es rede 1948 noch einmal dafür ein, dass der öf- vor allem die Aktivitäten der öffentlich-recht- fentlich-rechtliche Rundfunk staatlichen und lichen Sender im Internet, die ihre Gegner auf parteipolitischen Einflüssen „so weit wie die Barrikaden bringen, allen voran das An- möglich entzogen“ sein müsse. Anschließend gebot „tagesschau.de“. Nachdem im Februar habe ihm der Hamburger Bürgermeister Max bekannt geworden war, dass der NDR-Rund- Brauer ins Ohr geflüstert: „Sie werden Ihr funkrat das Telemedienkonzept für „tages- Ziel nicht erreichen, Mister Greene, sie wer- schau.de“ in einer Beratungsvorlage für die den es nicht erreichen.“ Greene selbst beob- ARD-Gremien im Großen und Ganzen be- achtete, wie die Parteien später ihren Einfluss fürwortet, sprach der Geschäftsführer des auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger, Deutschland weiter ausbauten: „Immer öf- Wolfgang Fürstner, von einer „Kampfansage ter wurden Intendantenposten und ande- an alle frei finanzierten Medien“. Von einem re leitende Stellungen nach parteipolitischen „Kalten Medienkrieg“ war die Rede und vom

❙26 Verband Deutscher Drehbuchautoren, Supergau ❙27 Zit. nach: Dietrich Schwarzkopf, Machtausübung. des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Presseerklä- Wie der Parteienproporz in den öffentlich-rechtlichen rung vom 1. 9. 2009, dokumentiert in: epd medien, Rundfunk kam, in: Funkkorrespondenz, (2010) 2, S. 5. (2009) 70, S. 24. ❙28 Ebd., S. 7.

12 APuZ 20/2010 „größtmöglichen Super-Gau in der deutschen Mehr Souveränität ist gefragt Medienpolitik der vergangenen 20 Jahre“. ❙29 Das politische Spannungsverhältnis in dem In dieser Diskussion wird so getan, als wol- sich die ARD angesichts dieser Gemengelage le die ARD das Angebot „tagesschau.de“ ins befindet, ist in der Tat nicht einfach. Soll sie Uferlose ausbauen. Das Gegenteil ist der Fall: lieber die freundliche Umarmung durch die Nach dem 12. Rundfunkänderungsstaatsver- Politik hinnehmen, um so gegen rundfunk- trag (RÄStV) sind die öffentlich-rechtlichen politische Angriffe gefeit zu sein? Es fällt Sender dazu verpflichtet, ihre Onlineange- auf, dass sich die ARD-Sender angesichts der bote einem „Dreistufentest“ zu unterziehen, zahlreichen Angriffe von außen zunehmend bei dem geprüft wird, ob der publizistische mit einer Art Bunkermentalität verschanzen. Mehrwert des (gebührenfinanzierten) An- Olaf Zimmermann und Gabriele Schulz, die gebots den finanziellen Mehraufwand recht- Autoren der vom Deutschen Kulturrat her- fertigt. Nach dem Dreistufentest für „tages- ausgegebenen Studie „Der WDR als Kultur- schau.de“ müssen dessen Redakteure wohl akteur“, schreiben in ihrer Bewertung der gut die Hälfte des bisherigen Angebots aus für den WDR im Großen und Ganzen sehr dem Netz nehmen (intern benutzt man dafür positiven Studie, dass auffallend sei, dass das Wort „depublizieren“). der große, starke WDR auf Kritik „teilweise scharf“ reagiere. Sie empfehlen dem Sender, Unstrittig ist, dass ARD und ZDF im In- sich „seiner strukturellen Macht“ bewusst zu ternet vertreten sein müssen, wenn sie den werden, diese kritisch zu hinterfragen, „da Kontakt zu den jungen Mediennutzern nicht es eine geliehene Macht ist“, und sehr sorg- völlig verlieren wollen. Das Bundesverfas- sam mit ihr umzugehen. „Wenn der WDR sungsgericht hat in seinem Rundfunkurteil den Kontakt zu den Menschen verliert, die von 1991 sehr weitsichtig ausgeführt, dass Kultur machen und Kultur genießen, wenn sich die „Bestands- und Entwicklungsgaran- seine Glaubwürdigkeit dort leidet, dann tie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ helfen ihm auch alle Statistiken nicht. Der auch „auf neue Dienste mittels neuer Tech- WDR muss ein normales Verhältnis zu sei- niken“ erstreckt, „die künftig Funktionen ner Stärke entwickeln, dann braucht er kei- des herkömmlichen Rundfunks übernehmen ne Überheblichkeit und kann als Sender der können“. ❙30 Diese Entwicklungsgarantie ver- Superlative selbstbewusst seine kulturellen suchen die Lobbyisten der Verleger und Pri- Leistungen zeigen.“ ❙32 vatsender den öffentlich-rechtlichen Sendern in der hitzigen Debatte um „tagesschau.de“ Auch für die ARD gilt, dass sie eben- und die sogenannte App (kurz für applica- so selbstbewusst und selbstverständlich mit tion) für das Smartphone offenbar streitig zu Kritik umgehen sollte wie sie sich den Span- machen. nungen stellen muss, denen sie aufgrund ihrer Struktur permanent ausgesetzt ist. An den Auseinandersetzungen um den im „Die ARD macht uns keiner nach“, seuf- 12. RÄStV vorgeschriebenen Dreistufentest zen ARD-Verantwortliche gern resigniert, für die Telemedien von ARD und ZDF zeigt wenn die Vielstimmigkeit wieder einmal sich auch, dass das Gesetz nicht ausgereift ist. überhandnimmt. Doch diese Einzigartig- Der Medienrechtler Wolfgang Schulz vom keit ist ein Grund stolz zu sein und sich da- Hans-Bredow-Institut beklagte kürzlich rauf zu besinnen, dass es vor allem das ist, „hypertrophe Auswüchse“ des Verfahrens: was die ARD ausmacht: Dass sie anders ist. „Im Einzelfall können die Gutachten mehr Und das sollte sich auch in ihren Program- kosten als der begutachtete Dienst selbst.“ ❙31 men s­ piegeln.

❙29 Zit. nach: Diemut Roether, Kalter Medienkrieg, in: epd medien, (2010) 13, S. 3 ff. ❙30 BVerfGE 83, 238 – 6. Rundfunkentscheidung (Nordrhein-Westfalen-Urteil) vom 5. 2. 1991, on- line: www.servat.unibe.ch/law/dfr/bv083238.html ❙32 Deutscher Kulturrat (Hrsg), Der WDR als Kul- (8. 4. 2010). turakteur. Anspruch – Erwartung – Wirklichkeit, ❙31 Wolfgang Schulz, Thesen zur rechtlichen Funkti- Berlin 2009, S. 369 f. on des Drei-Stufen-Tests, dokumentiert in: epd medi- en, (2009) 84, S. 28.

APuZ 20/2010 13 Konrad Dussel von den Militärregierungen selbst vorgenom- men werden? Und wie hatten die zentralen Bestimmungen auszusehen? Die Antworten Entstehung und fielen in jeder der drei westlichen Besatzungs- zonen anders aus. Briten und Franzosen ent- schieden sich für zentrale Anstalten für ihre Entwicklung einer gesamten Gebiete, die durch Verordnungen der Militärregierungen begründet wurden. In der britischen Besatzungszone trat auf diese Gemeinschaft Weise am 1. Januar 1948 der Nordwestdeut- sche Rundfunk (NWDR) „als eine unabhän- arin waren sich die Alliierten am Ende gige Anstalt zur Verbreitung von Nachrichten Ddes Zweiten Weltkriegs einig: Das na- und Darstellungen unterhaltender, bildender tionalsozialistische Radio musste verstum- und belehrender Art“ ins Leben; ❙3 am 30. Ok- men. Viel schwieriger tober desselben Jahres etablierte die franzö- Konrad Dussel war für sie jedoch die sische Militärregierung den Südwestfunk Dr. phil., geb. 1957; apl. Frage zu beantworten, (SWF) als Anstalt in ihrer Zone. ❙4 Die Ameri- Prof. für Neuere Geschichte was an seine Stelle tre- kaner beschritten einen anderen Weg. Sie hat- an der Universität Mannheim; ten, wer die neuen Pro- ten sich von vornherein für eine gewisse De- St. Georg-Straße 5, 76694 Forst. gramme verantworten zentralität entschieden und forderten nun von [email protected] sollte. Nur die Sowjets den deutschen Regierungen ihrer Länder ent- hatten nicht lange zu sprechende Gesetze. Nach und nach wurden überlegen. Sie hatten nichts gegen Staatsrund- sie 1948/49 von den Landtagen in München, einzuwenden – wenn er in den richtigen, Wiesbaden, Stuttgart und Bremen verabschie- das heißt in von ihnen kontrollierten Händen det. Noch vor der Gründung der Bundesre- lag. Schon am 13. Mai 1945, also nur wenige publik waren damit sechs autonome Landes- Tage nach Kriegsende, konnte der Berliner rundfunkanstalten entstanden, die nach dem Rundfunk mit Genehmigung des sowjeti- Willen der Militärregierungen deutliche Dis- schen Stadtkommandanten ein erstes einstün- tanz zu den deutschen Politikern halten und diges Programm senden, das von aus Moskau sich keinesfalls als deren Sprachrohr verste- eingeflogenen deutschen Kommunisten vor- hen sollten. bereitet worden war. Amerikaner, Briten und Franzosen übernahmen demgegenüber die Das war eine Position, an die sich viele west- Programmproduktion zuerst einmal selbst. deutsche Politiker erst noch gewöhnen muss- Nach und nach begannen die alten „Reichs- sender“ im Westen ihren Betrieb als Sender ❙1 Der Beitrag stützt sich grundsätzlich auf den noch 1 der Militärregierungen. ❙ immer unverzichtbaren, sehr materialreichen Band des früheren SDR-Intendanten Hans Bausch, Rund- Über die Grundzüge des Organisationsmo- funkpolitik nach 1945, München 1980. Nachgewie- dells, das längerfristig zu verwirklichen war, sen werden daraus nur wörtliche Zitate. Ergänzende konnten sich die Westalliierten rasch verstän- Literaturhinweise beschränken sich auf die wichtigs- te neuere Literatur, hier sei noch genannt: Deutsches digen. Einen deutschen Staatsrundfunk soll- Rundfunkarchiv (Hrsg.), „Hier spricht Berlin …“: te es auf keinen Fall mehr geben. Angesichts Der Neubeginn des Rundfunks in Berlin 1945, Pots- der desolaten Wirtschaftslage war aber auch dam 1995. nicht daran zu denken, ein durch Werbung ❙2 Vgl. Konrad Dussel, Die Interessen der Allge- finanziertes privates Rundfunksystem wie meinheit vertreten: Die Tätigkeit der Rundfunk- und in den USA zu etablieren. Also blieb nur das Verwaltungsräte von Südwestfunk und Süddeut- schem Rundfunk 1949 bis 1969, Baden-Baden 1995, britische Konzept: Rundfunk als nur der Ge- S. 21–30; ders., Deutsche Rundfunkgeschichte, Kon- sellschaft verantwortliche öffentliche Aufga- stanz 20103, S. 185–190. be, finanziert durch Gebühren und organi- ❙3 So im Vorspann zur Verordnung Nr. 118 der Mi- siert durch autonome Anstalten. ❙2 litärregierung, zit. nach: H. Bausch (Anm. 1), S. 62. Vgl. ergänzend Peter von Rüden/Hans-Ulrich Wag- Die unterschiedlichen Vorstellungen zeigten ner (Hrsg.), Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks, Hamburg 2005. sich erst bei den Details der Verwirklichung. ❙4 Vgl. Sabine Friedrich, Rundfunk und Besatzungs- Wie viele Anstalten sollte es geben? Sollte ihre macht. Organisation, Programm und Hörer des Süd- Gestaltung den Deutschen überlassen oder westfunks 1945 bis 1949, Baden-Baden 1991.

14 APuZ 20/2010 ten, allen voran der erste Kanzler der jungen nachgedacht wurde. Zum Modell der Weima- Republik, Konrad Adenauer (CDU). Mit sei- rer Republik wollte jedoch keiner der Inten- nen Vorbehalten hielt er nicht hinter dem Berg. danten zurückkehren: Eine den einzelnen An- Am 21. Mai 1950 erklärte er beispielsweise in stalten übergeordnete (und am Ende noch von einem Rundfunkinterview, dass am bestehen- der Regierung dominierte) Reichsrundfunk- den System Änderungen vorgenommen wer- gesellschaft sollte es nicht mehr geben. Statt- den müssten. So wie der Rundfunk jetzt sei, sei dessen wurde auf einer Tagung in Bremen am er eine Hinterlassenschaft der britischen Be- 9. und 10. Juni 1950 von den sechs bestehen- satzung, die geglaubt habe, der Demokratie am den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstal- meisten damit zu dienen, wenn man die Instru- ten nur eine lockere „Arbeitsgemeinschaft“ mente der öffentlichen Meinung in die Hand vereinbart, deren Satzung in nur wenige, ganz der SPD gäbe. Dies bedeute eine Beeinträchti- allgemeine Paragrafen gegossen wurde. gung der Arbeit der Bundesregierung. ❙5 Derar- tige Äußerungen setzten die Rundfunkanstal- Allen Abgrenzungsbemühungen gegen- ten schon früh unter einen gewissen Druck. über der Bundesregierung zum Trotz nahm man es sprachlich damals jedoch nicht allzu genau: Statt ganz eindeutig von einer „Ar- Entstehung der Arbeitsgemeinschaft beitsgemeinschaft der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Für viele Politiker, die noch den Rundfunk der Deutschland“ zu sprechen, verzichtete man Weimarer Republik erlebt hatten, war nicht auf das „in“ und nahm in Kauf, dass der ein- verständlich, warum sie keinen Einfluss auf die fache Genitiv zweideutig blieb. Gemeint war Programme der deutschen Sender haben soll- zwar ein objekthaftes „für die“ Bundesrepu- ten. Schließlich waren sie ja die demokratisch blik, im Hintergrund schwang jedoch noch gewählten Repräsentanten des Volkes. Nicht immer die Besitzanzeige mit. Auch von der nur Bundeskanzler Adenauer war erbost über „ARD“ war noch nirgends die Rede. Man die seines Erachtens zu kritische Haltung der bezeichnete sich zunächst einmal immer nur Anstalten seiner Politik gegenüber und streb- als die „Arbeitsgemeinschaft“. Die Abkür- te deshalb eine grundsätzliche Reorganisati- zung ARD wurde erst 1954 eingeführt, nicht on des gesamten Systems an. Angriffspunkte zuletzt, um das Sendezeichen des deutschen gab es genügend: Der bislang nicht vorhande- Fernsehens griffiger gestalten zu können. ne Auslandsrundfunk musste organisiert wer- den; neben den Hörfunk überhaupt würde das Fernsehen treten, und NWDR und SWF besa- Gemeinschaftsaufgabe ßen noch keine deutschen Rechtsgrundlagen. „Deutsches Fernsehen“ Das Einfachste wäre es, alle Fragen mit einem einheitlichen Bundesgesetz zu beantworten. Die Satzung der Arbeitsgemeinschaft ist bis heute von lapidarer Kürze. Nach wie vor be- Gegen ein solches Vorgehen gab es man- schränkt sie sich darauf, als zentrale Aufga- chen Widerspruch, nicht zuletzt bei den be- be das „Wahrnehmen der gemeinsamen Inte- troffenen Anstalten. Wollte er tatsächlich Ge- ressen der Rundfunkanstalten“ zu definieren. hör finden, musste er sich organisieren. Der Vom Fernsehen ist mit keinem Wort die Rede. ❙6 Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Schon 1950 war jedoch klar, dass das neue Me- Landesanstalten fiel umso leichter, als auch dium eingeführt werden würde; schließlich ansonsten die sachliche Notwendigkeit unbe- hatte man beim NWDR bereits 1948 mit ers- stritten war. Schon früh hatten die Sender der tem Versuchsbetrieb begonnen. Allerdings Militärregierungen damit begonnen, in locke- wurde schnell deutlich, dass das Projekt sehr rer Form zusammenzuarbeiten, vor allem in kostspielig werden würde. Selbst der NWDR Urheberrechtsfragen. Im Laufe der Zeit in- als mit Abstand größte und finanzkräftigs- tensivierten sich die Kontakte immer mehr, te Anstalt würde es nicht ohne weiteres be- so dass über gewisse Institutionalisierungen wältigen können. Für die anderen, wesentlich

❙5 Wiedergegeben nach: Rolf Steininger, Rundfunk- ❙6 ARD-Satzung vom 9./10. Juni 1950 in der Fas- politik im ersten Kabinett Adenauer, in: Winfried B. sung vom 20. Juni 2006, § 2, online: www..de/in- Lerg/Rolf Steiniger (Hrsg.), Rundfunk und Politik tern/organisation/-/id=515780/property=download/ 1923–1973, Berlin 1975, S. 346 f. nid=8036/134puwo/index.pdf (9. 3. 2010).

APuZ 20/2010 15 kleineren Anstalten war es völlig ausgeschlos- Danach betrugen im Jahr 1971 die Nettoerträ- sen. Letztlich waren damals nur zwei Strate- ge aus den Rundfunkgebühren bei Radio Bre- gien denkbar: Entweder würde das Fernsehen men und beim Saarländischen Rundfunk 15,6 vom Bund zentral betrieben oder als Gemein- bzw. 20 Millionen Mark, während beim West- schaftsleistung der Arbeitsgemeinschaft orga- deutschen Rundfunk und beim Norddeut- nisiert. Während die erste Lösung verständli- schen Rundfunk, die bis 1955 gemeinsam den cherweise von der Bundesregierung favorisiert NWDR gebildet hatten, 310 Millionen bzw. wurde, suchte die Arbeitsgemeinschaft ihre 217 Millionen Mark in die Kassen flossen. ❙8 Mitglieder auf die zweite Alternative festzule- gen. Leicht war das nicht, denn wie bei vielen anderen Gelegenheiten auch waren die Inten- Innere Organisation danten nicht von vornherein schon einer Mei- nung. Im Falle der Fernsehorganisation war Wie locker die Arbeitsgemeinschaft anfäng- es vor allem der SWF-Intendant Friedrich Bi- lich gefügt war und wie peinlich genau man schoff, der sich zunächst für ein zentral gestal- auf die Souveränität aller Beteiligten achtete, tetes Programm aussprach. ist daran abzulesen, dass der Vorsitz im da- mals nur sechsköpfigen Intendanten-Gremi- Eine Einigung war auch dann noch nicht um alle halbe Jahr zu wechseln hatte und die in Sicht, als der NWDR an Weihnachten Reihenfolge strikt durch das Alphabet der be- 1952 mit einem regelmäßigen täglichen Pro- teiligten Anstalten vorgegeben war. Mit Ru- grammdienst begann. Erst als das Bundesin- dolf von Scholtz vom Bayerischen Rundfunk nenministerium im Februar 1953 einen eige- begann die erste Reihe und mit Friedrich Bi- nen Gesetzentwurf vorlegte, lockerten sich schoff vom SWF endete sie. Sogar der Inten- die Fronten innerhalb der ARD. Ihre schon dant der kleinsten Anstalt, Walter Gerdes von seit November 1950 bestehende Fernseh- Radio Bremen, konnte vom 4. Februar bis zum kommission bereitete einen Vertragsentwurf 30. September 1952 der ARD präsidieren. vor, den die Intendanten auf ihrer Sitzung am 27. März 1953 in Hannover billigten. Der Der nächste Zyklus brachte gleich mehrere Vertrag konstruierte das Programm als Ge- Veränderungen. Die Zahl der ARD-Mitglie- meinschaftsleistung, zu der fünf Anstalten der wuchs auf acht: 1954 kam der Sender Frei- genau definierte Anteile beizusteuern hatten: es Berlin hinzu und 1956 wurde die Teilung Der NWDR hatte die Hälfte zu liefern, der des NWDR in NDR und WDR vollzogen. Bayerische Rundfunk 20 Prozent und Hessi- Ein halbes Jahr Amtszeit für den Vorsitzenden scher Rundfunk, Süddeutscher Rundfunk so- hatte sich als unzureichend erwiesen, zumal wie Südwestfunk jeweils zehn Prozent; Radio mit dem neu entstehenden Fernsehen der Auf- Bremen war nicht beteiligt. Von einem tages- gabenkreis noch einmal wesentlich wuchs. Sie füllenden Programmangebot war man noch wurde deshalb auf ein Jahr verlängert. Außer- weit entfernt. Stattdessen hieß es: „Es soll dem wurden die kleinen, völlig vom Finanz- höchstens zwei Stunden täglich dauern.“ ❙7 ausgleich zwischen den Anstalten abhängen- den Anstalten vom Vorsitz ausgeschlossen. Die ganz unterschiedlichen Programman- Und schließlich verzichtete man auch auf eine teile spiegelten die genauso unterschiedlichen starr festgelegte Reihenfolge beim Wechsel. ökonomischen Verhältnisse der verschiedenen Anstalten wider. Bei ihrer Gründung war die- Aber selbst ein Jahr Amtszeit erwies sich sem Aspekt nämlich keine Bedeutung zuge- als zu kurz, so dass schon nach vier Jahren messen worden. Wie bei den Bundesländern, eine Verlängerung um ein weiteres Jahr ein- so gab (und gibt) es auch bei den Landesrund- geführt wurde. Seit 1958 amtieren nun alle funkanstalten Riesen und Zwerge. Die Un- ARD-Vorsitzenden in der Regel zwei Jah- terschiede waren so groß, dass sie lange Zeit re; nur einmal kam Christian Wallenreiter, noch nicht einmal offiziell dokumentiert wur- Bayerischer Rundfunk, auf drei Jahre (1967– den. Erst 1969 erschien das erste gemeinsa- 1969) und Reinhold Vöth, ebenfalls Bayeri- me ARD-Jahrbuch für alle Anstalten. Und es scher Rundfunk, sogar auf vier (1980–1983). dauerte bis 1972, bis darin einigermaßen ver- Zur Zeit amtiert Peter Boudgoust vom Süd- gleichbare Finanzzahlen präsentiert wurden. westrundfunk. Über seine Nachfolge ist be-

❙7 Zit. nach: H. Bausch (Anm. 1), S. 274. ❙8 Vgl. ARD-Jahrbuch 1972, Faltblatt nach S. 234.

