Plenarprotokoll 19/171

Deutscher

Stenografischer Bericht

171. Sitzung

Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Inhalt:

Änderungen der Tagesordnung ...... 21385 A Fraktion der AfD: Versorgungssicher- Absetzung des Zusatzpunktes 31 ...... 21385 A heit gewährleisten – Kohleausstieg ablehnen – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 22: Steffen Kotré, , Dr. Heiko a) – Zweite und dritte Beratung des von der Heßenkemper, weiterer Abgeordneter Bundesregierung eingebrachten Ent- und der Fraktion der AfD: Widerruf wurfs eines Strukturstärkungsgeset- des Kohleausstiegs zur Verhinderung zes Kohleregionen strukturpolitischer Fehlentwicklun- Drucksachen 19/13398, 19/14623, gen in den Kohlerevieren 19/14939 Nr. 5, 19/20714 (neu) ...... 21385 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Lorenz Gösta Beutin, , – Bericht des Haushaltsausschusses ge- Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeord- mäß § 96 der Geschäftsordnung neter und der Fraktion DIE LINKE: Drucksache 19/20726 ...... 21385 B Strukturstärkungsgesetz Kohleregi- b) – Zweite und dritte Beratung des von der onen zukunftsfähig machen Bundesregierung eingebrachten Ent- Drucksachen 19/16852, 19/16853, wurfs eines Gesetzes zur Reduzierung 19/17528, 19/16845, 19/20666, und zur Beendigung der Kohlever- 19/20663 ...... 21386 A stromung und zur Änderung weiterer d) Beschlussempfehlung und Bericht des Gesetze (Kohleausstiegsgesetz) Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Drucksachen 19/17342, 19/18472, und nukleare Sicherheit zu dem Antrag 19/18779 Nr. 1.13, 19/20714 (neu) . . . . . 21385 B der Abgeordneten Lorenz Gösta Beutin, – Bericht des Haushaltsausschusses ge- , Dr. Gesine Lötzsch, weite- mäß § 96 der Geschäftsordnung rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Drucksache 19/20727 ...... 21385 C LINKE: Deutschlands Klimagas-Budget als gerechten Beitrag zum Pariser Kli- c) Beschlussempfehlung und Bericht des maschutzabkommen transparent ma- Ausschusses für Wirtschaft und Energie chen – zu dem Antrag der Abgeordneten Drucksachen 19/15775, 19/20665 ...... 21386 A Steffen Kotré, Tino Chrupalla, Dr. Heiko Heßenkemper, weiterer Abgeordneter in Verbindung mit und der Fraktion der AfD: Volkswirt- schaftliche Fehlentwicklungen ver- meiden – Kohleausstiegsgesetz zum Zusatzpunkt 25: Wohle der Bevölkerung stoppen Antrag der Abgeordneten Claudia Müller, – zu dem Antrag der Abgeordneten , , weiterer Abge- Steffen Kotré, Tino Chrupalla, Leif-Erik ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Holm, weiterer Abgeordneter und der GRÜNEN: Wirtschaftsstrukturen der Zu- II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 kunft – Unternehmenscluster und regionale Zusatzpunkt 26: Kreisläufe in strukturschwachen Regionen Antrag der Abgeordneten Tino Chrupalla, etablieren Jürgen Pohl, Hansjörg Müller, weiterer Abge- Drucksache 19/14843 ...... 21386 A ordneter und der Fraktion der AfD: Abschaf- , Bundesminister BMWi ...... 21386 B fung der Vorfälligkeit der Sozialversiche- rungsbeiträge – Rückkehr zur bewährten Tino Chrupalla (AfD) ...... 21387 C alten Regelung Dr. (SPD) ...... 21388 C Drucksache 19/20569 ...... 21405 D Dr. (FDP) ...... 21389 D in Verbindung mit Lorenz Gösta Beutin (DIE LINKE) ...... 21390 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 21391 C Zusatzpunkt 27: (SPD) ...... 21392 A Antrag der Abgeordneten , , Michael Dr. (CDU/CSU) ...... 21393 D Theurer, weiterer Abgeordneter und der Frak- Lorenz Gösta Beutin (DIE LINKE) ...... 21394 C tion der FDP: Unternehmen schnell und effizient entlasten – Fälligkeit von Sozial- Dr. Martin Neumann (FDP) ...... 21395 B versicherungsbeiträgen wieder in den Fol- Steffen Kotré (AfD) ...... 21396 A gemonat verlegen Drucksache 19/20556 ...... 21406 A (SPD) ...... 21396 D (FDP) ...... 21406 B Dr. Lukas Köhler (FDP) ...... 21397 D Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 21407 A Caren Lay (DIE LINKE) ...... 21398 C Leif-Erik Holm (AfD) ...... 21408 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 21399 B (SPD) ...... 21409 B Michael Kretschmer, Ministerpräsident (DIE LINKE) ...... 21410 C (Sachsen) ...... 21400 B Claudia Müller (BÜNDNIS 90/ Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 21412 B DIE GRÜNEN) ...... 21400 D (CDU/CSU) ...... 21413 C (SPD) ...... 21401 D Tino Chrupalla (AfD) ...... 21414 D Marco Bülow (fraktionslos) ...... 21402 C (SPD) ...... 21419 A Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 21403 A Manfred Todtenhausen (FDP) ...... 21420 A (CDU/CSU) ...... 21420 D Namentliche Abstimmung ...... 21405 A

Ergebnis ...... 21415 C Tagesordnungspunkt 24: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Tagesordnungspunkt 23: eines Gesetzes zum Schutz elektron- a) Antrag der Abgeordneten Michael ischer Patientendaten in der Telematik- Theurer, Reinhard Houben, Dr. Marcel infrastruktur (Patientendaten-Schutz- Klinge, weiterer Abgeordneter und der Gesetz – PDSG) Fraktion der FDP: Detox für Deutsch- Drucksachen 19/18793, 19/19365, land – Bürokratie entschlacken, die 19/19655 Nr. 3, 19/20708 ...... 21423 D Kräfte der deutschen Wirtschaft entfes- b) Beschlussempfehlung und Bericht des seln Ausschusses für Gesundheit Drucksache 19/20581 ...... 21405 D – zu dem Antrag der Abgeordneten b) Antrag der Abgeordneten , Christine Aschenberg-Dugnus, Michael , Dr. , wei- Theurer, , weiterer terer Abgeordneter und der Fraktion der Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Corona digital bekämpfen – FDP: Prozesse im Gesundheitswesen Start-up-Hilfen gerecht verteilen durch Digitalisierung modernisieren Drucksache 19/20613 ...... 21405 D – zu dem Antrag der Abgeordneten , , Matthias in Verbindung mit W. Birkwald, weiterer Abgeordneter Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 III

und der Fraktion DIE LINKE: Elekt- (CDU/CSU) ...... 21438 A ronisches Rezept freiwillig und sicher (AfD) ...... 21439 B ausgestalten (Erfurt) (SPD) ...... 21440 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , Susanne Ferschl, (DIE LINKE) ...... 21442 B Matthias W. Birkwald, weiterer Abge- (FDP) ...... 21442 C ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Patienteninteresse voranstellen und Friedrich Straetmanns (DIE LINKE) ...... 21444 C gemeinwohlorientierten Gesundheits- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ datenschutz einführen DIE GRÜNEN) ...... 21446 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria (CDU/CSU) ...... 21447 B Klein-Schmeink, Dr. , , weiterer Abgeordne- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN) ...... 21448 A GRÜNEN: Patientenorientierung und (SPD) ...... 21448 D Patientenbeteiligung in der Digitali- (FDP) ...... 21449 B sierung im Gesundheitswesen sicher- stellen und dezentrale Forschungs- (CDU/CSU) ...... 21450 A dateninfrastruktur aufbauen Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 19/18946, 19/18943, DIE GRÜNEN) ...... 21451 C 19/18944, 19/19137, 19/20708 ...... 21424 B Marc Henrichmann (CDU/CSU) ...... 21451 D (CDU/CSU) ...... 21424 B (CDU/CSU) ...... 21452 B (AfD) ...... 21425 C Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE (SPD) ...... 21427 A GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) ...... 21453 B Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 21428 A Namentliche Abstimmung ...... 21453 D Dr. Achim Kessler (DIE LINKE) ...... 21429 A Tino Sorge (CDU/CSU) ...... 21430 B Ergebnis ...... 21464 C Dr. Achim Kessler (DIE LINKE) ...... 21430 D Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 26: DIE GRÜNEN) ...... 21431 A Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Wahl , Bundesminister BMG ...... 21432 A eines vom Deutschen Bundestag zu be- Dr. (FDP) ...... 21433 B nennenden Mitgliedes des Kuratoriums Martina Stamm-Fibich (SPD) ...... 21434 A des Deutschen Instituts für Menschenrechte gemäß § 6 Absatz 2 Nummer 4 und 5 des (CDU/CSU) ...... 21434 D Gesetzes über die Rechtsstellung und Auf- (SPD) ...... 21435 C gaben des Deutschen Instituts für Men- Dr. (CDU/CSU) ...... 21436 B schenrechte (DIMRG) Drucksache 19/19906 ...... 21453 D

Zusatzpunkt 39: Bericht des Ausschusses für Inneres und Hei- Tagesordnungspunkt 27: mat gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsord- a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und nung zu den von den Fraktionen FDP, DIE SPD: Empfehlungen des Kompetenz- LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN netzwerkes Nutztierhaltung konsequent eingebrachten Entwurf eines … Gesetzes zur umsetzen und Zukunftsperspektiven für Änderung des Bundeswahlgesetzes die Tierhaltung in Deutschland schaffen Drucksachen 19/14672, 19/20149 (neu) ...... 21437 D Drucksache 19/20617 ...... 21454 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des in Verbindung mit Ausschusses für Ernährung und Landwirt- schaft zu dem Antrag der Abgeordneten Zusatzpunkt 38: , Berengar Elsner von Antrag der Abgeordneten Albrecht Glaser, Gronow, , weiterer Tobias Matthias Peterka, , weite- Abgeordneter und der Fraktion der AfD: rer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Zukunftsfähige Nutztierhaltung – Pla- Wahlrechtsreform – Der Weg zu einem klei- nungs- und Investitionssicherheit für neren Bundestag Landwirte herstellen Drucksache 19/20602 ...... 21437 D Drucksachen 19/20120, 19/20673 ...... 21454 B IV Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 c) Beschlussempfehlung und Bericht des b) Antrag der Abgeordneten Joana Cotar, Ausschusses für Ernährung und Landwirt- , Uwe Schulz, weiterer Abge- schaft zu dem Antrag der Abgeordneten ordneter und der Fraktion der AfD: Re- , , Dr. Gero form des Bundestages – Änderung der Clemens Hocker, weiterer Abgeordneter Geschäftsordnung des Deutschen Bun- und der Fraktion der FDP: Tierwohl euro- destages – Digitale Abstimmungsgeräte päisch denken und baurechtlich ermög- nutzen lichen Drucksache 19/19243 ...... 21463 A Drucksachen 19/20047, 19/20673 ...... 21454 B c) Antrag der Abgeordneten Thomas Seitz, d) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. , Jens Maier, weiterer Ab- Ausschusses für Ernährung und Landwirt- geordneter und der Fraktion der AfD: Re- schaft zu dem Antrag der Abgeordneten form des Bundestages – Änderung der Dr. , Ralph Lenkert, Geschäftsordnung des Deutschen Bun- Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter destages – hier: Sachverständige vor und der Fraktion DIE LINKE: Nutztier- Hass schützen haltung an Fläche binden Drucksache 19/20655 ...... 21463 A Drucksachen 19/15120, 19/20673 ...... 21454 B Patrick Schnieder (CDU/CSU) ...... 21463 B e) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, , Oliver Krischer, weiterer Thomas Seitz (AfD) ...... 21467 A Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dr. (SPD) ...... 21468 B NIS 90/DIE GRÜNEN: Tiere artgerecht halten und Bäuerinnen und Bauern or- (FDP) ...... 21469 A dentlich entlohnen Friedrich Straetmanns (DIE LINKE) ...... 21469 D Drucksache 19/20566 ...... 21454 C Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 21470 C in Verbindung mit Dr. (CDU/CSU) ...... 21471 B Zusatzpunkt 28: Joana Cotar (AfD) ...... 21472 B Erste Beratung des von den Fraktionen der Sonja Amalie Steffen (SPD) ...... 21472 D CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs Michael Frieser (CDU/CSU) ...... 21473 D eines Gesetzes zur Verbesserung des Tier- wohls in Tierhaltungsanlagen (AfD) (Erklärung nach § 30 Drucksache 19/20597 ...... 21454 C GO) ...... 21474 C (CDU/CSU) ...... 21454 C Wilhelm von Gottberg (AfD) ...... 21455 B (SPD) ...... 21456 A Tagesordnungspunkt 21: Karlheinz Busen (FDP) ...... 21456 D a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Start einer Nationalen Diabetes- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) ...... 21457 C Strategie – Gesundheitsförderung und Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Prävention in Deutschland und Versor- DIE GRÜNEN) ...... 21458 B gung des Diabetes mellitus zielgerichtet weiterentwickeln Julia Klöckner, Bundesministerin BMEL . . . . . 21459 B Drucksache 19/20619 ...... 21475 D Dr. (FDP) ...... 21459 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des (SPD) ...... 21461 B Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Maria Klein-Schmeink, Tagesordnungspunkt 28: Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE a) Beschlussempfehlung und Bericht des GRÜNEN: Nationale Diabetes-Strategie Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität umgehend initiieren und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Drucksachen 19/14389, 19/20710 ...... 21475 D Abgeordneten Thomas Seitz, Jens Maier, , weiterer Abgeordneter c) Beschlussempfehlung und Bericht des und der Fraktion der AfD: Änderung der Ausschusses für Gesundheit zu dem An- Geschäftsordnung des Deutschen Bun- trag der Abgeordneten Jörg Schneider, destages – hier: Besondere Lage been- Jürgen Braun, , weiterer Abge- den – § 126a GO-BT aufheben ordneter und der Fraktion der AfD: Schwe- Drucksachen 19/19523, 19/20654 ...... 21462 D re Verlaufsformen bei Infektion mit dem Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 V

Coronavirus SARS-CoV-2 reduzieren – (CDU/CSU) ...... 21489 B Vitamin-D-Mangel in der Bevölkerung Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 21490 A beseitigen, Immunabwehr stärken Drucksachen 19/20118, 19/20709 ...... 21476 A Zusatzpunkt 41: in Verbindung mit Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der AfD: Lehren aus den Gewaltexzessen Zusatzpunkt 29: in Stuttgart ziehen – Für eine Wende in der Migrations- und Sicherheitspolitik Antrag der Abgeordneten Dr. , , Grigorios Dr. (AfD) ...... 21491 A Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der (CDU/CSU) ...... 21492 B Fraktion der FDP: Diabetes mellitus – Rah- Benjamin Strasser (FDP) ...... 21493 B menbedingungen für Prävention, Versor- gung und Forschung schaffen (SPD) ...... 21494 B Drucksache 19/20555 ...... 21476 A Gökay Akbulut (DIE LINKE) ...... 21495 C (CDU/CSU) ...... 21476 A Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 21496 D Jörg Schneider (AfD) ...... 21477 A Axel Müller (CDU/CSU) ...... 21498 A (SPD) ...... 21477 D (AfD) ...... 21499 A Dr. Andrew Ullmann (FDP) ...... 21478 C (SPD) ...... 21500 B Dr. (DIE LINKE) ...... 21479 C (CDU/CSU) ...... 21501 C Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/ Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 21502 C DIE GRÜNEN) ...... 21480 B Alexander Krauß (CDU/CSU) ...... 21481 A Nächste Sitzung ...... 21503 D (SPD) ...... 21481 C (CDU/CSU) ...... 21482 B Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete ...... 21505 A Tagesordnungspunkt 29: Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Anlage 2 Dr. Alexander S. Neu, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Deutschen Vorsitz im Sicherheitsrat der , Dr. und Vereinten Nationen für aktive Friedens- Dr. (alle SPD) zu der Abstim- politik nutzen mung über Drucksache 19/20548 ...... 21483 B – den von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurf eines Strukturstärkungsgeset- in Verbindung mit zes Kohleregionen und – den von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurf eines Gesetzes zur Reduzie- Zusatzpunkt 30: rung und zur Beendigung der Kohlever- Antrag der Abgeordneten , stromung und zur Änderung weiterer , (Augsburg), Gesetze (Kohleausstiegsgesetz) weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Tagesordnungspunkt 22 a und b) ...... 21505 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Friedens- arbeit und zivile Krisenprävention wäh- Anlage 3 rend der COVID-19-Pandemie stärken, Abwärtsspirale verhindern Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstim- Drucksache 19/20587 ...... 21483 C mung über Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 21483 C – den von der Bundesregierung eingebrach- Dr. (CDU/CSU) ...... 21484 C ten Entwurf eines Strukturstärkungsgeset- zes Kohleregionen und Armin-Paulus Hampel (AfD) ...... 21485 B – den von der Bundesregierung eingebrach- (SPD) ...... 21486 B ten Entwurf eines Gesetzes zur Reduzie- rung und zur Beendigung der Kohlever- (FDP) ...... 21487 C stromung und zur Änderung weiterer Ottmar von Holtz (BÜNDNIS 90/ Gesetze (Kohleausstiegsgesetz) DIE GRÜNEN) ...... 21488 C (Tagesordnungspunkt 22 a und b) ...... 21506 A VI Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Hilde Mattheis (SPD) ...... 21506 A Anlage 5 Dr. (SPD) ...... 21507 B Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. (BÜNDNIS 90/DIE Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU) ...... 21508 C GRÜNEN) zu der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag zu den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Reduzierung und zur Beendi- gung der Kohleverstromung und zur Ände- Anlage 4 rung weiterer Gesetze (Kohleausstiegsgesetz) (Tagesordnungspunkt 22 b) ...... 21511 A Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstim- mung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Re- Anlage 6 duzierung und zur Beendigung der Kohlever- stromung und zur Änderung weiterer Gesetze Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten (Kohleausstiegsgesetz) Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) zu der nament- (Tagesordnungspunkt 22 b) ...... 21509 A lichen Abstimmung über den Antrag gemäß § 80 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem (CDU/CSU) ...... 21509 A von den Fraktionen FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten (CDU/CSU) ...... 21509 C Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des (CDU/CSU) ...... 21509 D Bundeswahlgesetzes (Zusatzpunkt 39) ...... 21511 B Dr. (CDU/CSU) ...... 21509 D

Sylvia Pantel (CDU/CSU) ...... 21510 A Anlage 7 (CDU/CSU) ...... 21510 C Amtliche Mitteilungen ...... 21511 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21385

(A) (C)

171. Sitzung

Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Beschlussempfehlung und Bericht des Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte Ausschusses für Wirtschaft und Energie nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. (9. Ausschuss) Interfraktionell sind folgende Änderungen der Tages- Drucksache 19/20714 (neu) ordnung vereinbart worden: – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Der Zusatzpunkt 31 soll abgesetzt werden. Im An- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung schluss an den Tagesordnungspunkt 29 soll auf Verlangen Drucksache 19/20727 der Fraktion der AfD eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Lehren aus den Gewaltexzessen in Stuttgart ziehen – Für c) Beratung der Beschlussempfehlung und des eine Wende in der Migrations- und Sicherheitspolitik“ Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und (B) stattfinden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre Energie (9. Ausschuss) (D) keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Steffen Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 d Kotré, Tino Chrupalla, Dr. Heiko und den Zusatzpunkt 25 auf: Heßenkemper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Volkswirtschaftliche Fehlentwicklun- eines Strukturstärkungsgesetzes Kohle- gen vermeiden – Kohleausstiegsgesetz regionen zum Wohle der Bevölkerung stoppen – zu dem Antrag der Abgeordneten Steffen Drucksachen 19/13398, 19/14623, Kotré, Tino Chrupalla, Leif-Erik Holm, 19/14939 Nr. 5 weiterer Abgeordneter und der Fraktion Beschlussempfehlung und Bericht des der AfD Ausschusses für Wirtschaft und Ener- Versorgungssicherheit gewährleisten – gie (9. Ausschuss) Kohleausstieg ablehnen Drucksache 19/20714 (neu) – zu dem Antrag der Abgeordneten Steffen Kotré, Tino Chrupalla, Dr. Heiko – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Heßenkemper, weiterer Abgeordneter schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung und der Fraktion der AfD Drucksache 19/20726 Widerruf des Kohleausstiegs zur Ver- hinderung strukturpolitischer Fehlent- b) – Zweite und dritte Beratung des von der wicklungen in den Kohlerevieren Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reduzierung und zur – zu dem Antrag der Abgeordneten Lorenz Beendigung der Kohleverstromung und Gösta Beutin, Caren Lay, Dr. Gesine zur Änderung weiterer Gesetze (Kohle- Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der ausstiegsgesetz) Fraktion DIE LINKE Drucksachen 19/17342, 19/18472, Strukturstärkungsgesetz Kohleregi- 19/18779 Nr. 1.13 onen zukunftsfähig machen 21386 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Drucksachen 19/16852, 19/16853, ganz unterschiedliche Interessen und Gesichtspunkte un- (C) 19/17528, 19/16845, 19/20666, 19/20663 ter einen Hut bringen mussten. Es ist ein Generationen- projekt. Es wurde hart gerungen. Noch immer sind nicht d) Beratung der Beschlussempfehlung und des alle mit jedem einzelnen Punkt unserer Entscheidungen Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- einverstanden. schutz und nukleare Sicherheit (16. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, verge- Lorenz Gösta Beutin, Ralph Lenkert, genwärtigen Sie sich einmal, was wir in den zehn Jahren Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter seit dem Ausstiegsbeschluss aus der Kernenergie geleis- und der Fraktion DIE LINKE tet haben – in den meisten Fällen übrigens in einem frak- tionsübergreifenden Konsens. Asse-Gesetz, Endlager- Deutschlands Klimagas-Budget als ge- suchgesetz, Übertragung der Rückstellungen der rechten Beitrag zum Pariser Klimaschutz- Kernkraftwerke, lieber Jürgen Trittin, um sie für künftige abkommen transparent machen Generationen für die Endlagerung zu sichern, völlige Drucksachen 19/15775, 19/20665 Neuorganisation des EEG, Neuorganisation des Baus der Stromleitungen und jetzt ebendieses Generationen- ZP 25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia projekt. Wir tun das nicht aus Daffke, wir tun das, weil Müller, Markus Tressel, Anja Hajduk, weiterer wir wollen, dass Wohlstand und wirtschaftliche Stärke Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ unseres Landes einhergehen mit klimapolitischer Ver- DIE GRÜNEN träglichkeit, mit Nachhaltigkeit. Das ist unser Ziel, und Wirtschaftsstrukturen der Zukunft – Unter- diesem Ziel kommen wir heute einen großen Schritt nä- nehmenscluster und regionale Kreisläufe in her. strukturschwachen Regionen etablieren Wir wissen, dass sich viele Menschen Sorgen machen, Drucksache 19/14843 dass eine Entscheidung, die sie klimapolitisch nachvoll- ziehen können, am Ende die Lebensgrundlagen ihrer Fa- Es liegen mehrere Änderungsanträge und Entschlie- milien und ihre Arbeitsplätze gefährden könnte. Deshalb ßungsanträge vor. ist uns etwas historisch Einmaliges gelungen: Zum aller- ersten Mal in der langen Geschichte des Strukturwandels Über einen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ in der Bundesrepublik Deutschland – Beendigung der Die Grünen zu dem Entwurf eines Kohleausstiegsgeset- Steinkohleförderung, Restrukturierung der Stahlindustrie zes der Bundesregierung werden wir später namentlich in den 80er-Jahren – federn wir diesen Strukturwandel so abstimmen. (B) ab, dass wir neue Arbeitsplätze schaffen, bevor die alten (D) Ich weise schon jetzt darauf hin, dass die namentliche Arbeitsplätze alle wegfallen. Wir werden bis zu 40 Mil- Abstimmung wieder in der Westlobby erfolgen wird und liarden Euro investieren, um den Menschen in den Braun- Sie zur Stimmabgabe 30 Minuten Zeit haben werden. kohlerevieren, in der Lausitz, im Mitteldeutschen Revier, im Rheinischen Revier eine Zukunftsperspektive zu ge- Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten ben. Wir werden öffentliche Arbeitsplätze in die Regio- beschlossen. nen verlagern; die ersten Hunderte von Arbeitsplätzen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem sind bereits in den letzten Monaten entstanden. Und wir Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. werden transparent und nachvollziehbar festlegen und vertraglich absichern, wann welches Kraftwerk vom Netz (Beifall bei der CDU/CSU) geht.

Peter Altmaier, Bundesminister für Wirtschaft und Ich weiß, dass sich einige von Ihnen einen schnelleren Energie: Kohleausstieg gewünscht hätten. Wir haben vorgesehen, dass das Zeitalter der Kohleverstromung spätestens 2038, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- vielleicht sogar schon 2035 zu Ende gehen wird. Wenn es ren! Es ist noch keine zehn Jahre her – ziemlich genau durch die Marktkräfte dazu kommen sollte, dass der Aus- neun Jahre –, dass der Bundestag mit großer und breiter stieg früher geschehen kann, dann werden wir die Markt- Mehrheit im Juni 2011 den endgültigen Ausstieg aus der kräfte nicht behindern. Aber wir haben die Garantie ge- Nutzung der Kernkraft bis 2022 beschlossen hat. Diesen geben, wann es spätestens so weit ist. Das, meine sehr Beschluss haben wir entgegen mancher Zweifel umge- verehrten Damen und Herren, ist für die Befriedung der setzt. Wir werden pünktlich wie vorgesehen das letzte Diskussion wichtig; denn wir sind das einzige Industrie- Kernkraftwerk abschalten. land dieser Größe, das gleichzeitig aus der friedlichen ( [SPD]: Wir mussten Sie Nutzung der Kernenergie und dann 15 Jahre später aus aber jagen!) der Nutzung der Kohleverstromung aussteigt. Heute, weniger als ein Jahrzehnt später, beenden wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit den vorliegenden Gesetzen die Kohleverstromung in der SPD) Deutschland – rechtssicher, wirtschaftlich vernünftig, so- Das sind die historischen Aufgaben und die Leistung, die zial ausgewogen und verträglich. Das fossile Zeitalter in wir zu vollbringen haben. Deutschland geht mit dieser Entscheidung unwiderruf- lich zu Ende. Ich weiß, dass diese Entscheidung uns Zu der Kritik an der einen oder anderen Maßnahme und vielen von Ihnen nicht leichtgefallen ist. Weil wir – einige meinen, wir hätten ein oder zwei Jahre früher Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21387

Bundesminister Peter Altmaier (A) aussteigen können – sage ich: Wir fühlen uns genau wie Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke (C) alle anderen dem Anliegen des Klimaschutzes und der mich bei allen, die daran mitgewirkt haben – auch bei den Dekarbonisierung verpflichtet. Fraktionen des Deutschen Bundestages, bei meiner eige- nen Fraktion und bei der Koalitionsfraktion –, die es (Zuruf der Abg. Katrin Göring-Eckardt ermöglicht haben, dieses Gesetz vor der Sommerpause [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) zu verabschieden. Lassen Sie uns diesen Weg auch in Aber wir fühlen uns auch der Notwendigkeit und dem Zukunft weitergehen! Er ist wirtschaftlich und klimapoli- Auftrag einer jederzeit sicheren Stromversorgung ver- tisch im Interesse unseres Landes. pflichtet, egal wie die Wind- und Wetterverhältnisse sind, Vielen Dank. egal wie die Produktionsverhältnisse sind, egal wie die wirtschaftliche Situation ist. Auch wollen wir – das haben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wir mit dem Konjunkturprogramm der Bundesregierung ordneten der SPD) klargemacht – dafür sorgen, dass der Strom in Deutsch- land bezahlbar bleibt. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der CDU/CSU) Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD. Wir haben heute mit die höchsten Strompreise für private (Beifall bei der AfD) Haushalte, für Mittelständler und für die Industrie. Wir wollen erreichen, dass die Strompreise in Deutschland im Tino Chrupalla (AfD): Laufe des nächsten Jahrzehnts wieder auf ein europä- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und isches Durchschnittsniveau zurückgeführt werden kön- Kollegen! Liebe Landsleute! Die AfD hat ihre Haltung nen – in die richtige Richtung, Schritt für Schritt. Dafür zum Kohleausstieg nicht geändert. Wir haben unsere Kri- stellen wir im Konjunkturprogramm 11 Milliarden Euro tik hier schon mehrfach zur Sprache gebracht. Eine ent- zusätzlich zur Verfügung. scheidende Frage, die wir hier immer wieder gestellt ha- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte ben, ist: Wo soll eigentlich der neue Strom herkommen? gerne an Sie alle appellieren, dieses Gesetz nicht klein- Wenn Sie hier jetzt eine volldigitalisierte Gesellschaft mit zureden, sondern die positiven Errungenschaften in den künstlicher Intelligenz und Elektroautos aufbauen wol- Vordergrund zu stellen, an denen so viele mitgewirkt len, dann werden Sie sehr, sehr viel Strom benötigen. haben – natürlich die Umweltbewegung, aber ganz sicher Die Windkraft wird das nicht stemmen können. Die auch die deutsche Wirtschaft und die Gewerkschaften, Windkraft hat das schon in der Vergangenheit nicht stem- natürlich auch diejenigen, die für erneuerbare Energien (B) men können. Selbst wenn Sie jetzt auch noch unsere (D) kämpfen, aber ganz sicher auch die Beschäftigten in den Nachbarländer mit Windrädern zupflastern, wird es nicht Braun- und Steinkohlekraftwerken, die am Ende ihre reichen. In Nordschweden sollte ja schon eines der letzten eigenen Interessen eingebracht haben in einen Gesamt- unberührten Naturparadiese einem Windpark weichen, kompromiss, der ihnen neue Zukunftsperspektiven gibt. um Strom für Deutschland zu generieren. Dem Ansehen Dieser Kohleausstieg, meine sehr verehrten Damen Deutschlands in der Welt sind solche Aktionen sicherlich und Herren, ist auf europäischer Ebene – und wir haben nicht zuträglich, auch wenn Sie sich selbst hier ständig als ja seit vorgestern die Präsidentschaft der Europäischen Ökostromstreber feiern. Union inne – mit großem Beifall und mit großer Aner- (Beifall bei der AfD) kennung bedacht worden. Wir haben eine gute Balance gefunden. Als wir entschieden, aus der Nutzung der Darüber hinaus kritisieren wir auch die Kurzfristigkeit Kernkraft auszusteigen, lag der Anteil erneuerbarer Ener- des geplanten Kohleausstiegs. Das Ziel 2038 erscheint gien an der Stromversorgung bei 20 Prozent – eher darun- uns übereilt und absolut überhastet. ter als darüber. In diesem Halbjahr – leider Gottes auch (Zuruf von der SPD) mitbeeinflusst durch die Coronapandemie – lag der An- teil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch bei Wir plädieren stattdessen für die Verlängerung der Frist über 50 Prozent . bis 2050, so wie es im Übrigen auch die Industrie und die Energieversorger fordern. (Beifall des Abg. Klaus Mindrup [SPD]) In weniger als einem Jahrzehnt haben wir diesen Anteil (Beifall bei der AfD – [BÜND- mehr als verdoppelt, und das, meine Damen und Herren, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denn nun?) ohne Blackout, ohne Störung der Stromversorgung, ohne Sonst sieht es nämlich so aus, als würde die Bundesregie- große Krisen. Wir sind, was unsere Energieversorger an- rung mutwillig entscheidende Wirtschafts- und Erwerbs- geht, weltweit führend, was die geringe Zahl der Fehl- zweige zunichtemachen, und zwar ohne vorher Ersatz- stunden betrifft, was die geringe Zahl der Unterbrechun- konzepte zu Ende gedacht zu haben. Dies bestätigt im gen der Stromversorgung angeht. Auch dafür möchte ich Übrigen auch das ifo-Institut. Eine solche Politik ist ver- den Übertragungsnetzbetreibern, den Verteilnetzbetrei- antwortungslos, vor allem gegenüber der ansässigen Be- bern, allen Beschäftigten in der Energiebranche ein herz- völkerung, deren Arbeitsplätze und Lebenskonzepte da- liches Dankeschön und meine Anerkennung aussprechen. von abhängen, ob tragfähige Strukturen vorhanden sind oder eben nicht, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der AfD) 21388 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Tino Chrupalla (A) aber auch gegenüber den Energieversorgern und den Un- (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE (C) ternehmen, die nicht wissen, was auf sie zukommt, und GRÜNEN]: Sie wissen doch nicht, was das deshalb keine Planungssicherheit haben. ist!)

Die Bevölkerung fürchtet zu Recht den Verlust gut- und fördern Sie bestehende Strukturen. Weltfremde Zu- bezahlter Industriearbeitsplätze, für die es eben keinen kunftsutopien und Testlabore will und braucht in der Lau- Ersatz geben wird. Wir reden hier nicht nur von sitz niemand. Das hatten wir schon mal. 8 000 Leuten im Bergbau, sondern auch von 16 000 Zulie- Vielen Dank. ferfirmen und Handwerksbetrieben. Die sächsischen Handwerkskammern haben die Regierung aufgefordert, (Beifall bei der AfD – Katrin Göring-Eckardt neue Wertschöpfungsketten noch vor dem Ausstieg zu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz schwa- erschließen. Wir haben noch keinen einzigen neuen Ar- che Rede! – Dr. Anton Hofreiter [BÜND- beitsplatz geschaffen, Herr Altmaier. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Wirrköpfe! Ab- surd!) (Beifall bei der AfD) Außerdem unterstützen wir die Forderung nach Struk- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: turhilfen für das Handwerk sowie die Errichtung einer Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Matthias Sonderwirtschaftszone in der Lausitz. Das sage ich schon Miersch, SPD. seit vier Jahren. Herr Kretschmer, Sie können sich erin- nern. 2017 haben Sie mich für diesen Vorschlag ausge- (Beifall bei der SPD) lacht. Jetzt fordern Sie es selbst. Ich staune. Auch die FDP ist jetzt auf einmal für die Einrichtung einer Sonder- Dr. Matthias Miersch (SPD): wirtschaftszone. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heu- te auch ganz besonders: Liebe Zuschauer! Das haben wir (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. Christian eben von der einen Seite gehört: alles zu schnell etc. Dürr [FDP]) Gestern ist die Parteizentrale, in der mein Wahlkreis- Auf der polnischen Seite funktioniert das übrigens wun- büro ist, beschmiert worden. Heute werde ich auf einem derbar. Es würde auch die wirtschaftliche Entwicklung in Plakat in Hannover als Klimagegner dargestellt. Das tut der Lausitz wesentlich vorantreiben. jemandem, der seit 15 Jahren in diesem Haus versucht, gute Klimapolitik zu machen, ein bisschen weh. Aber es Die Abwanderung der jungen Generation findet bereits (B) zeigt auch, wie diskutiert wird. Ich sage ganz bewusst: (D) statt, Herr Altmaier, jetzt schon. Das liegt unter anderem Wir müssen aufeinander aufpassen; denn solch ein gesell- daran, dass keine tragfähigen Konzepte vorliegen, die die schaftspolitisches Großprojekt geht nur miteinander, Jugend motivieren, vor Ort zu bleiben und ihre Visionen nicht gegeneinander. mit einzubringen. Auch auf diese Gruppe könnte eine Sonderwirtschaftszone motivierend wirken und sie dazu (Claudia Moll [SPD]: Richtig!) veranlassen, tragfähige, zukunftsfähige Projekte selbst zu All die Argumente, die gerade im Netz ausgetauscht entwickeln und das große Potenzial der Region auszu- werden, sind legitim; man kann sie in der Demokratie alle schöpfen. Wenn schon Test- und Modellregion, dann sol- vorbringen. Ich möchte aber auf Folgendes hinweisen: len sich die jungen Leute hier verwirklichen und auspro- Wenn ein Wissenschaftler beispielsweise sagt, man solle bieren können und nicht irgendwelche internationalen den Kohleausstieg hier mit der Situation in Frankreich Hightechmegakonzerne. Wirklich nachhaltige Strukturen vergleichen, dann ist das, als würde man Äpfel mit Birnen müssen von unten wachsen. Sie können nicht von oben vergleichen. aufgezwungen werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der AfD) der CDU/CSU) Wie gesagt, mich würde interessieren, woher der viele Denn Frankreich setzt auf Atomkraft. Strom für das anvisierte Silicon Valley in Sachsen und der Lausitz kommen soll, insbesondere jetzt, wo die ein- Das, was wir da draußen machen können, ist, unsere heimische Stromerzeugung durch Braunkohle abgewi- Meinung ganz, ganz stark zu vertreten. Aber damit kriege ckelt wird. ich noch kein Gesetz. Damit kriege ich keine Transfor- mation. Damit kriege ich keine Sicherheit. Diese kriege Außerdem vermisse ich die Berücksichtigung der ich nur, wenn ich in diesem Haus tatsächlich eine Mehr- Landwirtschaft in den Überlegungen zum sogenannten heit zustande bekomme. Das haben wir geschafft, meine Strukturwandel. Es geht hier immerhin größtenteils um sehr verehrten Damen und Herren. den ländlichen Raum. Landwirtschaft und Handwerk passen besser zusammen als Handwerk und KI. Es muss (Beifall bei der SPD) schließlich auch darum gehen, die vielen toten Dörfer Die Grünen sind mit Jamaika an genau dieser Frage wiederzubeleben, die durch die Landwirtschaftspolitik hinsichtlich der ersten Jahre gescheitert. der DDR und der BRD großen Schaden erlitten haben. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Bitte, benutzen Sie Ihren gesunden Menschenverstand, GRÜNEN]: Nein! An der FDP!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21389

Dr. Matthias Miersch (A) Deswegen sage ich: Es ist ein Riesenerfolg, dass wir hier Das 65-Prozent-Ziel hinsichtlich der erneuerbaren (C) heute den Kohleausstieg beschließen. Das erste Mal wird Energien verankern wir das erste Mal gesetzlich. Richtig in einem hochindustrialisierten Land der Kohle- und ist, dass wir zwischen 2022 und 2030 noch nachbessern Atomausstieg gesetzlich fixiert. müssen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ralph (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Brinkhaus [CDU/CSU]) GRÜNEN]: Die Rede spricht für sich!) Es ist ein Riesenerfolg, dass wir es nicht dem Markt Das Innovationsprojekt, das vielen wichtig war, fehlt. überlassen, sondern den Regionen 40 Milliarden Euro in Aber ich bin sehr guten Mutes, dass wir beispielsweise den nächsten 20 Jahren zur Verfügung stellen, damit Zu- mit Moorburg ein Pilotprojekt schaffen, um Wasserstoff kunft gestaltet werden kann. als eine Energie der Zukunft Mitte der 20er-Jahre zum Leben zu erwecken. Dann hätten wir genau diesen Pfad (Beifall bei der SPD) tatsächlich gewährleistet. Es ist ein Erfolg, dass wir die Betroffenen in den Kraft- (Beifall bei der SPD) werken nicht alleine lassen, sondern sie auffangen durch das Geld, was wir geben; auch soziale Härten werden Ich sage ganz bewusst an diejenigen, die jetzt gleich durch das Anpassungsgeld abgefedert. sagen werden, das wäre durch einen CO2-Preis alles billiger gewesen: Gucken Sie sich mal an, wie sich der (Beifall bei der SPD – Annalena Baerbock Emissionshandel in den letzten zehn Jahren entwickelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stellt nie- hat. mand infrage!) (Zurufe von der FDP) Es ist auch ein Riesenerfolg, dass dieses Gesetz natür- lich nichts zementiert. Vielmehr werden wir 2022, 2026, Das war alles andere als sicher. Der größte Batzen, den 2029 und 2032 jeweils überprüfen, wie weit wir sind. wir heute aufwenden, ist für die Region und für die Men- Auch das ist Flexibilität, die ein solches Gesetz braucht. schen, nicht für die Konzerne. (Beifall bei der SPD – Annalena Baerbock (Tino Chrupalla [AfD]: So ein Quatsch!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2023 ist ge- Ich sage Ihnen: Große Transformation geht nur, wenn wir strichen!) einen starken Staat haben, der diese Entwicklung auch mit auffängt. Insofern, glaube ich, gehen wir heute einen Ich will noch einmal sagen: Der Weg der SPD ist im- historischen Schritt. (B) mer das Gemeinsame. Vor über 150 Jahren haben sich (D) Leute zusammengetan, weil sie wussten: Die großen He- Aber die Arbeit beginnt jetzt erst; rausforderungen kann man nicht alleine bewerkstelli- gen. – Deswegen war es richtig, die Kohlekommission (Christian Dürr [FDP]: Die Menschen sind zu aus ganz unterschiedlichen Gruppen zu bilden: mit doof! Innovation, das muss der Staat machen! Greenpeace, mit den Gewerkschaften, mit der Industrie. Was ist das denn für eine Politik? Das ist ja irre!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Warum halten Sie sich nicht daran?) denn dieser ganze Ausstiegspfad kann nur gelingen, wenn wir gleichzeitig das erneuerbare Zeitalter noch viel Jetzt sage ich, Oliver Krischer: Gucken wir uns mal an, stärker voranbringen. was wir heute beschließen. (Christian Dürr [FDP]: Null Zutrauen in die (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Menschen! Null!) NEN]: Ja!) Insofern: Wir können uns überhaupt nicht zurücklehnen; Zu den Punkten, die die Kommission vorgelegt hat: es geht weiter. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Die Abschaltquoten für 2022 werden eingehalten, die Dies ist ein Erfolg dieser Großen Koalition. für 2030 werden eingehalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE der CDU/CSU) GRÜNEN]: Das hilft doch nicht, das Schönreden!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Auch die Kommission hat gesagt – in einem schwierigen Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Martin Neumann, Kompromiss; aber mit der Zustimmung aller, bis auf eine FDP. Region –, dass der späteste Ausstieg 2038 sein soll. Na- (Beifall bei der FDP) türlich gibt es die Option, vorzeitig auszusteigen, im Braunkohlebereich sogar drei Jahre früher entschädi- gungsfrei. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Dr. Martin Neumann (FDP): Umsetzung des Grundgedankens dieser Kommission. Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um eines gleich klarzustellen: Wir sind für den (Beifall bei der SPD – Zurufe vom BÜND- Kohleausstieg, schon weil es bestehende Revierkonzepte NIS 90/DIE GRÜNEN) gibt. Wir sind auch für eine nachhaltige Strukturentwick- 21390 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dr. Martin Neumann (A) lung in den Kohleregionen. Aber, liebe Bundesregierung, Für Versorgungssicherheit und geordnete Strukturent- (C) in Ihr Boot steigen wir nicht. Wir lehnen Ihren Weg ab. wicklung spielen nicht nur Garzweiler, sondern auch die ostdeutschen Kraftwerke eine große Rolle. Die Bundes- (Beifall bei der FDP) regierung betreibt hier, offenkundig getrieben durch die Jetzt liegt ein Gesetzespaket vor, es kommt viel zu „Ideologitis“ der Grünen, eine teure Symbolpolitik. spät, aber es gibt dieses Paket. Positiv ist die Tatsache, Bisher schalten wir nur ab. Wo befinden sich die Ein- dass Geld in die Strukturentwicklung in den betroffenen schalter? Regionen fließen soll. Das ist aber gleichzeitig auch der (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) erste negative Punkt, den ich hier heute ansprechen möchte. Von den versprochenen 40 Milliarden Euro sind Ein durchgehendes Gesamtkonzept, liebe Bundesregie- nur etwa 14 Milliarden zusätzliche Mittel. Der Rest soll rung, ist hier nicht erkennbar. Wir brauchen deutlich mehr im Umfang des jeweiligen Haushaltgesetzes bereitstehen. Marktwirtschaft und einen Wettbewerb emissionsarmer Energieträger, Liebe Koalition, ist Ihnen aufgefallen, dass es einen Widerspruch gibt zwischen den geplanten Finanzhilfen (Beifall bei der FDP) für Kommunen nach Artikel 104 des Grundgesetzes eine intelligente Kombination aus erneuerbaren Ener- und dem Ausschluss direkter Förderung privater Investi- gien, innovativen Energiespeichern, Entbürokratisierung, tionen? Anreize für private Investitionen? Klare Fehlan- Netzausbau und Digitalisierung. zeige! (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Der Änderungsantrag der Koalition, im Ausschuss GRÜNEN]: Warum behindern Sie das dann?) vorgelegt, umfasst fast 60 Seiten. Außerdem gibt es noch einen Entschließungsantrag, ebenfalls im Ausschuss vor- Zum Schluss möchte ich noch ganz kurz auf eine Pas- gelegt, in dem Sie private Investitionen und Sonderab- sage im Entschließungsantrag der Grünen eingehen. Dort schreibungen fordern. Genau das fordern wir auch. Aber steht: Wir lehnen Straßenbauprojekte ab. – Da frage ich warum schreiben Sie das nicht gleich ins Gesetz? mich ganz ehrlich: Auf welchen Straßen dürfen denn dann in Zukunft die batteriebetriebenen Elektrofahrzeuge (Beifall bei der FDP) fahren? Es geht um die Verantwortung für die Menschen, für (Beifall bei der FDP) die Beschäftigten, für die Unternehmen und für die Kom- Ich fasse zusammen: Wir brauchen erstens einen star- munen in den Regionen. Ihnen muss eine echte Perspek- ken Emissionshandel. (B) tive geboten werden, indem Arbeitsplätze geschaffen (D) werden. Die Liste an Dingen, meine Damen und Herren, (Christian Dürr [FDP]: Richtig!) die in beiden Gesetzen falsch angegangen werden, ist endlos. Ich nenne als Beispiel die Hängepartie bei den Wir brauchen zweitens einen Wettbewerb emissions- Entschädigungen. Wir wissen – das ist nicht neu –: Immer armer Energieträger. Wir brauchen drittens Versorgungs- wenn Politik in Wirtschaft eingreift, kostet das. sicherheit und ein Energiemonitoring. Und wir brauchen viertens Wirtschaftswachstum, Innovationen, Entbüro- Trotzdem schafft die Bundesregierung – das will ich kratisierung und private Investitionen. Kurz gesagt: Er- hervorheben – mit den Gesetzen keine Rechtssicherheit, innern Sie sich an die drei V! Die Menschen brauchen sondern einen planwirtschaftlichen Irrgarten. Vertrauen, Verbindlichkeit und Verantwortung. (Christian Dürr [FDP]: Richtig!) Herzlichen Dank. Es bleiben Diskriminierungen der jungen Steinkohle- (Beifall bei der FDP) kraftwerke und der Kraftwerke in Süd- und Ostdeutsch- land. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Der staatliche Eingriff seitens der Bundesregierung Nächster Redner ist der Kollege Lorenz Gösta Beutin, zieht immer weitere Tatbestände nach sich. Auf der einen Die Linke. Seite wird gegen Entschädigungen in Milliardenhöhe ab- (Beifall bei der LINKEN) geschaltet, und auf der anderen Seite fließen Milliarden Subventionen in Alternativen über das EEG und das Lorenz Gösta Beutin (DIE LINKE): KWKG. Und am Ende muss der Steuerzahler die daraus Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die resultierenden Strompreise bezahlen. Dabei ist aber auch Klimabewegung hat unser Land verändert. Die Klima- allen hier im Saal klar, dass eine robuste und wettbe- bewegung – Extinction Rebellion, Fridays for Future, werbsfähige Wirtschaft günstige Strompreise braucht. Ende Gelände – hat die Kräfteverhältnisse in diesem (Christian Dürr [FDP]: Richtig!) Land grundlegend verändert. Deshalb und nicht, weil diese Bundesregierung so klug ist, diskutieren wir heute Wir geraten in der Energiepolitik immer tiefer in ein über dieses Kohleausstiegsgesetz und werden den Kohle- staatliches Mikromanagement zulasten der Versorgungs- ausstieg verabschieden. Dafür sagen wir: Danke. sicherheit sowie der Bezahlbarkeit von Energie. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21391

Lorenz Gösta Beutin (A) Aber das Problem mit diesem Kohleausstiegsgesetz Vielen Dank. (C) ist: Es ist eben ein Kohleverlängerungsgesetz. Es verlän- gert ohne Not die Kohleverstromung bis 2038. Und es (Beifall bei der LINKEN) bindet durch öffentlich-rechtliche Verträge auch zukünf- tige Bundesregierungen an diese Kohleverstromung und Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: macht es ihnen schwerer, früher aus der Kohle auszustei- Nächste Rednerin ist die Kollegin Annalena Baerbock, gen. Auch das ist ein grundlegendes Problem. Deshalb Bündnis 90/Die Grünen. sagen wir: Heute ist ein schwarzer Tag für den Klima- schutz in der Bundesrepublik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der LINKEN) Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Und wir sagen: Das ist auch ein Verrat an den Men- NEN): schen hier bei uns im Land; denn der Gesetzentwurf sieht Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Milliardenentschädigungen für die Kohleindustrie vor, Kollegen! Sie hätten die Chance gehabt, heute hier etwas Milliardenentschädigungen für entgangene Gewinne. wirklich Historisches zu schaffen – etwas Historisches Diese Bundesregierung macht leider eine Politik für die für die gesamte Gesellschaft. Einige von Ihnen wollten Konzerne, keine Politik für die Mehrheit der Menschen. das nicht; nein. Wir brauchen aber eine Politik für die Mehrheit der Men- schen in diesem Land. (Dr. Alice Weidel [AfD]: Nein!) Es wäre etwas Historisches gewesen, etwas, das Hundert- (Beifall bei der LINKEN) tausende Menschen auf der Straße erstritten haben. Des- Es ist der Bruch des Pariser Klimaabkommens – be- wegen ist dieser Tag ein Tag, der uns alle bewegt – nicht wusst und mit Ansage! Ich glaube, ein Teil hier im Hohen nur Sie, lieber Matthias Miersch. Es wäre die Gelegenheit Hause, auch aus der Großen Koalition, weiß das. Wir gewesen, die Klimakrise mit der gleichen Verve und Ent- haben Ihnen als Linke durchbuchstabiert, was in dieser schlossenheit zu bekämpfen wie die Coronakrise. Aber Situation notwendig wäre. Ich wiederhole es: Wir brau- das machen Sie nicht. chen den Kohleausstieg spätestens 2030. Wir können jetzt die 20 dreckigsten Kohlemeiler abschalten. Das wä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) re nicht nur gut für Deutschland, sondern auch gut für Stattdessen legen Sie de facto ein 18 Jahre langes finanz- Europa. ielles Kohleabsicherungsgesetz heute hier vor.

