Ausgabe Zürich

Nr. 75 März 2009 | 7. Jahrgang

eensuitekulturmagazinnsuite

Charlie Winston Weder Chaplin noch Churchill Seite 6 Homestory Mit Strawinsky auf der Couch Seite 12 Der dritte Sinn Lyrik eines Secondos Seite 28 MANOU GALLO BAND AFRO-GROOVE al üih irBern. Hier Zürich. Hallo Wir dasMuseumfürKommunikation. Ihr habtdasMuseumfürGestaltung. evtatas 63005Bern Helvetiastrasse 16 Museum fürKommunikation

www.mfk.ch

Dienstag bisSonntag10

Disco-Bar-Shakira 22. März 2009 22. März im NationalBern

bis 17 20.00 Uhr CHF 20.- Uhr

TRACEY EMIN ATELIERS - CINÉMA - CONCERTS - CONCOURS - CONFÉRENCES - EXPOSITIONS - LECTURES - RENCONTRES - THÉÂTRE ieoi 2* CineMovie 20h30 20.03.09, 1* CineMovie 20h30 19.03.09, 1* CineMovie 18h30 19.03.09, CineClub* 18.03.09, 18h30 CineClub* 17.03.09, 18h30 12.– CHF 1 CineMovie 20h30 16.03.09, Filmfest der Frankophonie der Filmfest Quinnie Cinemas–Berne Kunstmu ERÖFFNUNG: MITTWOCH, 18.3.2009, 18H30 www.quinnie.ch npéec el rdcrc / productrice la de présence en Mobile, Wapikoni (Bulgarie/France) voir Popzlatev nous Peter venu est Dieu Même (Luxembourg/Suisse) Borgeaud Pierre-Yves Gorée à Retour (Tchad/France/Belgique/Autriche) Saleh-Haroun Mahamet Daratt (France) Benchetrit Samuel J’ai toujoursrêvéd’êtreungangster / réalisatrice la de présence en Home e Produzentin der e Regisseurin der nrelbe/ libre Entrée * Öffnungszeiten: Di10h–21h |Mi– So 10h–17h T +41313280944|www.kunstmuseumbern.ch ao aba (Canada) Barbeau Manon ruaMir(Suisse/Belgique/France) Meier Ursula Hodlerstras ititfrei Eintritt 19.3. –21.6.2009 seum Bern orsmtae autochtones, métrages courts se 8 se 8 – 12 |CH-3000Bern7 nAnwesenheit in nAnwesenheit in 20 YEARS © 2008 Sadie Benning © Scott Douglas, 2008 Titelseite und Bild links: 21. März im moods / 22.00 h, anlässlich der INHALT «nuit francopholle»: Manou Gallo (Zap Mama)

BÜHNE tanz der gegenwart: folge VI 15 | wenn feen nä- hen - kleine wesen aus fantasia 18

CINÉMA confessions of a shopaholic 23 | «hallo, schönen ENSUITE IM MÄRZ guten tag» 24 | the duchess 25 KULTUR & GESELLSCHAFT ■ Jugendliche wurden vor zwanzig Jahren mit französisch, frankophonie, frankophilie feiern 4 | bösen Blicken bestraft, wenn sie mit dem Walkman von menschen und medien / fauser cartoon 21 | Impressum in den Strassen walkten. Gehörschäden und Ent- insomnia 23 | tratschundlaber 25 | willkommen sozialisierung fl uchte man ihnen hinterher. Heute im wunderland 27 | senioren im web 32 | kuba - Herausgeber:Herau Verein WE ARE, Bern Redaktion: Lukas Vogel- läuft fast jeder und jede mit irgendwelchen Stöp- teil 3 32 | für die katz 33 | wer, über längere zeit sang (v(vl); Anna Vershinova (av) // Robert Alther, Jasmin Amsler, PeterPeter J.J Betts (pjb), Simon Chen, Luca D‘Alessandro (ld), Sonja seln in den Ohren in den Strassen und kein Mensch betrachtet 34 | westside - auch eine museums- Gasser,Gasser Sabine Gysi, Isabelle Haklar, Bettina Hersberger, Till sagt etwas. Im Gegenteil, es gehört zum guten destination 36 HillbrechtHillbre (th), Sonja Hugentobler-Zurfl üh (sh), Hannes Liechti Ton. (hl),(hl), AndyA Limacher (al), Irina Mahlstein, Monique Meyer (mm), EvaEva PPfifi rter (ep), Tatjana Rüegsegger, Barbara Roelli, Rebecca Täglich lesen wir über Raser und die bösen Ju- LIFESTYLE Panian,Panian Monika Schäfer (ms), Anne-Sophie Scholl (ass), Chri- gendlichen, die viel zu schnell mit dem Auto un- gewissens-bisse 19 stophstoph Simon, Kristina Soldati (kso), Tabea Steiner (ts), Antonio terwegs sind. Wir fordern mehr Gesetze und sind SuárezSuárez Varela (asv), Willy Vogelsang, Simone Wahli (sw), Konrad Weber,Weber, Sonja Wenger (sjw), Gabriela Wild (gw), Katja Zellweger, streng, wenn wir einen Raser erwischen. Doch LITERATUR UeliUeli ZZingg Cartoon: Bruno Fauser, Bern; Telefon 031 312 64 auf der Autobahn werde ich wesentlich häufi ger lesezeit 30 | literaturfestival 26 | «ich habe die 76 Kulturagenda:Ku kulturagenda.ch; ensuite - kulturmagazin, von älteren Mercedesfahrern, Luxuskarossen und musen nie gesehen» 28 | baumann, hemon, von allevents,alleven Biel; Abteilung für Kulturelles Biel, Abteilung für Kul- turellesturelle Thun, interwerk gmbh. Korrektorat: Lukas Ramseyer, Schickimicki-Offroadern überholt. Die meisten matt 30 | die wunder im selbstverständlichen 31 | MoniqueMoniqu Meyer FahrerInnen sind über 45 Jahre alt. Und irgendwie fi losofenecke 31 sagt niemand was – gehört wohl auch zum guten Abonnemente:Abonn 77 Franken für ein Jahr / 11 Ausgaben, inkl. arten- Ton. MUSIK suitesuite (Kunstbeilage)( Abodienst: 031 318 60 50 Die halbe Welt kreischt wegen der UBS, bösen «ich produziere keine eintagsfliegen» 6 | die zar- ensuiteensuit – kulturmagazin erscheint monatlich. Aufl age: 20‘000 Bankern und den Superreichen. Alle diese «Bö- ten saiten eines virtuosen 9 | schuhe im gespräch Gesam Gesamtaufl age 30‘000 (Bern und Zürich) sewichte» sind meistens älteren Datums. Unsere 10 | die berliner philharmonie in der eigenen stu-

Anzeigenverkauf:Anzeig [email protected] Layout: interwerk gmbh: Vorgeneration, auch Vorbilder genannt. Und wäh- be 12 | das inspirative moment 13 LukasLukas Vogelsang Produktion & Druckvorstufe: interwerk gmbh, rend die Welt schreit, gehen wir im billigsten La- Druck:D Vertrieb: BernBern Fischer AG für Data und Print Gratisaufl a- den einkaufen und versuchen unseren Luxus zum KULTURAGENDA ge / ALIVEA Medien AG, 044 272 79 00 und Abonnemente Web: interwerkinterw gmbh Schnäppchenpreis zu ergattern. Ich weiss nicht, kulturagenda bern 37 gehört das auch zum guten Ton? Hinweise für redaktionelle Themen (nicht Agendaeinträge!) Bundesräte gehören abgewählt, PolitikerIn- erwünscht bis zum 11. des Vormonates. Über die Publikation entscheidet die Redaktion. Bildmaterial digital oder im Original nen sind allesamt unfähig, die Bürger wissen alles senden. Wir senden kein Material zurück. Es besteht keine Pu- besser – sagt man. Doch keine einzige Partei noch blikationspfl icht. sonst irgendwelche HeldInnen können wir präsen-

Agendahinweise bis spätestens am 18. des Vormonates über un- tieren, die irgendeine bessere und funktionierende sere Webseiten eingeben. Redaktionsschluss der Ausgabe ist Idee hätten. Daran leiden vor allem die Parteien jeweils am 18. des Vormonates. (siehe www.kulturagenda.ch) und Medien - die grössten Schreihälse. Aber Rück-

Die Redaktion ensuite - kulturmagazin ist politisch, wirtschaft- tritte zu fordern gehört zum richtig guten Ton. lich und ethisch unabhängig und selbständig. Die Texte repräsen- Wahrscheinlich gehört es einfach zum guten Mit Dank für die fi nanzielle Unterstützung: tieren die Meinungen der Autoren/innen, nicht jene der Redaktion. Ton, dass man wenigstens einen Grund nennen Copyrights für alle Informationen und Bilder liegen beim Ver- kann, wenn man schreit. Wir schreien aber, weil ein WE ARE in Bern und der edition ■ ensuite. wir nicht zufrieden sind mit dem, was wir erschaf- fen haben. Wir schreien also wegen uns selbst. Ist Redaktionsadresse: das nicht eine erschreckende Feststellung? Zum ensuite – kulturmagazin Schreien. Sandrainstrasse 3 Daneben haben wir endlich wieder mal einen CH-3007 Bern Telefon 031 318 6050 wunderschönen, schneereichen Winter gehabt E-Mail: [email protected] und schon bald erwacht der Frühling. Die ersten Singboten sind schon da. Sie schreien nicht. Ich freue mich. Lukas Vogelsang www.ensuite.ch Chefredaktor

ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 3 KKulturultur & GGesellschaftesellschaft

FESTIVAL französisch, frankophonie, frankophilie feiern Von Barbara Neugel Bild: Manou Gallo / zVg. ■ Frankophonie bedeutet nach «Duden: Das Fremd- die meisten diplomatischen Vertretungen zu fi nden Kinos der Stadt Bern statt. Es werden Filme aus wörterbuch»: Französischsprachigkeit. Ein Franko- sind, wird schon seit einigen Jahren Frankopho- verschiedenen Ländern sowie Gemeinschaftspro- phoner ist demnach «jemand, der Französisch (als nie im grösseren Rahmen gefeiert, und zwar zum duktionen gezeigt, die sich mit vielfältigen Themen seine Muttersprache) spricht». Und Frankophilie ist «Journée internationale de la Francophonie» am auseinandersetzen. Zwei Rosinen seien an dieser «die Vorliebe für Frankreich, seine Bewohner und 20. März. In diesem Jahr treffen sich die Franko- Stelle herausgepickt: Am 16. März steht «Home» seine Kultur». Alles nach Dudens Fremdwörterbuch. phonen und die Frankophilen der Schweiz und von auf dem Programm, der Spielfi lm, der in den Medi- Französisch ist eine der vier Landessprachen der anderswo zur «14e semaine de la langue française en als bester Schweizer Film seit langem bezeichnet Schweiz und dazu zweite Amtssprache des Kantons et de la francophonie». Diese Woche fi ndet vom 14. wird, in der Westschweiz sehr erfolgreich in den Ki- Bern. Die Schweiz und der Kanton Bern pfl egen bis 22. März 2009 in Bern statt. Das Eidgenössische nos angelaufen und in Bern vor kurzem in die Kinos bewusst die Mehrsprachigkeit. Französisch ist eine Departement für Auswärtige Angelegenheiten, die gekommen ist. Ursula Meier, die den Film realisiert wichtige Sprache. Und dies nicht nur in der Schweiz. ständige Vertretung der Organisation de la Franco- hat, wird anlässlich der Aufführung anwesend sein Auch in Kanada, Afrika, den USA (beispielsweise im phonie bei den Vereinten Nationen, die Botschaften (Reservation nötig). Ein weiterer Höhepunkt ist am Gebiet um Louisiana), in Belgien/Wallonien, Lu- von Monaco, Frankreich, Kanada, Luxemburg, Bul- 20. März die Aufführung von «Wapikoni Mobile», xemburg, im Fürstentum Monaco wird französisch garien und des Tschad sowie die Délégation Wallo- einem kanadischen Kurzfi lm, der von Manon Bar- gesprochen und selbstverständlich in Frankreich. nie-Bruxelles haben gemeinsam ein Programm ge- beau produziert worden ist. Auch Manon Barbeau Allerdings ist in jedem Land die Problematik der staltet, in dem frankophones Kino und frankophone wird am Vorführungsabend anwesend sein und Zwei- oder Mehrsprachigkeit eine andere. In Kana- Musik zu Ehren kommen. Den Veranstaltenden ist es über die Entstehung des Films erzählen. Und am da beispielsweise wird nicht nur in der Provinz Que- ein Anliegen, das Interesse an Französisch als Welt- 22. März fi ndet das Konzert von Manou Gallo statt. bec französisch gesprochen, sondern auch in ande- sprache zu pfl egen, selbst – wie im Fall von Bulgari- Die Sängerin führt afrikanische Polyrhythmen mit ren Provinzen wie zum Beispiel Manitoba, was – wie en – wenn Französisch nicht Landessprache ist. Sie Blues, Funk, Groove und Rock zusammen. Manou auch in den USA – auf ehemals französische Koloni- betonen die Wichtigkeit der Sprache, gerade auch Gallo kommt von der Elfenbeinküste und war Bas- en zurückgeht. Französisch ist die Sprache der Dip- im Hinblick auf die Ausdehnung des Gebrauchs der sistin der Gruppe Zap Mama. Sie singt von Afrika, lomatie, und damit ist sie länderübergreifend, wird englischen Sprache, gewissermassen als Gegensatz der Elfenbeinküste, von Städten und über Frauen, gewissermassen Weltsprache, lingua franca. zu Englisch. Und nicht vergessen werden darf die ihre Leiden und Freuden. Dies sind einige der Gründe, um die französische gegenseitige Kontaktpfl ege. Die Frankophonen und Frankophilen aus Stadt, Re- Sprache und damit die Frankophonie zu pfl egen. Unter dem Motto «Des mots pour demain» ist ein gion, aus der Schweiz und von anderswo dürfen sich Dazu kommen das reine Interesse an der Sprache Programm mit Filmen, Konzerten, Cafés littéraires, auf eine vielfältige und spannende Woche freuen. selber und das Interesse, Kontakte zu Organisatio- Ateliers, Lesungen und Wettbewerben zusammen- nen zu pfl egen, die sich mit Frankophonie beschäf- gestellt worden. Ein Mini-Festival von frankophonen tigen. In Bern, der Hauptstadt unseres Landes, wo Filmen fi ndet vom 16. bis 22. März in verschiedenen

4 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 Monatsverlosung

MINI-FESTIVAL DE FILMS DE LA FRANCOPHONIE

Lundi, 16.03.09 / 20:30h, CinéMovie 1 Home (Suisse/Belgique/France) Long métrage projeté en présence de la réalisatri- ce Ursula Meier, 2008, 97 min., VF s-t. all.

Mardi, 17.03.09 / 18:30h, CinéClub J’ai toujours rêvé d’être un gangster (France) Long métrage de Samuel Benchetrit, 2007, 108min, VF, 35mm.

Mercredi, 18.03.09 / 18:30h, CinéClub Daratt (Tchad/France/Belgique/Autriche) Long métrage de Mahamet-Saleh Haroun, 2006, ensuite – kulturmagazin verlost Disney-DVDs von 95min, VO s-t. fr/all., 35mm. PINOCCHIO Jeudi, 19.03.09 / 18:30h, CinéMovie 1 Retour à Gorée (Luxembourg/Suisse) ■ Keine Disney-Figur ist momentan origineller und präsenter denn je: Pinocchio. Den Lang- Long métrage de Pierre-Yves Borgeaud, 2007, 110 nasen der Banken haben wir diese Popularität zu verdanken und natürlich der restaurierten min, VO s-t. fr/ang/all, 35 mm. Fassung von Pinocchio von Walt Disney. Der kleine Holzkasperl wird nämlich siebzig Jahre alt. Zu diesem Revival erscheint jetzt die 2-Disc Platinum Edition und auch die Blue-ray-Version. Jeudi, 19.03.09 / 20:30h, CinéMovie 1 Statt «Klonen» oder künstlich zu befruchten dachte vor vielen Jahren der alte Holzschnitzer Même Dieu est venu nous voir (Bulgarie/France) Geppetto, dass mit einem geschnitzten Jungen sein Kinderwunsch Long métrage de Peter Popzlatev, 2003, 120min, auch in Erfüllung gehen könnte. Gut gedacht, denn die Phantasie VO s-t. fr, 35mm. ist immer noch die stärkste Kraft auf diesem Planeten, und so kam der kleine Pinocchio auf die Welt. So oder so ähnlich muss sich das Vendredi, 20.03.09 / 20:30h, CinéMovie 2 zugetragen haben. Oder wissen Sie, liebe LeserInnen, noch genau, Wapikoni Mobile (Canada) wie sich die Geschichte zugespielt hat? Wir lüften den Nebel mit Courts métrages des premières nations canadi- unserer Superverlosung! ennes, en présence de la productrice Manon Bar- Teilnahmebedingungen: Einfach den untenstehenden Talon per Post an die Redak- beau. tionsadresse einsenden. Einsendeschluss ist 31. März 2009. Pro Teilnehmer gilt nur ein Talon. Nicht teilnahmeberechtigt sind VerlagsmitarbeiterInnen, Redaktionsmit-

glieder von ensuite – kulturmagazin oder der interwerk GmbH und deren Angehörige.

Concert de Manou Gallo Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Dimanche, 22 mars 2009 à 20h00 ✂ Disco Bar Shakira; Maulbeerstrasse 3; 3011 Berne Einsendeschluss ist der 31. März 2009!

Réservations : 031 381 77 67 Ich nehme an der DVD-Verlosung teil:

Organisation: Herr / Frau • Département fédéral des affaires étrangères / Service de la Francophonie, Vorname • Organisation internationale de la Francophonie, Ambassade de la Principauté de Monaco,

• Ambassade de France, Délégation Wallonie-Bru- ANKER Adresse xelles. PLZ / Ort Filmprogramm: www.quinnie.ch E-Mail (!) (...oder Telefon!) Unter dem Titel «14e Semaine de la langue fran- B TALON: çaise et de la fancophonie» fi nden in der ganzen Unterschrift Schweiz Anlässe statt. Info: www.slff.ch

Konzert Manou Gallo in Zürich: Ausschneiden und einsenden an: Samstag, 21. März / 20:30h ensuite - kulturmagazin | Sandrainstrasse 3 | 3007 Bern ZH ensuite moods im Schiffbau ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 5 MMusikusik

SONGWRITING «ich produziere keine eintagsfl iegen» Interview: Luca D’Alessandro Bild: zVg. / Atmosphériques

■ «Auf enge musikalische Korsette stehe ich Charlie Winston: Ja, das stimmt. Es bietet aber neu. Dieses Motiv habe ich in meine Lieder ge- nicht», sagte der modebewusste Songwriter Charlie noch viel mehr: Alles, was in irgendeiner Weise streut. Ich erkenne in der Lebensart eines Hobos Winston gegenüber den Journalisten anlässlich wertvoll ist und mein Ohr betört, hat mich bei jenes Leben, das ich in den vergangenen Jahren seines Promotionsaufenthaltes im Februar in Zü- der Produktion des Albums inspiriert. Deshalb ist selber geführt habe. Die Art, wie ich als Musiker rich. Dass an dieser Aussage tatsächlich etwas «Hobo» so reichhaltig und stilmässig schwer ein- umherzog und Geld verdiente, hatte eine gewisse dran ist, belegt sein Erstlingswerk «Hobo», das auf zuordnen. Ähnlichkeit mit dem Alltag eines Hobos. Trotzdem den ersten Blick den Anschein eines klassischen Würdest du dich als zeitlos bezeichnen? würde ich mich selbst nicht als solcher bezeich- Songwriter-Albums macht. Beim Anhören wird Jeder Künstler versucht, das zu tun, was er am nen: Ich liebe es, am Abend in meine eigene Woh- aber klar, dass es vieles mehr zu bieten hat, näm- besten kann und am liebsten mag. Ich bezeichne nung zurückzukehren, schöne Kleider zu tragen, lich Filmmusik der 1960er-Jahre, Jazz, Reggae und mich als Songwriter, der in seiner Musik Elemente und dankbar, dass mich keine fi nanziellen American Folk. aus verschiedenen Epochen vereint. So gesehen Sorgen plagen. In meinem Album geht es also um «Hobo» ist eine Hommage an die amerikani- können meine Songs als zeitlos gelten. Ich habe den symbolischen Charakter, der von einem Hobo schen Wanderarbeiter des neunzehnten Jahrhun- einen hohen Qualitätsanspruch und produziere ausgeht. derts, mit denen sich Charlie in gewisser Hinsicht keine Eintagsfl iegen. Die Inspiration hole ich mir Dein Künstlername Charlie Winston steht in vergleicht: In jungen Jahren verlässt er seine Hei- von den besten Songwritern, namentlich von Tom einem historischen Kontext, zusammengesetzt matstadt Suffolk in Südengland und macht sich Waits, Bob Dylan… aus Charlie Chaplin und Winston Churchill. Wie auf nach London. Er studiert Jazzklavier am Kon- …und Peter Gabriel. In der Dokumentation kam es dazu? servatorium, verfeinert sein Gitarrenspiel, wird zum Album heisst es, er habe dich massgeblich Alle Leute meinen, Charlie Winston sei mein Teil einer Reggae-Band und begibt sich nach Indi- unterstützt. Künstlername. Ich heisse aber wirklich so! Meine en, wo er die Bräuche des Landes erforscht. Dieses Meine Zusammenarbeit mit Peter Gabriel wird Eltern haben mich so getauft. Sie waren Künstler. Engagement zahlt sich aus: 2007 wird Peter Gab- oft überbewertet. 2007 waren wir gemeinsam auf Ihre Welt bestand aus Volksmusik und Theater, wes- riel auf Charlie aufmerksam und nimmt ihn mit auf Tournee, und wie es unter Freunden so üblich ist, halb sie meinen beiden Brüdern, meiner Schwester Tournee. haben wir uns des Öfteren bei einem Bierchen und mir ausgefallene Namen gaben – bühnentaugli- Im Interview mit ensuite - kulturmagazin spricht unterhalten. Ich würde nicht so weit gehen und che Namen, sozusagen. Mein Vater war ein grosser Charlie Winston von seiner Begegnung mit Peter, behaupten, er habe mich unterstützt. Ich arbeite Fan von Charlie Chaplin. Als Bühnenkünstler sah über den Bezug zu seinen Namensvettern Charlie unabhängig. er in ihm ein Idol. Winston Churchill hingegen war Chaplin und Winston Churchill und seine Bewun- Unabhängigkeit – dieses Stichwort zieht sich in den 1940er-Jahren gemeinhin eine grosse Per- derung für den «Maestro» der Filmmusik: Ennio wie ein Faden durch dein Album, welches im Zei- sönlichkeit. Wie so viele in England waren auch Morricone. chen der amerikanischen Wanderarbeiter des meine Eltern von ihm beeindruckt. Daher die Kom- neunzehnten Jahrhunderts steht. Wie kamst du bination. ensuite - kulturmagazin: Charlie, dein Début auf dieses Thema? Churchill war ein Politiker, Chaplin ein Enter- «Hobo» umspannt ein ganzes Jahrhundert. Es Hobos verkörpern eine «antimaterialistische» tainer – berufl ich und gesellschaftlich hatten sie durchstreift die Zwanziger, Sechziger, Siebziger Freiheit. Sie strebten ein unabhängiges Leben an kaum Gemeinsamkeiten. und mündet in die Musik von heute. und fällten ihre Entscheidungen von Tag zu Tag Das würde ich so nicht sagen. Beide haben sie