16 APuZ 20/2010 Abbildung: Sendegebiete der ARD-Landesanstalten 1950 und 2010

NDR RB Radio Bremen Berlin NWDR NWDR RIAS

Britische Zone RBB WDR

MDR

HR HR

Amerikanische SWF Zone SR

SDR SWR BR BR SWF Französische Zone

Quelle: ARD-Jahrbuch. reits entschieden. 2011/12 wird Monika Piel schen den einzelnen Anstalten bedurften. Man- vom WDR als erste Frau die ARD führen. che Felder waren kontinuierlich zu beackern – Fragen des Rechts und der Technik bei- Nachdem die ARD 1959 den Saarländischen spielsweise –, wofür ständige Fachkommissio- Rundfunk und 1962 die beiden Bundesrund- nen begründet wurden. Für Dinge, die ad hoc funkanstalten und Deutsch- zu erledigen waren, genügten immer wieder landfunk als neue Mitglieder aufgenommen neue Sonderkommissionen. Im Rahmen die- hatte, gab es bis in die 1990er Jahre keine Ver- ses Überblicks soll auf diese Einzelheiten nicht änderungen mehr. 1991 kamen dann der Ost- näher eingegangen werden; festzuhalten bleibt deutsche Rundfunk Brandenburg und der Mit- aber: Die Ausdifferenzierung der Themenfel- teldeutsche Rundfunk hinzu. Danach führten der verlangte einen Koordinationseinsatz, der Fusionen nur noch zu drei Verminderungen: die ARD-Vorsitzenden zunehmend forder- Der ging 1993 in einer von te, wenn nicht sogar überforderte. 2006 wurde ARD und ZDF getragenen neuen Anstalt auf, deshalb ein Generalsekretariat eingerichtet, das 1998 verschmolzen Süddeutscher Rundfunk für fünf Jahre mit Verena Wiedemann besetzt und Südwestfunk zum Südwestrundfunk und wurde, einer promovierten Juristin, die zuvor 2003 löste der Rundfunk Berlin-Brandenburg seit 1993 das Verbindungsbüro der ARD zur den bisherigen und den Europäischen Union in Brüssel geleitet hatte. Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg ab. Heute besteht die ARD aus neun Landesan- stalten (Abbildung) und der Deutschen Welle, ARD und ZDF dem deutschen Auslandsrundfunk. Die Dynamik der Entwicklung des deutschen Darzustellen, wie die ARD ihr Fernseh- Fernsehens hat wohl niemand so recht voraus- gemeinschaftsprogramm zu organisieren be- sehen können. In wenigen Jahren etablierte es gann, ergäbe einen Artikel für sich. ❙9 Es dauer- sich als zentrales Massenmedium, vor allem te Jahre, bis sich feste Strukturen entwickelten. in den Abendstunden. Für die Zuschauerin- Die Ständige Fernsehprogrammkonferenz er- nen und Zuschauer war sicherlich die ständi- hielt erst im Herbst 1960 einen hauptamtlichen ge Programmausweitung am wichtigsten. Die Vorsitzenden, als ein tägliches Fünf-Stunden- Idee eines maximal zweistündigen Abendpro- Programm bereits Millionen von Zuschau- gramms war schnell vergessen. Noch hatten ern erreichte. Als ersten Koordinator wählten sich gar nicht alle Landesanstalten aufgrund die Intendanten Karl Mohr, einen ehemaligen der fehlenden technischen Voraussetzungen nordrhein-westfälischen Staatssekretär. Im- am Gemeinschaftsprogramm beteiligen kön- merhin stellte man ihm auch gleich zwei wei- nen, da gab es bereits eine regelmäßige nach- tere hauptamtliche Führungskräfte zur Seite, mittägliche „Kinderstunde“. Fallweise Er- den Koordinator Sport (Robert E. Lembke) weiterungen am Wochenende schlossen sich und den Koordinator Politik (Gerd Ruge). an. Bald folgten regionale Angebote und die ­Lothar Hartmann, der am 1. Juli 1965 Karl Einführung von Werbung (worüber zuvor in- Mohr ablöste, trug dann als erster den Titel nerhalb der ARD energisch gestritten worden „Programmdirektor Deutsches Fernsehen“. war). Schon 1959 wurden im Durchschnitt täg- lich fünf Stunden Programm ausgestrahlt. ❙10 Doch nicht nur das Fernsehen musste in der ARD koordiniert werden. Es gab eine Menge Nur von partiellem Interesse dürfte da- von Themen, die enger Zusammenarbeit zwi- gegen gewesen sein, dass immer wieder die Programmanteile der beteiligten Anstalten geändert werden mussten. Als 1953 der Sen- ❙9 Knappe Hinweise geben Knut Hickethier, Geschich - te des deutschen Fernsehens, Stuttgart–Weimar 1998, der Freies Berlin gegründet (und in die ARD S. 125–130, und Joan Kristin Bleicher, Institutionsge- aufgenommen) wurde, erhielt er einen Neun- schichte des bundesrepublikanischen Fernsehens, in: Prozent-Anteil, der dadurch zustande kam, Knut Hickethier (Hrsg.), Institution, Technik und dass die Anteile der anderen Anstalten ent- Programm. Rahmenaspekte der Programmgeschichte weder um ein, zwei oder vier Prozent gekürzt des Fernsehens, München 1993, S. 84–94. Aus der Sicht wurden. 1956 teilten sich nach der Aufteilung eines Beteiligten vgl. Clemens Münster, Die Organisa- tion des Gemeinschaftsprogramms „Deutsches Fern- des NWDR die beiden Nachfolger NDR und sehen“ in den fünfziger Jahren, hrsg. von Hans Dieter Erlinger und Knut Hickethier, Siegen 1991. ❙10 Vgl. K. Hickethier, Geschichte (Anm. 9), S. 130 ff.

18 APuZ 20/2010 WDR seinen 46-Prozent-Anteil je zur Hälf- Landesanstalten die zur Verfügung stehenden te. 1961 wurde Radio Bremen in den Kreis neuen Frequenzen mit einem provisorischen der Fernsehanbieter aufgenommen und 1962 zweiten Programm füllen. Die dazu nötigen der Saarländische Rundfunk. Investitionen sollten jedoch nicht verloren sein, sondern in ein sich bereits abzeichnen- Die öffentliche Diskussion der Zeit be- des, dann von ihnen zu veranstaltendes drit- herrschten dagegen zwei ganz andere Themen: tes Programm eingebracht werden. Wann würde es endlich ein zweites Fernseh- programm in der Bundesrepublik geben – und Die ZDF-Gründung war ein harter Schlag wer würde es organisieren? Seit 1957/58 war für die ARD. Die neue Konkurrenz bedeute- klar, dass die technischen Voraussetzungen te nicht nur eine Herausforderung für die Pro- dafür vorhanden waren. Und so formierten grammgestaltung; der ARD wurde auch eine sich erneut die Kontrahenten, die sich seit der Menge Personal abgeworben, und schließlich Staatsgründung immer wieder rundfunkpo- musste eine drastische Einbuße bei den Finan- litisch gegenübergestanden hatten. Nach der zen in Kauf genommen werden. Artikel 23 des Bundestagswahl 1957, die der CDU/CSU zum ZDF-Staatsvertrags wies der neuen Anstalt la- bisher einzigen Mal die absolute Mehrheit pidar 30 Prozent des Fernsehgebührenaufkom- brachte, schien es möglich, neue Verhältnisse mens zu, ohne dass dessen Erhöhung ins Auge zu schaffen. Am 28. Februar 1958 erhielt die gefasst worden wäre. Die Höhe der Rundfunk- Bundesregierung von der hinter ihr stehenden gebühr schien damals gleichsam naturgegeben. Parlamentsmehrheit den Auftrag, den Auf- Seit dem 1. Januar 1924 betrug sie zwei Mark; bau eines von den ARD-Anstalten unabhän- seit 1953 wurden für das Fernsehen weitere fünf gigen zweiten Fernsehprogramms vorzuberei- Mark erhoben. Erst nach jahrelangen Ausein- ten. Obwohl Eile geboten war, weil der neue andersetzungen kam eine erste, maßvolle Er- Sender bereits zur nächsten Bundestagswahl höhung zu Stande. Für den Hörfunk gab es ab 1961 zur Verfügung stehen sollte, dauerte es 1. Januar 1970 eine Erhöhung um 50 Pfennige, bis zum 25. Juli 1960, bis Bundeskanzler Ade- für das Fernsehen um eine Mark. ❙11 nauer zur Tat schreiten konnte und gemein- sam mit Bundesjustizminister Fritz Schäffer Allerdings waren die Anstalten schon zu- die Deutschland-Fernsehen GmbH gründete. vor nicht auf die Gebührenerträge beschränkt gewesen. Den Anstalten wurde von den Län- Die Verzögerungen hatten sich nicht zu- dern eine gewisse kommerzielle Werbung letzt daraus ergeben, dass die Länder den zugestanden, wenn auch in eng begrenztem Vorstellungen Adenauers strikt widerspra- Rahmen. Dennoch sprudelte diese Quelle chen. Parteiübergreifend beharrten sie da- zunächst reichlich: 1970 betrugen die Net- rauf, dass die Organisation des Rundfunks toumsätze des Werbefernsehens der ARD Ländersache sei. Als Adenauer nicht einlenk- fast 60 Prozent seiner Gebühreneinnahmen, te, wurde schließlich das Bundesverfassungs- beim ZDF sogar 70 Prozent. ❙12 Die Zeiten än- gericht angerufen. Sein Urteil vom 28. Fe- dern sich jedoch; dreißig Jahre später sah dies bruar 1961 brachte eine herbe Niederlage für ganz anders aus. den Kanzler. Die Gründung seiner Deutsch- land-Fernsehen GmbH verstieß nicht nur ge- ❙11 Seitdem folgten zehn weitere Erhöhungen. Von den gen die grundgesetzliche Abgrenzung der seit dem 1. Januar 2009 gültigen 12,22 Euro Fernsehge- Befugnisse von Bund und Ländern, sondern bühr stehen dem ZDF 39,4914 Prozent zu. Der mittler- auch gegen die durch Artikel 5 des Grundge- weile mehrfach geänderte ZDF-Staatsvertrag enthält setzes gewährleistete Rundfunkfreiheit. zur Finanzierung keine konkrete Angabe mehr, son- dern verweist in seinem § 29 nur noch auf den Rund- funkfinanzierungsstaatsvertrag. Dieser definiert den Ihren neuen Handlungsspielraum nutzten ZDF-Anteil in § 9, 2 seiner seit dem 1. Juni 2009 gülti- die Länder jedoch nicht, um die Organisati- gen Fassung. Die Verträge gibt es online unter: www. on des zweiten Fernsehprogramms den be- unternehmen..de/uploads/media/zdf-staatsver- stehenden Landesanstalten zu übertragen. trag_neu.pdf und www.medienanstalt-mv.de/media/ Sie entschieden sich stattdessen für die Grün- legal/35/RFinStV12.pdf (9. 3. 2010). ❙12 dung einer neuen Anstalt. Der Staatsvertrag Vgl. Konrad Dussel, Der Siegeszug des kommer- ziellen Werbefernsehens. Die Entwicklung der Wer- über das ZDF, das Zweite Deutsche Fern- beeinnahmen von Fernsehen und Hörfunk in der sehen, wurde bereits am 6. Juni 1961 unter- Bundesrepublik Deutschland, in: Rundfunk und Ge- zeichnet. Nur übergangsweise durften die schichte, 35 (2009) 3–4, S. 3–14, hier: S. 7.

APuZ 20/2010 19 Programmentwicklung Die neue Konkurrenz sorgte nicht sofort für ein engeres Zusammenrücken bei den öf- unter Druck der Privaten fentlich-rechtlichen Anstalten. Die Heraus- forderung erschien nicht so groß, als dass Schon lange sind die Zeiten vorbei, in denen man ihr nur gemeinsam begegnen könnte. die deutschen Fernsehzuschauer nur zwischen Nun erst wurde das ARD-Fernsehgemein- den Programmen von ARD und ZDF wählen schaftsprogramm in „Erstes Deutsches Fern- konnten (sofern ihnen in den Grenzregionen sehen“ umbenannt – obwohl es das Zweite ja nicht auch die Angebote aus der DDR, Öster- schon seit mehr als zwanzig Jahren gab. Der reich oder der Schweiz zur Verfügung stan- erste Schritt in die neue Satellitenwelt wur- den). Allerdings folgten die Erweiterungen de getrennt gemacht: Am 1. Dezember be- zunächst nur zögernd und eng begrenzt. Das gann 3sat, getragen aber nur von ZDF, Öster- ZDF hatte kaum seine Tätigkeit begonnen, reichischem Rundfunk und Schweizerischer da warteten die ARD-Anstalten mit weiteren Radio- und Fernsehgesellschaft. Die ARD Alternativen auf, den versprochenen Dritten kreierte ihr eigenes Satellitenprogramm Eins Programmen. Als erstes eröffnete der Baye- Plus (Sendestart 29. März 1986). rische Rundfunk am 22. September 1964 sein damaliges „Studienprogramm“, der Hessische Es braucht hier nicht diskutiert zu werden, Rundfunk schloss sich am 5. Oktober an. Der ob die Programme des Privatfernsehens das NDR folgte gemeinsam mit Radio Bremen boten, was sich die Kanzler Adenauer und und dem Sender Freies Berlin Anfang 1965, Kohl erhofft hatten. Auf jeden Fall vermoch- der WDR Ende jenes Jahres. Im Südwesten ten sie schnell kommerziell erfolgreich mit dauerte es aufgrund medienpolitischer Dif- denen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ferenzen bis zum 5. April 1969, bis Saarlän- zu konkurrieren. Schon 1990 lagen die Net- discher Rundfunk, Süddeutscher Rundfunk toumsätze des Werbefernsehens der beiden und Südwestfunk ihr gemeinsames Südwest 3 Säulen des sogenannten Dualen Systems na- aus der Taufe heben konnten. Aufgrund der hezu gleichauf, und die Gewichte verschoben terrestrischen Ausstrahlung waren alle diese sich mit hohem Tempo weiter hin zu den Pri- Angebote aber nur regional begrenzt emp- vaten. Seit 1995 vereinnahmen sie stets mehr fangbar, so dass sie tatsächlich nur in ihrer als 90 Prozent. Schon im Jahr 2000 war der Gesamtheit ein drittes Programm ergaben. ehemalige 60-Prozent-Anteil der Nettoum- sätze des Werbefernsehens am Gebührenauf- Erhebliche quantitative und qualitative Ver- kommen der ARD auf acht Prozent gefallen, änderungen konnten erst eintreten, als mit der beim ZDF erfolgte ein Absturz von 70 auf Kabel- und Satellitentechnologie zwei völlig 15 Prozent. ❙14 neue Übertragungswege für Rundfunkpro- gramme zur Verfügung standen. Nachdem Vor diesem Hintergrund musste ein gewis- sich die sozialliberale Koalition unter Bun- ses Umdenken einsetzen, musste an die Stelle deskanzler Helmut Schmidt (1974–1982) noch von gebührenfinanzierter Konkurrenz mehr sehr abwartend verhalten hatte, stellte die Zusammenarbeit der Öffentlich-­Rechtlichen Bundesregierung unter Helmut Kohl (1982– treten. Das ZDF wurde nun sogar an einem 1998) die Weichen neu. Endlich war Ade- ARD-Hörfunkprogramm beteiligt: Seit dem nauers Traum einer Alternative zum öffent- 1. Januar 1992 führten ARD und ZDF ge- lich-rechtlichen Rundfunk zu verwirklichen. meinsam DS Kultur (Deutschlandsender Obwohl der förmliche Staatsvertrag zur Neu- Kultur) fort, das 1990 aus der Zusammenle- ordnung des Rundfunkwesens erst Anfang gung der beiden früheren DDR-Program- April 1987 von den Ländern unterzeichnet me Deutschlandsender und Radio DDR II wurde, fiel das eigentliche Startsignal bereits entstanden war. 1993 wurden auch noch der am 1. Januar 1984 mit der Eröffnung des Ka- Deutschlandfunk und RIAS Berlin einbezo- belprojekts Ludwigshafen. Nun hatten auch gen. Und noch im selben Jahr verzichtete die private Anbieter die Chance, eigene Rund- ARD auf ihr Eins Plus und schloss sich dem funkprogramme zu veranstalten. ❙13 3sat-Verbund an. Schon 1992 hatte ein weite- res internationales Gemeinschaftsprogramm ❙13 Vgl. als grundlegenden Überblick: Dietrich auf Sendung gehen können: der deutsch-fran- Schwarzkopf (Hrsg.), Rundfunkpolitik in Deutsch- land. Wettbewerb und Öffentlichkeit, München 1999. ❙14 Vgl. K. Dussel (Anm. 12), S. 5 und S. 7.

20 APuZ 20/2010 zösische Kulturkanal Arte, mit je 25-Pro- de – eine Aufgabe, die sie seit 1959 dann auch zent-Anteilen von ARD und ZDF und einem zentral für alle anderen Anstalten übernahm. 50-Prozent-Anteil des französischen Kultur- Auch das IRT hat seine Wurzeln in der Wei- kanals La Sept. marer Republik, in der Rundfunktechnischen Versuchsstelle der Reichsrundfunk-Gesell- Die Öffentlich-Rechtlichen begannen, stär- schaft. Nach 1945 kam es gleich zu mehreren ker ihren Kernauftrag zu fokussieren, der al- Neugründungen, die dann 1956 unter dem lein ihre Gebührenfinanzierung rechtfertigt. heutigen Dach zusammengeführt wurden. Zwei neue Gemeinschaftsangebote von ARD und ZDF trugen dem vor allem Rechnung. Die jüngeren Gemeinschaftseinrichtun- Am 1. Januar 1997 startete der Kinderka- gen werden nun nicht mehr nur von der ARD nal, der seinen jungen Zuschauern ein „wer- allein, sondern auch vom ZDF getragen. befreies, zielgruppenorientiertes, vielfälti- An erster Stelle ist jene Institution zu nen- ges Qualitätsprogramm für alle von drei bis nen, mit der eigentlich jeder deutsche Haus- 13 Jahren und darüber“ bieten will, wie die halt irgendwann zu tun bekommt: die GEZ, aktuelle Homepage verspricht. Und kurze die Gebühreneinzugszentrale der öffentlich- Zeit später, am 7. April, folgte der Ereignis- recht­lichen Rundfunkanstalten in der Bun- und Dokumentationskanal Phoenix, in dem desrepublik. Nachdem in langwierigen Ver- unter anderem wieder ausführliche Übertra- fahren die Rechtsnatur der Rundfunkgebühr gungen aus Parlamenten untergebracht wer- geklärt worden war, entschlossen sich die den ­konnten. Anstalten 1973, ihren Einzug, der zuvor von der Bundespost vorgenommen wurde, selbst zu organisieren. Am 1. Januar 1976 begann Gemeinsame Institutionen die GEZ mit dieser Tätigkeit.

So wichtig das Programm als Endergebnis Nachdem das Thema Sportübertragungen für die einzelnen Anstalten und ihre Ge- im Fernsehen lange Jahre eher beiläufig be- meinschaft sein muss, so bedarf es doch einer arbeitet werden konnte, entwickelte es sich Menge von Voraussetzungen, die ihrerseits nach der Einführung des Privatfernsehens feste Organisation verlangten. ❙15 Noch in den äußerst kostenträchtig. Als zentrale Einrich- 1950er Jahren entstanden drei bis heute be- tung etablierten die Öffentlich-Rechtlichen stehende Institutionen. Älteste Einrichtung deshalb 1995 die SportA, die Sportrechte- der ARD ist das Deutsche Rundfunkarchiv und Marketing-Agentur. Eher von anstalts- (DRA) mit Sitz in Frankfurt am Main. 1952 interner Bedeutung, aber dennoch erwäh- gegründet, um die Geschichte des Rundfunks nenswert ist schließlich noch die Gründung in Deutschland zu dokumentieren, wurde einer gemeinsamen Fortbildungseinrichtung, ihm 1978 mit der zentralen Schallplattenka- der ARD-ZDF-Medienakademie ab 1. Ja- talogisierung eine weitere wichtige Aufgabe nuar 2007, hervorgegangen aus zwei älteren, übertragen. Seit 1994 bewahrt es auch die ge- aber ebenfalls schon von ARD und ZDF ge- samte Überlieferung des DDR-Rundfunks meinsam betriebenen Vorgängern. im zweiten Standort Potsdam.

Weniger voraussetzungslos als das DRA Reform von historisch Gewachsenem? entstanden die Deutsche Gesellschaft für Ton und Film (Degeto) und das Institut für Das Gebäude, das die ARD in 60 Jahren er- Rundfunktechnik (IRT). Die Degeto war richtet hat, ist imposant und insgesamt auf schon 1928 gegründet worden. Ein neuer Ab- jeden Fall erhaltenswert. Gleichwohl soll- schnitt begann jedoch, als sie seit 1954 für die te der Hinweis erlaubt sein, dass manche Filmbeschaffung für die Fernsehprogramme ­Eigenheiten unvoreingenommenen Betrach- des Hessischen Rundfunks eingesetzt wur- tern eigentlich kaum noch verständlich zu machen sind. Sie sind nur noch als historisch Gewachsenes zu erklären. Ob sie deshalb so ❙15 Vgl. zum Folgenden den Überblick über die In- wie sie sind beibehalten werden müssen, oder stitutionen für gemeinsame Aufgaben auf der ARD- Homepage: www.ard.de/intern/organisation/gemein- nicht doch sinnvollerweise verändert werden schaftseinrichtungen/-/id=54562/6sfqia/index.html sollten, steht jedoch auf einem ganz anderen (9. 3. 2 010). Blatt.