(B) (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der SPD: Das ist Orwell’scher (D) Sprech!) Und als Linke sagen wir: Der Hambacher Forst muss vollständig ökologisch erhalten bleiben. Es darf kein ein- Wissen Sie was? Das liegt daran, dass Sie nicht erkannt ziges Dorf mehr abgebaggert werden für die Kohle. Es haben, dass sich in den anderthalb Jahren seit dem Be- dürfen keine weiteren Enteignungen mehr stattfinden. richt der Kohlekommission die Welt weitergedreht hat. Der Markt für die Kohle ist regelrecht zusammengebro- (Beifall bei der LINKEN) chen. Sie hätten in diesem Lichte die Chance gehabt, Und wir sagen auch: Wir müssen es verbieten, dass klimapolitisch das Notwendige zu tun, bis 2030 auszu- Kohlekonzerne weiterhin ihre dreckige Kohletechnik in steigen. Aber Sie haben diesen Kompromiss, der zwi- andere Staaten exportieren und dort den Klimawandel schen den Gewerkschaften, den Umweltverbänden, den anreizen. Industrievertretern und den Wissenschaftlern gefunden wurde, einseitig aufgehoben. Wir sagen: Wir wollen nicht, dass Konzerne diese Politik bestimmen. Wir wollen, dass die Menschen diese (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Unsinn!) Politik bestimmen. Wir machen Druck, gemeinsam mit Das ist es, was wir heute hier klar und deutlich kritisieren. der Klimabewegung. Wenn diese Konzerne gegen die Mehrheit der Menschen handeln, dann müssen wir darü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ber sprechen, ob wir diese Konzerne nicht besser verge- Wissen Sie, was Sie damit tun? Sie verhindern damit, den sellschaften sollten. Kern dieses ganzen Kompromisses möglich zu machen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Er wurde gefunden, indem da was eingebaut war, nämlich Neumann [FDP]: Ja, jetzt geht’s los!) dass man immer wieder, im Lichte der Klimapolitik, den Ausstieg überprüfen kann. Dieses Kohleausstiegsgesetz ist ein Angriff auf die Mehrheit der Bevölkerung. Es ist ein Angriff auf die Klimabewegung. Wir werden nicht müde werden, den Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Protest und unsere richtigen Vorschläge hier ins Parla- Frau Kollegin Baerbock, gestatten Sie eine Zwischen- ment einzubringen. Wir werden nicht müde werden, für frage aus der SPD? Klimagerechtigkeit hier entschieden einzutreten Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Alice Weidel [AfD]: Jawohl!) NEN): und das zu tun, was notwendig ist. Ja. 21392 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Es macht halt einen großen Unterschied, ob man groß (C) Herr Kollege. – Ich konnte Sie mit der Gesichtsmaske etwas obendrüber schreibt und dann Hebel einbaut, die nicht erkennen. das Ganze konterkarieren. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Klaus Mindrup (SPD): SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Miersch Liebe Kollegin Baerbock, wir beide waren als Bundes- [SPD]: Welche denn?) tagsabgeordnete in Paris, als das historische Klimaab- kommen beschlossen wurde. Deswegen wissen Sie ge- – Matthias Miersch, also: Wollt ihr jetzt eine Antwort nauso wie ich, dass nicht nur die Bundesrepublik, hören, oder nicht? Ja? – Dann bitte zuhören! sondern vor allen Dingen die Europäische Union Ver- tragspartner des Paris-Abkommens ist und dass unsere (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Aber welche Klimaziele in Deutschland, was die Kraftwerke, den Hebel?) Flugverkehr und die Industrie angeht, europäisch gere- Ich weiß, was im Pariser Klimavertrag drinsteht, in Arti- gelt sind und dass die große Schwierigkeit war: Wie krie- kel 4 Absatz 9: Alle fünf Jahre wird überprüft, ob die gen wir die nationale Politik und die europäische Politik Klimaziele dem Pariser Klimavertrag entsprechen. – zusammen? Sie wissen ferner, dass der Schlüssel, um von Um das eins zu eins umzusetzen – und dabei hat nicht einer reinen Symbolpolitik wegzukommen, die Löschung nur die EU eine Verantwortung, sondern jedes einzelne der Zertifikate der Kohlekraftwerke ist, sodass wirklich Land; das nennt man „Burden Sharing“; ich kenne mich weniger emittiert wird und es keine Verschiebung in an- in diesen Verträgen auch aus –, bedeutet das, dass wir dere Länder gibt, liebe Kollegin. Das ist der entscheiden- regelmäßig überprüfen müssen, wann wir das tun kön- de Punkt: Wir reduzieren jetzt an dieser Stelle wirklich nen. Unglücklicherweise streicht ihr – das hast du, lieber die Emissionen. In den Verträgen steht auch drin, dass wir Matthias Miersch, als du die Revisionsklauseln für 2026 das weiter tun können. Das ignorieren Sie. und 2029 genannt hast, leider vergessen zu sagen – mit Sie sagen weiterhin, dass wir die Ergebnisse der Koh- diesem Gesetz die Revisionsklausel für 2023. Es ist prob- lekommission nicht umsetzen; deswegen würden Sie dem lematisch, 2026 zu überprüfen, was wir in Deutschland nicht zustimmen. Die Kohlekommission hat gesagt: 2038 tun, wenn ihr uns nicht die Möglichkeit gebt, unsere oder 2035. Jetzt sagen Sie: 2030. Die Kohlekommission Kohlestrommenge 2023 zu reduzieren. Genau das ist un- hat gesagt: vertragliche Lösungen. Sie haben heute Mor- ser Kritikpunkt. gen im Radio gesagt: Ordnungsrecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Und dann sagen Sie, Sie stimmen hier dem Kohleaus- Sie haben das Gesetz an den entscheidenden Stellen so (D) stieg nicht zu; aber Sie wollen dem Strukturfördergesetz aufgeweicht, dass Sie damit zukünftigen Regierungen zustimmen. Das heißt, was Sie gerade machen, ist politi- Steine in den Weg legen – ja, das kann man auch als Ehre sches Rosinenpicken. nehmen; aber ich stehe hier als Klimapolitikerin –, wenn es darum geht, das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Und da ist die Revisionsklausel nur ein Punkt; das ist ja Klaus Mindrup (SPD): das Problem. Sie picken politisch Rosinen. Ich finde das unverant- Das Problem ist auch: Wenn man sich eben nicht so wortlich, was Sie hier gerade machen. auskennt wie Sie und ich, dann sieht man das gar nicht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deswegen müssen wir in die Details dieses Gesetzes schauen. Ja, deswegen picken wir uns die Stellen dieses Gesetzes raus, die richtig problematisch sind. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Frau Baerbock, Ihre Redezeit ist immer noch angehal- Meinen Sie etwa, mir fällt das heute leicht, einfach so ten. Sie dürfen die Frage beantworten. Das wird nicht auf zu sagen: „Ich stimme gegen ein Kohleausstiegsgesetz“? die Redezeit angerechnet. Aber irgendwann müssen wir Ich habe mich, seitdem ich im Bundestag bin, seit 2013, wieder in die vorgesehene Redezeit kommen. – Und Zwi- an diesem Pult beschimpfen lassen, wie verrückt wir sind, schenfragen sollten kurz sein; das war an der Grenze. dass wir das Wort „Kohleausstieg“ überhaupt in den Mund nehmen. Jetzt wäre der Tag gekommen, an dem Frau Kollegin Baerbock, jetzt haben Sie das Wort. wir hier gemeinsam ein Kohleausstiegsgesetz für die Zu- kunft beschließen könnten; aber leider machen Sie es Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht möglich, dem zuzustimmen, weil es zukunftsver- NEN): gessen ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. Da die Frage sehr lang war und wir beide Experten in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diesem Bereich sind, gehe ich auf ein paar Punkte ein. Ich hätte Ihnen einige Details in meiner Rede gerne erspart; aber wenn Sie jetzt schon so anfangen, gehe ich auf ein Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: paar Punkte ein, die Sie herausgegriffen haben. Und jetzt läuft die Redezeit weiter. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21393

(A) Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stromen beabsichtigten, sondern das, was genehmigt ist. (C) NEN): Das heißt, Ihr eigener Bericht unterstreicht noch, dass das Da sind noch ein paar andere Dinge drin, die man nicht absolut unverhältnismäßig ist. auf den ersten Blick sieht, neben der Revisionsklausel für 2023, die gestrichen wird: Das ist die energiepolitische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Notwendigkeit für Garzweiler. Damit schreiben Sie mit sowie bei Abgeordneten der LINKEN) diesem Gesetz den Tagebau Garzweiler fest und machen Zum Schluss. Es trifft mich ins Mark, dass ich diesem es in Zukunft wahnsinnig schwierig, einfach zu sagen: Kohleausstiegsgesetz heute nicht zustimmen kann. Hier Wir beenden das früher. wurde gesagt: Aber dem Strukturstärkungsgesetz stimmt ihr zu. – Ja, das tun wir, weil wir nicht zulassen, dass Das Gleiche passiert mit Datteln 4. Auch da weichen durch dieses Kohleausstiegsgesetz, das den zukünftigen Sie, wenn auch nur mit einem Halbsatz, von dem Be- Generationen leider nicht gerecht wird, jetzt auch noch schluss der Kohlekommission ab. Dort steht: Kein neues die Beschäftigten bestraft werden. Wir stimmen sehr be- Kohlekraftwerk. – Sie haben leider, Herr Altmaier, an- wusst hier und heute dem Strukturstärkungsgesetz und derthalb Jahre gebraucht, um dieses Gesetz zu formulie- dem APG zu. Das halten wir mit Blick auf die Beschäftig- ren, und haben in dieser Zeit Datteln 4 ans Netz gehen ten für richtig. Denn Klimaschutz und soziale Gerechtig- lassen. Das ist ein Bruch mit dem Beschluss der Kohle- keit sind keine Gegensätze. kommission, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Zuruf von der SPD: Das passt aber nicht, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN man 7 Gigawatt auf einmal abschaltet!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Für den Klimaschutz werden wir als Bündnis /Die Grü- Ich möchte, lieber Matthias Miersch, auf das eingehen, nen weiter kämpfen. was du gesagt hast. Du hast gesagt: Bei der Zeitspanne erfüllen wir die Kriterien des Abschaltens genau. – Dazu Herzlichen Dank. Schade, dass wir heute nicht ge- sage ich zum einen, weil du uns ja so nebenbei mal einen meinsam hier feiern können. mitgeben willst: Hätten wir 2017 7 Gigawatt abgeschal- tet, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter in (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE dieser Republik; aber das hat leider die FDP verhindert. GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der LIN- KEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zum anderen: Die Kanzlerin war in ihrer Antwort auf die Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Frage meines Kollegen Krischer da einfach ehrlicher. Sie (B) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, (D) hat zumindest zugegeben, dass wir in den 20-ern so einen CDU/CSU. kleinen Hänger haben. Auch da weicht dieses Kohleaus- stiegsgesetz entscheidend von dem Kohlekompromiss ab. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Der letzte Punkt betrifft die öffentlich-rechtlichen Ver- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Al- träge. Wir fragen uns, warum 4,3 Milliarden Euro an die so, wenn man sich hier so anhört, was von linker, was von Konzerne gezahlt werden. Liebe FDP, ich kenne die Lau- grüner Seite, leider zum Teil auch von der FDP behauptet sitz sehr genau, ich kenne auch diesen Konzern dort vor wird – marktschreierisch, so nach dem Motto: wer schal- Ort sehr genau. tet planlos, konzeptlos am schnellsten ab, (Zuruf des Abg. Christian Dürr [FDP]) (Zuruf von der AfD: Die Grünen!) Ich weiß auch, was die 2017 im Revierkonzept an Ab- ohne eine Balance zu wahren zwischen anderen Zielen –, schaltungen schon angemeldet haben. Dass wir diese an- dann finde ich das schon bedauerlich. Und wenn Sie sich gemeldeten Abschaltungen jetzt auch noch finanziell ent- dann ganz offensichtlich nicht mal die Mühe gemacht schädigen, das sollte Sie beschäftigen, wo Sie an dieser haben, zu lesen, was in den parlamentarischen Beratun- Stelle auf die Steuergelder schauen. gen an Änderungen erzielt wurde, sowohl im Strukturge- setz als auch bei den Ausstiegsfragen, wo wir Instrumen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – te implementieren, wo klug, sogar schneller Emissionen Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Un- reduziert werden, als es vorher der Fall war, dann muss säglich ist das! Da können wir gleich die Mil- ich sagen: Es ist, ehrlich gesagt, ziemlich bedauerlich und liarden nach Zypern überweisen!) politisch ziemlich unverantwortlich, wie Sie hier agieren. Es macht es auch nicht besser, dass Sie auch noch Das möchte ich eingangs schon mal sagen. Ernst & Young beauftragt haben, einen Wirtschaftsprü- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ferbericht vorzulegen, weil Sie selber nicht so sicher sind, ob die Milliarden richtig sind. Dieser wurde gestern vor- Natürlich geht es um Klimaschutz, und mit dem, was gelegt. Und was steht da drin? Ja, die Summe stimmt wir hier vorlegen, übererfüllen wir sogar die vorgegebe- schon, wenn wir berücksichtigen, was die Absichten nen Klimaziele, die wir europäisch vereinbart haben. des Kohlekonzerns waren, wenn wir berücksichtigen, Aber es geht auch darum, dass wir die Wettbewerbsfä- was die noch machen wollten. Aber wir entschädigen higkeit des Standortes und die Bezahlbarkeit von Strom- doch nicht das, was die Konzerne an Kohle noch zu ver- preisen gewährleisten; denn ohne energieintensive Unter- 21394 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dr. Joachim Pfeiffer (A) nehmen, ohne Stahl, ohne Aluminium, ohne Kupfer gibt Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) es keinen ICE, kein Windrad, keine erneuerbaren Ener- Dann halte ich die Uhr an. gien. Und wir wollen, dass sie in Deutschland produziert werden. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Das wäre schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Ab- Es geht um energiewirtschaftliche Fragen, es geht um geordneten der SPD) Versorgungssicherheit. Es geht auch um Akzeptanz, um Schaffung verlässlicher Zukunftsperspektiven in den Re- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gionen, die betroffen sind. Dort wollen wir zukunftsträch- Deswegen müssen Sie antworten. – Herr Beutin. tige Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Und da sind wir es als Union und mit uns zusammen der Koalitionspart- Lorenz Gösta Beutin (DIE LINKE): ner, die diese Balance schaffen; wir fokussieren uns nicht Herr Pfeiffer, Sie haben eben erklärt, wir würden die nur auf eines dieser Ziele. Klimaziele und den Beitrag zum Pariser Klimaabkom- Im Hinblick auf die Strukturstärkung verankern wir die men übererfüllen. Nun haben wir die Bundesregierung Mittel so im Haushalt, dass die 40 Milliarden Euro auch gefragt, ob sie uns denn berechnen könnte, wie hoch wirklich zur Verfügung stehen, auch schneller zur Ver- der faire Beitrag zum Pariser Klimaabkommen für das fügung stehen, planbar. Wir haben Wort gehalten gegen- 1,5-Grad-Ziel wäre. Die Antwort der Bundesregierung über den Regionen, Herr Ministerpräsident Kretschmer; war, sie könne keine Berechnungsgrundlage liefern. Des- das sage ich auch an die anderen Bundesländer gerichtet. wegen haben wir heute den Antrag eingebracht, der for- Die Union hat Wort gehalten dabei. Für die stromintensi- dert, dass genau diese Berechnung angestellt wird und ven Unternehmen, denen ausstiegsbedingt Mehrkosten dass das auf einer fairen Grundlage berechnet wird. Das entstehen, werden wir in diesem Jahr einen Mechanismus heißt, einerseits sagt diese Bundesregierung, sie könne vorlegen, wie wir die ausgleichen wollen; denn wir wol- das nicht genau berechnen, andererseits behaupten Sie len kein Carbon Leakage, wir wollen, dass diese Wert- hier das Gegenteil. Was ist denn jetzt richtig? schöpfung, diese Arbeitsplätze in Deutschland bleiben. (Beifall bei der LINKEN) Das heißt, aus dem bisherigen „Kann“ wird ein „Soll“ Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): gemacht. Wir werden einen Zuschuss für die Übertra- gungsnetzentgelte ab 2023 gewähren; auch da haben Also, wir sind ja im parlamentarischen Verfahren, (B) wir im Gesetz, auch wenn es der SPD schwergefallen (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) ist, aus dem „Kann“ ein „Soll“ gemacht. Und diese Sen- NEN]: Was ist das denn für eine Antwort?) kung der Übertragungsnetzentgelte hilft allen Stromver- brauchern und verbessert die Wettbewerbsfähigkeit des und ich war gerade dabei, zu erläutern, was wir gegen- Standorts. Auch hier haben wir Wort gehalten gegenüber über dem bereits befriedigenden Entwurf der Bundesre- der Wirtschaft und mit Blick auf die Arbeitsplätze. gierung im parlamentarischen Verfahren noch verbessert haben. Genau in dem von Ihnen angesprochenen Punkt Und wir haben zwei intelligente Förderprogramme kommen wir zu Verbesserungen, weil wir nämlich mit aufgesetzt, mit denen wir auf der einen Seite erneuerbare dem Förderprogramm für erneuerbare Wärme und mit Wärme und auf der anderen Seite Brennstoffwechsel för- dem Förderprogramm für den Brennstoffwechsel jeweils dern. Was heißt das? Ich nehme mal ein Beispiel, um es 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt haben. zu erklären. Erneuerbare Wärme: Wir bauen ein noch junges Steinkohlekraftwerk oder KWK-Kraftwerk um, (Lorenz Gösta Beutin [DIE LINKE]: Was ist an einem Standort, der akzeptiert ist. Dort ermöglichen die Berechnungsgrundlage?) wir mit dem Instrument einen schnelleren Umstieg, bei- Damit ermöglichen wir, dass an bestehenden Standor- spielsweise auf Biomasse; das haben wir nämlich auch ten, zum Beispiel an einem Steinkohle-KWK-Standort verankert. jetzt eine Umrüstung erfolgen kann, beispielsweise auf Biomasse – Wasserstoff wurde vorher erwähnt – oder Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: auch Gas. Damit werden diese Steinkohleanlagen nicht in die Reserve geschoben, was Geld kostet, die Strom- Herr Kollege, der Kollege Beutin würde gerne eine preise erhöht und die Emissionen nicht senkt, sondern es Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie sie? werden CO2-neutrale Standorte, die akzeptiert sind, um- gerüstet; somit kommen wir sogar schneller zu CO2-Ein- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): sparungen. Ja. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lorenz Gösta Beutin [DIE LINKE]: Was ist Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: die Berechnungsgrundlage?) Bitte? Herr Neumann, da lagen auch Sie falsch: Wir haben diese Benachteiligung im Süden aufgehoben, mit den Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Instrumenten, die wir jetzt im parlamentarischen Verfah- Gerne. ren angelegt haben. Deshalb finde ich es, wie gesagt, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21395

Dr. Joachim Pfeiffer (A) schade, dass Sie sich nicht die Mühe gemacht haben, zu Im KWK-Bereich wird zum Beispiel der Südbonus (C) lesen, was wir dort verbessert haben, oder Sie haben es verlängert, um entsprechende Umrüstungen vorzuneh- nicht verstanden; deshalb erkläre ich es gerne noch mal. men, weil Gasanschlüsse in bestimmten Regionen noch Beim Brennstoffwechsel ist es ähnlich: Wir wollen Kon- nicht vorhanden sind – da brauchen wir Fernleitungsan- densationskraftwerke im Süden und auch im Norden – da schlüsse für Gas; das wissen Sie ja, Sie sind Spezialist. müssen wir uns natürlich anschauen, wie es mit der Netz- Das haben wir in diesem Verfahren beispielsweise auch verträglichkeit aussieht – zu einem Brennstoffwechsel ermöglicht. Insofern wird da ein Schuh draus. Wir haben animieren, damit sie schneller wegkommen von der uns diese Dinge sehr genau angeschaut und entsprechen- Steinkohle. de Instrumente geschaffen, sodass wir – ich wiederhole es noch mal – die Wettbewerbsfähigkeit erhalten, indem wir (Lorenz Gösta Beutin [DIE LINKE]: Wie ist Strompreise nicht unnötig in die Höhe jagen oder Kraft- die Berechnungsgrundlage?) werke in die Reserve bringen, wir die Versorgungssicher- Aber dafür müssen sie investieren. Und sie konnten heit verbessern, weil wir gerade im Süden diese Standorte bisher ihre Abschreibungen noch nicht erwirtschaften. erhalten, und wir sogar gegenüber dem bisherigen Plan mehr CO2 einsparen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege Pfeiffer, auch der Kollege Dr. Neumann würde noch gerne eine Zwischenfrage stellen. – Die las- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: sen Sie auch noch zu. Und irgendwann müssen Sie dann So, ab jetzt läuft die Redezeit weiter, und sie ist auch auch noch den Rest Ihrer Rede absolvieren. bald zu Ende.

Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Ich habe heute Vormittag nichts mehr vor. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Schade. Vielleicht findet sich noch jemand für eine (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Ab- Zwischenfrage. geordneten der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Aber der Rest des Hauses ist noch bis heute Abend Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: verplant. Herr Kollege Pfeiffer, ich werde keine mehr zulassen. (B) (D) Dr. Martin Neumann (FDP): (Reinhard Houben [FDP]: Ich wollte mich ge- rade melden!) Vielen Dank, Herr Kollege Pfeiffer, dass Sie die Frage zulassen. – Sie waren ja im Wirtschaftsausschuss dabei, als ich genau danach gefragt habe. Sie haben jetzt eine Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Antwort gegeben, die offensichtlich quasi über Nacht Herr Houben, immer gerne. – Wir haben im KWK- ausgedacht wurde. Wie ist es tatsächlich mit diesem Er- Bereich, also Kraft-Wärme-Kopplung – ich will es noch satzbonus, wie wird das zusammengestellt? Ich habe den einmal erläutern; Kollege Neumann hat es gerade ange- Eindruck gewonnen, dass hier irgendwelche Dinge hin sprochen –, substanzielle Verbesserungen vorgenommen; und her geschoben werden, die dann vielleicht gar nicht Strom und Wärme – besonders effizient – werden gleich- stimmen. Wie kommen Sie zu dieser Behauptung? Das zeitig gefördert. Wir erhöhen den Förderdeckel von würde mich interessieren. 1,5 Milliarden Euro einvernehmlich auf 1,8 Milliarden. Wir erhöhen die Grundförderung im KWK-Bereich ab Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): 2023 auf 0,5 Cent. Kollege Neumann, ich versuche gerne, es noch mal zu erläutern. Es gibt nun diese zwei Förderprogramme, die Wir haben, wie gerade angesprochen, den Kohleersatz- ich gerade erläutert habe; die gab es vorher nicht. Des bonus verbessert. Und wir ermöglichen auch im KWK Weiteren haben wir im KWK-Gesetz Änderungen gegen- den Fuel Switch. Also Biomasse – wie gesagt, hier muss- über dem Regierungsentwurf oder dem Kabinettsbe- ten wir die SPD ein bisschen zum Jagen tragen –, die aus schluss vorgenommen, indem wir den Kohleersatzbonus Schadstoffen im Wald gewonnen wird oder die als nach- erhöht und angepasst haben. Denn wir haben ja im Süden haltig zertifiziert ist, kann auch importiert werden. Inso- das Problem, dass, solange die Übertragungsnetze, die fern haben wir jetzt etwas vorliegen, was für den Standort vom Norden in den Süden Wechselstrom oder auch Deutschland, für die Versorgungssicherheit und für den Gleichstrom übertragen sollen, nicht fertig sind, sich die Klimaschutz eine Zukunftsperspektive bietet. Südanlagen nicht an den Ausschreibungen im Steinkoh- Vielleicht kommen Sie noch zu einem anderen Ergeb- lebereich beteiligen können, auch nicht im KWK-Be- nis und können dem zustimmen, nachdem Sie gehört reich. Deshalb schaffen wir jetzt Anreize, bereits in die- haben, was wir machen. sen Zeitraum, um zu einem Brennstoffwechsel zu kommen und sichere Leistung zu gewährleisten und ge- Vielen Dank. gebenenfalls sogar mehr CO2 einzusparen und die Stand- orte zu sichern. (Beifall bei der CDU/CSU) 21396 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Was passiert noch im Zuge des Kohleausstiegs? Ge- (C) Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Steffen rade aufgrund der wirtschaftsfeindlichen Coronamaßnah- Kotré, AfD. men bleibt kein Geld mehr für Soziales, für die Bildung und für unsere Infrastruktur. Und wir werden Kohlestrom (Beifall bei der AfD) aus Polen importieren. Die CO2-Emission wird also ins Ausland exportiert, genau wie unsere Arbeitsplätze und Steffen Kotré (AfD): unsere Wertschöpfung. Wir stabilisieren die Arbeitsplät- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und ze in Polen, rationalisieren sie hier aber weg. Welch ein Herren! Heute ist ein schwarzer Tag für Deutschland, Schildbürgerstreich!

(Zuruf von der SPD: Oh!) (Beifall bei der AfD) an dem mit dem Kohleausstieg die Zerstörung unserer Energieversorgung weiter voranschreitet. Der Kohleaus- Noch 2008 warb die Bundeskanzlerin Merkel für einen stieg ist unsinnig in Bezug auf seine Zielsetzung, ver- Kraftwerksneubau: Die Ablehnung neuer Kohlekraftwer- nichtet massiv Volksvermögen, und in der Lausitz wer- ke ist umwelt- und klimapolitisch kontraproduktiv. Wir den die Lichter ausgehen, meine Damen und Herren. sollten alles dafür tun, neue Anlagen voranzubringen. – Das war 2008. Nun hat sich die CDU/CSU völlig ge- (Beifall bei der AfD) wandelt, rennt den Links-Grünen hinterher, ist sozusagen Das „Wall Street Journal“ hat diese Energiepolitik als Steigbügelhalter der links-grünen Politik. Warum? Hier „weltdümmste Energiepolitik“ bezeichnet. Und das ist sie geht es vielleicht einzig und allein um einige wenige auch. Wählerstimmen. Dafür werden aber 100 bis150 Milliar- den Euro der Gemeinschaft geopfert. Das ist eine schäbi- ( [DIE LINKE]: Die welt- ge Politik. Mit der AfD wird es wieder vernünftige Ener- dümmste Rede vielleicht!) giepolitik geben, nämlich mit der sauberen Kohle. Die von der Bundesregierung eingesetzte Experten- (Beifall bei der AfD – Christian Dürr [FDP]: kommission zum Monitoring bezeichnet den Kohleaus- Davon haben Sie gar nichts erzählt! Das würde stieg und Merkel folgerichtig als verantwortungslos. All uns einmal interessieren! Sie haben drei Minu- die Markteingriffe und Kompensationszahlungen seien ten und nicht erzählt, was Sie machen wollen! überflüssig, überteuert und kontraproduktiv. Die Zeitung Da war einfach nichts! Da war nix! Wieder zu- „Die Welt“ schrieb daraufhin, dass zu empfehlen wäre, rück zum Anfang des 19. Jahrhunderts!) dieses Kohleausstiegsgesetz in die Tonne zu treten. (B) (Beifall bei der AfD) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (D) Die Strompreise werden weiter steigen. Die Kohlever- Jetzt hat das Wort der Kollege Bernd Westphal, SPD. stromung trägt sich selbst; die instabilen Erneuerbaren müssen getragen, das heißt hochsubventioniert werden. (Beifall bei der SPD) Völliger Irrsinn, nach der Kernenergie auch aus dem zweiten Energieträger auszusteigen. Das macht kein an- Bernd Westphal (SPD): deres Land in dieser Welt. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Lorenz Gösta Beutin [DIE LINKE]: Das Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es stimmt nicht! Dänemark!) ist schon merkwürdig, welche Reden man heute Morgen bei diesem großen Thema hören muss. Herr Kotré von Die Versorgungssicherheit wird weiter sinken. Die der AfD sagt: Im Revier gehen die Lichter aus. – Ich kann Deindustrialisierung setzt sich aufgrund der Strom- Ihnen nur sagen: Es wäre schön, wenn bei Ihnen mal ein schwankungen weiter fort. Die Stromlücken füllen auch Licht angehen würde, was dieses Thema betrifft. die instabilen Erneuerbaren nicht, das heißt, wir werden hier bald auch ohne Strom dastehen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: So ein der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Quatsch!) GRÜNEN) Die verantwortlichen Politiker sind energiepolitische Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von den Dimen- Strukturvernichter, die zerstören und schleifen, nicht aber sionen, von dem, was wir heute diskutieren. aufbauen. Ich muss schon sagen: Es ist enttäuschend, was (Beifall bei der AfD – Christian Dürr [FDP]: Annalena Baerbock als Vorsitzende der Grünen hier be- Wo kommt jetzt der Teil, den Sie machen wol- hauptet. Wenn Sie in das Gesetz gucken, werden Sie fest- len?) stellen, dass dort die Überprüfung der Klimaziele 2022 Damit sind Sie vergleichbar – energiepolitisch – mit den verankert ist. Ich finde, das ist schon eine merkwürdige Politikern, wie wir sie in Venezuela, Kuba oder in Nord- Sache, wenn eine Parteivorsitzende hier wissentlich lügt. korea finden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Jetzt über- Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- treiben Sie aber! So ein Quatsch!) NEN]: Das stimmt doch gar nicht!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21397

Bernd Westphal (A) Und auch was die Verhandlungslösung für Braunkohle setzung auch dafür sorgen, die Menschen in den Revieren (C) angeht, steht genau das im Gesetz, was in der Kommis- bei diesen Konzepten möglichst zu beteiligen. Dieser sion vereinbart wurde. jahrelange Weg kann mit der Kompetenz, die Gewerk- schaften, Beschäftigte, Unternehmen und Kommunen Seit Jahrzehnten haben Bergleute in Steinkohlegruben, einbringen, erfolgreich gestaltet werden. Es wäre unver- in Braunkohletagebauen und auch Arbeiter in Kraftwer- antwortlich, diesen Wandel zu leugnen, ihn zu ignorieren ken rund um die Uhr verlässlich für unsere Energiever- und sich wegzuducken. Wir werden die Länder Branden- sorgung gearbeitet. Auch wenn aus bekannten Gründen burg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Nordrhein-Westfalen im Gesetz nur ein Tagebau explizit genannt wird, sind bei dem Strukturwandel der Bergbauregionen nicht allei- alle Tagebaue und alle Reviere für eine sichere Energie- ne lassen. Mit Solidarität und Verantwortung werden wir versorgung in Deutschland wichtig. Sie bildeten die Basis mit enormen Finanzmitteln des Bundes die Regionen auf für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands ihrem Weg raus aus der Kohle unterstützen. nach dem Zweiten Weltkrieg, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Viele technische Innovationen kommen aus diesem Herr Kollege, denken Sie daran, dass Ihre Redezeit Bereich. In vielen Branchen gibt es diese Solidarität, abgelaufen ist. wie wir sie im Bergbau und in den Kraftwerken erleben, nicht. Es sind soziale Standards wie Mitbestimmung, Bernd Westphal (SPD): auch durch Betriebsräte in den Aufsichtsräten, viele Mit- Ja, vielen Dank. wirkungsmöglichkeiten von Beschäftigten dort veran- kert. Es gibt einen vorbildlichen Arbeitsschutz und auch (Heiterkeit) anständige Tarifverträge. Das haben die Bergleute und die Menschen in den Kraftwerken mit ihren Gewerk- In den politischen Beratungen haben wir viele, viele schaften erkämpft. Davon profitieren andere Branchen. Dinge des von der Regierung eingebrachten Gesetzent- Und deshalb gehört es sich, diesen Menschen Respekt wurfes verbessert. Ich kann Sie nur bitten: Stimmen Sie und Anerkennung für ihre Leistungen auszusprechen. diesem Gesetz zu, es ist vernünftig. Andere reden nur, wir handeln. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vielen Dank und Glück auf! Aber wir wissen auch und nehmen zur Kenntnis, dass sich die Welt da draußen ändert. Wir wissen, dass wir mit (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) unserem Verhalten auch das Klima und die Lebensgrund- (B) (D) lagen kommender Generationen gefährden. Aus dieser Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Verantwortung heraus ist es Aufgabe der Politik, zu han- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lukas Köhler, deln. Der Ausstieg ist notwendig, aber auch für einige FDP. schmerzhaft. Deshalb überlassen wir es nicht dem Markt, sondern handeln politisch verantwortlich, um das auch (Beifall bei der FDP) sozialverträglich zu gestalten. (Beifall bei der SPD) Dr. Lukas Köhler (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Wir schaffen neue Arbeitsplätze, unterstützen Investi- Kollegen! Herr Altmaier, Frau Ministerin Schulze, da ich tionen in neue Technologien. Wir stärken die Infrastruk- Sie gerade sehe: Ich muss Ihnen beiden heute leider eine turen in den betroffenen Regionen, unterstützen die Mo- Illusion rauben: Wir reden beim Kohleausstiegsgesetz dernisierung von Strom- und Wärmeerzeugung. Vor nicht über den Kohleausstieg. allem dort, wo kommunale Stadtwerke diese Strukturen in eigenständiger Regie auch in Sinne von kommunaler (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) Daseinsvorsorge betreiben, werden wir diesen Wandel – weg von Kohle, hin zu modernen Technologien – unter- Wir reden hier über eine Subvention für die Kohlekraft- stützen. Wenn es gelingt, bis 2038 und vielleicht auch betreiber. schon eher, bis 2035, die Kohlenutzung zu beenden, ist (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) das ein Riesenerfolg. Wir fördern damit klimafreundliche Energien. Man wäre versucht, zu sagen: Es geht heute um einen billigen Etikettenschwindel. Aber das wäre falsch. Es Mit dem Ausstieg aus der Kohle gestalten wir verläss- geht heute leider um einen sehr, sehr teuren Etiketten- lich, sozialverträglich und zukunftsorientiert den Weg in schwindel. Er kostet die Steuerzahlerinnen und Steuer- eine klimaneutrale Wirtschaft. 40 Milliarden Euro kön- zahler Milliarden Euro. Sie bekommen dafür aber – gar nen Bund, Länder und Kommunen – deshalb freut mich, nichts. Vor allem bekommen sie keinen Klimaschutz. dass die Bundesratsbank heute Morgen hier besetzt ist – nachhaltig für neue Arbeits- und Ausbildungsplätze nut- (Zuruf von der SPD: Oh!) zen. Sie haben den Leuten ein Märchen erzählt. Sie wollen Jetzt kommt es auf die Kreativität und neue Ideen, ihnen weismachen, dass das, was Sie hier tun, etwas für kluge Konzepte und gute Lösungen in den Revieren an. das Klima bringt. Aber das Ganze ist in der Tat leider nur Ich kann nur dazu raten, dass die Länder bei der Um- sehr teuer. 21398 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dr. Lukas Köhler (A) Wir haben in Europa einen sehr erfolgreichen europä- In einer Zeit, in der wir sehen, wie gut die Marktwirt- (C) ischen Emissionshandel. schaft funktioniert, wie gut der Emissionshandel funktio- niert, ist die Regierung nicht lernfähig. Das ist der wahre (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) Skandal: Sie verbrennen das hart erarbeitete Geld der Frau Ministerin Schulze, Sie haben das heute Morgen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – jeden Tag, selber bei n-tv erwähnt: Wer Treibhausgase ausstößt, (Beifall bei der FDP) der muss dafür einen Preis zahlen, zumindest im Energie- und Industriebereich. Damit gibt es ein striktes CO2-Li- und zwar nur dadurch, dass Sie die Unternehmen ent- mit. Das heißt, Angebot und Nachfrage regeln das. schädigen. Das ist traurig. Ich bitte Sie: Kommen Sie zur Vernunft. Denken Sie noch einmal über die neuen (Christian Dürr [FDP]: Richtig!) Zahlen nach. Das Prinzip der Marktwirtschaft regelt das. Das ist leider nur Teilen in diesem Haus bekannt. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege. (Beifall bei der FDP)

Kohlestrom verursacht bekanntlich sehr viel CO2. Dr. Lukas Köhler (FDP): Über den steigenden Preis steigen wir hier aus. Das ist Sie sind ja sicherlich lernfähig. Das würde mich längst beschlossene Sache; das war schon immer so. Aber freuen. ich will niemandem etwas vorwerfen, von dem man sich nicht grundsätzlich freimachen kann. Jeder Mensch darf Vielen herzlichen Dank. Fehler machen. Auch eine Bundesregierung darf Fehler (Beifall bei der FDP) machen und darf Dinge einmal falsch einschätzen. Wenn Sie vor zwei Jahren der Meinung waren, man müsse den ohnehin schon feststehenden Kohleausstieg noch einmal Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: beschließen, weil Sie den marktwirtschaftlichen Argu- Jetzt hat das Wort die Kollegin Caren Lay, Die Linke. menten nicht getraut haben, dann ist das zwar traurig – aber so what? (Beifall bei der LINKEN)

Was mich aber wirklich traurig macht, ist Folgendes: Caren Lay (DIE LINKE): Anfang 2018 lag der CO2-Preis pro Tonne bei circa 7 Eu- Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! ro. Dann wurde eine Reform beschlossen. Sie hat dazu Wir als Linke haben immer gesagt: Der Kohleausstieg (B) geführt, dass sich der Preis deutlich erhöht. Zu Beginn der muss sozialverträglich gemacht werden. Deswegen kann (D) Arbeit der Kohlekommission lag dieser Preis bei 14 Euro. ich als Abgeordnete aus der Lausitz heute sagen: Es ist Damit lag er immer noch nicht bei einem Preis, der die gut, dass wir den Strukturwandel mit öffentlichen Gel- Kohle aus dem Markt drängt. Ihre Entscheidung damals dern unterstützen, insbesondere für eine Region wie die war sicherlich kurzsichtig von Ihnen, aber mit viel, viel Lausitz, die ohnehin schon schwer gebeutelt ist. Wohlwollen hätte man für die Idee eines staatlichen Koh- leausstiegs immerhin noch Verständnis aufbringen kön- (Beifall bei der LINKEN) nen. Wir sagen aber auch: Die Gelder für den Strukturwan- del dürfen eben nicht von wechselnden Mehrheiten ab- Seitdem ist der CO2-Preis aber massiv gestiegen. Er hat sich zeitweise verdoppelt. Er lag bei 30 Euro pro hängig sein. Die Kohlereviere brauchen langfristige Si- Tonne. Es ist exakt das eingetreten – Herr Miersch, das cherheit. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in haben Sie auch schon gesehen –, was wir und viele Öko- den Regionen der Lausitz sind auf alle demokratischen nominnen und Ökonomen bereits gesagt haben: Die Koh- Parteien zugegangen. Sie haben einen Staatsvertrag ge- le geht aus dem Markt, fordert. Schade, dass er nicht kommt; denn nur mit lang- fristiger Sicherheit kann der Strukturwandel auch gelin- (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) gen. sukzessive, nicht erst seit Anfang dieses Jahres, sondern (Beifall bei der LINKEN) schon seit Anfang letzten Jahres, und das völlig ohne Entschädigung, ohne dass Sie eingreifen müssen, ohne Sie kritisieren auch, dass dieses Gesetz einen kommu- dieses extrem teure Gesetz. Das ist doch das Problem. nalen Eigenanteil verlangt. Aber das geht doch an der Das ist genau die Herausforderung, vor der wir stehen. Realität vieler klammer Kommunen komplett vorbei. Viele werden diesen Eigenanteil nicht aufbringen kön- Die Prognosen sind so, dass wir sie heute schon erfül- nen. Die Gelder können dann nicht abgerufen werden. len. Für Ihr Handeln, meine Damen und Herren, haben Die Verantwortung jetzt auf die Länder zu schieben, ist die Menschen kein Verständnis. In einer Zeit, in der wir nicht der richtige Weg. Der Bund hätte das übernehmen so viel Geld ausgeben, müssen. (Christian Dürr [FDP]: Richtig!) (Beifall bei der LINKEN) ist die Regierung nicht lernfähig. Die Kommunen vor Ort sind bereit, sich einzubringen, den Kohleausstieg und den Strukturwandel aktiv mitzu- (Beifall bei der FDP) gestalten, und die Zivilgesellschaft ist es auch. Man muss Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21399