6 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 MMusikusik

ihre Epoche geprägt. In den Augen ihrer Zeitge- Musikern Bescheid. Dies zeigt sich schon darin, wie hingegen konnte mit subtilen Klangbildern eine nossen waren sie starke Figuren. Klar, Churchill er sich deiner annimmt. Als ich mit meiner Band ungeheure Spannung erzeugen. Er ist ein Unikum war Politiker. Doch betrachtet man einen Politiker für die Aufnahmen nach Paris fuhr, hatte ich kla- und sich dessen auch bewusst. Ein Journalist hat etwas genauer, lassen sich Parallelen zu einem En- re Vorstellungen über die Zusammenstellung und ihn einmal gefragt, wie es zum Spaghettiwestern tertainer erkennen. Nehmen wir als Beispiel Tony den Inhalt des bevorstehenden Albums. Mark hat gekommen sei. Morricone war über den Begriff so Blair und George Bush: Obwohl sie in der Politik meine Ideen respektiert und mir einen grossen beleidigt, dass er das Interview abbrach. «Spaghetti standen, nahmen sie auch gesellschaftliche Funk- Spielraum gelassen. Dadurch konnte ich mich mit hört man nicht. Spaghetti haben auch nichts auf tionen wahr. Seien wir ehrlich: Am Ende geht es meinen Musikern selbst organisieren. Während der einer Leinwand zu suchen, man isst sie», sagte er. doch nur darum, einen Namen zu haben, der in Aufnahmen habe ich die Einsätze der Instrumente Er ist ein stolzer Mann, der abfällige Bemerkungen der Gesellschaft so verankert ist, dass das eigene koordiniert. Mark musste uns nicht anleiten. Da- über seine Arbeit nicht toleriert. Mir gefällt das. Ego befriedigt wird. Das Ego an sich kann sowohl rüber war er am Ende gar nicht so unglücklich, da Was gefällt dir noch? eine negative als auch eine positive Konnotation er sich nur noch um die Qualität der Aufnahmen Nebst der Filmmusik habe ich viel für südspani- haben. Egal wie man es sieht, es bringt einen vor- zu kümmern brauchte. Das Resultat lässt sich ent- sche Traditionen übrig: Flamenco zum Beispiel. Die wärts. Winston Churchill beherrschte sein Ego und sprechend hören. Ich habe es geschätzt, mit einem ganze Perkussion, das Gitarrenspiel, die Fülle, die konnte als Politiker viel bewegen. Charlie ebenso, Profi zusammenarbeiten zu dürfen, der nicht nur Komplexität und gleichzeitig die Wärme, die von allerdings auf eine ganz andere Art. das Business in- und auswendig kennt, sondern dieser Musik ausgeht – all dies ist sehr anregend. Du ziehst dich an wie Chaplin. auch mit viel Gespür seiner Arbeit nachgeht. «Hobo» ist soeben rausgekommen und schon Das stimmt nicht. Obwohl ich einen Hut trage, Seit etwa einem Jahr ist in Frankreich ein geht es weiter. Was kommt als Nächstes? heisst das nicht, dass ich wie Chaplin aussehe. Trend in Richtung American Folk Music zu spü- Gegenwärtig befasse ich mich mit der Ver- Charlie pfl egte einen Bowler zu tragen, ich dage- ren. Philippe Cohen-Solal von Gotan Project schmelzung von Film und Musik. Wie passt Musik gen bevorzuge einen Trilby-Hut. Gut gekleidet zu zum Beispiel hat erst kürzlich ein Soloprojekt am besten in einen Film hinein? Diese Frage inte- sein, ist für mich sehr wichtig. Damit zolle ich mir gestartet mit dem Titel «The Moonshine Ses- ressiert mich. Da ich fortlaufend experimentiere und anderen Menschen Respekt. Wenn ich an eine sions». Es inspiriert sich am Country und dem und dabei Neues entdecke, kann ich nicht sagen, Hochzeit gehe, ziehe ich meinen besten Anzug an. American Way Of Life. Deine CD scheint sich wie mein nächstes Album ausfallen wird. Sicher ist, Damit signalisiere ich meinem Gastgeber, dass ich auch daran zu orientieren. Hast du dich wäh- dass ich auf meine Intuition hören werde. es schätze, eingeladen worden zu sein. Gleichzeitig rend deines Arbeitsaufenthaltes in Paris beein- stärkt es mein Ego: Gut angezogen fühle ich mich fl ussen lassen? Aktuelle CD: als Mann. Humphrey Bogart zum Beispiel trug fan- Nein, denn ich fokussiere mich nicht auf das, Charlie Winston – Hobo / Label: Atmosphériques tastische Kleider. In seinem Mantel wirkte er sehr was zurzeit angesagt ist. Ich bin ein offener Info: www.atmospheriques.com männlich. Ich bin immer wieder fasziniert, wenn Mensch und interessiere mich für alle möglichen ich jemanden mit einem so guten Geschmack für Stile, vergangene und moderne. Es gibt so viel Mode sehe. gute Musik auf der Welt, dass es schade wäre, sich Auch was die Musik angeht, bist du äusserst nur auf Trends zu konzentrieren. Wenn ich in die stilbewusst. In den vergangenen Jahren hast Vergangenheit blicke stosse ich auf Namen wie du mit allen möglichen Genres experimentiert. Louis Armstrong oder Keith Jarrett. Beide sind Dein Erstlingswerk ist nach offi ziellen Angaben sie grossartig und haben dem Jazz eine besonde- ein Songwriter-Album. Wieso hast du dich so re Note gegeben. Auch Zeitgenossen wie Eminem entschieden? verblüffen mich, da sie neue Zeichen setzen. Kurz- Musik und Kunst waren in unserer Familie all- um: Ich bin offen für alle Stile. Ich betrachte sie als gegenwärtig. Bereits als Vierzehnjähriger habe ich Teile eines Puzzles, das es zusammenzusetzen gilt. meine ersten Arrangements geschrieben. Später Es gibt kaum jemanden, der zu Hause in seinem habe ich in einer Reggae-Band gespielt, mich mit CD-Regal ausschliesslich Musik von einer einzigen Jazzklavier befasst und Gitarrenstunden besucht. Band hat. Jede Sammlung, sei sie noch so klein, Ich habe immer wieder neue Dinge ausprobiert und setzt sich aus mindestens zwei bis drei Genres tue das heute noch. Wieso ich nun ein Songwriter- zusammen: Pop-Rock, Elektronik und eventuell Album produziert habe, weiss ich selber nicht so ge- noch ein wenig Klassik. So vielfältig die Vorlieben nau. Mein Instinkt hat mich dazu bewegt. Ich habe der Hörerinnen und Hörer auch sind, so abwechs- Konzerte von Charlie Winston in der Schweiz keine Berührungsängste, wenn es um Musik geht. lungsreich sollten auch wir Musiker sein. Diesem 4. März 2009 – Schüür Luzern Streng genommen ist «Hobo» kein typisches Song- Bedürfnis trägt mein Album Rechnung. Es bietet 5. März 2009 – D Club Lausanne writer-Album. Die Einfl üsse aus anderen Stilrich- für jede und jeden etwas. tungen sind, so denke ich, doch klar zu erkennen. Und es bietet auch die eine oder andere Trou- Die Aufnahmen für das Album haben in Paris vaille: Der Titelsong «Hobo» hat in den ersten stattgefunden. Begleitet wurdest du vom be- Takten etwas von einem Italowestern. Liebst du rühmten Produzenten Mark Plati, der unter an- Western? CD-Verlosung derem auch schon Aufnahmen mit David Bowie, Ja. (lacht) Besonders den Filmmusik-Komponis- Alain Bashung, Louise Attaque und The Cure ten Ennio Morricone. Die Art, wie er das Kino ge- auf gemacht hat. Wie hast du Mark erlebt? prägt hat in den 1960er-Jahren, ist legendär. Heu- Mark ist ein alter Hase im Musikbusiness. Wie tige Filme kommen ohne Explosionen, Schüsse und kein anderer weiss er über die Bedürfnisse von uns überdimensionierte Effekte nicht aus. Morricone www.ensuite.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 7 Franco Ambrosetti Quartett mit Uri Caine Director’s choice

Samstag, 21. März 2009, 18.30 Uhr, Konzertsaal

Kartenverkauf KKL Luzern, Mo–Fr 13–18.30 Uhr, Sa/So 10–17 Uhr fon +41 41 226 77 77, www.kkl-luzern.ch Information www.kkl-luzern.ch/www.francoambrosetti.com

Franco Ambrosetti ensuite Kulturwoche ensuiteensuiteDas neue Online-Magazin KulturwocheKulturwoche und die Newsletter ensuiteensuiteDasDas neue neue Online-Magazin Online-MagazinInfos: Kulturwoche www.ensuite.chKulturwoche und und die die Newsletter Newsletter ensuiteDasDas neue neue Online-Magazin Online-MagazinInfos:Infos: Kulturwochewww.ensuite.ch www.ensuite.ch und und die die Newsletter Newsletter Das neue Online-MagazinInfos:Infos: www.ensuite.ch www.ensuite.ch und die Newsletter Infos: www.ensuite.ch

Slow Movement oder: Das Halbe und das Ganze – Adam Avikainen Becky Beasley Gerard Byrne Michaela Frühwirth Fernanda Gomes Judith Hopf Guillaume Leblon Gabriel Lester Kerry James Marshall Nashashibi/ Skaer Abraham Palatnik Avery Preesman Eileen Quinlan Markus Raetz Jimmy Robert Sancho Silva

31. Januar – 22. März 2009

Kunsthalle Bern_

Helvetiaplatz 1 CH-3005 Bern T +41 (0)31 350 00 40 [email protected], www.kunsthalle-bern.ch MMusikusik NACHGEFRAGT

AL DI MEOLA Kurzgespräch Von Luca D’Alessandro

■ ensuite - kulturmagazin: Al, als Fusion- Jazzer, der schon seit mehr als drei Dekaden im Musikgeschäft ist, verfügst du über einen enormen Erfahrungsschatz und ein Repertoire, wofür andere dich beneiden. Musikalisch, so scheint es, gibt es nichts, das du nicht schon erlebt hast. Trotzdem: Was möchtest du in deinem Leben noch ausprobieren? Al Di Meola: Ich habe mehrheitlich in kleinen Ensembles gespielt. Meine Kompositionen und Arrangements sind entsprechend darauf ausge- richtet. Oft habe ich mir aber die Frage gestellt, wie es wäre, wenn meine Werke von grossen Or- GITARRENSOUND chestern neu interpretiert würden. Das zu erfah- ren, wäre ein Traum, der sich hoffentlich irgend- einmal erfüllen wird. die zarten saiten eines In den letzten zwei Jahren war es eher ru- hig um dich. Zumindest machte das hier in Eu- virtuosen ropa den Anschein. Hast du eine Kunstpause eingelegt? Von Luca D’Alessandro Bild: Al Di Meola / zVg. Nein, überhaupt nicht. In den letzten zwei ■ Er befi ndet sich auf dem Weg in die Schweiz, men musste. Es habe den Anschein eines kom- Jahren habe ich sehr viel gearbeitet. Ich war die der «Herr der Finger», wie er von seinen Promo- merziellen Werkes, das ohne die Unterstützung meiste Zeit auf Tournee, nebenbei habe ich zwei toren hochachtungsvoll bezeichnet wird. Die Rede von zeitgenössischen Musikern wie Till Brönner, DVDs, ein Studioalbum und zwei Live-Aufnahmen ist von Al Di Meola, einem der wohl bekanntesten Xavier Naidoo, Angie Stone, Macy Gray und Bever- produziert. Ausserdem habe ich mich mit meinen Gitarristen des Jazz. Sein Talent ist unbestritten. ly Knight wohl kaum Beachtung fände, war damals Freunden aus der Zeit von «Return To Forever» Bereits zu Zeiten seines Musikstudiums an der in verschiedenen Fachzeitschriften zu lesen. Sei’s getroffen, namentlich mit Chick Corea, Stanley Berklee School of Music in Boston zeichnet sich ab, drum: Meola kann einen hervorragenden Leis- Clarke und Lenny White. dass Al eine aussichtsreiche Zukunft vor sich hat. tungsausweis vorlegen. Es kommt nicht von un- Nun freue ich mich auf das neue Projekt, das 1974 folgt der Zwanzigjährige seinem Vorbild Chick gefähr, dass er zu den innovativsten Fusion-Jazz- ich vor ein paar Monaten mit meiner Akustik- Corea nach New York, wo er in dessen Bandprojekt Gitarristen zählt. gruppe World Sinfonia ’09 angerissen habe. Im «Return To Forever» (RTF) einsteigt. Die hinteren Für die bevorstehende Tournee durch die Gepäck führen wir brandneue Musik mit. Diese Ränge behagen dem Newcomer allerdings nicht. Schweiz kreuzt der Italoamerikaner mit einem wollen wir auf der bevorstehenden Europatour Rasch übernimmt er das Zepter, veröffentlicht mit neuen Experiment auf. Im Schlepptau führt er erstmals vorstellen. RTF drei erfolgreiche Alben, wovon das zweite so- eine hochkarätige Delegation mit: World Sinfonia Gibt es bald auch eine neue CD? gar den Grammy gewinnt. 1976 löst er sich bereits ’09, bestehend aus Peo Alfonsi, Gitarre, Fausto Ja, allerdings wird sie vermutlich nicht vor wieder von seinen Kollegen und startet eine So- Beccalossi, Akkordeon, und Gumbi Ortiz, Perkus- Ende der Tournee erscheinen. lokarriere. Es folgen einundzwanzig Aufnahmen, sion. Es sind ruhigere Töne, die er mit diesem En- Du hast die Europatour angesprochen. zahllose Auszeichnungen, darunter drei goldene semble anschlagen will, «die Suche nach neuen World Sinfonia ’09 verspricht so einiges: Ak- Schallplatten und sechs Millionen verkaufte Ton- Ausdrucksweisen», so Meola. Das Projekt ist ein kordeon, Gitarre und Perkussion. Worauf darf träger. weiterer Beweis für seine ungeheure Virtuosität, man sich gefasst machen? Erlebt hat Di Meola sozusagen alles, was sich die stilistische Offenheit und seine unversiegba- Auf eine gefühlsgeladene Kombination aus ein Musiker vorstellen und vielleicht auch wün- re Neugierde. Mit dem Acoustic Quartet will Al Di Klassik, Jazzimprovisationen, Latin und Tango. schen kann: Auftritte mit Luciano Pavarotti, Paul Meola, der es manchmal auch gerne etwas lauter Zugegeben: Ich hatte schon lange nicht mehr Simon, Phil Collins, Santana, Herbie Hancock und mag, betont sanfte Saiten aufziehen. so viel Spass wie jetzt mit diesem Ensemb- Stevie Wonder. Zu seinen Highlights zählen die le. Entsprechend positiv sind die ersten Kri- Aufnahmen mit John McLaughlin und Paco de tiken in den Vereinigten Staaten ausgefallen. Lucía: «Friday Night In San Francisco», «The Guitar Für die Schweiz ist ein fünftägiger Aufent- Trio» und «Passion Grace and Fire». Al Di Meola Acoustic Quartet – Konzerte halt geplant. Freust du dich? Wenngleich er heute nicht mehr die Hitlisten 5. März 2009, Victoria Hall Genève, 20:30h Ja, und wie! Besonders auf das Schweizer Pu- stürmt, eilt Al Di Meola ein besonderer Ruf vo- 7. März 2009, Kultur-Casino Bern, 20:00h blikum, weil es offen ist für Neues. Aber auch auf raus. Ein Renommee, das selbst vor zwei Jahren 8. März 2009, KKL Luzern, Konzertsaal, 18:30h die wunderbare Natur und Landschaft: Alles ist keinen Schaden nahm, als Meola wegen seines 9. März 2009, Tonhalle St. Gallen, 20:00h sauber, die Leute charmant und das Essen aus- mainstream-anmutenden Albums «Vocal Rendez- gezeichnet. vous» die eine oder andere scharfe Kritik hinneh- Info: www.allblues.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 9 MMusikusik

POP-/ROCK-MUSIK schuhe im gespräch Von Tatjana Rüegsegger Bild: Blood Red Shoes / Tatjana Rüegsegger

■ Blood Red Shoes aus Brighton sind keine Emos, dass wir unser Alter nicht sagen. Wir fi nden einfach, chen dann drüber. Danach versuche ich sie während Goths oder sonst depressiv. Trotzdem scheinen keine es gehört nicht dazu. Wir machen doch Musik. Und der Show nicht anzuschreien (beide lachen). anderen Wörter sie besser zu beschreiben. Das jun- du hattest Recht, es gibt viele Leute, die meinen, wir Sie: Wir sagen uns halt auch immer alles und da- ge Duett spricht über Gewalt, zwischen ihnen und in seien 19. rum ist es sehr schwierig, überhaupt einen Streit an- ganz England. Es wäre auch ziemlich erstaunlich gewesen, zufangen. Nein, depressiv sind Steven Anstell und Laura- mit euren Texten. Es sind ziemlich dunkle Lyrics Er: Ich glaube unsere Freundschaft ist schon lan- Mary Carter nicht. So sehen sie auch nicht aus. Der und im Gegensatz zu anderen Teeniebands, die ge über Ehrlichkeit hinaus. Jetzt tyrannisieren wir blonde Steven, der aussieht wie fünfzehn, lässt seine pseudodunkle Sachen schreiben, sind eure Texte uns nur noch. (lacht) Es geht soweit, dass wir die Mähne an der Afterparty richtig durchrütteln, und ziemlich hart und realistisch. So hätte ich jetzt kleinsten Details ansprechen, wo doch die meisten es die wunderhübsche Laura-Mary strahlt nur so vor weitergefragt, aber das geht ja nun nicht mehr so einfach fallen lassen würden. Nein, wenn wir streiten, sich hin. Trotzdem sind ihre Texte auf deren Erstling gut. Hättet ihr nicht einfach ja sagen können? dann reden wir einfach drüber und danach machen «Box of Secrets» alles andere als fröhlich. Die zwei Er: Ich glaube wir hätten mit 19 genau das gleiche wir Musik. geben keine Interviews zu zweit. Sie haben Angst, zu Album gemacht, wenn nicht noch dunkler. Wir waren Ruhe nach dem Sturm. Wie vorher schon ange- viel zu sagen, wenn sie zu zweit ein Interview führen ja vorher in zwei verschiedene Bands und haben auch sprochen, sind eure Texte ziemlich dunkel. Gibt’s und dabei mehr miteinander als voneinander reden. eher melancholisch-depressives Zeug gemacht. da einen speziellen Grund dafür? Oder seid ihr ein- Doch wer hilfsbereit ein China-Restaurant-Menü Genau, diese zwei Bands. Ihr habt sie verlas- fach melancholisch? übersetzt und so hilft, die Mägen hungernder Künst- sen, um ein Duo zu formen? (Er denkt ein wenig nach:) Wir sind schon ziem- ler zu beruhigen, kommt manchmal zu unerwarteten Sie: Naja, wir haben uns einfach durch diese lich dramatische Persönlichkeiten. Belohnungen. Bands kennengelernt. Meine Band wurde ein wenig Sie: Ich glaube ich könnte gar keine fröhlichen langweilig und Steves Band hatte gerade eine kleine Texte schreiben. Habe es auch noch nie gemacht. Es Er: Was ist das Rohstoffl ager eigentlich? Sieht US-Tour hinter sich. Dann, als er wieder zurück war, geht doch auch darum, dass Musik eine Art Therapie aus wie das Set von Terminator. habe ich ihm eine Mail geschrieben. ist, und wenn der Text fröhlich ist, dann bist du’s und ensuite - kulturmagazin: Es ist ein Teil der Er: Drei Wochen nachdem ich das letzte Konzert dann brauchst du eigentlich keine Therapie. Tony Molkerei, eine Fabrik, die seit längerer Zeit mit meiner Band hatte, haben wir uns zusammenge- Er: Persönlich habe ich einfach keine Beziehung stillsteht und das Rohstoffl ager... Naja, das war tan, um Musik zu machen. zu solchen «Happy-clappy-Songs». halt eben das Lager! Habt ihr das riesige Joghurt Sie: Es passierte eigentlich einfach so. Wir ha- (Sie lachend:) Öhm da gibt’s aber einzelne auf dem Dach nicht gesehen? Ziemlich sehens- ben nie gesagt: «So, wir sind jetzt eine Band.» Das Songs… wert. ist auch der Grund, wieso wir nur zu zweit sind, wir (Er streitet ab:) Ja, aber das sind Songs zu denen Er: Das ist ja lustig. Wir haben vor kurzer Zeit haben einfach die ganze Zeit zusammen gejammt man tanzt. Sobald so Gitarren-Sound zu heiter tönt, in Strassburg gespielt. Der Club hiess «La Lette- und uns nicht viele Gedanken darüber gemacht, was macht mich das einfach krank. Das hörst du eben rie», und in Amsterdam gibt’s einen Club, der heisst werden könnte. auch bei unseren Songs, unsere Texte und Melodi- «Melkweg», weil es früher auch eine Molkerei war... Ist es in eurem Fall denn auch so, dass es ein- en sind ziemlich dark, das Einzige, was es ein wenig Ist ja komisch, Milch scheint echt trendig zu sein! facher ist, nur zu zweit zu sein? optimistischer macht sind die Momente, wo es fast Ihr habt ja momentan ’ne riesige Tour hinter Er: Es kommt halt auf die Situation drauf an, wieder zu einem Tanzlied wird. euch. Und man munkelt, dass ihr sehr jung seid. manchmal ist es einfacher, aber es kann auch viel Sie: Unsere Texte machen halt das Meiste aus. Das heisst, man weiss nicht, wie alt ihr seid, weil komplizierter sein. Das stimmt schon. ihr es einerseits nie sagt und andererseits nicht in Sie: Ich denke, es ist schwieriger. Vor allem wenn Er: Als Personen sind wir einfach mehr daran inte- eure Bio reinschreibt. wir streiten, da gibt’s keinen Ausweg. Wir sind nur ressiert, was in einem Leben falsch laufen kann, Sa- Sie: Wie alt sollen wir denn anscheinend sein? zu zweit. Wir können nicht zum nächsten gehen und chen, die nicht funktionieren. Ich meine, wenn etwas Öhm... 19? dann einfach mit dem anderen abhängen. klappt: Toll, Glückwunsch! Aber es ist einfach immer (Beide brechen in Gelächter aus, dann ganz ernst) Er: Du bist halt einfach so konzentriert auf die dasselbe. Wir sind einfach irgendwie… nicht so. Man Beide: Nein. andere Person. Was eigentlich sehr gut ist für die entscheidet ja eh nicht, worüber man jetzt schreiben Sie: Das waren wir nie. Also ich meine, ja, einmal. Musik… meistens. wird. Man sagt nicht: «Ich schreibe jetzt nur noch Aber nie zu zweit. Sie: Wenn du in einer Band bist und da mehr als glückliche Lieder.» Am Schluss kommt raus, was raus Wie alt seid ihr dann? zwei dabei sind, dann kannst du dich mit einem strei- kommen muss. Sie: Ich bin 24. ten und meistens kommt ein Dritter dazwischen und Sie: Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer Wow, o.k., also sind die Erwartungen total beruhigt beide. Es ist ausgeglichener. sich so gut fühlt, in allen Bereichen, so dass ein hy- falsch. Und du? Er: Genau. perfröhliches Lied entstehen kann. Er: Du darfst raten. Wie sieht das Ende eines Streits denn bei euch (Er singt:) «This is a rom-com kill the director!» Du könntest eigentlich älter sein als sie... Ich aus? Steigt ihr einfach auf die Bühne und nach (The Wombats, glückliche Engländer… anschei- glaube, du bist 27! dem Konzert ist dann wieder alles beim Alten? nend.) Er: Wow, das ist echt krass. Auf den ersten Schlag Sie: Nein. Es kommt drauf an… Die Wombats mögt ihr also nicht? richtig. (Skeptisch) Du hast mit Duncan (Roadie) ge- (Er unterbricht sie:) Wenn wir streiten brauchen Er: Nein, es ist einfach viel zu fröhlich. sprochen? wir beide ein wenig Abstand. Wir verbringen den Tag Sie: Aber natürlich braucht es solche Bands. Es Sie: Bis jetzt hat es niemand herausgefunden. oder einige Stunden getrennt voneinander, beruhi- gibt viele Leute, die sie brauchen. Kann ja nicht alles Er: Aber eigentlich ist das auch extra so gehalten, gen uns, kommen dann wieder zusammen und spre- schwarz sein.