APuZ 20/2010 21 Nur auf zwei besonders auffallende Eigen- Gemma Pörzgen heiten soll hier abschließend kurz hingewie- sen werden. Wie gezeigt, entstand die ARD als Zusammenschluss der damaligen Lan- Die Welt im Blick: desrundfunkanstalten vor allem zum Zweck der Veranstaltung eines Fernsehprogramms. ARD-Auslands­ Als die Ministerpräsidenten der Länder eine neue Anstalt konstruierten, die ein zweites Programm anbieten sollte, war dies ein Kon- korrespondenten kurrent, der naheliegenderweise nicht in die bestehende Arbeitsgemeinschaft aufgenom- er an die ARD-Auslandsberichter- men wurde. Jahrzehnte später ist diese Kon- Wstattung denkt, dem fällt zunächst das kurrenz in den Schatten einer ganz anderen Fernsehen ein. Nachrichtensendungen wie die Auseinandersetzung getreten: der zwischen „Tagesschau“ oder die privaten und öffentlich-rechtlichen Anbie- „“ errei- Gemma Pörzgen tern überhaupt. Gleichwohl blieb die alte chen täglich ein Mil- Geb. 1962; freie Journalistin Trennung von ARD und ZDF bestehen. Die lionenpublikum und in Berlin. Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rund- schmücken sich mit [email protected] funks wäre gestärkt, wenn er nur mit einer ihren Auslandskorres­ Organisation auftreten würde, wenn die Ar- pondenten in aller Welt. Journalisten wie beitsgemeinschaft tatsächlich alle öffentlich- Thomas Roth gehören heute zu den vertrau- rechtlichen Anstalten umfassen würde, also ten Fernsehgesichtern. Viele Jahre lang war auch das ZDF. er ARD-Studioleiter in Moskau, seit bald zwei Jahren ist er in New York. Sein Kollege Aber auch die Struktur des Angebots an ­Peter Mezger berichtete im April 2009 zeit- öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen weise sogar als einziger deutscher Journalist ist unvoreingenommen und grundsätzlich zu regelmäßig aus Teheran, weil andere Kolle- überprüfen. Ihre in den 1960er Jahren etab- gen keine Visa mehr für Iran bekamen. Das lierte Dreiteilung ist seit der Einführung des weltweite ARD-Korrespondentennetz be- Privatfernsehens und neuer Übertragungs- steht heute aus rund hundert fest angestell- technologien überholt. Die Landesanstalten ten Hörfunk- und Fernsehjournalisten, die strahlen schon längst nicht mehr nur regio- unter anderem aus Peking, Paris, Neu Delhi, nal begrenzt empfangbare Programme aus, Genf oder London in die Heimat berichten. die erst in ihrer Gesamtheit ein Drittes Pro- Das Netz ist neben dem der britischen BBC gramm bilden. Ihre mittlerweile acht (mit eines der größten weltweit. Die Privatsender BR-alpha sogar neun) Angebote sind per Ka- haben seit ihrer Entstehung Mitte der 1980er bel und Satellit fast überall empfangbar. Der Jahre nichts vergleichbares aufbauen können. in den 1950er Jahren vorhandene Zwang zur Auch im Vergleich zu den Sendern der euro- Gestaltung eines Gemeinschaftsprogramms päischen Nachbarn kann sich das weitver- ist vor diesem Hintergrund entfallen. Seine zweigte Netz der 26 ARD-Auslandsstudios Beibehaltung bedarf im Grunde neuer Legi- sehen lassen. timation, die sich nur aus einer stringenten Profilierung aller, ohne Zweifel als solcher Auch wenn dieses Netz vergleichsweise unverzichtbaren öffentlich-rechtlichen Fern- engmaschig ist, sind die Berichtsgebiete ein- sehprogramme ergeben kann. zelner Studios bisweilen sehr groß: So müs- sen zum Beispiel die Korrespondenten Flo- Es ist zwar verständlich, dass man nur un- rian Meesmann und Markus Gürne vom gern liebgewordene Besitzstände verändert, ARD-Studio Neu Delhi aus regelmäßig In- aber ein Gesamtangebot von mittlerweile 15 dien, Pakistan, Nepal, Bhutan, Sri Lanka, gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Bangladesch und die Malediven bereisen. Fernsehprogrammen hält durchaus beachtli- Gleichzeitig sind sie auch für die Afghanis- che Gestaltungsspielräume für Umstruktu- tan-Berichterstattung zuständig. ❙1 Vielerorts, rierungen bereit. beispielsweise in Lateinamerika, ist die ARD personell jedoch noch besser aufgestellt als die etwas jüngere Konkurrenz vom Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF).

22 APuZ 20/2010 Unter Federführung des Westdeutschen mussten sie durch die Zulieferung von Hör- Rundfunks (WDR) ist die ARD schon seit funkbeiträgen verdienen, ohne dass es damals 1956 in Moskau vertreten. Das heutige Studio eine Abnahmegarantie durch den NWDR ge- unter Leitung der erfahrenen Russland-Be- geben hätte. Dies führte dazu, dass die Korre- richterstatterin Ina Ruck ist mit drei Korres- spondenten meist auch für Zeitungen schrie- pondenten und 30 Mitarbeitern nicht nur das ben, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu älteste in der russischen Hauptstadt, sondern können. In vielen Weltgegenden waren sie die auch das größte. Rund 2000 Sendeminuten ersten Repräsentanten Nachkriegsdeutsch- kommen jährlich aus Moskau, wobei das dor- lands, weil es zunächst nur wenige diploma- tige Auslandsstudio nicht nur aus Russland, tische Vertretungen im Ausland gab. sondern auch aus fast allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion berichtet. Auch von vielen Ulrich Schiller ging 1960 als studierter Sla- anderen Standorten garantiert die ARD ihren wist nach Belgrad und suchte sich eine Woh- Zuschauerinnen und Zuhörern schon seit Jahr- nung, in der er auch arbeitete. Damals seien zehnten eine qualifizierte Berichterstattung. vor allem Sprachkenntnisse wichtig gewesen und ein Telefon, erinnert er sich. Auch als er ein paar Jahre später nach Moskau wechselte, Pioniere der Auslandsberichterstattung waren die Arbeitsbedingungen mit der techni- schen Ausstattung heutiger Auslandsstudios Die ersten Schritte ins Ausland machte Anfang nicht vergleichbar: „Ich hatte ja noch nicht der 1950er Jahre der Nordwestdeutsche Rund- einmal ein ordentliches Tonbandgerät.“ Den- funk (NWDR). „Wir wollten raus damals“, noch habe es echte Hörergemeinden bestimm- charakterisiert der langjährige Korrespondent ter Korrespondenten gegeben: „Die Stimme Ulrich Schiller die Stimmung unter den ersten war eben geläufig“, erinnert sich Schiller an Auslandsberichterstattern der jungen Bundes- diese Blütezeit des ­Hörfunkjournalismus. republik. „Wir waren im Krieg, waren in Ge- fangenschaft und fühlten uns dann in Deutsch- Mit dem Ausbau der Fernsehberichterstat- land wie eingeschlossen im Nazidenken“, tung aus dem Ausland stiegen auch die orga- erinnert sich der erfahrene Journalist, der für nisatorischen und technischen Anforderun- die ARD von wichtigen Auslandsposten wie gen. Viele Korrespondenten wie der legendäre Belgrad, Moskau und Washington berichtete. ❙2 USA-Berichterstatter Peter von Zahn arbei- teten für Hörfunk und Fernsehen. Ab 1955 Nachdem im Januar 1950 erste Hörfunk- begannen die Rundfunkanstalten der Länder korrespondenten für den NWDR nach Lon- dann damit, die Liste ihrer Korresponden- don und Stockholm gegangen waren, ernann- ten auszutauschen, um die Auslandsbericht- te der Sender noch im selben Jahr offiziell erstattung in der ARD auszubauen. Mit der Ansprechpartner in Großbritannien, Frank- ARD wuchs auch das Netz ihrer Auslands- reich, Schweden, Italien und den USA, später posten. 1963 entstand mit dem „Weltspiegel“ auch in der Türkei bzw. Ägypten. ❙3 Sie sollten ein eigenes Auslandsformat im Ersten. 1966 nicht nur als Kommentatoren arbeiten, son- wurde die Nahost-Berichterstattung ausge- dern auch für die Nachrichtenhauptabteilung weitet und ein Studio in Tel Aviv eingerich- berichten. ❙4 Ihr Status war damals der von tet. In den folgenden Jahren kamen immer „festen Freien“; ihr Gehalt – abgesehen von ei- mehr Berichtsgebiete dazu. nem Monatsfixum von 30 bis 50 US-Dollar – Nach der Wiedervereinigung 1990 mussten dann auch die neuen Sendeanstalten, der Ost- ❙1 Vgl. Florian Meesmann, Von Panzern und Pasch- deutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) und tunen, in: ARD-Jahrbuch 2009, S. 41–45, online: www.ard.de/intern/publikationen (7. 4. 2010). der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), in das ❙2 Interview der Autorin mit Ulrich Schiller am Auslandskorrespondentennetz eingebunden 23. 3. 2010 (folgende Zitate ebd.). werden. Der MDR-Chefredakteur Wolfgang ❙3 Vgl. ARD-Chronik, online: www.ard.de/intern/ Kenntemich erinnert sich noch gut daran, wie chronik (7. 4. 2010). gering die Bereitschaft in der alten ARD da- ❙4 Vgl. Christoph Hilgert, Kommentare im Hör- mals war, die Sendegebiete neu aufzuteilen. ❙5 funkprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR). Redaktioneller Kontext und gesellschaft- liche Stellung, Magisterarbeit, Universität Hamburg ❙5 Interview der Autorin mit Wolfgang Kenntemich 2005 (unveröff.), S. 79 ff. am 1. 4. 2010 (folgende Zitate ebd.).

APuZ 20/2010 23 Schließlich übernahm der MDR in Koope- ge begleitete. Als Westerwelle kurzfristig einen ration mit dem Hessischen Rundfunk (HR) Abstecher in den Jemen einplante, brauchte der Prag, außerdem trat der Norddeutsche Rund- Journalist zunächst eine offizielle Zustimmung funk (NDR) das Fernsehstudio für Südasien des für dieses Berichtsgebiet zuständigen SWR, ab, während der Hörfunk unter seiner Feder- um weiter mitreisen zu können. führung verblieb. Das komplizierte Machtgefüge der Lan- desrundfunkanstalten sorgt auch dafür, dass Föderale Struktur der ARD sich der Zuschnitt der Berichtsgebiete nur schwer verändern lässt. Kritiker bemän- „Die ARD ist eine bunte Wiese voller Blu- geln, dass die ARD nach dem Ende des Kal- men“, beschreibt Kenntemich das föderale ten Krieges viel zu spät auf die grundlegen- System des Senderverbundes. „Es hat Vor- den weltpolitischen Veränderungen und das und Nachteile, dass wir nicht zentral durchor- Entstehen neuer Machtzentren reagiert habe. ganisiert sind.“ Einerseits könne die ARD auf „Die Strukturen der ARD sind nicht mitge- die Größe ihres Auslandskorrespondenten- wachsen und haben sich nicht modernisiert“, netzes stolz sein, anderseits führe die föderale so etwa der Medienwissenschaftler Oliver Struktur auch häufig zu ­Reibungsverlusten. Hahn. ❙6 Die ARD müsse auch journalistisch darauf reagieren, dass Schwellenländer wie Die Nachteile werden nach Einschätzung Brasilien an Gewicht gewonnen hätten: „Die von Kritikern vor allem dann deutlich, wenn Chefredakteure sollten die heutige Landkar- es aufgrund brennender Aktualität darum te mal wieder in die Hand nehmen und ihre geht, Kräfte zu bündeln und rasch klare Ent- Auslandsposten neu aufteilen.“ scheidungen zu fällen. Während es beim ZDF seit einiger Zeit einen „Krisenreaktionsraum“ gibt, in dem die wichtigsten Entscheider im Bedeutung des Korrespondentennetzes Krisenfall, wie jüngst beim Erdbeben in Ha- iti, zusammenkommen und die gesamte Aus- Angesichts des tiefgreifenden Strukturwan- landsberichterstattung zentral koordinieren, dels in den Printmedien dürfte die Bedeutung konkurrieren die einzelnen ARD-Anstalten des herausragenden ARD-Auslandskorres­ in solchen Momenten häufig miteinander, pondentennetzes in den kommenden Jahren statt zusammenzuarbeiten. Besonders be- weiter steigen. Längst sparen die Verleger selbst rüchtigt ist das schlechte Verhältnis zwischen bei überregionalen Tageszeitungen vor allem dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) und an der teuren Auslandsberichterstattung. So dem Südwestrundfunk (SWR), der 1998 aus lässt zum Beispiel die „Frankfurter Allgemei- der Fusion von Süddeutschem Rundfunk ne Zeitung“ Entwicklungen auf dem Balkan (SDR) und Südwestfunk (SWF) hervorging nur noch vom Korrespondentenplatz Istan- und seitdem in der Auslandsberichterstattung bul aus betrachten und hat ihr Büro in Belgrad eine dem WDR ebenbürtige Rolle spielt. geschlossen. Auch andere Redaktionen set- zen angesichts des einbrechenden Anzeigen- Anders als ZDF-Chefredakteur Peter Frey geschäfts den Rotstift bei den Auslandsposten kann ARD-Chefredakteur Thomas Baumann an. Auch die Deutsche Presse-Agentur, die bis- nicht „durchregieren“. Er ist zwar für die Ko- lang mit eigenen Korrespondenten in rund 80 ordination der aktuellen politischen Berichter- Ländern gut aufgestellt war, wird auf den zu- stattung der ARD zuständig, aber das bedeutet nehmenden Konkurrenz- und Kostendruck in kaum mehr, als dass er die täglichen Schaltkon- den kommenden Jahren voraussichtlich mit ei- ferenzen der Chefredakteure der Landesrund- nem harten Sparkurs in der Auslandsberichter- funkanstalten moderiert. Das Machtgerangel stattung reagieren müssen. Deutschland droht auf den Chefetagen führt dann im journalis- deshalb eine zunehmende Provinzialisierung tischen Alltag dazu, dass sich Sender-Rivalitä- seiner überwiegend von Regionalzeitungen ten stärker auswirken als journalistische Argu- dominierten Medienlandschaft. mente. Zur Illustration erzählt man sich unter Journalisten gerne Anekdoten, wie etwa jene ❙6 Interview der Autorin mit Oliver Hahn (Journa- über die Reise des Außenministers Guido Wes- listikprofessor in Iserlohn und Mitherausgeber des terwelle in die Türkei und auf die Arabische Buches Deutsche Auslandskorrespondenten, Kons- Halbinsel im Januar 2010, die ein WDR-Kolle- tanz 2008) am 1. 4. 2010 (folgende Zitate ebd.).

24 APuZ 20/2010 Auch in den Sendern beobachten Redak­ Als attraktiver Nischenplatz gilt bei den teure, denen die Auslandsthemen am Herzen Korrespondenten das halbstündige „Europa- liegen, diese Entwicklung mit Sorge. „Es ist Magazin“ am Samstagnachmittag im Ersten, beunruhigend, wenn in der Auslandsbericht- das im Wechsel von WDR und SWR gestal- erstattung so stark gekürzt wird“, sagt zum tet wird. Auch in den Dritten Programmen Beispiel die WDR-Auslandschefin Tina Has- gibt es noch anspruchsvolle Auslandsmaga- sel, die selbst Korrespondentin in Paris und zine, wie die „Weltbilder“ im NDR, die aber Brüssel war. ❙7 Vielerorts arbeiteten Fernseh- Dienstags auch erst um 23:15 Uhr zu sehen kollegen mit Zeitungskollegen sehr eng zu- sind. Der MDR zeigt sein Auslandsmaga- sammen. „Das Signal ist in den Sendern an- zin „Windrose“ Sonntagnachmittags immer- gekommen.“ Aus Hassels Sicht benötigen hin um 16:05 Uhr. Neben den wenig attrakti- Auslandsthemen eine starke Lobby, damit ven Sendezeiten bemängeln Korrespondenten sie zukünftig nicht nur noch in den aktuel- auch den zunehmenden Druck der Regionali- len Nachrichtensendungen „Tagesschau“ und sierung in den Dritten Programmen. Vor al- „Tagesthemen“ ihren Platz fänden. „Das hiel- lem diejenigen, die nicht an Nachrichtenplät- te ich für gefährlich“, sagt Hassel und hebt zen arbeiten, wo aktuelle Ereignisse ständige die Bedeutung der Hintergrundformate auch Aufmerksamkeit garantieren, wünschen sich in den Dritten Programmen der ARD hervor. mehr attraktive Sendeplätze. „Wir haben als öffentlich-rechtlicher Rund- funk unglaubliche Möglichkeiten, die aber Dabei seien gerade die deutsche Außenpo- noch intensiver genutzt werden müssen.“ litik und die deutsche Wirtschaft inzwischen so stark international verflochten, dass die Aufgaben für die Auslandskorrespondenten Sendeplätze für Auslandsberichte eher gewachsen seien, stellt der Wien-Korre- Hintergrundberichte der Fernsehkorrespon­ spondent Thomas Morawski fest. „Eigentlich 10 denten aus dem Ausland zeigt das Erste vor müssen wir da überall reinschauen.“ ❙ Doch allem im „Weltspiegel“, der als älteste deutsche die Programmplaner machten sich viel zu we- Auslandssendung zu den Traditionsmarken nig Gedanken darüber, wie der Verfassungs- der ARD zählt. Bis heute schalten jeden Sonn- auftrag der ARD in dieser Zeit der Globalisie- tag um 19:20 Uhr mehr als drei Millionen Zu- rung aktualisiert werden müsse: „Da tut sich schauer den Fernseher für diese Sendung an, eine riesige Lücke auf.“ Morawski sieht sich so dass sie in der ARD als „unverwüstliches immer stärker fernsehspezifischen Vermark- Erfolgsformat“ gilt. ❙8 Der attraktive Sende- t u n g s m e c h a n i s m e n a u s g e s e t z t , b e i d e n e n k o m - platz sei nicht in Frage gestellt, bestätigt auch plizierte Entwicklungen wie auf dem Balkan Tina Hassel, die den „Weltspiegel“ im Wechsel oft auf der Strecke blieben. Fernsehbeiträge mit drei anderen Kollegen moderiert. ❙9 Sie ver- sollten aus Sicht der Redaktionen stark perso- weist auf Umfragen, die zeigten, dass die Zu- nalisiert werden und möglichst die Emotio- schauer anspruchsvolle Hintergrundberichte nen der Zuschauer berühren. „Aber was ma- wünschen: „Das Publikum hat seine Erwar- chen wir mit den vielen anderen Themen, die tungen, und unsere Zuschauer wollen gefor- sich diesen Vermarktungsmechanismen ent- dert werden, das sollten wir uns ruhig immer ziehen?“ Wer bei den Programmplanern mit wieder klar machen. (…) Seichte Kost im ‚Welt- dem Verfassungsauftrag des öffentlich-recht- spiegel‘ kommt nicht an.“ Doch abseits dieses lichen Fernsehens argumentiere, dringe damit etablierten Sendeplatzes gilt: Lange Reporta- nicht durch, ist Morawskis Erfahrung. Er be- gen oder Dokumentationen aus dem Ausland klagt auch, dass Kulturthemen aus dem Aus- werden in der ARD meist erst so spät gesen- land kaum noch auf Interesse stießen. „Aber det, dass sie kaum Zuschauer erreichen. bislang beklagt sich ja niemand aktiv bei den Sendern, dass sie solche Themen ausblenden.“ ❙7 Interview der Autorin mit Tina Hassel am Deshalb regiere heute vor allem die Quote. 31. 3. 2010 (folgende Zitate ebd.). ❙8 So nachzulesen auf der Homepage der Sendung: „Manche Kritik, dass früher alles besser www.daserste.de/weltspiegel/geschichte.asp (7. 4 . 2 010). war, ist mir oft zu wehleidig“, hält Tina Has- ❙9 Die Sendung wird im wöchentlichen Wechsel von sel solchen Äußerungen entgegen. In Tei- vier Sendeanstalten verantwortet (WDR, NDR, BR und SWR). Versuche, einen einzigen Moderator durchzusetzen, sind bislang an der Sender-Konkur- ❙10 Interview der Autorin mit Thomas Morawski am renz gescheitert. 25. 3. 2010 (folgende Zitate ebd).