Caren Lay (A) sie nur lassen. Man muss den Kommunen vertrauen und genheit geredet und die Phrasen der Vergangenheit be- (C) ihnen nicht mit Misstrauen begegnen. nutzt. Aber eines muss hier richtiggestellt werden: Der Atomausstieg ist nicht erst 2011 beschlossen worden. Er (Beifall bei der LINKEN) ist 2001 beschlossen worden und von Ihnen 2010 rück- Den unmittelbar Beschäftigten eine Perspektive für die gängig gemacht worden. Zeit nach der Kohle zu geben, das hätte den Menschen in der Region viele Ängste genommen und einen deutlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN früheren Ausstieg ermöglicht. Wir haben dazu den Vor- sowie bei Abgeordneten der SPD) schlag einer Einkommens- und Beschäftigungsgarantie Das gehört hier klargestellt. gemacht. Wir haben dazu jetzt von Ihrer Seite lediglich Anpassungsgelder zugesagt bekommen. Aber hier wäre Genau solch einen Fehler wie die Laufzeitverlänge- es für die Beschäftigten in der Kohle auch gut und fair rung machen Sie jetzt hier wieder: Sie setzen das Ergeb- gewesen, dass diese Anpassungsgelder heute tatsächlich nis der Kohlekommission eben nicht eins zu eins um. Sie beschlossen und nicht nur versprochen worden wären. nehmen – wie irre ist das denn? – zur Feier des Kohle- ausstiegs mit Datteln 4 ein neues Kohlekraftwerk in Be- (Beifall bei der LINKEN) trieb. Das ist doch verrückt, meine Damen und Herren. Es Meine Damen und Herren, die Lausitz war immer eine kann doch nun wirklich nicht sein, dass man so etwas Energieregion. Sie muss eine Energieregion bleiben; macht. wenn es nach uns geht, eine Modellregion für die Er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neuerbaren. Das kann eine Chance sein, das kann ein sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jobmotor für die ganze Region sein. Sie erklären die energiepolitische, die energiewirt- (Beifall bei der LINKEN) schaftliche Notwendigkeit des Tagebaus Garzweiler II Aber dafür müssten die Gelder eben auch richtig ein- zum Kohleausstieg. Da wird ein Tagebau, der eigentlich gesetzt werden. Da verstehe ich wirklich nicht, dass auf stillgelegt werden soll, für notwendig erklärt. Die Be- den letzten Metern der Ausbau der Fernstraßen beschleu- gründung trauen Sie sich nicht zu sagen; sie findet sich nigt wurde, die Nachhaltigkeitsziele abgeschwächt wur- nicht im Gesetz. Sie wollen die Menschen in den letzten den und der Bau von Fahrradstraßen aus dem Gesetz ge- fünf Dörfern der Region um Garzweiler herum enteignen strichen wurde. Das finde ich wirklich ein Stück aus dem und vertreiben. Ich höre mir nicht länger von der CDU/ Tollhaus. CSU an, wenn sie sich hier über Enteignung echauffiert. Sie sind die Enteignungspartei, wenn es um Braunkohle (Beifall bei der LINKEN) geht! Das muss hier an dieser Stelle einmal klar gesagt (B) (D) Wenn Investitionen in die Region kommen, dann ist werden! das gut. Aber zur Wahrheit gehört eben auch: In der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Region zeigen sich eben auch die versäumten Investitio- [CDU/CSU]: Wer hat es denn nen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Ich erinnere da bei- in NRW genehmigt? Die Grünen haben es ge- spielsweise an das marode Schienennetz. Also, ein Grund nehmigt, Herr Krischer! Ihr Umweltminister zur Selbstbeweihräucherung ist das tatsächlich nicht. war das! Sagen Sie doch auch mal die Wahrheit (Beifall bei der LINKEN) dazu!) So. Das Hauptproblem dieses Kohleausstiegs – das Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: findet sich nirgendwo – ist der fehlende Ausbau der er- neuerbaren Energien. Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ihr Parteige- Caren Lay (DIE LINKE): nosse hat es genehmigt!) Zum letzten Satz. – Meine Damen und Herren, es sind in den letzten Jahrzehnten Zehntausende Menschen für Sie machen stattdessen diesen Kohleausstieg zu einer die Kohle vertrieben worden, Hunderte Dörfer sind ver- Gelddruckmaschine für Konzerne; das muss an dieser schwunden, viele davon im sorbischen Siedlungsgebiet. Stelle auch mal klar gesagt werden. Damit muss Schluss sein. Kein Dorf darf mehr für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kohle fallen. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Jetzt sind die (Beifall bei der LINKEN) drei Minuten Ihrer Redezeit auch vorbei, und das ist auch gut so!)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Lieber Matthias Miersch, ich finde es nicht in Ord- nung, wenn man sich hierhinstellt und behauptet, das Nächster Redner ist der Kollege Oliver Krischer, Kommissionsergebnis werde eins zu eins umgesetzt. Bündnis 90/Die Grünen. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das habe ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht gesagt!) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat die Bundeskanzlerin gestern anders gesagt. Sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr hatte wenigstens den Mut, zu sagen, dass es nicht eins zu Altmaier, Sie haben ja im Wesentlichen über die Vergan- eins umgesetzt wird. 21400 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Oliver Krischer (A) (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das habe ich Was der Kollege Miersch am Anfang der Debatte ge- (C) nicht gesagt!) sagt hat, ist absolut richtig. Diejenigen, die sich jetzt nicht Es ist ein Schlag ins Gesicht der Wissenschaft und der der Verantwortung stellen, die sich abseits stellen und im Umweltbewegung, wenn Sie hier so tun, als ob das tat- Klein-Klein verharren, diejenigen, die die volkswirt- sächlich umgesetzt würde. schaftlichen und die großen Linien leugnen, leisten kei- nen guten Beitrag für das gesellschaftliche Klima in die- sem Land. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Krischer! (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich darf das noch einmal deutlich sagen: An einem sol- Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chen Tag, an dem so etwas Großartiges, über Generatio- Das ist ein Problem auch für zukünftige Verhandlun- nen Wirkendes entsteht, ist parteipolitisches Klein-Klein gen. fehl am Platz. Leider war davon in der heutigen Debatte eine ganze Menge zu hören. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Herr Kollege Krischer, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Es sind Menschen, die diesen Erfolg gemacht haben, wie der Vorsitzende der IG BCE, Michael Vassiliadis. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was für eine beeindruckende Leistung! Dieser Mann, Das darf nicht sein. der für so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter steht, Ich danke Ihnen. die ihre Arbeit in Zukunft verändern werden, stellt sich vor die Mitarbeiter und sagt: Das ist ein gutes Ergebnis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – So machen wir das. Lasst uns diesen Weg gemeinsam Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Mein Gott! So gehen! – Das sind Vorbilder, meine Damen und Herren. ein Humbug! So ein Rumbrüller!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Es ist ein Stück weit zynisch und bösartig, wie heute Jetzt erteile ich das Wort dem Ministerpräsidenten des über die Entschädigungszahlungen für die Unternehmen Freistaats Sachsen, Michael Kretschmer. gesprochen wurde. Dieses Geld ist dafür da, dass dieje- nigen, die jetzt in den Braunkohletagebauen und in den (Beifall bei der CDU/CSU) Kraftwerken arbeiten und nicht mehr die Chance haben, (B) in neue Arbeit zu kommen, durch das Anpassungsgeld (D) Michael Kretschmer, Ministerpräsident (Sachsen): eine gute, andere Perspektive bekommen. Es ist dafür Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten da, dass sich die vorhandenen Unternehmen weiterentwi- Damen und Herren! Als vor zwei Jahren die Kommission ckeln können, dass aus einem Bergbauunternehmen ein „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ ins Le- innovatives Unternehmen wird. Und es ist dafür da, dass ben gerufen wurde, war es ein großes Experiment. Men- es anders läuft als in der ehemaligen DDR, dass nicht, schen aus ganz verschiedenen Bereichen – der Wissen- wenn der Tagebau zu Ende ist, eine riesige Umweltsünde schaft, den Unternehmen und dem Kreis der Mitarbeiter – zurückbleibt. Das Geld, das die Unternehmen bekom- und mit ganz verschiedenen Interessen, die Vertreter der men, ist für die Rekultivierung da und wird dringend Regionen und diejenigen, die sich für Umwelt- und Kli- gebraucht. maschutz engagieren, trafen zusammen, um einen Kon- flikt zu klären: Ökonomie versus Ökologie. Es ist ein (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) beeindruckendes Ergebnis erzielt worden. Natürlich tref- fen am Ende – wir sind keine Räterepublik – der Deut- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: sche Bundestag und der Bundesrat die Entscheidung, Herr Ministerpräsident, der Kollege Krischer würde aber auf Grundlage dieses Kommissionsergebnisses. gerne eine Zwischenfrage stellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ( [CDU/CSU]: Nein, der Man muss sich überlegen: In welchem anderen Land hat schon genug geschrien hier! – Ralph der Welt wäre es bei einem solch gewaltigen Konflikt Brinkhaus [CDU/CSU]: Aber bitte leise, Herr möglich gewesen, dass man Menschen mit so unter- Krischer! Nicht so laut! Wir verstehen es auch schiedlichen Interessen zusammenbringt, sie sich am En- so! Nicht wieder brüllen!) de einigen und zu einem vernünftigen, tragfähigen Kom- promiss kommen? Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Herr Präsident. – Herr Ministerpräsident, Sie (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: haben gerade gesagt, wofür die Unternehmen das Geld Das stimmt nicht!) bekommen, und dann einen Bezug zum Anpassungsgeld Dieser German Geist ist das, was dieses Land ausmacht. hergestellt. Stimmen Sie mit mir überein, dass die Ent- Darauf können wir stolz sein, und das sollten wir an schädigungszahlungen an die LEAG in Höhe von diesem Tag auch genau so betonen. 1,75 Milliarden Euro – das bestätigen diverse Gutachten; ich gehe davon aus, dass die Zahl richtig ist – durch nichts (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gerechtfertigt sind, weil sie im Wesentlichen im Rahmen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21401

Oliver Krischer (A) dessen, was Sie als Kohleausstieg beschließen, Still- Strukturentwicklung gar nicht unmittelbar betroffen. (C) legungsplanungen betreffen, die das Vorgängerunterneh- Trotzdem haben Sie sich dieses große Ziel, diese große men schon hatte, und bestätigen Sie mir, dass diese Aufgabe zu eigen gemacht. Sie haben geholfen, dass wir 1,75 Milliarden Euro nichts mit dem von Ihnen erwähn- in den Bereichen des Straßenbaus und des Schienenbaus ten Anpassungsgeld zu tun haben, das separat gezahlt vorankommen. Sie haben ein Gesetz gemacht, mit dem es wird und den Beschäftigten richtigerweise zur Verfügung uns möglich ist, in wesentlich kürzerer Frist die Strecken gestellt wird? Halten Sie es für richtig, dass ein Unter- zu bauen. Dafür ein herzliches Dankeschön! Sie haben nehmen wie die LEAG 1,75 Milliarden Euro – ich spitze dafür gesorgt, dass wir die Gelder, die wir miteinander es einmal zu – für nichts bekommt? Sie haben eben noch festgelegt haben – 40 Milliarden Euro –, auf einem ver- gesagt, dass dieses Geld für die Rekultivierung benötigt nünftigen Weg für die entsprechenden Maßnahmen be- werde. Ist es nicht Aufgabe der Unternehmen, die jahr- kommen, dass auch die Planungssicherheit für die nächs- zehntelang Bergbau betrieben haben, das selber zu bezah- ten Jahre gewährleistet ist. Auch das zeigt den deutschen len, statt aus Steuermitteln Geld für die Rekultivierung zu Geist und die Möglichkeit, dass man hier über Partei- bekommen? grenzen und eigene Interessen hinweg Entscheidungen trifft. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Meine Damen und Herren, wie besonders das ist, was Herr Kollege Krischer, die Frage ist klar geworden. wir hier tun, zeigt sich im Hinblick auf unsere Nachbarn. Auf der anderen Seite der Neiße gibt es in Polen ein Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): großes Kraftwerk, einen riesigen Tagebau, der im Jahr Da bitte ich Sie um eine Klarstellung, Herr Minister- 2040 organisch enden wird. Dort gibt es kein Strukturent- präsident. wicklungsgesetz. Dort gibt es keine Vorsorge. Dort gibt es ganz viele Fragen: Wie soll es weitergehen? – Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben das hier anders gemacht. Sie haben in Ihrer Ent- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) schließung den Wunsch und den Gedanken aufgenom- men, dass der Beihilferahmen für die Kohleregionen in Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ganz Europa verändert werden soll. Ich bin dankbar da- für. Herr Ministerpräsident. Jetzt beginnt die Arbeit. Viele Dinge liegen vor uns. Michael Kretschmer, Ministerpräsident (Sachsen): Wir brauchen neue Ideen. Wir brauchen zupackende Herr Krischer, keine Ihrer Fragen kann ich mit Ja und Menschen. Die Voraussetzungen haben wir geschaffen. (B) alle muss ich mit Nein beantworten, und zwar deswegen, Herzlichen Dank. (D) weil die Unternehmen einen wesentlich verkürzten Zeit- raum haben, in dem sie Rückstellungen für die Rekulti- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) vierung nicht bilden können. Deswegen: Wenn die Politik möchte, dass die Braunkohleverstromung früher endet, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: muss sie diesen Beitrag leisten, weil ansonsten Mond- Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Moll, SPD. landschaften zurückbleiben und die Rekultivierung nicht gewährleistet werden kann. – Nummer eins. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Claudia Moll (SPD): ordneten der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Nummer zwei. Mit den Gewinnen, die diese Unterneh- Kolleginnen und Kollegen! Ich muss zugeben: Für mich men in einem normalen Betrieb gemacht hätten, wäre es – aber nicht nur für mich – ist das heute ein emotionaler ihnen möglich gewesen, in neue Technologien wie Moment. Ich habe einen Tagebau und ein Kraftwerk vor Wasserstoff zu investieren. Wenn wir wollen, dass die der Haustüre. Ich bin Bergarbeiterkind. Meine Freunde, Arbeitsplätze in diesen Unternehmen erhalten bleiben, meine Nachbarn, meine Familie und zahlreiche Men- müssen wir etwas dafür tun. Deswegen gibt es Entschädi- schen aus meinem Dorf leben indirekt oder direkt von gungszahlungen. Wenn wir wollen, wie das in diesem der Braunkohle. Gesetz geschrieben ist, dass nicht nur der Staat ein An- passungsgeld zahlt, sondern dass das auch durch Tarif- Nun geht eine Ära zu Ende. Wir beschließen heute den verträge aufgestockt wird, müssen die Unternehmen die- Ausstieg aus der Kohle. Für den einen kommt der Aus- ses Geld bekommen. stieg zu früh, für den anderen zu spät. Es ist ein Kompro- miss, und das Wesen eines guten Kompromisses ist es, Alles, was Sie mich gefragt haben, trifft leider nicht zu. wenn keiner der Beteiligten zu 100 Prozent zufrieden ist. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Fragen und hoffe, dass die Antwort auch bei Ihnen angekommen ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Der Kompromiss steht aber auf ganz breiten Füßen. In Ich bin dankbar und sage Ihnen das auch im Namen einer Kommission haben sich alle Beteiligten zusammen- meiner Kollegen Reiner Haseloff, Dietmar Woidke und gerauft: Politiker, Klimaschützer, Gewerkschafter, Ver- Armin Laschet. Dieses Parlament hat weitreichende Ent- bände und Wirtschaftswissenschaftler. Sie alle haben sich scheidungen getroffen. Viele von Ihnen sind von dieser geeinigt: Der Kohleausstieg findet schrittweise bis 2035 21402 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Claudia Moll (A) und 2038 statt. Dieser Kompromiss steht, und wir, die Marco Bülow (fraktionslos): (C) hier in Berlin Verantwortung tragen, sollten uns jetzt auch Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor dazu bekennen und nicht jede Woche eine andere Sau zwölf Jahren war Professor Schellnhuber, der renom- durchs Dorf treiben. mierte Klimawissenschaftler, Gast im Umweltausschuss hier im Bundestag und erzählte folgenden Witz: Es tref- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fen sich zwei Planeten, einer davon die Erde. Der eine Planet sagt zur Erde: „Du siehst aber schlecht aus. Was ist Unsere Aufgabe ist es auch, für den gesellschaftlichen denn los?“ Da sagt die Erde: „Ja, mir geht es auch Frieden zu sorgen. Jetzt geht es darum, die Beschäftigten schlecht.“ Darauf der andere Planet: „Was hast du denn?“ in den Revieren nicht im Stich zu lassen. Der Kohleaus- Darauf die Erde: „Ich habe Homo sapiens.“ Da sagt der stieg kann nur erfolgreich sein, wenn wir den Beschäftig- andere: „Das ist zwar schlimm, aber geht schnell vorbei.“ ten Sicherheit geben. Und ich spreche zu meinen Kum- pels in den Tagebauen, im Rheinischen Revier, in der (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Echt?) Lausitz und in Mitteldeutschland: Ihr Kumpels in den Tagebauen und Kraftwerken habt uns jahrzehntelang Damals haben alle im Umweltausschuss herzlich ge- mit Energie versorgt und unser Land stark gemacht. Ihr lacht. Zwölf Jahre danach – viel Stillstand in der Klima- Kumpels habt Respekt und Sicherheit verdient. Des- schutzpolitik; wenig ist passiert – dreht sich mir bei dem wegen beschließen wir heute auch ein Anpassungsgeld Witz eigentlich der Magen um. Und das hat nichts mit für ältere Beschäftigte, damit sie im Kohleausstieg abge- den Einzelpunkten, über die wir reden, zu tun, sondern sichert sind. Das ist eine Frage des Respekts. damit, dass wir im Klimabereich eigentlich nicht weiter- gekommen sind, dass wir zwölf Jahre verschenkt haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das sind zwölf Jahre, die wir der nächsten Generation schuldig sind, die wir dem Klimaschutz schuldig sind Der Kohleausstieg kann nur erfolgreich sein, wenn und die wir jetzt auch nicht auf einmal aufholen können. neue Zukunftsperspektiven für die Beschäftigten in den Das ist das große Problem, das wir haben. Revieren entstehen. Deswegen investieren wir 40 Milliar- den Euro in die Regionen. Diese Förderung der Regionen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sichert unser Bundesfinanzminister Olaf Scholz zu. Und Ich komme aus Dortmund; das ist eine Kohleregion. das ist kein Geld für die ach so bösen Konzerne. Das ist Meine Eltern und meine Großeltern sind dort geboren. Geld für die Menschen vor Ort, für die, die sich fragen, Sie kommen aus dem Kohle- und Stahlbereich. Ich weiß, wie es nach der Kohle weitergeht. was Strukturwandel bedeutet, und ich habe großen Res- pekt vor den Menschen, die in dem Bereich gearbeitet (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) der CDU/CSU) haben, die die Region großgemacht und dafür gesorgt haben, dass zum Beispiel ich die Chance hatte, zu Für uns Sozialdemokraten ist klar: Wir fördern damit studieren, dass ich die Chance hatte, eine andere Bildung neue, gute und nach Tarif bezahlte Arbeit, damit auch die zu erleben. Diesen Respekt werde ich nicht verlieren. junge Generation eine berufliche Zukunft in den Revie- ren hat. In diesem schwierigen Prozess stehen wir Sozial- Natürlich – da hat auch keiner heute gegengesprochen demokraten an der Seite der Kumpels. hier im Haus – sind wir für diese Strukturhilfen und müssen diese Strukturhilfen sein. Trotzdem sage ich ganz (Beifall bei der SPD) klar: Was ist denn passiert? Da sind Konzerne subventio- niert worden, als sie aufgebaut worden sind. Sie sind Zum Schluss meiner Rede möchte ich mich wirklich subventioniert worden, als die Kohle- und Atomenergie von ganzem Herzen bei den Kollegen der FDP bedanken. weitergeführt wurden. Es gab beispielsweise bei der Mit Ihrem Nein zu Jamaika haben Sie einen vernünftigen Atomenergie nie wirkliche Entsorgungskonzepte. Und Kohleausstieg erst möglich gemacht. jetzt werden diese Konzerne subventioniert, wenn sie aussteigen, in einem langen Prozess. Genau das geht so (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Heiterkeit nicht. 2038 ist deutlich zu spät. Das ist kein Kompromiss, bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und weil diejenigen, die es am meisten ausbaden müssen, der LINKEN) eben gar nicht mitentscheiden konnten. Ich bin so froh, dass Sozialdemokraten regieren und nur (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) deshalb ein sozialgerechter Kohleausstieg möglich ist. Ich sage auch: Es ist einfach nicht in Ordnung, dass (Beifall bei der SPD) eine Kohlekommission von einem ehemaligen Minister- präsidenten geleitet wird, der dann sozusagen als Lobby- Ich beende meine Rede mit einem stolzen und von ist zur Braunkohle wechselt. Auch das erkennt man zum Herzen kommenden Glück auf. Beispiel in diesem Kompromiss wieder. Die Steinkohle wird nämlich sozusagen schlechter gestellt als die Braun- (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall des kohle. Abg. Alexander Dobrindt [CDU/CSU]) (Claudia Moll [SPD]: Stimmt nicht!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Darauf geht auch keiner ein. Wer rechtfertigt denn genau Nächster Redner ist der Kollege Marco Bülow. diesen Lobbyismus? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21403

Marco Bülow (A) Ich finde, wir müssen klarere Kante zeigen. Ich finde, (Beifall bei der CDU/CSU) (C) wir müssten einen Bürgerrat, eine Bürgerversammlung Wir haben 40 weitere Verkehrsprojekte. Aber wir ha- einberufen, wie es sie in Frankreich gibt, um über dieses ben es geschafft, dass wir nicht in Konkurrenz zu den Thema zu debattieren. Das ist gesellschaftlich zu wichtig, anderen zwölf Bundesländern und nicht in Konkurrenz als dass wir hier eine Ad-hoc-Entscheidung fällen. Mit zu all den anderen Regionen in Deutschland kommen. den Bürgerinnen und Bürgern müssen wir diese Entschei- Wir haben durch ein weiteres Maßnahmenvorbereitungs- dung fällen. Das wäre der richtige Weg. gesetz besser priorisiert. Damit die Menschen auch wirk- Bei uns hat man am Ende immer „Glück auf!“ gesagt. lich daran glauben, dass diese Projekte kommen, damit Aber heute möchte ich als Letztes bemerken: Ich bin im sie sehen, dass wir tatsächlich etwas umsetzen, haben wir Übrigen der Meinung, dass der Profitlobbyismus zerstört hierin die Planungszeiträume verkürzt. werden muss, und wir brauchen richtigen Klimaschutz. (Beifall bei der CDU/CSU) Danke. Ja, das ist wesentlich; denn wenn ich sage: „In 20 Jahren (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) wird ein Bahnhof vielleicht barrierefrei“, dann sagen die Leute zu mir: Du kannst noch fünf Mal kommen, dazwi- schen sind acht Wahlen. – Das ist nicht Perspektive, und Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wenn wir aussteigen, dann müssen wir eine Perspektive Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der für diese Maßnahmen geben. Kollege Ulrich Lange, CDU/CSU. Wir haben die anderen Maßnahmen dem Verkehrs- und (Beifall bei der CDU/CSU) dem Haushaltsausschuss noch einmal als Vorlage gege- ben. Ulrich Lange (CDU/CSU): Und wir haben etwas Weiteres geschafft, und das ist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wichtig. Bei allem Respekt für den Bundesfinanzminis- gehe davon aus, definitiv der letzte Redner zu sein. ter – ich bedanke mich beim Koalitionspartner – mussten Gleich vorab: keine Zwischenfragen. wir das Bundesfinanzministerium schon sehr intensiv da- (Beifall des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/ von überzeugen, die Finanzströme zu trennen, damit wir CSU]) nicht Verschiebebahnhöfe schaffen. Auch das ist uns ge- lungen. Ich möchte auch mit keinem Witz beginnen, sondern ein- fach zunächst Freude und Stolz zum Ausdruck bringen (Beifall bei der CDU/CSU) (B) über das, was wir heute hier als gesamtes Paket verab- Denn jeder von Flensburg bis Lindau muss sich darauf (D) schieden. Bringen wir es doch einmal auf den Punkt: Wir verlassen können, dass Finanzpolitik seriös ist, und das steigen aus der Kohle aus, wir betreiben aktiven Klima- haben wir hier gemacht. schutz, und wir geben den Menschen in den Regionen mit der Strukturstärkung echte Perspektiven. Also: Freude Fazit: gute Strukturstärkung, Klimaschutz, Ausstieg und Stolz heute an diesem Tag. aus der Kohle, ein guter Tag für Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU) Danke schön. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ministerpräsident (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kretschmer hat es gerade schon gesagt: Wir haben etwas ordneten der SPD) geschaffen. Wir haben etwas in die Balance gebracht, was am Anfang vielleicht auch ein bisschen aus der Balance Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: geraten war. Natürlich haben Regionen, die betroffen sind, besondere Wünsche, und jeder Ministerpräsident Damit schließe ich die Aussprache. und jeder Landesminister war Lobbyist im positiven Sin- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- ne. Denn „Lobby“ ist erst einmal nicht negativ, „Lobby“ desregierung eingebrachten Entwurf eines Strukturstär- heißt, sich auch für jemanden einzusetzen, auch für Men- kungsgesetzes Kohleregionen. Der Ausschuss für Wirt- schen einzusetzen, für Menschen in einer Region einzu- schaft und Energie empfiehlt unter Buchstabe d seiner setzen. Dann war es unsere Aufgabe, das zusammenzu- Beschlussempfehlung auf der Drucksache 19/20714 bringen, und das ist uns mit dem Strukturstärkungsgesetz (neu), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den gelungen. Ich sage auch ganz ausdrücklich: Das ist uns Drucksachen 19/13398 und 19/14623 in der Ausschuss- gelungen, professionell, leise und intensiv. Dafür allen fassung anzunehmen. Beteiligten des Prozesses ein Dankeschön! Mir liegen zur Abstimmung eine Reihe von Erklärun- Was meine ich? Was haben wir geschaffen? Wir hatten gen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1) in der letzten Periode – da gehe ich jetzt insbesondere auf die Verkehrsprojekte ein – über 1 000 Projekte in Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Deutschland bewertet und priorisiert. Dann haben wir Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- nun neue Wünsche, neue Projekte aus dem Gedanken, chen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und Bünd- die Struktur in den betroffenen Regionen stärken zu wol- nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind len und stärken zu müssen. Und genau das haben wir zusammengebracht, liebe Kolleginnen und Kollegen. 1) Anlagen 2 bis 4 21404 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) die AfD und die FDP. Wer enthält sich? – Das ist Die dafür? – Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer (C) Linke. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung stimmt dagegen? – Die übrigen Fraktionen. Der Antrag mit den genannten Mehrheiten angenommen. ist abgelehnt. Wir kommen zur Änderungsantrag auf der Drucksache 19/20771. Wer dritten Beratung stimmt dafür? – Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die übrigen Fraktionen. Der An- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem trag ist abgelehnt. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Dann bitte ich diejenigen, die dagegenstimmen, sich zu (Michael Theurer [FDP]: Wir haben uns ent- erheben. – Dann bitte ich diejenigen, die sich enthalten halten!) wollen, sich zu erheben. Mit den in der zweiten Lesung – In den Reihen der FDP war überwiegend ein anderes genannten Mehrheiten ist der Gesetzentwurf in dritter Stimmverhalten. Irgendwie müssen Sie es dann klären, Beratung angenommen. Herr Kollege Theurer. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e (Michael Theurer [FDP]: Ich darf mich doch seiner Beschlussempfehlung, eine Entschließung anzu- noch enthalten! Sie haben nicht nach Enthal- nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – tungen gefragt!) Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage- gen? – AfD, FDP. Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die – Ja, aber Ihre Kollegen da hinten haben eben dagegen- Grünen und Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist an- gestimmt. Das tut mir leid. genommen. Dann stelle ich fest, dass die Fraktion der FDP im (Michael Theurer [FDP]: Wir enthalten uns! – Wesentlichen dagegengestimmt hat und der Kollege Reinhard Houben [FDP]: Wir haben falsch ab- Theurer sich enthalten hat. gestimmt im ersten Teil!) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und – Dann haben Sie – – der SPD – Michael Theurer [FDP]: Sie haben (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Die Reden die Enthaltungen nicht abgefragt!) haben überzeugt, Herr Präsident!) – So war es. – Ich rufe beide Schriftführer zu Zeugen auf. Also, die AfD hat dagegengestimmt. FDP, Die Linke Die haben das genau festgestellt. und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Gut. (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und (B) Dann sind die Mehrheiten jedenfalls korrekt festgestellt. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Aber die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. – Also, wenn Sie Wert darauf legen, können wir die Ab- stimmung wiederholen. Jedenfalls kommen wir jetzt zur Abstimmung über zwei Entschließungsanträge. Das ist der Entschließungs- (Michael Theurer [FDP]: Gern!) antrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache – Gut. 19/20756. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die FDP. Wer stimmt dagegen? – Die übrigen Fraktionen. Dann rufe ich erneut den Änderungsantrag auf der Der Antrag ist abgelehnt. Drucksache 19/20771 auf. Wer stimmt dafür? – Die Dann kommt der Entschließungsantrag der Fraktion Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dage- Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 19/20757. gen? – Die Koalitionsfraktionen und die AfD. Wer enthält Wer stimmt dafür? – Bündnis 90/Die Grünen und Die sich? – Die FDP-Fraktion. Mit dieser Mehrheit ist der Linke. Wer stimmt dagegen? – Der Rest des Hauses. Antrag abgelehnt. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Zu Tagesordnungspunkt 22 b. Abstimmung über den Änderungsantrag auf der Drucksache 19/20772. Wer von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf stimmt dafür? – Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. zur Reduzierung und zur Beendigung der Kohleverstro- Wer stimmt dagegen? – Die übrigen Fraktionen. Der An- mung und zur Änderung weiterer Gesetze. Der Aus- trag ist abgelehnt. schuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt unter Buch- stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Damit kommen wir zum Änderungsantrag der Fraktion 19/20714 (neu), den Gesetzentwurf der Bundesregierung Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 19/20730, zu auf den Drucksachen 19/17342 und 19/18472 in der Aus- dem namentliche Abstimmung verlangt ist. schussfassung anzunehmen. Es liegen vier Änderungsan- Die Urnen befinden sich in der Westlobby. Um eine träge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über den längere Unterbrechung der Sitzung zu umgehen – bleiben Änderungsantrag auf der Drucksache 19/20730 werden Sie noch einen Moment da, dann haben Sie es –, wird das wir auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Ände- namentlich abstimmen. rungsantrag erst nach dem Tagesordnungspunkt 23 mit- Wir beginnen jetzt mit den drei Änderungsanträgen, geteilt, und dann setzen wir nach dem Tagesordnungs- über die wir mit Handzeichen abstimmen werden. Ände- punkt 23 die Abstimmungen zum Kohleausstiegsgesetz rungsantrag auf der Drucksache 19/20729. Wer stimmt fort. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21405

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, die fehlung auf der Drucksache 19/20665, den Antrag der (C) vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ich vermute, die Plät- Fraktion Die Linke auf der Drucksache 19/15775 abzu- ze an den Urnen sind besetzt. – Das ist der Fall. Dann lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – eröffne ich die namentliche Abstimmung über den Ände- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Linken und Drucksache 19/20730,1) bitte aber alle Kolleginnen und von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des übri- Kollegen, noch kurz hierzubleiben. Wir haben noch eini- gen Hauses angenommen. ge Abstimmungen durchzuführen, und das Zeitfenster von 30 Minuten läuft erst nach diesen Abstimmungen. Wir kommen zum Zusatzpunkt 25. Das ist die Abstim- Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Bleiben Sie doch mung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- da. Bleiben Sie einfach sitzen. nen auf der Drucksache 19/14843 mit dem Titel „Wirt- schaftsstrukturen der Zukunft – Unternehmenscluster Tagesordnungspunkt 22 c. Abstimmung über die Be- und regionale Kreisläufe in strukturschwachen Regionen schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und etablieren“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Bündnis 90/ Energie auf der Drucksache 19/20666. Unter Buchstabe a Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung Koalitionsfraktionen und die AfD. Wer enthält sich? – die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf der Die FDP. Der Antrag ist mit dieser Mehrheit abgelehnt. Drucksache 19/16852 mit dem Titel „Volkswirtschaftli- Jetzt erinnere ich an die laufende namentliche Abstim- che Fehlentwicklungen vermeiden – Kohleausstiegsge- mung über den Änderungsantrag der Fraktion Bünd- setz zum Wohle der Bevölkerung stoppen“. Wer stimmt nis 90/Die Grünen. Sie haben ab jetzt noch 30 Minuten für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- Zeit für die Stimmabgabe. Die Urnen werden um gen? – Die AfD. Dann ist diese Beschlussempfehlung 11.21 Uhr geschlossen. Das Ergebnis der namentlichen gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen des übrigen Abstimmung wird nach dem Tagesordnungspunkt 23 be- Hauses angenommen. kannt gegeben. Wir setzen dann die Abstimmungen zum Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Kohleausstiegsgesetz fort. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b tion der AfD auf der Drucksache 19/16853 mit dem Titel und die Zusatzpunkte 26 und 27 auf: „Versorgungssicherheit gewährleisten – Kohleausstieg ablehnen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – 23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wer stimmt dagegen? – Dann ist diese Beschlussempfeh- Michael Theurer, Reinhard Houben, lung gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen des Dr. , weiterer Abgeordneter (B) übrigen Hauses angenommen. und der Fraktion der FDP (D) Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c Detox für Deutschland – Bürokratie ent- die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf der schlacken, die Kräfte der deutschen Wirt- Drucksache 19/17528 mit dem Titel „Widerruf des Koh- schaft entfesseln leausstiegs zur Verhinderung strukturpolitischer Fehlent- Drucksache 19/20581 wicklungen in den Kohlerevieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann Überweisungsvorschlag: ist auch diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen Ausschuss für Wirtschaft und Energie der AfD mit den Stimmen des übrigen Hauses angenom- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten men. Joana Cotar, Uwe Schulz, Dr. Michael Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Be- Espendiller, weiterer Abgeordneter und der schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Fraktion der AfD Energie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Corona digital bekämpfen – Start-up-Hil- Titel „Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen zukunfts- fen gerecht verteilen fähig machen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf der Drucksache 19/20663, den Drucksache 19/20613 Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache Überweisungsvorschlag: 19/16845 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss Digitale Agenda (f) empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Federführung strittig sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen des übrigen Hau- ZP 26 Beratung des Antrags der Abgeordneten Tino ses angenommen. Chrupalla, Jürgen Pohl, Hansjörg Müller, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Tagesordnungspunkt 22 d. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Si- Abschaffung der Vorfälligkeit der Sozialversi- cherheit zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem cherungsbeiträge – Rückkehr zur bewährten Titel „Deutschlands Klimagas-Budget als gerechten Bei- alten Regelung trag zum Pariser Klimaschutzabkommen transparent ma- Drucksache 19/20569 chen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) 1) Ergebnis Seite 21415 C Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) 21406 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Haushaltsausschuss Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, (C) Federführung strittig Sie haben es ja selbst formuliert. Ich darf zitieren, was ZP 27 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manfred Sie selbst nach Einbringung des Gesetzes Bürokratieent- Todtenhausen, Gerald Ullrich, Michael Theurer, lastung III gesagt haben: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bürokratieabbau bleibt eine Daueraufgabe. Daher Unternehmen schnell und effizient entlasten – wollen die Fraktionen von CDU/CSU und SPD in Fälligkeit von Sozialversicherungsbeiträgen dieser Wahlperiode mögliche Inhalte für ein weite- wieder in den Folgemonat verlegen res Bürokratieentlastungssetz ausloten. Die Bundes- regierung soll hierzu entsprechende Konsultatio- Drucksache 19/20556 nen … einleiten. Ein Schwerpunkt soll sein, die Überweisungsvorschlag: Bürokratie- und Regulierungslasten für Gründer in Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) der Start- und Wachstumsphase auf ein Mindestmaß Ausschuss für Wirtschaft und Energie Haushaltsausschuss zu reduzieren und Genehmigungsverfahren … zu beschleunigen. Wenn Sie bitte, soweit Sie im Saal verbleiben, die Plätze wieder einnehmen. Das gilt auch für Parteivorsit- (Beifall bei der FDP) zende. Bitte nehmen Sie Platz oder verlassen Sie den Was ist seitdem passiert? Leider nichts. Dafür ist aber Saal, sonst können wir die Aussprache nicht beginnen. – mehr Bürokratie aufgebaut worden. Ich sage da nur mal: Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten Kassenbonpflicht. Aber, meine Damen und Herren, in der beschlossen. Coronakrise kommt noch weitere Bürokratie hinzu. Die Damit eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort temporäre Mehrwertsteuersenkung hat beim Handel und dem Kollegen Reinhard Houben, FDP. auch bei den Bürgerinnen und Bürgern hauptsächlich Kopfschütteln ausgelöst. Wir stellen uns das einmal an- (Beifall bei der FDP – Abg. Reinhard Houben hand eines Joghurts, der statt 1 Euro 97 Cent kostet, bild- [FDP] begibt sich zum Rednerpult und spricht lich vor. Für die ganz großen Spezialisten: Der Fruchtan- mit dem Präsidenten) teil muss für die 19 Prozent Mehrwertsteuer stimmen. Also, wenn man statt 1 Euro 97 Cent zahlt, gilt: Kauft – Herr Kollege Houben, aber das habe ich jetzt verkündet. man 33 Joghurts, dann kann man einen weiteren Joghurt Also läuft jetzt die namentliche Abstimmung zehn Minu- kaufen und hat noch 2 Cent übrig. Ich glaube, das wird ten länger. Ich kann es nicht mehr zurücknehmen, sonst die Konjunktur nicht unbedingt retten. ist die Abstimmung möglicherweise ungültig. Durch eine (B) längere Abstimmungszeit kann die Abstimmung nicht (Beifall bei der FDP) (D) fehlerhaft werden. Herzlichen Dank. Jetzt haben Sie das Wort. B2B-Unternehmen zum Beispiel haben überhaupt nichts von der Mehrwertsteuersenkung. Mehrwertsteuer ist ein durchlaufender Posten. Das Einzige, was sie ha- Reinhard Houben (FDP): ben, sind erhebliche Kosten bei der Einführung der neuen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte EDV, und das auch nur für ein halbes Jahr. Sie geben also dann auch um Verständnis: Wenn ich während einer Rede bei der Einführung einen bestimmten Betrag aus, und um einer Kollegin oder eines Kollegen aufstehe, ist das keine es dann wieder zurückzuändern, geht es genauso wieder Missachtung des folgenden Beitrags; ich möchte dann zu ihren Lasten. nur abstimmen dürfen. Deswegen brauchen wir ein Bürokratieentlastungsge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deut- setz IV. Wir haben die Forderungen im Antrag aufge- sche Wirtschaft kämpft mit der schwersten Krise seit dem führt: unter anderem kürzere Aufbewahrungsfristen bei Zweiten Weltkrieg. Durch die eingebrochene Nachfrage Steuerfragen, kürzere Abschreibungsdauer bei digitalen im In- und Ausland und fehlendes Vertrauen ist eine Innovationsgütern, eine „One in, two out“-Regel bei ent- wirkliche Erholung in weite Ferne gerückt. Es ist nicht sprechenden Regelungen und Bürokratieeinführungen, nur der Coronavirus, was die deutschen Unternehmen eine vereinfachte Dokumentationspflicht sowie eine Di- hemmt. Seit Langem krankt Deutschland an einem Über- gitalisierung sämtlicher Prozesse der öffentlichen Hand. maß von Regulierung, Bürokratie und ineffizienten Ver- waltungsprozessen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Wir brauchen eine weitere Entschlackung, gerade jetzt in diesen Zeiten. Machen wir uns eines klar: Dieser Büro- Bislang war das Übermaß an Bürokratie in erster Linie kratieabbau kostet den Staat eigentlich nichts, hilft aber ein Bremsklotz, den die deutschen Unternehmen durch den Unternehmen sehr. Deswegen sollte gerade in diesen Qualität und Innovation ausgeglichen haben. Den Luxus, Zeiten nicht nur gelten: „Sozial ist, was Arbeit schafft“, Bürokratie einfach hinzunehmen, haben wir aber in die- sondern: „Sozial ist auch, was Arbeitsplätze in Deutsch- sen Zeiten nicht mehr. Es ist deswegen allerhöchste Zeit land erhält.“ Deswegen: Stimmen Sie unserem Antrag für eine Entbürokratisierungsoffensive. Damit meine ich zu! nicht nur das Alibigesetz Bürokratieentlastungsgesetz III, sondern eine umfassende, tiefgreifende Fastenkur. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21407

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: satzgrundlage machen müssen. Die Hartnäckigkeit, die (C) Jetzt hat das Wort der Kollege Klaus-Peter Willsch, wir dort hatten, hat sich ausgezahlt. Es bleibt nach wie CDU/CSU. vor ein Querschnittsthema, und es bleibt eine Dauerauf- gabe; dessen sind wir uns als Union und auch in der (Beifall bei der CDU/CSU) Koalition bewusst. Dass es beim Vorgehen unterschied- liche Temperamente, unterschiedliche Tempi und unter- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): schiedliche Positionen gibt, das ist völlig normal; das ist Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ein ständiges Ringen zwischen den Häusern. ren! Liebe Kollegen! Liebe Menschen an Empfangsgerä- ten jeglicher Art, die Sie uns zuhören und zuschauen! Sie haben angesprochen, dass die Umsatzsteuersen- Lieber Herr Houben, vielen Dank für Ihre wohlwollenden kung von 19 auf 16 und von 7 auf 5 Prozent – das kann Worte zur Arbeit der Mehrheitsfraktionen hier; ja kein Mensch in Abrede stellen – auf der einen Seite eine Entlastung ist, auf der anderen Seite aber bürokrati- (Reinhard Houben [FDP]: Da haben Sie eine schen Einmalaufwand erfordert andere Rede gehört, Herr Willsch!) (Reinhard Houben [FDP]: Zweimal! – Michael denn Sie haben dankenswerterweise noch einmal geschil- Theurer [FDP]: Zweimal!) dert, dass wir, wie zugesagt, das BEG III auf den Weg gebracht haben. Das BEG III hatte ein Entlastungsvolu- und insofern natürlich auch negativ in die Rechnung hi- men von 1,1 Milliarden Euro, oder man muss sagen: neinmuss. „hat“; es wirkt ja jetzt erst. Das war mehr, als die Büro- Sie wissen auch, dass hier kompensiert werden muss, kratieentlastungsgesetze I und II zusammen erbracht ha- wenn zusätzlicher Erfüllungsaufwand hinzukommt, da ben. Insofern ist es ein gutes Volumen. Wir haben – wie wir seither nur den jährlichen Erfüllungsaufwand an- Sie auch richtig sagen – mit unserer Entschließung zum schauen. Wir sind froh, dass es uns gelungen ist, die Bürokratieentlastungsgesetz III bereits beschlossen, dass Bundesregierung auf unsere Seite zu bekommen und in nach dem Bürokratieentlastungsgesetz vor dem nächsten Zukunft auch den einmaligen Erfüllungsaufwand zu Bürokratieentlastungsgesetz ist kompensieren oder zumindest in Teilen zu kompensieren. (Reinhard Houben [FDP]: Tun Sie doch was Denn das ist ein wichtiger Punkt, damit nicht an anderen dagegen!) Stellen das, was wir zurückschneiden wollen, wieder neu wuchert. weil das ein permanenter Prozess ist und wir immer dran- bleiben müssen. Ich freue mich über die Unterstützung Wir haben die Debatte über das BEG III ergebnisoffen geführt. Wir haben versucht, möglichst viel durchzuset- (B) vonseiten der FDP, dieses Vorhaben entschlossen anzu- (D) gehen und weiterzuverfolgen. zen. Ich sagte, dass es manchmal unterschiedlich ist, was dann der eine oder der andere Koalitionspartner tut. Aber (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wir sind entschlossen, diesen Weg weiterzugehen. der CDU/CSU) (Reinhard Houben [FDP]: Wann denn? Sagen Ich will in Erinnerung rufen, was geschehen ist: Wir Sie doch mal ein Datum!) haben die Digitalisierung des Meldescheins im Hotelge- werbe eingeleitet, ermöglicht; Innenminister Seehofer hat Ich will sagen: Ich habe eigentlich schon gehofft, dass zwischenzeitlich die Umsetzungsverordnung erlassen. dies im Koalitionsausschuss ausdrücklich noch mal er- Wir haben den gelben Zettel digitalisiert: Wer vom Arzt wähnt würde. Aber dann habe ich mich auch belehren krankgeschrieben wird, kann sich in Zukunft sofort ins lassen. Ehrlich gesagt, es ist ja richtig: Wir haben durch Bett legen und muss nicht erst noch mal zur Post. die gemeinsame Entschließung das schon zum Punkt un- serer Agenda gemacht. Deshalb war es nicht mehr nötig, Wir haben durch das BEG massiv an Maßnahmen zum dies in einem Koalitionsausschuss zusätzlich zu bekräfti- Bürokratieabbau weitergearbeitet. Ich denke an ein The- gen. Was wir beschließen, setzen wir um, und so ist jetzt ma, das Ihnen bei der Formulierung des Antrags offenbar das Wirtschaftsministerium am Loslegen. durchgerutscht ist. Wir wollten schon im BEG III die Umsatzgrenze für die Istbesteuerung von 500 000 auf Das Thema wird im Wege von Konsultationen zwi- 600 000 Euro anheben. Das haben wir leider nicht mehr schen den Ressorts angegangen. Deshalb freuen wir hinbekommen. Aber zwischenzeitlich, auch mit Unter- uns, dass all das, was wir dort auf den Weg bringen, Ihre stützung unserer Finanzer, ist es gelungen, das an ein wohlwollende Unterstützung findet und Sie uns – wie es anderes Gesetzesvorhaben anzudocken und es im De- auch gut ist, wenn Opposition da ist – gelegentlich trei- zember letzten Jahres zu verabschieden. Schauen Sie ben, vielleicht noch ein bisschen mutiger zu sein; denn mal nach im Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mit- das wünschen wir uns. teilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen, be- (Michael Theurer [FDP]: Ich glaube, da müs- schlossen hier am 12. Dezember 2019; dort haben wir sen wir noch viel treiben!) das umgesetzt. Insofern können Sie in Ihrem Antrag hin- ter einer weiteren Forderung einen Haken machen; ist Wir haben als Mittelstands-, als Wirtschaftspolitiker in schon erledigt. der Union das Thema „Vorfälligkeit der Sozialversiche- rungsbeiträge“ heftig kritisiert und hätten uns da etwas Das Entscheidende daran ist, dass dadurch mehr Unter- anderes gewünscht. nehmen erst nach Zahlungseingang umsatzsteuerpflichtig werden und dies nicht bereits im Vorfeld auf der Sollum- (Beifall bei der FDP) 21408 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Klaus-Peter Willsch (A) Aber wenn wir mal ehrlich zueinander sind: Es gibt an- hebung über die Energieverwendung, Erhebung der (C) gesichts der finanziellen Anspannung der Sozialversiche- nichtöffentlichen Wasserversorgung und Abwasserent- rungssysteme in dieser Zeit jeden Tag neue Forderungen, sorgung, Erhebung über die Abfallerzeugung, Erhebung wie lange das Kurzarbeitergeld noch laufen soll. Das jetzt der laufenden Aufwendungen für den Umweltschutz und, als oberste Priorität hinzustellen – da kann man auch mal und, und. Es ist nur eine kleine Auswahl der Meldepflich- einen Moment innehalten, glaube ich. Es gab im Übrigen ten, die unsere Unternehmer in diesem Land jeden Monat bei der Anhörung, die es dazu im Ausschuss für Arbeit erfüllen müssen. und Soziales gab, kaum einen Experten, der sich dafür ausgesprochen und dem eine besondere Dringlichkeit Kein Wunder, dass Mittelständler Dutzende Mitarbei- beigemessen hätte. ter beschäftigen, die quasi allein für den Staat arbeiten. Dabei wollen Unternehmen natürlich vor allem das tun, Einen Punkt will ich zum Abschluss ansprechen, weil was sie können: Sie wollen ihre Produkte an den Mann er für mich der Schlüssel zu all dem ist, was wir dort an bringen; sie wollen erfolgreich sein und Geld verdienen, Möglichkeiten der Digitalisierung und zu hebendem was uns dann wiederum allen nützt, weil das Beschäfti- Potenzialen sehen. Das ist das Onlinezugangsgesetz – gung und Wohlstand schafft. Stichwort: once only –, das ist notwendig, damit wir wirklich dazu kommen, dass, wenn wir es 2022 umge- (Beifall bei der AfD) setzt haben, alle Verwaltungsleistungen in Deutschland Ein massiver Abbau von sinnlosen Vorschriften und innerhalb eines Portalverbundes auch online angeboten Nachweispflichten wäre gerade jetzt in der Lockdown- werden, damit es endlich ein Ende hat, dass Sie von Krise ein ideales Mittel, um unsere Wirtschaft wieder dieser Behörde und noch von dieser Behörde immer wie- flottzumachen. Es kostet fast nichts und schafft sehr viel der das Gleiche gefragt werden: Geburtsdatum, Geburts- neuen Freiraum für unternehmerisches Handeln. Statt- ort, Augenfarbe der Großmutter und was weiß ich, was dessen senken Sie – Herr Houben hat es schon angespro- die da manchmal alles wissen wollen. Es muss gelten, chen – die Mehrwertsteuer für ein halbes Jahr, was weder dass man das einmal angibt, die Behörden dann im Ver- den Verbrauchern noch den Unternehmern wirklich hilft. bund darauf zugreifen können und man damit entlastet Allein die Umstellungskosten machen jeden Nutzen zu- wird von wirklich unnötiger und quälerischer Bürokratie, nichte. Herr Willsch, Sie fallen nicht nur einmal an, son- die den Menschen kopfschüttelnd zurücklässt. dern sogar zweimal, und das ist das Problem an der Sa- che. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das wollen wir mit dem Onlinezugangsgesetz ange- Das sieht auch der Rechnungshof so, der den Anpas- hen. Wir sind auf gutem Wege. Wichtig ist dafür, dass sungsaufwand – wörtlich – für „erheblich“ hält, und auch (B) das Basisregister für die Unternehmensstammdaten mit von der Wirkung für die Verbraucher ist er nicht über- (D) einheitlicher Wirtschaftsnummer hier vorangetrieben zeugt, klar. Ob hierdurch der Konsum gesteigert wird, wird; denn das ist die Voraussetzung der Übertragung erscheint fraglich. Wieder einmal haben Sie an dieser des OZG auch in den Bereich der Unternehmen. Stelle nicht zu Ende gedacht. Eine dauerhafte Mehrwerts- teuersenkung wäre in der Tat richtig, aber nicht Ihr Halb- jahresrohrkrepierer. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Willsch. (Beifall bei der AfD) Dreimal haben wir es jetzt versucht mit Bürokratieent- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): lastungsgesetzen; aber jedes Mal blieb die Wirkung über- Ich sehe, dass es blinkt. – An allen Punkten wird ge- schaubar. Das liegt auch daran, dass gar nicht alles den arbeitet. Weg ins Gesetz findet, was wir ursprünglich dort geplant hatten. Beim BEG III war es ja wieder so: Die Grenze für Ich bedanke mich für Ihre Geduld, Herr Präsident, und geringwertige Wirtschaftsgüter, die Aufbewahrungsfris- freue mich auf die weitere Arbeit an den nächsten ten, die wir verkürzen wollten, ein Verrechnungsmodell Schritten zur Bürokratieentlastung in diesem Land. bei der Einfuhrumsatzsteuer – ist alles nicht hineinge- (Beifall bei der CDU/CSU) kommen. Es gibt weitere Punkte: Unternehmer warten auf einfachere Dokumentationspflichten beim Mindest- lohn, auf zeitsparende – wenigstens zeitsparende! – On- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: linedienste im Zusammenspiel mit den Behörden und, Nächster Redner ist der Kollege Leif-Erik Holm, AfD. und, und. Es bleiben zu viele wichtige Dinge nach wie vor liegen. (Beifall bei der AfD) Und dann kommt ja noch Brüssel hinzu; denn da ist Leif-Erik Holm (AfD): von der Bürokratiebremse überhaupt nichts zu spüren. Sehr geehrte Bürger! Herr Präsident! Meine Damen Bereits die Hälfte der Gesetzgebung kommt ja aus der und Herren! Seit Jahren reden wir im Hohen Hause über EU, und wir können überhaupt nichts dagegen tun. Der den Bürokratieabbau. Drei Entlastungsgesetze haben wir Aufwand, der durch EU-Regelungen entsteht, steigt im- schon verabschiedet. Dennoch kommen wir kaum von mer weiter, liegt aktuell laut Normenkontrollrat bei einer der Stelle, und das merken auch die Praktiker vor Ort. halben Milliarde Euro. Das zeigt wieder einmal, wie Ich habe mir einmal die Statistikpflichten angeguckt: schädlich es ist, wenn man das Heft des souveränen Han- Da gibt es viel Interessantes: Investitionserhebung, Er- delns aus der Hand gibt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21409