10 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 MUSEUMSNACHT BERN 09 FREITAG, 20. MÄRZ KERIM SEILER 19 BIS 02 UHR L/B BOB GRAMSMA

Gegenwartskunst in Westside und über 30 geöffnete Kulturhäuser in Bern. Die drei international tätigen Schweizer zeigen in Westside raumfüllende Installationen im Sound-Ambiente von Thomas Fehlmann. 19–22 Uhr: Libeskind-Architektur-Führungen 22 Uhr: Lichterlöschen 22–02 Uhr: Installationen und Ambient-Dub-Techno

Gratis-Transfer mit Museumsnacht-Ticket: Shuttle-Bus ab Bundesplatz/ S-Bahn ab Hauptbahnhof/«Roter Pfeil» ab SBB Historic MMusikusik

HOMESTORY die berliner philharmonie in der eigenen stube Von Hannes Liechti – Ein digitaler Konzertsaal markiert ein neues Zeitalter der Konzertübertragung Bild: © Monika Rittershaus / Berliner Philharmoniker ■ Sonntagnachmittag. Bier, Wasser, Züpfe und hört und sieht live mit. Diese neue Form der Konzertübertragung ist Süsses stehen bereit. Die Türklingel macht sich be- Drei Qualitätsstufen stehen dem digitalen Kon- zukunftsweisend: Es ist durchaus vorstellbar, dass merkbar und die eingeladenen, verschneiten Gäste zertbesucher zur Verfügung. Sogar die schlech- die LiveÜbertragung von Klassik- und auch von betreten die warme Stube. Alles ganz wie gewohnt teste davon überzeugt voll und ganz, während de- Popkonzerten in einigen Jahren weit verbreitet ist soweit. Nur, auf dem Programm stehen weder Jass ren höchste mit beinahe DVD-Qualität aufwartet. und von der Musikindustrie als zusätzliche, fi nan- noch DVD. Nein, in einigen Minuten beginnt in Ber- Voraussetzung ist allerdings eine leistungsstarke zielle Einnahmequelle entdeckt wird. Die Berliner lin ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Internetverbindung: In einem Streamtest kann vor Philharmoniker übernehmen damit erneut eine der Leitung von Simon Rattle, und wir sind live dem Kauf des Tickets vom User überprüft werden, Vorreiterrolle, nachdem das Orchester mit Herbert dabei. Und das ohne Reise nach Berlin und ohne ob das System die Übertragung mithält. von Karajan 1980 bereits die erste digitale Einspie- schicke Kleidung. Möglich macht’s die Digital Con- Während dem Konzert sorgen verschiedene lung auf CD realisierte. cert Hall. Kameras dafür, das Konzertgeschehen aus unter- Die Digital Concert Hall gibt es seit Ende letz- schiedlichen Blickwinkeln beobachten zu können. Info: http://dch.berliner-philharmoniker.de ten Jahres und sie bietet die Möglichkeit, sämtli- Anders als im realen Konzertsaal ist jedes ein- che Konzerte der Berliner Philharmoniker online zelne Soli hervorragend sichtbar. Das bringt aber in Bild und Ton mitzuerleben. Alles was man dafür gleichzeitig einen Nachteil mit sich: Der Blick des braucht ist ein Internetzugang und eine Kredit- Zuschauers wird durch die Kamera und nicht durch karte: Das Onlineticket fürs Konzert kostet 9.90 die eigene Entscheidung gelenkt. Weiter zeigen Konzerte im März Euro, eine Saisonkarte 89 Euro. Zusätzlich zu den Einblendungen die Titel der einzelnen Nummern Livekonzerten werden in einem Archiv alte, zeitlich des Oratoriums an. Schade ist, dass im digitalen Samstag, 7. März nicht gebundene Aufführungen zum Kauf angebo- Konzertraum keine Untertitel mit den Librettotex- Berliner Philharmoniker, Gustavo Dudamel (Diri- ten. ten angezeigt werden. gent), Viktoria Mullova (Violine). Eine Viertelstunde vor Konzertbeginn wird der Während der Pause wird ein Interview mit Si- Sergej Rachmaninow: Die Toteninsel, Op. 29. digitale Konzertsaal geöffnet und alsbald ist die mon Halsey, dem Chefdirigenten des Rundfunk- Igor Strawinsky: Concerto en Ré, für Violine und Stube von geschäftigem Geschwätz des herein- chor Berlins, ausgestrahlt. Er spricht über die Orchester. strömenden Berliner Publikums erfüllt. Über den Geschichte des Chors und über Schumanns Werk. Sergej Prokofjew: Symphonie Nr. 5, B-Dur Op. Bildschirm fl immern Bilder von einer verschneiten Nichts Neues allerdings, was man nicht schon aus 100. Philharmonie. Auf dem Programm steht «Das Pa- dem Programmheft hätte entnehmen können. Die radies und die Peri» von Robert Schumann. Das di- darauf folgende Werbung der Deutschen Bank - Samstag, 14. März gitale Programmheft verrät, dass das heute selten Hauptsponsor der Digital Concert Hall notabene – Berliner Philharmoniker, Michael Boder (Diri- gespielte weltliche Oratorium bei seiner Urauffüh- zerstört die ganze mehr oder weniger erfolgreich gent), Anja Kampe (Sopran). rung auf grosse Begeisterung gestossen und für simulierte Konzertatmosphäre. Elliott Carter: Boston Concerto. Schumanns Schaffen gar nicht unwichtig sei. Gleich geht es aber mit dem zweiten Teil des Robert Schumann: Symphonie Nr. 3, Es-Dur Op. Mit Spannung erwarten meine Gäste und ich Konzertes weiter und bald ist der erste Besuch in 97, «Rheinische». nun den Konzertbeginn. In Presse und Internet- der digitalen Konzerthalle bereits Geschichte. Das Richard Wagner: Wesendonck-Lieder. blogs ist die Digital Concert Hall bereits hochgelobt Fazit fällt durchwegs positiv aus: Grundsätzlich bie- Witold Lutoslawski: Konzert für Orchester. und als Beginn einer neuen Ära bezeichnet worden. tet die Digital Concert Hall eine neue Möglichkeit, Ob dem wirklich so ist, wird sich bald zeigen. weltberühmte MusikerInnen in bester Qualität live Sonntag, 22. März Endlich ist es soweit: Die Instrumente sind ge- zu Hause in der Stube zu geniessen. Nun, die re- Berliner Philharmoniker, Nikolaus Harnoncourt stimmt, die SolistInnen und Simon Rattle, der Chef- ale Konzerthalle ersetzt das Projekt nicht, soll es (Dirigent) u.v.m. dirigent des internationalen Starensembles, betre- auch nicht: Die Digital Concert Hall ist eine neue, Joseph Haydn: Orlando Paladino, Dramma eroi- ten die Bühne. Wie gebannt lauscht das Berliner zusätzliche Möglichkeit, sich mit klassischer Musik comico, Hob. XXVIII:I. Publikum den ersten Takten des Stücks und Bern auseinanderzusetzen.

12 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 MODERNE KLASSIK das inspirative moment Von Till Hillbrecht - Die Dampfzentrale widmet dem italienischen Komponisten Giacinto Scelsi ein Minifestival (4. - 6. März) ■ Nachdem das letzte Minifestival der Dampf- Musiker und Dichter ein drei Tage langes Minifesti- zentrale mit dem Künstler John Cage ein auch val. Und doch wird es funktionieren. bei Aussenstehenden bekannter Name auftischte, Denn was das Festival vom 4. – 6. März bieten widmet sich diese Ausgabe einem ebenso grossen, wird, ist keine Anhäufung versuchter Interpretati- aber von vielen Unbekannten und Legenden be- onen von Scelsi-Stücken, sondern vielmehr ein Ge- gleiteten Namen: Dem Meister Giacinto Scelsi. fäss von Musik und Performance im Geiste Scelsis. Scelsi, der mehr Kreator intuitiver Musik als Kom- So führt die russische Performerin und Sängerin ponist war, dürfte sich heute zwar über weite Be- Natalia Pschenitschnikowa mit kleinen Aktionen kanntheit und Anerkennung seines Werkes freuen, über die Treppe des Foyers («Scelsi-Code») und über sein Leben weiss man allerdings kaum etwas legt ihre Solostimme Stufe für Stufe wachsend aus sicherer Hand. die Treppe hinauf, versinkend die Treppe hinab auf Conte Giacinto Francesco Maria Scelsi d’Ayala den Boden der Dampfzentrale. Valva, wie er mit vollem Namen hiess, war ein äus- Mit Tönstör – dem Programm zur Vermittlung serst öffentlichkeitsscheuer italienischer Musiker Neuer Musik – bringen Kinder einer 4. Schulklas- abseits von Traditionen. Sein Leben als Komponist se die Klangwelt des Giacinto Scelsi mit kleinen des 20. Jahrhunderts ist ebenso schwierig zu er- musiktheatralischen Szenen auf die Bühne. Zum forschen wie seine früheren Leben, die er eigenen Festivalabschluss werden fünf Solostücke von Gia- Angaben nach als Assyrer am Euphrat im vor- cinto Scelsi in einer Hommage – dann eben doch – christlichen Mesopotanien und später zu Zeiten interpretiert. Einen Geist zu personifi zieren gelingt Alexander des Grossen (als Komponist von dessen nicht ganz ohne Darstellung seines Schaffens. Das Begräbnismusik) verbracht hat. Von seiner Gestalt Verkörpern des inspirativen Moments und der als Musiker des letzten Jahrhunderts – geboren Griff in die – vielleicht dann doch nicht ganz leere, 1905 in La Spezia, gestorben 1988 in Rom – gibt sondern mit der Aura Scelsis gefüllte – Luft wagen es keine einzige autorisierte Fotografi e und der fünf Musiker, die das Karma des Hauses Dampfzen- Versuch, sein Werk zu halten und zu fi xieren ist trale schon seit längerem prägen: Die Lokalmata- ebenso ein Griff in die Luft. doren Bela Szedlak (I Salonisti), Katharina Weber, Scelsis eigenwillige Auseinandersetzung mit Christian Kobi, Marianne Schuppe und Donna Mo- Musik und Instrument lassen aber auch das mu- linari tragen fünf Solostücke von Scelsi vor. Ihren sikalische Werk nur schwer bis gar nicht schubla- Interpretationen wird das endlose Haiku «Nicht disieren, und gerade in dieser Unfähigkeit, seine bei Trost» des Berner Schriftstellers Franz Dodel Musik in gültige Gefässe legen zu können, liegt unterlegt, der seinen Text als Verbindungselement das Herz seines Schaffens: Er lehnte das Notieren manchmal hörbar, dann wieder stumm liest. der Werke gänzlich ab und liess seine improvisa- Das Minifestival ist ein Griff nach dem schwer torischen Konzepte ab Band transkribieren. Sei- fassbaren Klang Giacinto Scelsis, nach der schöp- ne antitraditionelle Haltung gegenüber gängiger ferischen Kraft dieses geheimnisvollen Komponis- Kompositionspraxis mündet im erstrebten sphäri- ten, nach diesem Kern des Moments – und viel- schen Klang, den der Italiener durch mikrotonale mehr noch ist es der Versuch, ein solches Moment Bausteine geformt hat. der Inspiration nicht zu interpretieren, sondern es Das Moment der Inspiration blieb als rohe Subs- selbst entstehen zu lassen. Das wäre wohl, was der tanz stets der lebendige Kern seiner Stücke. Umso Conte Giacinto Francesco Maria Scelsi d’Ayala Val- schwieriger und fragwürdiger, diese zu interpretie- va sich wünschen würde: Keine Beschwörungsritu- ren: Wo doch gerade Interpretation einer notierten ale eines genialen Geistes zu betreiben, sondern Komposition das ist, was Scelsi nie wollte. die Erkenntnis seiner wegbereitenden musikali- Und dennoch widmet die Dampfzentrale dem schen Hinterlassenschaft zu nutzen. ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 13 ensuite www.edition.ensuite.ch ISBN 978-3-9523061-2-3 edition vergleichsweise zurückinsLotbrachte. KalberMatten sieinallerEilewiederauf-undeinzurichten. OhneErfolg. Was ihn ihnen versprochen, gerietenselberinSchie meinte. Senkrecht, wiesieschienen. DieDingejedoch hieltennicht, wasersich von Torkelte, gerietinsFallen. Klammertesich, wasdennsonst,andieDinge. Fest, wieer KalberMattenLesung undMusik mitundvon undFreunden. UeliZingg «Vorprogramm»: LiMollet KalberMatten KalberMatten verlor dasgleichgültige Gewicht und damitdenaufrechten Gang. kein roman ueli zingg Musikschule Konservatorium Bern, Kramgasse 36, Bern Buchvernissage am26. März 2009 19:00 UhrimWarlomont-Anger-Saal fl age. Wurden wankelmütig. Alsosuchte edition ein alltag

ensuite BBühneühne

TANZ DER GEGENWART: FOLGE VI software & tanz Von Kristina Soldati Bild: (oben) «Corporis» aus der Triologie der Ventura Dance Company / Software: Screencopy von Life Forms / zVg. ■ Virtueller Schwanensee? Wollten Sie schon im- den, welches der vollen Gelenkstreckung die Zahl seinem optischen und akustischen Umfeld. Dafür mer einer entgegen rauschenden Schwanenreihe 0, der vollen Beugung 100 beimisst. Über Radio- sorgten Choreograf, Beleuchtungsmeister und harren, ja, ohne Federn zu lassen ihr trotzen kön- wellen sendet es dreissigmal die Sekunde einem Bühnenbildner gemeinsam. Sollen nun letztere nen? Zwischen den makellosen weissen Linien als Empfänger abseits der Bühne die Information. Die- durch Projektionen und Leinwände ersetzt wer- «Geisterfahrer» sich hindurchsurfen? Das ist nun ser wandelt sie in MIDI-Signale um und spielt sie den? Steuert der Tanz selbst sein Bühnenbild? mit den Animationsprogrammen wie Life Forms, einem MIDI-fähigen Macintosh-Computer zu. Dort Wird er tonangebend? Der Tanz löst sich aus den Poser und 3D Max nahezu möglich. Man kann sich kann man die Signale bearbeiten und in einem traditionsreichen musikalischen Fesseln und übt die virtuellen Figuren wählen, sie mit fertigen MIDI-Datenformat speichern. Der Choreograf kann Umsturz, lässt er nun die Töne nach seiner Pfeife Schrittarten animieren, ihnen den Weg vorschrei- festlegen, mit welchen weiteren Musik-, Licht- oder tanzen... Es ist die Ironie des Schicksal, wenn für ben, sie vervielfachen, ihnen Tüllröckchen verpas- Video-Dateien die Signale verknüpft werden sollen den Zuschauer der Unterschied nicht erkennbar sen und durch Nebelschwaden schicken. und auf welche Weise. Ob spitze Ellenbogen und ist. Spitzt der Tänzer auf den Ton genau die Ge- Erste digitale Tanzschritte Mag sein, dass die Knie die Bühne mit grellem Licht und schrillen Tö- lenke oder quietscht der Ton, weil der Tänzer sie Freizeitindustrie, Film- und Computerspielbran- nen überfl uten, kann dann live erlebt werden. Auf spitzt? che früh in den 80ern den lukrativen Braten roch einer Tagung im Frühjahr 2002 in Girona gestand Was also noch zu leisten ist: Die Kausalität muss und Companien wie Credo software products zu Mark Coniglio: «Das Problem mit dem MidiDancer sichtbar werden. Das direkteste Miterleben von schnellem Fortschritt antrieb. Die junge Software ist folgendes: Um es wirklich auszuspielen und Kausalität bietet das Stegreiftheater. Der Zuschau- Life Forms liessen sie aber in künstlerischem Am- dem Publikum das Spielen der Tänzer erfahrbar er wird gewahr, wie schon im Comedia del’ Arte, biente gedeihen: In den Händen keines geringeren zu machen, muss sich der Tänzer sich wie ein Mu- wie ein unvorhersehbarer Zwischenfall aufgegrif- als Merce Cunningham. Als Mitglied der ursprüng- siker bewegen.» Wenn der Tänzer nicht bewusst fen wird. Wie die Schauspieler darauf reagieren. lichen Life-Forms-Grafi kgruppe nutzte die tanz- komponiert, blitzen scharfes Licht und spitzer Ton Improvisation soll für authentische Interaktionen kundige Thecla Shiphorst an Cunninghams Seite auf wie vereinzelte Disco-Effekte. Mark hat als auf der Bühne bürgen. Auch mit der Technik. Da die Bedürfnisse des erfahrenen Choreografen, um Nicht-Tänzer lange gebraucht, wie er bescheiden aber im Stegreif erwirkte Lichtblitze und Donner das Programm zu präzisieren und handhabbar zu zugibt, um festzustellen, dass beim Betrachten letztlich doch gestellt sein könnten, darf das Pu- gestalten. Zeitgleich arbeitete der Musiker und In- von Tanz nicht der Winkel das Mass der Dinge ist. blikum oft eingreifen. Es darf bei der Tanztruppe formatiker Mark Coniglio in Kalifornien an der Ver- Der Tänzer soll also nun nicht mehr Farben durch Palindrome Intermedia Groupe mitunter die Arme knüpfbarkeit von Musik- und Videodaten mit Tanz. den Raum schicken und ihn mit Tönen versehen heben. Sie durchbrechen damit einen Laserstrahl, Er schaffte 1989 dem MIDI-Programm (Musical In- wie eine Fernbedienung aus Fleisch und Blut. Viel- der eine bestimmte Höhe des Zuschauerraumes strumental Digital Interface) eine Schnittstelle und mehr soll sich die Software nach tanztypischen erfasst. Dieses Ereignis wird an einen Computer impfte dort sein eigens keiertes MidiDancer-Pro- Eigenschaften richten. «Was wir Zuschauer am weitergeleitet und eine Software lässt reagieren gramm ein. Es konnte über Gelenkwinkelmessun- Tanz wahrhaft sehen, ist Energie.» Und deshalb (Blitz?, Donner?). Erst kürzlich überliess Foofwa gen gespeicherte Tonfolgen und Videosequenzen soll seine Software nun Beschleunigungen erfas- d’Immobilité aus Genf gar sämtliche szenischen auslösen. sen. Pirouetten, plötzliches Stoppen und Erzittern Parameter dem Publikum. Es konnte sich sein ei- Interaktiver Tanz Beim MidiDancer werden sollen nun relevant werden. Für was noch mal? Für genes Spektakel gestalten. acht Sensoren an die Hauptgelenke geheftet, sie die passende Klang- und Lichtausstattung. Gruppen wie Troika Ranch und Palindrome, messen die Winkel. Über Kabel sind sie mit einem Sichtbare Kausalität? Künstlerisch abge- die seit Jahrzehnten schon mit technologischen winzigen Gehäuse auf dem Tänzerrücken verbun- stimmt war der Tanz im Idealfall schon immer mit Mitteln arbeiten, sind aber über ein spielerisches

ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 15 BBühneühne Stadium hinaus. Was sie an der multimedialen Tanzstückes leistet. Am Frankfurter Theater lern- stellt die Figur auf ein gigantisches Schachbrett, Technologie reizt, ist der Anspruch, eine gewis- ten die Tänzer in den 90ern, Informationen zur die Bühne. Dort kommt zu Tage, wie raumgreifend se Kohärenz der gestalterischen Mittel zu bilden. Aufführung von Monitoren abzulesen. Diese waren ihre Bewegung ist. Zu Beginn wählen wir ein Modell «The Plane» von Troika Ranch ist ein Beispiel, in «Self Meant to Govern» an den Seiten der Büh- aus einer angebotenen Palette wie beim Vortan- das ensuite - kulturmagazin in Nr. 68, «Video im ne aufgehängt und vermittelten spontan gene- zen: «Moderner Tänzer A», wie Adam. In welcher Tanz», besprach. «Talking Bodies» von Palindro- rierte Codes. William Forsythe, der künstlerische Werkstatt auch immer wir an ihm operieren, jeder me ist ein weiteres. In «Talking Bodies» lösen die Direktor, hatte allen Tänzern zuvor Bewegungs- Einschnitt graviert sich tief ein und ist in der ande- Körper der Tänzer einen Soundtrack mit gespro- sequenzen einstudiert. Die Codes, grosse farbige ren Werkstatt bereits Faktum. Haben wir ihm ver- chenen Lauten aus. Dieser ertönt mit dem ersten Buchstaben etwa, standen für Regeln, nach wel- sehentlich den Fuss hinters Ohr gesetzt (die Figur Ausschwingen eines Körpers. Endet aber nicht so- chen diese Bewegungsfolgen abzuändern waren wehrt sich nicht durch das geringste Signal), steht fort, sondern ebbt langsam ab. Der Körperimpuls (z.B. zu beschleunigen oder umzukehren). Die er so bereits im Rampenlicht. Hatten wir Adam zeugt von Absicht, er ist intentional und in seiner Struktur der Bewegungsphrase wurde so verfrem- noch eine Sekunde zuvor bescheiden mit geneig- beharrlichen Wiederholung gar kommunikativ. An det, gedehnt oder verkehrt, die des Stückes selbst tem Haupt in einen Rahmen der Zeitachse gefasst, der leichten Variation sieht man, wie je nach Art blieb aber unberührt. Wann welcher Tänzer seinen so wird er bis zum nächsten Moment halt ein Bein der Verformung des Körpers sich die hervorgeru- Auftritt und Einsatz hatte, war auf die Sekunde fi - für uns ausreissen. Und seine Wucht dabei bleibt fene Lautfolge entsprechend verzerrt. Indem der xiert. Genau diese Stückstruktur steht später beim uns nicht erspart: Die Zeitachse setzt sich auf Be- Klang nicht von anderen technologischen Effek- Gastchoreografen Michael Kien auf dem Spiel. Sie fehl in Bewegung, und wir sehen Adam... - Aber ten überlagert wird, ist die Kausalkette verfolgbar. wird live von einem Computer erstellt und von den was werden wir gewahr? Mühelos fl iegt das Bein «Der Zuschauer soll nicht mit Zaubertricks über- Tänzern umgesetzt. Das erfordert vom beteiligten hoch, kein Ausweichen im Rumpf, keine Rachege- rollt werden und ratlos sich selbst überlassen blei- Tänzerpaar ein genaues Hinschauen: Der Bild- lüste der Kreatur gegen den Schöpfer. Das Wesen ben. Zufälle sind zwar überaus willkommen, aber schirm für das Stück «Duplex» zeigt nämlich eine ist nicht nur seelenlos (Animation hin oder her), es ich forsche nach grundlegenden Zusammenhän- fortlaufende Zeitachse. Eine fi xe senkrechte Linie ist auch schwerelos. Es fordert nicht, dass unter gen zwischen Bewegung, Licht und Klang. Es ist in der Bildmitte gibt die Gegenwart an. Rechts da- seinem Gravitationszentrum, zumindest hin und verblüffend, wie die Psychologie uns vorexerziert, von schwirren Elemente der Zukunft. Sie rücken wieder, ein stützendes Körperglied her muss. So dass identische physikalische Erscheinungen in zusehends gegen die Mittellinie der Gegenwart, bis haben wir im Nu eine Folge von Positionen kreiert, einen neuen Kontext gebettet uns unterschiedlich sie am linken Bildrand (und aus dem Bewusstsein) die Adam nie verbinden kann, es sei denn in der vorkommen. Nehmen wir einen schrillen Laut von entschwinden. Die Elemente stehen für einstudier- Schwebe. Und genau das macht er. Das Programm einem Fuss hervorgerufen wahr, berührt es uns te Bewegungen, Bausteine der Choreografi e, und bietet uns zwar höfl ich an, manche Posen zu er- anders, als wenn derselbe von einer Nase ausge- erhalten eine Farbe. Farben entscheiden hier: Tan- den. Aber wir haben es schon längst aufgegeben, löst wird», meint Palindromes künstlerischer Lei- ze ich die Schritte alleine oder mit Partner?; Sind organische Formen zu schaffen. Das ist es auch ter Robert Wechsler. Sind solche Zusammenhänge die Schritte in der Luft oder stützen sie eine He- nicht, was Choreografen interessiert. Sie brauchen zwischen Tänzer und Technologie gut ausgetüftelt, bung? Michael Kien möchte in «Duplex» einerseits keine Veranschaulichung ihrer Ideen. Die kann ihr können sie sinnfällig und intuitiv nachvollziehbar die Bausteine allabendlich neu kombiniert haben, bewegungsgeschultes «Personal» blitzschnell aus sein. Ein gutes Konzept kann kohärent sein, aus- andererseits ist ihm die tradierte Proportion eines Andeutungen schon ablesen. Es ist vielmehr das baufähig und ein ganzes Tanzstück tragen. Willkür Pas-de-deux-Tanzes wichtig: ein Entré, Adagio, Solo Durchkreuzen ihrer Ideen, was Choreografen wie technischer Effekte und inhaltsloses Spiel muss für sie und ihn, sowie Coda. Die formale Struktur Merce Cunningham, Gregor McWayne oder Pablo interaktivem Tanz dann nicht mehr vorgeworfen gewährleistet seine eigens zu diesem Zweck ent- Ventura interessiert. Alle sind sich einig: Einge- werden. wickelte Software ChoreoGraph und mischt das fahrenen Bewegungsmustern ist am Besten durch Emanzipation von der Technologie Techni- Material dennoch tüchtig durch. Möge der Tänzer zufallsartige Durchmischung ein Schnippchen sche Ausstattung (Kameras, Sensoren, Laserge- sich adaptieren! zu schlagen. Aus diesem Grunde holte Merce vor räte) gibt es mittlerweile genügend. Schnittstellen Software zur Materialgenese Wir sahen, Life fünfzig Jahren schon den Würfel hervor. Er zerglie- und verarbeitende Software ebenfalls. Die erste Forms wurde mit Merce Cunningham entwickelt. derte die bekannten Positionen des Balletts und technologieverliebte Welle ist abgeklungen. Viele Seine Art, Posen zu sezieren und neu zusammen- würfelte, welcher Arm zu welchem Bein posieren Profi s wollen nicht mehr die Technik zelebrieren. zufügen, seine analytische Figurenforschung kam durfte. Indem er mit Life Forms ganze Bibliotheken Sie brauchen sie auch nicht mehr als Zugpferd. der Software zugute. Umgekehrt war die Software an Posen sammeln konnte, vervielfältigten sich die «Lasst uns die Technologie wie ein neues Instru- mit ihren Operationen ihm das ideale Mittel zur Kombinationen und professionalisierte sich der ment erst einmal spielen lernen und künstlerisch Hand. Zumal er in die Jahre kam. Arthrosegeplagt Zufall. Der Computer ist – bei entsprechenden Be- ausschöpfen!» schlägt der Alt-Profi Robert Wechs- konnte er nun virtuell und trotzdem im Detail seine fehlen - der perfekte Zufallsgenerator! ler vor. Ingenieure und Informatiker dagegen treibt formalen Ideen austüfteln. Autopsie-Methode Natürlich ist nicht egal, es naturgemäss nach weiteren Entdeckungen. Sie Wie funktioniert Life Forms? Life Forms ist ein welche Posen im Regal der Bibliotheken warten. würden diese gern auch (ästhetisch?) testen. Und Choreografi eprogramm, das eine detaillierte Be- Life Forms bietet schon eine vorfabrizierte Palette wo Innovation ist, dort fl iesst Geld. Was klagen arbeitung einer Figur erlaubt. Es bietet hierfür in an. Für faule Animateure. Für Möchtegern-Choreo- wir? Wie gut, wenn neue Technologie statt auf seiner letzten Version eine dreifache «Werkstatt» grafen gar auch Tanzschritte von der Stange. Sie dem Kampffeld sich auf dem der Kunst bewähren (Editors) an. Die eine bildet die Figur auf einer un- wirken unausgegoren und lächerlich. Pablo Ventu- will. bewegten Zeitachse, mit beliebig vielen Bildern ra hat sich seine eigene Posensammlung angelegt: Software zur Strukturierung Software ver- pro Sekunde, ab. Eine andere ist eine anatomische 100x100 an der Zahl. Ohne Rücksicht auf Tanz- mag nicht nur eine Auseinandersetzung mit akus- Werkbank. Sie spannt die Figur eines gewählten barkeit, die Glieder mit Akribie in alle Richtungen tischen und optischen bühnentechnischen Mitteln Bildes, eines Moments also, in ein dreidimensiona- verdreht, harren die Figuren dort wie verhedderte zu gewähren. Es gibt Software, welche die Struktu- les Koordinatensystem. Dort bietet die Werkbank Marionetten. Bis der Meister für seine Trilogie «De rierung von Bewegungsfolgen oder eines ganzen allerhand chirurgisch genaue Eingriffe. Die dritte Humani/Corporis/Fabrica» (Titel des ersten auf