APuZ 20/2010 25 len sei die Kritik vermutlich richtig, aber sie das verbreitete Desinteresse an Auslandsthe- sehe auch viele positive Entwicklungen in der men in den Redaktionen: „Tagelang sitze ich ARD. So habe sich das Erste 2009 auf dem im Büro, ohne dass eine Redaktion anruft“, Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskri- heißt es sogar an wichtigen Auslandsposten. se in einer Schwerpunktwoche diesem Thema Vor allem morgens, wenn die meisten Hörer gewidmet. Auch den Afrika-Schwerpunkt im ihr Radio einschalten, sei es immer schwerer, Vorfeld der Weltmeisterschaft in Südafrika überhaupt ins Programm zu gelangen. „Der 2010 hebt sie als Gegenbeispiel hervor. Deutschlandaspekt wird immer stärker be- tont“, beschreibt ein Auslandskorrespondent Doch trotz solcher Akzente zeigen sich die Anforderungen seiner Heimatredaktion. viele Kritiker skeptisch, ob die „Auslands- „Jedes Auslandsthema soll möglichst deut- lobby“ den Kampf gegen die Programmpla- sche Entwicklungen widerspiegeln.“ ner angesichts des Spar- und Quotendrucks gewinnen kann. Dabei spielt auch die Her- Die stellvertretende Chefredakteurin beim kunft der Programmplaner eine Rolle, die WDR-Hörfunk, Helga Schmidt, hält sol- aus den regionalen Strukturen der Länder- che Kritik für überzogen. Die frühere Brüs- anstalten stammen und nicht selten auch auf- sel-Korrespondentin hält dagegen, dass der grund einer bestimmten Parteizugehörigkeit technische Fortschritt viele neue Möglich- aufgestiegen sind. Sobald Programmverant- keiten ergeben habe: „Nach 20 Jahren Zeit- wortliche selbst über Erfahrungen im Aus- funk wage ich die steile These, dass wir heute landsjournalismus verfügen, sehen auch ihre mehr Auslandsberichterstattung haben und Prioritäten anders aus. So heißt es zum Bei- mehr Sendeplätze als vor 15 Jahren“. ❙12 Für spiel, dass die Auslandsmagazine beim NDR die Hörfunkjournalisten im Ausland ist diese unter anderem deshalb einen größeren Stel- Entwicklung mit mehr Unübersichtlichkeit lenwert genössen, weil Chefredakteur And- verbunden. Da sie ihre Angebote und später reas Cichowicz selbst im Ausland tätig war. die fertigen Beiträge in ein zentrales Netz- werk speisen, haben sie längst den Überblick Ganz anders beim SWR, wo Beobachter verloren, welchen ihrer Beiträge welcher der angesichts einer tiefgreifenden Reform des mehr als 60 ARD-Sender eigentlich wann ge- Fernsehprogramms eine stärkere „Boulevar- sendet hat. Der direkte Draht zur Heimatre- disierung“ und „Verseichtung“ befürchten. daktion geht immer mehr verloren. So soll unter Verweis auf die schwache Quote die Sendung „Auslandsreporter“ im Dritten Mit dem Nachrichtenportal „tagesschau.de“ Programm gestrichen werden. ❙11 In der SWR- verfügt die ARD seit 1999 über ein von den Pressestelle heißt es dazu, das Auslandsma- Fernsehsendungen weitgehend unabhängi­ gazin werde nur mit der Sendung „Länder – ges, ereignisorientiertes Onlineangebot. Kei­ne Menschen – Abenteuer“ zusammengelegt. andere seriöse Nachrichtenseite im deutsch- Überlegt wird offenbar auch, das unter Fe- sprachigen Raum räumt der fundierten Aus- derführung des SWR stehende Studio in landsberichterstattung so viel Platz ein; die Straßburg zu schließen, was in Stuttgart aber Hamburger Redaktion ist rund um die Uhr bislang bestritten wird. besetzt. Ermöglicht wird das Informations- angebot aber vor allem von den Hörfunkkor- respondenten, die ihre Manuskripte für die Auslandskorrespondenten Radiobeiträge an „tagesschau.de“ senden, wo für Hörfunk und Internet die Texte für das Internet aufbereitet werden. „Es gibt da niemanden mehr, der sagt, für ‚ta- Anders als beim Fernsehen mit seinem Ersten gesschau.de‘ arbeite ich nicht“, so der Redak- Programm, ist die ARD für den Radiohörer tionsleiter Jörg Sadrozinski. ❙13 als Marke schwerer erkennbar. Dabei sind für den ARD-Hörfunk weltweit 71 Auslands- Die Hörfunkjournalisten erleben dank die- korrespondenten tätig – und damit noch mehr ser neuen Plattform eine Renaissance. Wäh- als für das Fernsehen. Wer mit einigen von ihnen spricht, hört vor allem die Klage über ❙12 Interview der Autorin mit Helga Schmidt am 25. 3. 2010 (folgende Zitate ebd.). ❙11 Vgl. Ein Sender auf der Rüttelstrecke, in: Stuttgar- ❙13 Interview der Autorin mit Jörg Sadrozinski am ter Zeitung vom 18. 3. 2010, S. 3. 1. 4. 2010 (folgende Zitate ebd.).

26 APuZ 20/2010 rend sich ihre Radiobeiträge schon nach weni- in London, als Vorreiterin. Ihre bunten Ge- gen Minuten „versendet“ haben, erweisen sich schichten von der Fuchsjagd, dem Hofknick- die Texte auf „tagesschau.de“ als nachhaltiger kurs oder schwimmenden Schlössern verlei- Lesestoff. Nach den bisherigen Bestimmungen teten das „ARD-Morgenmagazin“ kürzlich darf das Onlineangebot ein Jahr lang im Netz dazu, die Videobloggerin mit rotem Lack- stehen bleiben. Gerade die Auslandsbericht- mantel und kleiner Plastik-Queen eine Wo- erstattung erreiche bei „tagesschau.de“ hohe che lang live in die Sendung zu nehmen. Auch Klickzahlen, so Sadrozinski. „Das Auslands- der Israel-Korrespondent Richard C. Schnei- korrespondentennetz der ARD ist das wirkli- der bedient mit „Zwischen Mittelmeer und che Pfund, mit dem wir wuchern können.“ Jordan“ ein Videoblog auf „tagesschau.de“, vom Nairobi-Korrespondent Peter Schrei- So lieferte beispielsweise die damalige ber erschien dort vor kurzem die erste Folge Nahost-Hörfunkkorrespondentin Bettina des Videoblogs „Afrika, Afrika!“. Entspre- Marx bei den palästinensischen Parlaments- chende Vorbereitungen gibt es auch bei den wahlen 2006 tagelang exklusive Reportagen Korrespondenten in Wien. Für die Journalis- aus dem Westjordanland, die auch online zu ten vor Ort bedeutet dieses neue Format zu- lesen waren und von Marx mit Fotos illust- sätzlichen Aufwand, der ebenfalls nicht extra riert wurden. Extra vergütet werden solche vergütet wird. Zusatzleistungen allerdings nicht. „Ich fin- de das Konzept gut“, befindet Marx dennoch. Es gibt aber auch Kritik am ARD-On- „Unser Ansehen ist gestiegen, seitdem wir lineangebot. Nach Ansicht des Medien- auch zu lesen sind, selbst bei Kollegen.“ Viele wissenschaftlers Oliver Hahn verfolgt Hörfunkkorrespondenten hätten auch nichts „tagesschau.de“ mit der Übernahme der Hör- dagegen, für „tagesschau.de“ eigene Beiträge funktexte einen falschen Ansatz: „Als das zu liefern und nicht nur Nebenprodukte. ❙14 Radio entstand, haben die Sprecher am An- fang aus der Zeitung vorgelesen. Jetzt werden Kritiker merken jedoch an, dass die sinn- fürs Hören geschriebene Texte einfach nur volle Weiterentwicklung dieses wichtigen ins Netz gestellt“, sagt er und vermisst die für Informationsangebots der ARD im Inter- Internetmedien typische Verlinkung ebenso net derzeit noch vom Besitzstanddenken der wie die Einbindung der Nutzer in Leserfo- einzelnen Anstalten behindert werde. Ein- ren. „Die hinken der Zeit mit ihrem Online- zelne Chefredakteure befürchteten offenbar, angebot völlig hinterher“, sagt Hahn unter dass „ihre“ Auslandskorrespondenten aus- Verweis auf die aufwändigeren Internetpor- gerechnet dann für das Onlineangebot tätig tale der BBC. „Auch der öffentlich-rechtliche sein könnten, wenn „ihr“ Landessender ge- Rundfunk sollte mit den neuesten Medien­ rade einen Radiobeitrag benötige. In einigen entwicklungen mitgehen können.“ ARD- Sendern sei zudem die Angst groß, der Platz- Mitarbeiter halten dieser Sicht entgegen, dass hirsch NDR könne durch eine weitere Stär- ein attraktives Angebot im Internet entstan- kung der in Hamburg ansässigen zentralen den sei ohne hohe zusätzliche Kosten zu ver- Nachrichtenredaktion für das Internet noch ursachen, zumal die Marke „tagesschau.de“ zusätzlich an Gewicht gewinnen. derzeit auch im Vergleich zum ZDF-Angebot „heute.de“ konkurrenzlos dastehe. Anders als die Hörfunktexte sind die Ma- nuskripte der Fernsehkorrespondenten nicht für „tagesschau.de“ nutzbar. Aber in Zukunft Tabuthema Kosten sollen Videoblogs eine stärkere Rolle spielen, so Redaktionsleiter Sadrozinski. Bislang sind Wie groß der Kostenanteil für die Auslands- es nur wenige Korrespondenten, die mit die- berichterstattung an den Gesamtkosten der sen journalistischen Formaten erste Experi- Programme der Landesrundfunkanstalten mente wagen. Mit ihrem Videoblog „London und ARD-Gemeinschaftsprogramme ist, ist Calling“ ❙15 gilt Annette Dittert, Studioleiterin offenbar ein Tabuthema. Keiner der zahl- reichen Interviewpartner mochte über Geld sprechen – als ließen sich die jährlichen Kos- ❙14 Interview der Autorin mit Bettina Marx am 1. 4 . 2 010 . ten für ein Auslandsstudio oder einen Korres- ❙15 Siehe www.tagesschau.de/ausland/londoncalling​ pondenten nicht beziffern. „Der Verteilungs- 192.html (7. 4. 2010). schlüssel ist so kompliziert wie bei der EU“,

APuZ 20/2010 27 antwortet die stellvertretende WDR-Chef- Michael Meyen redakteurin Schmidt auf eine entsprechen- de Frage. „Bei den Zahlen lässt sich niemand reingucken“, betont auch MDR-Chefredak- teur Kenntemich. In jedem Sender würden Die ARD die Kosten unterschiedlich berechnet, des- halb sei auch die Vergleichbarkeit schwierig. in der DDR Ob die Mittel effizient eingesetzt wer- den, ist fraglich: Anekdoten über gepanzerte er diese Überschrift liest, erwartet eine Fahrzeuge, die aus bürokratischen Rücksich- WErfolgsgeschichte. „Abends kommt ten von der ARD nicht gekauft werden kön- der Klassenfeind“, hat das Nachrichtenma- nen, sondern für 3000 Euro im Monat jahre- gazin „Der Spiegel“ lang geleast werden müssen, lassen erahnen, 1977 eine Serie über Michael Meyen dass hier große Summen im Spiel sind, über den Alltag des ARD- Dr. phil., geb. 1967; Professor die offenbar einvernehmliches Stillschweigen Korrespondenten Lo- an der Ludwig-Maximilians-Uni- herrscht. Bislang deckt die Gebührenerhe- thar Loewe genannt versität München, Institut für bung im Rahmen des staatlichen Grundver- und damit eine Inter- Kommunikationswissenschaft sorgungsauftrags die Kosten der Auslandsbe- pretationslinie vorge- und Medienforschung, Schel- richterstattung, aber in allen Sendern werden geben, die sich bis in lingstraße 3, 80799 München. die Budgets knapper, und vor dem Hinter- die Gegenwart zieht. ❙1 [email protected] grund latenter Konflikte zwischen „Qualität „Die Einheit, sie hat und Quantität“ wird effizientes Kostenma- sich zuerst auf dem Bildschirm vollzogen“, nagement immer wichtiger. sagte der ehemalige ARD-Vorsitzende Fritz Pleitgen 50 Jahre nach dem Fernsehneustart „Die Frage ist, wie lange sich die ARD uns in beiden deutschen Staaten. Die ARD habe noch leisten kann“, bangen viele Auslands- ihre Berichte „fast in jeden Winkel der DDR“ korrespondenten angesichts sinkender Rund- gestrahlt, so dafür gesorgt, dass „die ganze funkbeiträge mit Blick in die Zukunft. Bisher Republik Abend für Abend“ in den Westen sind Korrespondenten bei der ARD fest an- übergelaufen sei, und damit „die Autorität des gestellt und werden dank der Auslandszula- Ost-Berliner Regimes“ ausgehöhlt. Zur Feier gen überdurchschnittlich gut bezahlt. Auch des Tages erlaubte sich Pleitgen sogar ein „Ge- ein Heer freier Journalisten lebt davon, Fern- dankenspiel“: Wer weiß, wie schnell die Ein- seh- und Radiobeiträge aus dem Ausland an heit gekommen wäre, wenn schon „die Hel- die ARD-Anstalten für Honorare verkaufen den des 17. Juni“ von TV-Bildern aus dem zu können, die sich bei Printmedien und im Westen unterstützt worden wären? Dass die Onlinebereich nicht erzielen lassen. „Lampen des Westfernsehens“ den Bürgern im November 1989 den Weg in die Leipziger „Ich plädiere dafür, diesen Schatz zu wah- Stasi-Zentrale zeigten, habe ja am Ende selbst ren“, betont Wolfgang Kenntemich in Bezug die „dunkelsten Ahnungen“ von Stasi-Chef auf das ARD-Korrespondentennetz. Er setzt Erich Mielke bestätigt. ❙2 für die Zukunft auf größere Synergieeffekte in der Zusammenarbeit von Hörfunk- und In diesem Beitrag wird die These vertreten, Fernsehkorrespondenten im Ausland. Durch dass solche Sonntagsreden die Wirkung der den technischen Fortschritt ließen sich schon ARD in der DDR überschätzen – weil das jetzt erhebliche Kosten sparen. Ob die Ent- Bild der vereinten Fernsehnation westdeut- wicklung bei den Printmedien im öffentlich- schen Journalisten schmeichelt und ihren rechtlichen Rundfunk als Warnung verstan- deutschlandpolitischen Auftrag legitimiert, den wird, oder im Gegenteil auch bei der weil gar nicht vorstellbar scheint, dass DDR- ARD zukünftig eine Kürzung der Auslands- Bürger nicht an Informationen aus der „freien berichterstattung befördert, wird sich in den Welt“ interessiert gewesen sein könnten, und kommenden Jahren erweisen. weil übersehen wird, dass die meisten Men- schen auf dem Bildschirm nicht nach Politik suchen. Das Fernsehen der DDR hat im De- zember 1982 die „alternative Programmge- staltung“ eingeführt und fortan um 20 Uhr,

28 APuZ 20/2010 zur Hauptsehzeit, in beiden Programmen Tabelle: Sehbeteiligungen im DDR-TV das gesendet, was die große Mehrheit der 1976 1979 1982 1985 1988 Zuschauer überall auf der Welt in erster Li- 19 Uhr 21,1 22,5 22,8 21,7 22,6 nie sehen will: Spielfilme, Serien und große Shows, Quiz, Talk und Humor. Die Publizis- 20 Uhr 37,4 32,4 32,9 37,0 36,7 tik wurde auf spätere Sendeplätze verbannt. ❙3 Alle Angaben in Prozent, beide Programme addiert. Dieser Verzicht hatte Folgen: Nachdem die 1988 erreichten die beiden DDR-Fernsehprogramme Sehbeteiligung Ende der 1970er Jahre auf ei- um 20 Uhr im Jahresdurchschnitt 36,7 Prozent der nem Tiefpunkt angekommen war, erreichten Menschen, die ein Fernsehgerät im Haushalt hatten. Der Begriff Sehbeteiligung unterscheidet sich damit die DDR-Programme zumindest bis Ende von den Einschaltquoten, die heute gemessen wer- 1988 im Jahresdurchschnitt stets mehr ost- den. Da der Sehbeteiligungsgipfel an normalen Tagen deutsche Zuschauer als die Sendungen aus zwischen 50 und 60 Prozent liegt, dürften die West- dem Westen (Tabelle). ❙4 programme im Durchschnitt auf 20 bis 25 Prozent Sehbeteiligung gekommen sein. Um diesen Befund erklären zu können, Quelle: DDR-Zuschauerforschung; Deutsches Rund- funkarchiv, H 081-03-02, Nr. 53–58, 71–75; H 008- gehe ich zunächst den Fragen nach den Emp- 02-04, Nr. 59–63; Programmredaktion, Analysen fangsbedingungen und der Glaubwürdigkeit 1984 bis 1991. der ARD in der DDR nach. Anschließend wird eine Mediennutzer-Typologie präsen- tiert, welche die Idee von der allabendli- ein ARD-Publikum, das Lothar Loewe und chen „kollektiven Ausreise“ differenziert Fritz Pleitgen offenbar vergessen haben: und zeigt, in welchen Milieus der Klassen- auf die SED-Führung. Öffentlich-rechtli- feind tatsächlich jeden Abend zu Hause war che TV-Programme aus der Bundesrepublik und wo die Türen verschlossen blieben. Bei- haben die DDR-Spitze nicht nur gezwun- de Abschnitte stützen sich neben den Über- gen, das Hauptabendprogramm weitgehend lieferungen der DDR-Zuschauerforschung von Ideologie zu befreien, sondern auch die auf eine Studie, bei der zwischen 2000 und Informationspolitik diktiert. Genau wie 2002 etwas mehr als hundert DDR-Bürger ­Loewe und Pleitgen gingen die Genossen ausführlich zu ihren Medienbiografien in- um Erich Honecker davon aus, dass die ei- terviewt wurden. Die Befragten sind dabei genen Bürgerinnen und Bürger im Zweifel nach dem Prinzip der „theoretischen Sätti- eher dem Gegner glauben, und haben die gung“ ausgewählt worden – ein Verfahren, Sendungen aus dem Westen deshalb gebannt das den Anspruch hat, alle Nutzungsmus- verfolgt. ter zu erfassen, allerdings keine Aussagen über zahlenmäßige Verteilungen erlaubt. ❙5 Im letzten Teil schließlich schaue ich mit Westempfang in der DDR Hilfe von Akten aus dem Bundesarchiv auf Die ARD konnte nicht alle DDR-Bürger er- reichen. Der Deutsche Fernsehfunk stellte 1 ❙ Vgl. Lothar Loewe, Abends kommt der Klassen- bei seinen ersten repräsentativen Umfragen feind. Fünf Teile, in: Der Spiegel, Nr. 33–37 1977; Mitte der 1960er Jahre fest, dass 85 Prozent Kurt R. Hesse, Westmedien in der DDR, Köln 1988; Gunter Holzweißig, Zensur ohne Zensor, Bonn 1997, der Zuschauer Westsendungen sehen konn- S. 168 f.; Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. ten, und bestätigte damit Empfangsmessun- Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Bonn gen der Deutschen Post. ❙6 1977 lag der ent- 1998, S. 71; Konrad Dussel, Deutsche Rundfunkge- sprechende Wert bei 90 Prozent. Allerdings schichte, Konstanz 1999, S. 177 f. hatten viele Haushalte nur ein Westpro- ❙2 Fritz Pleitgen, Impressionen zur deutsch-deut- gramm, und die Bildqualität war nicht über- schen Fernsehgeschichte, in: Deutsches Rundfunk- archiv (Hrsg.), In geteilter Sicht. Dokumentation ei- all so gut wie im Grenzgebiet oder rund um nes Symposiums, Potsdam 2004, S. 17–24. Berlin und hing teilweise vom Wetter ab. In ❙3 Vgl. Rüdiger Steinmetz/Reinhold Viehoff (Hrsg.), Leipzig oder Halle an der Saale beispielswei- Deutsches Fernsehen Ost, Berlin 2008. se hatten viele Haushalte keinen Zugang zum 4 ❙ Vgl. Michael Meyen, Kollektive Ausreise? Zur ZDF. Eine Chemnitzer Lehrerin, Jahrgang Reichweite ost- und westdeutscher Fernsehprogram- 1938, konnte sich in einem der biografischen me in der DDR, in: Publizistik, 47 (2002) 2, S. 200– 220. ❙5 Vgl. ders., Denver Clan und Neues Deutschland. ❙6 Vgl. ders., Hauptsache Unterhaltung, Münster Mediennutzung in der DDR, Berlin 2003, S. 15–35. 2001, S. 218.

APuZ 20/2010 29 Interviews nicht erinnern, je „im Westen ei- Eisenbahn spreche man ohne Scheu über das nen ganzen Film angesehen zu haben“. Bei Programm, das zum Teil auch schriftlich ver- dem schlechten Bild habe das viel zu sehr an- breitet werde. ❙7 Obwohl Erich Honecker die gestrengt. Fast gar nicht zu empfangen waren Bürger dann auf einer ZK-Tagung im Mai die Westprogramme in weiten Teilen der Be- 1973 ausdrücklich zum genaueren Hinschau- zirke Dresden und Neubrandenburg sowie en ermunterte, gab es auch in den 1980er Jah- im Ostteil des Bezirks Rostock. ren Genossen, die Westmedien strikt ablehn- ten, Lehrer, die einen solchen Standpunkt In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ver- vor der Klasse vertraten, und Offiziere, die in besserte sich der Zugang zu Westprogram- den NVA-Kasernen Radiogeräte einzogen, men allerdings deutlich. Die Ausstrahlung wenn sie Soldaten beim Hören eines ARD- über Satellit öffnete das Tor zu Anten- Programms ertappten. nen- und Kabelgemeinschaften, und selbst in einigen Dresdner Neubauvierteln gab es 1988/89 Westfernsehen. Ein Betriebsleiter Glaubwürdigkeit der Westmedien aus dem Erzgebirge, Jahrgang 1949, der vor- her auf seine Eigenbau-Antenne stolz war, An dieser Stelle soll gar nicht bestritten wer- auch wenn sie mehr „Gries“ lieferte als Fern- den, dass die offene Rundfunkgrenze das sehen, hat von einer „Massenaktion“ ge- Denken der Ostdeutschen geprägt hat, dass sprochen, bei der „blitzschnell“ Empfangs- die Westprogramme in der DDR zum All- anlagen gebaut worden seien. „Da wurden tag gehörten und im Spätsommer und Früh- Gräben geschachtet und da wurden Leitun- herbst 1989 auch mediale Öffentlichkeit gen gezogen, da wurden Hausanschlüsse ge- hergestellt haben – mit Berichten über De- legt und Masten gesetzt und Geld investiert, monstrationen und Fluchtmöglichkeiten um schnell internationales Fernsehen zu be- und indem sie diejenigen zu Wort kommen kommen.“ ließen, die sich zur Opposition formierten. Vorher aber, in den „normalen Zeiten“, wa- 30 Jahre vorher wäre an eine solche „Mas- ren die Sendungen von ARD und ZDF für senaktion“ nicht zu denken gewesen. 1959 die allermeisten DDR-Bürger kein vollwer- forderte eine Leserin im SED-Zentralorgan tiger Ersatz. Die Ratgebersendungen ließen „Neues Deutschland“, man solle sich nicht sich für das Leben im Osten nicht anwen- weiter um die Westseher kümmern. „Diese den, und Nachrichten und Politik-Magazine Menschen werden den Regen im Westen im- konnten nur sehr bedingt bei der Orientie- mer nasser, die Sonne immer wärmer und rung im Alltag helfen. den Schnee immer weißer finden als bei uns.“ Dass man sich dann nach dem Mauerbau Eine Arbeiterin aus Leipzig, Jahrgang 1961 doch einige Monate sehr intensiv um 1938, die die DDR-Medien als „grausam“ be- die Westseher kümmerte, hat das DDR-Bild schrieb und heute den MDR meidet, weil sie in der Bundesrepublik geprägt. Mitte der sich dort in alte Zeiten zurückversetzt füh- 1960er Jahre glaubten fast zwei Drittel der le, meinte, der Westen habe über den Osten Westdeutschen, dass der Empfang westlicher nichts gewusst, und in den Nachrichten sei Programme in der DDR verboten sei und be- es manchmal so gewesen, „als wenn wir für straft werde. Die „Aktion Ochsenkopf“, bei die gar nicht da sind“. Sie habe die „Aktuel- der FDJ-Trupps TV-Antennen von den Dä- le Kamera“, die Hauptnachrichtensendung chern holten, blieb aber eine Episode, weil im DDR-Fernsehen, gesehen, weil sie in einer das Westfernsehen rund um Berlin und an ganz anderen Welt zurechtkommen muss- der Grenze per Zimmerantenne zu empfan- te. Natürlich ist diese Frau eine Ausnahme. gen war, weil die Demontierer das Bastelta- Im Regelfall diente die „Tagesschau“ dazu, lent der DDR-Bürger unterschätzten und die Berichterstattung der eigenen Medien zu weil die Übergriffe die Stimmung im Land überprüfen oder Lücken festzustellen, und verschlechterten. 1966 stellte die Abteilung manche Zuschauer haben sich ausschließlich Agitation des SED-Zentralkomitees fest, in den Westmedien orientiert. Ein Leipziger dass viele Leute die Westantennen abends Schriftsteller, Jahrgang 1953, hat die 20-Uhr- auf dem Balkon anbringen und nach Sende- Nachrichten im Ersten als „absolutes Muss“ schluss wieder abmontieren würden. Am Ar- beitsplatz, am Biertisch und besonders in der ❙7 Vgl. ebd., S. 217 ff.