Leif-Erik Holm (A) (Beifall bei der AfD) Die FDP impliziert also praktisch mit ihrem Antrag, (C) Bürokratie sei Gift, welches man ausspülen sollte. Wenn In den vorliegenden Anträgen werden viele richtige das Ihr Ansatz zur Bewältigung unserer Krise ist, na, Dinge angesprochen, die wir im Ausschuss unbedingt dann gute Nacht, meine Damen und Herren! beraten sollten. Die Vorfälligkeit umzustellen, ist, denke ich, ein wirklich wichtiger Schritt. Deswegen haben wir (Beifall bei der SPD) diesen Antrag eingebracht. Die Unternehmer haben un- seren Sozialsystemen 2006 geholfen. In dieser Krise ist Man muss sagen: Es gibt ja auch Gründe für Büro- es Zeit, dass wir den Unternehmern diese Chance zurück- kratie. Regeln gibt es nicht zum Spaß der Abgeordneten geben für mehr Liquidität; dazu wird Kollege Chrupalla in diesem Parlament, sondern sie geben Sicherheit. Häu- nachher noch sprechen. fig gab es einen Vorfall, und der Gesetzgeber wurde zum Handeln aufgefordert. Sie sorgen aber auch für Gerech- (Beifall bei der AfD) tigkeit; denn es gibt Strafen für die, die sich nicht daran halten; sonst würde es ungleiche Wettbewerbsbedingun- Wir wollen die Start-ups direkt unterstützen, statt ihren gen geben. Kapitalgeber zu subventionieren. Gerade bei den Gründ- ern müssen wir die viel zu vielen bürokratischen Hürden Die FDP macht also die Mottenkiste auf und will die aus dem Weg räumen. Wir stehen im internationalen Dokumentationspflichten für den Mindestlohn vereinfa- Gründerranking auf Platz 125, direkt nach Mali – herz- chen. Wer hätte das gedacht, meine liebe FDP? lichen Glückwunsch! Das können wir uns wirklich nicht leisten als Land, das auch in Zukunft innovativ sein will (Reinhard Houben [FDP]: Das ist leider immer und vor allen Dingen sein muss, um vorne dranzubleiben. noch richtig!) Übersehen wird dabei, dass fast 2 Millionen Menschen (Beifall bei der AfD) keinen Mindestlohn erhalten, weil sich Unternehmer Der Chef des Normenkontrollrats, Johannes Ludewig, nicht an die Regeln halten. beklagt, dass die Gesetzgebung zu weit weg von der Realität von Unternehmen und Verwaltung sei. Ich finde, (Beifall bei der SPD) das ist ein wirklich entscheidender Punkt. Wir müssen Zudem unterbieten Unternehmer Preise durch die Nicht- also Gesetzesvorhaben von vornherein anders angehen. einhaltung des Mindestlohns. Das kann nicht im Sinne Wir müssen zunächst die Ziele definieren und dann mit vieler rechtschaffener Unternehmen sein. Eine Reduzie- den Praktikern vor Ort in die Umsetzung gehen und Mit- rung der Dokumentationspflichten würde beide Probleme tel und Wege ausloten, wie wir bei der Entbürokratisie- eher verschärfen. rung wirklich vorankommen. (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) Die Unternehmen brauchen also in diesen Zeiten wie- der Hoffnung, dass der bürokratische Wust an Vorschrif- Ich zitiere an dieser Stelle mal aus dem Antrag der ten und Nachweispflichten endlich mal radikal beschnit- FDP: ten wird. Jetzt, in der Rezession, wäre wirklich der beste Der Abbau von Bürokratie ist folglich die günstigste Zeitpunkt dafür. aller konjunkturwirksamen Maßnahmen. Im Gegen- Herzlichen Dank. satz zu staatlichen Investitionen ist er kostenneutral und kann im Ergebnis sowohl den Steuerzahler als (Beifall bei der AfD) auch die Unternehmen entlasten. Da frage ich Sie doch mal: Auf wessen Kosten denn? Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Bezahlen muss immer einer; das müssen Sie doch im Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Leben gelernt haben. Entweder ist es, wie in diesem Fall, Poschmann, SPD. der Arbeitnehmer, der Verbraucher, der Steuerzahler, oder es geht auf Kosten der Umwelt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jan Metzler [CDU/CSU]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wer Bürokratie verteufelt, macht es sich also zu ein- Sabine Poschmann (SPD): fach. Regeln sind kein Selbstzweck. Würden Aufsichts- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und räte und Vorstände von sich aus für eine höhere Frauen- Kollegen! Liebe Zuschauer! Detox für Deutschlands quote sorgen, müsste der Staat nicht intervenieren. Bürokratie? Ich muss schon sagen, meine Damen und Herren von der FDP: Das klingt sehr populistisch. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Claudia Müller [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall der Abg. Dr. [SPD]) Würden keine Steuern hinterzogen, könnte die Aufbe- Denn Detox im gesundheitlichen Sinne ist ja eine Ent- wahrungsfrist für steuerrelevante Unterlagen natürlich schlackung des Darms. verkürzt werden. Würde in bestimmten Bereichen nicht systematisch Verantwortung an Subunternehmer abgege- (Reinhard Houben [FDP]: Nein! Nicht nur des ben, gäbe es vielleicht andere Lösungen hinsichtlich der Darms!) Nutzung von Werkverträgen und Leiharbeit. So ist das Der Vergleich zur deutschen Wirtschaft hinkt etwas, finde mit vielen Dingen, meine sehr geehrten Damen und Her- ich. ren. Vorgaben gibt es nicht aus sadistischen Gründen. 21410 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Sabine Poschmann (A) Deswegen muss man das differenziert betrachten. Nur ser und hilft zum anderen auch nicht dabei, die Krise zu (C) unnötige Bürokratie kann und muss abgebaut werden. überwinden. Richten wir uns doch lieber mit den Maß- nahmen im Konjunkturpaket Richtung Zukunft aus. So (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Reinhard können wir gemeinsam die Krise überwinden: mit Ver- Houben [FDP]: Dann fangen Sie doch mit der stand, sozialer Verantwortung und Optimismus. mal an, Frau Poschmann!) Hier, lieber Herr Houben, sind wir seit Längerem dran – (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Karlheinz das wissen Sie – und haben auch spürbare Erfolge erzielt. Busen [FDP]: Fangen Sie mal damit an!) Deshalb soll ein Viertes Bürokratieentlastungsgesetz fol- Aus Effizienzgründen beende ich meine Rede jetzt gen, aber eben nicht auf Kosten der Steuerzahler und der schon etwas eher und wünsche Ihnen und uns eine schöne Arbeitnehmer. Sommerpause. (Beifall bei der SPD) Herzlichen Dank. Der Abbau muss natürlich auch Wirkung zeigen. Des- (Beifall bei der SPD) wegen wundere ich mich über die Anträge zur Verschie- bung der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge. Die Debatten und Anhörungen in den vergangenen Jahren Vizepräsident : haben doch ein recht klares Bild ergeben: Die Maßnahme Vielen Dank, Frau Kollegin. Ich fand das jetzt vorbild- hätte nicht die positiven Effekte, wie FDP und AfD hier lich. denken. Die Studie, die im FDP-Antrag erwähnt wird, zeigt zudem, dass das aktuelle Verfahren kaum aufwendi- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU ger ist als das alte. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Falko Mohrs [SPD]: Auch der Inhalt! – (Reinhard Houben [FDP]: Das ist derartig pra- Reinhard Houben [FDP]: Keine Bewertungen xisfremd, Frau Poschmann! Das ist kaum aus- durch den Präsidenten, bitte!) zuhalten!) Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst, Fraktion Darüber hinaus haben sich Unternehmen nach 15 Jah- Die Linke. ren auf die Regelungen eingestellt, und es gab bereits effektive Vereinfachungen. (Beifall bei der LINKEN)

(Tino Chrupalla [AfD]: Was denn?) Klaus Ernst (DIE LINKE): (B) Jetzt umzustellen, würde einen hohen einmaligen Auf- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- (D) wand für Unternehmen bedeuten. ren! Die FDP will also Detox für Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir nicht ganz sicher, (Tino Chrupalla [AfD]: So ein Blödsinn!) ob ihr euch informiert habt, was das eigentlich ist. Das halte ich in der aktuellen Krise für keine gute Idee. (Reinhard Houben [FDP]: Doch!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In der Sendung „Quarks“ – das ist ein Wissenschafts- Außerdem würde die Verlegung des Fälligkeitstermins magazin des WDR – heißt es: „Detox-Kuren sollen den der Sozialversicherungsbeiträge auch die Sozialversiche- Körper entgiften und reinigen.“ Detox-Anhänger glau- rungskassen stark belasten. Das ist ebenfalls keine gute ben, dass sich sogenannte Schlacken im Körper ablagern, Idee in der Krise. die durch Detox-Kuren entfernt werden. Und nun das Zitat aus „Quarks“ – hören Sie zu –: (Beifall bei der SPD) Solche „Schlacken“ gibt es im Körper aber nicht und Wir investieren dagegen jetzt in Maßnahmen, die in eine entgiftende Wirkung von Detox-Kuren ist wis- der Krise direkt und effektiv beim Mittelstand ankom- senschaftlich nicht nachgewiesen. men, beispielsweise durch Überbrückungshilfen, gute Kreditmöglichkeiten, Stundungsmöglichkeiten, Stärkung Es heißt dann weiter: der Kommunen – das sichert nämlich Aufträge im Mittel- stand –, ein erweitertes Kurzarbeitergeld, steuerliche Ver- Die Verbraucherzentralen warnen vor derartigen lustrückträge – das schafft Liquidität –, günstige Ab- Produkten. Sie sind kostspielig und der Begriff „De- schreibungsmöglichkeiten, Ausbildungsprämien und, tox“ werde rein zu Werbezwecken verwendet. und, und. Das Paket setzt gleichzeitig strukturell auf (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört! Nachhaltigkeit und Erneuerung und bringt so den erwar- Hört! – Frank Sitta [FDP]: Bürokratie gibt es teten Modernisierungsschub. Das sind wichtige Weichen- aber!) stellungen für Mittelständler, und das ist richtig; denn sie spielen beim Umbau der Wirtschaft eine wichtige Rolle. Könnte es sein, dass Sie das wollten? Könnte es sein, dass das auch Ihre Absicht ist, meine Damen und Herren? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) In so einer Phase, meine Damen und Herren, Forde- rungen aufzustellen, über die wir schon des Öfteren dis- Vielleicht haben Sie das mit Botox verwechselt. Vorsicht: kutiert haben, macht zum einen die Vorschläge nicht bes- Auch das ist ein Gift! Nicht einfach was anderes nehmen! Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21411

Klaus Ernst (A) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des oder auch zwei, drei oder vier, vielleicht sogar fünf oder (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sechs trinken. Aber spätestens dann werden Sie merken: Es ist gut, wenn jemand da ist, der notiert hat, was Sie Aber bleiben wir bei Ihrem Antrag. Unklar bleibt auch trinken, weil Sie selber das vielleicht gar nicht mehr wis- jetzt, was Sie eigentlich konkret unter Bürokratie verste- sen. hen und was Sie alles streichen wollen. In dem vorliegen- den Antrag fordern Sie: bis Ende 2021 keine neuen Be- (Heiterkeit bei der LINKEN) lastungen durch Informationspflichten. – Jetzt frage ich Sie: Gilt das dann auch im Zusammenhang mit Corona? Ist das dann Bürokratie, Herr Houben? Nein, das ist keine Welche Meldepflichten wollen Sie, zum Beispiel im Zu- Bürokratie, sondern das ist sinnvoll, damit Sie nicht be- sammenhang mit Corona, abschaffen oder ändern? Wenn schissen werden. es wenigstens ein wenig konkreter wäre! Aber an diesem (Beifall bei der LINKEN und der SPD – Hei- Beispiel, an der allgemeinen Forderung „keine neuen terkeit des Abg. Bernhard Loos [CDU/CSU]) Belastungen“, merken Sie doch, dass das vollkommen daneben ist. So allgemein, wie Sie das formulieren, ist Genau aus demselben Grund wollen wir, dass auch die es auch gefährlich, wie man bei Corona sieht. Kollegin oder der Kollege, der Ihnen den Wein serviert hat, aufschreiben darf, wie lange er gearbeitet hat – von Was Sie eigentlich wollen – und das ist Ihr Ladenhüter; wann bis wann – und wie viel Pause er hatte: damit er auf den gehe ich jetzt auch noch mal ein –, ist, Dokumen- nicht beschissen wird. tationspflichten beim Mindestlohn zu vereinfachen. Schon im April 2019 hat hier an dieser Stelle Ihr Kollege (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Kemmerich, den viele von Ihnen jetzt nicht mehr kennen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir könnten jetzt wollen, noch viel über das reden, was Sie wollen. Umweltaufla- gen sind für Sie Bürokratie. Ich zitiere aus einer Rede von (Dr. [DIE LINKE]: Zu 2019: Statistiken, Achtung von Menschenrechten, steht Recht!) da drin, ist für Sie Bürokratie. – Was heißt das eigentlich? – zu Recht – Folgendes dazu gesagt: Er hat sich nämlich „Achtung von Menschenrechten ist Bürokratie“ würde darüber echauffiert, dass Beginn, Dauer und Ende der zum Beispiel bedeuten, dass alle Regelungen, die wir Arbeitszeit zu erfassen sind; das hielt er für völlig über- machen, weil Frauen gleichberechtigt sind und es keine bordet und sagte: Alle Unternehmen unterliegen der vol- Diskriminierung mehr geben soll, für Sie Bürokratie sind. len Kontrolle. – Das möchte er natürlich nicht. Diese Regelungen sind für Sie Bürokratie. Was sagen denn eigentlich Ihre Frauen dazu? So viele sind heute Bedeutet denn ein Abbau von Kontrollen wirklich we- natürlich nicht da. (B) niger Bürokratie? Ist denn nicht gerade jetzt angesichts (D) der Situation in der Fleischwirtschaft deutlich geworden, (Heiterkeit bei der LINKEN – Niema Movassat dass wir mehr Kontrollen bräuchten? [DIE LINKE]: Die sind nicht da! Da ist ja keine da! – Gegenruf des Abg. Manfred (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Todtenhausen [FDP]: Wie viele Frauen sitzen neten der SPD) denn bei Ihnen?) Und damit natürlich ein Stück weit mehr Bürokratie, so Da ist ja selbst die CSU weiter. Der Söder hat es wenigs- bedauerlich das ist. Darüber, ob es Quatsch ist, kann man tens probiert und ist am Parteitag gescheitert. Sie wollen diskutieren. Aber Sie sagen ja nicht, dass es Quatsch ist, die Regelungen wieder abbauen. Mein Gott! Wirklich sondern Sie reden ganz allgemein von einem Abbau von daneben. Bürokratie. Was würde das denn bedeuten, wenn wir jetzt noch weniger Kontrollen in der Fleischwirtschaft hätten, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- als wir schon haben? Das ist Ihr Vorschlag. neten der SPD) (Reinhard Houben [FDP]: Das kann ich jetzt Aus Zeitgründen, meine Damen und Herren, nur noch nicht mehr ernst nehmen!) eine kurze Bemerkung. Sie sagen, Sie wollen Bürokratie abbauen, damit die Unternehmen wieder investieren. Meine Damen und Herren, zum nächsten Punkt: Ihre Dazu nur ein paar Zahlen: 2019 betrugen die Gewinne Argumente. Sie sagen, wir würden immer alle unter Ge- der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften 473 Milliar- neralverdacht stellen, weil wir bestimmte Regeln ma- den Euro. Die Nettoinvestitionen betrugen 110 Milliarden chen. – Stellen Sie sich mal vor, wir hätten keine Regeln Euro, also ein Viertel davon. Die hätten also 75 Prozent im Straßenverkehr. Dann würden selbst Sie sich nicht mehr investieren können, als sie getan haben. Glauben mehr trauen, Auto zu fahren, Herr Houben. Das ist Büro- Sie tatsächlich, dass diese Kapitalgesellschaften die kratie. Ein Blitzer bedeutet Bürokratie, nur damit wir uns Peanuts brauchen, die Sie ihnen durch irgendeinen Büro- das mal vorstellen. Regeln sind notwendig für die Sicher- kratieabbau geben würden? Wir wären schon lange hin in heit, auch im Straßenverkehr, meine Damen und Herren. Deutschland, wenn es so wäre, Herr Houben. (Beifall bei der LINKEN) (Reinhard Houben [FDP]: Die investieren nicht Oder nehmen wir die Gastronomie. Wenn Sie, Herr in Deutschland, sondern anderswo! Das ist Houben, Ihren Parteifreund Herrn Theurer besuchen doch das Problem!) und mit ihm Trollinger trinken würden, würden Sie viel- Deshalb sage ich Ihnen: Auch Ihre Forderung „One in, leicht ein Viertele – das gibt es in Baden-Württemberg – two out“ ist vollkommen daneben. Immer, wenn es ein 21412 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Klaus Ernst (A) neues Gesetz gibt, sollen zwei abgebaut werden. Das ohne – das war Ihnen ganz wichtig, und das ist es auch – (C) führt dazu, dass wir irgendwann keine Gesetze mehr ha- infolgedessen die Sozialversicherungsbeiträge zu erhö- ben. Dann haben wir auch keinen Bundestag mehr. Dann hen. Dazu gab es eine Anhörung, in der sehr deutlich brauchen wir aber auch die FDP nicht mehr. wurde: Das kann nicht funktionieren; denn gegen Finan- zierungslücken gibt es schlicht und ergreifend keine Pil- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- len. ten der SPD – Niema Movassat [DIE LINKE]: Die brauchen wir jetzt schon nicht mehr!) Wahrscheinlich sagen Sie sich jetzt: Na ja, wegen Co- rona haben wir sowieso überall Lücken. Die Anhörung Meine Damen und Herren, zum Schluss zum Nachden- und Herr Kemmerich sind möglicherweise vergessen. ken für die Sommerpause ein Zitat von Rousseau. Er Schlagen wir das einfach noch mal vor – es klingt gut –, sagte – das ist jetzt schwer zu verstehen; ich gebe es egal ob es funktioniert. zu –: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das be- Diesmal schlagen Sie vor: Dann könnte ja der Bund freit.“ den Sozialkassen das Geld leihen. – Sie vergessen aber, zu sagen, wie hoch der Betrag wäre: 28 Milliarden Euro würde das kosten. 28 Milliarden Euro genau in dieser Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Phase! Das ist Ihnen wahrscheinlich auch bewusst; denn Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Sie haben es nur als Prüfauftrag in den Antrag geschrie- ben: „unter Berücksichtigung der im Haushalt zur Ver- Klaus Ernst (DIE LINKE): fügung stehenden Mittel“. Das heißt, es ist Ihnen eigent- Denken Sie mal darüber nach! Wenn Sie Hilfe brau- lich bewusst, dass das mittelfristig überhaupt nicht chen, rufen Sie mich an! umsetzbar ist. Sie wollten es trotzdem erwähnen, weil Ich danke Ihnen fürs Zuhören. es nett klingt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Sie wollen es auch nicht für alle machen, sondern das ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE nur als Option anbieten; denn – auch das haben Sie GRÜNEN) scheinbar neu erkannt – das ist ja ein Umstellungsauf- wand, das heißt ein Bürokratieaufwand. Mehr Bürokratie wäre das, und das wäre momentan falsch. Denn Sie kri- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: tisieren diesen Umstellungsaufwand ja in Bezug auf die Herzlichen Dank, Herr Kollege. Umsetzung der Mehrwertsteuersenkung; das ist auch vollkommen richtig. (B) Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, (D) möchte ich darauf hinweisen, dass um 11.21 Uhr die Ab- Nur, Sie haben vor zwei Wochen einen Antrag gestellt, stimmung geschlossen wird. Um 11.21 Uhr ist tatsächlich der lautet: „Unternehmen schnell und effizient entlasten – Schluss; das für alle diejenigen, die sich vielleicht noch Ist-Versteuerung als bundesweiten Standard setzen“. Da zu den Abstimmungsbehältnissen begeben müssen. bieten Sie das nicht als Option an. Da finden Sie einen Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Claudia entsprechenden Umstellungsaufwand zum jetzigen Zeit- Müller, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. punkt vollkommen richtig. An dieser Stelle fordern Sie mehr Bürokratie, während Sie das in dem jetzigen Antrag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht mal mehr erwähnen. Ich frage mich: Wie gut stim- men Sie eigentlich in der Fraktion Ihre Anträge unter- Claudia Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einander ab? Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- Wir hingegen haben gefordert, dass die Möglichkeit – men und Herren! „Detox“, „Entschlacken“, „Mittel- die Betonung liegt auf Möglichkeit – zur Istbesteuerung standsbauch“: Das klingt ein bisschen so, als ob die ausgeweitet wird. Das heißt, die Forderung an sich finden FDP auf einem Gesundheitstrip wäre und sich mit dem wir richtig. Thema Abspecken beschäftigt. Wenn man aber in Ihren Antrag guckt, dann muss man feststellen: Es sind doch (Manfred Todtenhausen [FDP]: Gut!) nur alte Pillen neu verpackt, die Sie hier präsentieren – es Wir fordern es als Möglichkeit für bis zu 2 Millionen ist schon angesprochen worden –: die Mindestlohndoku- Euro Umsatz. Das wäre aber freiwillig. Die Unternehmen mentation und – nicht ganz direkt, aber indirekt mit da- könnten also bestimmen, wann sie diese Umstellung vor- bei – die Aufweichung der Höchstarbeitszeiten. Ganz nehmen. Das heißt, sie könnten auch bestimmen, wann ehrlich: Gesund sind diese Rezepte nicht. sie diesen Mehraufwand an der Stelle hätten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Herren und Damen von der FDP, wir sind uns ja Kommen wir zu Ihrem Antrag mit dem Titel „Unter- einig: Das Thema Bürokratieabbau ist wichtig. – Es ist nehmen schnell und effizient entlasten – Fälligkeit von aber zu wichtig, um an dieser Stelle heiße Luft zu produ- Sozialversicherungsbeiträgen wieder in den Folgemonat zieren. verlegen“. Auch das ist nichts Neues. Es ist schon ange- sprochen worden: Im September 2018 – damals noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unter der Federführung von Herrn Kemmerich – haben Wir sind uns ja bei vielen Kritikpunkten einig. Beim Sie vorgeschlagen, das Fälligkeitsdatum der Sozialver- Thema „geringwertige Wirtschaftsgüter“ fordern wir die sicherungsbeiträge wieder nach hinten zu verschieben, Hochsetzung der Abschreibungsgrenze auf 1 000 Euro Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21413

Claudia Müller (A) unisono, glaube ich, seit Jahren gemeinsam. Das ist auch Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) vollkommen richtig, wird aber vom Wirtschaftsministe- Vielen Dank, Frau Kollegin. rium schlicht und ergreifend nicht umgesetzt. Dabei wäre genau das eine Entlastung insbesondere für kleine und Ich unterbreche kurz die Aussprache und komme zu- kleinste Unternehmen. Aber man muss ganz klar sagen: rück zu Tagesordnungspunkt 22 b. Die Zeit für die na- Gerade die kleinen Unternehmen sind nicht im Blick mentliche Abstimmung über den Änderungsantrag der dieser Bundesregierung. Das zeigen Sie in den letzten Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist gleich vorbei. Ist Monaten jeden Tag aufs Neue. noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim- me nicht abgegeben hat? – Das ist offensichtlich nicht der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Denn die Bundesregierung erweist den Gründerinnen Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen und Solo-Selbstständigen jeden Tag einen Bärendienst, 1) und sie werden jedes Mal mit zusätzlicher Bürokratie später bekannt gegeben. belastet. Denn die Beantragung der Soforthilfen ist für Wir kommen zurück zur Aussprache zu Tagesord- diese Gruppen kompliziert. Sie können diese Hilfen zwar nungspunkt 23. Als nächster Redner hat der Kollege für Ihre Betriebskosten beantragen, aber für die Lebens- Bernhard Loos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. haltungskosten sollen sie gefälligst zu einem anderen Amt laufen, sie sollen ALG II beantragen. Das ist viel (Beifall bei der CDU/CSU) bürokratischer Aufwand. Das ist eine Belastung der Ver- waltung; das ist eine Belastung der Selbstständigen. Bernhard Loos (CDU/CSU): Es wäre so einfach, es zu ermöglichen – das zeigt das Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Beispiel Baden-Württemberg –, einen Betrag für die Le- Kollegen! Liebe FDP, es hat eine Zeit gegeben, da habe benshaltungskosten aus der Soforthilfe zu entnehmen. ich ein bisschen mehr von der FDP erwartet. Es kommt 1 180 Euro: Das ist nicht aus der Luft gegriffen; das ist mir angesichts Ihres Antrags ein bisschen so vor, als ob der Pfändungsfreibetrag. Das wäre einfacher, das wäre Ihnen nicht viel anderes eingefallen ist, als das Thema unbürokratischer, und es wäre im Übrigen auch nicht viel Bürokratieabbau wieder nach oben zu bringen – ein The- teurer. ma, über das wir ohne Zweifel permanent und pausenlos Diskussionen führen könnten. Aber gerade in der Zeit, in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der wir jetzt leben, und angesichts der Herausforderun- Aber nein. Diesen Bürokratieabbau will die Bundesre- gen, die wir in den nächsten Wochen haben werden, ha- gierung an dieser Stelle nicht. Es scheint eher, als würde ben wir eigentlich erwartet, dass zu Wirtschaftsthemen (B) man auf Rückzahlungen bauen. Denn ganz zu Anfang etwas anderes kommt. (D) haben es alle so verstanden, als ob das echte Soforthilfen Aber zunächst zurück zum Thema Bürokratieabbau. für Solo-Selbstständige sind. Die Länder haben das so Ich möchte auf meinen Vorredner, den lieben Kollegen verstanden. Es war zum Teil anfangs möglich, dies zu Ernst, eingehen und sagen: Ich habe ein bisschen das beantragen. Jetzt gibt es Streit zwischen den Ländern Gefühl gehabt, dass Sie verwechselt haben, ob es um und der Bundesregierung in Bezug auf die Rückforde- Regeln geht oder um Bürokratie. Natürlich braucht jeder rung. Ganz ehrlich: Wenn Sie Bürokratieentlastung wol- Staat und jedes Gemeinwesen Regeln. Aber bei Bürokra- len – und das habe ich in den Reden der Kollegen von der tie geht es um Regeln, die man eigentlich nicht braucht, CDU/CSU durchaus gehört –, dann entlasten Sie doch an die eigentlich überflüssig sind, dieser Stelle. Entlasten Sie die Prüfstellen! Entlasten Sie vor allen Dingen auch die Jobcenter! Werden Sie bei der (Zuruf von der FDP: Sehr wahr!) Ausgestaltung der Soforthilfen an dieser Stelle aktiv! Das wäre echter Bürokratieabbau. die insbesondere für die Bürger, die Menschen im Land, und für die kleinen und mittelständischen Unternehmen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht nur überflüssig, sondern manchmal nicht erträglich Einen Punkt möchte ich noch ansprechen. Ich war ehr- sind. Viele von uns wissen – darüber muss man gar nicht lich gesagt ein bisschen enttäuscht, liebe Kolleginnen und lange nachdenken –, warum es den Bäcker, den Metzger Kollegen von der FDP. Wir hätten gerne unseren Antrag und den Handwerker X nicht mehr gibt. Ganz einfach: zu Hilfen für die Solo-Selbstständigen hier mit dazuge- Bürokratieauflagen haben nicht nur mit dem Können zu stellt. Das haben Sie abgelehnt. Das bedaure ich sehr. tun, sondern dabei geht es auch um Daten und Zahlen, Gerade bei diesem Thema wäre ein Schulterschluss derer, und das können diese Unternehmen in der Regel nicht die dieses Thema vorantreiben, die hier Unterstützung mehr leisten. Deshalb verarmen wir auch da, beim Kul- wollen, wichtig gewesen. Denn wir sind uns doch einig: turgut kleine und mittelständische Unternehmen. Die Bundesregierung muss an dieser Stelle endlich ernst- Mit dem Bürokratieentlastungsgesetz III haben wir na- haft zuhören: den Tausenden verzweifelten Betroffenen, türlich schon einiges beschlossen, aber auch ich bin nicht die nicht wahrgenommen werden, die dringlichst auf die- sehr zufrieden damit. sen Bürokratieabbau, auf diese Unterstützung warten. Das wäre der schnellste und einfachste Bürokratieabbau. (Reinhard Houben [FDP]: Dann haben wir ja was gemeinsam, Herr Loos!) Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1) Ergebnis Seite 21415 C 21414 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Bernhard Loos (A) Ich möchte jetzt nicht den Eindruck erwecken, dass ich türlich auch immer wieder eine Verlegung, aber man (C) dieses Thema leichtnehme; auch ich bin ein großer muss auch ein bisschen die Relationen im Auge haben. Kämpfer dafür, dass wir Bürokratie abbauen. Wir haben Der Antrag der FDP ist zwar ein Zweitverwertungsan- gerade in der Coronakrise gesehen, wie wichtig es ist, trag, aber ich denke, er ist nicht völlig unberechtigt. Wir dass eine funktionierende Staatsverwaltung in Bund, hatten am 24. September 2018 eine Anhörung im Aus- Ländern und Kommunen zum Wohle der Bürger leis- schuss für Arbeit und Soziales dazu; sie wurde auch tungsfähig arbeitet. Aber man konnte auch sehen, was schon erwähnt. Das Ergebnis war, dass wir, wenn wir passiert, wenn man nicht bürokratisch agiert, zum Bei- zu der alten Regelung zurückkommen würden, eine spiel bei der Ausreichung von Hilfsmitteln. Da haben wir, Entlastung bei den Unternehmen im kleineren Millionen- glaube ich, von der Berliner Landesregierung viel lernen betrag hätten. Auch das zählt natürlich, bitte nicht miss- können. Eine reine Abschaffung der Bürokratie macht verstehen; aber auch eine Umstellung, also die Rück- also keinen Sinn. umstellung, würde die Wirtschaft und die Verwaltung belasten, und bei den Sozialversicherungsträgern würde Natürlich wollen auch wir mehr Bürokratieabbau. Wir ein einmaliger Einnahmeausfall von über 28 Milliar- von der CSU haben verschiedene Vorschläge gemacht den Euro entstehen. Da sind wir uns doch, glaube ich, wie die „Steuererklärung auf einen Klick“. Das heißt, auch alle einig, dass das aller Voraussicht nach zu einer die Steuererklärung ist bereits ausgefüllt, der Steuer- Erhöhung der Beitragssätze führen würde und es dadurch pflichtige muss nur noch schauen, ob die Daten stimmen – zu zusätzlichen Belastungen der Unternehmen kommen und dann raus damit. Das würde große Erleichterung würde. bringen. Im Unternehmensbereich machen wir uns Ge- danken darüber, die Prozesse der Finanzverwaltung dahin Meine sehr verehrten Kollegen, wir sehen, dass jetzt gehend zu überprüfen, wie wir von der Papierform in die die Zeit des Handelns ist. Die Bundesregierung handelt. Digitalform wechseln können. Unser Bundesminister liefert ab. Wir brauchen dazu we- der Detox noch Wirtschaftsentfesselungskünstler. Wir Natürlich ist klar: Wir brauchen ein Bürokratieentlas- von der Union machen ganz einfach eine solide Wirt- tungsgesetz IV. Das allein wird es aber nicht sein. Dazu schaftspolitik. gehört aus unserer Sicht die Verkürzung der Aufbewah- rungsfristen. Zu diesem Thema ist hier gerade von meiner Ich danke Ihnen. Kollegin Müller etwas ein bisschen locker dahergesagt worden. Aufbewahrungspflichten bedeuten ja nicht nur, (Beifall bei der CDU/CSU) dass man dadurch etwas zu tun hat, sondern das kostet auch Geld. Wir sind sehr wohl dafür, das Handels- und Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (B) das Steuerrecht dahin gehend zu ändern, dass man die Vielen Dank, Herr Kollege Loos. – Nächster Redner ist (D) Aufbewahrungszeiten von zehn auf fünf Jahre reduziert. der Kollege Tino Chrupalla, AfD-Fraktion. Die Anhebung der Grenze der Sofortabschreibung für (Beifall bei der AfD) geringwertige Wirtschaftsgüter – auch das hat die Kolle- gin Müller angesprochen – von 800 auf 1 000 Euro ist Tino Chrupalla (AfD): auch eine Selbstverständlichkeit. Das fordern wir natür- Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen lich auch stark. und Kollegen! Deutschlands Wirtschaft hat schwere Mo- Wir wollen auch eine Initiative zur Unternehmensdigi- nate hinter sich, und sie hat schwere Monate und Jahre talisierung machen und dafür zum Beispiel eine 50-pro- vor sich. Zwar ist es richtig, dass wir nun klassische zentige Sonder-AfA auf Digitalinvestitionen durchset- Stabilisierungspolitik betreiben müssen, um die Wirt- zen. schaft wieder auf Kurs zu bringen und die Unternehmen aus ihrer schwierigen Lage herauszuholen, doch die Bun- Wenn wir die Kräfte unserer Wirtschaft entfesseln wol- desregierung scheint in ihrer Wirtschaftswerkstatt vor len, dann brauchen wir einen Belastungsstopp. Ideen wie allem ein Werkzeug zu haben, nämlich das Geld deut- eine Reform der Erbschaftsteuer oder eine Wiedereinfüh- scher Steuerzahler und künftiger Generationen. rung der Vermögensteuer lehnen wir natürlich grund- sätzlich ab. Aber wir brauchen die Entlastung der kleinen (Beifall bei der AfD) und mittelständischen Einkommen. Auch brauchen wir So werden jetzt Rekordschulden in Höhe von 218 Milliar- die Modernisierung der Unternehmensbesteuerung und den Euro aufgenommen, um ein riesiges Konjunkturpa- ein Unternehmensstärkungsgesetz; denn international ket durchzupeitschen, das leider die ganz falschen agierende Unternehmen benötigen ein international wett- Schwerpunkte setzt und bestimmt auch kein Kracher bewerbsfähiges Steuerrecht, und Deutschland ist da im wird, sondern eher ein Rohrkrepierer. OECD-Vergleich mittlerweile wirklich zu einem Hochst- euerland geworden. (Zuruf von der SPD: Sie bringen doch gar nichts zustande!) Wir möchten weiter natürlich auch eine Absenkung der Was wir brauchen, ist keine Politik der weiteren Be- Ertragsteuerbelastung für Unternehmen auf 25 Prozent , lastung; wir brauchen eine Politik der Entlastung. um Spielräume für notwendige Investitionen in Digitali- sierung und Innovationen zu schaffen. (Beifall bei der AfD) Kommen wir noch kurz zur Vorfälligkeit der Sozial- Unter dem Stichwort „Bürokratieabbau“ wäre da noch versicherungsbeiträge. Ich als Unternehmer fordere na- einiges machbar gewesen. Vor allem Selbstständigen, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21415

Tino Chrupalla (A) kleinen und mittelständischen Unternehmen, die derzeit Deshalb sieht unser Antrag vor, zur alten Regelung zu- (C) knapp bei Kasse sind, könnte man mit relativ geringem rückzukehren und das Fälligkeitsdatum der Beiträge in Aufwand unter die Arme greifen. Genau da setzt unser den Folgemonat zu verlegen. Antrag an, übrigens ohne tief in den Steuersack zu grei- fen, verehrte Bundesregierung.

Derzeit ist es so, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, die Stimmen Sie unserem Antrag zu. Kehren wir zurück Sozialversicherungsbeiträge ihrer Arbeitnehmer schon zur alten Regelung. Geben wir den Unternehmen wieder im laufenden Monat abzuführen, auch wenn noch gar Luft zum Atmen. Ersparen wir ihnen unnötige Arbeits- nicht klar ist, wie viel diese arbeiten und wie hoch die schritte. Geben wir ihnen die Zeit für ihre Geschäfte Sozialversicherungsbeiträge tatsächlich sein werden. Je- zurück. Beenden wir diesen Bürokratieirrsinn. Es wäre de Lohnabrechnung muss also zweimal bearbeitet wer- wenig Aufwand mit großer Wirkung. den. Frau Poschmann, Sie sprachen davon, es wäre kein bürokratischer Aufwand. Für Betriebe ohne große Perso- nalabteilung ist das ein weiterer unnötiger Arbeitsschritt, für den Kapazitäten in der Regel überhaupt nicht vorhan- Vielen Dank. den sind.

(Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Lassen Sie mich das sagen: Als Handwerksmeister weiß ich sehr wohl, dass man diese Zeit wirklich sinnvoller Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nutzen kann als mit diesem Papierkram. Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, liebe Kolleginnen und Kollegen, gebe Doch nicht nur das: Vor allem raubt die Vorfälligkeits- ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh- regelung den Unternehmen die Liquidität. Angesichts der rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- Zusatzbelastung durch Corona ist das ein wirklich skan- mung über den Änderungsantrag der Abgeordneten dalöser Zustand. Das ist ja gerade so, als wollten Sie es Oliver Krischer, Annalena Baerbock, , wei- den kleinen und mittleren Unternehmen absichtlich terer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die schwer machen, zu wachsen und Erfolg zu haben. Grünen zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, Drucksachen 19/17342, 19/18472, 2006 mag diese Praxis angesichts der leeren Sozial- 19/18779 Nr. 1.13, 19/20714 (neu) und 19/20730, Ent- kassen und der stabilen Wirtschaftslage noch vertretbar wurf eines Gesetzes zur Reduzierung und zur Beendi- (B) gewesen sein. Fehlende Liquidität in den Staatskassen (D) gung der Kohleverstromung und zur Änderung weiterer wurde von den Unternehmen seitdem schlicht ausge- Gesetze, Kohleausstiegsgesetz, bekannt. Wir haben borgt – „vorübergehend“, so hieß es damals, liebe SPD. 709 Abgeordnete, wie Sie wissen. An der Abstimmung Doch der alte und bewährte Zustand wurde nie wieder- haben teilgenommen 660 Abgeordnete. Mit Ja haben ge- hergestellt – ein absolutes Unding angesichts der aktuel- stimmt 120, mit Nein haben gestimmt 540, Enthaltungen len Situation, die sich spiegelbildlich zum Jahr 2006 ver- keine. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.1) hält.

(Beifall bei der AfD) 1) Anlage 5

Endgültiges Ergebnis Sevim Dağdelen Ralph Lenkert Abgegebene Stimmen: 659; Friedrich Straetmanns davon Dr. Dr. Gesine Lötzsch Dr. Kirsten Tackmann ja: 120 Anke Domscheit-Berg nein: 539 Klaus Ernst Susanne Ferschl Ja Niema Movassat Andreas Wagner Norbert Müller (Potsdam) DIE LINKE Sabine Zimmermann Dr. Zaklin Nastic (Zwickau) Dr. André Hahn Dr. Alexander S. Neu Gökay Akbulut Heike Hänsel Dr. Dietmar Bartsch BÜNDNIS 90/ Matthias Höhn DIE GRÜNEN Lorenz Gösta Beutin Sören Pellmann Matthias W. Birkwald -Förster Tobias Pflüger Lisa Badum Michel Brandt Dr. Achim Kessler Annalena Baerbock Eva-Maria Schreiber Dr. Birke Bull-Bischoff Caren Lay Dr. Petra Sitte Dr. Jörg Cezanne Helin 21416 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Ulrich Lange (C) Dr. Beate Walter-Rosenheimer Dr. Ekin Deligöz Ursula Groden-Kranich Katharina Dröge Hermann Gröhe Harald Ebner Fraktionslos Klaus-Dieter Gröhler Dr. Michael Grosse-Brömer Dr. Marco Bülow Kai Gehring Astrid Grotelüschen Markus Grübel Nein Katrin Göring-Eckardt Dr. CDU/CSU Anja Hajduk Dr. Monika Grütters Nikolas Löbel Britta Haßelmann Fritz Güntzler Bernhard Loos Dr. Bettina Hoffmann Norbert Maria Altenkamp Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Anton Hofreiter Peter Altmaier Ottmar von Holtz Dr. Saskia Ludwig Jürgen Hardt Dr. Kirsten Kappert- Gonther Thomas Bareiß Dr. Thomas de Maizière Uwe Kekeritz Dr. Dr. Sven-Christian Kindler (Börde) Maria Klein-Schmeink Veronika Bellmann (Chemnitz) Hans-Georg von der Sylvia Kotting-Uhl Mark Helfrich Marwitz Oliver Krischer Dr. André Berghegger Stephan Kühn (Dresden) (Altötting) Christian Kühn (Tübingen) Marc Henrichmann Dr. Renate Künast Peter Beyer Ansgar Heveling Jan Metzler Markus Kurth Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans (B) Dr. Michelbach (D) Sven Lehmann Alexander Hoffmann Dr. Steffi Lemke Michael Brand (Fulda) Dietrich Monstadt Dr. Dr. Erich Irlstorfer Karsten Möring Dr. Dr. Claudia Müller Silvia Breher Axel Müller Beate Müller-Gemmeke Dr. Gerd Müller Dr. Sepp Müller Dr. Konstantin von Notz Ralph Brinkhaus Carsten Müller (Braunschweig) Dr. Torbjörn Kartes Stefan Müller (Erlangen) Dr. Andreas Nick Cem Özdemir Dr. Stefan Kaufmann Alexander Dobrindt Dr. Georg Nüßlein Tabea Rößner Marie-Luise Dött Michael Kießling Claudia Roth (Augsburg) Hansjörg Durz Dr. Florian Oßner Dr. Corinna Rüffer Hermann Färber Jens Koeppen Stefan Schmidt Charlotte Schneidewind- Dr. Carsten Körber Hartnagel Thorsten Frei Alexander Krauß Kordula Schulz-Asche Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Joachim Pfeiffer Dr. Wolfgang Strengmann- (Hof) Dr. Günter Krings Stephan Pilsinger Kuhn Michael Frieser Rüdiger Kruse Dr. Christoph Ploß Hans-Joachim Fuchtel Dr. Roy Kühne Markus Tressel Ingo Gädechens Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Jürgen Trittin Dr. Andreas G. Lämmel Dr. Katharina Landgraf Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21417

(A) Alois Rainer Dr. Johann David Wadephul Angelika Glöckner Mahmut Özdemir (C) Timon Gremmels (Duisburg) Aydan Özoğuz Michael Groß Johannes Röring Albert H. Weiler Uli Grötsch Dr. Norbert Röttgen Sabine Poschmann () Rita Hagl-Kehl (Minden) Erwin Rüddel Dr. Peter Weiß (Emmendingen) Anita Schäfer (Saalstadt) Sabine Weiss (Wesel I) Dirk Heidenblut Dr. Wolfgang Schäuble (Peine) Sönke Rix Annette Widmann-Mauz Dr. Christian Schmidt (Fürth) Bettina Margarethe Dr. Barbara Hendricks René Röspel Wiesmann Dr. Claudia Schmidtke Gabriele Hiller-Ohm Dr. Klaus-Peter Willsch Patrick Schnieder Michael Roth (Heringen) Elisabeth Winkelmeier- Nadine Schön Becker Susann Rüthrich Bernd Rützel Dr. Klaus-Peter Schulze Tobias Zech (Weil am Axel Schäfer (Bochum) Rhein) Dr. Nina Scheer Torsten Schweiger Dr. Dr. SPD Dr. Patrick Sensburg (Aachen) Bernd Siebert Ingrid Arndt-Brauer Dr. Bärbel Kofler (Wetzlar) (B) Carsten Schneider (Erfurt) (D) Björn Simon Heike Baehrens Tino Sorge Jens Spahn Christian Lange (Backnang) Ursula Schulte Dr. Dr. Dr. Matthias Bartke (Spandau) Sören Bartol Helge Lindh Bärbel Bas Kirsten Lühmann (Rostock) (Heidelberg) Isabel Mackensen Dr. Eberhard Brecht Rainer Spiering Christian Frhr. von Stetten Leni Breymaier Dorothee Martin Dr. Karl-Heinz Brunner Martina Stamm-Fibich Katrin Budde Christoph Matschie Sonja Amalie Steffen Dr. Dr. Matthias Miersch Dr. Dr. Daniela De Ridder Klaus Mindrup Dr. Hermann-Josef Tebroke Dr. Karamba Diaby Susanne Mittag Hans-Jürgen Thies Falko Mohrs Markus Töns Alexander Throm Sabine Dittmar Claudia Moll Carsten Träger Dr. Siemtje Möller Ute Vogt Bettina Müller Marja-Liisa Völlers Dr. Detlef Müller (Chemnitz) Dirk Vöpel Dr. Volker Ullrich Dr. Michelle Müntefering Dr. Dr. Dr. Rolf Mützenich Bernd Westphal (Kleinsaara) Gülistan Yüksel Dr. Jens Zimmermann 21418 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) AfD (C) Dr. Jörn König Dr. Dr. Jürgen Martens (Rhein-Neckar) Steffen Kotré Dr. Rainer Kraft Andreas Bleck (Südpfalz) Alexander Müller Rüdiger Lucassen Peter Boehringer Sandra Bubendorfer-Licht Roman Müller-Böhm Frank Müller-Rosentritt Jens Maier Dr. Jürgen Braun Karlheinz Busen Dr. Martin Neumann Dr. (Lausitz) Marcus Bühl Carl-Julius Cronenberg Matthias Büttner Dr. Birgit Malsack- Matthias Nölke Winkemann Britta Katharina Dassler Bijan Djir-Sarai Tino Chrupalla Hansjörg Müller Christian Dürr Joana Cotar Volker Münz Dr. h. c. Thomas Dr. Sattelberger Sebastian Münzenmaier Dr. Daniel Föst Christian Sauter Jan Ralf Nolte Frank Schäffler Berengar Elsner von Dr. Wieland Schinnenburg Gronow Matthias Seestern-Pauly Dr. Michael Espendiller Peter Felser Tobias Matthias Peterka Frank Sitta Paul Viktor Podolay Katrin Helling-Plahr Dr. Jürgen Pohl Dr. Dr. Götz Frömming Stephan Protschka Bettina Stark-Watzinger Dr. Dr. Marie-Agnes Strack- Dr. Martin Erwin Renner Dr. Gero Clemens Hocker Zimmermann Albrecht Glaser Roman Johannes Reusch Manuel Höferlin Benjamin Strasser Ulrike Schielke-Ziesing Dr. Christoph Hoffmann Wilhelm von Gottberg Jörg Schneider Reinhard Houben Uwe Schulz Michael Theurer Thomas Seitz (B) Armin-Paulus Hampel Stephan Thomae (D) Mariana Iris Harder-Kühnel Manfred Todtenhausen Detlev Spangenberg Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Andrew Ullmann Udo Theodor Hemmelgarn René Springer Dr. Marcel Klinge Gerald Ullrich Johannes Vogel (Olpe) Martin Hess Dr. Alice Weidel Dr. Heiko Heßenkemper Dr. Dr. Lukas Köhler Nicole Höchst Dr. Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle BÜNDNIS 90/ Dr. DIE GRÜNEN Leif-Erik Holm FDP Alexander Graf Lambsdorff Dr. Frithjof Schmidt Grigorios Aggelidis Ulrich Lechte Dr. Marc Jongen Fraktionslos Christine Aschenberg- Dugnus (Heilbronn) Norbert Kleinwächter

Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21419

(A) Wir kommen zurück zur weiteren Aussprache. Als Mindestlohn, Dokumentationen wieder abschaffen – all (C) nächster Redner hat der Kollege Falko Mohrs, SPD-Frak- die Nummern, die wir von Ihnen kennen, immer garniert tion, das Wort. mit irgendwelchen Privatisierungsfantasien hinsichtlich Bahn, Post, Telekom. Meine Damen und Herren, es ist (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jan gut, dass Sie nicht auf dieser Regierungsbank sitzen. Ich Metzler [CDU/CSU]) hoffe, dass das lange so bleibt. Das wäre nämlich Gift; das wäre toxisch für unser Land und unsere Wirtschaft. Falko Mohrs (SPD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Tino Chrupalla [AfD]: Da klatschen nicht mal Kolleginnen und Kollegen! Die ganze Woche debattieren die eigenen Leute!) wir hier in diesem Raum und genau an dieser Stelle das Konjunkturpaket und das, was wir als Bundesregierung, Wenn wir über Bürokratieentlastung sprechen – wir als Bundestag auf den Weg bringen, um die Wirtschaft haben das gehört –, muss ich sagen: Wir haben mit dem nach vorne zu bringen in wirklich verdammt schwierigen letzten Bürokratieentlastungsgesetz die Unternehmen um Zeiten im ganzen Land. Das ist die Debatte, die seit Bürokratiekosten von über 1 Milliarde Euro entlastet, und diesem Montag – sogar in einer Sondersitzung am Mon- das, ohne dass wir sozialen Kahlschlag betrieben haben. tag – genau hier geführt wird. Ich glaube, die richtige Das, meine Damen und Herren, ist verantwortlich. Antwort, wenn man die Wirtschaft in einer schwierigen Sie als AfD tun mit Ihren Anträgen so, als ob Sie jetzt Situation nach vorne bringen will, ist, dass man Konjunk- das Herz für die Start-ups in Deutschland entdeckt hätten. turprogramme auflegt, die der Wirtschaft auch wirklich helfen. (Claudia Müller [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn Sie, meine Damen und Herren von der FDP und NEN]: Ein Witz!) AfD, hier was hätten beitragen wollen, dann hätten Sie Ich will Ihnen ja gar nicht verübeln, dass Sie mir viel- doch einfach genau diese Vorhaben mit unterstützen kön- leicht nicht glauben, wenn ich Ihnen was vorhalte. Aber nen. Denn das, was Sie hier als Detox, als Entgiftung – dann hören Sie doch vielleicht mal auf den Bundesver- wir haben schon einiges darüber gehört – verkaufen, ist band Deutsche Startups. Der hat nämlich vor den Land- doch in Wahrheit ein Konjunkturprogramm für Sozialab- tagswahlen in Brandenburg und Sachsen eine Kampagne bau. Das, was wir in dieser Woche hier gemacht haben, ist gestartet, bei der es hieß: „In einem Land mit AfD-Regie- ein Konjunkturprogramm für die Wirtschaft in unserem rung würde ich kein Startup gründen!“ Das war die Kam- Land. Das ist unsere Verantwortung für die Wirtschaft pagne. Jetzt glauben Sie, dass Sie irgendeine richtige Idee und das Soziale, und genau dieser Verantwortung werden für Start-ups in diesem Land haben. Sie fordern, dass (B) wir hier gerecht. Deutsch die Sprache ist, die alle sprechen müssen. Dabei (D) (Beifall bei der SPD) sind die Start-ups doch genau auf die kreativen und inno- vativen Kräfte aus dem Ausland angewiesen. Wir haben mit unserem Konjunkturprogramm eine deutliche Entlastung der Kommunen auf den Weg ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bracht. Die Kommunen tragen 60 Prozent der öffentli- chen Investitionen in unserem Land. Sie sind also dafür Das ist Ihre schizophrene Politik, die Sie hier probieren verantwortlich, dass die öffentliche Daseinsvorsorge für voranzutreiben. Es ist gut, dass nicht mal die Start-ups die Menschen vor Ort funktioniert. Wenn wir eine Ent- selber darauf hineinfallen. lastung der Kommunen sicherstellen, sowohl kurzfristig über die Kompensation von Gewerbesteuerausfällen als Vielleicht kriegen Sie das alles auch gar nicht mit, weil auch langfristig, dann sorgen wir dafür, dass die öffent- Sie zu den Veranstaltungen gar nicht eingeladen werden. liche Hand vor Ort investiert. Das schafft Arbeitsplätze Florian Nöll hat nämlich öffentlich bekannt gegeben, und Aufträge für den Mittelstand und für das Handwerk. dass der Bundesverband Deutsche Startups und die Das ist wirklich eine gesellschaftlich gute Konjunktur- Start-ups für genau all das stehen, wofür die AfD nicht politik, die wir hier zu verantworten haben. steht. Deswegen werden Sie nicht eingeladen. Vielleicht ist Ihnen das noch nicht aufgefallen. Es ist aber auch gut (Beifall bei der SPD) so. Ich hoffe, das bleibt auch dabei. Wir brauchen Sie weder hier im Parlament noch auf den Veranstaltungen Dazu kommen Entlastungen für Alleinerziehende. Da- des Bundesverbands Deutsche Startups, meine Damen zu kommt der Familienbonus in Höhe von 300 Euro pro und Herren. Kind. Damit wird Kaufkraft gestärkt. Das ist der richtige Schwerpunkt. Dazu investieren wir in Technologien der (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Claudia Zukunft. Das heißt, wir machen das Richtige: Wir ma- Müller [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) chen etwas, was kurzfristig die Kaufkraft stärkt und die Konjunktur ankurbelt, und wir nehmen die richtigen Wei- Zu guter Letzt – ich habe es gesagt –: Tragen Sie doch chenstellungen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte vor. einfach das Konjunkturpaket mit. Dann sorgen Sie für Kaufkraft. Sie sorgen für Entlastung für Familien und Ja, ich verstehe, Kolleginnen und Kollegen von der Alleinerziehende. Das sind die richtigen Impulse. FDP, das ist nicht Ihr Verständnis von Wirtschafts- und Konjunkturpolitik. Sie wollen eine Detox-Tour. Sie wol- Ich danke, meine Damen und Herren. Glück auf! len hier also die Vergiftung durch den Abbau sozialer Sicherung vorantreiben. Wir haben genug darüber gehört: (Beifall bei der SPD) 21420 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Die AfD hat es sich da einfach gemacht. Sie hat ihren (C) Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor ich den nächsten Antrag aus dem Januar, also von vor der Coronazeit, aus- Redner aufrufe, weise ich noch mal darauf hin, dass wir gegraben. Haben Sie inzwischen eigentlich mal mit ir- nach diesem Tagesordnungspunkt zu Tagesordnungs- gendeinem Verband oder Unternehmensvertreter gespro- punkt 22 zurückkehren und weitere Abstimmungen chen? Wir haben das gemacht. Wir haben mit Vertretern durchführen. Das ist vielleicht für die Parlamentarischen des Bauhandwerks und des Einzelhandels gesprochen; Geschäftsführer ganz wichtig. Wir haben noch weitere wir haben den ZDH kontaktiert. Corona hat vieles ge- Abstimmungen zum Kohleausstiegsgesetz. ändert; das wollen wir einbeziehen. Und wir wollen deut- lich flexibler werden. Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Manfred Todtenhausen, FDP-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP) Wenn ich höre, wie Sie, Herr Ernst, über Unternehmen denken, dann wird mir schlecht. Manfred Todtenhausen (FDP): (Beifall bei der FDP) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Da kommt jemand zu Wort, der noch nie unternehmer- ren! Dieser Antrag kommt ja nicht von ungefähr. Der ische Verantwortung hatte. Ich bin entsetzt. Kollege Carsten Linnemann hat am 23. April dieses Jah- res zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Co- Meine Damen und Herren, wir wollen entlasten, ver- ronakrise hier im Plenum gesagt – ich zitiere ihn –: einfachen und verbessern, Wir müssen akut helfen. Dabei geht es vor allen (Zuruf von der SPD) Dingen um Liquidität. ... Wir müssen daneben die Sozialversicherungsbeiträge länger stunden ... Auch weil der Mittelstand den Abbau von Bürokratie und von die Abschaffung der Vorfälligkeit der Sozialversi- Belastungen braucht, und zwar nicht irgendwann, son- cherungsbeiträge ist jetzt, denke ich, ein zielgerich- dern genau jetzt. Das, liebe Union, ist ihre Chance. Geben tetes Instrument, um der Wirtschaft zu helfen. Sie sich einen Ruck! Stimmen Sie unseren beiden An- trägen zu – für Mittelstand, Handel und Handwerk! (Reinhard Houben [FDP]: Sehr richtig! Recht hat der Mann!) Vielen Dank. Das hat nicht nur er gesagt, sondern das haben auch (Beifall bei der FDP) (B) einige andere CDU-Kollegen gesagt. Mit dem, was Sie, (D) liebe Union, da gesagt haben, haben Sie mir tatsächlich Vizepräsident Wolfgang Kubicki: aus dem Herzen gesprochen. Es war ein vernünftiges Vielen Dank, Herr Kollege Todtenhausen. – Letzter Argument. Wir haben Ihren Vorschlag jetzt aufgegriffen. Redner zu dem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jan Heute liegt der Antrag dazu vor – auf Ihre Anregung. Ja, Metzler, CDU/CSU-Fraktion. wir haben die Forderungen bereits vor zwei Jahren vor- gebracht, aber natürlich ändern sich die Rahmenbedin- (Beifall bei der CDU/CSU) gungen und die Umstände; das haben wir bei diesem An- trag natürlich auch berücksichtigt. Jan Metzler (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, das brennt den kleinen und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- personalintensiven Betrieben in Handwerk und Mittel- ne sehr geehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, wie stand immer noch auf den Nägeln. es Ihnen geht, aber eine solche Debatte an einem Freitag ist immer auch eine Wundertüte. Man lernt permanent (Beifall bei der FDP) dazu. Ich habe, lieber Kollege Klaus Ernst, einiges über die medizinische und inhaltliche Wirkung von Detox und Die jetzige Regelung kostet die Betriebe seit 2006 Ner- die Verhaltensregeln in Straußwirtschaften gelernt. Bei ven und Geld, weil sie kompliziert ist und überzogene der Namensgebung von Anträgen hoffe ich, dass, wenn Bürokratie verursacht. es um Strukturstraffung und Ähnliches mehr geht, nicht Deswegen, meine Damen und Herren von der CDU, erneut entsprechende Analogien gesucht werden. biete ich Ihnen an: Machen Sie gemeinsam mit uns Nägel Jetzt ganz im Ernst. Herr Houben, Sie haben heute als mit Köpfen! Machen Sie nicht nur große Worte in Inter- erster Redner einen Antrag eingebracht, der zu Recht views und in Sonntagszeitungen, um dann mittwochs da- wichtig ist und über den es sich zu debattieren lohnt. rauf im Ausschuss dagegenzustimmen, sondern schaffen Sie haben auch darauf aufmerksam gemacht, dass es sich Sie endlich Konzepte, die den Mittelstand entlasten – ge- hier um eine Daueraufgabe handelt. Ich glaube, da wir meinsam mit uns! sind uns beide einig: Es ist eine Daueraufgabe, über Bü- (Beifall bei der FDP) rokratieentlastung zu reden. An der Stelle möchte ich auch bemerken: Wir sind da noch nicht am Ende der Damals halfen die Betriebe den Sozialversicherungen Fahnenstange angekommen. Sie gerieren sich oftmals, und ihren klammen Kassen. Heute ist es nur fair, wenn auch in der Eigenwahrnehmung, als Serviceopposition. wir den Betrieben die jetzt dringend benötigte Liquidität Deswegen ist es gut, wenn man im Wechselspiel gemein- zurückgeben. sam in die Diskussion kommt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21421

Jan Metzler (A) Dabei gilt eins: den Blick sowohl zurück als auch nach merische Zweck – unternehmerisches Handeln – gar (C) vorn zu richten. Der Blick zurück besagt – Kollege nicht mehr erfüllt werden kann, weil man sich nebenbei Willsch hat darauf aufmerksam gemacht –, dass bereits mehrheitlich mit entsprechenden bürokratischen Maß- mit dem Bürokratieentlastungsgesetz III ein Volumen nahmen auseinandersetzen muss. von 1,1 Milliarden Euro eingespart worden ist. Ohne Zweifel sind wir, auch wenn das im Endeffekt die Addi- Ich entstamme selbst einem unternehmerischen Haus- tion der Volumina von I und II in Summe darstellt, immer halt. Zur Eigenreflexion: Mein Aufsichtsrat ist oftmals noch nicht am Ende der Fahnenstange angekommen. Es mein Papa. Er gibt mir in der Reflexion am Wochenende geht jetzt perspektivisch weiter. schon sehr genau mit, was in der Woche entsprechend entschieden worden ist. Es geht perspektivisch weiter beispielsweise im Zu- sammenhang mit der jetzt übernommenen EU-Ratspräsi- Ich glaube, wir waren selten in einer Zeit, in der sich so dentschaft. Teil der Agenda ist auch, „One in, one out“ vieles so schnell so intensiv verändert hat. Jetzt kann man auf europäischer Ebene entsprechend zu etablieren. Ich auch diese Krise unterschiedlich reflektieren. Dazu noch weiß, dass im Wechselspiel von Opposition/Regierungs- eine Bemerkung an dieser Stelle: Die Effizienzsteige- koalition bei der Opposition der eigene Garten immer ein rungsgewinne gerade durch den aus dieser Krise resul- bisschen vitaler ist. Dann heißt es natürlich „One in, two tierenden digitalen Schub gilt es wirklich anzupacken out“. Das Bessere ist immer der Feind des Guten. Die und in die Zukunft mitzunehmen. Auch Kollege Willsch Etablierung der Regel „One in, one out“ auf europäischer hat „Once only“ angesprochen. Den Pfad zu einem On- Ebene verbunden mit der Maßgabe, dass sie von Ursula linezugangsgesetz müssen wir selbst legen, und wir müs- von der Leyen mit unterstützt wird, kann einen entsprech- sen das Ganze entsprechend vorantreiben. Der digitale enden Effekt auslösen, der nicht zu gering zu schätzen ist. Pfad ist derjenige, der diese Steigerungen möglich macht, Das ist Teil unserer Agenda, die in den nächsten Monaten um nicht in die Komplexitätsfalle zu geraten. vor uns liegt. Also: Es gibt noch einiges zu tun. Das ist eine inhalt- lich weiterführende und wahrscheinlich spannende De- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) batte, nicht geprägt von der Infragestellung des Ziels, An diesem Punkt sei noch mal eines gesagt: Zweifels- sondern von der Infragestellung des Wegs an sich und ohne gibt es kommunizierende Röhren im Zusammen- des Wie von der einen oder anderen Seite. Ich freue mich hang mit der Frage, mit welchen Belastungen sich letzt- auf diese Debatte. lich unternehmerisch Handelnde auf kommunaler, auf Landes-, auf Bundes- und auf europäischer Ebene kon- Eines sei noch zum Abschluss bemerkt: Diese Woche frontiert sehen. Wenn man Politikerinnen und Politiker war sehr inhaltsreich und entsprach aus meiner Sicht auch (B) fragt: „Stehen Sie zum Bürokratieabbau?“, dann werden, inhaltlich wirklich dem, was diese Krise verlangt; denn (D) würde ich sagen, acht oder neun von zehn permanent Ja große Krisen verlangen große Antworten. Und diese Re- sagen, und das nicht nur in Sonntagsreden. gierungskoalition ist in dieser Woche genau diesem An- spruch gerecht geworden. Wir haben große Antworten Am Ende dieser Debatte ist festzustellen: Wir sind uns gegeben. Wenn es darum geht, die Zukunft engagiert nicht über die Zielrichtung uneins, sondern wir sind uns anzugehen, freue ich mich auf die weiteren Diskussionen oftmals über das Wann und Wie, also über den Weg da- über die Dauerbaustelle Bürokratieabbau. Und im Sinne hin, und den Zeitpunkt uneins. Ich habe da auch einen von Effizienzsteigerungen schenke ich Ihnen noch 15 Se- eigenen Anspruch. Ich will es ganz offen sagen: Meinen kunden Redezeit. eigenen Anspruch muss ich immer auch abgleichen mit dem vieler anderer, die sich an einer Debatte beteiligen. Herzlichen Dank. Alles Gute und schönes Wochenen- Im Ergebnis bleibe ich dann oftmals hinter meinen eige- de! nen Ansprüchen zurück und bin auch nicht vollends zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- frieden. An der einen oder anderen Stelle bin ich dann ordneten der SPD) einem Kompromiss sehr nahe. Kompromisse einzuge- hen, ist natürlich auch ein Wesensmerkmal einer demo- kratischen Gemeinschaft. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Kollege. Es waren nur zehn Sekun- An der Stelle sei angemerkt: Ich glaube schon, dass wir den. – Gleichwohl schließe ich die Aussprache. uns gemeinschaftlich über Effizienzsteigerungen in Strukturen Gedanken machen müssen. Wir dürfen es Wir kommen zur Abstimmung, Tagesordnungs- nicht zulassen, dass wir in sogenannten – aus meiner punkt 23 a sowie Zusatzpunkt 27. Interfraktionell wird Sicht – Komplexitätsfallen landen, in denen Strukturen Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen im Endeffekt für diejenigen, die Dokumentationspflich- 19/20581 und 19/20556 an die in der Tagesordnung auf- ten und Ähnliches nachvollziehbarerweise zu erfüllen geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere haben, überbordend werden. Überweisungsvorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Ich möchte noch eine grundsätzliche Bemerkung ma- chen, weil das auch angesprochen wurde. Bürokratie im Tagesordnungspunkt 23 b. Interfraktionell wird Über- Abgleich zu Regeln: Ja, ohne Regeln kein Staats- und weisung der Vorlage auf Drucksache 19/20613 an die in Gemeinwesen; keine Frage. Natürlich darf die Rege- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- lungswut bzw. der bürokratische Überbau dann aber nicht gen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen so groß bzw. so hoch sein, dass der eigentliche unterneh- der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim 21422 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion der – Nein, so einfach, Kollege, ist das nicht. Das stelle ich (C) AfD wünscht Federführung beim Ausschuss Digitale hier vorne fest. – Ich bitte die Schriftführerinnen zu mir. Agenda. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht Uneinig- Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- keit im Präsidium. schlag der Fraktion der AfD. Wer stimmt für diesen Über- weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ich stelle (Widerspruch bei der CDU/CSU) fest: Dieser Überweisungsvorschlag ist gegen die Stim- – Ich kann nichts dagegen tun. Nach der Geschäftsord- men der AfD mit den Stimmen der übrigen Fraktionen nung besteht Uneinigkeit im Präsidium. Zwei Mitglieder des Hauses abgelehnt. des Präsidiums sind der Auffassung, dass es keine Mehr- heit für den Gesetzentwurf gibt; Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Fe- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. SES 90/DIE GRÜNEN) Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer eines ist der Auffassung, es gibt eine Mehrheit für den stimmt dagegen? – Ich stelle fest, dass gegen die Stim- Gesetzentwurf. Dann ist die logische Konsequenz: Ham- men der AfD-Fraktion mit den Stimmen der übrigen melsprung. Fraktionen des Hauses der Überweisungsvorschlag ange- nommen ist. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch ein Witz!) Zusatzpunkt 26. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/20569 an die in der Tages- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen jetzt schlicht ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die und ergreifend, den Saal zu verlassen und durch die je- Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der weiligen Türen dann wieder reinzukommen. – Das ist CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Aus- interessant bei der dritten Abstimmung. schuss für Arbeit und Soziales. Die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nachher und Energie. ausreichend Zeit, dass die anderen herbeigeholt werden können. Ich bitte Sie jetzt zunächst, tatsächlich den Saal Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs- zu verlassen und durch die jeweiligen Türen dann wieder vorschlag der Fraktion der AfD. Wer stimmt diesem hereinzukommen. Überweisungsvorschlag zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Überweisungs- (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) (B) vorschlag gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen – Da ich aus der CDU/CSU-Fraktion höre, das sei un- (D) der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt. glaublich, weise ich darauf hin, dass mehrere Abgeord- nete der CDU/CSU-Fraktion dagegengestimmt haben. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder- (Maik Beermann [CDU/CSU]: Unparteiische führung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer Amtsführung heißt das also? – Weitere Zurufe stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt von der CDU/CSU) dagegen? – Ich stelle fest, dass gegen die Stimmen der – Vielleicht darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die AfD-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen sich jetzt empören, auch darauf hinweisen, dass sie gar des Hauses dieser Überweisungsvorschlag angenommen nicht überblicken können, wie viele Abgeordnete der ist. jeweiligen Fraktionen anwesend sind. Der optische Ein- Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 22 b; jetzt druck von hier war, dass es bei der letzten Abstimmung wird es noch spannend. Wir setzen die Abstimmung zur keine Mehrheit für den Gesetzentwurf gab. zweiten und dritten Beratung des von der Bundesregie- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – rung eingebrachten Entwurfs eines Kohleausstiegsgeset- Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Sehe ich auch zes auf den Drucksachen 19/17342, 19/18472 und so!) 19/20714 (neu) fort. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde gerade Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist darauf hingewiesen, dass logischerweise auch für den dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stim- Hammelsprung die Coronaabstände gelten. men von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich versichere, dass anderen Fraktionen des Hauses angenommen. es ausreichend Zeit geben wird, auch für die Kolleginnen Dritte Beratung und Kollegen, die nicht unmittelbar im Saal waren, um am Hammelsprung teilzunehmen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, in allem Ernst, da Das ist ja interessant. Wer stimmt dagegen? – Das wird wir ja die Abstandsregeln einhalten müssen: Ich bitte jetzt spannend. Sie wirklich, den Saal zu verlassen, damit wir mit der Auszählung beginnen können. Ich versichere, dass aus- (Falko Mohrs [SPD]: Das Erste war eine reichend Zeit gewährt werden wird, damit alle an der Mehrheit!) Abstimmung teilnehmen können. Aber wir sollten viel- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21423

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) leicht anfangen; das gilt insbesondere für die Kolleginnen Und damit die Kolleginnen und Kollegen das von den (C) und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion. – Herr Kauder, Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte exakte Sie können ruhig den Saal verlassen, Sie alle. Wir lassen Ergebnis zur Kenntnis bekommen: Wir hatten 554 abge- ausreichend Zeit zur Abstimmung. Wenn wir jetzt schon gebene Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 314, mit Nein mit der Abstimmung beginnen können, können die Ab- haben gestimmt 237, Enthaltungen 3. Damit ist das Er- standsregeln eingehalten werden. Ich versichere wirklich, gebnis eindeutig festgestellt. es wird niemand daran gehindert werden, rechtzeitig an der Abstimmung teilzunehmen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn ich ange- Drucksache 19/20714 (neu), eine Entschließung anzu- steckt werde, komme ich zu Ihnen! Ich bin Ri- nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – sikogruppe! Jung und gesund! – Weiterer Zuruf Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese von der CDU/CSU: Das ist Körperverletzung!) Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktion der FDP gegen die Stimmen der Fraktionen der AfD, der – Die Bundestagsverwaltung hält Mund- und Nasen- Linken und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen schutz bereit für diejenigen, die darauf zurückgreifen der Koalitionsfraktionen angenommen. wollen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c (Zuruf von der CDU/CSU: Wir dürfen hier gar seiner Beschlussempfehlung, eine weitere Entschließung nicht alle drin sein!) anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- So, ich bitte dann, nachdem die Kolleginnen und Kol- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann legen den Saal verlassen haben, die Türen zu schließen. ist diese Beschlussempfehlung bei Enthaltung von Frak- Sind alle draußen? – Ja. Sind an den Ausgängen die ent- tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD sprechenden Schriftführerinnen und Schriftführer vor- und der FDP mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und handen? – Wir brauchen noch einen Schriftführer aus der Fraktion der Linken angenommen. einer regierungstragenden Fraktion und einen Schriftfüh- Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschlie- rer aus einer Oppositionsfraktion an den Türen des Ham- ßungsanträge. melsprungs. – Es fehlt immer noch jemand von der Koali- tion. Das kann doch nicht so schwierig sein. – Es sind alle Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- da. Herzlichen Dank. Dann bitte ich, mit der Abstim- sache 19/20753. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- mung zu beginnen. Die Türen sind geöffnet, die Kolle- gen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Beschluss- ginnen und Kollegen können jetzt entsprechend ihrem empfehlung gegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit (B) Abstimmungsverhalten durch die Türen gehen. den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abge- (D) lehnt. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Das ist jetzt das Su- perspreading-Event!) Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/20754. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weise darauf hin, dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschluss- dass natürlich auch die Abstandsregeln gelten. Da wir empfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mehr sind, als es eigentlich zulässig ist, kann man auch bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit hier vorne stehen, sich notfalls auch auf die Bundesrats- den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abge- bank setzen – das erlauben wir jetzt mal – und vielleicht lehnt. auch auf die nicht besetzten Plätze der Regierungsbank, bis das Abstimmungsergebnis vorliegt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/20755. Wer stimmt dafür? – (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist eine Einladung, Herr Präsident!) diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Frak- – Es sollte jetzt keinen Run auf die Regierungsbank ge- tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ben. mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ab- (Heiterkeit bei der LINKEN) gelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir so weit? Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf: Kann ich von den Schriftführerinnen und Schriftführern, a) Zweite und dritte Beratung des von der wenn die Abstimmung beendet ist, ein Zeichen bekom- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs men? – So, dann schließe ich die Abstimmung und bitte eines Gesetzes zum Schutz elektronischer die Kolleginnen und Kollegen, von ihrem sonstigen Ge- Patientendaten in der Telematikinfra- wohnheitsrecht Gebrauch zu machen und die Abstands- struktur (Patientendaten-Schutz-Gesetz – regeln sofort wieder einzuhalten. Die Abstimmung ist PDSG) geschlossen. Drucksachen 19/18793, 19/19365, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fahren jetzt fort. 19/19655 Nr. 3 Nach dem Hammelsprung steht nunmehr fest, dass der Gesetzentwurf mit deutlicher Mehrheit angenommen Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- worden ist. schusses für Gesundheit (14. Ausschuss) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Drucksache 19/20708 21424 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Patientendaten-Schutz-Gesetz um ein sehr sensibles The- (C) Berichts des Ausschusses für Gesundheit ma geht. Es geht um höchstsensible Gesundheitsdaten. (14. Ausschuss) Insofern war es gut, dass wir uns auch in den Diskus- sionen im Ausschuss, bei Anhörungen, in den Arbeits- – zu dem Antrag der Abgeordneten gruppen noch mehr Zeit genommen haben. Ich möchte Christine Aschenberg-Dugnus, Michael mich für diese teilweise doch sehr kontroversen, aber Theurer, Grigorios Aggelidis, weiterer auch konstruktiven Diskussionen bedanken, nicht nur Abgeordneter und der Fraktion der FDP bei den eigenen Kolleginnen und Kollegen aus den Re- Prozesse im Gesundheitswesen durch gierungsfraktionen, sondern insbesondere auch bei den Digitalisierung modernisieren Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition. Herzli- chen Dank dafür! – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Gabelmann, Susanne Ferschl, Matthias W. Wir sprechen natürlich im Rahmen des Patientendaten- Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Schutz-Gesetzes über das Thema Datenschutz, weil es Fraktion DIE LINKE eben um höchst sensible Gesundheitsdaten geht. Elektronisches Rezept freiwillig und si- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: So ist cher ausgestalten es!) – zu dem Antrag der Abgeordneten Es geht aber natürlich auch darum, dass diese Daten mit Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, einem sehr hohen Sicherheitsniveau nutzbar gemacht Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord- werden. Genau das ist der Punkt. Wir reden darüber: neter und der Fraktion DIE LINKE Wie können wir die Patientenversorgung verbessern? Patienteninteresse voranstellen und ge- Wie können wir Daten, die jeden Tag milliardenfach an- meinwohlorientierten Gesundheitsda- fallen, für den Patienten nutzbar machen? Genau das tun tenschutz einführen wir mit diesem Patientendaten-Schutz-Gesetz, liebe Kol- leginnen und Kollegen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Dr. Konstantin von (Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU]) Notz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter Was machen wir mit dem Patientendaten-Schutz-Ge- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE setz? Es geht darum, dass wir endlich die elektronische GRÜNEN Patientenakte zum Laufen bekommen. Elektronische Pa- (B) Patientenorientierung und Patienten- tientenakte hört sich für viele erst mal sehr abstrakt an. (D) beteiligung in der Digitalisierung im Tatsächlich geht es aber darum, dass wir es Patienten Gesundheitswesen sicherstellen und de- ermöglichen, freiwillig, also wenn sie das möchten, wo- zentrale Forschungsdateninfrastruktur bei sie gegenüber ihrer Krankenkasse einen Anspruch aufbauen darauf haben, die ganzen Daten, die jetzt schon bei zahl- reichen Leistungserbringern im Gesundheitswesen anfal- Drucksachen 19/18946, 19/18943, len, zusammenzuführen, sie also nicht mehr mit einer 19/18944, 19/19137, 19/20708 Aldi-Tüte mit den vielen Anamnesebefunden und Patien- Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein tenberichten durch die Gegend laufen müssen, sondern Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. im Idealfall alles auf dem Smartphone oder auf dem Tablet haben und der behandelnde Arzt, der behandelnde Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten Physiotherapeut, die behandelnden Pflegefachkräfte ge- beschlossen, und ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, nau wissen, was einem fehlt, sodass man als Patient bes- die der Debatte nicht folgen wollen, möglichst zeitnah ser auch behandelt werden kann. und zügig den Saal zu verlassen, damit wir beginnen können. Ich weiß genau – das haben wir in den Diskussionen bereits erlebt –: Es gibt diejenigen, die sagen: Warum Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- habt ihr nicht mehr gemacht? Warum habt ihr im Rahmen ner für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Tino Sorge des Gesetzes nicht noch viel, viel mehr geregelt? Dann das Wort. gibt es diejenigen von der linken Seite, die sagen: Na ja, (Beifall bei der CDU/CSU) wir hätten noch ein bisschen diskutieren sollen. Wir hät- ten noch ein bisschen abwarten sollen. – Diesen halte ich Tino Sorge (CDU/CSU): ganz klar ein altes Sprichwort meiner Großmutter, die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir mittlerweile 85 Jahre alt ist und eine Menge Lebenser- sind am Ende einer spannenden, ereignisreichen Sit- fahrung hat, entgegen. Sie hat immer gesagt: Willst du, zungswoche. Gerade eben haben wir es wieder gesehen: dass ein Truthahn nicht fliegt, dann mach ihn fett. noch kurz vor der Sommerpause ein Hammelsprung. Und (Zurufe der Abg. Marianne Schieder [SPD]) wir debattieren am letzten Tag vor der Sommerpause ein Gesetz, dessen Verabschiedung ich mir eigentlich schon Insofern ist es richtig, dass wir nicht weiter diskutieren, vor der letzten Weihnachtspause gewünscht hätte. Aber sondern dass wir jetzt mit der Digitalisierung im Gesund- – und das Aber ist jetzt nicht negativ konnotiert – wir heitswesen loslegen. Ich bin froh, dass wir hier keinen haben uns zu Recht mehr Zeit gelassen, weil es bei dem fetten Truthahn erzeugt haben, sondern dass wir einen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21425

Tino Sorge (A) schlanken Adler haben, der hoffentlich bald zum Fliegen Tino Sorge (CDU/CSU): (C) kommt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich freue mich auf viele weitere Beratungen, um die Digitalisierung voranzutreiben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) In diesem Sinne: Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen Dieses Patientendaten-Schutz-Gesetz enthält sehr, sehr und Kollegen. viele Regelungen. Es geht neben der elektronischen Pa- tientenakte um für viele eigentlich triviale Dinge. Es geht (Beifall bei der CDU/CSU) darum: Wie kann ich mein Rezept elektronisch einrei- chen? Wie bekommt ein weiterbehandelnder Arzt Daten? Er hat sie bisher von einem anderen Arzt beispielsweise Vizepräsident Wolfgang Kubicki: telefonisch erhalten, jetzt findet er sie in der elektron- Nächster Redner ist der Kollege Detlev Spangenberg, ischen Patientenakte. Wir alle wissen doch, wie es mo- AfD-Fraktion. mentan teilweise läuft: Jemand kommt aus dem Kranken- (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Ulli haus, geht zum weiterbehandelnden Arzt. Dann gibt es im Nissen [SPD]) Idealfall einen vorläufigen Arztbericht. Viele Ärzte ha- ben dann das Problem: Woher bekommen sie die zusätz- Detlev Spangenberg (AfD): lichen Berichte, Untersuchungen, CTs und MRTs? Das wollen wir mit der elektronischen Patientenakte ändern. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Digitalisierung ist grundsätzlich ja eine Art Hilfswissen- Wir wollen Schluss machen mit der Zettelwirtschaft. schaft für die Gesellschaft. Sie darf aber nicht zum Wir wollen Schluss machen mit Mehrfachbefunden. Wir Beherrscher der Bürger werden, meine Damen und Her- wollen Schluss machen mit Doppeluntersuchungen. Und ren. Das sollte als Grundsatz gelten. wir wollen Schluss machen mit unnötigen Untersuchun- gen, die man auf der elektronischen Patientenkarte bereits Schauen wir uns einmal an, was hier vorgesehen ist. speichern kann. Ich gehe zuerst auf die Praktikabilität ein. Die Einführung umfasst ja viele Aspekte: die Thematik Infrastruktur; die Wir haben ja in der Diskussion der letzten Tage beim elektronische Vernetzung zwischen Leistungserbringern Thema Corona gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und Gesundheitswesen; das Ziel, eine elektronischen Pa- wie wichtig Digitalisierung im Gesundheitswesen ist. tientenakte zu installieren; die Schaffung der Möglich- Das ist ja nichts Abstraktes, sondern wir haben gesehen, keit, medizinische Notfälle schneller erkennen und han- dass wir auch mangels Alternativen auf einmal viele Din- deln zu können, Rezepte elektronisch zu versenden und ge im täglichen Leben digital nutzen. So nutzen wir di- ausgeben zu können. Aus unserer Sicht wird dieser An- (B) gitale Möglichkeiten wie Videokonferenzen. Genau das spruch durch das von der Bundesregierung vorgelegte (D) passiert jetzt auch in vielen anderen Bereichen. Wir nut- Patientendaten-Schutz-Gesetz nicht oder höchstens nur zen telemedizinische Sprechstunden. Wir nutzen die unzureichend erfüllt bzw. kommt ihm nicht nach. Möglichkeit, strukturierte Daten zum Wohle des Patien- ten digital zusammenzuführen. Insofern werden wir auch Die Anwendung und Nutzung der Elektronik im Ge- alle Akteure in die Nutzung dieser Akte, wenn der Patient sundheitswesen wird von sehr vielen skeptisch gesehen. das möchte, langfristig einbeziehen, dass der Arzt, die Dieses System muss aus unserer Sicht so gestaltet sein, Krankenkasse, das Krankenhaus, aber auch die Pflege, dass es quasi ein Laie bedienen kann. Das ist eine kaum der Öffentliche Gesundheitsdienst, Betriebsmediziner zu realisierende Notwendigkeit. Was ist mit den Men- Zugriff auf diese Daten haben, um die Behandlung zu schen, die sich nicht mit solch einem System beschäfti- verbessern. gen wollen oder können? Die derzeitige Freiwilligkeit, das System zu nutzen, nutzen zu können, führt zwangs- Vielleicht noch ein letztes Wort zum Thema „Patienten läufig dazu, dass es auch weiterhin nichtdigitale Anwen- und ihre Datenhoheit“. dungen geben muss. Der Vorschlag, dass der Patient dann in den Arztpraxen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: an einem Monitor seine Akte einsieht bzw. mit dieser Herr Kollege, Sie müssen leider zum Schluss kommen. arbeitet, ist aus unserer Sicht weltfremd und zeigt, dass dieser Vorschlag von Leuten kommt, die den Alltag in Tino Sorge (CDU/CSU): den Praxen nicht kennen, meine Damen und Herren. Soll Hoheit über die Daten heißt für uns, die Möglichkeit zu sich vielleicht ein Mitarbeiter oder gar der Arzt selbst mit eröffnen, dass ich als Patient meine Daten für For- dem Patienten an den Monitor setzen und die Akte durch- schungszwecke zur Verfügung stellen kann. Auch das gehen? Das ist arbeitszeitmäßig und technisch nicht zu regeln wir mit dem Patienten-Datenschutz-Gesetz. machen. Einen Nutzen wird es – so sagen es viele – kaum geben. Die Entscheidungsmöglichkeiten des Patienten Insofern werbe ich für die Unterstützung und freue führen auch dazu, dass eine unvollständige Akte das Le- mich, dass wir das Gesetz heute verabschieden. Aber sen dieser Akte erschweren kann. auch hier gilt der Grundsatz: Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz. Kritik gibt es in vielen Einzelheiten vonseiten ver- schiedener Sachverständiger und von Verbänden. Anrei- ze und Angebote kommen zu kurz, so die Kritik. Fristen, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Strafen oder Sanktionen durchzuziehen, ist auch nicht der Herr Kollege. richtige Weg. Besonders trifft es mal wieder die Ärzte, 21426 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Detlev Spangenberg (A) die Praxen oder die Krankenhäuser. Die Bundesärzte- man weiß, was für Krankheiten ein Mensch schon hatte (C) kammer hat in der Stellungnahme zur Anhörung vom und dass er anfällig ist. Mai 2020 die Sanktionsandrohungen kritisiert: (Beifall bei der AfD) Die Besorgung der notwendigen Komponenten und Dienste für den Zugriff auf die elektronische Patien- Meine Damen und Herren, der Chaos Computer Club tenakte wird für einen Vertragsarzt unter Androhung spricht auch von Verantwortungslosigkeit und schlägt einer Honorarkürzung verpflichtend, obwohl er die vor, eine unabhängige zentrale Stelle solle für die Infor- rechtzeitige Belieferung wie auch die mengenmäßi- mationssicherheit verantwortlich sein. Wie IT-Experten ge Verfügbarkeit der für die ePA bei einer Tagung des Chaos Computer Clubs im Dezem- ber 2019 gezeigt haben, ist es möglich, mit wenig – elektronische Patientenakte – Aufwand und krimineller Energie an einen Heilberufe- benötigten Konnektoren sowie angepasster Praxis- ausweis, einen Konnektor oder eine elektronische Ge- verwaltungssysteme nicht beeinflussen kann. sundheitskarte zu gelangen. So die Bundesärztekammer. Weiteres zur Sicherheit. Wenn man über netzbasierte Meine Damen und Herren, man begeht hier wieder den Lösungen nachdenkt, dann muss man sagen, dass allen- gleichen Fehler wie in den vergangenen Jahren mit § 291 falls eine Nutzung über die sogenannte Blockchain in- SGB V, als man zu kurze Fristen für Praxen zur Anschaf- frage kommt. Dies wird zurzeit in Karlsruhe erprobt. fung und Anschluss der Telematikinfrastrukturkonnekto- Daran wird seit dem 2. März 2020 geforscht. Wenn ren mehrmals verlängern musste, weil diese nicht haltbar man sich dieses System näher anschaut, wäre das viel- waren. Die Forderung der Bundesärztekammer ist, die im leicht eine Möglichkeit, über die Sicherheitsaspekte noch vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehenen Sanktionen einmal nachzudenken. ersatzlos zu streichen. Wie soll ein Arzt den ordnungsgemäßen Anschluss Für Menschen ohne Smartphone und Tablet und dieje- seiner Technik überprüfen? In der Vergangenheit gab es nigen, die solche Geräte für diesen Zweck nicht nutzen einige Vorfälle, bei denen der Konnektor von IT-Experten wollen, ist das Projekt augenscheinlich nicht konzipiert. falsch angeschlossen wurde. Wie soll dann ein Arzt als Die Deutsche Krankenhausgesellschaft bemängelt, es sei technischer Laie das sicherstellen und überblicken, ob von einem praxisfernen Nebeneinander verschiedener das gesamte System in seiner Praxis – Geräte und Pro- Systeme und von einer Zunahme des Aufwands statt ei- gramme – richtig arbeitet und ob er immer aktualisierte ner Entlastung auszugehen. Daten hat? Die Praxen werden nun wieder – so die Kri- (B) tik – in die Verantwortung genommen für die Datensi- (D) Ich gehe einmal auf die Sicherheit ein. Der Chaos cherheit sowie für Fehlerfreiheit und Aktualität komple- Computer Club stellt in seiner Stellungnahme fest, „dass xer, dezentraler technischer Systeme, deren Zustand sie der vorliegende Gesetzentwurf nicht geeignet ist, die nicht allein in ihrer Hand haben oder überschauen kön- diagnostizierten Mängel sowie die ursächlichen Fehlan- nen. Es ist unserer Ansicht nach nicht verantwortbar und reize abzustellen“. Kritik wird hauptsächlich geübt an der keinesfalls sicher, sensible Patientendaten im Internet elektronischen Gesundheitskarte. Diese würde „weiter- zentral speichern zu wollen. Cloud-Lösungen sind dafür hin unsicher und ohne zuverlässige Identitätsprüfung an nicht tauglich, so die Meinung. die Antragsteller ausgegeben“. Statt die Sicherheitsmän- gel abzustellen, würden diese nun sogar gesetzlich fest- Ärzte und Ärztevereinigungen sagen, dass sie für die geschrieben. Die Begründung des Chaos Computer Clubs Patientendaten, die bei ihnen sicher aufbewahrt werden ist: Die elektronische Gesundheitskarte ist nach § 291 müssen, keine Gewähr übernehmen können, und sehen SGB V, also nach geltendem Recht, schon jetzt „als die Gefahr, dass sie gezwungen werden könnten, unter Schlüssel bzw. als Authentisierungsinstrument für den bestimmten Umständen Patientendaten freizuschalten; Zugriff auf besonders schützenswerte Gesundheitsdaten diese Meinung kam auf. Das Anlegen des Notfalldaten- auszugeben“. Dies sei in der jetzigen Praxis nicht erfüllt. satzes und dessen Pflege würden hauptsächlich an ihnen Mit den neuen Regeln in § 336 Absatz 5 würde das ge- hängen bleiben, genauso wie die Verantwortung für die forderte Sicherheitsniveau deutlich abgeschwächt. Diese elektronische Patientenakte. Verpflichtung zur Sicherung der Identifikation des Ver- sicherten entfiele. Die Ausgabe der Authentisierungsmit- Insgesamt ist zu bemängeln, dass die gesamte Konzep- tel wird nicht mehr auf hohem Vertrauensniveau vorge- tion des vorliegenden Gesetzentwurfs – auch die elektro- schrieben. – Das ist die Kritik. nische Überweisung – ganz auf mobile Endgeräte ge- stützt ist, wie Smartphones, Tablets und ähnliche Geräte. Bereits durchgeführte erfolgreiche Angriffe auf die Telematikinfrastruktur haben demonstriert, dass es Män- gel gibt. Sie sind sehr gefährlich. Meine Damen und Her- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ren, denken Sie bitte einmal an das Arbeitsrecht. Wenn es Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. wirklich möglich ist, auf solche Daten zuzugreifen, wenn zum Beispiel ein großer Konzern auf diese Daten zugrei- fen kann: Was wird dann mit einer Einstellung? Der Detlev Spangenberg (AfD): Arbeitgeber wird nie etwas sagen. Aber diese Menschen Ich komme zum Schluss. – Diese Geräte sind unter haben keine Chance, einen Arbeitsplatz zu bekommen, dem Aspekt der Datensicherheit nicht besonders geeig- wenn eine gewisse elektronische Akte dort landet und net. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21427