16 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 BBühneühne AUSBLICK TANZ

Bern Stadttheater Die nächste Premiere am Stadttheater Bern hat wieder eine literarische Vorlage: «Die Sturmhö- he.» Die verschachtelte Handlung des Romans aus dem viktorianischen Zeitalter wird uns Schweizern erneut der englische Dramaturg Ed Kemp ausbuchstabieren. Das Londoner Publikum wird den Stoff wohl schon kennen, dafür nicht das hervorragende Berner Ensemble, das im Mai dort gastiert. Ort: Stadttheater Kornhausplatz Bern Datum: 28. März, 19:30h

Dampfzentrale Das Festival Heimspiel ist noch voll im Gange, schon kündigt sich das Festival Romandie an. Darin sind Nachwuchskünstler geladen, «den Röstigraben zu überspringen», wiewohl sie die Autopsie beruhenden Anatomieatlasses) sie nach den Puls höher treiben liess. Seitdem trägt jeder Landesgrenzen für die Ausbildung problemlos einem ausgeklügelten Zufallsprinzip aus dem Re- seinen Schrittmacher über der Brust im Kostüm überwanden. Einige von ihnen bemühten sich zu- gal holt, entstaubt und auf der Zeitachse platziert. eingenäht. Erst gegen Ende der über Jahre ange- vor um den Schweizer Förderpreis Premio. Einer Dort beginnt erst richtig die Durchmischung. Der legten Trilogie hatten die Wesen sich entladen, der von ihnen erhält Preise mühelos, wie gerade in Oberkörper Adams wird «copy&paste» mit der Schrittmacher ausgedient, während über ihnen New York: Foofwa d’Immobilité. Er wird allerdings Evas vertauscht. Sequenzteile gespiegelt oder ein spinnenartiger Roboter im gesteigerten Met- erst Anfang April im Festival zu sehen sein. Bis umgedreht. Kein Wunder, wirken die Tänzer dann rum frohlockte. dahin unsere Neugier für den absolut interakti- androgyn. Und dann kommt das Unerklärliche: Der Software in der Ausbildung Waren die Pionie- ven Tanz aufbewahren! Meister, mit einem Blick für das Interessante, fi scht re auf dem Feld der neuen Technologie Autodidak- Ort: Dampfzentrale, Marzilistr. 47, Bern aus dem Chaos Abschnitte der 1. Wahl. Er weiss, ten, könnte die nächste Generation von ihnen pro- Datum: 21. März – 4. April welche Phrase neben welcher wirkt: «Wenn zwei fi tieren. Macht sie es auch? Manche pilgern wohl zur selben Zeit einen Akzent setzen oder Kontras- zu den Workshops, die die Pioniere in New York, Freiburg te bieten.» Noch bevor seine Tänzer der Phrase Irland und Nürnberg halten. Institute wie die Tanz- Eine gelungene Mischung von technisch (neoklas- Leben einhauchen. «Weggeputzt» dagegen wer- akademien tun sich aber schwer, Technologie und sisch) versierten Tänzern und modernem Elan den Posen, die wie unterbrochene Bewegungen Software in ihr Programm einzubinden. Da haben präsentiert das Ballet Biarritz. Der begabte und aussehen. Bei Pablo Ventura können die Tänzer Städte mit technologiegewandten Choreografen überaus musikalische Choreograf Thierry Malan- ihre Bewegungen vollenden. Halb Mensch halb einen Vorteil: Die Frankfurter Akademie arbeitet dain saugt bewährte Stile wie ein Schwamm auf Maschine klappen sie sich von Pose zu Pose auf, mit Forsythes CD «Improvisation Technologies» und präsentiert sie uns wie neu. Wer Recycling falten sich zusammen, schwenken Gliedmassen (vgl. ensuite Nr. 64 ) und sensibilisiert die Schü- nicht scheut, der betrachte seine «Créatures». aus und fahren sie wieder ein. Übermenschlich er- ler für Multimedia. Die Zürcher Akademie plant Ort: Nuithonie, Rue du Centre 7, Villars-sur-Glâne füllen sie Bild für Bild Life Forms – nur bleiben sie für den neuen BA-Studiengang Zeitgenössischer Datum: 15. März, 17:00h geerdet. Kein Zielpunkt darf durch ein Atemholen Tanz für das 5. Semester ein Modul «Choreografi e vorweggenommen werden, keines mit Schwung und neue Medien» mit Pablo Ventura. Nicht-Tän- Zürich (wie bei Limón) angegangen. Keine Kontraktionen zer können an der Hochschule der Künste Bern im Zum Thema interaktives und multimediales The- verraten Impulszentren (wie bei Graham) oder Ver- März mit dem Gast Mark Coniglio studieren. ater bietet die Werkstattaufführung von Andrea letzlichkeit. Wie energetisch gleichmässig aufgela- Haenggi und Company AMDaT ein Beispiel mit dene Wesen absolvieren die Tänzer ihre Mission. Dialogue «120 dishes». Dass sie nicht nur autistisch in ihren Sequenzen Ort: Tanzhaus Zürich, Wasserwerkstrasse 129 gefangen sind, fällt uns wie Schuppen von den Datum: 3. März, 19:30h Augen im Unisono: Sie agieren im Akkord, ohne sich zu sehen und ohne Musik! Die höhere Missi- Hideto Heshikis neues Werk Serpent spielt mit on stammt aus dem Äther. Kalkulierte Metronom- räumlichen Kontrasten zwischen Körpern. Die schläge wurden vom Meister ins All gesandt und verschlungene Dichte gab vielleicht den Namen. die Tänzer mit einem Empfänger ausgestattet. Der Ort: Theaterhaus Gessnerallee, Gessnerallee 8, Transmitter übermittelte die Schläge, sechzigmal Zürich die Sekunde wie der Herzschlag, direkt in ihre Oh- Datum: 20. bis 24. März, 20:00h ren. Und synchron spulten sie Life Forms ab, Bild WWW.TANZKRITIK.NET um Bild. Bis auf Las Palmas ein Sportsender sich auf ihre Wellenlänge einnistete und bei der Auffüh- Die nächsten Folgen von «Tanz der Gegenwart»: rung einem Tänzer über anstehende Torchancen IX. Folge: Alter im Tanz ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 17 BBühneühne

PUPPEN wenn feen nähen - kleine wesen aus fantasia Von Bettina Hersberger Bild: Letizia Lenherr ■ Vorhang auf für Le la Fee und ihre fabelhaften Im Zusammenhang mit ihrer Diplomarbeit be- arbeit entsteht ein Körper mit Armen, Beinen, ei- Wesen: das kleine Monster, Familie Türkis, Karo, das gann Letizia darüber nachzudenken, wie Kinder- ner Frisur, einem Gesicht. Für jedes Detail sucht die gelbe Paar, der Engel mit Sonne und Mama beim zeichnungen entstehen. Sie versuchte sich vorzu- Künstlerin das passende Material. Die Farben will Schimpfen. Sie alle sind Figuren aus Kinderzeich- stellen, was in einem Kleinkind vorgeht, wenn es sie möglichst originalgetreu übernehmen. Manche nungen, die die Künstlerin Letizia Lenherr zum Le- zeichnet oder malt. Stellt sich das Kind die Form Wesen aus Kinderzeichnungen sind bunt ausgemalt ben erweckt hat. dreidimensional vor, bevor es den Stift oder den und mit vielen Details bestückt. Andere bestehen Ihr Début gaben Letizias Wesen im vergangenen Pinsel ansetzt? Oder reduziert es in der Vorstellung aus wenigen Linien in einer einzigen Farbe. Dann Herbst in der Berner Vitrinen-Galerie «contrast» in das Objekt bereits auf zwei Dimensionen? «Diese muss Letizia die Farben in ihrer eigenen Phantasie der Kramgasse, wo sie viel Aufsehen erregten. Sie Fragen, die wir nicht oder nur teilweise beantwor- entwickeln. So kreiert sie aus einer einzig mit brau- liessen Passanten nicht einfach vorbeiziehen, sie ten können, sind für mich das Geheimnis, das mich nen Linien gezeichneten Figur ein entzückendes zogen sie förmlich in ihren Bann. Ein zwinkerndes zur Arbeit mit den Wesen inspiriert.» Diesem Ge- Geschöpf mit fl auschigem Körper, lila Löffelohren Auge, ein breites, grinsendes Maul, aus dem spitze heimnis auf der Spur, wollte Letizia der zweidimen- und einem bunt-getupften Ringelschwänzchen. Zähnchen blitzen, eine ganze Truppe lustiger Ge- sionalen Form ihre dritte Dimension zurückgeben Aufgestickte Augen und Nase geben dem frisch ge- sellen mit langen blauen Haaren. Unmöglich, daran und damit eine plastische, greifbare Gestalt schaf- schaffenen Wesen ein Gesicht. einfach vorbeizugehen. Wenn man ein wenig ver- fen. Sie begann, die Stapel ihrer Kinderzeichnungen Eine neue Kreation ist oft gleichzeitig ein Experi- weilte vor dem Galeriefenster, konnte man die Trup- im Dachstock des Elternhauses zu durchstöbern, zu ment. Wie lassen sich abstehende Haare umsetzen? pe sogar tuscheln hören. Beim genaueren Betrach- sortieren, zu betrachten und studieren. Sie ging der Oder Beine, so dünn wie ein Bleistiftstrich? Aber ten fi el der Blick auf die Zeichnungen an der Wand, Entstehung ihrer Zeichnungen auf den Grund, liess von Herausforderungen wie diesen lässt sich eine deren Protagonisten den Wesen zum Verwechseln eine Erinnerung nach der anderen Revue passie- Fee nicht abschrecken: «Ich weiss immer genau, ähnlich sahen. Man erkannte rasch, dass diese Kre- ren, versuchte, den geheimnisvollen Gestalten eine wie ein Wesen werden soll und betrachte es erst aturen keineswegs zufällig entstanden waren, son- Identität zurückzugeben. Die Gestalten sollten ge- als vollendet, wenn es exakt so aussieht, wie ich es dern dass die Künstlerin selbst sie ursprünglich in nau so aussehen, wie sie damals gezeichnet wurden mir vorgestellt habe.» Das Ergebnis ist weit mehr früher Kindheit erschaffen hatte. von der kleinen Künstlerin. als die Summe seiner Einzelteile: Es ist ein Wesen, Es war das kleine Monster, das die Künstlerin Die ersten Wesen entstehen in einem aufwendi- das lebendiger ist als eine beliebige Puppe. Es ist und Kunstpädagogin dazu verführte, es in eine gen Prozess. Sie sind unverkäufl ich. Aber das Inter- einzigartig, kein austauschbares Geschöpf, denn es plastische Gestalt zu verwandeln. Die Idee, Figu- esse an den Ausstellungsobjekten ist so gross, dass besitzt eine Seele aus der Phantasie eines Kindes. ren aus Kinderzeichnungen auferstehen zu lassen, Letizia Lenherr beschliesst, Wesen aus Kinderzeich- Jedes einzelne Wesen ist eine kleine Persönlich- spukte ihr aber lange vorher schon im Kopf her- nungen auf Wunsch künstlerisch umzusetzen. Sie keit. um. Zusammen mit ihrer Schwester verbrachte die schafft damit ein Spannungsfeld zwischen Kunst- Ihren nächsten Auftritt haben Letizia Lenherrs heute 30-jährige Letizia Lenherr viel Zeit damit, und Spielobjekt. Wesen in einer Gruppenausstellung im Chrämerhu- Erlebnisse, Phantasien und Wahrnehmungen der «Vincent und Papa und Vincent Papa sis Auto», us in Langenthal. frühen Kindheit zu zeichnen. Die Mutter schrieb alle lautet der Titel der Kinderzeichnung eines kleinen Zeichnungen sorgfältig an mit Namen, Datum und Jungen, aus der Letizia einer Figur Leben einhau- strich&faden – Vernissage: 4. April, 17:00h, Finissa- Stichworten, die ihr die Kinder dazu gaben. Und mit chen soll. Was jetzt noch unbeweglich in Form von ge: 24. April (Kulturnacht), www.chraemerhuus.ch. der gleichen Sorgfalt sammelte und archivierte sie wenigen Linien auf Papier gebannt ist, soll bald ein sämtliche frühkindlichen Werke. greifbarer Spielgefährte sein. In liebevoller Kleinst- Info: www.madebyLe.com

18 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 LLifestyleifestyle

VOM ESSEN UND TRINKEN gewissens-bisse Von Barbara Roelli Bild: Barbara Roelli ■ Vorsichtig packe ich ihn aus; schäle ihn aus der Gebilde aus gezuckertem Eiweiss-Schnee. Also an Shakespeares’ Stück «Othello – der Mohr von schützenden Alufolie und greife ihn an seiner sta- kann man darauf schliessen, dass die luftige Fül- Venedig» aus dem frühen 17. Jahrhundert. bilsten Stelle – dem Boden aus knuspriger Waffel. lung für den Kuss steht und die Schokolade da- Weitere Ersatznamen für den Negerkuss sind: Seine Form ist perfekt. Ein Biss in die glänzend rum herum für den «Neger». Vielleicht sollte der Süsspropfen, Elefantenkuss, Beckenschmutz, dunkelbraune Wölbung, und ich werde sein Hirn ursprüngliche Name mit dem schwarzen Wilden, Naschkuss, Schoggibolle und Braunes Ding. Man auf meiner Zunge spüren: Die Konsistenz wird an- mit dem Unbekannten reizen und die Lust auf kann die Mohrenköpfe auch bei ihrem Markenna- fangs luftig-schaumig sein, danach cremig-klebrig. das Exotische wecken. Und womöglich haben die men nennen; wie Dudler oder Dickmann. So fängt Wenn sich dann die zartbittere Schokolade seiner Damen der Aristokratie ihren Mohrenkopf vom man sicher keine bösen Blicke ein, aber Dudler Hülle mit der cremig-klebrigen Füllung in meinem eigenen schwarzen Sklaven serviert bekommen. könnte genau so gut ein Softdrink und Dick- Mund vereint, kommt sein typischer Geschmack Kombiniert man Schokolade – deren Genuss schon mann eine Bockwurst sein. Etwas zweideutig tönt erst richtig zum Tragen. Ich mag dieses politisch als ein sündhaftes Laster gilt – mit der Exotik des «Bumskopf», wie der Negerkuss im bayerischen unkorrekt benannte Objekt. Sein Name: Mohren- Schwarzen, so hat man ein reizvolles Produkt, das Wald genannt werden soll. In Wien hat man in den kopf. Mohrenkopf oder Negerkuss. Schon während verschiedene Begierden in sich vereint. 1930er-Jahren die «Schwedenbombe» erfunden. ich die beiden Wörter auf der Tastatur tippe, ist Ist es also nicht der Lauf der Zeit und damit Obwohl das gleiche Produkt, wurde hier der hell- mir nicht wirklich wohl, als ob die virtuelle Sitten- die Political Correctness in der Bürgerrechtsbe- häutige Nord-Europäer im Namen verewigt. polizei die beiden ausgeschriebenen Wörter be- wegung der 60er-Jahre, die den Namen dieser Anders so die Schweizer Firma Chocolat Am- reits registriert hätte. Genau so, wie man das Wort Süssigkeit negativ zu belasten begann? So wurden mann: Sie wirbt auf ihrer Homepage mit dem Zigeuner nicht mehr braucht, ist Mohr und Neger dann auch etliche Kompromissbegriffe gefunden: «Mohrenkönig». Und die 240 Gramm schwere aus unserem Wortschatz verbannt. Oder wer sich In Deutschland ist seit 1980 der «Schokokuss» Mohrenkopf-Variante nennen sie Big King. Das so ausdrückt, rückt sich wortwörtlich ins rechte gebräuchlich. In der welschen Schweiz blieb der tönt nicht wirklich negativ. Wie kann sie auch? Die Licht. «Kopf» im Namen erhalten, jedoch wurde aus dem von aussen majestätisch anmutende Schokoladen- Aber warum der Name «Mohrenkopf»? Wa- Negerkopf – dem «Tête de nègre» - der «Tête de Überraschung, die sich in dem Moment, da man rum trägt das süsse Ding, dessen Genuss so un- chocolat». Übersetzt auf Deutschschweizerisch die schützende Hülle durchbricht, als schaumiges vergleichlich ist, diesen rassendiskriminierenden also «Choco-Köpfl i». Das steht auch auf der Verpa- Gebilde entpuppt... Namen? Offensichtlich scheint die Verbindung ckung der Marke Perrier drauf, deren Mohrenköpfe Wie dem auch sei - es gibt sie, die durchaus zwischen der Farbe der Schokolade und der dunk- bei Villars «Maitre Chocolatier» in Fribourg herge- funktionierenden Namen ohne diskriminierenden len Hautfarbe der Afrikaner. Und die schneeweisse stellt werden. Bei anderen Alternativnamen wird Nachgeschmack. Und trotzdem scheint der Mohr Füllung? Steht ihre Farbe für die Zähne des Moh- auf die geschlagene Eiweiss-Masse im Innern des im kulinarischen Zusammenhang nach wie vor in ren? Ist es der farbliche Kontrast, auf den die Fül- Mohrenkopfs hingewiesen; wie beim Schaumkuss, aller Munde. Solange es auch Schokoladenkuchen lung anspielt? Schaumzapfen und Schaumbollen. Interessant in namens «Le nègre» oder Dessert-Rezepte wie Der Negerkuss soll im 19. Jahrhundert in Frank- dem Zusammenhang ist, dass die Füllung auch «Neger im Hemd» gibt, werden wir wohl auch zu- reich erfunden worden sein. Der «Kuss» kommt Othellomasse genannt wird. «Othello» wird im künftig in einen Mohrenkopf beissen. Die schnee- vom französischen Wort «le baiser», und «Bai- Fachbuch «Der Schweizer Bäcker-Konditor» aus weiss bis blassgelbe Füllung darin kann übrigens sers» heissen im Französischen auch die bei uns dem Jahre 1944 als Synonym für den Mohrenkopf auch mit dem Hautteint des winterfesten Schwei- als Meringues bekannten, im Ofen getrockneten aufgeführt. Der Name sei offenbar eine Anlehnung zers verglichen werden. ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 19 Streichorchester der Hochschule der Künste Bern

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VON MENSCHEN UND MEDIEN wie erzählt man einen witz? Von Lukas Vogelsang

■ Sie kennen es: Da ist an jeder Party immer so Unwetter von Schneemassen wurde mehr oder stickt! Doch nichts davon geschah. Und dass in der ein unmöglicher Typ, der seine Witzesammlung weniger zu einem normalen Schneegestöber und Zwischenzeit der SMI (SwissMarketIndex) zum ers- loswerden muss. Er lacht immer vor der Pointe, es war alles wieder weiss – so wie Wochen zuvor ten Mal in fünf Jahren unter 5’000 Punkte sank, klopft sich dauernd auf die voluminösen Schen- ebenso. Klar, ein paar Strassen waren etwas mehr interessierte nur am Rande. Wenngleich dies für kel und sabbert ihnen ins Glas. Vom säuerlichen bedeckt worden. Aber ’tschuldigung: Es ist eben das Wohl der Schweiz wichtiger gewesen wäre. Achselschweisshemd reden wir gar nicht. Aber die Winter. Die Schnellbrütermedien bemühten sich Die Tagesmedien sind schlechte Witzerzähler. Klischees geben wir ihm sowieso – ob sie stimmen um die Publizität einer Naturkatastrophe. Vorbild- Sie sollten sich lieber wieder auf die wirkliche oder nicht -, es passt einfach. Denn wenn solche lich verhielt sich das Tamedia-Newsnetz, welches Darstellung der Dinge als auf deren Interpretation Typen auftauchen, erstarrt jedes kalte Buffet in einen jungen, spielenden Hund im Schnee zeigte fokussieren. Darstellen heisst dann auch, vor Ort arktischer Unsichtbarkeit. Das ist nicht lustig, (Hä?/Anmerkung der Redaktion). Die Schweiz war sein, sich ein Bild machen, um dieses weiterzuver- ganz und gar nicht. für den Schneekampf gerüstet. mitteln. Es reicht nicht, wie ein Marketinginstitut, Nun, diese Gattung Mensch scheint sich zu Am Katastrophentag selbst meinte Thomas Bu- sesselwärmend Informationen aus dem Telefonhö- vermehren wie die Algen im Murtensee. Vielleicht cheli in den Nachrichten von DRS, dass sich das rer zu quetschen, die man sich vorbereitet hat. Das ist es ein Virus. Ganze Berufsgruppen sind bereits Wetter jetzt beruhigt habe – doch der Verkehrs- Fleisch und Blut ist draussen – es liegt nicht auf davon betroffen. Nach den Meteorologen, der IT- dienst gleich anschliessend vermeldete, dass der dem Schreibtisch. und der Telekommunikationsbranche sind auch Lastwagenverkehr besser nicht mehr durch die Lustig im Schneegestöber war einzig Philipp die JournalistInnen infi ziert. Sie wissen alles im Schweiz fahren sollte, da überall Schnee auf den Gerber von DRS3 mit einer Bastelanleitung für Voraus, sind fraglos intelligent und bewiesen treff- Strassen liege. Was jetzt? Alle Bilder, die ich an einen Schneemann, eine ziemlich missglückte Mis- sicher – und lustig auch noch. diesem Tag zu Gesicht bekam, zeigten weniger sion, mit einer ehrlichen Prise Selbstironie. Doch Und dann kam der Schnee. Bereits am Montag, Schnee, als ich am Morgen im Seeland vom Dach er bleibt wohl ein Einzeltäter, denn für die Medien 16. Februar, ging ein Raunen durch die Schweizer meines Autos schaufelte. sind unsere BundesrätInnen Schneemannen und Medienlandschaft: «Der Schnee kommt. Gefähr- So gemein! Sie hatten sich vorbereitet, hätten –frauen geworden. Und es vergeht kein Tag, ohne liche Gefahr. Buh, haltet euch fest und bleibt zu Sensationen berichten können, zapften alle Web- dass die Medien besser wissen, wie man die Welt Hause… Der böse Schnee kommt…» Tja, und dann Cam-Bilder aus der Schweiz an, um überall präsent regiert – statt Selbstironie folgt täglich eine Rück- kam, was kommen musste: Nur die Hälfte. Das zu sein. Und die Schweiz wäre im Schnee fast er- trittsforderung. Wo bleibt da der Witz? ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 21 8A>B6<:O:>