30 APuZ 20/2010 beschrieben, als einen Fixpunkt im Tagesab- Eine Leipziger Kindergärtnerin, Jahrgang lauf, als erstrangige Informationsquelle und 1944, hat hier differenziert zwischen Bay- „als Ersatz auch für Tageszeitungen“. Er habe erischem Rundfunk und Deutschlandfunk nicht erwartet, dass dort die Realität in der auf der einen Seite („zu hetzig“) und dem DDR widergespiegelt werde. „Wir wussten NDR auf der anderen, wegen der „seriösen ja, wie sie ist, oder meinten es zu wissen.“ Er- Berichterstattung“ und der „Art der Nord- wartet habe er vielmehr „eine andere Sicht“, deutschen“. Auch „Panorama“ und „Report“ „einen anderen Blickwinkel“. hätten ihr gefallen, weil man dort gesehen habe, dass auch im Westen „nicht alles Son- In vielen Interviews ist bezweifelt worden, nenschein“ sei. dass man überhaupt objektive Informationen bekommen könne. Eine Angestellte aus Wei- Dieses letzte Beispiel zeigt, welche Bedeu- mar, Jahrgang 1951, sagte, die Medien seien tung die Westprogramme allen Zweifeln zum überall auf der Welt „gefärbt“. Es gebe in „je- Trotz hatten: Es gab einen Gegenpol, und al- dem Land“ eine Zensur, „aus welchen Grün- lein das hat die Menschen zum Nachdenken den auch immer“ und wenn es der Sex sei. gebracht. Kann man einer Sache bedingungs- Auch wenn heute „manchmal der Ton aus- los glauben, wenn einem der Zweifel ständig fällt“ bei der ARD, habe das sicher „seine vor Augen geführt wird? Wo der Empfang Hintergründe“. Die allermeisten Befragten schlecht war, hat dies extreme Reaktionen gaben an, „die Wahrheit in der Mitte“ gesucht auf die DDR-Medienpolitik begünstigt. In zu haben: beide Seiten hören, mit Bekannten Dresden wurden mehr Ausreiseanträge ge- sprechen und sich dann selbst eine Meinung stellt als in den anderen Bezirken der Repu- bilden. blik. Dass die Menschen hier unzufriede- ner waren, lag allein schon deshalb auch am Für die Zweifel an der ARD-Berichter- Westfernsehen, weil ein Stück Lebensquali- stattung gibt es mehrere Gründe. Wenn die tät fehlte. Ein Pfarrer aus dem Raum Görlitz, Medien im eigenen Land einseitig und von Jahrgang 1938, sagte, es sei schwer gewesen, Interessen geleitet sind, kann man dann an- freie Stellen mit Bewerbern aus Berlin-Bran- nehmen, dass dies anderswo nicht so ist, erst denburg zu besetzen, und als er einmal im recht in Zeiten des Kalten Kriegs? Was die Vogtland Urlaub gemacht und erzählt habe, ARD-Korrespondenten in ihre Heimat fun- woher er komme, hätten ihn die Menschen ken konnten, war außerdem selbst bei bes- ganz entsetzt gefragt, wie er denn ohne tem Willen nur ein kleiner Ausschnitt und Westfernsehen leben könne. Und ein Leip- oft ein ganz bestimmter. Eine Dolmetsche- ziger Briefträger, Jahrgang 1962, meinte, er rin, Jahrgang 1952, hat von „Propaganda habe die Einseitigkeit der einheimischen Ka- über den Osten“ gesprochen. „DDR-Befind- näle gar nicht so wahrgenommen und sich lichkeiten haben sie nicht recherchiert“ – auch nicht schlecht informiert gefühlt, weil hätten sie auch gar nicht können, „weil sie die Gegenseite ja ständig zur Verfügung ge- ja gar nicht wussten, wie das war“. Eine standen habe. Buchhalterin, Jahrgang 1954, sagte, je klei- ner der Osten über bestimmte Schwierigkei- ten berichtet habe, desto größer sei dies im Mediennutzertypologie Westfernsehen gebracht worden. „Die haben es aufgebauscht, und unsere haben es weg­ Eine Typologie soll Ordnung in eine unüber- gelassen.“ schaubare Vielfalt bringen und schlaglicht- artig Unterschiede zwischen den einzelnen Nicht wenige DDR-Bürger fühlten sich Elementen erhellen. Ein Typus steht dabei von den Berichten aus dem Westen in ih- für eine Gruppe von Menschen, die bestimm- rem Stolz getroffen. „Der Westen hat uns te Merkmale gemeinsam haben – hier erstens primitiver hingestellt, als wir wirklich wa- die generelle Erwartung an Medien (informa- ren“, sagte eine Dresdnerin, Jahrgang 1930, tions- und bildungsorientiert versus unter- die in einer Großküche gearbeitet hat. „Die haltungsorientiert) sowie zweitens die West- drüben“ hätten es mit allem leichter gehabt. orientierung. Mit diesen beiden Kriterien „Du brauchst Dir bloß mal vorzustellen, die lassen sich in der späten DDR sechs Formen kriegen alles abgepackt, vorgekocht und al- des Umgangs mit den Angeboten der Mas- les. Und wir mussten uns selber kümmern.“ senmedien unterscheiden (Abbildung). Die

APuZ 20/2010 31 Abbildung: Mediennutzer-Typen in der späten DDR rung als „wichtig“ propagiert wurden (Ar- mee, Volksbildung, Journalismus, Partei­

Die Distanzierten apparat). Die Engagierten haben in der DDR Kar- Die Frustrierten riere gemacht (in der Wirtschaft und in Bil- dungseinrichtungen, aber auch in Staat und Partei). Position und intellektuelle Fähigkei- Die Souveränen Die Zufriedenen ten erklären die beiden Unterschiede zu den

Westorientierung Überzeugten. Die Engagierten hatten eine Die Engagierten kritische Einstellung zur DDR, an die sie Die Überzeugten dennoch durch ihren sozialen Aufstieg ge- bunden waren, und ein weit größeres Infor- Unterhaltungsorientierung mationsbedürfnis, das auch von der ARD be- dient wurde. Obwohl dieser Typ etwas mehr Quelle: Eigene Darstellung. Ostfernsehen einschaltete und außerdem an- nahm, dass politische Sendungen auf beiden Seiten gefärbt sind, ärgerten sich die Enga- Einschränkung „späte DDR“ ist notwendig, gierten über die Medien im eigenen Land, da sich die biografischen Interviews auf die über „politische Engstirnigkeit“, über feh- zweite Hälfte der 1980er Jahre konzentriert lende Informationen und über „Jubeln bis haben. zum Abwinken“ (Kindergärtnerin, Jahrgang 1944). Die Zufriedenen. Diesem Typ wurde je- der dritte Befragte zugeordnet – vor allem Die Frustrierten haben in der DDR nicht Frauen ohne Parteibuch, geboren zwischen gelitten, lehnten aber die „Phrasendresche- 1930 und 1960; Frauen, die neben ihrer Ar- rei“ in den Medien ab und fanden im Ex- beit in der Produktion oder im Büro Kinder tremfall selbst die Fußballreporter „pein- und Haushalt versorgen mussten und deshalb lich“ (Briefträger, Jahrgang 1962). Wie die wenig Zeit für Mediennutzung hatten. Der Engagierten haben sie sich für Politik inte- Fernsehapparat bot ihnen die Möglichkeit, ressiert, dieses Bedürfnis aber vor allem in in eine andere Welt abzutauchen. Nachrich- westlichen Funkmedien befriedigt. Diesem tensendungen aus Ost und West ließen sich Typ wurden nur Männer zugeordnet (aus der zwar oft nicht vermeiden, waren für sie aber technischen Intelligenz und aus Angestell- nicht wirklich wichtig. Über Medienpolitik tenberufen) – Männer, die nicht in der SED haben die Zufriedenen nicht weiter nachge- waren, keine Aufstiegserfahrung hatten und dacht, vielleicht weil die Meldungen mit den damit auch keine Bindung an die DDR. Ei- täglichen Notwendigkeiten nur wenig zu tun nige kamen aus einem kirchlichen oder an- hatten, vielleicht weil die Zeit, die Kraft und tikommunistischen Umfeld, andere durften manchmal auch die Fähigkeiten fehlten, al- nicht studieren und fühlten sich bei der Be- les verstehen zu können, was auf der großen zahlung benachteiligt oder durch den allge- Bühne läuft. Heute sagen die Zufriedenen, meinen Mangel. dass die DDR ihre Heimat gewesen sei und dass sie damals auch den Nachrichten aus der Die Distanzierten haben das System zwar Bundesrepublik nicht geglaubt hätten. ebenfalls abgelehnt, diesem Typ ist es aber besser gelungen, eine Nische zu finden und so Auch die Überzeugten waren durch den ein einigermaßen erfülltes Leben zu führen. Alltag voll ausgelastet, haben Medien wenig Fast alle Distanzierten hatten Kontakt zur genutzt und Unterhaltung bevorzugt. Sie ha- Kirche, oft sogar beruflich. Nischen konn- ben sich aber eher in den DDR-Programmen ten auch Künstlermilieus bieten, die Familie orientiert, hier auch die Wahrheit vermutet oder kleine Firmen, in denen man ohne po- und das Westfernsehen entweder ganz abge- litische Bekenntnisse über die Runden kam. lehnt oder wenigstens ihre Kinder daran ge- Die Distanzierten nutzten ein ähnliches (un- hindert, umzuschalten. Dieser Typ ist vor al- terhaltungsbetontes) Medienmenü wie die lem in gehobenen Positionen zu finden – in Zufriedenen. Der Unterschied: eine dezidier- Bereichen, die von der Partei- und Staatsfüh- te (ablehnende) Einstellung zur DDR-Me-

32 APuZ 20/2010 dienpolitik. Wer von den Distanzierten die Deutschlands und den persönlichen (auch in- Möglichkeit hatte, sah die „Tagesschau“ und tellektuellen) Voraussetzungen die Erfahrun- glaubte den Westmedien. gen entscheidend, die man mit dem System gemacht hat. Die Souveränen haben den DDR-Medien zwar genauso wenig getraut, das hat sie aber nicht daran gehindert, dort intensiv nach In- Zuschauer in der ersten Reihe formationen „aus erster Hand“ zu suchen, nach der „Sicht der Macht“ (Pfarrer, Jahrgang Die SED-Führung hat die Kritikfähigkeit 1938). Dieser Typ hat die DDR abgelehnt und der DDR-Bürger unter- und die Wirkung konnte deshalb nicht aufsteigen. Er wurde der ARD damit überschätzt. Diese The- entweder von der Kirche bezahlt, war Künst- se zielt nicht nur auf die „Aktion Ochsen- ler oder sonst relativ frei (wie ein Museumsar- kopf“, auf den moralischen Druck in Sachen beiter, Jahrgang 1950). Da es für die Souverä- Westfernsehen oder auf den (inzwischen gut nen ein Wert an sich war, informiert zu sein, dokumentierten) Umgang mit den ARD- haben sie sich über Unterhaltungssendungen Korrespondenten, die auch von der Staats- eher abwertend geäußert, auch über die An- sicherheit beobachtet wurden, ❙8 sondern auf gebote aus der Bundesrepublik. die Informationspolitik insgesamt. Die Me- dienlenkung in der DDR ist am besten als Die Typologie zeigt, dass die ARD in der politische PR zu verstehen. Der Kommu- DDR auf ganz unterschiedliche Erwartun- nikationswissenschaftler Klaus Merten hat gen getroffen ist. Wer abhängig beschäftigt Public Relations als „Differenzmanagement war, in der Berufshierarchie eine der unte- zwischen Fakt und Fiktion“ definiert und ren Positionen einnahm und durch die vielen PR-Fachleute als „professionelle Konstruk- Anforderungen des Alltags ausgelastet war, teure fiktionaler Wirklichkeiten“ beschrie- hat die Medien vor allem als Mittel zur Ab- ben, die danach streben, „Sachverhalte stets lenkung und Entspannung genutzt und sich in positiver Tönung“ darzustellen – letztlich in der Regel wenig Gedanken über die poli- mit dem Ziel, „die Wahrnehmung der Öf- tischen Inhalte gemacht. Viele Frauen hatten fentlichkeit in ihrem Sinne zu manipulie- nicht einmal für die Nachrichtensendungen ren“. ❙9 Was in die DDR-Medien kam, sollte Zeit und folglich erst recht nicht für Maga- die Interessen der Herrschenden unterstüt- zine wie „Report“ oder „Panorama“. Gene- zen – in der Auseinandersetzung mit dem rell wurde nicht unbedingt umgeschaltet, Westen und im Kampf um die Köpfe der ei- um Informationen zu suchen. Entsprechen- genen Bürger. de Sendungen wurden mitgenommen, in ers- ter Linie aber ging es um Unterhaltung und Die konkreten Anweisungen der Medien- ­Entspannung. lenker sind deshalb nur zu verstehen, wenn man die jeweilige politische Situation berück- Anders als oft angenommen, ist die ARD sichtigt und weiß, dass sich die Parteispitze außerdem keineswegs mit einem Glaubwür- manchmal im Wortsinn vor dem Bildschirm digkeitsbonus in die deutsche Einheit gestar- versammelte und anschließend Meldungen tet. In der DDR hat, darauf deuten zumindest und Kommentare schrieb. Hans Modrow, die Rekonstruktionen aus der Erinnerung von 1971 bis 1973 Leiter der Abteilung Agi- hin, nur eine Minderheit ohne Einschrän- tation des ZK der SED, sagte in einem Inter- kungen den Nachrichtensendungen aus der view, das Fernsehen sei für Erich Honecker Bundesrepublik vertraut, vor allem die Frus- „am allerwichtigsten“ gewesen. Agitations- trierten, die Souveränen und die Distanzier- ten. Selbst diese drei Mediennutzertypen, ❙8 Vgl. Jochen Staadt/Tobias Voigt/Stefan Wolle, die die SED-Medienpolitik ablehnten und Operation Fernsehen. Die Stasi und die Medien in sich vor allem am Westen orientierten, haben Ost und West, Göttingen 2008; Rolf Geserick/Ar- auch hinter den Informationen von der ande- nulf Kutsch, Möglichkeiten und Behinderungen des ren Seite bestimmte Interessen vermutet und Informationszugangs für westdeutsche Korrespon- folglich mit Vorsicht und Skepsis reagiert. denten in der DDR seit 1972, in: Publizistik, 29 (1984) 4, S. 455–491. Für die Stärke der Westorientierung waren ❙9 Klaus Merten, Zur Definition von Public Rela- neben dem Meinungsklima im privaten Um- tions, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, feld, neben der Bindung an den anderen Teil 56 (2008) 1, S. 42–59.

APuZ 20/2010 33 sekretär Werner Lamberz habe jeden Abend ständlich den Empfang entsprechender Sen- vor einem Gerät gesessen, auf dem alle vier dungen westlicher Medien“ voraussetze und Programme aus Ost und West simultan lie- dass „die Bevölkerung unseres Landes“ in fen. ❙10 Auf einer Konferenz zur „politischen manchen Fällen verspätet oder gar nicht in- Massenarbeit der Partei“ im Mai 1977, bei der formiert werde. ❙12 Ralf Bachmann, der von das Fernsehen als „wichtigster gegnerischer 1981 bis 1986 für ADN in Bonn war, bekam Ideologieträger“ bezeichnet wurde, klag- auf die gleiche Kritik von seinen Vorgesetz- te eine Arbeitsgruppe über das „uneffektive ten „zwei Antworten“. Man wolle „Unruhe Nebeneinanderarbeiten“ der Stellen, die die und Unsicherheit“ vermeiden, und außerdem „feindlichen elektronischen Medien“ analy- genüge es ja, „wenn das vom Westfernsehen sieren (unter anderem die Nachrichtenagen- gebracht wird, damit erfahren es doch alle“. tur ADN, das Außenministerium und das Sein Bericht über eine der großen Friedens- Institut für Internationale Politik und Wirt- demonstration im Bonner Hofgarten (1983) schaft). Bei der Hauptabteilung Monitor des sei in Ost-Berlin auf Skepsis gestoßen. Ho- Staatlichen Komitees für Rundfunk erlaube necker habe die Direktübertragung im West- die „Kadersituation“ weder, die „Feindtätig- fernsehen verfolgt, nachgezählt und gezwei- keit“ zu differenzieren, noch die Unterhal- felt, dass man eine halbe Million Teilnehmer tungssendungen einzubeziehen. ❙11 melden könne. „Bei dieser Vorsicht blieb es. Von unserer Berichterstattung wurde nichts Die Mitschriften dieser Abteilung Monitor übernommen, was man nicht selbst am Bild- stapeln sich heute im Archiv – oft versehen schirm gesehen hatte.“ ❙13 mit Anmerkungen von Joachim Herrmann, der 1978 Nachfolger von Lamberz wurde. Auf diese Weise kam der Klassenfeind am Herrmann bearbeitete die Papiere mit Rot- Ende selbst zu den DDR-Bürgern, die ARD- stift und Kommentaren, lief damit oft genug Sendungen aus Überzeugung mieden oder zu Honecker und schlug vor, wie man reagie- im Westfernsehen eher auf Unterhaltung ren könne. Nicht wenige Texte wurden dabei aus waren. Da man die Ziele und Mechanis- vom Parteichef selbst in Auftrag gegeben und men der Medienlenkung kannte, konnte je- redigiert. Die SED-Spitze hielt die ARD für der politisch Interessierte auch aus der SED- so wichtig, dass sie in der innenpolitischen Presse oder der „Aktuellen Kamera“ auf die Berichterstattung alles zu unterdrücken ver- Haltung der Gegenseite schließen, auf au- suchte, was der Gegner für seine Interessen ßen- und innenpolitische Konfliktherde so- nutzen könnte, und Redaktionen vor allem wie auf wirtschaftliche Probleme – erst recht, dann kritisierte, wenn ein Beitrag trotzdem wenn er intensiv die Berichterstattung aus im Westen aufgegriffen wurde. Die DDR- der Bundesrepublik verfolgte. Für den Leip- Bürger konnten manche Meldungen nur ver- ziger Schriftsteller war nicht nur die „Tages- stehen, wenn sie sich auch im Westen infor- schau“ ein „absolutes Muss“, sondern auch miert hatten. das „Neue Deutschland“ („Ich habe be- stimmt jeden Tag eine Stunde gelesen“). Da In einem Leserbrief, den Herrmann im Juli die Zeitung etwa zur gleichen Zeit Redakti- 1988 aus Jena bekam, wurden gleich zwei onsschluss hatte, habe er „schon am nächsten Beispiele genannt: die Pressekampagne ge- Vormittag sehen“ können, wie die SED mit gen den sowjetischen Film „Die Reue“ (von den Meldungen aus dem Westen „umgegan- Tengis Abuladse, 1984), der mit dem Stalinis- gen“ ist. Die DDR-Bürger fanden so selbst in mus abrechnete (Erstaufführung im ZDF), der politisch inszenierten Öffentlichkeit ge- und das Verschweigen des Skinheadüber- nügend Indizien für die Agonie des Systems – falls auf die Berliner Zionskirche am 17. Ok- auch dank der ARD. tober 1987. Der Schreiber beklagte, „dass eine Reihe von Nachrichten wie selbstver-

❙12 Brief an Herrmann vom 3. 7. 1988 (Büro Joa- ❙10 Gespräch mit dem Autor und Anke Fiedler am chim Herrmann), in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 8. Dezember 2009 in Berlin. 2/2.037/36, Bl. 106 ff., hier 107. ❙11 Konferenz „Die weiteren Aufgaben der politi- ❙13 Ralf Bachmann, Ich bin der Herr. Und wer bist schen Massenarbeit“, 25. bis 26. 5. 1977 (Abteilung du?, Berlin 1995, S. 249 f. Agitation), in: SAPMO-BArch, DY 30/vorl. SED 33906, nicht paginiert.