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Sie wird zum 1. Januar 2021 starten. Sie bleibt freiwillig. (C) Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. Ich kann das machen, oder ich kann es nicht machen. Natürlich setzt das voraus, dass dann das analoge System, Detlev Spangenberg (AfD): um die Wahrnehmung der Patientenrechte sicherzustel- Letzter Satz. – Zusammenfassend ist festzustellen: len – diese sind uns wichtig –, auch noch funktioniert. Wenn so viel Kritik von vielen Seiten kommt, ist zu emp- Wir können doch nicht jeden dazu zwingen, eine elektro- fehlen, dieses Projekt noch einmal gründlich zu überden- nische Patientenakte anlegen zu lassen. Wir können nicht ken, meine Damen und Herren. jeden dazu zwingen, ein Smartphone oder ein Tablet zu nutzen – übrigens kann ein geeignetes Endgerät auch ein Vielen Dank. Computer sein –, um damit seine Patientenakte anzulegen (Beifall bei der AfD) und zu verwalten. Nein, das braucht niemand zu befürch- ten. Wir haben sogar in den Gesetzentwurf ein Diskrimi- nierungsverbot aufgenommen, sodass der Patient oder Vizepräsident Wolfgang Kubicki: die Patientin, der bzw. die keine Patientenakte in elekt- Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege ronischer Form haben will, keine Verschlechterung hat. Dirk Heidenblut. Das haben wir durchgesetzt; das steht im Gesetz. Es be- steht also überhaupt kein Problem. Insofern ist es wichtig (Beifall bei der SPD) und richtig, dass das Ganze jetzt kommt. Dirk Heidenblut (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aller guten Dinge Es hilft gerade den Patientinnen und Patienten. Wir sind drei, diesmal aber nicht, weil wir drei Anläufe unter- haben eine Menge weiterer Dinge aufgenommen. Ob nommen haben, sondern weil es drei gute Gesetze sind, Zahnbonusheft, Impfausweis, Medikationsplan, Arztbe- die mit diesem abgerundet werden. Mit dem E-Health- richt oder Blutwerte – ich habe als Patient endlich einen Gesetz wurde gestartet. Mit dem DVG wurde nachgelegt, vernünftigen Überblick. Ich habe diesen Überblick, wenn und mit dem Patientendaten-Schutz-Gesetz wird jetzt ein ich das will, auf dem Smartphone in meiner Tasche. Das rundes Paket daraus, auch wenn der Kollege Sorge recht heißt, ich habe die entsprechenden Daten dabei, wenn ich hat: Wir können immer noch weitergehen; das ist über- eine Klinik aufsuche. Ich habe sie bei dem Arzt dabei, der haupt keine Frage. Aber ich persönlich freue mich erst mich behandelt. Ich bin in der Lage, jedem die Daten einmal, dass wir nun ein rundes Paket haben. zugänglich zu machen, dem das nach meiner Meinung – selbstbestimmt, das ist ein ganz wichtiger Punkt; bei mir (B) Es ist ein gutes, ein sicheres, ein vernünftiges und ein als Patient liegt die Entscheidung – ermöglicht werden (D) in weiten Teilen – bezogen auf die Kritik, die im vor- soll. Es bleibt freiwillig und ist selbstbestimmt. Wir sor- herigen Vortrag deutlich gemacht wurde – deutlich nach- gen dafür, dass es – zuerst oberflächlich, dann aber ab gebessertes Gesetz, das den Datenschutz massiv in den 2022 bis ins Detail – selbstbestimmt ist. Das ist ein ganz Vordergrund stellt. Nein, niemand muss sich Sorgen ma- wichtiger Aspekt. chen, wenn er sich für eine elektronische Patientenakte entscheidet, dass diese Akte dann irgendwo auf der Stra- Das E-Rezept wird endlich auf den Weg gebracht. Was ße zu finden sein wird. Wir haben ein sicheres, ein gutes haben wir daran lange herumgewurschtelt, und wie ein- System gefunden. Wir haben auch für die Ausgabe der fach ist es, mit einem solchen E-Rezept die Wege zu elektronischen Gesundheitskarte oder/und des PINs ein erledigen! Jetzt kommt das; meine Kollegin wird dazu vernünftiges System gefunden. Alles, was mein Vorred- sicherlich gleich noch ein bisschen näher ausführen. ner gerade gesagt hat, ist also völlig daneben. Scheuen Wir haben viele weitere Fragen im Bereich der Tele- Sie, meine Damen und Herren, nicht davor zurück. Eine medizin angepackt. Wir sorgen dafür, dass mehr Leis- elektronische Patientenakte ist für jeden möglich. tungserbringerinnen und -erbringer in das System kom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men. Mir persönlich war wichtig – auch dazu wird meine der CDU/CSU) Kollegin noch mehr sagen –, dass gerade die Pflege end- lich vernünftig berücksichtigt ist; denn natürlich ist die Ich will einen weiteren Punkt klarstellen; denn mein Pflege ein wichtiger Teil. Vorredner hat das Gesetz offensichtlich nicht so genau gelesen. Im Gesetz steht nicht, dass irgendjemand in einer Ja, man hätte sich mehr vorstellen können. Der Vor- Arztpraxis an einen Automaten gehen und dort seine wurf kam häufig: Warum nur Physiotherapeutinnen und Akte einsehen kann. Natürlich ist das kein sinnvoller Physiotherapeuten und nicht auch Ergotherapeutinnen Weg. Das haben wir durchaus auch gewusst. Deshalb und Ergotherapeuten? An dieser Stelle sage ich deutlich steht es nicht im Gesetz. Das müsste man vielleicht nach- – ich glaube, da bin ich in absoluter Übereinstimmung lesen, bevor man solche Reden hält, oder bei den ent- mit dem Ministerium und dem Koalitionspartner –: Am sprechenden Diskussionen dabei sein. Ende muss das gesamte Gesundheitssystem erfasst wer- den, muss jeder Leistungserbringer und jede Leistungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erbringerin erfasst werden. Aber wir dürfen das System der CDU/CSU) am Anfang auch nicht überfrachten. Deshalb haben wir Auf jeden Fall ist es ein gutes Gesetz. Klar ist: Die ein vernünftiges, ein ausgewogenes Gesetz vorliegen. elektronische Patientenakte, die ein wesentliches Kern- Dem können Sie gut zustimmen. Im Übrigen, liebe Bür- stück unserer Digitalisierung ist, kommt jetzt in Gang. gerinnen und Bürger, können Sie die elektronische Pa- 21428 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dirk Heidenblut (A) tientenakte dann auch guten Gewissens von Ihrer Kran- scheiden kann, was er einsehen kann und ob er sehen (C) kenkasse entgegennehmen. Das wird für Sie viele Vor- kann, dass sie vielleicht vor drei Monaten einen Schwan- teile haben. Ich freue mich darauf, dass wir das Gesetz gerschaftsabbruch hat vornehmen lassen. Das ist Patien- heute verabschieden können. tensouveränität. Das möchte ich umgesetzt haben mit diesem Gesetz. Danke schön. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn jetzt die Bundesregierung behauptet, dass das im ersten Jahr technisch nicht möglich ist, dann ist das ein- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: fach nur falsch. Die öffentliche Anhörung, bei der Sie ja alle dabei waren, hat genau das Gegenteil gezeigt. Die Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. – Nächste Red- erst ab 2022 – es wurde ja gesagt – vorgesehene Mög- nerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, lichkeit, die Akte individuell freizugeben, muss von An- FDP-Fraktion. fang an gewährleistet sein, meine Damen und Herren. (Beifall bei der FDP) Mit dem PDSG – da bin ich mir mit allen anderen einig – hätte die große Chance bestanden, umfassend Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): allen Akteuren Zugriff auf die ePA zu gewähren. Da Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und hätten wir uns mehr gewünscht. Ich freue mich, gehört Kollegen! Lassen Sie mich bitte zu Beginn festhalten: zu haben, dass das noch nachgereicht wird. Denn wir Wir als FDP-Fraktion befürworten die Digitalisierung benötigen ja eine umfassende digitale Zusammenarbeit im Gesundheitswesen ausdrücklich. Es ist für die Ver- aller Beteiligten. Nur dann ist es auch ein wirklicher sorgung der Patientinnen und Patienten ein großer Mehr- Mehrwert für die Patientinnen und Patienten. wert, wenn Behandlungsdaten schnell verfügbar sind. Die Coronaepidemie hat ja auch gezeigt, dass elektroni- Meine Damen und Herren, die medizinische For- sche Krankschreibungen oder Videosprechstunden funk- schung ist immer stärker datengetrieben und benötigt tionieren. natürlich auch Daten, die verwertbar sind – selbstver- ständlich nur mit Einwilligung der Patientinnen und Pa- Wir befürworten auch die Einführung der elektron- tienten. Diese Forschung halten wir für wichtig. Das gilt ischen Patientenakte. Wir haben sie seit Jahren gefordert, übrigens auch für die private Forschung. Denn gerade die und deswegen sagen wir auch: Es ist überfällig, dass sie Coronapandemie zeigt doch, wie wichtig auch private jetzt kommt. – Jetzt kommt aber das große Aber. Meine Forschungsinstitute zum Beispiel bei der Suche nach (B) Damen und Herren, die elektronische Patientenakte be- Impfstoffen oder Therapiemaßnahmen sind. Aber: Bei (D) nötigt doch von Anfang an einen rechtssicheren Rahmen; der Nutzung von Daten zu Forschungszwecken ist es denn die Datenhoheit gehört in die Hand der Patientinnen dringend erforderlich, dass eine Rückverfolgbarkeit auf und Patienten und nirgendwo anders hin. Personen von Anfang an auszuschließen ist, meine Da- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Axel men und Herren. Gehrke [AfD]) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Axel Wir müssen dafür sorgen, dass der Datenschutz und die Gehrke [AfD]) Selbstbestimmung immer an oberster Stelle stehen. Das Die öffentliche Anhörung hat ja gezeigt, dass die Kryp- ist gerade bei solch sensiblen Daten wie Gesundheitsda- tografie das bereits ermöglicht, indem sie nämlich die ten ganz besonders wichtig. Datensätze minimal verrauscht. Damit sind die Daten Jetzt komme ich zum entscheidenden Punkt. Wenn auch weiterhin wissenschaftlich verwertbar, lassen aber allerdings im ersten Jahr der Patient lediglich die ganze keinen Rückschluss auf die Personen zu, und das ist aus Akte zur Ansicht freigeben kann oder gar nicht, dann hat datenschutzrechtlichen Gründen sehr wichtig. Dieser As- das mit Patientensouveränität überhaupt nichts zu tun. pekt fehlt leider in Ihrem Gesetzentwurf. Aber es gibt Ein Alles-oder-Nichts fördert nicht die Akzeptanz, die eine Lösung, nämlich unseren Entschließungsantrag. für so ein wichtiges Projekt notwendig wäre, meine Da- Ich kann Ihnen nur anraten, dem zuzustimmen. men und Herren. Meine Damen und Herren, mein letzter Satz: Die wich- (Beifall bei der FDP – Tino Sorge [CDU/CSU]: tige Digitalisierung kann nur mit einem hohen Daten- Das stimmt doch so gar nicht! „Alles oder schutzniveau gelingen; das sehen wir in Ihrem Gesetzent- nichts“ stimmt doch so gar nicht!) wurf nicht; deswegen müssen wir ihn leider ablehnen. Unser Hauptkritikpunkt ist, dass im ersten Jahr der Vielen Dank. Patient eben nicht genau darüber bestimmen kann, wer seine einzelnen Daten einsehen kann. (Beifall bei der FDP – Tino Sorge [CDU/CSU]: Das ist aber keine Serviceopposition!) (Tino Sorge [CDU/CSU]: Doch, kann er!) Daher haben wir einen entsprechenden Entschließungs- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: antrag vorgelegt, der das regelt. Es ist doch wichtig, mei- Vielen Dank, Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus. – ne Damen und Herren, wenn zum Beispiel die junge Auch bei den Freien Demokraten sind drei Sätze immer Patientin beim Zahnarzt ist, dass sie selbst darüber ent- noch mehr als ein Satz. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21429

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) (Tino Sorge [CDU/CSU]: Das waren Halbsät- kerung von einer Maßnahme zur Pandemiebekämpfung (C) ze, Herr Präsident! – Christine Aschenberg- ausschließen. Dugnus [FDP]: Normalerweise kann ich ganz gut zählen!) (Beifall bei der LINKEN) – Ich habe das auch so interpretiert, Herr Kollege Sorge. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Sie diese öffent- liche Debatte um die Corona-App vor allem dazu betrie- Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Achim ben haben, um von den drängenden gesundheitspoliti- Kessler, Fraktion Die Linke, das Wort. schen Fragen abzulenken, die ja im Moment in der Pandemie wie unter einem Brennglas sichtbar werden. (Beifall bei der LINKEN) Während Sie für die App 68 Millionen Euro ausgegeben haben, bekommt der Öffentliche Gesundheitsdienst ge- Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): rade mal 50 Millionen Euro. Das ist verantwortungslos, Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr meine Damen und Herren. Minister Spahn, mit der Einführung einer unausgereiften elektronischen Patientenakte gefährden Sie die Akzep- (Beifall bei der LINKEN) tanz des gesamten Projekts, und zwar sowohl bei Patien- Die Warnmeldungen der App sind doch vollkommen tinnen und Patienten als auch beim Gesundheitspersonal, nutzlos, wenn die Infektionswege nicht durch einen funk- das ja hinterher mit der elektronischen Patientenakte ar- tionierenden Gesundheitsdienst unterbrochen werden beiten muss. Das ist nicht im Sinne der Patientinnen und können. Doch den haben Sie alle gemeinsam in den letz- Patienten, und das ist absolut kontraproduktiv im Sinne ten Jahrzehnten kaputtgespart, und das muss jetzt wirk- einer Digitalisierung des Gesundheitssystems. lich ein Ende haben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Denn vorerst können Patientinnen und Patienten nur Sowohl die Corona-App als auch das sogenannte Pa- die gesamten Daten ihrer Akte freigeben oder halt eben tientendaten-Schutz-Gesetz dienen dem Zweck, uns an nicht. Doch wozu braucht ein Orthopäde Informationen die kommerzielle Nutzung und die Ausbeutung unserer über einen Schwangerschaftsabbruch, wozu eine Augen- Gesundheitsdaten zu gewöhnen. Meine Damen und Her- ärztin Informationen über eine Psychotherapie? Außer- ren, Die Linke weist das entschieden zurück. dem ist die elektronische Patientenakte zunächst nichts anderes als eine völlig ungeordnete und unstrukturierte (Beifall bei der LINKEN) Sammlung elektronischer Dokumente. (B) Der Bundesdatenschutzbeauftragte stellt in Ihrem Ge- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (D) setz schwerwiegende datenschutzrechtliche Mängel fest. Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Und der Chaos Computer Club beklagt, dass beim Zu- Kollegen Sorge? gang zur elektronischen Patientenakte mit dem Smart- phone nur ein mittleres Sicherheitsniveau gewährleistet Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): ist. Außerdem sei es kaum möglich, so der Chaos Com- Nein. Nach dem Punkt vielleicht. puter Club, zu überprüfen, wer sensible personenbezoge- ne Forschungsdaten erhält. Das Gesetz, meine Damen (Tino Sorge [CDU/CSU]: Heißt das ja oder und Herren, ist nicht im Interesse der Patientinnen und nein?) Patienten, und deshalb lehnen wir es ab. Das neue Positionspapier der CDU/CSU-Fraktion zum Gesundheitssystem spricht eine ganz, ganz deutliche (Beifall bei der LINKEN) Sprache. Ganz offen wird davon gesprochen, dass die Es ist schamlos, Herr Gesundheitsminister, wie Sie und Gesundheitswirtschaft Zugang zu dem – ich zitiere – Da- die Bundesregierung die Pandemie nutzen, um die profi- tenschatz des Forschungsdatenzentrums erhalten soll. torientierte Digitalisierung unseres Gesundheitssystems Das sind die Gesundheitsdaten aller Versicherten. voranzutreiben. Zwar wurde die Corona-App vom Chaos Computer Club und anderen Expertinnen und Experten (Sabine Dittmar [SPD]: Das steht überhaupt datenschutzrechtlich als unbedenklich eingestuft. Aber es nicht im Gesetz!) geht hier doch um viel mehr. Mit der Realität in den Damit soll nach dem Willen der Union die – ich zitiere – Corona-Hotspots in der Fleischindustrie, in beengten Innovationskraft des Standorts Deutschland im interna- Wohnblocks, aber auch in den Pflegeheimen hat diese tionalen Wettbewerb gestärkt werden. Meine Damen und Corona-App wirklich überhaupt nichts zu tun. Herren, an dieser Stelle verkommt Gesundheitspolitik zur Wirtschaftsförderung für die IT-Industrie. Auch wer sich das neueste Smartphone nicht leisten kann, ist von der Nutzung der App von vornherein aus- (Beifall bei der LINKEN) geschlossen. Es ist überhaupt nicht verwunderlich, wenn Amtsärzte zu Recht diese App als „ein Spielzeug für die Sehr geehrte Damen und Herren von der CDU/CSU, hat digitale Oberklasse“ bezeichnen. Sie denn der Skandal um Philipp Amthor wirklich über- haupt nicht zum Nachdenken gebracht? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD, ich ver- Und es ist ein Skandal, meine Damen und Herren, wenn stehe wirklich nicht, warum Sie das auch noch mittragen. Sie mitten in einer Pandemie einen großen Teil der Bevöl- Verstehen Sie denn nicht, dass Sie mit solchem Wirt- 21430 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dr. Achim Kessler (A) schaftslobbyismus unsere Demokratie systematisch un- Wir diskutieren seit 2003 über die elektronische Ge- (C) tergraben? sundheitskarte. Wir diskutieren über digitale Anwendun- gen, die im privaten Bereich von vielen schon genutzt (Beifall bei der LINKEN) werden, wo wir teilweise über datenschutzrechtlich be- Alle Expertinnen und Experten sind sich einig, dass es denkliche Dinge sprechen. Im öffentlichen Bereich schaf- einen hundertprozentigen Datenschutz nicht gibt und fen wir jetzt mit der elektronischen Patientenakte, mit der auch niemals geben wird. Aber wenn das so ist, meine Telematikinfrastruktur, erstmals ein System, was mit sehr Damen und Herren, dann müssen die Patientinnen und hoher Sicherheit ermöglicht, dass todkranke Menschen Patienten wirkungsvoll gegen Schäden abgesichert wer- ihre Daten aggregiert, zusammengeführt auf einer elekt- den, die durch den Verlust ihrer Daten entstehen können. ronischen Patientenakte nutzen können. Wir eröffnen die Es ist für Geschädigte so gut wie unmöglich, einen Möglichkeit, dies freiwillig zu nutzen. Und da tun Sie Schaden nachzuweisen, wenn sie zum Beispiel infolge hier so, als seien Patientinnen und Patienten dagegen eines Datenlecks ihren Arbeitsplatz verlieren. Deshalb und wollten das nicht. Das Gegenteil ist der Fall. muss die geltende Delikthaftung durch eine Gefähr- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dungshaftung ersetzt werden. Das bedeutet, dass schon der bloße Verlust von Daten zu einem Schadensersatzan- Und deshalb frage ich Sie auch ganz konkret, Herr spruch führen muss. Kessler, weil Sie hier immer so tun, als sei das alles profitgetrieben, als würden im Gesundheitsbereich – Sie (Beifall bei der LINKEN) haben die Corona-App angesprochen – Gelder sinnlos ausgegeben: Ist an Ihnen auch vorbeigegangen, dass wir Ich bin mir sicher, dass das die Motivation zum Daten- jetzt im Coronakontext ein Hilfspaket gerade im Gesund- schutz bei den Anbietern gravierend erhöhen würde. Ich heitsbereich gemacht haben, das seinesgleichen sucht? bin mir aber vor allem sicher, dass das für Patientinnen und Patienten einen wirkungsvollen Schutz gegen den Wir stellen jetzt im Bereich der Krankenhäuser über Missbrauch ihrer Daten bedeuten würde. 3 Milliarden zusätzlich zur Verfügung. Insofern frage ich Sie: Warum stellen Sie dann hier Thesen auf, warum Von alldem, Herr Minister, ist in Ihrem Gesetz nichts suggerieren Sie, wir stellten nur für einzelne Anwendun- zu lesen. Auch deshalb lehnen wir es ab. gen, die sehr klein sind – Corona-Warn-App war Ihre Thematik –, Gelder zur Verfügung, und vergessen, dass Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. auf anderen Wegen Milliarden zusätzlich zum Wohle der (Beifall bei der LINKEN) Patienten, die einen konkreten Mehrwert davon haben, zur Verfügung gestellt werden? Das würde mich wirklich (B) mal interessieren, Herr Kollege. (D) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kessler. – Ist das die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Anmeldung zu einer Kurzintervention? Das müsste mir dann mitgeteilt werden, Herr Kollege Sorge. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Tino Sorge [CDU/CSU]: Ich dachte, Sie ma- Stimmt genau. – Sie wollen antworten, Herr chen das schon proaktiv, weil er ja gesagt hat, Dr. Kessler? – Dann bitte. ich könne danach fragen!) Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): – Aber, Herr Kollege Sorge, bisher war es nicht üblich, Herr Sorge, was Sie gerade gesagt haben, dass Die dass man sich Zwischenfragen bestellt. Aber wenn Sie Linke gegen eine elektronische Patientenakte sei, das ist darauf gerne eingehen wollen, gebe ich Ihnen jetzt die ja überhaupt nicht zutreffend. Das habe ich auch gerade Gelegenheit zu einer Kurzintervention. gar nicht gesagt. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Dann ist es ja gut, Tino Sorge (CDU/CSU): dass Sie es jetzt noch einmal sagen!) Vielen Dank, Herr Präsident. – Da der Kollege Kessler Wir sind allerdings gegen eine dilettantische elektroni- die Zwischenfrage nicht zugelassen hat, möchte ich das sche Gesundheitsakte, die überstürzt eingeführt wird, im Rahmen der Kurzintervention noch mal ein bisschen richtigstellen. (Beifall bei der LINKEN) Es ist ja nichts Neues, dass Sie hier die Diskussion über damit der Minister seinen Ehrgeiz befriedigen kann. Da- die Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht chancen- gegen sind wir in der Tat. getrieben, sondern eher risikogetrieben führen. Was mir Es ist nicht angemessen, eine Akte auf den Markt zu dabei wirklich immer sehr, sehr sauer aufstößt, ist, dass bringen, die es nicht zulässt, differenzierte Entscheidun- Sie ein Zerrbild entwickeln und suggerieren, die Patien- gen zu treffen, wer, welcher Arzt und welche Ärztin, tinnen und Patienten hätten überhaupt keine Lust auf welche Dokumente einsehen kann. Das ist das eine. Digitalisierung. Unterhalten Sie sich einmal mit Chroni- kern, beispielsweise mit Typ-2-Diabetikern oder generell Das Zweite ist: Sie haben jetzt in dem Gesetz nachge- mit Diabetikern, mit Parkinsonpatienten. Die fordern uns bessert, dass die Versicherten mit der Gesundheitskarte alle auf: Ihr müsst viel, viel schneller werden. Warum endlich sicher authentifiziert werden. Sie haben über vie- dauert das so lange? le Jahre die Hinweise der Linken, aber auch der Grünen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21431

Dr. Achim Kessler (A) und vieler anderer ignoriert, dass die Ausgabe der Ge- der Entscheidung in den Gremien. Da müssen Sie nach- (C) sundheitskarte völlig ohne Identifizierung stattfindet. bessern. Dann wird das Produkt nämlich auch besser. Der Chaos Computer Club hat das nachgewiesen. Das machen Sie jetzt endlich. Aber das wird die Nutzung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der elektronischen Patientenakte verzögern, weil es jetzt Vertrauen und Akzeptanz haben natürlich auch damit natürlich ewig dauert, bis diese Identifizierung aller Ge- zu tun, dass ich sicher weiß, dass Datenschutz und Daten- sundheitskarten neu passiert ist. Da haben Sie ge- sicherheit gewahrt sind. Erstmalig nach einem so langen schlampt, und jetzt machen Sie uns dafür verantwortlich. Diskussionsprozess haben wir jetzt zum Glück im Gesetz Das ist nicht lauter. stehen: Diese Akte ist freiwillig, diese Akte wird von den Patientinnen und Patienten selber geführt, und sie ent- (Beifall bei der LINKEN) scheiden auch darüber, ob ein Behandlungsdatum, eine Information in die Akte kommt, ja oder nein. Diese Klar- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: stellung war mehr als überfällig. Wäre sie früher erfolgt, So, dann ist das auch geklärt. Vielen Dank. – Als hätte es die vielen Bedenken, die es gab, aber auch Unter- nächste Rednerin hat die Kollegin Maria Klein- stellungen verschiedenster Art, erst gar nicht gegeben. Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb sind wir froh, dass diese Klarstellung endlich erfolgt ist. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Damit komme ich zu der Frage, wer sie denn eigentlich Sehr geehrter Präsident! Lieber Minister! Liebe Kolle- wie nutzen kann. Auch da vermissen wir, dass tatsächlich ginnen und Kollegen hier im Haus! Man könnte nach der auf Patientenkompetenz gesetzt wird, dass daran gearbei- jetzigen Debatte den Eindruck haben, als ginge es nur tet wird, dass wirklich gut genutzt werden kann, dass darum, entweder Datenschutz oder Patientennutzen zu diejenigen, die eben nicht über digitale Kompetenz ver- befördern. Aber wir brauchen endlich eine Diskussion, fügen, tatsächlich einbezogen werden. in der das zusammengeführt und entsprechend gestaltet Da reicht es uns nicht, dass die Krankenkassen jetzt wird. mal den Auftrag haben, sondern da brauchen wir natür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich die Patientenverbände mit im Boot, wir brauchen die sowie bei Abgeordneten der SPD und der Selbsthilfe mit im Boot, wir brauchen auch die Leistungs- Abg. Christine Aschenberg-Dugnus [FDP] – erbringer mit im Boot, weil es im Zweifelsfall immer eine (B) Tino Sorge [CDU/CSU]: Sowohl als auch!) Situation in der Praxis gibt, in der aufgeklärt werden (D) muss. Und da müssen Sie eine Offensive in Richtung Es wurde eben darauf hingewiesen: Wir haben jetzt das digitaler Kompetenz starten. Alles andere wird dazu füh- dritte Digitalisierungsgesetz. Verschwiegen wird dabei, ren, dass diese Akte nur sehr zögerlich angenommen dass eigentlich schon 2004 die elektronische Gesund- wird. heitsakte eingeführt werden sollte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahnsinn! 16 Jahre!) Dann der ganze Aspekt des Patientennutzens. Sie ha- ben bisher immer noch versäumt, die gesamte Behand- Und wenn Sie sich dann mal überlegen, dass wir im Jahre lungskette in den Blick zu nehmen. Es ist überhaupt nicht 2020 sind, dann muss man sagen: Wir haben einen sehr, vermittelbar, warum die anderen Heilmittelerbringer so sehr langen Anlauf genommen, einen zu mühseligen und verzögert einbezogen werden. Es ist nicht vermittelbar, zu stolpersteinigen Weg genommen, und da hat es sehr, warum die Pflege so zögerlich einbezogen wird, dass sie sehr viele Bremser gegeben. Auch die FDP, die heute keine Schreibrechte erhält. All das führt dazu, dass ge- „Digital first, Bedenken second“ sagt, war da ganz, ganz rade die Menschen mit einem erhöhten Unterstützungs- kräftig mit dabei. und Behandlungsbedarf sehr spät die Vorteile einer Pa- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: So ein tientenakte wirklich nutzen können. Dazu muss ich sa- Quatsch!) gen: Da müssen Sie nachlegen. Aber das gehört zur Vergangenheit. Die eigentliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frage ist ja: Wofür tun wir das? Wir tun das, um die Da sind wirkliche Versäumnisse. Da haben Sie echtem Versorgung zu verbessern und die Rechte der Patientin- Handlungsbedarf zu entsprechen, damit diese Patienten- nen und Patienten im Versorgungsgeschehen zu stärken. akte, wie Sie eben sagten, zum Fliegen kommt. Das muss der eigentliche Wesenskern der Herangehens- weise sein. Dann sehen wir an dieser Stelle auch sehr, sehr deut- lich, dass die Vernetzung im Gesundheitswesen voran- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kommen muss. Vernetzung bedeutet nicht nur, das Kran- Und da muss ich leider sagen: Dieses Patientendaten- kenhaus mit der Praxis und der Apotheke zu vernetzen Schutz-Gesetz setzt den Webfehler der vorherigen Ge- – ein Klassiker –, sondern wir müssen die gesamte Be- setze fort. Es gibt immer noch keine systematische Betei- handlungskette, auch die Reha und die Pflege, hinein- ligung von Patientinnen und Patienten auf allen Ebenen nehmen. Da können wir nicht schrittweise in Gesetzes- der Entwicklung sowie der politischen Entscheidung und form erst in der nächsten Wahlperiode nachlegen, 21432 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Maria Klein-Schmeink (A) sondern das muss angegangen werden; denn sonst wird datensensibel ist, wenn die datenschutzrechtlichen Vor- (C) dieses wichtige Erlebnis, dass man tatsächlich koordi- gaben stimmen, wenn es eben einen echten Mehrwert nierte Leistungserbringung im Gesundheitswesen zum gibt. Nutzen der Patienten hat, einfach nicht erfahrbar sein. Genau diesen Rückenwind auch aus den Erkenntnis- Da müssen wir hin. Wir werden allen Beteiligten stramm sen, wie viel Digitalisierung nützen kann, wollen wir mit auf den Füßen stehen und mit Nachdruck darauf drängen, dem Patientendaten-Schutz-Gesetz langfristig für das dass Patientenbeteiligung ernst genommen wird, genauso Gesundheitswesen nutzen. Wir wollen dafür sorgen, dass wie der Datenschutz und die Datensicherheit. Digitalisierung im Gesundheitswesen bei den Patientin- In diesem Sinne geht es voran. Wir werden uns ent- nen und Patienten ankommt, aber auch bei allen, die halten, weil eben dieser Webfehler noch immer im Gesetz behandeln, weil natürlich auch die Behandlung leichter drin ist. wird, wenn Informationen verfügbar sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Es sind viele Anwendungen für die elektronische Pa- Tino Sorge [CDU/CSU]: Nach dem Gesetz ist tientenakte vorgesehen: beim Mutterpass, beim Impfaus- vor dem Gesetz!) weis, bei den Behandlungsdaten überhaupt, sodass man die Röntgenbilder nicht durch die Gegend tragen muss, ob in der Tasche oder auf CD-ROM. All das gibt es ja Vizepräsident Wolfgang Kubicki: noch jeden Tag im deutschen Gesundheitswesen. Nir- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist gendwo in Deutschland wird noch so viel gefaxt wie im Herr Bundesminister Jens Spahn für die Bundesregie- Gesundheitswesen. Das wollen wir jetzt Schritt für rung. Schritt ändern. Ja, ich sage Ihnen: Die elektronische Pa- tientenakte wird nicht ab dem 1. Januar bei allen Anwen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dungen gleich perfekt sein. Bei der Patientenakte wird ordneten der SPD) nicht alles gleich ab dem 1. Januar gehen. Aber wir müs- sen mal anfangen. Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Herr Kessler, Sie nennen das jetzt überstürzt. Nach Coronapandemie ist für viele in unserer Gesellschaft eine 15 Jahren Debatte führen wir endlich die elektronische schwere Belastung: Unternehmer, die vor den Trümmern Patientenakte ein. Wenn das Ihre Definition von „über- ihrer Existenz stehen; Kinder, die nicht in die Schule oder stürzt“ ist, dann erklärt das an dieser Stelle einiges Ihrer die Kita gehen können; Arbeitnehmer, die um ihren Job Geschichtsaufarbeitung in den letzten Jahren. bangen. Aber es gibt in dieser Krise auch viele Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Achim Kessler (B) lungen, die Hoffnung machen, die Perspektive geben. (D) [DIE LINKE]: Sie wissen doch genau, wie ich Das Wirgefühl, das sich in weiten Teilen der Gesellschaft es gemeint habe!) entwickelt hat, die Hilfsbereitschaft, die Bereitschaft, sich gegenseitig zu unterstützen, und, ja, auch die Erfah- Es ist jedenfalls eine interessante Definition. – Ich frage rung der Digitalisierung, die vieles im Alltag in dieser mich sowieso manchmal, was eigentlich mit Ihrer DDR Pandemie leichter gemacht hat. passiert wäre, wenn es damals das Internet schon gegeben hätte. Dass Sie uns hier eine Rede zum Schutz von per- Das galt und gilt auch für das Gesundheitswesen: Vi- sönlichen Daten halten, ist eigentlich ein Treppenwitz der deosprechstunden, Onlinesprechstunden – ob bei den Geschichte, muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Ärztinnen und Ärzten oder in der Logopädie. Das gilt übrigens auch für die Digitalisierung des Öffentlichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gesundheitsdienstes, wo wir in gerade drei Monaten un- neten der FDP – Dr. Achim Kessler [DIE LIN- ter großer Anstrengung mehr schaffen, als vorher in KE]: Das ist der Höhepunkt einer sachlichen 20 Jahren wegen verschiedener Widerstände auf allen Debatte! Damit blamieren Sie sich selbst!) Ebenen möglich war. Endlich keine Labormeldungen Aber unabhängig davon gilt: Datenschutz ist bei so mehr per Fax, sondern seit zwei Wochen auch digital. sensiblen Daten wie Gesundheitsdaten wichtig, und zwar Dafür haben wir lange gearbeitet. Jetzt konnten wir end- Datenschutz auf höchstem Niveau. Es gibt nichts Sensib- lich die Widerstände brechen und das durchsetzen. leres für den Einzelnen, nichts Persönlicheres, Intimeres (Beifall bei der CDU/CSU) als die Daten über die eigene Gesundheit und insbeson- dere eine mögliche Erkrankung. Deswegen legen wir Da- Das gilt auch für die Corona-Warn-App. tenschutzstandards auf höchstem Niveau in diesem Pa- tientendaten-Schutz-Gesetz fest. Wir legen vor allem Das zeigt eben, wann es Akzeptanz und Zustimmung fest, dass diese Gesundheitsdaten auf deutschen Servern gibt. Heute hat eine Umfrage unter Bürgerinnen und Bür- nach europäischem Datenschutzrecht zu verarbeiten sind. gern gezeigt: Drei Viertel sehen der elektronischen Pa- tientenakte mit positiven Gefühlen, mit Zustimmung ent- Was ich in der deutschen Debatte nie verstehen werde, gegen und wollen sie gerne nutzen. Es gibt dann ist, warum am Ende so viel mehr Bereitschaft da ist, Akzeptanz und Zustimmung, wenn Technik im Alltag Apple, Google, Facebook oder auch Alibaba die eigenen die Dinge leichter macht. Warum nutzen wir alle jeden persönlichen Daten jeden Tag zur Verfügung zu stellen, Tag unser Smartphone? Weil es die Dinge leichter macht: als dann, wenn der eigene Staat einen Rahmen dafür setzt, in der Kommunikation, in der Information, in der Um- Daten zum Wohle des Einzelnen – anonymisiert oder setzung. Akzeptanz und Zustimmung gibt es, wenn es pseudonymisiert – zur Forschung und zum Mehrwert Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21433

Bundesminister Jens Spahn (A) für alle Patientinnen und Patienten zu nutzen. Dann gibt (Tino Sorge [CDU/CSU]: Nein! Weil man gute (C) es so ein Grundmisstrauen. Solange das so ist und es ein Dinge immer noch besser machen kann! Das ist Grundvertrauen in amerikanische Großkonzerne und ein der Punkt!) Grundmisstrauen in den eigenen Staat gibt, werden wir in der Digitalisierung nicht vorankommen. Deswegen ist – Herr Sorge, das haben Sie genau so gesagt. diese Debatte dringend zu führen. Es wäre so schön gewesen. Wir hätten so schön ein Gesetz machen können, mit dem man die Digitalisierung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- im Gesundheitswesen voranbringt, mit dem man den ordneten der SPD) Ärzten die Arbeit erleichtert oder mit dem man die Pa- Gerade Sie hätten es anscheinend lieber, dass Apple tientenrechte stärkt. Dann kam aber Herr Minister Spahn, und Google die Angebote entwickeln. Die bieten das und er hat eben viele Chancen verpasst. Lassen Sie mich jeden Tag an; die Bürger wollen es nutzen. Die Frage das an fünf Beispielen erläutern. ist: Machen wir ihnen ein Angebot nach unserem Recht Erstes Beispiel. Man hätte zum Beispiel die Patienten- auf unseren Servern? Ich finde, wir sollten ihnen dieses rechte stärken können, hätte dafür sorgen können, dass Angebot machen, und das wird am 1. Januar beginnen. die Patienten selbst entscheiden können, welche Daten sie ihrem jeweiligen Arzt geben. Abschließend, Herr Spangenberg: Ich meine, wenn die ganze Alternative, die Sie hier zu bieten haben, irgendwie (Karin Maag [CDU/CSU]: Das tun sie!) Skepsis und monotone schlechte Laune mit Blick auf Digitalisierung ist, dann ist das nicht mein Verständnis Dann kam Minister Spahn und hat gesagt: Nein, das ma- davon, wie ich diese 20er-Jahre gestalten will. Ich möchte chen wir 2021 noch nicht. Da kann man nur alles oder gar nicht, dass wir Digitalisierung erleiden; ich möchte, dass nichts verteilen. – Chance verpasst. wir sie gestalten, dass wir daraus einen Mehrwert machen für die Bürgerinnen und Bürger, für die Patientinnen und Zweites Beispiel. Wir hätten den Ärzten die Arbeit Patienten, für alle, die im Gesundheitswesen tätig sind. erleichtern können, indem man ihnen eine strukturierte Deswegen geht es eben darum, manchmal auch mit ein Datensammlung an die Hand gibt. Minister Spahn hat bisschen Zuversicht und guter Laune an diese Themen das verhindert. Er hat dafür gesorgt, dass wir ein großes ranzugehen. Ja, ich bin sehr dafür, auch die Probleme, Sammelsurium von Daten haben, durch die sich die Ärzte die Risiken und die Datenschutzfragen zu sehen, zu dis- jetzt durchkämpfen müssen. Erneut ist es so, dass Ärzte kutieren und zu lösen. Aber unser Grundverständnis ist, sich mit Bürokratie beschäftigen müssen statt mit Be- dass wir Digitalisierung mit Zuversicht und guter Laune handlung. – Chance verpasst. (B) gestalten wollen. Das tut dieses Gesetz. (D) Drittes Beispiel. Wir hätten erreichen können, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Teamwork im Gesundheitswesen erleichtert wird, indem ordneten der SPD) alle Beteiligten, alle Behandler im Gesundheitswesen an diese Daten herankommen. Minister Spahn hat das ver- hindert. Logopäden und Ergotherapeuten haben eben ge- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: rade keinen Zugang, obwohl es dringend notwendig wä- Vielen Dank, Herr Minister. – Für die FDP hat nun das re, dass sie diese Daten haben. Wort der Kollege Dr. Wieland Schinnenburg. Viertes Beispiel. Wir hätten die Rettungshelfer auch (Beifall bei der FDP) einbeziehen können, sodass sie nicht nur einen Notfallda- tensatz bekommen, sondern dass sie sofort alle Daten bekommen können, die sie gerade brauchen, wenn sie Dr. Wieland Schinnenburg (FDP): einen unbekannten Patienten vor sich haben. Das hat Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- Minister Spahn verhindert. – Chance verpasst. ehrter Herr Minister, das waren ja wieder mal salbungs- volle Worte von Ihnen. Aber ich möchte ein Thema mal Fünftes Beispiel. Wir hätten die völlig überholte Tele- aufgreifen. Sie sagen: Ja, Amazon, denen geben Sie das. – matikinfrastruktur endlich mal durch eine neue Technik Das finde ich nicht richtig. Der Unterschied ist nämlich: ablösen können. Das hat Minister Spahn verhindert. Im Sie vertreten den Staat. Der Staat kann mit staatlicher Gegenteil: Er zwingt sogar Ärzte, diese überholte Tech- Gewalt Daten erheben und Daten verarbeiten. Deswegen nik einzuführen. ist es selbstverständlich, dass wir allerhöchste Ansprüche Meine Damen und Herren, ich stelle fest: Trotz aller an den Staat stellen, wenn er so etwas tut. Dieser Ver- netter Rhetorik hat Minister Spahn das Ziel verfehlt. Wir gleich passt nicht, Herr Minister Spahn. Das war nicht als Freie Demokraten wollen natürlich Digitalisierung im richtig. Gesundheitswesen. Aber für uns muss gelten: Wo „Digi- talisierung“ draufsteht, muss auch was Vernünftiges drin Das Zweite ist: Alles, was Sie uns erzählt haben, ändert sein. Das ist bei diesem Gesetz nicht der Fall. Deshalb nichts an der Erkenntnis, dass bei diesem Gesetz Chancen lehnen wir es ab. verpasst wurden. Herr Kollege Sorge hat das ja zu Recht gesagt. Er sagte: Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz. – Vielen Dank, meine Damen und Herren. Das ist nichts anderes als die Erkenntnis: Dieses Gesetz ist unzureichend. Genau das ist auch so. (Beifall bei der FDP) 21434 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die der CDU/CSU und der FDP) Kollegin Martina Stamm-Fibich. – Bitte schön. Patientinnen und Patienten können ab 2022 detailliert darüber entscheiden, welche Daten auf der ePA gespei- (Beifall bei der SPD) chert werden und welche nicht und auf welche Daten zugegriffen werden kann und auf welche nicht. Herr Kol- Martina Stamm-Fibich (SPD): lege Kessler, dazu gehört auch – wenn wir schon über Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Gleichberechtigung sprechen –, dass der Zahnarzt nicht Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Während wissen muss, was der Urologe macht. Der Hinweis auf meiner Zeit als Gesundheitspolitikerin habe nicht nur die Schwangerschaftsabbrüche hat mich sehr, sehr wü- ich, sondern hat auch der Kollege Heidenblut immer auf tend gemacht. sehr viel mehr Geschwindigkeit bei der Digitalisierung (Beifall bei der SPD) gedrängt. Wir haben dies gefordert, weil wir – und auch meine Fraktion – überzeugt sind, dass sich die Qualität Ich hätte mir zwar gewünscht, dass das detaillierte der Versorgung so stark verbessern wird wie mit keinem Berechtigungsmanagement bereits jetzt beim Start zur anderen Instrument zu dieser Zeit. Dies gelingt mit dem Verfügung steht; aber das ist nun mal nicht so. Die jetzige vorliegenden Gesetzentwurf. Zweistufenlösung kann man als guten Kompromiss, der gefunden wurde, mittragen. Und anders als die Kollegin Nur ein paar Beispiele: Wir machen die elektronische Aschenberg-Dugnus behauptet, bleibt die Entscheidung Patientenakte für alle Versicherten nutzbar. Wir führen zur Speicherung schon jetzt bei den Patientinnen und das E-Rezept mit der dazugehörigen App ein. Wir führen Patienten. den digitalen Überweisungsschein ein. Wir machen die Teleinfrastruktur insgesamt fit für die Zukunft und, und, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und. All diese Maßnahmen sind wichtig; denn sie bieten der CDU/CSU) den Patientinnen und Patienten einen echten Mehrwert. Am Ende noch zwei Sätze zu den Terminals, weil es ja Sie können uns helfen, die Herausforderungen, die dem doch die eine oder andere Kritik und Diskussion gegeben Gesundheitssystem unmittelbar bevorstehen, zu meistern hat. Nach reiflicher Abwägung der Argumente sind wir und besser zu werden, und sie können uns helfen, vor zu dem Entschluss gekommen, dass die flächendeckende allem die älteren und chronisch kranken Menschen besser Einführung von stationären Geräten nicht die richtige zu behandeln, strukturschwache ländliche Gebiete medi- Lösung ist. Mir ist bewusst, dass der Zugang zur ePA zinisch zu versorgen und die Bürokratie im Gesundheits- natürlich barrierefrei gestaltet werden muss. Aber das (B) sektor effizienter zu gestalten. bedeutet auch, dass Menschen ohne Smartphone auf ihre (D) ePA zugreifen können müssen. Ich bezweifle aber, dass (Beifall bei der SPD) ein Großteil der Menschen, die kein Smartphone besit- Diese Liste ließe sich jetzt beliebig fortsetzen. Denn zen, am Ende an ein Terminal geht, das in irgendeinem wenn wir über die Digitalisierung im Gesundheitssystem Raum steht. Zumindest – ich habe mich heute früh noch sprechen, müssen wir – bei allen genannten Vorteilen – mal versichert – mein 78-jähriger Vater sagte: Oje, aber auch über die Risiken sprechen; wir haben einiges Martina, das ist keine Option. dazu gehört. Es ist die Pflicht der Politik, dafür zu sorgen, Vielen Dank. dass mit diesen Daten kein Missbrauch stattfinden kann. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem vorliegenden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Entwurf die Gratwanderung zwischen Innovation und der CDU/CSU) Datenschutz meistern werden. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Das Gesetz basiert auf einem sehr großen, breiten Ab- wägungsprozess zwischen Patienten, Daten und Daten- Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der schutz, bei dem wir uns auch immer wieder mit den ent- Kollege Stephan Pilsinger. sprechenden Experten beraten haben. Es war mir als (Beifall bei der CDU/CSU) Patientenbeauftragte meiner Fraktion wichtig, dass hier Lösungen gefunden werden, die Vertrauen schaffen. Stephan Pilsinger (CDU/CSU): Denn ohne das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der werden wir mit der ePA keine Erfolgsgeschichte Verabschiedung des Digitale-Versorgung-Gesetzes im schreiben. Ich bin voller Zuversicht, dass die ePA von vergangenen November haben wir als CDU/CSU-Frak- vielen Versicherten freiwillig genutzt werden wird. Wir tion das Versprechen gegeben, digitale Lösungen für das haben gerade etwas darüber gehört, wie viele sich dazu Gesundheitswesen weiter voranzubringen und dabei den schon verständigt haben. Mit der Patientenkarte kommen Schutz sensibler Patientendaten stets im Blick zu behal- wir da nicht weiter. ten – und dieses Versprechen halten wir auch. Und: Endlich hört die Zettelwirtschaft auf. Meine Kin- Mit dem Patientendaten-Schutz-Gesetz schaffen wir der sind schon groß; aber wie oft bin ich nach Impfpass, heute die gesetzliche Grundlage dafür, dass digitale Untersuchungsheft und sonstigen Dingen gefragt wor- Kommunikation im Gesundheitswesen künftig noch rei- den. Ach Gott, wie freue ich mich für zukünftige Gene- bungsloser und sicherer funktioniert. Dabei spielen Da- rationen, dass diese Zettelwirtschaft endlich ein Ende hat! tenschutz und Datensicherheit eine ganz wesentliche Rol- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21435