Konzert zur Orient-Ausstellung 2009 Heidi Maria Glössner, Rezitation ; Mahmoud Turkmani, Oud So, 15. März 2009, 17 Uhr Auditorium Martha Müller, Zentrum Paul Klee Nikolaj Rimsky-Korsakow ( 1844 - 1908 ) « Scheherazade » Suite nach Tausendundeiner Nacht ( Fassung für Sprecherin, Klarinette, Violine, Violoncello & Klavier )

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4–7|03|09 11–14|03|09 18 –21|03|09 25–28|03|09 ‰Eventmakers|óGrazia Pergoletti ‰Eventmakers|óPedro Lenz ‰Bio Hof Heimenhaus|óGreis ‰Bio Hof Heimenhaus|óJohanna Lier

ANREGENDES ESSERLEBNIS IM KLIMAWANDEL Das Restaurant Blinde Insel lädt vom 13. Februar bis zum 28. März 2009 erneut zu einem sinnlichen Erlebnis ein. In völliger Dunkelheit servieren blinde und sehbehinderte Menschen ein kulinarisch kreatives 3-Gang-Menu. Dieses Erlebnis regt alle Sinne an. Im Zentrum des Projekts steht aber ein ganz besonderer: Sinn für Klimawandel. Renommierte Kochkünstler aus der Region Bern verwöhnen Sie mit ihren kulinarischen Kunstwerken. Als Zutaten verwenden sie ausschliesslich Produkte aus der Region … MIT KURZTEXTEN AUF BAND KITZELN AUTORINNEN UND AUTOREN DIE GEDANKEN ZUM THEMA KLIMAWANDEL Die besondere Atmosphäre im Dunkeln bietet die Möglichkeit, neben den Sinnen auch die Gedanken zu sensibilisieren. Exklusiv für die Blinde Insel haben bekannte Autorinnen und Autoren Texte zum Thema Klimawandel verfasst. MITTWOCH BIS SAMSTAG | RESTAURANT BLINDE INSEL | GROSSE HALLE REITSCHULE BERN | SCHÜTZENMATTE Beginn: pünktlich um 19.30 Uhr | Ende: um ca. 22 Uhr | Bar und Ausstellung ab 18.30 Uhr | Regionale Küche mit vegetarischer Variante für Fr. 44.– Wir bitten um Reservation: www.grossehalle.ch/blindeinsel kulturSTADTbern oder Tel: 078 854 58 66 (Mi–Sa+Mo: 11–14 +17– 19 Uhr | Di: 11–14 Uhr) CCinémainéma INSOMNIA

Von Eva Pfi rter SPAGHETTI, SPAGHETTI

■ Fast immer, wenn ich den halbdunklen Raum betrete, denke ich: Eigentlich ist’s mir gar nicht danach, mich hinzulegen! Dann liege ich doch und kämpfe gegen To-Do-Listen, die mir durch den Kopf schwirren: Brot muss ich noch kaufen und Spaghetti – oder hat’s Spaghetti? Oje, ich muss noch diese E-Mail schreiben und die bestell- ten Bücher abholen. Die Yoga-Lehrerin sagt: Wir spüren unsere Beine, unsere Beine sind locker. FILM DEMNÄCHST Und ich denke: Hab ich mein Handy ausgeschal- tet? confessions of a shopaholic Es ist faszinierend, denn mit der Zeit entfaltet Yoga – ob man will oder nicht – eine eigentümli- Von Simon Chen Bild: zVg. che Wirkung. Die Gedanken («Spaghetti!») sind ■ Endlich ist er da, der Film zur Finanzkrise. Aber Sie droht in ihrem selbst geschaffenen Chaos un- (wenigstens bei mir) noch da. Doch schweben sie im Gegensatz zur real existierenden wird sie uns terzugehen, da sie sich gleichzeitig die Bank vom nach den ersten Atem- und Bewegungsübungen hier verständlich und nachvollziehbar dargelegt. Leib halten, einen Mann (Hugh Dancy) beeindru- nur noch als Wortfetzen in kleinen Wölkchen an Sie ist heruntergebrochen auf das Individuum, cken und die Karriereleiter nach oben muss - ein einem fernen Horizont vorüber. Es ist dann etwa übersetzt auf die Verhältnisse, wie du und ich sie Grund mehr, sich zur Entspannung eine Kleinigkeit so: Ich denke die Worte zwar, weil sie mein inne- kennen; du, der simple Lohnempfänger oder ich, zu gönnen... rer To-Do-Listen-Generator ausspuckt, aber es der einfache Kontoinhaber. Ein Film, der aufzeigt, Wenn Wirtschaftsexperten und ihre Zudiener, ist, als würden sie nicht mehr richtig zu mir gehö- dass die Finanzkrise bei jedem einzelnen beginnt, die Politiker, davor warnen, in diesen schweren ren. Mein Hirn denkt einen Satz und das Atmen, dass sie etwas Persönliches ist, dass Finanzkrise Zeiten vor lauter Sorge Geld zu sparen und mit In- die Übungen und die Dunkelheit machen, dass keiner Wall Street, keines Freddy Mac und keiner brunst dafür plädieren, Geld auszu- dieser Satz vom Kopf weit weg geschleudert wird Fanny Mae bedarf, unter dem Strich: Dass Finanz- geben und in Umlauf zu bringen, um die Wirtschaft – so wie ein Fussball-Goalie einen Ball wegkickt. krise auch die angeht, die noch glauben, sie wären anzukurbeln, dann entlarvt dieser Film diese leider So ziehen die Worte «Brot» und «Spaghetti» von ihr verschont geblieben. Also die meisten. weitverbreitete Irrlehre als fachidiotische Binnen- langsam an den laut atmenden Körpern vorbei «Die Bekenntnisse einer Konsumsüchtigen» logik, die jeder Moral und Weitsicht entbehrt und und schlüpfen durch die Türe hinaus in die helle, ist ein fast dokumentarischer Film über die soge- einen zuverlässigen Grundstein legt für den nächs- laute, geschäftige Welt. nannten Konsumenschen (nein, da fehlt kein m, ten Finanzkollaps. Es gibt aber auch Mit-Yogisten, die einem das geschätzter Lektor), einer in der westlichen Hemi- Gib nicht Geld aus, das du nicht tatsächlich be- Entspannen ganz schön schwer machen. Letzte sphäre weitverbreiteten Spezies. Ihr Konsumver- sitzt! Dies die ebenso simple wie richtige Aussa- Woche war da eine Frau vom Typ «Hausfrau», die halten ist weitgehend pervertiert. Konsumenschen ge von «Confessions of a shopaholic», der durch die ganze Zeit den Mund weit offen hatte beim stellen nicht einen Bedarf fest, um sich danach den seine hippe Aufmachung genau die Zielgruppe Sonnengruss. Ich dacht immerzu: Gähn doch! entsprechenden Artikel zu beschaffen. Sie lassen anspricht, die laut aktuellsten Berichten von der Jetzt gähne endlich! Aber sie gähnte nicht. Mann sich vielmehr von den überbordenden Auslagen Finanzkrise am härtesten betroffen und von der kann sich schlecht auf seine entspannten Schul- diverser Geschäfte und Katalogen anmuten, um Droge Konsum am meisten gefährdet ist: Die Ju- tern konzentrieren, wenn einem gegenüber ein dann sicher etwas zu fi nden, das sie zwar nicht gendlichen. Denn wo Kreditinstitute jungen Men- offener Rachen anstarrt. Ein anderer Fall sind brauchen, aber mit umso grösserer Freude erwer- schen, die keine Lehrstelle fi nden, fette Kredite die geräuschvollen Schnaufer (wieder einmal, ben oder bestellen, kurz: Menschen, die ganz of- gewähren, steigt die Jugendverschuldung. Deren ich weiss). Ehrlich gesagt sind es häufi g Männer, fensichtlich zu viel verdienen. Oder meinen, genug Tilgung durch Papi ist nichts anderes als die kleine die die Luft mit einem Ruck ausstossen und fast zu verdienen. Ich kaufe, also bin ich (bald pleite), Schwester der Staatshilfe. schon stöhnen bei den Kräftigungsübungen. Falls heisst die Devise. Ob allerdings der Film selbst seine Kosten ihr das tut, weil es euch wirklich so anstrengt – So ein Mensch ist Rebecca Bloomwood (Isla einspielt, steht noch aus. Deshalb, wenn wir ver- na, gut, meinetwegen. Aber falls ihr, liebe Männer, Fisher), ein charmantes Girl der New Yorker Gla- hindern wollen, dass unser aufklärerisches Holly- vom Schlag «Ich-mache-alles-bis-ich-nicht-mehr- mourwelt, das nichts so liebt wie Shopping um des wood-Kino auch noch auf US-Staatshilfe angewie- kann-weil-ich-ein-echter-Kerl-bin» seid, habt ihr Shoppings willen. Sie gibt aus, was sie hat, konsu- sen sein wird, sollten wir nicht zögern, in Massen euch bei Yoga wohl im Raum geirrt. Hier geht miert aber auch mit Geld, das sie nicht hat, handelt ins Kino zu strömen und uns «Confessions of a es eben gerade NICHT um Leistung und Ego. Es also mit Werten, die es gar nicht gibt - die Parallele shopaholic» anzuschauen. Und wenn wir grad kein geht darum, dass man danach raus in die anbre- zur weltweiten Finanzkrise ist unschwer zu erken- Geld für die Kinokarte locker haben sollten... Dann chende Nacht stapfen kann und für einen halben nen. Klamotten, Handtaschen (um die Ware nach leihen wir uns eben kurz mal was aus. Abend alle rumschwirrenden Gedanken los ist. Hause zu tragen), Schuhe; alles auf Kredit. Pumps Herrlich, diese leichte und liebevolle Leere im auf Pump, bezahlt mit Plastikgeld. Rebecca lebt CH-Kinostart: 12. März Kopf. Bis der Hunger kommt und «Spaghetti!!» auf der Überholspur - bis sie eines Tages von ih- Der Autor dieser Filmversprechung legt Wert auf die ruft. rem leicht überzogenen Bankkonto eingeholt wird. Feststellung, dass er den Film nicht gesehen hat! ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 23 CCinémainéma

SPEZIALFILM «hallo, schönen guten tag» Von Katja Zellweger Bild: zVg. ■ Schuhe. Durchsichtig, geschnürt, glänzend, ser Kontrast wird unterstrichen von aktiven Hin- urteilten, missachteten und heimlichen Welt, von glitzrig, lackiert, ledrig, genietet, beschlagen, rot, tergrundgeräuschen und einem ruhigen Blick in deren Existenz doch alle wissen. Obwohl «wissen» schwarz und vor allem hochhackig – laufen über die Räume sowie von der Filmmusik aus Mozarts das falsche Wort zu sein scheint, denn wirklich alte, abgewetzte Perserteppiche. «Zauberfl öte». wissen, was hinter den Herzli-Vorhängen und ro- Das älteste Gewerbe der Welt, die Prostitution, Die Regisseurin zeigt ein Flair für Symbolik und ten Leuchtschriftzügen passiert, will niemand. wird anlässlich einer Filmreihe des Kino Lichtspiel Zweideutigkeit, obwohl ein eindeutiges Business Trotzdem oder gerade deswegen entstehen immer verschiedenfach beleuchtet. Ein breites Spektrum Thema ist. Doch genau das macht die Spannung wieder spannende Diskussionen zu diesem Thema an Filmen aus aller Herren Ländern zum Thema des Films aus! Farben und Geräusche, Nahauf- – weil eben niemand wirklich weiss. Wollen wir’s «Sexarbeit» wird gezeigt; vom Dokumentar- über nahmen und eine ruhige Kamera umrahmen den ergründen? – Die Filmreihe im Kino Lichtspiel soll den Spielfi lm bis hin zum Comic. In Zusammenar- Einblick in einen Arbeitsalltag, wenn auch einige eine Plattform für die Ansichten der Frauen aus beit mit Xenia, einer Beratungsstelle für Frauen, brennende Fragen nicht beantwortet werden. Se- dem Sexgewerbe bieten und dem Zuschauer zu ei- die im Sexgewerbe tätig sind, werden Filme bis hen zu können, dass die Frauen auch ihre Grenzen ner eigenen Stellungnahme aufgrund von Wissen Mitte April präsentiert. kennen und Spass an ihrer Arbeit haben, ist schon verhelfen. Damit das Heimliche nicht mehr ganz so Der erste Film, als bester Dokumentarfi lm des eine erste Erkenntnis. Eva Heldmann versucht ver- unheimlich anmutet. Kieler Fetischfi lmfestivals 2008 gekrönt, berichtet zerrte Vorstellungen zu entwirren, indem sie Bil- über das Wesen der Arbeit in einem Bordell. «5 der und Eindrücke zeigt. Es lag wohl im Bestreben Theater Lichtspiel, Bahnstrasse 21, 3008 Bern Sexrooms und eine Küche» zeigt das anscheinend des Films, nicht zu interviewen oder zu biografi e- Unvereinbare auf. Einerseits die fünf Sexräume, ren, sondern einfach aufzuzeigen – nicht stilisieren Die Vorstellungen beginnen jeweils um 20:00h, mit unterschiedlichen Konzepten, andererseits die wollen, was für die Frauen normal ist. Dies betont die Bar ist ab 19:00h geöffnet. Küche, der neutrale, normale Ort für Geschwätz, auch Lady Tara, an ihrer verlängerten Zigaret- die Zeitung, ein Buch, einen alten Hund und Essen. te ziehend: «Warum kann man eine Prostituierte «5 Sexrooms und eine Küche» «Nuttenstiefel» und alte Teppiche – eine unterho- nicht lassen wie sie ist? Für Unglück oder Glück ei- Freitag, 6. März und Samstag, 7. März. senfreie Küche. ner Hure ist nicht gleich der Staat verantwortlich. Die Regisseurin Eva Heldmann arbeitet be- Viele Frauen sind in ihrer Ehe unglücklich, deswe- «Frau Mercedes – Alt werden auf dem Auto- wusst mit solchen Kontrasten, die sich in dieser gen wird die Ehe auch nicht abgeschafft.» strich» Wohnung ständig fi nden. In Adidas-Schlarpen Obwohl in der Schweiz Prostitution unter eini- Montag, 16. März. beantworten die drei Frauen um Lady Tara, Besit- gen Bedingungen legal und in absehbarer Zeit ein zerin des Bordells, Telefonate mit hauchig-feinem Steuer- und AHV-pfl ichtiger Beruf wird, bleibt das «Dirnentragödie» «Hallo, schönen guten Tag», worin über Wünsche Thema weiterhin unangenehm und wird tabuisiert. Montag, 23. März. des Kunden und die eigenen körperlichen Vorzüge Darum stehen bei der ersten Aufführung die Re- gesprochen wird. Und hängen auf, rauchen die Zi- gisseurin sowie zwei Hauptdarstellerinnen für Fra- «Estrellas de la línea (the Railroad Allstars)» garette zu Ende und lesen ihren Roman weiter. Die gen zur Verfügung, an der zweiten Vorstellung ist Montag, 30. März. Jüngste in der Runde putzt und räumt auf in einer noch Eva Heldmann vor Ort. roten, durchsichtigen Ganzkörperstrumpfhose. Mit dieser Filmreihe durchleuchtet das Kino Weiter Informationen: Skurril und zuweilen befremdend schnell wechselt Lichtspiel Vorurteile, zeigt auf, was nicht gesehen www.lichtspiel.ch in diesem Bordell Alltags- und Arbeitswelt. Die- werden will und öffnet den Vorhang zu einer ver- www.heldmannfi lm.de

24 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 CCinémainéma TRATSCHUNDLABER

Von Sonja Wenger

■ Von lauem Sprachwitz zu monotoner Inhalts- losigkeit; von schnarchigen Wortspielen bis wahr gewordener Verbalhölle: Die Kioskauslage auf dem Jahrmarkt des Gesellschaftsmasochismus bietet die ganze Bandbreite. Als willkürlich ausgewählte Brüller des Monats für die Devise «Lebenszeitverschwen- dung» müssen diesmal das biedere Phantasieheft- chen «Glückspost» und das pseudobesorgte Geifer- blatt «InTouch» herhalten. So erweisen sich diese Prototypen der Banalität, dieses Fressen für Textminimalisten, diese Musterfäl- le für erfolgreiche Gehirnwäsche als gut bestückte Goldgrube auf der Suche nach dem Unsäglichen – oder ganz im Slang von Jugend und «InTouch»: Als FILM «echt total extrem» ergiebig. Nun aber nicht, dass man glauben muss, kur- the duchess ze Texte erfordern weniger Arbeit! Im Gegenteil. In der Kürze liegt noch immer die Würze, und bei dem Von Sonja Wenger Bild: zVg. Zeug, das hier serviert wird, verbrennt sich noch die ■ Vergesst Prinzessin Diana und die ungezählten Charles Grey (Dominic Cooper) ist sie gar bereit, schärfste Zunge. Hut ab also, denn dies bei gewis- Kerzen im Wind: Georgiana Cavendish, die Du- alles aufzugeben. Doch als ihr Mann eine Affäre sermassen null Inhalt und noch weniger Relevanz chess von Devonshire, war schon eine «Königin mit Georgianas bester Freundin Bess Foster (Hay- hinzukriegen erfordert einen quasi «total grossen» der Herzen» lange bevor die Welt mit Boulevard- ley Atwell) beginnt und die Ehe in eine «Ménage à Wortschatz. medien überschwemmt wurde. Fast zweihundert trois» verwandelt, muss sie erkennen, dass Traditi- Das fängt schon ganz weit vorne an, also genau- Jahre bevor der Tod von Diana die Menschheit zu onen und gesellschaftliche Zwänge vor allem von er auf dem Titelbild: «Top-Model-Hölle – so brutal ist Tränen rührte, bewegte Georgianas Leben bereits den Frauen Opfer verlangt. Heidis Show». Ketzerisch, wer Böses denkt, denn die Klatschkolumnen. Und über hundert Jahre be- Knightley spielt Georgiana mit einer grossen, eigentlich ist nur irgendwo gerade eben wieder eine vor die britischen Frauen das Stimmrecht erhiel- eher modern anmutenden Souveränität. Ihre Dar- Schaufel umgefallen oder ein Nagel abgebrochen. ten, war Georgiana nicht nur eine Modeikone und stellung spiegelt nicht nur alle Widersprüche, Stär- Das klingt dann aber so: «Die Kandidatinnen stehen Inspiration für Intellektuelle oder Schöngeister, ken und Schwächen dieser faszinierenden Frau, sie total unter Druck»; die Models «sind schon jetzt total sondern auch eine politische Lobbyistin für die weckt auch grosse Sympathie für Georgiana, ohne fertig» und jedes Topmodel habe ein «total angesag- Vorgängerin der heutigen Labour-Partei. dabei in eine voyeuristische Gefühlsdusselei zu tes Vorbild». Um Georgianas Geschichte passend zu erzäh- verfallen. Fiennes wiederum als Georgianas Ehe- Dazwischen zur Aufl ockerung mal ne neue Wort- len, hat der britische Regisseur Saul Dibb nun auf mann und Quasi-Gegenspieler, verleiht dem Film schöpfung, wenn sich Victoria Beckham und Jennifer ein weiteres bekanntes Gesicht der Neuzeit ge- und der Geschichte erst die notwendigen Ecken Lopez im «Zicken-Zoff» gegenseitig «bepöbeln» und setzt. So schnürt sich Keira Knightley – «die Kö- und Kanten. Mit jener Mischung aus brodelnder sich einen «Beauty-Battle» liefern, von dem wohl nur nigin des modernen Kostümdramas» – für «The Intensität und Gefühlskälte, die Fiennes Marken- die Redaktion weiss, was das ist. Aber dann natürlich Duchess» einmal mehr in das Korsett aus gran- zeichen ist, stellt er Devonshire als unsympathi- gleich weiter, denn quasi abgestumpft sind eh schon diosen Kleidern und starren Gesellschaftsnormen schen und unsensiblen Snob dar, der dennoch ein alle, merkt also niemand, wenn es Seite um Seite und liefert ganz nebenbei eine ihrer bisher besten Mensch ohne böse Absichten ist, einfach gefangen geht: Rihanna «leidet total unter dem Fremdfl irt» schauspielerischen Leistungen. im Standesbewusstsein und gebeutelt von seiner ihres Lovers; Halle Berry «steht total unter Stress», Als Georgiana Spencer mit dem wesentlich älte- Hilfl osigkeit gegenüber jeglichen Gefühlen. weil ihr Lover weiteren Nachwuchs will; oder Kylie Mi- ren William Cavendish, Duke von Devonshire (Ral- Es ist vor allem diesem schauspielerischen Duo nogue hat mit ihrer Sonnenbrille den «totalen Durch- ph Fiennes), verheiratet wird, ist sie gerade mal zu verdanken, dass aus «The Duchess» ein relativ blick». siebzehn Jahre alt. Die Ehe stützt sich zu Beginn kurzweiliger und unterhaltsamer Film geworden Und kaum denkt man, dass vielleicht doch nicht alle noch auf Respekt und eine dezente Sympathie. ist. Denn abgesehen von der ästhetischen Umset- Hirnzellen schon in einem katatonischen Zustand sind, Doch Georgiana ist alles, was ihr Mann nicht ist: zung und der visuell ansprechenden Kostümorgie steht auf der ersten Seite der glücksverheissenden dynamisch, humorvoll, neugierig. Bald realisiert ist «The Duchess» kein spannendes oder aussage- Post auch noch: «Camilla in der Ehe-Hölle, wie einst sie, dass ihr Ehemann weder fähig noch gewillt ist, kräftiges Zeitbild des ausgehenden 18. Jahrhun- Prinzessin Diana – und Charles schaut einfach weg.» ihre emotionalen Bedürfnisse zu stillen. derts oder der Rolle der Frau. Was bleibt ist das Aus also. Vorbei. Der letzte Rest der grauen Mas- Ausgerüstet mit einer grossen Portion an Porträt einer zwar klugen und schönen Frau, die se schmilzt in der Hölle der Substanzlosigkeit, der ge- Charme, Intelligenz und Lebenslust sucht sich sich aber nur dank ihrer gesellschaftlichen Posi- strafte Leser fühlt sich so «nudelfertig» wie die Kan- Georgiana entsprechend die Liebe anderswo. Mit tion und des Reichtums ihres Mannes über viele didaten in der Show «Hell’s Kitchen» des britischen ihrem extravaganten Modegeschmack und ihrer Konventionen ihrer Zeit erfolgreich hinwegsetzen Starkochs Gordon Ramsay, quasi «Kandidatenbra- Redegewandtheit wird sie bald zum Liebling der konnte – und doch in ihrem grössten Kampf um ten», wie es adaptiert auf RTL heisst. Und wem das gehobenen Gesellschaft; für ihre Kinder ist sie Liebe und Erfüllung gescheitert ist. noch nicht heiss genug ist: Anna Nicole Smiths Le- eine hingebungsvolle Mutter; und für ihre Affäre Der Film dauert 106 Minuten und kommt am 19. ben – das war die, die aus Liebe geheiratet habe – soll mit dem Politiker und späteren Premierminister März ins Kino. nun in London als Oper aufgeführt werden. ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 25 LLiteraturiteratur LESEZEIT Von Gabriela Wild