34 APuZ 20/2010 Hans-Jürgen Krug Sendung, man nannte das später „Kästchen- radio“; abrupte Wechsel zwischen Politik, Kultur oder Musik waren selbstverständlich. Von der Vielstimmig- Der Besitz eines Hörfunkapparates kostete zwei DM Gebühren im Monat – und da die keit zur Marke: Hörerzahlen auch nach dem Zweiten Welt- krieg rapide stiegen, konnten die gebührenfi- nanzierten öffentlich-rechtlichen Sender ins- 60 Jahre ARD- gesamt „beträchtliche Reserven“ ❙3 bilden. Hörfunkprogramme Finanzausgleich

ie neue, regional strukturierte Nach- Die neuen Hörfunksender in München, Ham- Dkriegshörfunklandschaft war rund fünf burg, Frankfurt, Bremen, Baden-Baden und Jahre alt, als sich am 9. und 10. Juni 1950 Stuttgart hatten sehr unterschiedlich große der Bayerische Rund- Sendegebiete und sehr unterschiedliche Ein- Hans-Jürgen Krug funk (BR), der Hessi- nahmen. Es gab reiche, mittlere und arme Sen- Dr. phil., geb. 1952; Publizist sche Rundfunk (HR), der, 1956 verfügte der neu gegründete West- und Medienwissenschaftler, der Nordwestdeutsche deutsche Rundfunk (WDR) beispielsweise Ahornallee 13, 22529 Hamburg. Rundfunk (NWDR), über fast 70 Millionen DM an Einnahmen, [email protected] Radio Bremen (RB), Radio Bremen aber erhielt (für ähnliche Auf- http://hansjuergenkrug. der Süddeutsche Rund- gaben) nur 3,5 Millionen DM. Der interne „Fi- blogspot.com funk (SDR) und der nanzausgleich“ war deshalb früh die zentrale Südwestfunk (SWF) Aufgabe der ARD. Zunächst glich man durch zur „Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-recht- „Ad-hoc-Zahlungen“ ❙4 aus, seit 1958 gab es lichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik dann dafür ein kontinuierliches, im Laufe der Deutschland“, kurz ARD, ❙1 zusammenschlos- Jahre immer wieder justiertes System. sen. Es war ein lockerer Zusammenschluss, eine Arbeitsgemeinschaft eben, die vor allem Eine andere Form des „Finanzausgleichs“ bei der Lösung gemeinsamer Anliegen helfen war schon früh die zusätzliche Finanzierung sollte. „So viel Einheit wie nötig, so viel Vielfalt des Hörfunks durch Werbung. Anfang der wie möglich“, beschrieb SDR-Intendant Hans 1950er Jahre warben fast alle ARD-Hörfunk- Bausch einmal die frühe ARD-Philosophie ❙2 programme, und Radio Bremen soll damals und das Beharren der einzelnen Mitglieder auf sogar ein Viertel seiner Einnahmen aus Funk- Autonomie. Die drei Buchstaben stünden für werbung erhalten haben. ❙5 1954 wurde die Ar- „Alle reden durcheinander“, hielt später ein beitsgemeinschaft Rundfunkwerbung (ARW) Uralt-Kalauer fest. Eine andere, weniger popu- gegründet – hier schlossen sich nun auch die läre Deutung lautet: „Alle reisen dauernd.“ regionalen Werbefunkgesellschaften, die „hilf- reichen Töchter“ ❙6 zusammen. ❙7 Neben der Im Juni 1950 gab es in Deutschland noch kein Fernsehen, die sechs ARD-Mitglieder ❙1 „Das vertraute Kürzel ARD wurde erst 1954 ein- sendeten ausschließlich Hörfunk. Das Radio geführt.“ Hans Bünte, Geschichte und Geschichten war das neue bundesdeutsche Leitmedium, des Senders an der Saar – die Chronik, in: Axel Buch- es war kulturorientiert und auf dem elektro- holz/Fritz Raff (Hrsg.), Geschichte und Geschich- nischen Markt konkurrenzlos. Eine norma- ten des Senders an der Saar. 50 Jahre Saarländischer le Hörerin, ein normaler Hörer konnten in Rundfunk, Freiburg 2007, S. 71. ❙2 Zit. nach: Verena Wiedemann, Einheit in der Viel- der Regel nur das Mittelwellenprogramm falt, in: ARD-Kulturbuch, o. O. 2008, S. 62. des eigenen „Haussenders“ hören, die ersten ❙3 Konrad Dussel, Deutsche Rundfunkgeschichte, UKW-Programme „UKW West“ und „UKW Konstanz 20042, S. 201. Nord“ (vom NWDR) waren erst wenige Tage ❙4 Ebd., S. 202. 5 alt und mit den fast ausschließlich verbreite- ❙ Vgl. Werbesendungen/Rundfunk. Zur Hebung des ten reinen Mittelwellenempfängern über- Niveaus, in: Der Spiegel, Nr. 47 vom 18. 11. 1953, S. 39. ❙6 H. Bünte (Anm. 1), S. 86. haupt noch nicht zu empfangen. Die Radio- ❙7 Vgl. Jürgen Pfifferling, Ein Service für die Wer- programme waren Einschaltprogramme und bung. ARW Media Marketing, in: ARD-Jahrbuch relativ einfach gemacht, Sendung folgte auf 1988, S. 37.

APuZ 20/2010 35 Kommunikation der ARD-Mitglieder gab es Tisch legte, um sich nach freundlichem (oder nun auch die Kommunikation der ARD-Wer- auch einmal leidenschaftlichem) Gedanken- begesellschaften. austausch wieder einzusammeln – mit unter- schiedlichem Erfolg, was die Nachwirkungen Die kleinen Sender in Bremen und Saar- der Diskussion betraf“, fasste der langjähri- brücken ❙8 waren von den zusätzlichen Wer- ge SDR-Hörfunkdirektor Peter Kehm ein- beeinnahmen „abhängig“. Besonders der mal seine Erfahrungen zusammen. „Im Laufe Saarländische Rundfunk setzte zur „Linde- der Zeit – ich war viermal Vorsitzender – lern- rung der Finanznot“ früh und ausdrücklich te ich die Brisanz der zur Debatte stehenden auch auf „Programm-Innovation“. ❙9 Als Ende Fragen und folglich die Chancen für Konsens 1963 die „Europawelle Saar“ mit stündlichen oder Dissens einigermaßen zutreffend einzu- Nachrichten, Magazinen, über den Tag ver- schätzen, so dass ich dazu übergehen konnte, teilter Streuwerbung und hohem Musikanteil die Ergebnisprotokolle in den wesentlichen angekündigt wurde, da wurde – so breit war Zügen schon vor den Beratungen fertig zu damals das Spektrum – in der ARD darüber stellen, was dem zügigen Ablauf der Verhand- diskutiert, ob man den SR nicht wieder aus lungen sehr zustatten kam.“ ❙12 1959 gehörten der ARD ausschließen sollte. Später etablier- bereits neun Mitglieder zur ARD, 1962 waren ten sich die durch die Werbung ausgelösten es elf und 1992 sogar dreizehn. ❙13 Saarbrücker Innovationen auch in den ande- ren Hörfunkwellen. Die Jahre zwischen 1950 und 1960 gelten gemeinhin als „Blütezeit“ des Hörfunks, als die großen Radiojahre. Es war die Hochzeit Kein ARD-Radio des konkurrenzlosen ARD-Hörfunks mit seinen rund 10 bis 15 selbständigen Regional- Die reine Hörfunk-ARD war vor allem ein programmen; die ARD-Sender besaßen weit- „relativ lockerer Zusammenschluss mit Ver- gehend die Alleinherrschaft im Äther. Seit einscharakter“, Beschlüsse mussten einstim- 1952 hatten alle ARD-Sender dann zwei Pro- mig sein, „Souveränität“ wollten die einzel- gramme: ein Mittelwellenprogramm („Ers- nen Mitglieder nicht abgeben, „schon gar tes Programm“) und wenigstens stundenwei- nicht auf dem Gebiet des Programms“. ❙10 Erst se ein „Zweites“ Ultrakurzwellenprogramm; die Etablierung des Fernsehens veränderte seit 1956 hatte der NDR sogar ein „Drittes diesen lockeren Charakter der ARD, denn Programm“ speziell für die Kulturinteres- seit dem 1. November 1954 hatten die regio- sierten. Der Abend war die bevorzugte Ra- nalen Gesellschaften täglich ein gemeinsames diozeit, die Programmstrukturen waren sta- Programm, das (Erste) Deutsche Fernsehen bil, Programmkonzeptionen wurden nur zu gestalten. Beim Radio hingegen entstand „relativ geringfügig und ziemlich langsam diese Notwendigkeit nicht, der öffentlich- verändert“, ❙14 Innovationen waren rar. Es wa- rechtliche Hörfunk war und blieb ein regio- ren die Jahre, in denen das „Echo des Tages“ nales Medium. ❙11 BR und HR, NWDR und oder die „Rundschau aus dem Hessenland“, RB, SDR und SWF machten ihre eigenständi- Werke des Hörspielautors Günter Eich oder gen Programme, und die ARD war im Radio- die Radioshows von Hans-Joachim Kulen- bereich eine schwache Institution, an deren kampff und Peter Frankenfeld große Hörer- Spitze eine Hörfunk-Kommission stand: „Als gruppen ansprachen. Vorsitzender in der Hörfunk-Kommission, also unter den Kollegen Programmdirekto- 1959 trat die ARD erstmals als eine Art ren, hatte man sich demgemäß als Makler und Programmveranstalter auf: Sie etablierte mit Mittler zu betätigen, der die Probleme auf den der „Musik bis zum frühen Morgen“ ein ge-

❙8 Der Saarländische Rundfunk (SR) wurde 1959 ❙12 Peter Kehm, Vorübergehend lebenslänglich, Stutt- ARD-Mitglied. gart 1990, S. 179. ❙9 H. Bünte (Anm. 1), S. 89. ❙13 Hier sind auch die (1962 hinzugekommenen) An- ❙10 So Hans Bausch 1969. Zit. nach: Andrea Brunnen- stalten des Bundesrechts, die Deutsche Welle und der Wagenführ, Von Anfang an dabei, in: ARD-Jahrbuch Deutschlandfunk, mitgezählt. Vgl. ABC der ARD, 2000, S. 92. Die Bedeutung der ARD für die bun- 20023, S. 11. desdeutsche Hörfunkentwicklung ist bisher kaum ❙14 Wolfgang Jäger, Grenzen veränderter Programm- ­e r f o r s c h t . konzeptionen, in: Dieter Roß (Hrsg.), Die Zukunft ❙11 Vgl. Hans-Jürgen Krug, Radio, Konstanz 2010. des Hörfunkprogramms, Hamburg 1982, S. 62.

36 APuZ 20/2010 meinsames Nachtprogramm – in Hamburg, ARD- langsam und leise amerika- München und Baden-Baden war nun wäh- nisch inspirierte Veränderungsprozesse ein, rend der Nacht dasselbe Programm zu hören. die – bisher unbeschrieben – „innerhalb we- 1964 folgte ein gemeinsames Ausländerpro- niger Jahrzehnte alle in Europa gewach- gramm, das von allen Landesrundfunkan- senen Radio-Formen nahezu vollständig stalten ausgestrahlt wurde (bis 2003) – und dominier(en)“ sollten. ❙17 beinahe hätte es 1971 sogar eine bundeswei- te Autofahrerwelle gegeben. Doch angesichts knapper Hörfunkfrequenzen war das ARD- Kooperation und Koordination Projekt nicht durchsetzbar. Die Geschichte der ARD-Hörfunk-Kommis- Das ARD-Fernsehen – einst durch Hör- sionen ist noch nicht geschrieben und über die funkgebühren anschub- und querfinanziert – reale, vereinheitlichende Macht der „Arbeits- beendete nach 1960 langsam die „Blütezeit“ gemeinschaft“ im Radiobereich weiß man der ARD-Radios und eroberte die populä- ebenso wenig wie über die internen Konflikte. ren abendlichen Sendezeiten. Das Interes- Während die verschiedenen ARD-Mitglieder se am Radio ließ nach, die Nutzungszeiten ihre eigenen, autonomen Programmangebote sanken, der Hörfunkmarkt war weitgehend produzierten und sendeten, wurden (eher im gesättigt, das Geld – die Radiogebühren be- Hintergrund) Kooperation und Koordina- trugen bis 1970 zwei DM – wurde knapper. tion verstärkt. Seit den 1950er Jahren wurde In den 1960er Jahren begann das älteste elek- Schritt für Schritt ein System der Auslands- tronische Medium sich langsam – und gegen korrespondenten aufgebaut; 1956 ging Klaus das Fernsehen und seine Abendprogramme – Mehnert als erster Hörfunkkorrespondent neu zu erfinden. Mehrstündige Mittags- und nach Moskau, 1957 Klaus Bölling nach Bel- Morgenmagazine entstanden, Pop- und Ju- grad, 1994 waren 29 ARD-Korresponden- gendsendungen wurden eingeführt, die Wer- ten und 21 Gruppenkorrespondenten in aller bung wurde über den ganzen Tag verteilt – Welt für ARD-Radios unterwegs. ❙18 Paral- und dann wurden Autofahrer, Service- und lel entstanden als zentrale bundesdeutsche reine Popwellen wie Bayern 3, HR3, SWF 3 Politikzulieferer langsam bimedial struktu- oder Südfunk 3 gegründet. Da die Gebühren- rierte Hauptstadtstudios: 1958 das „Studio gelder dazu nicht mehr ausreichten, setzten Bonn“ und dann 1999 das „ARD-Haupt- die neuen Servicewellen auf Werbung. „Unse- stadtstudio“ in Berlin. Die Qualität der tra- re Servicewelle HR3 trägt sich durch die ein- ditionellen öffentlich-rechtlichen Politikbe- gebaute Werbung selber“, so HR-Hörfunkdi- richterstattung wurde weitgehend aus diesen rektor Henning Wicht 1974 ❙15 – und damit zu Studios getragen. 1974 wurde ein ARD-Hör- öffentlich-rechtlichen Monopolzeiten. „Ein funk-Sternpunkt in Betrieb genommen, der kleiner Schritt, und wir hatten es: das ‚dua- heute bis zu 1000 Beiträge täglich an die Sen- le‘ Rundfunksystem unter einem Dach, in ei- der überspielt. nem Haus“, schrieb später SDR-Hörfunkdi- rektor Peter Kehm. ❙16 Anfang der 1980er Jahre sendeten einige öffentlich-rechtliche Anstalten inzwischen Während die „Ersten“ Programme auf Mit- vier stärker gegeneinander profilierte Pro- telwelle weitersendeten wie gewohnt, erober- gramme: Das traditionelle „Erste“ Programm ten die neuen Pop- und Servicewellen (auf war noch immer ein „Kästchenangebot“ und UKW) mit rapider Geschwindigkeit die Hö- bündelte die traditionelle Politikberichter- rerinnen und Hörer. „Aktualisierung, Ty- stattung (WDR 1, HR1, NDR 1). Das „Zwei- pisierung, Personalisierung und Speziali- te“ oder – im Süden – „Dritte“ Programm sierung“ – dies waren die Stichworte für die war ein magaziniertes popmusikalisches Ser- Neuorientierung der ARD-Radios, die Hen- vice- und Informationsprogramm (WDR 2, ning Wicht 1969 populär im ersten ARD- Jahrbuch festhielt. Sie leiteten innerhalb der ❙17 Wolfgang Hagen, Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, Mün- chen 2005, S. 319. ❙15 Zit. nach: Stefan Kursawe, Vom Leitmedium zum ❙18 Vgl. Gerhard Friedl, Rund um die Uhr aus aller Begleitmedium. Die Radioprogramme des Hessi- Welt. Hörfunkkorrespondenten der ARD, in: ARD- schen Rundfunks 1960–1980, Köln 2004, S. 307. Jahrbuch 1995, S. 48. Siehe auch den Beitrag von ❙16 P. Kehm (Anm. 12), S. 219. Gemma Pörzgen in diesem Heft.

APuZ 20/2010 37 NDR 2, Bayern 3, SWF 3, HR3); es wurde rer. 1978 hatte WDR 2 etwa 6,3 Millionen Hö- die neue „Leitwelle“, sendete nutzerorientier- rer, 1998 waren es noch 2,8 Millionen; NDR 2 te Informationen und setzte auf den Neben- rutschte von 5,3 Millionen auf 1,9 Millionen. beihörer. Dazu kam – im Norden als „Drit- Während 1950 alle Hörer ausschließlich ARD tes“, im Süden als „Zweites“ Programm – eine hörten, fiel der Marktanteil der ARD nach Kulturwelle mit traditionellen „Kästchen- 1986 auf 60,1 Prozent (1994) und weniger. ❙20 angeboten“ (NDR 3, WDR 3, HR2, SWF 2, Das war – wie früher bei der Einführung des BR 2). In den 1980er Jahren wurden diese Fernsehens – für die Programmverantwortli- Angebote durch schlagerorientierte Heimat- chen bei der ARD ein „Schock“. ❙21 wellen ergänzt (SR 3 Saarlandwelle, HR4, WDR 4). Die Pop- und dann die noch jun- Nach der Wiedervereinigung 1990 wurde gen Schlagerwellen waren die hörerreichsten das duale System schrittweise auch auf Ost- öffentlich-rechtlichen Angebote. Als „Faktor deutschland ausgeweitet: 1992 wurden der der öffentlichen Meinung“ aber, so der da- Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) malige SWF-Intendant Willibald Hilf bereits und der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) 1983, sei der Hörfunk „im Vergleich zu den in die ARD aufgenommen. Sie hatte jetzt elf Zeitungen, den Zeitschriften und dem Fern- öffentlich-rechtliche Mitglieder, strahlte 46 sehen nur noch gering zu veranschlagen“. ❙19 Programme aus und sendete 372 905 Stun- den Programm im Jahr. 54 Prozent davon Es waren und blieben die eher randständi- bestanden aus Musik, 42 aus gesprochenen gen Sendebereiche (Nachtprogramm, Aus- Inhalten – und zwar zu diesen Anteilen: Poli- länderprogramm), in denen die ARD ge- tik 14 Prozent, Magazine 11 Prozent, Kultur meinsame Programme anbot. In den 1980er 5 Prozent, Unterhaltung 4 Prozent, Familien- Jahren wurde aus dem Klassiker „Musik bis programm 3 Prozent, Sport 1,4 Prozent, Bil- zum frühen Morgen“ der schlagerdominier- dung 1,1 Prozent, Hörspiel 0,6 Prozent. Eine te „ARD-Nachtexpress“. Parallel entstan- Sendeminute kostete 99 DM. den für Klassikliebhaber das „ARD-Nacht- konzert“ (1980) sowie für Rockmusikfans der Die Hörerverluste der ARD-Sender führ- „ARD-Nachtrock“ (1985). ten zu radikalen Neuaufstellungen der öf- fentlich-rechtlichen Hörfunkwellen. Die Programmangebote wurden zunehmend mu- Duales System sikalisch definiert, „durchhörbarer“ gemacht und innerhalb der Häuser deutlicher gegen- 1986 endete die Alleinherrschaft der inzwi- einander positioniert – ein Prozess, der Jahre schen rund 28 ARD-Programme auch im dauerte und offenbar innerhalb der ARD ab- Hörfunkbereich. Mit Radio Schleswig-Hol- gestimmt stattfand. ❙22 Schließlich wurde das stein (RSH) startete das erste landesweite pri- ARD-Hörfunkangebot nochmals erheblich vate und rein werbefinanzierte Hörfunkpro- ausgebaut. Die erste neue Gründungswelle gramm und eröffnete die Konkurrenzkämpfe begann in den 1990er Jahren, als die öffent- zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem lich-rechtlichen Sender ihre eigenen Jugend- Hörfunk. NDR 2 gegen RSH, Radio Ham- wellen einrichteten. Fritz (1993), N-Joy Ra- burg oder FFN, Bayern 3 gegen Antenne 3 – dio (1994) oder Eins Live (1995) wandten sich das waren nach der (schrittweisen) Etablie- zielgruppenorientiert an die Jugend. Die neu- rung des dualen Hörfunksystems die neuen en Jugendwellen wurden außerhalb der tra- Konfliktlinien. Es ging hier nicht um Politik, ditionellen Sender aufgebaut, ihre Namen Kultur oder gehobene Unterhaltung. Werben- verwiesen schon nicht mehr auf die jeweils de Radios konkurrierten mit werbenden Ra- dios, eine populäre UKW-Frequenz gegen ❙20 2003 lag er dann bei 55,4 Prozent und 2008 bei eine andere UKW-Frequenz. Und nun – rund 57,1 Prozent. Vgl. ARD-Jahrbuch 2004/05, S. 206; 10 Jahre nach dem Gründungsboom – verloren ARD-Jahrbuch 2009, S. 214. gerade die bislang viel gehörten, weitgehend ❙21 Manfred Jenke, Medien für Menschen. Texte werbefinanzierten und serviceorientierten 1963–1993, Köln 1993, S. 40. ❙22 ARD-Wellen zahlreiche Hörerinnen und Hö- Beispielsweise: „Die Reformfähigkeit hat die ARD 1993 mit einer Fülle grundlegender Schritte be- wiesen. So wurde die Zusammenarbeit im Hörfunk ❙19 SWF-Intendant Hilf nennt Schwerpunkte in Hör- (…) intensiviert.“ Jobst Plog, Zweierlei Duales Sys- funk und Fernsehen, in: SWF-1, (1983) 2, S. 4. tem, in: ARD-Jahrbuch 1993, S. 13.