Stephan Pilsinger (A) le. Denn nur so schaffen wir Vertrauen bei den Menschen, löst. Jetzt liegt es an den Kassen, ihren Versicherten diese (C) und dieses Vertrauen ist ganz entscheidend, meine Da- neuen Versorgungsmöglichkeiten tatsächlich anzubieten men und Herren. Denn nur wenn die Versicherten digitale und sie natürlich auch darüber zu informieren. Lösungen wie die elektronische Patientenakte auch nut- zen, werden die umfangreichen Verbesserungen in der Meine Damen und Herren, mit dem Patientendaten- Gesundheitsversorgung für sie auch spürbar. Genau aus Schutz-Gesetz setzen wir jetzt eine ganz konkrete Ver- diesem Grund machen wir mit dem vorliegenden Entwurf besserung für die Patientinnen und Patienten in unserem deutlich: Die Versicherten können auch in Zukunft darauf Land um. Deshalb bitte ich um Ihre Unterstützung für vertrauen, dass ihre sensiblen Gesundheitsdaten sicher dieses Gesetz. sind. Vielen Dank. Mit der Digitalisierung ergibt sich die Chance, unser (Beifall bei der CDU/CSU) Gesundheitssystem auf die Herausforderungen der Zu- kunft auszurichten, und den Weg dorthin haben wir sorg- sam vorbereitet. Mit der Telematikinfrastruktur verfügt Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: das deutsche Gesundheitswesen über eine eigene Daten- Vielen Dank, Herr Kollege. – Die nächste Rednerin ist autobahn für den verlässlichen und sicheren Transport die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Fraktion. von Gesundheitsdaten. (Beifall bei der SPD) Bereits ab dem kommenden Jahr sind die Krankenkas- sen gesetzlich dazu verpflichtet, ihren Versicherten eine Heike Baehrens (SPD): elektronische Patientenakte anzubieten, und das ist auch richtig. Denn sie erleichtert nicht nur die Abläufe im ärzt- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lichen Behandlungsalltag, sondern ermöglicht künftig „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Funda- noch präzisere Diagnosen und individuellere Therapien. ment verweilen“ – das hat Anton Bruckner einmal gesagt. Ich denke, das haben wir mit diesem Gesetz getan, mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem wir das Fundament dafür legen, dass alle Gesund- Dabei können Befunde, Diagnosen und Medikationsplä- heitsdaten der Patienten sicher verwahrt und geschützt ne oder Behandlungsberichte auch in Zukunft ausschließ- bleiben; denn es ist die Basis, um Chancen und Potenziale lich von befugten Personen eingesehen werden und auch technischer und digitaler Innovationen umfassend nutzen nur dann, wenn die Versicherten dem ausdrücklich zuge- zu können. stimmt haben. (Beifall bei der SPD) (B) (D) Meine Damen und Herren, digitale Gesundheitslösun- Das ist auch für die Pflege enorm wichtig. In einigen gen sind die Zukunft. Dank immer mehr Anwendungs- ambulanten Pflegediensten und Heimen gibt es längst möglichkeiten und einer steigenden Zahl von Nutzern echte digitale Leuchtturmprojekte. Aber es gibt unter können wir medizinische Ressourcen künftig noch sinn- den Beschäftigten der Pflege auch viele, die sich voller einsetzen, Fachkräfte entlasten und die Patienten- schwertun im Umgang mit technischen Neuerungen und versorgung insbesondere in der Fläche noch besser orga- digitalen Anwendungen, und das liegt auch an der Sorge nisieren. um die Datensicherheit. Deshalb war es gut, dass wir so (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lange beim Fundament verweilt und es solide gebaut ha- ben. Digitale Lösungen unterstützen uns bei oft aufwendi- gen Behandlungen und Betreuung chronisch kranker Pa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tienten. Telemedizinische Versorgungsangebote leisten Modellprojekte für eine zeitsparende digitalisierte Do- schon heute einen wichtigen Beitrag dazu, die Lebens- kumentation haben gezeigt, wie hilfreich und wertvoll qualität dieser Patienten zu verbessern und Krankenhau- digitale Anwendungen bei der Pflegeprozessgestaltung saufenthalte zu vermeiden. Angebote wie Telemonitoring und auch für die Qualitätssicherung sind. Digitalisierung oder Telecoaching können eine sehr sinnvolle Ergänzung kann das Pflegepersonal von bürokratischem Aufwand zur hausärztlichen Versorgung sein. Ganz besonders entlasten; denn Pflegekräfte benötigen vor allem eines: möchte ich daher an dieser Stelle hervorheben, dass wir mehr Zeit für die eigentlichen Kernaufgaben, für die di- den Krankenkassen mit dem vorliegenden Gesetz endlich rekte Arbeit am Menschen und für Zuwendung. ermöglichen, ihre Versicherten aktiv und gezielt über solche wichtigen Versorgungsangebote zu informieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vor allem während der Coronakrise hat sich gezeigt, Ich freue mich darüber, dass der Deutsche Pflegerat dass Risikopatienten von telemedizinischen Angeboten eine sehr fortschrittliche Positionierung zu diesem Thema und digitalen Gesundheitsanwendungen in besonderem vorgelegt hat. Er hat damit ein starkes Signal gegeben, Maße profitieren. Denn dadurch kann der behandelnde diese Entwicklung aktiv gestalten zu wollen. Sie haben Arzt den Gesundheitszustand seiner Patienten stets im konkrete Vorschläge gemacht, von denen einige hier und Blick haben und im Notfall sofort eingreifen. Wir machen heute in diesem Gesetz beschlossen werden. Und: Der mit dieser Klarstellung deutlich: Eine Information der Deutsche Pflegerat fordert zu Recht Mitwirkung an allen Krankenkassen über lebensrettende Versorgungsangebo- Prozessen ein. te ist keine Werbung. Als Gesetzgeber haben wir mit dieser Regelung Hemmnisse beseitigt und Bremsen ge- (Beifall der Abg. Marianne Schieder [SPD]) 21436 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Heike Baehrens (A) Dieses Angebot muss auf allen Ebenen ernst genommen vorstellbar; telemedizinische Betreuung – weder aus ärzt- (C) werden. Nur wenn die Pflege direkt beteiligt wird, wer- licher noch aus logopädischer Sicht möglich. Selbst vor den praxistaugliche Lösungen dabei herauskommen. fünf Jahren hätte uns die Telemedizin noch vor Schwie- rigkeiten gestellt. (Beifall bei der SPD) Wir erkennen heute: Die Digitalisierung ist in unserem Aber jetzt ist es auch an den Diensten und an den Ein- Alltag angekommen, und sie hat richtig an Dynamik ge- richtungen, tatsächlich diese Möglichkeiten zu nutzen wonnen. Gleichzeitig haben wir erkannt, wo wir besser und sich der Telematikinfrastruktur anzuschließen. Damit werden müssen: bei der Bildungsbetreuung, aber auch bei Pflegekräfte – natürlich immer nur mit Zustimmung der der Nutzung der digitalen Möglichkeiten durch den Öf- zu Pflegenden oder der Patientinnen und Patienten – di- fentlichen Gesundheitsdienst. Diese Themen haben wir rekt auf die benötigten Daten zugreifen können, führen alle im Blick; wir müssen sie im Blick haben. wir einen elektronischen Berufsausweis ein. So wie Ärzte heute schon eine lebenslang gültige Arztnummer haben, Ein Thema bzw. Vorhaben, das wir lange im Blick können dann auch Pflegekräfte zukünftig unkompliziert hatten und heute auf den Weg bringen, ist die langer- mit ihrer Beschäftigungsnummer zeichnen und damit do- sehnte elektronische Patientenakte mit all ihren bereits kumentieren. genannten Einzelprojekten. Was bedeutet das konkret? Ich gebe Ihnen gern ein Beispiel aus meinem Berufsleben Wenn die Datensicherheit in allen Stufen der digitalen als Herzchirurgin. Vor ungefähr 20 Jahren habe ich eine Anwendungen gewährleistet ist, wenn die Pflege Zu- Spezialsprechstunde für Marfan-Patienten aufgebaut. griffsrechte hat, dann bieten sich auch vielfältige neue Diese Patienten leiden an einer Bindegewebsschwäche; Möglichkeiten, um Versorgungslücken zu schließen. Ich es handelt sich um eine chronische Erkrankung. Diese will das am Beispiel der Wundversorgung veranschau- Bindegewebsschwäche betrifft unterschiedliche Organe lichen. Wir haben einen Mangel an speziellen Wundex- in unterschiedlicher Ausprägung. Diese Patienten sah pertinnen und -experten, und gleichzeitig sind es oft pfle- ich mit großen Tüten – es waren Aldi-Tüten; denn das gebedürftige, weniger mobile Menschen, die chronische sind die größten damals gewesen – gefüllt mit einem Wunden haben. Regelmäßige Wundbegutachtung über Packen Röntgenbildern und einem dicken Aktenordner Televisite gibt Patientinnen und Patienten mehr Sicher- mit Arztbriefen und Befunden von Facharzt zu Facharzt heit und spart lange Wege, zum Beispiel in struktur- laufen. Die Röntgenbilder sind mittlerweile immerhin auf schwachen Gebieten. Dafür haben wir wunderbare Bei- CD, was es nicht viel leichter macht, aber den Ordner gibt spiele in den Niederlanden kennengelernt, bis hin zu es noch immer – wenn es gut läuft. Nicht nur, dass diese Smart-Home-Care-Lösungen; da haben wir, glaube ich, Patienten nicht schwer tragen dürfen; es wäre insgesamt hier in Deutschland noch viel vor uns. Aber dafür brau- (B) eine absolute Erleichterung für Behandelnde und Behan- (D) chen wir genau dieses Fundament in Form des Gesetzes, delte gleichermaßen, wenn die individuellen Patientenin- das wir heute beschließen. formationen in einer elektronischen Akte verfügbar wä- Ich denke, es ist gut, dass wir mit diesem Gesetz dieses ren. Fundament heute legen, um Digitalisierung auch für eine Mit ihrer Einführung sind schwierige Fragestellungen bessere pflegerische Versorgung zu nutzen und Pflege- verbunden. So ist in der heutigen Zeit kaum ein sensible- kräfte durch digitale Anwendungen zu entlasten. Lassen res Thema vorstellbar als die Vertraulichkeit der persön- Sie uns gemeinsam auf diesem Fundament weiterbauen! lichen Daten von Patientinnen und Patienten. Die Men- Vielen Dank. schen fragen sich: Ist gesichert, dass beispielsweise eine psychosomatische Erkrankung nicht an die Öffentlichkeit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gerät, sodass mir keine Nachteile daraus entstehen kön- der CDU/CSU) nen? – Ich finde, es gibt eine kaum beachtete positive Seite dieser Fragestellung in Zeiten der Digitalisierung: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Haben wir denn jemals zuvor so intensiv über Patienten- Wir kommen zur letzten Rednerin zu diesem Tages- daten gesprochen? Hat informationelle Selbstbestim- ordnungspunkt: die Kollegin Dr. Claudia Schmidtke, mung in den analogen, papierbasierten Krankenakten ei- CDU/CSU-Fraktion. ne derart herausragende Rolle gespielt? Die Digitalisierung verändert das Empfinden von Pa- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tientinnen und Patienten. Sie ermächtigt uns zu mehr; sie macht uns alle auch skeptischer, kritischer. Das ist eine Dr. Claudia Schmidtke (CDU/CSU): positive Entwicklung, und daher hat meine Fraktion auch Ganz herzlichen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte von Anfang an klargestellt, dass es die Patientinnen und Damen und Herren! Wenn uns die Covid-19-Pandemie Patienten sein müssen, die entscheiden, was mit ihren auch nur eine positive Erkenntnis beschert hat, dann ist Daten geschieht, dass auch, wer überhaupt keinen Zu- es die, was uns die Digitalisierung bereits jetzt bietet; das gang zu digitalen Möglichkeiten hat, keine Nachteile da- hatte der Minister schon angesprochen. Damit meine ich durch haben darf. Deshalb ist das vorliegende Gesetz ein nicht vordergründig die international beachtete Corona- Patientendaten-Schutz-Gesetz, und deshalb trägt es die- Warn-App made in Germany. Wir sollten uns mal vor- sen Namen auch zu Recht, meine Damen und Herren. stellen, wo wir vor 20, 25 Jahren gestanden hätten, wenn uns die Pandemie zu diesem Zeitpunkt erreicht hätte: Ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Homeoffice – kaum praktikabel; Videokonferenzen – un- der Abg. Heike Baehrens [SPD]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21437

Dr. Claudia Schmidtke (A) Die ePA ist ein Meilenstein für unsere Gesundheitsver- Bündnis 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag der (C) sorgung, aber sie ist kein Selbstzweck. Ihr einziger Sinn FDP ist abgelehnt. und Zweck ist der Nutzen für die Patientinnen und Patien- ten. Wir wollen die Gesundheitsversorgung effizienter, Dann machen wir weiter mit der Beschlussempfehlung vor allem aber effektiver bei der Bekämpfung von Krank- des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache heiten machen. Ich verweise gern auf die geschätzten 19/20708. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh- Professorinnen Woopen und Wendehorst und die gesamte lung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags Datenethikkommission, die völlig zu Recht die Politik der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/18946 mit dem ermahnt haben, auch auf die potenzielle Gesundheitsge- Titel „Prozesse im Gesundheitswesen durch Digitalisie- fährdung bei Nichtnutzung der digitalen Möglichkeiten rung modernisieren“. Wer stimmt für die Beschlussemp- hinzuweisen. Wir schaffen die ePA, weil sie Leben rettet. fehlung des Ausschusses? – CDU/CSU, SPD, AfD und Linke. Wer stimmt dagegen? – Die FDP. Enthaltungen? – Das gilt auch für die Nutzungsmöglichkeiten durch die Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist medizinische Forschung und die Universitätskliniken, die angenommen. sich in Coronazeiten als Herzmuskel unserer Krisenab- wehr erwiesen haben. Die Sicherstellung von Interopera- Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss für Ge- bilität, die Nutzung von FHIR als Codierstandard, der sundheit die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Kauf der SNOMED-Lizenz, die Einrichtung des For- Linke auf Drucksache 19/18943 mit dem Titel „Elektron- schungsdatenzentrums und gleichzeitiges Ermöglichen isches Rezept freiwillig und sicher ausgestalten“. Wer der unmittelbaren Datenspende, all das unterstreicht die stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschus- große Bedeutung der Gesundheitsforschung für uns alle. ses? – Das sind die Koalition, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – AfD und Linke. Ent- Das Patientendaten-Schutz-Gesetz stellt die Nutzung haltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist ange- der digitalen Möglichkeiten zum Nutzen der Patientinnen nommen. und Patienten sicher. Es gibt Antworten auf ein neues Bewusstsein der Daten- und damit Patientensicherheit, Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buch- die Sicherstellung von Qualität und Innovationsfähigkeit. stabe d die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Für mich ist es ein Patientenschutzgesetz der digitalen Linke auf Drucksache 19/18944 mit dem Titel „Patien- Zeit. teninteresse voranstellen und gemeinwohlorientierten Gesundheitsdatenschutz einführen“. Wer stimmt für die Ich bitte Sie um Zustimmung. Beschlussempfehlung des Ausschusses? – CDU/CSU und SPD, FDP und die Grünen. Wer stimmt dagegen? – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (B) Die Linke. Enthaltungen? – AfD. Die Beschlussempfeh- (D) ordneten der SPD) lung des Ausschusses ist angenommen.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit unter Buchstabe e die Ablehnung des Antrags der Frak- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aus- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/19137 sprache. mit dem Titel „Patientenorientierung und Patientenbetei- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- ligung in der Digitalisierung im Gesundheitswesen si- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum cherstellen und dezentrale Forschungsdateninfrastruktur Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikin- aufbauen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des frastruktur. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt un- Ausschusses? – Das sind die Koalition, die FDP und die ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- AfD. Gegenprobe! – Die Grünen stimmen dagegen. Ent- sache 19/20708, den Gesetzentwurf der Bundesregierung haltungen? – Die Linke. Die Beschlussempfehlung des auf Drucksachen 19/18793 und 19/19365 in der Aus- Ausschusses ist angenommen. schussfassung anzunehmen. Wer dafür stimmt, den bitte Ich rufe die Zusatzpunkte 39 und 38 auf: ich um das Handzeichen. – Das sind CDU/CSU und SPD. Gegenstimmen? – AfD und FDP und Linke. Enthaltun- ZP 39 Beratung des Berichts des Ausschusses für Inne- gen? – Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist res und Heimat (4. Ausschuss) gemäß § 62 Ab- damit in der zweiten Beratung angenommen. satz 2 der Geschäftsordnung zu den von den Frak- tionen FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE Dritte Beratung GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines … Geset- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Drucksachen 19/14672, 19/20149 (neu) Das sind wieder die Abgeordneten der Koalition. Wer stimmt dagegen? – AfD, FDP und Linke. – Enthaltun- ZP 38 Beratung des Antrags der Abgeordneten Albrecht gen? – Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist Glaser, Tobias Matthias Peterka, Thomas Seitz, damit angenommen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Wahlrechtsreform – Der Weg zu einem kleine- der FDP auf Drucksache 19/20758. Wer stimmt für den ren Bundestag Entschließungsantrag? – Die FDP. Wer stimmt dage- gen? – AfD, CDU/CSU, SPD und Linke. Enthaltungen? – Drucksache 19/20602 21438 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Überweisungsvorschlag: (Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ (C) Ausschuss für Inneres und Heim at DIE GRÜNEN]) Für die Aussprache sind 60 Minuten beschlossen. ist das geltende Wahlrecht zum Risikofaktor geworden. Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Kollege Es folgt zwar jetzt sehr weitgehend dem strengen Propor- Ansgar Heveling für die CDU/CSU-Fraktion. tionalitätsprinzip, einem Kernelement des Verhältnis- wahlrechts; das geschieht aber um den Preis der Unkal- (Beifall bei der CDU/CSU) kulierbarkeit. Wie groß der Bundestag nach einer Wahl wird, ist aufgrund des geltenden Wahlrechts schwer bis Ansgar Heveling (CDU/CSU): gar nicht zu prognostizieren. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist viel Zeit verstrichen, in der wir intensiv über Während der erste Bundestag 1949 noch auf der Grund- Lösungen diskutiert haben, ohne zu Ergebnissen zu kom- lage eines Wahlgesetzes der Militärregierung nach ge- men. trennten Wahlgebieten in den einzelnen Bundesländern gewählt wurde, war es die Aufgabe dieses ersten Deut- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – schen Bundestages, ein Wahlgesetz für die gesamte Bun- Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE desrepublik für die zweite Bundestagswahl zu beschlie- GRÜNEN]: Ja!) ßen. Es heißt aber nicht, dass die Zeit für eine Lösung nun Und, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was ge- gänzlich verstrichen ist. Wir waren immer zu Änderun- schah? Lange Zeit gar nichts. gen bereit, (Konstantin Kuhle [FDP]: Wie heute!) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Denn der Bundestag konnte sich nicht auf ein Wahlgesetz und bei der FDP) einigen. Dabei galt es, fundamentale Grundentschei- und CDU und CSU haben einen Weg für die Wahlrechts- dungen zu treffen. Das Wahlsystem ist nämlich nicht reform aufgezeigt. durch Artikel 38 des Grundgesetzes vorgegeben; Arti- kel 38 normiert lediglich die Grundsätze des Wahlrechts. (Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann Also gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allem die fürwortern und Gegnern des Mehrheits- und des Verhält- CSU!) niswahlrechts. Die Zeit ging ins Land, und schließlich Unser Vorschlag ist doch gar nicht so arg weit vom einigte man sich auf das personalisierte Verhältniswahl- Vorschlag der Oppositionsfraktionen entfernt. (B) recht. (D) (Konstantin Kuhle [FDP]: Wo ist er denn? Wie Und wann einigte man sich darauf? Die Bundestags- sieht der denn aus? – Dr. Konstantin von Notz wahl fand am 6. September 1953 statt. Das dazugehörige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Nur Wahlgesetz datiert auf den 8. Juli 1953. Weniger als zwei knapp 120 Mandate!) Monate vor der ersten Bundestagswahl, auf die es angew- endet werden sollte, hat der Bundestag das Wahlrecht Das gilt auch für das Ergebnis. Nach dem Vorschlag der beschlossen. Keine Sorge: So lange wollen wir nicht war- Opposition gäbe es hier im Plenum 630 Sitze, nach un- ten. serem Vorschlag, nach unseren Berechnungen wären es 632 Sitze. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Oh, oh, oh!) (Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann können Sie auch unseren neh- Dabei waren grundlegende Veränderungen umzusetzen: men!) beispielsweise der Übergang vom Einstimmen- auf ein Zweistimmenwahlrecht und die Festlegung eines einheit- Im Gegensatz zu dem Vorschlag der Opposition werden lichen statt länderspezifischen Wahlgebiets. Man sieht: die Lasten jedoch gleichmäßig und nicht einseitig ver- Wenn man möchte, lassen sich auch kurzfristig umfas- teilt, wird auf föderale Bedürfnisse Rücksicht genommen sende Änderungen des Wahlrechts durchsetzen, sogar und eine moderate und damit für alle tragbare Anpassung fundamentale. des Wahlrechts angestrebt. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Bundestagsabgeordnete müssen für alle Bürgerinnen GRÜNEN]: Ja!) und Bürger noch erfahrbar bleiben. Das stärkt Bürger- nähe und Demokratie. Das bleibt mit einer moderaten Das Wahlrecht von 1953 hat im Übrigen im Grundsatz bis Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf heute gehalten. 280 auch gewährleistet. Dabei geht es übrigens nicht Wer will, der kann. um einen Unterschied zwischen direkt gewählten oder über Liste gewählten Abgeordneten. Beide haben Wahl- Heute stehen wir wieder vor der Frage, ob wir das kreise als Anker und stellen sich üblicherweise jeweils in Wahlrecht ändern müssen. „Ja“ ist die Antwort darauf. einem zur Wahl. Ohne Wahlkreise hätten wir aber ein Unser Wahlrecht hat sich grundsätzlich bewährt. Aber reines Listenparlament. Schauen wir uns an, was das in durch Änderungen, zu denen wir uns auch durch Ent- unseren Nachbarländern, etwa den Niederlanden, bedeu- scheidungen des Bundesverfassungsgerichts veranlasst tet: Dort ist ein Abgeordneter für ganze Provinzen aus der sahen, Nähe überhaupt gar nicht erfahrbar. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21439

Ansgar Heveling (A) Eine Reform des ersten Zuteilungsschritts sichert die Meine Damen und Herren, nach § 21 Absatz 3 Bundes- (C) föderale Struktur unseres Bundesparlaments. wahlgesetz können ab dem 25. März innerhalb der Par- teien Wahlen für Vertreterversammlungen und ab dem (Zuruf des Abg. Stefan Schmidt [BÜND- 25. Juni Nominierungen von Kandidaten für die Bundes- NIS 90/DIE GRÜNEN]) tagswahl 2021 vorgenommen werden. Die SPD weist da- Ohne ersten Zuteilungsschritt wäre die Repräsentanz von rauf hin, dass dies in einigen Wahlkreisen bereits gesche- ganzen Regionen im Bundestag durch unterschiedliche hen sei. Wie in Herrgotts Namen soll das geltende politische Richtungen nicht mehr gewährleistet. Bundeswahlrecht noch geändert werden und sollen ins- besondere Wahlkreise noch neu eingeteilt werden? Im (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Gesetzentwurf der drei kleinen Parteien und nach den Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gedankenspielen der GroKo, die derzeit in stündlichen NEN]) Variationen durch die Luft fliegen, ist jedoch genau das vorgesehen. Eine unlösbare Aufgabe! Chaos auf allen Das wäre ein Verlust für die politische Kultur. Mit einem Rängen. Was machen wir eigentlich hier, und was soll reformierten ersten Zuteilungsschritt werden Überhang- diese Veranstaltung? Es ist Mummenschanz und Irrefüh- mandate teilweise mit Listenmandaten der gleichen Par- rung des Publikums. tei in anderen Ländern verrechnet. Aber es laufen nicht ganze Länder in der Bundesrepublik für eine Partei leer. (Beifall bei der AfD) Und schließlich tragen nicht ausgeglichene Überhang- Die AfD hatte in einem Gesetzentwurf vom 13. No- mandate, deren Zahl deutlich unter dem verfassungs- vember 2019 die Verschiebung der Frist für Kandidate- rechtlich Zulässigen liegen kann, erheblich mit dazu naufstellungen um drei Monate vorgesehen, was verfas- bei, dass der Bundestag nicht weiterwächst. Nicht ausge- sungsrechtlich zulässig gewesen wäre. Das hätte Luft bis glichene Überhangmandate sind in einem engen Rahmen zum September verschafft, um tatsächlich noch eine zulässig, weil das Bundesverfassungsgericht anerkennt, Wahlrechtsreform hinzubekommen. Unser Gesetzesvor- dass das Verhältniswahlrecht bei uns durch personale schlag wurde wie üblich von allen anderen abgelehnt. Elemente durchbrochen wird. Wer sich die entsprechen- Seit Januar 2018 bis heute wurde ergebnislos zwischen den Passagen im Urteil des Verfassungsgerichts anschaut, den Parteien verhandelt. Das ist Beschädigung des Anse- kann klar erkennen, dass es dem Senat wichtig war, dies hens dieses Staates und der Demokratie in Deutschland. festzuhalten. (Beifall bei der AfD) Der erste Deutsche Bundestag hat es uns vorgemacht: Das Wahlsystem eines Landes ist ein Eckpfeiler der De- (B) Man kann das Wahlrecht kurzfristig und zugleich nach- mokratie. Es gibt nicht vieles, was wichtiger ist. (D) haltig ändern. – So lange wollen wir nicht warten. Noch haben wir aber die Zeit für Änderungen. Wir sind dazu Die Wahlrechtsreform 2012, mit der das Verfassungs- bereit. gerichtsurteil von 2011 umgesetzt worden ist, war die Lizenz zum grenzenlosen Zuwachs der Bundestagsman- Vielen Dank. date. Diese 22. Änderung des Bundeswahlgesetzes reiht (Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Schmidt sich ein in die jahrelange Flickschusterei, die den Kon- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange flikt des angestammten Verhältniswahlrechts mit Ele- warten wir jetzt genau? -Tabea Rößner menten einer Mehrheitswahl nicht löst. Wer Überhang- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war jetzt mandate für Direktkandidaten zulässt, muss auch wenig überzeugend!) Ausgleichsmandate gewähren, um dem „Grundcharakter des Verhältniswahlrechts“, wie das Bundesverfassungs- gericht es formuliert, gerecht zu werden. Damit ist der Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Weg frei für die demokratisch höchst fragwürdige Auf- Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege blähung des Bundestages. Die Wahl 2017 erbrachte Albrecht Glaser. 111 Mandate mehr als regelhaft im Gesetz vorgesehen. Das sind fast 20 Prozent . Die Stimmbasis für alle Abge- (Beifall bei der AfD) ordneten wurde damit verwässert.

Albrecht Glaser (AfD): Eine Lösung gelingt nur, wenn man das Leitprinzip der Verhältniswahl über das Prinzip der partiellen Mehrheits- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- wahl stellt, meine Damen und Herren. Überhangmandate ren! dürfen gar nicht erst entstehen, dann gibt es auch kein Die Zeit drängt, weil sich das Zeitfenster für eine Problem mit Ausgleichsmandaten. Dazu gibt es nur einen Änderung ... für die kommende Wahl im Herbst Weg, nämlich die Begrenzung der Zahl der Direktman- schließt. date auf die Zahl der Mandate, die jeder Partei nach dem Verhältniswahlergebnis zusteht. Das schreibt dpa vor Stunden. Die AfD hatte im November 2018 ein Konzept zu einer In Fraktionskreisen wird davon ausgegangen, dass solchen Lösung vorgelegt. Es fand reflexhaft Ablehnung. eine Reduzierung der Wahlkreise noch möglich sei, Nachdem 100 Staatsrechtslehrer im September 2019 die wenn sie ... in den ersten Sitzungswochen nach der überfällige Reform angemahnt hatten, hat die AfD am Sommerpause beschlossen wird. 16. Oktober 2019 ihr Konzept als Sachantrag in dieses 21440 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Albrecht Glaser (A) Plenum eingebracht. Es führt die Größe des Bundestages nähe eines direkt gewählten Abgeordneten. Insgesamt (C) von derzeit 709 auf die festgelegten 598 Mandate zurück also keine Lösung, sondern ein Alibi. und verkleinert das Parlament damit um 111 Sitze. Dieser Antrag wurde am 14. November 2019 erwartungsgemäß Das Bild der GroKo, was Lösungskonzepte angeht, ist abgelehnt. Polemisiert wurde gegen ihn auf zweifache hanebüchen. Die CDU spricht von Kappungen, von Kap- Weise. pungen von Direkt- wie Listenmandaten, die beim AfD- Modell noch als Teufelszeug galten. Erstens. Man könne einem gewählten Direktbewerber (Marc Henrichmann [CDU/CSU]: Informa- das Mandat nicht wegnehmen. Sie hören das noch durch tionsdefizit!) den Saal klingen. Dies geschieht jedoch gar nicht. Es wird vielmehr zur Erringung eines Direktmandates eine Und die SPD will das Prinzip „Jedem Bürger eine Stim- Zusatzbedingung aufgestellt, die es zum Beispiel im me“, was jeder Demokratie eigen ist, zerstören und statt- baden-württembergischen Landtagswahlrecht seit Jahr- dessen Geschlechterquoten einführen. Dies alles ist die zehnten gibt. Es kommen die Bewerber nicht zum Zuge, politische Niederwildjagd, die wir aus vielen anderen die innerhalb eines Bundeslandes im Kreise der politischen Gebieten in diesem Hause kennen. Bewerber der eigenen Partei die relativ schlechtesten Er- Fazit: Eine Problemlösung, die aus Zeitgründen ohne- gebnisse erzielen. Dies gilt natürlich nur dann, wenn in hin nicht mehr möglich ist, wird gar nicht gewollt. Die diesem Bundesland Überhangmandate für diese Partei Beibehaltung des jetzigen Zustandes sichert Mandate und überhaupt entstehen würden ohne diese Zusatzbedin- soll daher erhalten bleiben. gung. Zu bedenken ist dabei, dass Bewerber mit einer relativen Mehrheit von zum Beispiel 25 Prozent – Zah- len, die auf diesem Niveau spielen, kennen wir –, die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ohne diese Einschränkung einen Wahlkreis gewinnen Kommen Sie bitte zum Schluss. würden, eine Wählerschaft von 75 Prozent in ihrem Wahlkreis gegen sich haben. Albrecht Glaser (AfD): Zweitens. Die auf diese Weise vorgenommene Begren- Der letzte Satz, Herr Präsident. – Den Rock des Ge- zung der Zahl der Direktmandate sei verfassungswidrig. meinwohls, wie die Staatsrechtslehrer so schön gefordert Diese Meinung wird gelegentlich geäußert und auf eine haben, zieht sich die GroKo nicht an. Ihr ist das eigene angebliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- Hemd näher! richts gestützt. Namhafte Experten aus der Wissenschaft Herzlichen Dank. sehen ein solches Problem nicht. Auch mehrere Gutach- (B) ter der Anhörung zum Wahlrechtsvorschlag der kleinen (Beifall bei der AfD) (D) Parteien wenden sich ausdrücklich gegen diese Sicht und zuletzt eine wissenschaftliche Begutachtung durch den Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages vom 17. De- Der Kollege Carsten Schneider hat das Wort für die zember 2019. Fraktion der SPD. Dieser Bundestag wäre also gut beraten, wenn er sich (Beifall bei der SPD) eine solche Lösung zu eigen machen würde, die hier als Zusatzpunkt 38 von der AfD auf die Tagesordnung ge- Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): setzt worden ist. Dann könnten wir uns alles andere Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das sparen. Wahlrecht ist das vornehmste Recht der Wähler in (Beifall bei der AfD) Deutschland, über Politik zu bestimmen, über die Zusam- mensetzung des Bundestages, der Abgeordneten, die sich Der Gesetzentwurf der kleinen Parteien, meine Damen auch heute hier versammelt haben. Das Wahlrecht ist und Herren, der im Ausschuss von der GroKo seit Wo- auch ein Recht, mit dem man sehr vorsichtig umgehen chen aufgehalten wird, ist keine prinzipielle Lösung des sollte, insbesondere was Veränderungen angeht. Problems. Er wurde bei der Sachverständigenanhörung auch als mäßig bewertet. Er sei zwar verfassungsgemäß, Wir haben es mit einer Größe des Bundestages von aber ansonsten eigentlich nicht bedeutend. Im geltenden 709 Abgeordneten und unter Pandemiebedingungen im Wahlrecht wurden lediglich zwei Zahlen verändert – eine letzten Vierteljahr geschafft, Handlungsfähigkeit zu be- intellektuell eher mäßige Leistung. Statt 598 soll der weisen, Antworten zu geben, die dieses Land brauchte. Bundestag in Zukunft 630 Mandate haben. Dadurch soll Sie betrafen sowohl den Gesundheitsschutz als auch die die Zahl der Überhangmandate sinken. Das ist genauso ökonomischen Maßnahmen. schlau, wie wenn man die Promillegrenze im Straßenver- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kehr erhöhen würde, um damit weniger alkoholbedingte Das ist so durchsichtig!) Verkehrsdelikte zu haben. Das gilt auch für diese Woche; gerade heute Morgen (Beifall bei Abgeordneten der AfD) haben wir den langfristigen Kohleausstieg beschlossen. All das geht. Zudem soll die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 gesenkt werden. Die dann entstehenden Mammutwahl- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kreise stehen offensichtlich im Widerspruch zur Bürger- NEN]: Knapp aber!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21441

Carsten Schneider (Erfurt) (A) Und deswegen will ich klar sagen: Eine Veränderung des Bei der besonderen Situation des Auseinanderklaffens (C) Wahlgesetzes, die auch wir als SPD-Fraktion anstreben, zwischen Zweitstimmenergebnis und Anzahl der direkt die eine Deckelung des Wachstums des Bundestages vor- gewählten Abgeordneten kann es sein, dass auch dann der sieht – wir schlagen dies als einzige Fraktion so vor –, ist Bundestag auf deutlich mehr als 700 Abgeordnete an- eine Ergänzung zu einem bewährten politischen Wahl- wächst. Auch das muss die Opposition, glaube ich, zu- system, das die Demokratie in Deutschland stark gemacht mindest zur Kenntnis nehmen. Aus diesem Grund ist das hat. nicht unser Modell. (Beifall bei der SPD) Wir sind für die Beibehaltung der 299 Wahlkreise zur Bundestagswahl 2021. Teile der Opposition haben einen Vorschlag einge- bracht, der eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise (Konstantin Kuhle [FDP]: Okay!) um 50 vorsieht, ausgehend von 299 Wahlkreisen. Das ist eine sehr deutliche Reduzierung der Anzahl bzw. eine Das ist schon immer unsere Position gewesen. Das ist Vergrößerung der Wahlkreise. Diese würde aber auch nichts Neues, Herr Kuhle. Wir sind dafür, dass der – auch das muss man mit betrachten – einen größeren Bundeswahlleiter weiterhin – er hat schon damit begon- Abstand zwischen Gewählten und Wählern zur Folge nen – Informationen an die Parteien verschicken kann, haben. Denn ein um fast ein Drittel größerer Wahlkreis dass Direktkandidaten zur nächsten Bundestagswahl auf- bedeutet auch weniger Repräsentanz. Aus diesem Grund gestellt werden können. sind wir als SPD-Fraktion nicht für diese Reduzierung (Zuruf der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/ um 50, sondern wir sind dagegen. Wir lehnen dies ab. DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Katja Denn insbesondere die Frage der Repräsentanz, der Nähe Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um der Bevölkerung zu den Abgeordneten ist für uns zentral. wie viel wollt ihr denn reduzieren? Die CDU Deswegen setzen wir nicht bei den Wahlkreisen an. schlägt 19 vor!) – Ja, die CDU hat sich diese Woche geeinigt. Das haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch wir zur Kenntnis genommen. der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wo denn dann?) (Konstantin Kuhle [FDP]: Was sagen Sie denn – Ja, ich habe Ihren Vorschlag doch gewürdigt. Aber es ist dazu, zu diesen Vorschlägen? – Dr. Konstantin nicht unserer. von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagen Sie dazu? Was machen Sie denn jetzt?) Es gibt zwei weitere Möglichkeiten. Sie können Über- (B) (D) – Einen Moment. Es sind so viele Zurufe hier, Herr Präsi- hangmandate nicht unbegrenzt wegfallen lassen – es gibt dent. Auf welchen soll ich eingehen? – Der Vorschlag, ein entsprechendes Urteil des Bundesverfassungsge- den die Unionsfraktion eine Woche vor der parlamentari- richts –, aber für bis zu, sagen wir, 80 Überhangmandate schen Sommerpause beschlossen hat, liegt uns als Frak- wäre dies möglich. Auch das würde zu einer Dämpfung tion bisher nicht schriftlich vor, und das, obwohl er eine führen. Es würde aber auch zu einer Verzerrung des Wah- sehr zentrale Frage des Wahlrechts betrifft. lergebnisses an sich führen, weil die Zweitstimme die relevante Stimme für die Zusammensetzung des Deut- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schen Bundestags und die Abbildung des Wählerwillens FDP und der Abg. Beatrix von Storch [AfD] – ist. Wir wollen keine Wahl haben, bei der der Wähler- Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wille durch Überhangmandate quasi nicht abgebildet Das ist nicht unser Problem!) wird. Deswegen müssen Sie davon ausgehen, dass, wenn Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) jetzt eine Bewertung von mir wollen, ich Ihnen nur sagen kann, dass wir als SPD-Fraktion über eine am Dienstag- Deswegen findet auch dieser Vorschlag nicht unsere Zu- abend um 21 Uhr oder 22 Uhr getroffene Entscheidung stimmung. der Unionsfraktion – das kann sie gern machen – nicht am Wir wollen eine Begrenzung des Bundestages – wir Mittwochmorgen im Innenausschuss entscheiden. bleiben bei der Regelgröße von 598 – auf maximal (Zuruf des Abg. Dr. Konstantin von Notz 690 Abgeordnete. Dieser Vorschlag liegt Ihnen vor; den [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) kennen Sie. Wir sagen: Wenn es Überhangmandate in einem Bundesland gibt, die nicht durch Zweitstimmen Unsere Entscheidung steht seit vier Monaten fest. der jeweiligen Partei gedeckt sind, dann wird der Wahl- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergeb- nis nicht in den Deutschen Bundestag einziehen. Das ist Wir wollen das Wahlsystem in Deutschland erhalten, wir unser Vorschlag für das Jahr 2021. Darüber reden wir hier wollen es aber im Gegensatz zu allen anderen Fraktionen heute. mit einer festen Obergrenze des Deutschen Bundestages versehen. Auch der Vorschlag der Opposition sieht das Das garantiert die Repräsentanz der Bevölkerung. Das nicht vor; ich muss das so dezidiert sagen. garantiert letztendlich auch eine wirklich feste Größe des Deutschen Bundestages. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele wollen Sie?) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 21442 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Carsten Schneider (Erfurt) (A) Das garantiert auch, dass wir uns hier im Bundestag nicht der Wahlrechtskommission für Die Linke die Frage der (C) in der Situation wiederfinden, dass der Bundestag sehr Parität angesprochen, weil uns das ein wichtiges Anlie- viel größer ist als die ursprünglich geplante Regelgröße gen ist. Ich habe außer von den Grünen keine Unterstüt- von 598 Abgeordneten. zung bekommen. Nur um eine historische Wahrheit klar- zustellen. Von daher: Für das Jahr 2021 haben wir dies so fest- gelegt, und das schon vor vier Monaten. Dieser Vorschlag Danke. hätte auch schon gemeinsam beraten werden können. Es hat bei der Unionsfraktion ein bisschen länger gedauert, (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- aber gut, jeder hat seine eigene Meinungsbildung. NIS 90/DIE GRÜNEN) Für 2025 setzen wir zwei Punkte an. Unseren Vor- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schlag für 2021 haben Sie, glaube ich, verstanden: Deckel bei 690 Abgeordneten. Mit Blick auf 2025: Einsetzung Darauf muss man nicht antworten, wenn man nicht einer Kommission, möchte. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- Wir haben schon eine Kommission! Die ist fer- NIS 90/DIE GRÜNEN) tig!) Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kolle- was in dieser Legislaturperiode schon beschlossen wird. ge Konstantin Kuhle. In dieser Kommission soll das Wahlrecht, das Wahlsys- (Beifall bei der FDP) tem in Deutschland, insbesondere unter Berücksichti- gung der Veränderungen, besprochen werden. Konstantin Kuhle (FDP): (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon Das ist alles nicht glaubwürdig!) bemerkenswert, was der Kollege Schneider hier gerade am Rednerpult erklärt hat. Auch dort nehmen wir die Möglichkeit durchaus in den Blick, über das Modell einer – geringen – Reduzierung (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Wahlkreise vorzugehen. Allerdings!) (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Carsten Schneider hat gerade hier im Deutschen Bundes- Ist Ihnen das nicht peinlich?) tag den Vorschlag der Unionsfraktion zur Reform des Wahlrechts abgeräumt. Es wird bei der Bundestags- (B) Nichtsdestotrotz ist der zweite und entscheidende wahl 2021 – hat er gerade hier gesagt – keine Reduzie- (D) Punkt für uns, dass wir im 101. Jahr nach Einführung rung der Wahlkreise geben. Ein wesentlicher Teil der des Frauenwahlrechts insbesondere darauf achten, dass Pressemitteilung aus der Unionsfraktion ist eine Reduzie- die Listen der jeweiligen Parteien quotiert sind. rung der Wahlkreise. Damit ist die Sache vom Tisch. (Beifall bei der SPD) Damit ist die Sache tot. Auch dieser Vorschlag findet sich in den Oppositions- (Beifall bei der FDP) modellen nicht; ich muss das so sagen, liebe Kolleginnen Damit bleibt es dabei: Der einzige heute beschlussfähige und Kollegen der Grünen und Linken. Vorschlag kommt von Grünen, Linkspartei und FDP. Von daher: Ich wünschte, wir wären an dieser Stelle (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem schon weiter. Es hat zumindest bei unserem Koalitions- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) partner ein wenig gedauert mit der Meinungsbildung. Wir werden jetzt in die Konsensfindung gehen. Diese Debatte Er sieht eine Reduzierung der Wahlkreise vor. Er be- trägt sicherlich dazu bei, die Argumente noch einmal vor- grenzt den Anstieg der Gesamtsitzzahl, und er führt am zutragen. Ich freue mich auf die Gespräche. Ich hoffe, Ende dazu, dass es schon bei der Bundestagswahl 2021 dass wir im September eine Entscheidung treffen können. zu einer Reduzierung der Gesamtzahl der Abgeordneten kommen wird. Vielen Dank. Meine Damen und Herren, es ist ja spannend, über (Beifall bei der SPD) welche Themen sich dieses Haus hier immer wieder un- terhält. Wir sprechen jetzt zum wiederholten Male über Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: das Wahlrecht. Eigentlich – das ist auch die Auffassung Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege vieler Menschen im Land – gibt es ja wichtigere Themen. Straetmanns, Fraktion Die Linke. Gerade in der Coronazeit sollten wir vielleicht darüber sprechen, wie viele Menschen Probleme mit der Kinder- (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Der spricht betreuung haben, wie viele Menschen sich am Bildungs- doch noch!) system abarbeiten, weil da nicht genügend Digitalisie- rung betrieben wird. Wir sollten darüber sprechen, wie Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): viele Menschen sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz ma- Vielen Dank. – Ich will nur einen Punkt kurz klarstel- chen. Wir sollten darüber sprechen, wie viele Betriebe len, weil Sie ihn direkt angesprochen haben. Das geht schon schließen mussten, darüber, was passiert, wenn relativ schnell und einfach. Ich habe in der ersten Sitzung die Pflicht zur Stellung von Insolvenzanträgen wieder Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21443

Konstantin Kuhle (A) besteht. Stattdessen beschäftigt sich dieses Parlament Wahlrechts einfach noch mal eine Aufstellungsversamm- (C) zum wiederholten Male mit sich selbst. Dafür haben die lung machen: Bürgerinnen und Bürger kein Verständnis mehr. (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Bei 19 Wahl- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ kreisen muss doch nicht jeder Wahlkreis neu DIE GRÜNEN sowie des Abg. Friedrich zugeschnitten werden!) Straetmanns [DIE LINKE]) Man kann doch in Coronazeiten keinem erzählen, dass Deswegen müssen wir dieses Thema heute abräumen, man in Wahlkreisen zwei Aufstellungsversammlungen indem noch vor der Sommerpause ein Gesetzentwurf be- machen muss, schlossen wird, der eine Reduzierung der Zahl der Mit- glieder des Deutschen Bundestages bewirkt. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ich will das einmal ganz deutlich sagen: Es gibt in allen LINKEN und der Abg. Dr. Nina Scheer [SPD]) Fraktionen hier im Haus Menschen, die ernsthaft an einer für die man zweimal die Stadthalle oder die Sporthalle Reform des Wahlrechts arbeiten. Mein Dank geht aus- mieten muss. Das ist eine Farce; es ist eine reine Show, drücklich auch an die Kolleginnen und Kollegen in der die hier aufgeführt wird, weil Sie den Eindruck erwecken SPD, in der CDU/CSU, die das ernst meinen. Aber ich wollen, Sie würden vor der Sommerpause am Wahlrecht habe mal eine Frage: Wo waren Sie eigentlich die letzten noch was drehen. zwei Jahre? In Wahrheit läuft es der SPD doch eiskalt den Rücken (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem runter, weil Sie von der Union diese Pressemitteilung, die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) überhaupt nicht beschlussfähig ist, auf den Weg gebracht Wo waren Sie eigentlich seit der Bundestagswahl 2013, haben und die SPD sich jetzt dazu verhalten muss. Jetzt seit der dieses große Thema besteht? hat sie gesagt: Wir wollen das nicht. Das, was jetzt vorgelegt worden ist, ist zu wenig, und Aber wir sind in einer Situation, in der am Ende nur ein es kommt zu spät. Es kommt zu spät, weil es keine Druck- einziger Gesetzentwurf beschlussfähig ist; das ist der Ge- sachennummer gibt. Es ist hier gerade gesagt worden, es setzentwurf von der FDP, von den Grünen und von der könnte möglicherweise noch ausreichen, das Ganze in Linkspartei. Er sollte heute beschlossen werden. Wir soll- der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause zu be- ten ihn heute hier gemeinsam auf den Weg bringen. schließen. Wie soll das eigentlich funktionieren? Im Re- gelverfahren brauchen wir zwei Wochen. Wir könnten (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem (B) das so machen wie bei der Coronagesetzgebung. Aber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) glauben Sie wirklich, dass die Opposition da mitmacht, Ich will aber gerne noch mal was dazu sagen, was in im Eilverfahren nach der Sommerpause innerhalb einer dem Nichtvorschlag aus der Unionsfraktion – denn es ist Woche eine Reform des Wahlrechts zu beschließen? Das ja nur ein Einigungskorridor; es gibt keine Drucksachen- ist doch unwürdig für dieses Haus. Das müssen wir jetzt nummer; es liegt kein Gesetzentwurf vor – inhaltlich vor der Sommerpause beschließen. drinsteht. Es steht drin, dass am Ende eine Zahl von sieben Überhangmandaten nicht ausgeglichen werden (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem soll. Das bedeutet am Ende nichts anderes, als dass der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nächste Deutsche Bundestag nach Ihrer Auffassung Wir dürfen es nicht weiter auf die lange Bank schieben, so wie es hier bisher gemacht wurde. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts!) Es ist nicht nur zu spät, weil wir nach der Sommer- nicht das Wahlergebnis repräsentieren, sondern dass es zu pause überhaupt keine Zeit mehr haben. Es ist auch zu einer Verzerrung der Zusammensetzung des Bundestages spät, weil in einzelnen Wahlkreisen schon Kandidatinnen im Vergleich zum Wahlergebnis kommen soll. und Kandidaten aufgestellt werden. Der Parlamentari- sche Staatssekretär Marco Wanderwitz hat sich in seinem (Michael Frieser [CDU/CSU]: Deswegen emp- Wahlkreis schon aufstellen lassen. fehlen wir die Lektüre! – Gegenruf des Abg. Wir haben also eine Fraktion im Deutschen Bundestag, Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Genau! Lesen die erzählt, sie würde mit ihrem Vorschlag einen Neuzu- Sie mal das Bundesverfassungsgerichtsurteil!) schnitt der Wahlkreise für 2021 anpeilen, und parallel Und das ist für die demokratische Opposition in diesem dazu lassen sich einzelne Mitglieder dieser Fraktion in Haus nicht akzeptabel. ihrem Wahlkreis schon aufstellen. Wen wollen Sie eigent- lich verschaukeln? Das ist doch kein ernsthafter Vor- (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem schlag. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Und dass das Bundesverfassungsgericht sagt, dass im (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem alten Wahlrecht 15 Mandate hinzunehmen sind, heißt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) doch nicht, dass im neuen Wahlrecht sieben gehen müs- Und wenn Sie dann ernsthaft sagen, wir müssten bei sen. Das ist ein Schluss, den man so aus der Entscheidung den Wahlkreisen, in denen jetzt über den Sommer schon des Bundesverfassungsgerichts einfach nicht ziehen Kandidaten aufgestellt werden, nach einer Reform des kann. 21444 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Konstantin Kuhle (A) (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Denken Sie Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): (C) über die Grundsätze mal nach!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Ich kann mich den Ausfüh- Dieser Schluss ist unzulässig; er ist auch undemokratisch, rungen von Herrn Kuhle vollumfänglich anschließen. Es und er setzt das Wahlrecht unter das Risiko, wieder vom ist alles zutreffend, was ausgeführt wurde. Bundesverfassungsgericht kassiert zu werden. Dann ha- ben wir diese Diskussion in der nächsten Wahlperiode Mehr als ein Jahr Untätigkeit, sture Blockadehaltung des Deutschen Bundestages wieder, und das wäre dieses und blinder Aktionismus auf den allerletzten Drücker: So Hauses unwürdig, und es wäre im Hinblick auf die drin- lässt sich das fadenscheinige Vorgehen der Union bei der gend erforderliche Reform des Wahlrechts unwürdig. Wahlrechtsreform zusammenfassen.