■ Leser sind angenehme Zeitgenossen. Sie machen keinen Lärm und beanspruchen kaum Platz. Zugrei- sende sollten darauf bedacht sein, dass sich in ihrem Abteil ein bis zwei lesende Personen befi nden. So laufen sie nicht Gefahr, in eine langweilige Konver- sation verwickelt zu werden und sie können sich von der konzentrierten Atmosphäre inspirieren lassen, um sich kontemplativen Gedanken hinzugeben, während die Landschaft in langgezogenen Strichen dem Horizont entgegen fl ieht. Leser sind dankbare Beobachtungsobjekte. Ver- sunken in ihre Materie, nehmen sie ihre Umwelt kaum wahr. Der Neugierige riskiert nichts, wenn er einen Lesenden einer genauen Studie unterzieht, in der er Gesichtszuckungen oder Angewohnheiten wie das Aufrollen einer Haarsträhne auf den Zeige- fi nger oder das penetrante Kratzen an einer wun- den Stelle am Kinn untersucht. Der Lesende träumt mit offenen Augen. Spricht man ihn unverhofft an, hebt er den Kopf und blickt verwirrt. Sein Geist muss erst die Bilder der Lesewelt zurück- und die aktuelle Erlebniswelt scharf stellen. Leser werden erst zu ungemütlichen Zeitgenos- sen, wenn man sich ernstlich mit ihnen unterhalten will. Es kann sein, dass der Leser, auch wenn er nicht seine naturgegebene Tätigkeit betreibt, in Gedanken STADT THUN bei seinem Lesestoff verweilt. Ein für Aussenstehen- de scheinbar unbedeutendes Detail, ein Scharren mit dem Fuss, ein Aufl achen am Nebentisch, ein literaturfestival falsch betontes Wort kann den Leser unvermittelt Von Stephan Probst Bilder: Greis, Kappeler, Krneta / rechts: Jenny Erpenbeck in seine Lesewelt versetzen. Die Unterhaltung gerät ■ Vom 6. bis am 8. März 2009 geht das Thuner für ihre Lesungen und das Festival gewinnen. So zwangsläufi g ins Stocken. Hier wird von der Aussen- Literaturfestival LITERAARE zum vierten Mal über auch dieses Jahr: Mit Urs Widmer wird das Festival welt etwas Geduld abverlangt. Oftmals genügt aber die Bühne. Dieses Festival ist in vielerlei Hinsicht et- am Freitag, 6. März, von einem der bekanntesten schon ein diskretes Räuspern, um den Leseträumer was Besonderes. Die OrganisatorInnen sind alle jün- und erfolgreichsten Schweizer Autoren der Gegen- wieder zurückzuholen. Mit dem Wiederholen des ger als Dreissig und grösstenteils noch im Studium. wartsliteratur eröffnet, dessen Bücher vielfach aus- letzten Satzes werden peinliche Pausen souverän Und dementsprechend wird gezielt auch ein junges gezeichnet wurden; Widmers Lesungen garantieren vermieden und das Gespräch kann ungestört fort- Publikum angesprochen. Somit sorgt LITERAARE stets geistreiche und poetische Unterhaltung. gesetzt werden. Zurechtweisungen oder Vorwürfe für frischen Wind in einer sonst eher von älteren Se- Am Samstag, 7. März, sorgen Catalin Dorian Flo- der Art «Du hörst mir ja gar nicht zu» gilt es strikte mestern geprägten Szene. Dass die Veranstalter- rescu, Rolf Lappert, Jenny Erpenbeck und Judith zu vermeiden. Innen dabei mit nicht weniger literarischem Sach- Kuckart für abwechslungsreiche Begegnungen. Mit Mühsam können Leser zuweilen auch werden, verstand zu Werke gehen als ihre älteren Kollegen, Rolf Lappert und Jenny Erpenbeck stehen Gewin- wenn die Rede auf den Lesestoff selber kommt. Die beweist das attraktive Festivalprogramm. Nicht al- ner von zwei wichtigen Schweizer Literaturpreisen ansonsten friedfertigen und toleranten Wesen ken- lein Jugendlichkeit zeichnet dieses Literaturfest auf der Bühne: Rolf Lappert wurde 2008 für seinen nen auf «ihrem» Gebiet kein Pardon und verteidigen aus, sondern auch das grosse Engagement aller grossen Roman «Nach Hause schwimmen» mit dem oder zerreissen das gelesene Werk mit hingebungs- Beteiligten für den Kulturstandort Thun. Die über- ersten Schweizer Buchpreis ausgezeichnet, Jenny voller Leidenschaft. Will man sich mit ihnen anlegen, wiegend unentgeltlich geleistete Arbeit zeugt von Erpenbecks literarisches Werk wurde mit dem Solo- kann es leicht passieren, dass sie zu verbissenen Herzblut, mit dem sich das Veranstalter-Team ihrer thurner Literaturpreis 2008 gewürdigt. Rolf Lappert Besserwissern mutieren. Hiergegen hilft nur: Selber Leidenschaft, Literatur, widmet. Dafür wurde die erzählt in «Nach Hause schwimmen» packend und lesen. Zum Beispiel «Die letzte Partie» von Fabio Initiantin von LITERAARE, Tabea Steiner, im Jahre berührend vom in Irland und in den USA angesiedel- Stassi. Der Roman über den Weltmeister José Raul 2007 von der Stadt Thun mit dem Kulturstreuer, ten Erwachsenwerden des Nichtschwimmers Wilbur. Capablanca vermag nicht nur Schachfanatiker zu einem Preis für besondere Leistungen in der Kul- Die in Solothurn ausgezeichnete Jenny Erpenbeck begeistern. Oder man bestreitet den 551 Seiten lan- turvermittlung, bedacht. Das Projekt LITERAARE, hat seit ihrem spektakulären Début «Die Geschichte gen Marathon von Tom McNab, «Trans-Amerika». In das neben dem Festival auch während des ganzen vom alten Kind» ihre poetische Handschrift stetig beiden Fällen ist man gut unterhalten und erfährt ei- Jahres spannende Lesungen organisiert, bot in den entwickelt und mit dem 2008 erschienenen Ro- niges über die Sport- und Wirtschaftslage der 20er- letzten fünf Jahren verschiedenen jungen, noch we- man «Heimsuchung» ein vielschichtiges Meister- und 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts. nig bekannten AutorInnen die Möglichkeit, ihr lite- werk verfasst. Die deutsche Wahlzürcherin Judith rarisches Schaffen zu präsentieren. Daneben konn- Kurckart (zuletzt: «Die Verdächtige») und der Ru- Fabio Stassi: Die letzte Partie. Kein und Aber, 2009. ten die Organisatoren stets aber auch renommierte mänienschweizer Catalin Dorian Florescu («Zaira») Tom McNab: Trans-Amerika. Aufbau-Verlag, 2008. Namen des deutschsprachigen Literaturbetriebs runden das Samstagnachmittags-Programm von

26 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 KKulturultur & GGesellschaftesellschaft

LITERAARE 2009 ab. osität und Witz aus. Mit ihrer Hauptfi gur «Winne- Der längst über die Landesgrenzen hinaus viel be- Das Abendprogramm gestalten «Krneta, Greis tou Bühler» erreichen sie eine beeindruckende achtete Peter Stamm ist ein Meister der genauen und Apfelböck». Der Berner Schriftsteller Krneta, Bühnenpräsenz. Beobachtung und erzählt unaufgeregt und in einer der in Mundart und Hochsprache Prosa und Dramen Mit den zwei Schweizer Autoren Peter Stamm kühlen, aber präzisen Sprache. Sein jüngster Er- schreibt, der Rapper Greis und der Musiker Apfelböck und Christian Haller steht der Sonntag eher im zählband «Wir fl iegen» stand auf der Shortlist des loten die Möglichkeiten der Sprache mit viel Virtu- Zeichen der leisen, verhalten poetischen Töne. Schweizer Buchpreises. Christian Haller besticht ebenfalls durch eine knappe, präzise Sprache. In seinem 2008 erschienenen Roman «Im Park», dem grosse Aufmerksamkeit in den hiesigen Feuil- letons zuteil wurde, gestaltet Haller berührend das Schicksal eines durch die Invalidisierung seiner Le- benspartnerin aus der Bahn geworfenen Mannes. Der Abschluss dieses Festivals gehört erneut jungen Schreibenden: Im Vorfeld des Festivals konnten im Rahmen des Schreibwettbewerbs Tex- te eingereicht werden, die von einer kompetenten und vielseitig bestellten Jury beurteilt wurden. Am Sonntagnachmittag werden die ausgewählten Texte dem Publikum präsentiert und ermöglichen somit noch kaum bekannten Stimmen einen ersten Auf- tritt - möglicherweise ein Ausblick auf literarischen Nachwuchs, der künftig nicht nur in Thun zu hören und zu lesen sein wird.

KOLUMNE willkommen im wunderland Von Isabelle Haklar AAlther&Zingglther&Zingg ■ Wenn mein Schritt der Laufgeschwindigkeit ei- den Tag nicht effi zient genutzt zu haben. Und Ein filosofisches Gespräch: nes 1.95 Meter grossen Menschen entspricht, könn- edle Designer-Jeans rücken, zur Freude der Män- te es sein, dass ich neben einer Person ebendieser nerwelt, bloss den Po in ein besseres Licht. Doch Grösse herlaufe und nicht zurückfallen möchte dieser bleibt im Winter sowieso unter dem Mantel oder aber, dass ich mich auf dem Weg in die Brocki verborgen und im Sommer fällt die Betonung des befi nde. Wenn nebst dem Sauseschritt allmählich Pos nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der meine Handfl ächen feucht werden, der Puls in die teuren Jeans, sondern in den der Bikinihose. Höhe schnellt und mein Herz um das Doppelte Den Vorsatz, den Trödel-Himmel ohne Geld zu klopft, dann ist defi nitiv Letzteres der Fall. betreten, habe ich mittlerweile aufgegeben. Denn Zittrig und freudig erschöpft betrete ich am ob ich die ausgesuchte Ware dem Ladeninhaber ÜBERZEUGUNGEN Ende eines solchen Marathons das heissgeliebte zur kurzen Verwahrung gebe, um einen Postoma- Trödel-Wunderland und bin für einen kurzen Au- ten aufsuchen zu können oder meinen Fang un- SIND genblick masslos überfordert. Überfordert ob all verzüglich mit dem mitgebrachten Geld begleiche, den wild durcheinander gestapelten Schälchen, macht keinerlei Unterschied. Auch ein mir vorge- GEFÄHRLICHERE Kerzenständern, Bilderrahmen, Nachttischen, Fi- gebenes Besuchs-Zeitlimit einzuhalten empfi nde gürchen, Taschen, Lampen und Schmuckstücken ich mittlerweile nicht mehr als sinnvoll. Denn dies FEINDE DER vergangener Zeiten. Überfordert zusätzlich beim führte meist zu übereilten Hamsterkäufen, deren Gedanken, dass mir inmitten dieser Dinge DAS Beute nicht geringer, jedoch unbefriedigender WAHRHEIT, ALS Ding entgehen könnte oder es mir gar jemand vor ausfi el. Alt Ding will eben Weile haben. der Nase wegschnappt. Darüber hinaus auch et- Zu Beginn meiner Ausfl üge genierte es mich LÜGEN. was in Sorge, dass mein Marathon umsonst gewe- stets, wenn ich vom Trödler mit den Worten «Ah, sen sein könnte, ich die heiligen Hallen für einmal o wider mau hie» empfangen wurde. Jetzt jedoch Friedrich Nietzsche 1878 mit leeren Händen verlassen muss – was jedoch, freue ich mich bereits im Voraus darauf und ant- laut Rückmeldung meines Portemonnaies, bis an- worte stolz und aus voller Brust mit «Jiu». hin glücklicherweise nur selten der Fall war. Und wenn schon mein Portemonnaie meine Für einen, zwei oder gar drei dieser lieblichen wöchentlichen Eskapaden nicht zu honorieren Mittwoch, 25. März 2009 // 19:15 h Gegenstände verzichte ich gerne auf exzessiven vermag, dann meine Wohnung umso mehr. Denn Kramgasse 10, 3011 Bern / 2. Stock Wochenendausgang oder teure Designer-Jeans. so aufgeräumt wie sie nach einem Brocki-Gang ist, Denn was bleibt vom Ausgang sind Kopfschmer- wird sie erst wieder nach dem Nächsten sein. zen und das ungute Gefühl am Sonntagabend, ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 27 LLiteraturiteratur

GEDICHTE «ich habe die musen nie gesehen» Interview: Melania Loforti Bild: zVg. ■ Der Dichter aus Bern, Vito Russo, hält in seinem gewählt und nicht eine andere Form wie zum Bei- Das ist schwierig zu sagen. Ich bin selten inspi- Buch «Keine Werbung, prego!» sein Leben als Itali- spiel Prosa? riert. Ich habe an der Uni mein Lizenziat über den ener zweiter Generation in der Schweiz in Versen Ich gestehe, man hat mir geraten, in Prosa zu italienischen Dichter Leonardo Sinisgalli geschrie- fest. Der ständige Zwiespalt mit der eigenen Identi- schreiben. Allerdings sind Gedichte seit meiner Zeit ben. Er ist ein Künstler, der die Inspiration stets tät und seiner Mischkultur hat ihn zu diesem zwei- am Gymnasium – also seit fünfzehn Jahren – die fi ndet! Sinisgalli: «Vidi le Muse.... / Ich sah die Mu- sprachigen Werk bewegt. Im Gespräch mit ensuite - Ausdrucksform, die mir am nächsten ist. Die wichti- sen...» Ich aber habe die Musen nie gesehen. (lacht) kulturmagazin spricht Vito Russo über Poesie, seine gen Themen des Lebens, wie beispielsweise Angst, Meine Inspiration ist viel mehr an Situationen und persönlichen Ängste, die Zweisprachigkeit und die Sehnsucht und Herkunft, faszinieren mich. Gefühle gebunden. In meiner Vergangenheit bezie- unsichtbaren Musen. Was ist für dich Poesie? hungsweise in meiner Herkunft fi nde ich Themen, Schwierige Frage... Es ist einerseits das Leben, die mich bewegen. Solange es einem gut geht, ent- ensuite - kulturmagazin: «Keine Werbung, andererseits ist es ein Handwerk. steht Unbrauchbares. Zumindest in meinem Fall prego!», titelt deine neuste Gedichtsammlung, In Gedichten stehen das erste und das letzte trifft dies zu. Oftmals sind es beklemmende Gefüh- die kürzlich im Verlag Books On Demand erschie- Wort miteinander in Verbindung. Gedichte sind eine le, die mich zum Schreiben bewegen. Wenn diese nen ist. Wie kam es zu dieser Publikation? Denkweise! Die Leute haben oft die Vorstellung ei- Gefühle wiederkehrend sind, dann verspüre ich den Vito Russo: Es war ein langer Weg. Die meis- nes Dichters, der ein «vie bohémienne» führt. Mein Drang, meine Emotionen niederzuschreiben. ten Gedichte habe ich in den letzten zwei Jahren Leben, jedoch, ist eher langweilig. Ich arbeite als Du hast eben Pedro Lenz angesprochen. Ped- geschrieben. 2006 ist «Spezzatino» (Gulasch) er- Gymnasiallehrer, gehe früh zu Bett und kaum aus. ro hat spanische Wurzeln, du italienische. Siehst schienen, eine Gedichtsammlung in italienischer Wirklich, ich lebe sehr bescheiden. In den Gedichten du Parallelen zum Berner Autor, der auch auslän- Sprache sowie in Berndeutsch. Weil meine Lesun- fi nde ich meine Ausdrucksweise, die sehr assoziativ dische Wurzeln hat? gen erfolgreich waren, wollte ich mich auch dem ist. Poesie ist eine Entdeckungsreise. Die Parallele hast du bereits angesprochen. Mei- deutschsprachigen Publikum mitteilen. So kam es Du hast an der Universität in Bern Italieni- ne Eltern stammen aus Süditalien, aus der Provinz zu dieser weiteren italienisch-deutschen Gedicht- sche und Französische Literatur studiert. Wel- von Potenza in der Basilikata. Ich möchte mich nicht sammlung. Allerdings gestaltete sich die Suche ches sind deine literarischen Vorbilder? mit Pedro Lenz vergleichen, denn er ist im Gegen- nach einem Verleger schwierig. Viele lehnten mich Meine literarischen Vorbilder sind sehr verschie- satz zu mir ein Profi . Ich sehe mich als Dilettanten. ab mit der Begründung, Gedichte liessen sich nicht den. Ich lese seit zwanzig Jahren Comics genauso «Dilettarsi» bedeutet «etwas gerne machen»... verkaufen. Schliesslich hat der Verlag Books On De- wie die Bibel oder Klassiker wie jene von Dante Selbst wenn ich die Möglichkeit hätte, das Schreiben mand meine Gedichtsammlung gedruckt. und Baudelaire. Für den Unterricht lese ich immer als Beruf auszuüben, würde mir das nicht genügen! Wolltest du ein breites Publikum erreichen? wieder moderne Literatur. Ich würde dennoch nicht Ich könnte nicht alleine mit meinen Gedanken und Erreichen wollte ich vor allem Leute aus Bern und von Vorbildern sprechen. An der Uni habe ich bei- Schriften auskommen. Ich brauche den Ausgleich in mein persönliches Umfeld mit Themen, die mir am spielsweise die Lyrik des Dichters Eugenio Montale einem berufl ichen Umfeld, den ich im Lehrerkollegi- Herzen liegen: Immigration, Secondos, Zweispra- sehr geschätzt. In Prosa den französischen Dichter um wieder fi nde. Die Isolation macht mir Angst. chigkeit und Herkunft beschäftigen mich oft. Durch Claude Simon. Die beiden Mundart-Autoren Pedro Könntest du kurz den roten Faden in deinen die Übersetzung meiner Gedichte auf Deutsch habe Lenz und Massimo Rocchi faszinieren mich ebenso. Gedichten resümieren? ich zusätzliche Deutungsmöglichkeiten geschaffen. Kurzum, ich schätze all jene, die eine fragmentari- Nicht einfach. Die Zweisprachigkeit ist sehr zent- Es ging also nicht darum, ein breites Publikum anzu- sche Sprache pfl egen. Die Zerrüttung in der Spra- ral. Mit der Übersetzung entsteht oft ein dritter Sinn. sprechen. Vielmehr wollte ich meine Zweisprachig- che fasziniert mich. Ich mag es, nach dem Sinn in «Keine Werbung, prego!» ist ein sehr wichtiges Ge- keit zum Ausdruck bringen. einem Gedicht zu suchen. dicht, da es genau diesen Aspekt verdeutlicht. Gera- Warum hast du die Lyrik als Ausdrucksform Wo fi ndest du deine Inspiration? de deswegen trägt die ganze Sammlung diesen Ti-

28 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 LLiteraturiteratur

tel. «Keine Werbung, prego! sulla buca delle lettere Dieser Ehrgeiz fi ndet seinen Ursprung genau in der Es gibt eine stetige Entwicklung im Sprachge- vini e sogni da stagionare in cantina... /Keine Wer- Angst, nicht zu reüssieren. Ich masse mir nicht an, brauch. Früher habe ich im Gespräch mit Italienern bung, bitte! Auf dem Briefkasten Weine und Träume ein Statement von heutigen Immi-granten abzuge- oft von einer Sprache in die andere gewechselt. lagern im Keller... Wo verstecken sich die wahrhafti- ben, weil ich schlicht zu wenig über deren Situation Jetzt bin ich darauf bedacht, mit meinen italie- gen Gefühle?» Die Angst ist das zentrale und wie- weiss. nischen Freunden, die den gleichen sprachlichen derkehrende Element dieser Gedichtsammlung. Mit Sprechen wir über dein Gedicht «I fi gli di lotte Hintergrund haben, eine reine Sprache zu sprechen der Angst umzugehen, ist von Gedicht zu Gedicht / Die Kinder von Kämpfen», was ist hier die Bot- und möglichst wenig von der einen Sprache in die unterschiedlich. Oft wird der Leser selbst aufge- schaft? andere zu wechseln. fordert, mit dieser Angst umzugehen. «Rifl ettori / Einige Gedichte stammen aus meiner ersten Wie fühlst du dich: Als Schweizer oder Italie- Scheinwerfer» resümiert das stets Unterschwellige. Sammlung Spezzatino. Uns Secondos geht es gut. ner? «(Ce la farò?) / (Werde ich es schaffen?)» Es steht Warum also darüber schreiben, wenn es uns doch Ich defi niere mich gerne als politischen Schwei- in Klammern, um diese Unterschwelligkeit zu unter- gut geht? Die Kämpfe sind ausgetragen worden. zer. Natürlich, im Herzen bin ich Italiener. Wenn streichen. Bei mir persönlich sehe ich viel Hilfl osig- Dies ist allen bekannt. Unsere Eltern mussten sich beispielsweise die italienische Nationalmannschaft keit und Zweifel, welche ich mit wenigen Worten zu behaupten. Für sie war es nicht selbstverständlich, oder Juventus spielt, fühle ich mich als Italiener. verarbeiten versuche. eine Wohnung oder eine Arbeit zu fi nden. Durch Auch hier gilt für mich die Mischform. Zum Thema Integration hast du dich neulich diese Kämpfe, die sie für uns ausgetragen haben, Wie würdest du den Secondo defi nieren? so geäussert: «Man muss aufeinander zu gehen. wollten sie uns ein besseres Leben sichern. Das ist Es gibt sehr viele Klischees, die mit den italie- Vor allem aber muss man auf die eigene Angst ihnen auch gelungen. Dennoch sind wir, Secondos, nischen Secondos in Verbindung gebracht werden. zugehen.» Welches ist deine persönliche Angst? stets die Kinder von Kämpfen. Die Gemeinsamkeit aller Secondos, egal in welchem Meine Angst hat sehr stark mit meinen Eltern Ich spüre viele Ressentiments. Fühlst du dich Land deren Ursprung liegt, ist die Mischkultur. Die- zu tun. Um noch einmal auf den Dichter Sinisgalli benachteiligt? se ist von verschiedenen Faktoren geprägt. Eine zurückzukommen, einer seiner Verse lautet: «Ogni In der Schweiz fühle ich mich keineswegs be- typische Eigenschaft der Secondos ist die Kennt- sera mi vado incontro a ritroso!» Frei übersetzt, nachteiligt. Bei meinen Ängsten geht es nicht um nis zweier Sprachen – ein sehr wichtiges Requisit. könnte man dies so formulieren: «Jeden Abend äussere Umstände. Vielmehr versuche ich, die Das Binäre ist stets gegenwärtig. Auch für meine komme ich auf mich rückwärts zu.» Das bedeutet, Angst meiner Eltern und meine eigene zu verste- Gedichte gilt das Ambivalente, oder anders gesagt, der Ursprung unserer Ängste liegt in der Vergan- hen. Warum kommen diese unsinnigen Schuldge- das Zwiespältige. Aus der Angst entspringt das Ge- genheit, beziehungsweise bei unseren Wurzeln. fühle und Ängste, die doch so unberechtigt sind, fühl, nirgends wirklich dazu zu gehören. Wenn man Meine Eltern kamen Ende der 1960-Jahre in die immer wieder auf? keine Zugehörigkeit hat, fühlt man sich weder als Schweiz. Sie waren, wie so manche, bestrebt, sich in Besonders schön ist der Vers «In un Puzzle Fisch noch als Vogel. Genau so sehe ich die Secon- der neuen Gesellschaft anzupassen. Sie hatten je- di Svizzera / In einem Schweizergemisch». Die dos. doch oft Angst. Ich kann mich sehr genau erinnern, deutsche Übersetzung hat allerdings eine andere Siehst du diese Mischkultur nicht vor allem wie sie mir und meiner Schwester Maria sagten: Wirkung auf mich. Besteht beim Übersetzen nicht als persönliche Bereicherung? «Psst, che non si dica che gli italiani fanno rumore.» grundsätzlich die Gefahr, dass der ursprüngliche Durchaus. Ich glaube an das Gute. Ich bin ein op- (Psst, seid still. Wir wollen nicht, dass die Leute den- Zauber verschwindet? timistischer Melancholiker. ken, es seien die Italiener, die Krach machen.) Die Die Alliteration mit den «zz», den Zischlauten, ständige Angst, ein Nachbar könnte uns willkürlich die hier für eine Ungewissheit stehen, bilden so et- aus dem Land verweisen, war allgegenwärtig und was wie eine Interferenz. Diesen Effekt wollte ich wurde auf uns Kinder übertragen. Diese Angst kann auch in der deutschen Übersetzung erzielen. Aller- man nicht vergessen. Sie hat mich sehr geprägt. dings wollte ich das englische Wort puzzle bewusst Das Bewusstsein zu entwickeln und zu erkennen, vermeiden und so bin auf «sch», wie in Schwei- dass diese Angst im Zusammenhang mit meinen zergemisch gekommen (lacht). Es freut mich aber, Eltern steht, ist ein schwieriger Prozess. wenn bei den Übersetzungen andere Assoziationen Wie kommt es, dass diese so sehr auf dir las- entstehen. tet, wo es doch die Angst der Eltern war? Warum hast du deine Gedichte nicht ins Bern- Gute Frage. Ich denke auch, das sei irrational. Im deutsche übersetzt, wäre das in deinem Fall nicht Vordergrund stehen starke Schuldgefühle. Ich bin authentischer? Leben und Werk von Vito Russo oft mit dieser Frage konfrontiert. Warum überhaupt Ein Schüler von mir, Lino – ihn darf ich ja an Vito Russo wurde am 5. Mai 1975 in Bern gebo- diese Schulgefühle? Die sind doch unberechtigt? dieser Stelle zitieren –, hat wie du gesagt, es wäre ren, wo er heute noch mit seiner Frau Rebecca In meinem Fall ist es auch ein mangelndes Selbst- doch authentischer, auf Berndeutsch zu schreiben. lebt. Seine Eltern emigrierten Ende der Sechziger wertgefühl. Ich sehe dies aber auch bei anderen Se- Genau genommen basiert meine Zweisprachigkeit Jahre aus Süditalien, um in der Schweiz ihr Glück condos. Ich bin der Meinung, dass bei den Secondos auf Italienisch-Berndeutsch. Ich habe mich dennoch zu fi nden. Sein Künstlername Giovito ist eine diese Angst besonders ausgeprägt ist. für Deutsch entschieden, weil ich mich daran störe, Zusammensetzung seiner beiden Vornamen, Bei den Secondos haben vor allem die Eltern ganze Texte auf Berndeutsch zu lesen beziehungs- Vito und Giovanni. Der Autor ist Gymnasiallehrer die Integration im fremden Land durchlebt. Wie weise zu schreiben. Ich lasse aber gelegentlich in Italienisch und Französisch. siehst du die Integration heute? Lehnwörter aus dem Berndeutschen in meine Ge- Die Prinzipien sind sehr ähnlich, obwohl die Immi- dichte einfl iessen. Gedichtsammlungen granten heute aus anderen Ländern stammen. Mei- Wenn ein zweisprachiger Sprecher innerhalb - Frammenti (2002) ner Meinung nach dominiert auch hier die unter- eines Gesprächs oder gar eines Satzes von einer - Spezzatino (2006) schwellige Angst, nicht zu reüssieren. Diese Angst Sprache in eine andere wechselt, so spricht man - Keine Werbung, prego! (2008) wurde nie richtig verarbeitet. Ein Beispiel dafür ist im Fachjargon von Codeswitching. Wie verhält der Ehrgeiz, den man vielen Secondos zuschreibt. sich das bei dir? Info: www.bod.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 29 LLiteraturiteratur

Hemon, Aleksander: Lazarus. Roman. Baumann, Eric: Einen Sommer noch. Aus dem Amerikanischen von Rudolf von Matt, Peter: Wörterleuchten. Kleine Mein Leben mit der Diagnose Hirntu- Hermstein. Mit Fotografi en von Velibor Deutungen deutscher Gedichte. Carl mor. Gustav Lübbe Verlag. Bergisch Bozovic. Albrecht Knaus Verlag. Mün- Hanser Verlag. München, 2009. 212 Gladbach, 2008. 256 Seiten. chen, 2009. 349 Seiten. Seiten. ISBN 978-3-7857-2355-5 ISBN 978-3-8135-0329-6 ISBN 978-3-446-23298-3. S. 212.