38 APuZ 20/2010 verantwortliche Anstalt, und die Konzepte 1960er Jahre wurde über eine Zusammenfüh- orientierten sich nicht mehr an Magazinen, rung von SDR, SWF, HR bzw. SR diskutiert sondern am Formatradio. Der Musikanteil und seit 1972 sendeten SDR, SWR und SR ge- lag bei bis zu mehr als 80 Prozent (N-Joy) – meinsam ein Kulturprogramm. 1990 forderte und in der interessierten Öffentlichkeit be- SR-Intendant Manfred Buchwald, 18 öffent- gannen die Diskussionen um eine zunehmen- lich-rechtliche Hörfunkprogramme zu zwei de Angleichung (Konvergenz) von privatem nationalen Programmen zusammenzufas- und öffentlich-rechtlichem Hörfunk. sen – erfolglos. 1995 sahen die damaligen Mi- nisterpräsidenten Kurt Biedenkopf (Sachsen) und Edmund Stoiber (Bayern) in der ARD Das Wort wird selbständig ein „konzernähnliches Gebilde“, in den Sen- dern „de facto Tochtergesellschaften der Die musikorientierte Formatierung der ARD- ARD“ und forderten eine Strukturreform. Radios – von Region zu Region eigenständig umgesetzt – war freilich nur durch die Auf- 1998 endete die Phase der Expansion. Erst- trennung des Radioangebots in Musik- und mals in ihrer nun fast 50-jährigen Geschich- Wortwellen möglich. Das Wort wurde selb- te wurde die ARD quantitativ zurückgebaut. ständig, musste selbständig werden. ❙23 1989 Der erste „Einschnitt“ ❙25 war die Gründung schuf der NDR mit NDR 4 ein erstes wortdo- des Südwestrundfunks (SWR) aus SWF miniertes Programm im „Kästchenformat“ – und SDR; 2003 wurde aus SFB und ORB hier fanden die politischen Angebote im Ein- der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB). Prozent-Umfeld ihre neuen Sendeplätze. Die Und auch zwischen den Landesfunkhäusern eigentliche Neuorientierung folgte mit dem wurde – auf kleinerer Ebene – die Koope- Inforadio B 5 aktuell (1991) und dann mit ration verstärkt: Der NDR und Radio Bre- MDR Info (1992), Inforadio (1995) oder HR- men gründeten gemeinsam das Nordwestra- Info (2004). Hier bestanden 1999 ❙24 bis zu dio (2001); die WDR-Welle Funkhaus Europa 91 Prozent (MDR Info) des Programms aus wurde auch von Radio Bremen und RBB „Politik“. Die Inforadios folgten nicht mehr ausgestrahlt; SWR und SR veranstalteten der Machart traditioneller Politiksendungen stundenweise eine identische Jugend­welle. oder Magazine; sie sendeten Nachrichten im Das SWR-Angebot Dasding wird seit 1999 15- oder 20-Minuten-Takt – und empfahlen 16 Stunden am Tag auch als SR-Welle Unser- 15 Minuten als ideale Zuhördauer. Die Info- ding gesendet. Eine „aktuelle Sendung“ be- wellen erforderten – nach dem papierorien- steht inzwischen zu 40 bis 50 Prozent aus tierten Hochkulturjournalismus der ersten Material, das aus dem ARD-Programm- Radiojahre und dem stärker akustisch orien- austausch stammt, ❙26 Tendenz steigend. Der tierten Magazinjournalismus der 1970er Jah- Sound der regionalen ARD-Sender ist also re – einen nun ganz neuen Koordinations- längst nicht mehr nur regional. und Managementaufgaben unterworfenen Journalismus. Auch dessen Zeit scheint be- Gemeinsame, nationale Radioprogramme grenzt: In ersten Funkhäusern (Saarbrücken, wurden außerhalb des nachtmusikalischen Bremen, Berlin) sind bereits trimedial (Hör- Gemeinschaftsprogramms von der ARD funk, Fernsehen, online) arbeitende Journa- nicht umgesetzt, alle UKW-Angebote blie- listen tätig. ben regionale, gelegentlich durch Kooperati- onen überregional erweiterte Angebote. Auch Zur Geschichte der ARD gehören auch ein gemeinsames nächtliches Nachrichtenpro- die Debatten um Zusammenlegungen, Ko- gramm blieb bisher nur eine Idee. Doch die operationen und Ausweitungen, kurz: um Struktur der Radioprogramme hat sich inzwi- eine „Reform der ARD“. Schon seit Ende der schen radikal verändert: Die regionalen ARD- Hörfunkwellen sind in den Tagesstrecken for- ❙23 Vgl. Hans-Jürgen Krug (verantw.), Wann ist die matiert und – strukturell sehr ähnlich – an beste Zeit für Politik? Hamburger Radiomacher be- richten, Originaltoncollage von Studentinnen des In- stituts für Medien und Kommunikation der Univer- ❙25 K. Dussel (Anm. 3), S. 206. sität Hamburg, gesendet am 3. 4. 2009 auf Tide 96,0. ❙26 Zahlen nach: Gernot Romann, Nicht nur in der ❙24 Nach 1999 ersetzte die ARD in ihren Zählun- Nacht. Kooperationen sichern Vielfalt und Wettbe- gen die Kategorie „Politik“ durch „Information und werbsfähigkeit des Hörfunks in der ARD, in: ARD- ­S e r v i c e “ . Jahrbuch 2004/05, S. 78.

APuZ 20/2010 39 Musikfarben und Altersgruppen ausgerichtet; chen Markt. Inzwischen ist der Hörfunk ne- nicht zufällig wurde deshalb immer wieder ben Fernsehen, Internet und mehrmedialen die „Konvergenz“ von öffentlich-rechtlichem Presseprodukten ein elektronisches Medium und privatem Hörfunk ­diskutiert. neben anderen geworden, es gibt öffentlich- rechtliche, private und internationale Anbie- Heute bietet jedes öffentlich-rechtli- ter und wechselnde politische Ansprüche. Es che ARD-Mitglied zwischen drei und acht sind vor allem die digitalen Veränderungen, UKW-Programme an, die ähnlich geordnet die zum stillen Umbau in der ARD und zur sind: Neben (1) Regionalprogrammen mit Stärkung der ARD auch im Hörfunkbereich Schlagerdominanz und großem Publikums- geführt haben. Diese Stärkung fand auf ver- zuspruch (NDR 90,3; HR4; WDR 4, SWR 4 schiedenen Ebenen statt: Baden-Württemberg, MDR 1 Radio Sachsen, Bayern 1) gibt es (2) popdominierte Musik- • Werbung: Die verschiedenen Hörfunkwel- und Servicewellen (NDR 2, WDR 2, HR3, len sind inzwischen formal in das ARD- Bayern 3, SWR 3), (3) Kultur- bzw. Klassik- Marketing eingebunden. Die ARD wirbt wellen (WDR 3, HR2 Kultur, Bayern 2, SR 2 heute unter dem Slogan „ARD. Radio & Kulturradio, RBB Kulturradio), (4) Jugend- TV“. programme (Eins Live, N-Joy, Fritz, Das- • Internet: Die ARD-Mitglieder präsentie- ding, Unserding) sowie (5) weitgehend mu- ren ihre Fernseh- und Radioangebote im sikfreie Wort- oder Informationsprogramme Internet auch unter dem ARD-Label. Un- (WDR 5, B5 aktuell, Inforadio, MDR Info, ter www.radio.ard.de sind relevante Radio- HR-Info). Gelegentlich treten (6) noch Mul- themen gebündelt, unter „RadioNet“ bietet tikultiwellen dazu (Funkhaus Europa). die ARD-Plattform dort zudem Zugänge zu den online verfügbaren ARD-Radio- Die ARD-Programme können inzwischen wellen. In der digitalen Welt ❙28 ist die ARD auch übers Internet, über Kabel oder Satel- mit Hörfunkthemen also noch präsenter lit – und damit überregional – gehört werden; als im UKW-Bereich. doch die Radionutzung beschränkt sich in Deutschland fast vollständig auf UKW (Ak- • Radiokultur: Vor allem innerhalb der teu- tuelle Zahlen gehen immer noch von 90 Pro- ren Kultur- und Klassikwellen haben zent aus). UKW-Hörer sind außerordentlich ARD-weite Sendungen unter dem gemein- sendertreu, sie nutzen durchschnittlich nur samen Label erheblich an Bedeutung ge- 1,5 Programme. wonnen. „ARD Radioabende“ und „ARD Radionächte“ über Bücher, Hörbücher oder für Kinder werden immer wieder ins Nach dem UKW-Radio: Programm der Kulturradios genommen. Design und Digitalisierung Die Reihen „ARD Radio Tatort“ und – mit investigativen Absichten – „ARD Radio- 1950 starteten die ARD und die UKW-Ra- feature“ wurden eingerichtet, es gibt so- dios. Technisch betrachtet, beruhten die gar „ARD Hörspieltage“. 2009 fand erst- ARD-Hörfunkstrukturen auf den – regiona- mals ein „ARD Kultursommer“ statt: Für len – Möglichkeiten der neuen Ultrakurzwel- einige Zeit sendeten die Kultur- und Klas- le. Durch die Digitalisierung des Hörfunks sikradios ein identisches, de facto nationa- haben die Ultrakurzwellen ihre Zukunft ver- les Abendprogramm. Kooperationen sollen loren, 2015 soll UKW auch in Deutschland innerhalb der ARD ein „zentrales Thema abgeschaltet sein. ❙27 Als die ARD gegründet für die nächsten Jahre“ werden. ❙29 Eine der wurde, gab es nur ARD-Hörfunk auf einem neuen Formen dürfte die (regionale) „Kon- konkurrenzfreien, rein öffentlich-rechtli- zentration auf Programmgenres“ werden. • Trimedialität: Die Grenzen zwischen ❙27 Innerhalb der ARD scheint man aber auch da- von auszugehen, dass UKW „erstaunlich gute Gene ARD-Hörfunk und ARD-Fernsehen wer- hat“ und noch für „viele, viele Jahre“ bleibt. NDR- Hörfunkdirektor Joachim Knuth auf dem Kongress ❙28 Das digitale Programmbouquet heißt seit 1997 „Radio der Zukunft“, Karlsruhe, 11. 12. 2009, online: ARD-Digital. www.lfk.de/Radio_der_Zukunft/download/media/ ❙29 So der ARD-Vorsitzende Peter Boudgoust in der Radio_der_Zukunft_ZKM_Kurzbriefing%201.mp3 ARD-Pressemeldung „Notwendigkeit von ARD-in- (3. 3. 2010). ternen Kooperationen bekräftigt“, 2. 12. 2009.

40 APuZ 20/2010 den durch neue Techniken und neue Ma- Knut Hickethier nagementstrategien durchlässiger. In den modernsten Funkhäusern (Saarbrücken, Bremen, Berlin) wird inzwischen trimedial „Tatort“ und „Linden- und themenorientiert in newsrooms (zen- trale Nachrichtenredaktionen) gearbei- straße“ als Spiegel tet, die Konkurrenz zwischen Fernsehen und Radio wird hier durch Kooperation zu Gunsten der Zentralmarke ersetzt. ❙30 der Gesellschaft Vorläufer dieser neuen, mehrmedialen Ko- operationen dürften die „ARD Themen- erien haben kulturell noch immer einen wochen“ sein, die (von einer ARD-Strate- Sschlechten Ruf. Dabei können sie anders als giegruppe initiiert) 2006 gestartet wurden. die üblicherweise auf 90 Minuten begrenzten Hier geht es auch um Themensetzung: 2008 Kinospielfilme länger, widmeten sich zum Beispiel 2000 Sendun- ausdauernder und we- Knut Hickethier gen dem Thema Demographie, 340 Stunden niger punktuell von Dr. phil., geb. 1945; Professor im Fernsehen, 287 Stunden im Hörfunk. den Menschen erzäh- am Institut für Medien und Das Thema war stärker als das Medium, die len. Sie können deren Kommunikation der Universität ARD stärker als der einzelne Sender. Handeln über eine lan- Hamburg, Von-Melle-Park 6, ge Zeit begleiten und 20146 Hamburg. Heute bilden neun öffentlich-rechtliche Sen- dabei auch vielfältige [email protected] der die ARD – nur noch RB, BR und HR sind Figurenkonfiguratio- seit der Gründung 1950 dabei. 2008 strahlten nen entstehen und wieder vergehen lassen. Se- 56 UKW-Wellen (darunter 18 Informations- rien können deshalb differenzierter Wirklich- und Klassikprogramme) 521 853 Stunden Pro- keit in den menschlichen Beziehungen sichtbar gramm aus, 62 Prozent davon bestanden aus machen, vor allem auch dann, wenn sie mit ih- Musik, 38 Prozent aus gesprochenen Inhal- ren Figuren, ihren Handlungsorten und ihren ten; ❙31 mit diesem Angebot erreichte die ARD Geschichten im Hier und Jetzt der Zuschauer rund 57 Prozent der Hörerinnen und Hörer. verankert sind. „Tatort“ und „Lindenstraße“ Hinzu kamen weitere Hörfunkangebote, die sind solche Institutionen in einem Maße wie ausschließlich digital empfangen werden kön- kaum andere Serien im deutschen Fernsehen. nen – und damit empirisch fast hörerlos sind. Anders als die vielgerühmten amerikani- Die alte Angst vor zu viel Einheit scheint schen Serien, deren Welten auf deutsche Zu- inzwischen verblasst, die ARD ist auch im schauer letztlich immer fremd, exotisch, oft Hörfunkbereich enger zusammengewachsen. auch künstlich wirken, zeigen „Lindenstra- Hinter dem einst lockeren Senderverbund ße“ und „Tatort“ bundesdeutsche Milieus scheinen sich auch Strukturen eines eigen- und Situationen, die letztlich mehr Vertraut- ständigen Medien- und Hörfunkkonzerns zu heit, mehr Zugehörigkeit signalisieren, auch entwickeln. Angesichts der neueren Medien­ wenn viele Handlungsorte und Geschehen entwicklungen kann das freilich kaum über- der Mehrheit der Zuschauer unbekannt sind. raschen. Statt „so viel Einheit wie nötig“, lau- Im Gros leben die deutschen Serien von der tet das Motto im Radiobereich inzwischen: Wiedererkennbarkeit ihrer Figuren und de- „Gemeinsam sind wir stärker.“ ❙32 ren Geschehnisse. Das lässt sie gelegentlich bieder wirken, ohne dass ihre Handlungen deshalb weniger aufregend wären. ❙30 Vgl. Hans-Jürgen Krug, Trimediale Redaktions- arbeit im Print-, Radio- und Online-Journalismus, Fernsehserien stellen deshalb „kulturelle 1 Vortrag an der Fachhochschule Kiel, 6. 4. 2009; Flo- Foren“ ❙ dar, auf denen in lebensnahen Situ- rian Schwinn, Der mit den CvDs tanzt, in: CUT, ationen gesellschaftliche Probleme erörtert (2007) 5, S. 14. und verhandelt werden. Dass es sich hier um ❙31 Vgl. ARD-Jahrbuch 2009, S. 371. ❙32 Wolfgang Schmitz, Alleine sind wir stark, ge- meinsam sind wir stärker, in: ARD-Jahrbuch 2009, ❙1 Horace M. Newcomb/Paul Hirsch, Fernsehen als S. 92 ff. kulturelles Forum. Neue Perspektiven für die Medi- enforschung, in: Rundfunk und Fernsehen, 34 (1986), S. 177–190.

APuZ 20/2010 41 fiktionale Formen handelt, die eben keinen „Das Erste“, wie das Gemeinschaftspro- Anspruch erheben, unmittelbar identifizier- gramm der ARD genannt wird, ist letztlich bare Personen darzustellen, erlaubt es, Sach- die Mutter der deutschen Fernsehprogram- verhalte und Verhaltensweisen anzusprechen, me (sieht man einmal von den mühseligen die im dokumentarischen Bereich so nicht Programmversuchen vor 1945 ab). Es hat im möglich wären und sich nicht in gleicher Wei- deutschen Fernsehen die Familiengeschich- se idealtypisch zuspitzen ließen. In kompri- te und die Kriminalgeschichte als Fernseh- mierter und gleichzeitig überdeutlicher Form genres in Gang gesetzt, an ihm haben sich führen die Serienfiguren die Probleme vor, letztlich auch die meisten nachfolgenden und die im gesellschaftlichen Leben virulent sind. erfolgreichen deutschen Produktionen in die- Aufgrund ihrer Überspitzung lassen sich die sen Genres ausgerichtet. hier angesprochenen Konflikte und Lösun- gen besonders gut diskutieren. An ihnen ent- zünden sich Streitgespräche der Zuschauer, Welt der Familien – die „Lindenstraße“ die wiederum zur Festigung von Maßstäben und zur Neuorientierung von Hand­lungs­ Die „Lindenstraße“ hat prominente Vorgän- maxi­men im realen Leben dienen können. ger: Von 1954 bis 1960 produzierte der Nord- westdeutsche Rundfunk (NWDR), ab 1956 der Norddeutsche Rundfunk (NDR), die für da- Genres im Fernsehen – malige Verhältnisse „endlos“ erscheinende Serie Stabilisierungssysteme der Gesellschaft „Unsere Nachbarn heute Abend – die Schöler- manns“. Alltagsszenen wurden von Darstel- Mit der „Lindenstraße“ und dem „Tatort“ lern gespielt, deren Namen den Zuschauern sind zwei zentrale Fernsehgenres angespro- anfangs unbekannt waren, wodurch der Re- chen: Die Familiengeschichte und die Kri- alitätseindruck der Szenen noch erhöht wur- minalgeschichte. Beide Genres hat es bereits de. Lotte Rausch als Mutter und Willy Krüger in der Massenunterhaltung seit dem 19. Jahr- als Vater wurden frühe Institutionen, Charles hundert in vielen Medien, vom Kolportage- Brauer, später „Tatort“-Kommissar, spielte heft bis zum Theater, vielfach gegeben, aber Sohn Heinz. Zahlreiche weitere ARD-Famili- erst im Fernsehen haben sie ihre wirkliche en folgten, von den „Hesselbachs“ (1960–1967) Bedeutung erlangt. Beide stehen in einem ei- über „Die Unverbesserlichen“ (1965–1971) bis gentümlichen Spannungsfeld: Die Familien- zur „Lindenstraße“, die ab Dezember 1985 (bis geschichte zeigt die Innenseite, das Private, Mitte Mai 2010 in 1275 Folgen) als erste week- und wirkt von hier aus nach außen. Die Kri- ly soap – ähnlich den „Schölermanns“ – auf minalgeschichte zeigt die Bedrohungen der „Endlosigkeit“ hin angelegt wurde. Einzelnen durch die Außenwelt und wirkt von hier aus nach innen. Deshalb ist die Fa- Die „Lindenstraße“ war eine Reaktion auf miliengeschichte – bei allen Störungen und die amerikanischen Importe von „Dallas“ Gefährdungen, die die Familie erfährt – im- und „Denver Clan“ und etablierte – in An- mer ein Ort der erhofften oder versproche- lehnung an amerikanische Formate – eine nen Harmonie, des friedvollen Miteinanders, neue, personenstarke Großerzählung von der während die Kriminalgeschichte den Kon- bundesdeutschen Gesellschaft. Zwar wurde flikt der Individuen mit den Normen und In- diese in Staffeln produziert, aber mit offenem stitutionen der Gesellschaft zum Thema hat. Ausgang, so wie auch das Leben letztlich nur selten fein abgestimmte, auf Höhepunkte und Das Fernsehen kann von diesen Verschrän- Pointen ausgerichtete Dramaturgien kennt. kungen von Innenwelt und Außenwelt in viel- facher Variation wieder und wieder erzählen, Diese Familiengeschichten der „Linden- weil es als Medium selbst die Verbindung von straße“ bilden in toto eine Art von „Innen- Innerem und Äußerem zum eigenen Thema seite der Gesellschaft“, in ihnen wird Gesell- gemacht hat. Als Öffentlichkeit schaffende schaft in der Form von Beziehungsproblemen Institution ist das Fernsehen in der privaten zur Anschauung gebracht. Das Serienpersonal Welt seiner Zuschauer verankert, verbindet erhebt den Anspruch, einen Querschnitt der somit Innen- und Außensphäre aufs Engste Gesellschaft abzubilden. Nicht nur sind alle und variiert diese Verbindung in zahlreichen Altersgruppen vertreten, Tod und Geburt von Programmformaten. Serienfiguren stehen für den Wandel, auch die

42 APuZ 20/2010 sozialen Schichten werden ebenso wie Rand- Potenzstörungen, gleichgeschlechtlichen Be- gruppen und Minderheiten repräsentiert. ziehungen, Konflikten im Zusammenhang Zwar gibt es – Identifikation stiftend – einige mit Coming-out-Ereignissen, Essstörungen, Kernfamilien vor allem um Helga und Hans extremistischen Neigungen, Drogenabhän- Beimer (gespielt von Marie-Luise Marjan und gigkeit usw. Kein Problem des realen Lebens Joachim Hermann Luger), Gaby und Andy ist den „Lindenstraßen“-Figuren fremd. Ty- Zenker (Andrea Spatzek und Jo Bolling), um pisch für die „Lindenstraße“ ist dabei, dass Momo (Moritz Zielke), Klaus Beimer (Moritz diese Themen nicht nur punktuell ein Mal er- A. Sachs) und andere, doch es ist vor allem die örtert werden, sondern über mehrere Folgen große Gruppe sonstiger Darsteller, die durch hinweg aus unterschiedlichen Perspektiven ihre Vielfältigkeit Alltagsnähe suggeriert. Un- immer wieder angesprochen werden. Für das gefähr fünfzig Schauspieler gelten als Haupt- Publikum sind damit längerfristige Ausein- darsteller, immer wieder kann es deshalb zu andersetzungen mit ihnen möglich. neuen Konstellationen kommen, neue Figu- ren tauchen auf, andere verschwinden für ei- Da die Dramaturgie auf kurze Episoden nige Zeit oder für immer. in jeweils drei Handlungssträngen mit etwa zwanzig Episoden pro Folge aufgebaut ist, „Realitätsnähe“ wird hier zum Markenzei- können auch andere gesellschaftliche Themen chen, wobei diese „Realität“, ihrerseits schon angespielt werden. Pointierte Behandlungen im Vorfeld publizistisch konturiert ist, weil sind vorherrschend. Arbeitssuche ist bei meh- sie in Zeitungen, Zeitschriften und in den In- reren Personen fortgesetztes Thema gewesen; formations- und Ratgebersendungen der Me- Ausbildungsfragen, fehlende Berufschancen dien selbst bereits erörtert wurde. Schnelle und Behinderungen im eigenen Fortkommen Erkennbarkeit ist das Prinzip. Krankheiten bestimmen vielfach das Handeln der jünge- in der „Lindenstraße“ sind die gerade in der ren Figuren; Verschuldungen bei Kredithai- aktuellen öffentlichen Diskussion stehenden en, Probleme mit dem Wohnen und die Ver- Krankheiten: „Benno hat Aids“ wurde zu ei- änderung von Lebensweisen werden immer nem Slogan, der Ende der 1980er Jahre weit wieder gezeigt; vegetarische Ernährung, der über die Sendung hinaus zum Schlagwort Kampf gegen artfremde Tierhaltung, alterna- wurde. HIV-Infektion und Aids-Tod waren tive Energiegewinnung, die Auseinanderset- schon vorher Thema der öffentlichen Debat- zung mit Doping beim Sport, das Problem te gewesen, aber die „Lindenstraße“ popu- der Wehrdienstverweigerung, die Belastun- larisierte das Thema und machte es für brei- gen beim Zivildienst, die Situation junger Sol- te Schichten der Bevölkerung diskutierbar. daten, Fremdenhass und Rechtsradikalismus Letztlich betrieb die „Lindenstraße“ hier sind wiederholt zur Sprache gekommen; auch Aufklärungsarbeit im sozialen Rahmen. militanter Islamismus wurde gezeigt.