Unter dem Damokles-Schwert Geschichten aus der Alten und Neuen Welt Kleine Feuerwerke der Sprachkunst Eric Baumann: Einen Sommer noch. Mein Leben Aleksander Hemon: Lazarus. Roman. Aus dem Peter von Matt: Wörterleuchten. Kleine Deutungen mit der Diagnose Hirntumor. Amerikanischen von Rudolf Hermstein. deutscher Gedichte.

■ Eric Baumann, Wirtschaftsredaktor beim «Ta- ■ 1908 wird der nur 19-jährige Jude Lazarus Aver- ■ Gedichte bezaubern durch ihre Klangbilder und gesanzeiger», schrieb nach seiner Hirntumorer- buch, vermeintlicher Anarchist, im Haus des Poli- gerne zitieren wir im späteren Leben Reime, die krankung zunächst zuweilen aufwühlende, zu- zeichefs von Chicago erschossen. Seine Schwester wir einst unter Qualen in der Schule haben aus- weilen berührende Kolumnen im «Magazin» des Olga sowie sein Freund Isador werden ebenfalls wendig lernen müssen. Dennoch ist da auch die «Tagesanzeigers». Nun liegt seit letztem Jahr sein verdächtigt, an einer konspirativen Verschwörung Angst vor dem Gedicht, vor dessen Chiffren, die Buch mit dem bezeichnenden Titel «Einen Som- mitzuwirken. oftmals weder für Profi s noch für Laien so einfach mer noch» vor. Hundert Jahre später beschliesst der bosnisch- zu entschlüsseln sind. Peter von Matt, emeritierter Wir erfahren, wie der junge, erfolgreiche Wirt- amerikanische Schriftsteller Vladimir Brik, den Professor für deutsche Literatur der Universität schaftsjournalist sich, obwohl auf dem Sprung zu ungeklärten Mord zum Thema seines Romans zu Zürich, gibt uns mit diesem Band, nicht zum ers- einer Korrespondentenstelle in London, Hals über machen. Verheiratet mit einer amerikanischen ten Mal in seinem Schaffen, ein Instrument an die Kopf in Alice verliebt. Die beiden beschliessen, es Neurochirurgin irischer Abstammung möchte er, Hand, dass uns unsere eigenen Eindrücke nicht mit einer Fernbeziehung zu versuchen. In London nachdem er als Englischlehrer entlassen wurde, nehmen will, diese aber ergänzt und auf eben die- jedoch werden die Kopfschmerzen, welche den auch sein Scherfl ein zum Familienunterhalt beitra- se Weise neue Zugänge ermöglicht. Die kurzen, zu- Journalisten bereits länger begleiten, so heftig, gen. meist auf zwei Seiten beschränkten Interpretatio- dass er nach seiner Rückkehr in die Schweiz an- Ein Stipendium ermöglicht es ihm, seinen Wor- nen füllen Lücken, ohne uns erdrücken zu wollen. lässlich des Weihnachtsfests und seines Geburts- ten Taten folgen zu lassen, und so bricht er ge- Von Matt hat die meisten seiner Gedichtsdeu- tags notfallmässig ins Universitätsspital Zürich meinsam mit seinem wiedergefundenen Freund tungen, welche immerhin dreihundert Jahre lyri- einrückt. Hier wird er mit der niederschmettern- aus Kindertagen, Rora, einem passionierten Foto- sches Schaffen im deutschen Sprachraum umfas- den Diagnose Hirntumor konfrontiert. Dieser kann grafen, in das Europa Averbuchs auf. sen – der Autor betont in seinem Vorwort, dass es zwar erfolgreich entfernt werden, die Überlebens- Die Spurensuche im Mantel eines Roadmovies ihm ein Anliegen ist, diese hier über historische chancen des 34-Jährigen sind dennoch nicht rosig. entpuppt sich alsbald als Konfrontation mit der und Landesgrenzen hinweg zu versammeln – auf Fortan wird sein Alltag durch die unterschiedlichen eigenen multiethnischen Herkunft. Die Immigran- Anregung Marcel Reich-Ranickis für die «Frankfur- Therapien bestimmt. Und diesbezüglich lässt sich tenträume Averbuchs, seine Hoffnungen auf ein ter Allgemeine Zeitung» verfasst. Diesem, der aus Baumann, wenn sein Lebenswille auch gross ist, besseres Leben jenseits des Atlantik widerspiegeln Sicht von Matts mit der Erfi ndung der «Frankfurter immer wieder von für Aussenstehende schwer auch diejenigen der beiden Freunde. Anthologie» einen überaus wichtigen Beitrag zur nachvollziehbaren Entscheidungen leiten: So zieht Aleksander Hemon, welcher regelmässig Bei- Sammlung und Deutung deutscher Lyrik geleistet er beispielsweise die Thrombosestrümpfe nicht an träge für den New Yorker verfasst, gelang be- hat, widmet er «Wörterleuchten». oder setzt Medikamente eigenmächtig ab. reits mit «Nowhere Man» ein fulminantes Début, Die überlegte Auswahl berücksichtigt nicht nur Nicht diese Entscheidungen jedoch sind es, das auch von der sprachlichen Eigenwilligkeit ei- den Kanon der deutschen Literatur, auch von Säu- welche an Baumanns Erfahrungsbericht irritieren, nes Autoren, welcher Englisch als Zweitsprache lenheiligen deutscher Dichtung, wie beispielsweise denn wer weiss schon, wie er mit der Krankheit spricht, lebt. Goethe und Schiller, werden weniger bekannte Ge- Krebs, die, obwohl zweithäufi gste Todesursache In «Lazarus» nun sind wir mit vielfältigen Ge- dichte besprochen. in der Schweiz, immer noch ein Tabu ist, als Be- schichten konfrontiert: Nicht nur verfügt der Ro- Lassen wir uns doppelt verführen: Einerseits troffener umgeht? Als störend empfi nden könn- man über zwei Erzählebenen - derjenigen um das vom dichterischen Schaffen, andererseits von von te man vielmehr, dass er den Leser, die Leserin Schicksals des unglücklichen Einwanderers sowie Matts Deutung, deren Sprache sich oftmals selbst zwar scheinbar an seinem Leben nach der letalen derjenigen um die beiden Freunde Brik und Rora. wie reine Poesie liest. Diagnose teilhaben lässt - so listet er nicht nur Auch die abenteuerlichen Geschichten aus dem Statistiken und Therapieversuche, sondern auch kriegsgebeutelten Sarajevo, welche Rora erzählt, seine diversen Reisen, Treffen mit Freunden und oder die Erinnerungen an Briks Vorfahren verwe- anderes getreulich auf -, wie es aber tatsächlich ben sich zu einem bunten Erzählteppich, der ein in ihm aussieht, erfährt der Leser nicht. Baumann längstvergangenes Kaiser- und Königreich beina- ist, zumindest stellenweise, an dem schwierigen he wieder auferstehen lässt. Unterfangen gescheitert, ein erzähltes Leben, auch wenn es das eigene ist, tatsächlich zum Le- ben zu erwecken. Entstanden ist eine Chronologie des Überlebens. Hoffen wir, dass dieses dem Autor noch lange gelingt.

30 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 LLiteraturiteratur FILOSOFENECKE ÜBERZEUGUNGEN SIND GEFÄHRLICHERE FEINDE DER WAHRHEIT, ALS LÜGEN. SCHWEIZER LITERATUR Friedrich Nietzsche 1878

Menschliches: die wunder • Wenn Einer zum Helden werden will, so muss die Schlange vorher zum Drachen geworden im selbstverständlichen sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind. • «Freude an der Sache» so sagt man: aber in Von Christoph Simon Bild: Alexandra Hermann Wahrheit ist es Freude an sich vermittelst ei- ■ Aare-Hochwasser, August 2005: Die Berufsfeu- der Fliege in seiner Hand. Wäre sie gesund, hätte ner Sache. erwehr setzt einen Rega-Helikopter ein, um fünf- er sie mit einem Handwisch weggescheucht. Die • Gar nicht von sich zu reden, ist eine sehr vor- zehn Personen und zwei Dalmatiner aus dem Ber- kranke Fliege aber müsste er zu Boden fallen las- nehme Heuchelei. ner Mattequartier zu evakuieren. Ein Rettungsboot sen und sie den trampelnden Schritten der Reisen- • Wir sind so gern in der freien Natur, weil die- mit zwei Armeeangehörigen, zwei Polizisten und den aussetzen. Er weiss, dass er sich dabei grau- se keine Meinung über uns hat. einem Sanitätspolizisten gerät in der starken Strö- sam vorkommen würde. Eine gesunde Fliege, die • Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund mung in Seenot, nachdem die Propellerschraube ihm lästig um den Kopf schwirrt, hätte er ohne da- gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung beschädigt worden ist. Das Rettungsboot wird in rüber nachzudenken erschlagen, eine lahme aber desselben. die Wasserwerkgasse abgetrieben, wo sich die fünf will er weder töten noch dem Tod aussetzen.» • Bei einem Todesfall braucht man zumeist Insassen mit viel Glück ins Haus Nr. 14 retten kön- Der dreissigjährige Sachbearbeiter Jakob Wal- Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des nen. ter sieht sich mit einem arbeitsfreien, verlängerten Schmerzes zu lindern, als um zu entschuldi- Der Zürcher Lorenz Langenegger hat um die- Sommerwochenende herausgefordert. Die Ehe- gen, dass man sich so leicht getröstet fühlt. se dramatischen Ereignisse herum seinen ersten frau, die sonst für Freizeitaktivitäten zuständig ist, • Niemand stirbt an tödtlichen Wahrheiten: es Roman arrangiert – «Hier im Regen». «Das Trei- fährt zu ihrer kränkelnden Mutter. In Bern regnet giebt zu viele Gegengifte. ben im Bahnhof unterschied sich nicht von dem es aus Kübeln – auf Nachbar Mosers Angebot, mit • Es giebt keine prästabilirte Harmonie zwi- an einem gewöhnlichen Samstag. Walter hat ein ihm an der Aare bräteln zu gehen, steigt Walter schen der Förderung der Wahrheit und dem anderes Bern erwartet, eines, das den Bildern im nicht ein. Andere Fragen als die Belange des Wo- Wohle der Menschheit. Fernsehen entspricht, ein Bern im Ausnahmezu- chenendes quälen Walter seit längerer Zeit: «Wie- • Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Un- stand oder zumindest in einer allgemeinen Aufre- so lebe ich in Bern?» Und wo steckt sein Freund recht hat, er mag handeln und urtheilen, wie gung. Die Aare ist über die Ufer getreten, in einem Rolf, der Wirt, der von der Polizei vermisst wird? er will. ganzen Stadtteil steht das Wasser mannshoch, Fragen, die Walter nicht beantworten kann, statt- • Wir gehören einer Zeit an, deren Cultur in und die Menschen scheint es nicht zu kümmern. dessen lässt ihn Langenegger tun, was Emmanuel Gefahr ist, an den Mitteln der Cultur zu Grun- (…) In Gruppen stehen die Halbwüchsigen in der Bove in «Meine Freunde» seinen Erzähler tun lässt: de zu gehen. Bahnhofshalle und warten auf andere, die noch «Eines Tages, unschlüssig, was ich mit meiner Zeit • Kein Strom ist durch sich selber gross und kommen, oder rufen solche an, die schon weiterge- anfangen sollte, beschloss ich, einige Stunden in reich: sondern dass er so viele Nebenfl üsse zogen sind. Egal, zu welcher Zeit Walter durch den der Gare de Lyon zu verbringen.» aufnimmt und fortführt, das macht ihn dazu. Bahnhof geht, es stehen immer solche Gruppen In der Folge entschliesst sich Walter, ins Tessin • Die Forderung, geliebt zu werden, ist die herum. Weil er die Einzelnen nicht voneinander un- zu reisen – ein für seine Verhältnisse kühner, aben- grösste der Anmaassungen. terscheiden kann, weiss er nicht, ob es immer die teuerlicher Schritt, da er erstmals keine Rückfahr- • Das unzweideutigste Anzeichen von einer gleichen Gruppen sind, die den ganzen Abend im karte löst. Geringschätzung der Menschen ist diess, Bahnhof verbringen, oder ob sie sich abwechseln. Das mag sich handlungsarm und also ermü- dass man Jedermann nur als Mittel zu sei- Vermutlich sind es immer die gleichen Gruppen, dend anhören, wird aber mit so viel literarischer nem Zwecke oder gar nicht gelten lässt. aber nicht die gleichen Jugendlichen. Ein Kommen Meisterschaft, Leichtigkeit und Geist geschildert, • Männer halten selten einen Beruf aus, von und Gehen von Einzelnen, ohne dass sich die Grup- dass die Lektüre ein reines Vergnügen ist. «Hier im dem sie nicht glauben oder sich einreden, pe als Ganzes jemals aufl öst.» Regen» ist das Porträt einer so genannten grauen er sei im Grunde wichtiger, als alle anderen. Mit einem friedfertigeren, feinsinnigeren Buch Maus, wie man es in dieser Fairness und Behut- Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebha- sind Buchhandlungen und Leserschaft noch nicht samkeit noch nicht gelesen hat. Für einmal lügt bern. beglückt worden. Lorenz Langenegger, in Mann- der Klappentext nicht: Ein Roman, der zu Herzen Allzumenschliches heim und Berlin aufgeführter Theaterautor, hat geht und dort auch bleibt. sich getraut, einen Erstlingsroman zu schreiben, Plaudern Sie mit Alther & Zingg am Mittwoch, 25. der sich über nichts aufregt, sich über nichts lustig Lorenz Langenegger: Hier im Regen. Jung & Jung. März 2009, 19:15h an der Kramgasse 10 im ersten macht, nichts beweist, einzig und allein über das Am 16. März liest Lorenz Langenegger beim Tin- Stock (Gelbes Zimmer) entlang dem Denken von Selbstverständlichste in Erstaunen gerät: «Im kli- tensaufen-Nachfolger «Rauschdichten» im Musig- Friedrich Nietzsche. matisierten Wagen weiss Walter nicht wohin mit bistro Monbijou. ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 31 KKulturultur & GGesellschaftesellschaft SENIOREN IM WEB

Von Willy Vogelsang, Senior

■ Macht surfen im Internet einsam? Im Unter- schied zum Fernseher ist der Bildschirm in der KOLUMNE Regel so platziert, dass nur eine einzige Person darauf schaut. Wer allein wohnt, schaut auch al- lein das Fernsehprogramm. Macht es deswegen kuba – teil 3 einsam? Von Rebecca Panian - Die Insel und ich Bild: Rebecca Panian Wir entscheiden doch selbst, mit welchen Mit- ■ Ich bin von Natur aus neugierig. Sehr. Deshalb Kuba war ich ganze vier Mal im Netz. Viermal in teln und Medien wir den Kontakt mit der Aussen- setze ich mich selbst immer wieder gerne unbe- vier Wochen. Mein absoluter persönlicher Minus- welt und mit anderen Menschen aufnehmen wol- kannten Situationen aus, um erstens zu sehen, rekord. Warum? Erstens, weil der Gang ins Netz len. Der Anschluss ans Internet macht es uns wie ich mich darin behaupte und zweitens, um aus die Geldbörse wirklich ziemlich schrumpfen liess. leicht. Wie schnell ist doch heute eine Kommu- meinem Handeln und aus den damit verbundenen Zweitens: Weil es nicht wirklich leicht war, an einen nikation zu Kindern, Freunden oder Bekannten Reaktionen von aussen Neues über mich und mei- funktionierenden PC zu gelangen und drittens: Weil irgendwo in der Welt über E-Mail möglich. Welch ne Umwelt zu lernen. Unbekannte Situationen tref- die Internetverbindung soooo langsam war. Der immenses Wissen ist über die Suchfunktionen in- fe ich vor allem dann an, wenn ich es wage, mein kubanische Alltag machte mir wieder bewusst, wie nert ganz kurzen Zeiten abzufragen. Wie vielfäl- gewohntes Umfeld zu verlassen - weg vom ach so unglaublich verwöhnt wir hierzulande sind: Klapp tige Interessengruppen und neue Bekanntschaf- vertrauten und automatisierten Alltag. Zugege- – Laptop aufgeschlagen – zack – google auf – zack ten lassen sich per Mausklick fi nden! ben, auch wenn ich das Unbekannte liebe, ich fürch- – online die Zeitung lesen – zack – facebook (auf Diese Vorteile nützt seniorweb.ch auf seinen te mich auch davor. Eine Hassliebe vermutlich. Ich der Suche nach neuen Kontakten) – zack – Outlook Webseiten für die Generation 50+ in hervorra- weiss, was es mir bringt – diese Konfrontation, fast auf und E-Mails checken – zack – noch schnell iTu- gender Weise. Die Interaktionsmöglichkeiten schon eine Art Kampf, ein Kampf um neues Wis- nes starten und so weiter und so fort. Die Welt (des durch registrierte Benutzer in den Foren oder in sen. Aber genauso sitzt mir ständig die Angst im Internets) steht uns offen – jederzeit und mühelos. Kommentaren zu einzelnen Artikeln sind die eine Nacken, einmal an etwas Unbekanntes zu geraten, Dieses Beispiel (stellvertretend für viele andere Form, sich in diesem virtuellen Raum – ich möch- das sich nicht bekannt machen lassen will und mir «Kleinigkeiten» des täglichen Lebens) zeigte mir te den Begriff «Bühne» vermeiden – zu bewegen. damit fremd bleibt. Meine letzte grössere Reise einmal mehr, wie blind wir gegenüber unserem Durch den Benutzernamen und meist auch ein war eine Sprachreise nach Kuba, genauer, Havan- täglichen Luxus geworden sind. Natürlich, es ist Profi lfoto erhalten die Beiträge und Meinungen na. Ich wusste schon sehr viel über Fidels Reich, unser Alltag und wir können ja nichts dafür, dass ein Gesicht. Klar, es braucht etwas Mut, aus der als ich ins Flugzeug stieg. Und irgendwie war ich wir hier geboren wurden, bla bla bla. Richtig. Aber warmen Stube hinaus zu treten und sich zu zei- einfach gespannt, wie sich die Realität gegenüber ich fi nde, dass uns kein Zacken aus der Krone fällt, gen. meinen gesammelten Theorien verhalten würde… wenn wir uns immer wieder mal WIRKLICH vor Au- Seniorweb nennt diese Interaktionsplattform Schwitzen Das Erste, was mich beinahe sprich- gen führen, wie glücklich wir uns schätzen dürfen, Club Seniorweb, eine Community also, die ste- wörtlich umgehauen hat, war die konstante Hitze dass diese «Kleinigkeiten» für uns normal sind. Da- tig wächst, nicht nur virtuell. Schon seit Jahren und die hohe Luftfeuchtigkeit in diesem Land. Ich für kann man ruhig auch mal wieder dankbar sein. bestehen reale Treffen und Veranstaltungen, wo meine ich WUSSTE, dass es heiss sein würde. Klar. Heiraten, leicht gemacht Ich habe mich oft sich Interessierte zusammenfi nden zu Tagungen, Hallo? Karibik und so? Gut. Aber als ich meinen mit dem Leiter meiner Sprachschule unterhalten zur Weiterbildung, zu Ausfl ügen oder ganz ein- Körper tatsächlich diesen Temperaturen aussetzen und versucht, ihm einige Geheimnisse über Kuba fach zum Gedankenaustausch oder gemütlichen musste, war die Überraschung trotz aller Kenntnis zu entlocken. Besonders eine Sache, die er mir an- Schwatz. Die sogenannten Regionalgruppen sind der Temperaturtabellen Kubas enorm: Ich schwitz- vertraute, hat mich wirklich sehr überrascht: Hei- durch Eigeninitiativen von Clubmitgliedern ge- te konstant. Immer. Überall. Ich stieg aus der Du- raten, meinte er, sei vermutlich beinahe das Ein- gründet worden. Neben dem Zürihöck, dem Bas- sche und zwei Minuten später tropfte ich erneut. In fachste, was man in Kuba tun könne. Sich scheiden ler Stammtisch, dem Bäre-Höck und dem Rüebli- der Schweiz bin ich froh, wenn ich meine strahlend lassen übrigens auch. Ich hätte also zum Beispiel Träff (die Namen verraten die Region!) sind neu weissen Beine im Sommer mit Dreiviertelhosen be- in meiner ersten Kuba-Woche heiraten und mich in die Gruppe Zentralschweiz, der Thurträff, der decken und trotzdem der Hitze trotzen kann, ohne der dritten wieder trennen können. Zack und gut is Rhyfall-Träff und der Rätia-Treff entstanden. gleich zu zerfl iessen. Auf Kuba allerdings war es (hier funktioniert das «Zack», ganz im Gegensatz Auch die Macianer haben sich erneut zu einem mir spätestens nach dem zweiten Tag ganz ehr- zur Computerwelt!). Übrigens nutzen sehr viele regelmässigen Treffen im Raum Bern organi- lich SCHEISSEGAL, wie ich aussah – Hauptsache, Kubaner diese Möglichkeit, um so in den Genuss siert. ich musste so wenig Stoff wie möglich am Körper von einigen Hotelübernachtungen zu kommen. Die verschiedensten Themen, Ausfl ugsziele tragen, denn der wiederum hatte ohnehin nur die Denn in Kuba ist es Usus, dass frisch vermählte und weitere spontane Veranstaltungen sind im gemeine Absicht, penetrant nervig auf der Haut Paare vom Staat eine Woche Hotelaufenthalt in Clubkalender und auf den Seiten der Regional- festzukleben. Ich bewunderte die Kubaner an mei- Form von Gutscheinen geschenkt bekommen – gruppen (auf der Startseite in der linken Spalte ner Schule dafür, dass sie es wagten, mit Jeans eine «Flitterwoche» sozusagen. Nicht selten aber im grünen Bereich) angezeigt. Selbstverständlich (richtig festen Jeanshosen) herumzulaufen, ohne verzichtet das glückliche Paar auf die staatlich sind Teilnehmer aus allen Regionen willkommen. zu schwitzen, jedenfalls nicht in Bächen, so wie ich verordnete Hotelromantik, um die Gutscheine auf Falls Sie mal abschalten und heraustreten wollen, es tat. Ein Wunder. Oder jahrelange Übung. dem Schwarzmarkt für ein paar zusätzliche Pesos schauen Sie nach, was in Ihrer Nähe los ist! Computer Die Knappheit an Computern ist zu verscherbeln. Zumindest in Anbetracht dieses Lassen Sie sich überraschen. längst kein Geheimnis mehr. Auch nicht, dass es Supplements lohnt es sich also, auf Kuba zu heira- wahnsinnig teuer ist, das Internet zu benutzen. ten! Na dann: ¡Salud! www.seniorweb.ch Das «wusste» ich also bereits (in der Theorie). In

32 ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 KKulturultur & GGesellschaftesellschaft