Später waren es dann die Alzheimer-Krank- Immer ist bestimmend, dass diese Themen heit (bei der Serienfigur Hubert Koch), Behin- schon im öffentlichen Gespräch sind und derungen (wie die spastische Lähmung von dass sie in der Serie in den menschlichen Be- Christoph Bogner und das Down-Syndrom ziehungen eingebettet sind. Sie werden nicht beim Sohn Martin von Anna Ziegler und Hans allgemein oder journalistisch aufbereitet an- Beimer) oder dann 2009 die Herzkrankheit gesprochen, sondern sie drängen sich in die von Erich Schiller. Es ist dabei ein Kennzei- Welt der Familien und der Lebensbeziehun- chen der Serie, dass die Krankheiten explizit gen hinein, fordern damit die anderen Figu- benannt, die Diagnosen diskutiert und die Fol- ren heraus, sich zu ihnen zu verhalten und gen angesprochen und gezeigt werden. Damit Meinungen zu entwickeln. Auf indirek- werden die Probleme konkret erkennbar und te Weise betreibt die „Lindenstraße“ damit lassen sich von den Zuschauern mit Problemen auch eine Art verdeckter Spezialpädagogik. im eigenen Leben oder im Leben von Freunden Letztlich steckt hinter der Geschichte oft die und Verwandten direkt in Beziehung setzen. untergründige Moral: Man muss über alles sprechen, dann wird alles gut. Ähnlich ist dies bei zahlreichen anderen in der Serie erörterten Problemen wie Ehekrisen, Dass die „Lindenstraße“ ein gesellschaftli- Fragen der Pubertätsbewältigung, schwierige ches Spiegelbild sein will, wird von Fans und Schwangerschaften, Kindesmisshandlungen, Kritikern auch darin gesehen, dass bei be-

APuZ 20/2010 43 stimmten vorhersehbaren gesellschaftlichen Regionalität der Verbrechen – „Tatort“ Ereignissen die Figuren auch direkt zu den re- alen Ereignissen Stellung nehmen. Hier wird Die zweite große Form, in der sich Gesellschaft gelegentlich eine sehr enge Verknüpfung von im deutschen Fernsehen darstellt, ist der „Tat- realen Geschehnissen und Seriengeschichten ort“. Hier wird Gesellschaft als Konfliktfall hergestellt. Prominentestes Beispiel dafür sind zwischen den Individuen und den Normen der die Bundestagswahlen, bei denen oft direkte Gesellschaft vorgeführt. Das Schema ist in al- Einspielungen eingebaut werden und die Fi- len Folgen weitgehend gleich, wie bei fast allen guren diese kommentieren, wobei oft mehrere Fernsehkrimis: Am Anfang steht ein Verbre- Versionen der Sequenz vorproduziert wurden. chen, zumeist ein Mordfall („Tatort“-Regel: Direkte Verknüpfungen bestehen auch, wenn Der Mord muss innerhalb der ersten zehn Mi- zum Beispiel die Serienfiguren Hajo Scholz nuten geschehen), weil dieser die Normverlet- (Knut Hinz) und Andy Zenker (Jo Bolling) in zung schlechthin darstellt. Dieses Verbrechen der „Lindenstraße“ für „Strom ohne Atom“ fordert das Eingreifen der für Ordnung und werben und darüber hinaus in der Wirklich- Sicherheit sorgenden Institutionen heraus. Die keit außerhalb des Fernsehens eine Homepage Akteure der Aufklärung, der Detektion, kom- besteht, auf der direkt für einen Stromanbie- men dem Täter auf die Spur und stellen ihn, terwechsel geworben wird. so dass die am Anfang gestörte Ordnung am Ende wieder hergestellt wird. Die „Lindenstraße“ will nicht nur Gesell- schaft abbilden, sondern sie zumindest in ei- Auch der „Tatort“ hat eine Vorgeschichte. nigen Dingen auch beeinflussen und verän- Nach der lang laufenden Präventionsserie „Der dern. Dies führt oft zu erregten öffentlichen Polizeibericht“ vom NWDR entwickelten der Debatten, von den Serienmachern nicht ganz Drehbuchautor Wolfgang Menge und der Re- ungewollt, aber in ihrer konkreten Erschei- gisseur Jürgen Roland daraus 1958 die Se- nung nicht immer vorausgesehen. Etwa als rie „Stahlnetz“ (1958–1968), von der Struktur die „Lindenstraßen“-Figur Chris Barnsteg her ähnlich dem „Tatort“: wechselnde Kom- (Stefanie Mühle) 1988 den damaligen CSU- missare an wechselnden Handlungsorten, im- Staatssekretär Peter Gauweiler als „Faschis- mer aber in der Bundesrepublik, an Orten, die ten“ bezeichnete, weil dieser eine Ghettoisie- der Zuschauer kennen konnte und die er dann rung Aids-Kranker gefordert hatte. Gauweiler auch wiedererkannte. Von „Stahlnetz“ wurden reagierte mit einer ­Verleumdungsklage. 22 Folgen produziert. Die Verankerung der Fälle im Hier und Jetzt Deutschlands war neu, So offensichtlich bei solchen Verknüpfun- die zuvor gezeigten Krimi-Mehrteiler, zumeist gen der Bezug zur Wirklichkeit ist, wichtiger von Francis Durbridge, spielten immer in Eng- ist die Beschäftigung mit den längerfristigen land, obwohl sie in Deutschland und mit deut- Themen und Debatten der Gesellschaft, weil schen Schauspielern produziert wurden. hier unterschiedliche Perspektiven und Reak- tionsweisen vorgeführt werden können. Da- Zwei Jahre nach dem Ende von „Stahlnetz“ mit gelingt es stärker, Positionsvielfalt sicht- entstand die „Tatort“-Reihe. Angeblich soll bar zu machen und die Zuschauer anzuregen, Gunter Witte, Redakteur beim Westdeutschen selbst zu einer eigenen Haltung zu finden. Rundfunk (WDR), mehrere als Einzelsendun- gen produzierte Kriminalfilme – als Antwort Die Bezüge zu der gesellschaftlichen Re- auf die erfolgreiche ZDF-Serie „Der Kommis- alität der Bundesrepublik sind in der „Lin- sar“ – unter dem Reihentitel „Tatort“ und mit denstraße“ so plakativ, dass man sich fragen einem gemeinsamen Vorspann zusammenge- kann, ob dies nicht doch letztlich immer eine bunden haben. Bis Ende April 2010 wurden 762 Medienwirklichkeit ist, auf die hier Bezug Folgen produziert und mehrfach (im Ersten wie genommen wird. Denn die Form der kur- in allen Dritten Programmen) ausgestrahlt. zen Handlungseinheiten, in denen sich hier Geschichten entwickeln, lässt tiefer gehende Der „Tatort“ ist inzwischen zur langlebigs- Überlegungen nicht wirklich zu. Irritierende ten und erfolgreichsten deutschen Krimiserie Fremdheiten, unerwartete Situationen, län- geworden. Sie hat den Föderalismus der ARD gere Beobachtungen sind in der Dramaturgie (und auch der Bundesrepublik) zum eigenen nicht möglich, alles muss rasch auf eine Poin- Strukturprinzip erhoben: Von den einzelnen te, eine Zuspitzung hinauslaufen. ARD-Anstalten werden mit jeweils eigenen

44 APuZ 20/2010 Kommissaren und an Handlungsorten der Fernsehen (ORF) bis 2001 mit 13 Folgen betei- jeweiligen Bundesländer Kriminalgeschich- ligt und will ab Herbst 2010 auch wieder neue ten produziert, die dann gemeinsam auf dem Folgen produzieren, doch der Gesamteindruck Sonntagabend-Serienplatz gezeigt werden (in ist, dass hauptsächlich die Regionen Deutsch- der Anfangszeit nur einmal im Monat). Regi- lands das Bild des „Tatort“ ­bestimmen. onalität und ein hoher Aufwand an Inszenie- rungsleistungen (jede Folge hat Spielfilmlän- Dabei werden nicht nur Großstädte wie ge) unterstreichen den Anspruch, bundesweit Hamburg, München, Köln oder Berlin, son- von der Wirklichkeit der Bundesrepublik im dern auch ländliche Regionen zu Handlungs- Genre des Krimis zu erzählen. orten. Legendär sind etwa die frühen „Tatort“- Folgen mit dem Kommissar Finke (Klaus Von Folge zu Folge sorgen wechselnde Re- Schwarzkopf), die in Schleswig-Holstein gisseure und Autoren für unterschiedliche spielten. Dem „Tatort“ ist es immer wieder ge- Handschriften – ein deutliches Gegenkon- lungen, Ortsspezifik mit prägnanten Ermitt- zept etwa zum ZDF-„Kommissar“, dessen lerfiguren zu kombinieren: den Kommissar Drehbücher alle der Krimi-Routinier Her- Haferkamp (Hansjörg Felmy) mit Essen, Bien­ bert Reinecker verfasste und die alle in Mün- zle (Dietz-Werner Steck) mit Stuttgart, dann chen spielten. Diese Vielfältigkeit der Kom- auch Ermittlerpaare wie Schimanski/­Thanner missare, der Orte, des Geschehens beugt dem (Götz George/Eberhard Feik) mit Duisburg, Verschleiß der Serie vor, so dass der „Tat- Brockmöller/Stoever (Charles ­Brauer/Man- ort“ seine Konkurrenten (zum Beispiel den fred Krug) mit Hamburg, Ehrlicher/Kain (Pe- „Kommissar“) um ein Vielfaches überlebt ter Sodann/Bernd Michael Lade) mit Leipzig, hat. In der Vielfalt der Regionen liegt das Er- Odenthal/Kopper (Ulrike Folkerts/­Andreas folgskonzept, und der „Tatort“-Verantwortli- Hoppe) mit Ludwigshafen oder Ball­auf/ che beim Südwestrundfunk (SWR), Manfred Schenk (Klaus J. Behrendt/Dietmar Bär) mit Hattendorf, stellte kürzlich fest: „Der ‚Tat- Köln, um nur einige zu nennen. ort‘ will nach wie vor regional bleiben.“ ❙2 Gesellschaftskritische Sujets haben den Programmatisch war schon die erste Fol- „Tatort“ von Beginn an bestimmt. Die Trim- ge („Taxi nach Leipzig“), die am 29. Novem- mel-„Tatorte“ des NDR der ersten Jahre ber 1970 ausgestrahlt wurde: eine Geschichte beispielsweise beschäftigen sich mit paläs- mit dem sich proletarisch gebenden Kommis- tinensischen Attentaten und Flugzeugent- sar Trimmel (Walter Richter), der ein Ost- führungen, mit Organhandel per Computer, West-Verbrechen, Kindestausch und Tod Bundesligaskandalen, illegaler Giftentsor- eines kranken Jungen, aufklärte. Die Ermitt- gung und anderem mehr, und oft folgen diese lung spielte über die innerdeutsche Grenze Filme den realen Skandalen (so etwa der Kri- hinweg, brachte damit die deutsch-deutsche mi „Platzverweis für Trimmel“, der 1973 dem Wirklichkeit in die Geschichte ein. Program- realen Bundesligaskandal von 1970/71 folgte) matisch war auch der Schluss der Folge, bei und gewinnen so noch eine zusätzliche Ver- dem der Täter zwar gestellt wird, Trimmel stärkung ihres Realitätsbezugs. aber auf Strafverfolgung verzichtet, weil der Täter genug am Tod seines eigenen Sohns zu Die Kriminalgeschichten spielen sowohl in tragen hat. Das traditionelle Whodunnit des Wirtschafts- und Finanzmilieus und eleganten Krimis wurde bereits in der ersten Folge ab- Bankiersvillen als auch in Kleinkriminellen- gewandelt und damit der Realitätseindruck milieus und Hinterhöfen. Sie steigen in Mi­gra­ der Darstellung zusätzlich erhöht. tions­welten ein und erkunden Arbeiter- und Unterschichtenverhältnisse ebenso wie zerrüt- Auch die Handlungsorte stehen mit ihren tete Familiengeschichten hinter bürgerlichen regionalen Bezügen und ihren lokalen Er- Fassaden. Deutlicher als Kriminalserien zuvor kennbarkeiten für die bundesdeutsche Ge- wird die bundesdeutsche Gesellschaft als eine sellschaft. Zwar war auch das Österreichische Gesellschaft unterschiedlicher Schichten und Klassen dargestellt, und häufig kommt es zu Konflikten zwischen den Vertretern der ver- ❙2 Dieter Oßwald, Interview mit Manfred Hatten­ dorf, Januar 2009, online: www.tatort-fundus.de/ ­w e b / ­ schiedenen Schichten. Oft steigt der Zuschauer zeugen/ard-verantwortliche/hattendorf-​20090304.​ mit den Kommissaren – und zunehmend auch html (19. 4. 2010). den Kommissarinnen – in die auch diesen bis

APuZ 20/2010 45 dahin wenig vertrauten Milieus, lernt diese als und es ist deshalb kein Zufall, dass sie nun ge- soziale Wirklichkeiten kennen und kann sich legentlich auch selbst ins Fadenkreuz der Er- auf diese Weise ein Bild von der sozialen Ge- mittlung geraten (so geschehen bei ­Ballauf in stalt der Bundesrepublik machen. „Klassentreffen“, 2010). Der klassische Polizei- krimi wird hier zum Thriller. Dass die „Tatorte“ die bundesdeutsche Re- alität abbilden, ist seit den 1970er Jahren Kon- sens unter den Zuschauern und Kritikern, Institutionen der Gesellschaftsbilder auch wenn sich die Filme selbst in der fast vierzigjährigen Laufzeit der Reihe verändert „Über viele Jahre hinweg werden beim ‚Tat- haben. Wiederholt hat es öffentliche Erregung ort‘ kontinuierlich Höchstleistungen er- darüber gegeben, dass sich einzelne Personen- bracht“ stellte der „Tatort“-Koordinator gruppen durch die – letztlich immer fiktionale Gebhard Henke in einem Interview fest ❙3 und Darstellung – diskriminiert fühlten, seien es begründete damit nebenbei, dass gerade die Zahnärzte oder Polizisten oder andere gesell- Kontinuität in Verbindung mit dem Variati- schaftliche Gruppen. Die Fiktion wird hier onsreichtum der Folgen den „Tatort“ zu einer als dokumentarische Darstellung verstan- Institution der gesellschaftlichen Selbstdar- den – ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr stellung gemacht hat. Der „Tatort“ wie auch die Kriminalfilme des „Tatort“ als Abbild der die „Lindenstraße“ liefern permanent verläss- Gesellschaft und ihrer Teile gesehen werden. liche Bilder von der bundesdeutschen Gesell- schaft, die inzwischen längst ihre Standards Die großen aktuellen Konflikte der 1970er haben und damit Maßstäbe für andere ge- Jahre, wie Giftmüll-, Psychiatrie- und Bun- schaffen haben – Bilder, die fiktional aufberei- desligaskandale, sind anderen Konflikten im tet, zugespitzt, überhöht sind. Gerade deshalb Bereich der Wirtschaftskriminalität oder auch sind sie mehr als nur eine bloße Wiedergabe lokalen Auseinandersetzungen im Jugendbe- von Oberflächen. Sie liefern Deutungsmus- reich gewichen, die oft in neuer Weise für all- ter, wie diese bundesdeutsche Wirklichkeit zu gemeine gesellschaftliche Kontroversen ste- verstehen ist, was im Hintergrund passiert – hen. Dabei wird oft mit den Vorurteilen der oder doch zumindest passieren kann. Zuschauer über bestimmte Milieus gespielt: Die Täter sind zumeist doch ganz woanders Die lange Präsenz macht beide Serien zu do- zu suchen als es zunächst den Anschein hat. minanten Bildagenturen der bundesdeutschen Wirklichkeit, und wir lernen aus ihrem Mate- Der gesellschaftliche Wandel lässt sich be- rial auf vielfältige Weise: in der „Lindenstra- sonders gut an den Ermittlerfiguren und ihren ße“, wie unterschiedlich und variationsreich Veränderungen erkennen. Sie stehen auch für die Beziehungsverhältnisse längst geworden die gesellschaftlich zulässigen Geschlechter- sind – und dass wir sie zu tolerieren haben, rollen, demonstrieren deren Bewertungswan- weil es die Norm, wie Beziehungen zu sein del. Nicht nur sind mit den Kommissarinnen haben, nicht mehr gibt. Im „Tatort“, dass wir Buchmüller (Nicole Heesters), Lena Odenthal dem schönen Oberflächenschein zu misstrau- (Ulrike Folkerts) und Charlotte Lindholm en haben, dass den Verhältnissen in der Wirk- (Maria Furtwängler) zunehmend auch Frauen lichkeit kritisch zu begegnen ist. Die Krimis als Ermittlerinnen tätig – und zeigen auch ganz etablieren eine „Verdachtskultur“, die der De- anderen Vorgehensweisen als die patriarchalen mokratie und einem gesunden Misstrauen ge- Ermittler der Anfangszeit –, es wurden auch genüber den Entscheidungen der Mächtigen verstärkt Ermittlerpaare eingesetzt, so dass hier nur zugutekommt. Im „Tatort“ erkennen wir unterschiedliche Charaktereigenschaften mit- die Realität der Bundesrepublik wieder, wie einander und gegeneinander eingesetzt werden sie ist, wie sie sein könnte und vor allem, wie können. Das geht bis zu parodistischen For- disparat und vielfältig sie sich entwickelt. men wie bei dem Münsteraner Ermittlerpaar des Kommissars Frank Thiel und des Rechts- 3 mediziners Jan Friedrich Boerne (Axel Prahl ❙ Zit. nach: Eric Leimann, Interview mit Gebhard und Jan Josef Liefers), die fast schon den Fokus Henke, ­April 2008, online: www.tatort-fundus.de/ web/zeugen/ard-verantwortliche/henke-gebhard- des Krimis von den Tätern auf die Ermittler tatort-koordinator.html (19. 4. 2010). verlegen. Gleichviel – die Serienprotagonisten werden dadurch menschlicher, lebensnäher,

46 APuZ 20/2010 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86 53113 Bonn

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Dietrich Schwarzkopf 3–6 Die ARD – Begleiterin deutscher Zeitgeschichte An einigen herausragenden Beispielen wird gezeigt, welche Rolle die ARD in den 60 Jahren ihres Bestehens als Begleiterin gespielt hat: Wiedervereinigung, Umgang mit der NS-Vergangenheit, Europa, 1968, Terrorismus, duales Rundfunksystem.

Diemut Roether 7–13 Spannungsverhältnisse – eine kritische Würdigung der ARD Die aktuellen Debatten um die ARD drehen sich unter anderem um die Schlag- worte Qualitätsprogramm versus Quotendruck, Selbstkontrolle, politische Un- abhängigkeit, Rundfunkgebühren und Ausbreitung ins Internet.

Konrad Dussel 14–22 Entstehung und Entwicklung einer Gemeinschaft Entstanden als Zusammenschluss einiger Radiomonopolisten, hatte sich die ARD zunächst nur mit Gegnern in der Politik auseinanderzusetzen. Nach 60 Jahren sind die Hauptgegner heute die konkurrierenden privaten Fernsehveranstalter.

Gemma Pörzgen 22–28 Die Welt im Blick: ARD-Auslandskorrespondenten Die Auslandskorrespondenten sind ein wichtiges Aushängeschild für die ARD. Angesichts der massiven Kürzungen in der Auslandsberichterstattung bei den Printmedien wird ihre Bedeutung in Zukunft noch wachsen.

Michael Meyen 28–34 Die ARD in der DDR Die Wirkung der ARD auf die DDR-Bevölkerung wird heute gern überschätzt. Viele DDR-Bürger schalteten ihren Fernseher nicht ein, um an Informationen aus der „freien Welt“ zu kommen, sondern schlicht, um sich unterhalten zu lassen.

Hans-Jürgen Krug 35–41 Von der Vielstimmigkeit zur Marke: 60 Jahre ARD-Hörfunk Aus dem lockeren Zusammenschluss regionaler Hörfunkanbieter ist inzwischen ein fest kooperierender Verband geworden. Unter dem gemeinsamen „ARD- ­Label“ sind mittlerweile mehr als fünfzig Radioprogramme vereint.

Knut Hickethier 41–46 „Tatort“ und „Lindenstraße“ als Spiegel der Gesellschaft Seit 40 bzw. 25 Jahren liefern „Tatort“ und „Lindenstraße“ Bilder von der deut- schen Gesellschaft. Zwar sind diese fiktional aufbereitet, aber gerade deshalb sind sie in der Lage, Deutungsmuster zu bieten, wie die Wirklichkeit zu verstehen ist.