KOLUMNE AUS DEM BAU... für die katz Von Irina Mahlstein Bild: Barbara Ineichen ■ Es gibt jene Menschen, die haben das ganze Le- schaften - ich war wohl geistig umnachtet, als ich ledrigen Ärmchen zu fühlen. ben im Griff, alles ist geplant und es kommt dann mich dafür eingeschrieben habe - bin ich bei den Allerdings, eine Katze hätte ich schon sehr ger- auch genau so. Die wussten schon als sie zwölf Ökofuzzis gelandet, will plötzlich die Welt, bezie- ne. Katzen sind putzig, und haben was drauf. Da Jahre alt waren, dass sie zum Beispiel Medizin hungsweise das Klima retten, und sitz nun immer gibt es diese Schmusekatzen, die sich einem gleich studieren wollen. Und das tun sie dann auch. Stu- noch in der geschützten Werkstatt, im Bau halt. vor die Füssen werfen und sich rollen in höchster dieren einfach alles durch und gehen dann zurück, Ohne handfeste Pläne, obwohl schon fast dreissig, Wonne und einem unmissverständlich mitteilen, wohnen sozusagen wieder da, wo sie aufgewach- was denn eigentlich aus mir werden sollte. Ist ja dass man nun gefälligst ihren Bauch kraulen soll. sen sind, und nehmen dort eine Stelle an. Verrückt, auch o.k. Wenn da nur nicht diese heimgekehrten Dann gibt es die immer grimmigen Viecher, die so was. Ich mache ja auch ständig Pläne, ich bin Superärzte wären, die einem dann ständig unter stolz ihr Revier verteidigen, oder dann die stolzen wohl eine der besten Planerinnen der Welt. Ich die Nase reiben, dass man doch noch gar nichts Kater, die ihre Nase nicht genug hoch halten kön- würde ohne mit der Wimper zu zucken einen Ter- erreicht hat, und sie sich bereits um all die alten nen. Jene, die dann im Frühling allen anderen die min für Juni 2011 ausmachen. Kein Problem, würde Damen im Kaff kümmern können, die sonntags Weibchen ausspannen. So wie etwa Manni Matters mir nicht einmal als etwas Sonderbares auffallen. vergessen haben, ihre Medizin runter zu spülen Ferdinand. Das arme Ding fi ndet leider einen grau- Ich brauche immer einen Plan, am besten einen und deshalb montags extra Liebkosungen von ei- samen Tod. Der Herr Brändli, der hatte vielleicht ganzen Lebensplan. Nur: Bei mir lösen sich diese nem ausgebildeten Medizingeber brauchen. an jenem Tag, an welchem er dem Ferdinand ein wunderschönen Pläne allzu oft wieder in Luft auf, Ich hänge dafür in meiner überteuerten Miet- Ende machte, ganz viele violette Damen bei sich, es verschwindet einfach alles. Weg! Und ich bastle wohnung in Zürich, habe gerade einem wunderba- die anstatt den grünen Pillen die roten wollten. mir wieder einen neuen Plan, der mir natürlich viel ren Menschen Asyl in meiner Wohnung angeboten, Aber ich muss sagen, dieses unerwartete WG- besser als der erste erscheint. Und schlussendlich lebe also sozusagen wieder in einer WG. Geniesse Leben, das hält mich jung. Und da ich nun doch kommt dann trotzdem alles anders. sogar wieder den WG-Alltag und lache mich kaputt, langsam gegen die Dreissig zusteure, muss man Sonst hätte ich wohl französische Literatur wenn die liebste Mitbewohnerin am Morgen zuerst Strategien entwickeln um gegen das fortschrei- studiert. Wäre schon lange mit dem Studium fer- in die Migros rennt, sich dort Mascara kauft, weil tende Alter anzutreten. Auf alle Fälle geniesse ich tig und wäre Französischlehrerin an irgendeinem sie es vergessen hat, sich dort im Klo einschliesst, die DVD-/Cuba-Libre-Abende auf unserem Sofa. Gymnasium geworden, wo gerade eine Stelle frei um zuerst einmal den Wimpern schwarze Farben Bei diesen Gelegenheiten erscheint es mir dann gewesen wäre. Irgendwo im tiefen Aargau oder so. zu geben, bevor so richtig auf die Strasse getre- extremst sinnlos, einen Lebensplan zu entwickeln, Hätte eine schöne Mietwohnung und eine Katze ten wird. Herrlich, sowas. Besser als violett-blau und nehme mir jeweils vor, mehr im Jetzt zu leben, (ich fi nde Katzen unglaublich toll!). Aber nein: Nach leuchtende Haare zu empfangen, die aus älteren einfach ein wenig in den Tag hinein. einem fehlgeschlagenen Studium in Agrarwissen- Köpfen spriessen, um dann deren Puls an einem ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 33 KKulturultur & GGesellschaftesellschaft

KOLUMNE wer, über längere zeit betrachtet Von Peter J. Betts ■ Wer, über längere Zeit betrachtet, jede Woche on zu spielen begonnen haben, bis ein/e «Anleger/ allen Geld einnehmen, das – zu einem sehr beschei- fünf bis sechs Tage im Atelier verbringt, dort täg- in» ein paar Millionen Franken an die durch Über- denen Teil – die Ersteren möglichst wirkungsvoll lich drei bis zehn Stunden (versuchen Sie das ein- wachungskameras gesicherte Privatwand hängen ausgeben können. Die Effi zienz der Kulturausgaben mal!) auf professionelle Art an Bildern arbeitetet, kann. In Form eines Bildes, durch alle Verdienen- wird jedoch durch die letzteren effi zient verhindert. auf härteste Weise darum ringt, immer wieder den den im «Zwischenhandel» versteuert. Glück. Im Deshalb: Die rechte Hand weiss nicht, was die linke Stil zu verbessern, immer wieder neue, relevante, diskret gesicherten Eigenheim. Im Steueramt. Bei tut - als Grundprinzip für die «öffentlichen Hände». weiterführende Aussagen zu machen, (allfällige) den Anwälten, die sich um einen anderen Verlauf Dieses Grundprinzip funktioniert nicht nur für die Betrachtende zum Dialog mit dem Betrachteten bemüht oder den eingeschlagenen gebahnt hatten. Mitglieder der sgkb. Bei Schriftstellerinnen, die zu zwingen, rezensierte Ausstellungen durchführt Dabei wird übersehen, dass die zwei Personen, die beispielweise aus dem städtischen Literaturkredit und auch Bilder verkauft, aber nach Abzug der einander ursprünglich das Entstehen des Werkes einen Werkbeitrag zugesprochen erhalten haben, Kosten für das tägliche Leben, die Mieten für Ate- (und vieler nicht verkaufter Bilder) ermöglichten, dominieren ähnliche Mechanismen wie bei den Ma- lier und Wohnung, für Material und Arbeitsspesen eigentlich zusätzlich eine heute auch staatliche lerinnen. Bei Tänzerinnen auch. Und bei Filmema- in der Steuererklärung keinen Geldgewinn nach- Aufgabe erfüllen: Den Dialog zwischen Kulturförde- cherinnen, Musikerinnen und so weiter. Auch wenn weisen kann, arbeitet nicht, sondern frönt einer rungsinstanzen (zum Beispiel die Putzfrau) und zu in der Schweiz Bildende Künstler als meines Wis- Liebhaberei. So sehen es die Steuerämter. So se- fördernden Kulturschaffenden (zum Beispiel dem sens erste sich - irgendwie als Berufsverbände ge- hen es die Gerichte, die diese Sichtweise der Steu- Maler und Tiefdrucker) mit allen Konsequenzen zu werkschaftlich organisiert haben, heisst das doch erämter stützen. Wovon lebt die Malerin oder der führen, alle Risiken bezüglich der erreichten oder nicht, dass es, schon aus der beschriebenen Pro- Maler überhaupt? Natürlich, der Lebenspartner nicht erreichten Ziele zusammen zu übernehmen blematik für alle heraus, nicht sinnvoll wäre, wenn - ein Zahnarzt oder Bürolist vielleicht - oder die und dabei aber die «Kulturbudgets» des Staates Filmerinnen, Malerinnen, Schriftstellerinnen, Musi- Lebenspartnerin – eine Putzfrau oder Forscherin schonen. Des gleichen Staates, dessen Steueramt kerinnen, Tänzerinnen und so weiter gemeinsam an der Universität oder Sachbearbeiterin in einem und Gerichte verhindernd in den gesellschaftsför- an diesen Netzwerken bauen sollten – und warum Amt - verwendet sein oder ihr Einkommen, damit dernden Prozess eingreifen. Die rechte Hand weiss eigentlich nicht zusammen mit den Kulturabteilun- ihre oder seine künstlerische Arbeit überhaupt erst nicht, was die linke tut - als Grundprinzip für die gen (das Wort ist ja auch weiblichen Geschlechts)? möglich wird. Aber in seiner oder ihrer Steuererklä- «öffentlichen Hände»? Nun, Vereinigungen, Gesell- Nicht nur sehr viel Arbeit für die Verbände wäre rung kann auch er oder sie die Kosten für das tägli- schaften, Organisationen von Kulturschaffenden, gefragt, sondern vor allem auch Solidaritätsbereit- che Leben, die Mieten für Atelier und Wohnung, für zum Beispiel die «Gesellschaft Schweizerischer schaft. Auch für die sgbk – warum nicht als Initi- Material und Arbeitsspesen der Künstlerin oder des Bildender Künstlerinnen» (gsbk), die 2009 ihr hun- antin? Jemand muss ja anfangen. Hundert Jahre Künstlers nicht abziehen: Offenbar verdient der Le- dertjähriges Bestehen feiert (wenn auch unter dem Bedenkzeit könnten als Anlaufszeit, das Jubiläum benspartner oder die Lebenspartnerin so gut, dass Namen GSMBK oder «Gesellschaft Schweizerischer als Katalysator verstanden werden. er/sie sich den Luxus einer Müssiggängerin oder Malerinnen, Bildhauerinnen und Kunstgewerblerin- Solidarität bei Kunstschaffenden? Das IST eines Müssiggängers mit kosten- und zeitaufwän- nen», respektive dann GSBK: «Gesellschaft Schwei- ein Problem. Ich erinnere mich, wie mich sechs diger Liebhaberei leisten kann. Er hält sie aus, wie zerischer Bildender Künstlerinnen» gegründet), Künstlerinnen gebeten hatten, im Hinblick auf ihre in landläufi gerer Form eine Mätresse. Sie hält ihn könnten oder müssten sich beispielsweise eigent- Gruppenausstellung für jede einen Text für die Aus- aus, wie in gängigerer Form einen Lustknaben. So lich die Aufgabe stellen, solche als legal dekla- stellungsbroschüre zu schreiben. Obwohl ich jede sehen es die Steuerämter. So sehen es die Gerich- rierten Missverhältnisse zu ändern. Wie? Dahinter der Künstlerinnen und ihre Arbeit recht gut kannte, te, die diese Sichtweise der Steuerämter stützen. würde viel ÜberzeugungsARBEIT stecken; es gälte besuchte ich selbstverständlich jedes Atelier, liess Denn: Nur Geld hat Wert. Der Rest ist Luxus, falls es etwa, ein riesiges Netzwerk von Beziehungen auf- mir die neueren Werke zeigen, die Auswahl für die keinen Anreiz für Spekulation darstellt. Und ein sol- zubauen, mit der Aufl age, dass jeder geknüpfte Ausstellung, diskutierte über künstlerische Positio- cher Anreiz besteht unabhängig von einer künstle- Knoten eigenständig wieder ein Netz mit ähnlicher nen und persönliche Anliegen – halt wie man das so rischen Qualität, einem künstlerischen Wert. Dass Funktionsweise «aufbaut» – und dass all diese Net- macht. Ich liess die neu gewonnenen Einsichten im sich zwei (warum nicht Liebende), beide kunstbe- ze gemeinsam genutzt würden. Das hier skizzierte Vergleich zu dem, was ich schon vorher zu wissen sessen und mit dem Traum, das perfekte Kunstwerk Modell kann auch als Schneeballeffekt bezeichnet geglaubt hatte, durch den Kopf gehen und setzte entstehen zu lassen, zusammentun: Du malst, ich werden. Förderungsstellen für das Kulturschaffen, mich hinter die Schreibmaschine, gab fristgerecht verdiene unseren Lebensunterhalt, und diese For- kantonale wie kommunale oder regionale einer- das Manuskript ab. Natürlich hatte ich Proteste mel ermöglicht Kunst, das übersteigt das Vorstel- seits und die Steuerbehörden von Gemeinden, Ge- erwartet und war bereit, Missverständnisse zu ver- lungsvermögen von Steuerämtern und Gerichten. meindeverbänden, Kantonen anderseits haben wi- stehen versuchen und den Text gegebenenfalls zu Denn: Nur Geld hat Wert, nicht als Werkzeug, um dersprüchliche Ziele und meinen damit, einer und verändern. Und ich erhielt von fünf Damen Protes- Wertvolleres entstehen zu lassen, sondern für sich derselben Einrichtung zu dienen. Die einen, indem te. Aber nicht inhaltlich und aussagemässig: Jede allein. Kunst ist schon wertvoll, das sehen auch sie Geld nach ihren Förderungskriterien ausgeben, warf mir vor, dass der Text zu ihrem Schaffen kür- Steuerämter und Gerichte ein, dann nämlich, wenn damit für alle Leute – jetzt und in Zukunft - in Kan- zer war als bei einer der anderen. (Vergleichbares der/die Autor/in, für das gemalte Bild vielleicht ein ton, Gemeindeverbänden, Gemeinden (und weit da- ist mir auch mit Männern passiert.) Dabei hatte es paar Tausender eingestrichen hat (natürlich ver- rüber hinaus) ein Schatz an kulturellem Erbe nach- sich bei durchschnittlich sechzig Zeilen um ein bis steuert), DANN aber der Handel und die Spekulati- haltig wachsen kann; die anderen, indem sie von drei Zeilen Differenz gehandelt. Bei allen hatte ich

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versucht, alles mir Wichtigscheinende zu sagen – de zu unterstützen und zu fördern. Dabei geht es sich heute die Männerwelt so weit emanzipiert zu und das hatte ungleich viel Platz beansprucht. So- nicht um Prestigeobjekte und Wettbewerbsvorteile haben, dass Mann nicht mehr meint, ernstzuneh- lidarität bei Kunstschaffenden? Ein Problem. Kei- beispielweise einzelner Städte, sondern um die Pro- mende Kunst werde ausschliesslich von Männern neswegs nur bei Frauen oder nur in der Bildenden duzentinnen und Produzenten von lebensnotwen- geschaffen. Komponistinnen, Schriftstellerinnen, Kunst. Wirklich nicht. Dabei wäre diese Solidarität diger geistiger Nahrung für alle, um das Humani- Filmerinnen, Malerinnen und so weiter werden als heute wichtiger als je. sieren des Alltags. Warum bauen Kulturschaffende gleichwertig anerkannt. Endlich ist man so weit, Eine Überlegung mag das Verständnis des Sach- nicht ein sinnvolles Solidaritätsverhältnis auf mit die Qualität der Arbeit zu werten und nicht das verhaltes vielleicht fördern: Ohne die Raubzüge der den öffentlichen Kulturförderungsstellen in gegen- Geschlecht der Produzierenden. Wäre es langsam Renaissancepäpste gäbe es wohl die bekannten seitigem Interesse – jenseits von der Choreografi e nicht an der Zeit, anstatt geschlechtsbestimmte Werke Michelangelos nicht. Jeder Künstler – Künst- der Aasgeier? Auch hier sind Verbände von Künst- Verbände neu solche zu bilden, die die Interessen al- lerinnen waren offi ziell rar – war auf einen Mäzen lerinnen und Künstlern gefragt. Auch hier könnte ler Kulturschaffenden verträten – auch das ausser- angewiesen. Eine «staatliche Kulturförderung» gab die Jubilarin sgbk vorangehen. halb der Choreografi e der Aasgeier. Auch das: soli- es nicht. Je bedeutender der Mäzen, desto bedeu- Solidarität. Vor hundert Jahren setzten in der darisch mit den Kulturämtern. Auch das unter Wah- tender der Künstler und seine Werke, mindestens in Schweiz Künstlerinnen ein Zeichen dafür, dass, rung individueller und berufl icher Unterschiede, den Augen des Mäzens und in jenen des Künstlers. wie seit dem Beginn der Menschheitsgeschich- aber mit gebündeltem Einsatz für gemeinsame In- Welcher Künstler hätte einen Kollegen und Konkur- te, schöpferische Gestaltungskraft nicht einfach teressen – im Interesse aller, der Kunstschaffenden renten zum Futtertrog geführt? Wenige rissen sich Männersache ist und gründeten die GSMBK, heute und der ganzen übrigen Gesellschaft. Das feierliche um die spärlichen Abfälle der Erfolge von Mächti- die sgbk. Noch vor zwanzig Jahren galt es in den Hundertjahrjubiläum als Ausgangspunkt für eine gen. Aber heftig. Der Tanz der Aasgeier ist zur be- Kunstkommissionen als selbstverständlich, dass gemeinsame Reise in die Zukunft? Ob auch hier die stimmenden Choreografi e geworden, bis in unsere professionell malende Männer durch die Tätigkeit sgbk vorangehen kann? Zeit hinein. Selbst wenn dieser Erklärungsversuch ihrer Frauen in die Lage versetzt wurden, Künstler nur eine Spur von Richtigkeit birgt: Zur Problem- zu sein. Der Lohn der lösung trägt er nicht bei. In den Kulturabteilungen Lehrerin oder der Putz- aller staatlichen Ebenen sind die fi nanziellen Mittel frau oder der Forscherin sehr beschränkt und die Gesuchsfl ut nimmt zu; die an der Universität oder ausserstaatlichen Mäzene – wenn auch nicht die der Sachbearbeiterin in Sparen Sie Raubzüge – nehmen zunehmend ab. Anderseits: einem städtischen Büro Die Einsicht, dass nur Solidarität der Kulturschaf- wurde verwendet, damit fenden zur Verbesserung der Verhältnisse aller Kunst entstehen konnte. führen kann, müsste ihre Verbände motivieren. Der Maler, der Kupfer- Kultur wird gemäss Europarat wie folgt defi niert: stecher, der Bildhauer nie bei der «Kultur ist alles, was dem Individuum erlaubt, sich waren als Künstler aner- gegenüber der Welt, der Gesellschaft, und auch kannt – ob sie verkauf- gegenüber dem heimatlichen Erbgut zurechtzufi n- ten oder nicht. Mann den, alles, was dazu führt, dass der Mensch seine und Frau: eine Produk- Werbung! Lage besser begreift, um sie unter Umständen ver- tionseinheit. Eine Zahn- ändern zu können.» Kultur ist also der Wegweiser arztfrau, die durchaus für die Menschen, wie sie sich verhalten, wie sie professionell originäre, Lieber beim Druck. verstehen und handeln könnten. Alles, was nicht qualitativ bedeutende Natur ist – aber im Einklang mit ihr. Die Künste sind Gemälde produzierte, ein wichtiger Teil des Wegweisers. Und alles, was blieb selbstverständlich mit künstlerischer Arbeit im Zusammenhang steht, eine malende Hausfrau. 99.– das «Kulturschaffen» also. Da der Rohstoff der Kul- Eine Hausfrau in die turschaffenden Phantasie ist und deshalb die Aus- GSMBA («Gesellschaft 500 Exemplare einandersetzung mit ihren originären Produkten schweizerischer Maler, Karten/Flyer A6 wiederum schöpferische Phantasie weckt, eignen Bildhauer und Architek- sich diese Produkte besonders gut als wichtiger Teil ten» heute «visarte») des Wegweisers, sind für die Gesellschaftsentwick- aufnehmen? Wo käme lung oft sogar entscheidend; und weil Kulturschaf- Mann da hin? Manchmal fende in der Regel schon von der Art ihrer Arbeit sind glücklicherweise her kaum das Lebensnotwendige in Form von Geld schon damals bisweilen verdienen, erachten die öffentlichen Hände es für Pannen passiert. Glück- notwendig, das Kulturschaffen und Kulturschaffen- licherweise scheint ensuite - kulturmagazin Nr. 75 | März 09 35 KKulturultur & GGesellschaftesellschaft

MUSEUMSNACHT WESTSIDE – AUCH EINE MUSEUMSDESTINATION ■ Westside erweitert sich anlässlich der Berner Mu- selben Ort die verschiedensten Räume sich konsti- seumsnacht am 20. März 2009 mit dem Schwer- tuieren und wieder aufl ösen. Hinter den feinsinnigen punkt Gegenwartskunst. Die drei international tätigen Äusseren seiner Werke steht immer ein Angebot mit Schweizer Künstler – Bob Gramsma, Kerim Seiler und ungewissem Ausgang: Der Eintritt in eine Welt, in der L/B – bauen in die Architektur von Daniel Libeskind sich im Vertrauten vorzüglich das Überraschende er- Rauminstallationen, die neue, fremde Welten schaf- eignet. Seine Werke bilden eine Einheit, wo Raum und fen. Untermalt werden sie mit der Afterhour-Techno- Zeit lebendige Formungen sind, die der Geist an den Musik von Thomas Fehlmann. Sinnesempfi ndungen vornimmt. Bob Gramsma lebt Zusammen mit über dreissig Kulturhäusern in der und arbeitet in Reeuwijk und Zürich, seine Werke sind Stadt Bern öffnet Westside in dieser Museumsnacht in Europa und den USA zu sehen. seine Türen. Um 22.00 Uhr löschen dann die Lichter Thomas Fehlmann (1957, Zürich): Ambient- und Shops und in den beiden Haupt-Kristallen vom Dub-Techno-Set im Foodcourt. Der Pionier der elek- Westside erstrahlen die Rauminstallationen von Bob tronischen Musik-Szene studierte Kunst in Hamburg Gramsma, Kerim Seiler und L/B. und spielte ab 1979 mit seiner ersten Band PALAIS Kerim Seiler (1974, Bern): Die polymorphe Figur SCHAUMBURG schon in ganz Europa auf. Nach sie- BARNUM im Südkristall. Der 34-jährige Künstler ist ben Singles, drei Alben und 89 Konzerten mit der bekannt für seine Skulpturen und Rauminstallatio- Band zog es ihn 1985 nach Berlin, wo er sich fortan nen. Werke von ihm stehen unter anderem auch im der neu entstehenden Techno-House-Musik widmete. Zürcher Migros Museum für Gegenwartskunst. Kerim Bis heute schrieb Fehlmann unglaubliche Musikge- Seiler verrückt die Tradition konkreter Kunst aus ih- schichte mit über zweihundert Veröffentlichungen, rem abgesicherten Formalismus. Die Figur BARNUM unter anderem mit The Orb oder als Produzent von entsteht in Zusammenarbeit mit der Professur Hove- Erasure. Fehlmann schafft durch seine Afterhour- stadt, ETH-Zürich. Seilers Werke sind in der Schweiz, Techno-Musik ein Ambiente wie kein anderer. Deutschland, Südafrika und Amerika zu sehen. (www.fl owing.de) L/B: Eine raumgreifende Skulptur im Nordkristall. Sabina Lang (1972, Bern) und Daniel Baumann (1967, Programm der Museumsnacht im Westside San Francisco). Das Künstlerpaar – unter anderem be- • WESTSIDE STORY - Führungen à max. 20 Pers. kannt durch ihr Projekt Everland Hotel anlässlich der alle 20 Minuten. Von 19:00h bis 22:00h. Expo.02 – stellen ihre Werke weltweit aus: von Krakau • Filmvorführungen zur Entstehung von Westside PL, Kiev UKR über Paris bis nach New York. im Foodcourt. Bob Gramsma (1963, Uster): Shooting the crys- • GEGENWARTSKUNST – Installationen in der Ar- tal, 0I#09122 – ein Schuss ins Leere, im Nordkristall. chitektur. Von 18:00h bis 02:00h. Gramsmas gekrümmter Schuss in den Nordkristall • LICHTERLÖSCHEN - Kostenloser Shuttle-Betrieb! zerlegt die Leere in seine Vielschichtigkeit und er- Von 22:00h bis 02:00h möglicht die Vorstellung, dass sich an ein und dem- (Pressetext / vl) Werbung tut weh - vor allem wenn man ensuite im ABO ZH 3/09 vergisst, zu Sie wissen nicht mehr wohin? ensuite - kulturmagazin im ABO lässt Sie Monat für Monat Kultur und Kunst entdecken (inklusive die Beilage artensuite)! ➜ buchen...

❑ Ausgabe Bern ❑ Ausgabe Zürich Vorname ❑ Abonnement je Stadt Fr. 77.00 ❑ Abo für Studierende / AHV / IV Fr. 52.00 Name Klassischer Fall: Sie haben das neue ensuite in den Händen und stellen fest, ❑ Ich möchte ein Abo verschenken. Hier mein Adresse dass Sie vergessen hatten, Ihr Inserat Name, Adresse und Wohnort: zu buchen. Das können wir nicht mehr PLZ / Ort korrigieren! Im nächsten Monat werden wir Sie aber daran erinnern! Rufen Sie E-Mail an: Telefon 031 318 60 50 - oder infor- mieren Sie sich auf www.ensuite.ch

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