Meine Damen und Herren, wie gesagt: Es gibt hier in (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- allen Fraktionen Menschen, die an einer ernsthaften Re- ten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE form in der Sache interessiert sind. Und so hat sich mein GRÜNEN) direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter Thomas Schauen wir uns das im Detail einmal an. Im Innen- Oppermann ja schon dazu bekannt, dass er heute für ausschuss vertagen die Koalitionsfraktionen den Tages- den Entwurf von FDP, Grünen und Linken stimmen will. ordnungspunkt wegen angeblichen Beratungsbedarfes. Über ein Jahr lang haben wir aber in der Wahlrechtskom- (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem mission darüber reden wollen. Fast ein weiteres Jahr liegt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Gesetzentwurf von Linken, FDP und Grünen auf dem Da haben wir uns gedacht: Das ist ja super; dann müssen Tisch. Wir haben es aber auch informell versucht. Wir wir den auch zur Abstimmung stellen; denn sonst kann ja haben es auf der Fraktionsvorsitzendenebene versucht. Thomas Oppermann und können auch die Kollegen aus Wir verschwenden immer und immer wieder unsere wert- der Union, die zwischenzeitlich gesagt haben, dass sie volle Debattenzeit hier im Bundestag, weil Sie jeden dafür stimmen, das gar nicht wahrmachen. – Wir wollten Fortschritt und Austausch verhindern. Und jetzt, nach das machen, aber dann haben Sie den im Innenausschuss alledem, haben Sie Beratungsbedarf. Ist Ihnen das nicht des Deutschen Bundestages abgesetzt. peinlich, liebe Kollegen von der Union?

Jetzt haben wir uns was einfallen lassen, wie man das (Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem Ganze heute doch noch zur Abstimmung bringen kann. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von Deswegen werden wir heute beantragen, direkt nach die- der CDU/CSU: Nein!) ser Debatte in die zweite Lesung und in die Abstimmung Dass Sie von CDU und CSU Beratungsbedarf hatten, (B) (D) einzutreten, damit Thomas Oppermann für den Gesetz- das lässt sich ja an der letzten Fraktionssitzung am Diens- entwurf von Linken, Grünen und FDP stimmen kann tag, an den über 50 Wortmeldungen dort ablesen. Kurz vor der Sommerpause kommen Sie tatsächlich auf die (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Idee, zum ersten Mal intern über die Wahlrechtsreform BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu sprechen. Ganz ehrlich, das wäre schon längst fällig gewesen. und sich gemeinsam mit allen Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, die an einer ernsthaften Reform des Es braucht eine Wahlrechtsreform. Das sehen wir; das Wahlrechts interessiert sind, daran beteiligen kann, dass sehen die Menschen in diesem Land, die mit ihrem hart wir diese Reform hinbekommen. verdienten Geld und ihren Steuern dieses Parlament fi- nanzieren. Und dafür müssen wir als Demokratinnen und Das wäre das richtige Zeichen vor der Sommerpause; Demokraten liefern, auch wenn vielen von Ihnen Ihre denn für viele Menschen in diesem Land ist die Frage, ob Diäten ja scheinbar nicht reichen, wie es der Kollege das Parlament in der Lage ist, sich selber zu reformieren, Amthor kürzlich bewies. Stattdessen spielen Sie hier tak- nicht die wichtigste Frage in ihrem Leben, aber ein Sym- tische Spielchen. Ich muss Ihnen ganz deutlich sagen, bol dafür, wie reformfähig die demokratischen Strukturen dass mich das als Demokrat schwer enttäuscht. in unserem Land insgesamt sind. Deswegen haben die Menschen in diesem Land das legitime Interesse daran, (Beifall bei der LINKEN) dass der Bundestag das heute, vor der Sommerpause, be- Wären wir Linke gemeinsam mit FDP und Grünen in schließt. Wir bitten um Unterstützung und freuen uns dieser Sache nicht beharrlich geblieben, Sie hätten letzt- über Ihre Zustimmung. lich gar nichts unternommen. Ein Bundestag mit 850 Ab- Vielen Dank. geordneten scheint Ihnen durchaus recht zu sein, weil weniger Prozente dann nicht automatisch weniger Man- (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem date und somit weniger Geld bedeuten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In den Gesprächsrunden, die Sie mit uns geführt haben, sind Sie nie über bloße Gedankenspiele hinausgegangen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Nicht mal auf konkrete Berechnungen wollten Sie von Jetzt ist der nächste Redner der Kollege Friedrich der CSU sich einlassen. Immer und immer wieder haben Straetmanns, Fraktion Die Linke. Sie unseren Vorschlag, die Anzahl der Wahlkreise zu reduzieren, zurückgewiesen. Vor rund einem Monat ha- (Beifall bei der LINKEN) ben Sie dann die Anpassung der Wahlkreise hier verab- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21445

Friedrich Straetmanns (A) schiedet, die aufgrund Bevölkerungszu- und -abnahme in (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Ach, (C) verschiedenen Kreisen nötig war – ein rein technischer Quatsch!) Vorgang, aber mit sehr viel Arbeit für die Verwaltung verbunden. Ich möchte Ihnen dazu ein paar Dinge sagen. Der Vor- schlag verhindert noch nicht mal das Schlimmste: die Herr Frieser von der CSU – ich kann ihn jetzt leider Aufblähung des Bundestages; er würde nur eine geringe- nicht sehen – re Reduzierung aus unserer Sicht verursachen. Das müss- ten Sie uns aber bitte mal schwarz auf weiß mit Berech- (Michael Frieser [CDU/CSU]: Mit Brille!) nungen präsentieren. Aber auch dazu haben Sie sich hat uns damals an dieser Stelle hier noch vorgeworfen, bisher nicht verstehen können, vielleicht, weil Sie nicht wir würden leichtfertig über solche Neuzuschnitte reden. wollen – das wäre problematisch –, vielleicht aber auch, weil Sie es schlichtweg nicht können; das würde ich für (Michael Frieser [CDU/CSU]: Ja! „Leichtfer- äußerst bedenklich halten. tig“ ist an dieser Stelle genau das richtige Wort!) (Beifall bei der LINKEN) Kurze Zeit nachdem dieser Vorgang für die Wahl 2021 in Beides ist auf jeden Fall ein Armutszeugnis. trockene Tücher gepackt ist, fällt Ihnen plötzlich ein: Alle reden über weniger Wahlkreise und weniger Mandate; Doch wir müssen gar nicht großartig Kaffeesatzleserei bezüglich der Größe des Bundestages nach Ihrem Vor- vielleicht sollten wir da mal was machen. schlag betreiben. Ich habe es gerade gesagt: Er ist aus (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Wollen Sie meiner Sicht verfassungswidrig. Das Urteil des Bundes- denn nun, dass wir was machen, oder nicht?) verfassungsgerichts von 2012, das diese Frage aufgewor- fen hat, hat das nur akzeptiert als Obergrenze bei einer Auf einmal bewegen Sie sich. Das hätten Sie schon vor unerwünschten Verzerrung eines Wahlergebnisses. Was einem Dreivierteljahr haben können, wenn Sie sich ein- Sie vorhaben, ist eine absichtliche Begünstigung Ihrer fach mal ernsthaft mit unserem Vorschlag auseinanderge- Fraktion bzw. Ihrer Parteien, der CDU und der CSU. setzt hätten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem SES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist aus meiner Sicht und nach meiner Interpretation Trotzdem hat meine Fraktion, haben die FDP und die dieses Urteils ausgeschlossen; (B) Grünen Ihnen immer wieder die Hand ausgestreckt und (D) signalisiert, dass wir gesprächsbereit sind – ergebnislos! (Beifall bei der LINKEN) Nun, kurz vor der Sommerpause, verfallen Sie in blin- denn das Urteil weist darauf hin, dass das Zweitstimmen- den Aktionismus und brillieren als Chaostruppe. Es wer- ergebnis korrekt widergespiegelt werden muss in der den plötzlich neue Vorschläge aus dem Hut gezaubert, Sitzzusammensetzung des Bundestages. interne Briefe geschrieben, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob sie zuerst den Absender oder zuerst die Presse (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- erreicht haben. Dann schreibt das Innenministerium ten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE merkwürdige Gutachten zu – das ist doch verrückt – noch GRÜNEN) nicht einmal vorliegenden Vorschlägen des Koalitions- partners. Der Innenminister bzw. das Innenministerium Wir werden da nicht mitmachen. behauptet dann, dass diese Vorschläge der SPD nicht ver- Ich komme zum Ende. Dass Sie dieses Trauerspiel hier fassungsgemäß seien. Zur Verfügung wird dieses Gutach- aufführen, haben allein Sie von der Union zu verantwor- ten aber keinem von uns und, ich glaube, auch nicht der ten. Ich bin gespannt, mit welchen Absurditäten Sie uns SPD gestellt. Das gesamte Verhalten von Union und nach der Sommerpause noch beglücken werden. Ich be- SPD – diese muss ich hier allerdings wieder miteinbe- fürchte, dass Sie uns wieder für teuer Geld aus der Som- ziehen – bei einem zentralen Thema wie dem Wahlrecht merpause holen. Wenn wir dann aber kommen, dann ist in keiner Weise seiner Ernsthaftigkeit und Bedeutung können wir gerne auch einen neuen Innenminister verei- angemessen. digen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Vielen Dank. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der FDP) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Mich würde aber eher mal die Einschätzung der ge- ten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE samten Koalition zu dem Kompromiss interessieren, der GRÜNEN) in der Unionsfraktion getroffen wurde. Wir wissen nicht viel darüber. Aber der Vorschlag mit den nicht auszug- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: leichenden Überhangmandaten, die Idee, mit der Sie von Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann, Bünd- der Union schon seit Langem kokettieren – jetzt sind es nis 90/Die Grünen. nicht mehr 15, sondern auf einmal nur noch 7 –, ist erkennbar verfassungswidrig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 21446 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen, was Sie wollen. Und zu beidem sind Sie nicht in der (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Lage, meine Damen und Herren. Was ist das denn? ren! Das, was hier von Union und SPD aufgeführt wird, ist ein Trauerspiel. Es ist verantwortungslos und zeigt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, beispiellos die Handlungsunfähigkeit dieser Koalition. bei der FDP und der LINKEN) Wir alle tragen doch Verantwortung, meine Damen (Widerspruch bei der SPD) und Herren. Wir sind alle verantwortlich für unsere De- Meine Damen und Herren, das könnte auch unter der mokratie, für das Ansehen dieses Hauses. Es ist unsere Überschrift „… denn sie wissen nicht, was sie wollen“ Pflicht, uns Gedanken zu machen über die Arbeitsfähig- stehen. keit dieses Hauses. Und ich sage Ihnen: Es ist auch unsere Pflicht, hier nicht dauernd über irgendwelche verrückten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ideen zur Einführung des Grabenwahlrechts zu sprechen. bei der FDP und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Deshalb tun Sie nichts. bei der FDP und der LINKEN) Die einen sprechen von Beratungsbedarf – interes- Was bieten wir denn für ein Bild, wenn wir jetzt nach sant –, und die anderen sprechen davon, eine neue Wahl- den großen externen Experten rufen, die uns wieder be- rechtskommission einsetzen zu wollen. Okay, wir haben raten und uns sagen sollen, was wir machen sollen? Alle jetzt Juli 2020. Nach meinem Wissen findet die Wahl im Vorschläge zum Wahlrecht liegen auf dem Tisch. Wir September 2021 statt. Meine Damen und Herren, für wie können sie Ihnen alle durchbuchstabieren. Das ist doch blöd halten Sie eigentlich die Bürgerinnen und Bürger nur eine Vermeidungsstrategie. Sie müssen sich jetzt end- und die Öffentlichkeit? lich mal dazu verhalten und sagen: Wir finden die Kraft, gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. – Nach den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Beiträgen von Union und SPD in der Debatte heute habe bei der FDP und der LINKEN) ich nicht ansatzweise den Eindruck, dass Sie sich im Seit 2013 befasst sich der Deutsche Bundestag in Gre- September einigen wollen. mien, in Sitzungen, in Kommissionen, in Ausschüssen, in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesprächen mit dem Bundestagspräsidenten, in Gesprä- und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der chen unter den Fraktionen mit dem Thema Wahlrechtsre- LINKEN) form – ohne Ergebnis. Seit dem 2. Februar 2018 hat sich eine Kommission über ein Jahr mit sämtlichen Wahl- Was ist denn das Prinzip? Ist es das Prinzip Hoffnung: (B) rechtsvorschlägen beschäftigt, diese berechnet usw. – „Wir machen alle erst mal ein bisschen Ferien, und im (D) kein Ergebnis. Seit November 2019 liegt unser Gesetz- August flattert von irgendwoher ein Vorschlag herein“? entwurf vor, von Grünen, FDP und Linken. Heute hat die SPD doch eindeutig gesagt, dass sie dem Vorschlag der CDU/CSU nicht zustimmt. Was soll das Dann sitzen wir letzten Mittwoch im Innenausschuss denn? des Deutschen Bundestages, und es wird Beratungsbe- Meine Damen und Herren, heute ist die einzige Ge- darf angemeldet. legenheit. Wir haben nur einen Gesetzentwurf, der dem (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Parlament vorliegt. Wenn Sie nicht die Kraft finden, ge- meinsam einen Vorschlag zu machen, dann finde ich das Meine Damen und Herren, Sie hatten noch nicht mal die bedauerlich. Wir haben die ganze Zeit gesagt: Wir sind Größe, zu sagen: „Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab“, gesprächsbereit; wir wollen mit allen demokratischen weil Sie Sorge hatten, dass im Plenum heute in der zwei- Parteien darüber reden; wir brauchen eine Lösung –. Aber ten und dritten Lesung offenbar und offenkundig wird, wenn das jetzt zwischen den Koalitionspartnern so aus- dass Sie blank sind, dass Sie keine Idee haben. sieht, wie es sich heute hier abgespielt hat, wie bitte soll (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das dann Anfang September weitergehen, meine Damen bei der FDP und der LINKEN) und Herren? Ich sehe das noch nicht. Das war der Grund. Sie haben geglaubt, Sie kommen mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieser Strategie durch. und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ihnen steht doch in der Sache das Wasser bis zum Hals, Was soll denn dem Deutschen Bundestag vorgelegt wer- weil jetzt plötzlich die Menschen doch ein großes Inte- den? resse an dem Thema entdecken und Sie fragen: Wollen Sie zulassen und verantworten, dass wir vielleicht mit Damit komme ich wieder zu unserem Gesetzentwurf. einem Bundestag aus über 800 Menschen arbeiten? – Dem Deutschen Bundestag liegt nur ein Gesetzentwurf Sie wissen alle, dass damit die Arbeitsfähigkeit des Bun- vor; es gibt nur eine Drucksachennummer. Noch sind destages nicht gewährleistet ist. Und Sie wissen auch, „Spiegel“- oder „FAZ“-Meldungen keine Drucksachen. dass das die Akzeptanz für unsere gute parlamentarische Demokratie in der Bevölkerung wirklich gefährdet. Des- (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- halb haben wir von Ihnen erwartet, dass, wenn Sie unse- SES 90/DIE GRÜNEN) ren Gesetzentwurf schon nicht wollen, Sie ihn wenigstens Wir können nur über das abstimmen, was uns hier vor- ablehnen und deutlich dazu stehen, aber gleichzeitig sa- liegt, und das ist der Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21447

Britta Haßelmann (A) Linken. Dieser beinhaltet eine Reduzierung der Zahl der Kompromiss vorlegen, der zwei Dinge miteinander kom- (C) Wahlkreise auf 250 und die Abschaffung des sogenann- biniert: eine maßvolle Reduktion der Zahl der Mandate ten Mindestsitzwahlverfahrens, weil dieses Überhänge auf der Seite des personalisierten Verhältniswahlrechtes produziert, um die Länderproporze zu garantieren. Au- und eine Reduktion bei der Zahl der ausgleichslosen ßerdem wollen wir die Sollgröße des Bundestages leicht Überhangmandate, die ihre Dämpfungswirkung bei den auf 630 Sitze erhöhen, um die anderen Effekte abzufe- Listenmandaten erreicht. Damit können wir genau das dern. erzielen, was man in diesem Haus abbilden muss, um eine Begrenzung zu erreichen: nämlich auf beiden Seiten mo- Meine Damen und Herren, der Entwurf trifft alle Par- derat reduzieren. Nur so werden wir am Ende des Tages teien proportional gleich. Er ist also fair. Er ist gerecht; unser Ziel erreichen, meine sehr verehrten Damen und denn jede Stimme ist uns gleich viel wert. Und, meine Herren. Damen und Herren: Er ist verfassungsgemäß. (Beifall bei der CDU/CSU) (Michael Frieser [CDU/CSU]: Ach, seit wann?) Und jetzt darf ich dann doch mal zu dem Thema des heutigen Tagesordnungspunktes, nämlich dem sogenann- Da können auch noch zehn Leute was anderes behaupten; ten Oppositionsantrag, sprechen. Immer wieder hören wir in der Expertenanhörung des Deutschen Bundestages dasselbe. Ich darf mal feststellen, dass die Opposition, die wurde klar: Der Gesetzentwurf ist auf der Grundlage diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat, nicht ein Jota bereit des personalisierten Verhältniswahlrechtes, er ist verfas- ist, überhaupt darüber zu reden, was in diesem Gesetz- sungsgemäß und fair. – Geben Sie ihm heute eine Chance, entwurf steht; vielmehr gibt es nur den Inhalt dieses Ge- indem Sie zulassen, dass wir in die zweite und dritte setzentwurfs. Eine Form von Diskussionsbereitschaft Beratung dieses Gesetzentwurfes eintreten, wenn Sie sel- kann ich bei diesem Gesetzentwurf beim besten Willen ber nichts zu bieten haben. nicht erkennen. Tut mir leid. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der ordneten der SPD) LINKEN) Ich werde nicht müde, zu sagen, Frau Haßelmann: Was in diesem Land verfassungswidrig ist, stellt das Bundes- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: verfassungsgericht fest. Aber wir unterstellen uns selbst- Der nächste Redner ist der Kollege Michael Frieser, verständlich der Erfahrung der Opposition, die anschei- CDU/CSU-Fraktion. nend genau weiß, was verfassungswidrig ist; (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) NEN]: Der CSU-Vorschlag!) Michael Frieser (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- sonst würde sie nämlich einen wahrscheinlich verfas- ren! Liebe Kollegen! Am Anfang darf ich sagen: Ich bin sungswidrigen Gesetzentwurf gar nicht vorlegen. Die einem heute in der Debatte schon sehr dankbar, nämlich Wahrheit ist: Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf zurück dem Kollegen Ansgar Heveling, der trotz seines Geburts- zum Wahlrecht des Jahres 2008. tages oder vielleicht auch gerade deshalb als einer von (Konstantin Kuhle [FDP]: Falsch! – Britta ganz wenigen zu diesem Thema hier gesprochen hat. Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lieber Ansgar, noch mal alles Gute! Falsch!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nun gibt es eine eindeutige Verfassungsrechtspre- neten der SPD, der AfD, der FDP und des chung zum Streichen des sogenannten ersten Zuteilungs- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schrittes – Stichwort „negatives Stimmgewicht“, Stich- – Ich wollte heute wenigstens einmal das gesamte Haus wort „regionaler Proporz“. Entsprechende Änderungen klatschen hören beim Thema Wahlrecht. Das wird uns mussten wir für die Wahlen in den Jahren 2013 und ansonsten wahrscheinlich nicht mehr gelingen. 2017 umsetzen. Aus gegebenem Anlass: Es ist nicht so, dass Mandate (Konstantin Kuhle [FDP]: Stellt doch einen oder dass Abgeordnete in diesem Land zugeteilt werden, Änderungsantrag!) errechnet werden oder verschoben werden. Abgeordnete Es hilft nichts, dass Sie immer wieder darauf hinweisen, werden in Deutschland immer noch gewählt, meine sehr wie toll der Regionalproporz in Ihrem Vorschlag gewahrt verehrten Damen und Herren. bleibt. Er wird es nicht; denn dieser Gesetzentwurf ver- geht sich an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerich- (Beifall bei der CDU/CSU) tes. Schon allein deshalb ist er nicht zustimmungsfähig, Darauf hinzuweisen, ist leider Gottes notwendig. Deshalb meine sehr verehrten Damen und Herren! muss man allen Versuchen, mit Rechentricks zu arbeiten, eine Absage erteilen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Zurufe von der FDP) Und wieso es das Land demokratischer machen soll, Das ist auch der Grund, warum wir als Union nach wenn man 50 Wahlkreise streicht, erschließt sich mir einem durchaus langen und schwierigen Prozess einen nicht. 21448 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Michael Frieser (A) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sion einbringt. Wir warten heute noch darauf, dass die (C) NEN]: Wo ist Ihr Vorschlag?) Opposition, deren Vorschlag nicht gerade glimpflich mit Das Direktmandat ist ein Element, das den Bürgern nicht der Verfassung umgeht, nur nachweislich wichtig ist – der Direktmandatsträger (Konstantin Kuhle [FDP]: An welcher Stelle? – leistet übrigens genauso wertvolle Arbeit wie jeder Lis- Manuel Höferlin [FDP]: Unsinn!) tenmandatsträger hier –; sondern es ist auch so, dass dieses plebiszitäre Element am Ende des Tages eine be- sich mal mit unseren Vorschlägen auseinandersetzt. sondere Nähe zum Wähler dokumentiert. Und deshalb (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- muss man vorsichtig sein, wie viel man an dieser Stelle NEN]: Wo ist Ihr Vorschlag?) streicht. Dieser ziemlich durchschaubare Versuch, zu sagen, erst (Beifall bei der CDU/CSU) eine Drucksachennummer würde in Deutschland einen politischen Vorschlag diskussionsrelevant machen, ist Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: doch ein unsinniges politisches Argument. Herr Kollege Frieser, gestatten Sie eine Zwischenfrage (Beifall bei der CDU/CSU) der Kollegin Haßelmann? Aber im Ergebnis bin ich doch immer wieder davon Michael Frieser (CDU/CSU): überrascht, welche Ehre uns die Opposition an dieser Aber selbstverständlich, um Gottes willen! Stelle erweist und mit in die Sommerpause gibt. Anschei- nend ist tatsächlich nur die Union, vielleicht noch die Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SPD, überhaupt in der Lage, in diesem Land Wahlkreise für sich zu entscheiden. Es steht nicht in der Verfassung, Herr Frieser, wenn Sie so besonders schlau sind, ge- dass wir die Einzigen sind, die Wahlkreise gewinnen rade beim Wahlrecht, – dürfen. Michael Frieser (CDU/CSU): (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Das Na, na, na, langsam! stimmt doch gar nicht! Wir gewinnen doch auch welche!) (Beifall bei der CDU/CSU) Machen Sie eine gute Politik, dann hätten Sie auch Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erfolg; dann müssten Sie nicht auf diesem Weg an Wahl- – und wissen, was in unserem Gesetzentwurf alles kreise herangehen. (B) nicht gut ist, warum legen Sie nicht einfach mal was Vielen herzlichen Dank. (D) vor, das zeigt, wie es aus Ihrer Sicht besser wäre? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ordneten der SPD) bei der FDP und der LINKEN) Wissen Sie, seit einem Jahr erlebe ich hier Wahlrechts- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: debatten, in denen man sich an uns persönlich, an unseren Ich erteile das Wort der Kollegin Leni Breymaier für Vorschlägen abarbeitet; aber das täuscht nicht mehr darü- die SPD-Fraktion. ber hinweg, dass Sie nichts haben. Wo sind Ihre Vor- schläge, ganz konkret? Ich meine, den CSU-Vorschlag (Beifall bei der SPD) hat schon Günter Krings als Staatssekretär in der Wahl- rechtskommission für nicht verfassungsgemäß gehalten. Leni Breymaier (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir spre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen heute Mittag munter über unser Wahlrecht, und uns und bei der FDP) liegen tatsächlich ein Gesetzentwurf der FDP, der Linken Ich durfte ihn nicht veröffentlichen, weil wir da intern und der Grünen und ein Vorschlag der SPD vor, und aus tagen. Aber das war schon mal klar. Ich warte auf Vor- den Medien kennen wir jetzt auch die Vorstellungen der schläge; nicht einfach nur Noten verteilen; das können Union. Der Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen wir alle. sieht ab 2021 eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise auf 250 und eine Erhöhung der vorgesehenen Gesamtsitz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, zahl von 598 auf 630 vor. bei der FDP und der LINKEN) Meine SPD will in einem ersten Schritt ab 2021 die Michael Frieser (CDU/CSU): Anzahl der Abgeordneten auf 690 deckeln, will zugleich Frau Haßelmann, ich bin nicht enttäuscht, dass ich jetzt paritätische Listen, die im Reißverschlussprinzip aufzu- nichts Neues gehört habe, abgesehen von dem, was Sie in stellen sind, Ihrer Rede ohnehin schon gesagt haben. (Beifall bei der SPD) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und für die Wahlen ab 2025 soll eine Reformkommission NEN]: Wo ist Ihr Vorschlag?) aus Abgeordneten und Wissenschaft einen klugen Vor- Ich bin interessiert an einer Stellungnahme zu unseren schlag erarbeiten, der neben der Größe des Parlaments fünf Vorschlägen, die die Union seit Jahren in die Diskus- auch Vorschläge für die Amtszeit des Bundestages und Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21449

Leni Breymaier (A) die paritätische und auch plurale Zusammensetzung die- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (C) ses Hauses ins Auge fasst. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Union konnte sich am Dienstagabend – so habe ich das den Medien entnommen – auf einen Reformvor- Wenn Sie ihn doch angeblich ablehnen möchten, dann schlag verständigen, der beinhaltet, 19 Wahlkreise zu gibt es keinen Grund, unseren Gesetzentwurf weiter im streichen und 7 Überhangmandate ohne Ausgleich zu Verfahren zu schieben. Der Grund ist aus meiner Sicht, lassen. Der alte Römer würde sagen: Der Berg kreißte dass – wenn es heute zu einer Abstimmung käme – Teile und gebar eine Maus. Ihrer eigenen Fraktion und auch von der CDU/CSU die- sem Gesetzentwurf zustimmen würden. Das ist das Pro- (Beifall bei der SPD) blem, warum Sie ihn heute nicht zur Abstimmung stellen, Die Union findet, nun läge der Ball wieder im Spielfeld Frau Kollegin. der SPD, was wir als SPD insofern spannend finden, als (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem der Vorschlag der Union noch nicht mal schriftlich vor- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) liegt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Leni Breymaier (SPD): Wissen Sie, ich glaube, wir befinden uns noch im An- Nun habe ich die Debatten der SPD-Fraktion verfolgt fangsstadium. Jetzt hat die CDU am Dienstagabend, und verstehe daher, dass es wohl in keiner Fraktion ein- 21 Uhr – wenn ich das richtig kapiert habe –, nach stun- fach war und die Vorschläge immer ein Minimalkonsens denlangen Auseinandersetzungen diesen Vorschlag auf sind. Es ist halt auch so: Die Wahlkreise sind unterschied- den Weg gebracht. Wir haben unseren auf den Weg ge- lich. Ich habe kürzlich so ein lustiges Instagram Live bracht, Sie haben Ihren schon im November eingebracht. gemacht mit meinem Kollegen aus Kiel und habe die Aber ich glaube, dass zwischen diesen unterschiedlichen Wahlkreise verglichen. Da dachte ich mir: Na, der hat Vorschlägen am Ende des Tages wahrscheinlich die es auch gut! Mein Wahlkreis ist zehnmal größer als sei- Wahrheit liegen wird. Die Wahrheit liegt nicht am Frei- ner. Da macht es einen Unterschied, auch, wenn ich ein tagnachmittag, dem 3. Juli, um 14.15 Uhr. Die werden Direktmandat habe mit über 40 Prozent. A lso, die Welten wir heute nicht finden. sind unterschiedlich, und zwar in allen Fraktionen, und man geht natürlich immer von seiner Welt aus. (Beifall bei der SPD) Und klar haben Linke und Grüne kein Problem mit der Wir müssen uns zusammenhocken und das Gemeinsame Parität. Sie praktizieren sie ja auch seit Jahren, wie wir finden, wenn wir draußen ernst genommen werden wol- (B) auch; aber dass in dem gemeinsamen Gesetzentwurf mit len. (D) der FDP dazu gar nichts steht, ist halt mehr als ein Schön- heitsfehler. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit (Beifall bei der SPD) 2013 diskutieren wir darüber!) Wir haben ja auch diskutiert übers Jahr, und ich kenne Ich hätte mich gefreut, Sie hätten irgendetwas zur Posi- die Argumente. Die FDP sagt: Wir brauchen erst bessere tion der Frauen gesagt. Schade. Rahmenbedingungen für Abgeordnete mit Familien- pflichten. – Das verfängt aus meiner Sicht nicht ganz, (Beifall bei der SPD) weil andere es ja auch schaffen. Alle Studien sagen: Die Union meint: Die Frauen sollten sowieso erst ein- Wenn wir erst mal ein erkleckliches Quorum von Frauen mal auf kommunaler Ebene politische Erfahrung sam- in Gremien haben, dann ändern sich auch die Rahmen- meln. – Ich habe mir nicht die vier Vornamen derjenigen bedingungen, weil die Frauen das natürlich für sich ein- gemerkt, die heute für die Union sprechen. Aber es ist fordern. bezeichnend: Sie haben vier Redner und Rednerinnen zum Wahlrecht, und Sie schicken vier Männer in die (Beifall bei der SPD) Debatte.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? der FDP) Das hat etwas mit den Erlebenswelten von Frauen in Leni Breymaier (SPD): den Parlamenten zu tun. Deshalb finde ich Ihre Argumen- Na klar. tation so defizitär. Ich denke nicht, dass Frauen, wenn sie im Parlament sind, die besseren Menschen, die besseren Abgeordneten sind. Aber sie bringen einfach andere Er- Benjamin Strasser (FDP): fahrungen mit: mit Kindererziehung, mit der Benutzung Frau Kollegin Breymaier, der Kollege Frieser vorhin des öffentlichen Nahverkehrs, mit Teilzeit, einfach mit und Sie jetzt auch gerade haben ja gesagt, dass unser dem Leben. Dieses Leben gehört in dieses Parlament. Gesetzentwurf so schlecht und nicht zustimmungsfähig Das zeigen doch auch die Erfahrungen mit Corona: die sei. Da stellt sich mir die Frage: Wenn dem so ist, warum Verfestigung der Rollenbilder. blockieren Sie dann heute eine Abstimmung hier in die- sem Hohen Haus über den Gesetzentwurf? (Beifall bei der SPD) 21450 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Leni Breymaier (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns bitte Wenn der Vorsitzende der Grünen, Herr Habeck, in (C) den Sommer 2020 nutzen, um für 2021 einen ordentli- Richtung der Kolleginnen und Kollegen der CSU von chen Vorschlag zu haben. Marie von Ebner-Eschenbach „Geiselhaftnahme“ spricht, finde ich das schon einiger- hat das ganz nett formuliert. Sie hat gesagt: „Wenn die maßen unanständig. Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.“ Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wieso? Das denken doch viele bei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ihnen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können nicht Mir hat das Zitat besonders gut gefallen: Da schreibt einer nur, wir müssen. Ein Parlament mit über 800 Abgeordne- Bücher über das, was Sprache anrichten kann, und redet ten ist zu groß, und ein Parlament mit 30 Prozent Frauen von „Geiselhaftnahme“. ist falsch. Herr Heveling, wir dürfen die Debatte nicht erst (Benjamin Strasser [FDP]: Das könnt ihr ab!) im Juli 2021 führen. Lassen Sie uns den Sommer 2020 dazu nutzen, und dann bekommen wir auch noch eine Ich glaube, wenn man solche Begriffe verwenden möch- Lösung hin. te, kann man das höchstens in dem Zusammenhang tun, wenn man den unmittelbaren Bezug der Menschen im Ich finde, dass auch die Bevölkerung an diesem Thema Wahlkreis zu ihren Abgeordneten infrage stellt. sehr interessiert ist. Deshalb sollten wir die Vorschläge der Union auch in der Bevölkerung breit diskutieren. Da- (Beifall bei der CDU/CSU) rauf freue ich mich, bedanke mich für die Aufmerksam- Ich bin einer von ganz vielen in unserer Fraktion, die keit und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. ein Direktmandat errungen haben. Ich habe derzeit – ich (Beifall bei der SPD) habe es noch einmal nachgeschaut – ungefähr 193 000 Wahlberechtigte. Im Wahlkreis wohnen knapp 250 000 Einwohner. Fahrzeit im Wahlkreis von Nord Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: nach Süd – ich habe es in der letzten Debatte bereits Ich erteile das Wort dem Kollegen Marc Henrichmann, gesagt; viele andere haben es noch viel schlimmer –: eine CDU/CSU-Fraktion. Stunde. Ich nehme es ernst, wenn mich jemand anspricht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lächerlich!) Marc Henrichmann (CDU/CSU): Ich fahre genauso oft wie die Kolleginnen und Kollegen, (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! die über die Liste hierhergekommen sind; ist doch klar. (D) Meine Damen und Herren! „Am Ende wird alles gut! Aber alle haben den Anknüpfungspunkt Wahlrecht. Jeder Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das nimmt die Gesprächsangebote wahr. Ende.“ Dieser schöne Spruch passt, glaube ich, gut zur Nur, nach Ihrem Plan haben wir demnächst Debatte um das Wahlrecht. Wir diskutieren heute hier 300 000 Einwohner im Wahlkreis, und es wird immer unter anderem über einen links-grün-liberalen Gemein- schwieriger, das direkte Gespräch zu pflegen und Bürger- schaftsvorschlag, der, wie gehört, zu dem Ergebnis anfragen zu beantworten. Ich glaube, das sollten wir in kommt, dass wir die Wahlkreise um 49 auf 250 reduzie- dieser Zeit so nicht tun. Es kann nicht sein, dass immer ren und gleichzeitig die Anzahl der Normsitze von 580 mehr Menschen über weniger Direktkandidatinnen und auf 630 erhöhen. -kandidaten abstimmen. Das halte ich für falsch. Aber wie ist die Ausgangslage? Das sage ich als je- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mand, der am Institut des Wahlkreises – auch im Sinne ordneten der SPD) der dann vielleicht unterlegenen Kolleginnen und Kol- legen – besonders hängt. Es haben sich drei Fraktionen Ich frage mich auch, ob das, was Sie hier vertreten und zusammengetan, die 2017 6 von 299 Direktmandaten wollen, mit dem Begriff „direkte Demokratie“ in Zusam- geholt haben; macht 0,49 Prozent. Es haben sich drei menhang zu bringen ist. Ich habe einmal bei der Bundes- Fraktionen zusammengefunden, die insgesamt 210 Lis- zentrale für politische Bildung – ich glaube, sie ist unver- tenmandate vertreten, aber nur 6 Direktmandate; macht dächtig – nachgelesen. Dort steht zur „direkten 2,8 Prozent. Jetzt haben wir einen Gesetzesvorschlag vor- Demokratie“, dass die grundlegende Maxime sei, „den liegen, der die Parität von Liste und Direktmandat auf- Volkswillen so unverfälscht wie möglich in politische weicht. Entscheidungen münden zu lassen“. Sie müssten doch eigentlich diejenigen sein, die dann hier für das Direkt- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE mandat eintreten bzw. für möglichst kleine Direktwahlk- GRÜNEN]: Was ist das für eine Rechnung?) reise. Genau das tun Sie nicht. Da muss man fragen, Wir sollen nur noch 250 Wahlkreise haben, aber 380 fest- welche Interessen dahinterstecken. geschriebene Listenmandate. Das geht zulasten der Wahl- (Beifall bei der CDU/CSU) kreise, und man könnte es als erfolgreiches Lobbying zugunsten der eigenen Interessen werten, wenn man es Ganz ehrlich – das wissen die Menschen da draußen denn wollte. auch –: Über die Direktkandidatinnen und -kandidaten, die sich zur Wahl stellen, kann ich mit meiner Erststimme (Beifall bei der CDU/CSU) entscheiden. Aber wie werden denn die Listen der Par- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21451

Marc Henrichmann (A) teien zusammengestellt? Vielleicht nicht immer danach, Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) wie sich die Menschen draußen entscheiden, sondern in NEN): erster Linie nach parteipolitischem Gewicht. Das ist auch Herr Kollege Henrichmann, Sie haben jetzt viel ge- vollkommen richtig. Deswegen sind wir für die Parität redet über Direktmandate und Listenmandate. Ich halte und das Gemeinsame, mit der paritätischen Ausrichtung von diesen spalterischen Diskussionen überhaupt nichts. Direktmandat und Listenmandat. Das ist unser Plan und unser Fahrplan, und das wollen wir auch weiter hoch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten. und bei der FDP) Wir sind hier ein Haus, ein Parlament. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich will nicht kleinteilig sein, aber ich sage Ihnen: Den Kollege Henrichmann, der Kollege von Notz hätte eine Kollegen Frieser – er hat vorhin geredet hat und hat auch Zwischenfrage. Gestatten Sie sie? so scharf geredet – haben über 65 Prozent in seinem Wahlkreis nicht gewählt. Ja. Marc Henrichmann (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nein, vielen Dank. Wir haben schon genug, glaube ich, und bei der FDP) in diesem Bereich gesprochen. Das macht ihn nicht zu einem schlechteren Abgeordne- Was ich, ehrlich gesagt, nicht mag oder auch für falsch ten, überhaupt nicht. Das hat damit nichts zu tun. halte, ist – der Kollege Frieser hat es zu Recht gesagt – die Nichtzuteilung der Mandate. Ich finde die Begrifflichkeit Wenn Sie sagen: „der Volkswille“ – darauf haben Sie ja schon schwierig und falsch; denn es ist keine Zuteilung, mehrfach abgestellt –: Die Menschen wollen, dass wir sondern eine Wahl und das Schenken des Vertrauens hier kein Haus mit 800 Leuten werden. Vor diesem Hin- durch Wählerinnen und Wähler. Deswegen sollten wir tergrund frage ich Sie: Wie kommen Sie dazu, im Innen- da sehr vorsichtig sein. Solche Vorschläge halte ich für ausschuss des Deutschen Bundestages unseren Antrag falsch. abzusetzen, sodass wir hier nicht eine reguläre Abstim- mung durchführen können? Unser parlamentarisches (Beifall bei der CDU/CSU) Recht als Abgeordnete, unseren Vorschlag zu präsentie- ren, blockieren Sie mit Verfahrenstricks, weil Sie nichts Jetzt haben wir hier den links-grün-liberalen Wahl- auf der Kante haben. Das ist absolut inakzeptabel, meine rechtsbeschneidungsvorschlag. Er ist kein Modell für Damen und Herren. uns. Wir hätten ihn natürlich ablehnen können, aber die (B) Vertagung im Ausschuss hat ja auch – unser Obmann hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (D) es gesagt – das Signal beinhaltet: Wir wollen eine Lösung bei der FDP und der LINKEN) finden. Wir haben uns – da sind wir Volkspartei – auf den Weg gemacht. Ja, wir haben einen Vorschlag erarbeitet. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Und ich sage es auch ganz offen: Es war auch in weiten Teilen zähneknirschend, was wir da vorgelegt haben. Wir Wollen Sie antworten? – Bitte schön. haben gesagt: Wir reduzieren moderat auf 280 Wahlkrei- se, und die 7 Überhangmandate werden nicht ausgegli- Marc Henrichmann (CDU/CSU): chen. Und wir wollen das ambitioniert – weil wir ein Ich glaube, Herr Kollege von Notz, Sie möchten sich Interesse daran haben, dass der Bundestag nicht weiter nicht ernsthaft über fehlende parlamentarische Rechte in wächst – nicht erst 2025 machen, sondern 2021. Jetzt diesem Hause beschweren. liegt der Ball nicht mehr in unserem Feld, aber wir haben einen Aufschlag gemacht, und wir halten ihn für richtig. (Zurufe von der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Doch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, es gibt hier alle Möglichkeiten, Ihre Rechte Schlussbemerkung. Ich glaube, jetzt sollten alle nicht geltend zu machen. nur an sich, an ihre eigenen Interessen denken, sondern an Ich möchte einen Punkt aufgreifen, den Sie angespro- das, was die Wählerinnen und Wähler draußen wollen, an chen haben; dieser ärgert mich. Es tut jetzt not, die De- das, was Bürgerbeteiligung ausmacht. Wir haben als batte doch wieder ein bisschen zu versachlichen. Das Union einen Vorschlag vorgelegt, der für einen kleineren Argument, ich hätte jetzt das Direktmandat hochgehalten Bundestag und auch für eine gesellschaftliche Befriedung und damit die Kolleginnen und Kollegen, die nicht direkt in weiten Teilen sorgen kann. Dann können wir vielleicht in den Bundestag eingezogen sind, diskreditieren wollen, demnächst doch noch sagen: Am Ende ist alles gut ge- höre ich zwar, aber es ist immer wieder falsch. worden. Worum es mir geht – das habe ich dreimal betont, aber Vielen Dank und schönes Wochenende. da haben Sie mir offenbar nicht wirklich zuhören wol- len –: Es geht mir darum, deutlich zu machen, dass die (Beifall bei der CDU/CSU) Wahlkreise von den Kandidatinnen und Kandidaten ohne Direktmandat genauso gewissenhaft beackert werden wie Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: von denen, die ein Direktmandat haben. Die Wahlkreise Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege dürfen nicht immer größer werden, damit wir, jeder Ein- Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen. zelne hier, die Menschen, um die wir uns als Abgeordnete 21452 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Marc Henrichmann (A) insgesamt zu kümmern haben, noch erreichen, damit wir Ich sage Ihnen: Mit unserem Vorschlag, der auf der (C) erreichbar sind. einen Seite eine moderate Reduzierung der Zahl der Wahlkreise vorsieht und auf der anderen Seite, dass eine Was ist in diesen Tagen das Schlimmste für die Demo- bestimmte Anzahl von Überhangmandaten nicht ausge- kratie? Dass die Menschen das Gefühl haben, die Politik glichen wird, gehen wir auf andere zu. Wir haben es uns und die Abgeordneten sind immer weiter weg. Dieser nicht leicht gemacht. Deshalb haben wir so lange ge- Eindruck ist erkennbar falsch. Ich würde sogar, wenn braucht, einen Vorschlag zu entwickeln. Aber es ist ein ich es mir wünschen könnte, dafür plädieren, die Wahl- Kompromissvorschlag. kreise noch kleiner zu machen, Das, was Sie hier von der Opposition vorgelegt haben, (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sieht eine Vergrößerung des Bundestages, also der gesetz- Noch mehr Abgeordnete!) lich vorgegebenen Zahl, auf 630 Abgeordnete bei gleich- dass wir noch näher an die Bürgerinnen und Bürger he- zeitiger Reduzierung um fast 50 Wahlkreise vor. Sie dre- ranrutschen. hen damit im Wesentlichen an einer Stellschraube. Sie opfern jeden sechsten Wahlkreis. (Beifall bei der CDU/CSU) Dieser Einschnitt – das war vorher klar, das ist auch Wir tun uns – das sage ich ganz offen – mit dem 280- heute klar; deshalb sage ich das so deutlich – ist für uns Wahlkreise-Vorschlag schwer. Aber ich halte ihn für de- unverhältnismäßig, mokratisch, weil wir Mehrheiten suchen wollen – das ist doch unser Anliegen in diesem Haus –, und für zielführ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ender, als jetzt zu sagen: Wir mauern nur, und wir be- Carsten Schneider [Erfurt] [SPD] – Konstantin stehen jetzt auf einem Anstieg der Zahl der Listenman- Kuhle [FDP]: Warum stimmen Sie dann nicht date. dagegen?) zumal es noch eine andere Stellschraube gibt. Nicht jedes (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Überhangmandat muss durch ein Zusatzmandat. ausge- GRÜNEN]: Ich möchte über unseren Antrag glichen werden. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf – abstimmen!) ich will das noch einmal ganz sachlich darstellen –: Über- Es geht mir um Folgendes: mehr Demokratie, mehr hangmandate ohne Ausgleich sind „nicht akzeptabel“, Bürgernähe und keine Tricks oder was auch immer Sie und – Zitat –: uns hier vorwerfen. Ich halte den Vorwurf für infam und falsch. Mit der Erststimme wird ... nur über die personelle (B) Besetzung des Bundestages bestimmt. Der Zweit- (D) (Beifall bei der CDU/CSU) stimmenproporz darf nicht durch Zufallsmomente verzerrt werden. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist NEN]: So ist es!) der Kollege Patrick Schnieder, CDU/CSU-Fraktion. Ich will hier eines klarstellen: Für uns ist die Erststim- (Beifall bei der CDU/CSU) me des Wählers keine Verzerrung des Wahlergebnisses durch ein Zufallsmoment, sondern es ist ein demokrati- sches Recht des Bürgers, das vornehmste. Patrick Schnieder (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU) Das Wahlrecht ist die Grundlage unserer Demokratie. Deshalb halte ich es für besonders wichtig, dass wir hier Auch das Bundesverfassungsgericht beurteilt die Erst- die Argumente des anderen hören, achten und wägen. stimme anders, als Sie das in Ihrem Gesetzentwurf ma- Deshalb will ich einmal zum Kern und zu dem sachlichen chen. Es hat nämlich 2012 erklärt – jetzt sollte man gut Aspekt der Debatte zurückkommen. zuhören; ich zitiere –: Wir haben uns als Union in dieser Woche in einem Auf diese Weise schwierigen und langen Prozess auf eine gemeinsame – also durch die Erststimme – Haltung verständigt. Wir haben einen Vorschlag unter- breitet. Das hat lange gedauert. Mit der Vorlage des Vor- möchte der Gesetzgeber die Verbindung zwischen schlags ist es spät geworden. Dafür kann man uns kriti- Wählern und Abgeordneten, die das Volk repräsen- sieren. tieren, stärken und zugleich in gewissem Umfang der dominierenden Stellung der Parteien bei der po- (Zuruf von der LINKEN: Zu Recht!) litischen Willensbildung des Volkes ... ein Korrektiv Es ist aber ein Unterschied, ob man bei einem solchen im Sinne der Unabhängigkeit der Abgeordneten ... Vorschlag nur den eigenen Standpunkt und den eigenen entgegensetzen. Vorteil in den Mittelpunkt rückt oder ob man im Bereich (Beifall bei der CDU/CSU) des Wahlrechts auch die anderen Argumente wägt, ge- geneinander abwägt und dann zu einem fundierten Vor- Also, der erste Punkt ist die Verbindung zwischen schlag kommt. Wählern und Abgeordneten. Wenn Sie die Wahlkreise Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21453

Patrick Schnieder (A) größer machen, dann ist diese Bürgernähe nicht mehr drücklich deutlich gemacht hat, dass es keinen Grund (C) darstellbar. gibt, den Gesetzentwurf von FDP, Grünen und Linken heute nicht zur Abstimmung zu bringen. Ich will Ihnen die Beispiele jetzt gar nicht nennen. Es gab einen eindrucksvollen Artikel über Ecki Rehberg, der Es gibt Kolleginnen und Kollegen im Haus, die sagen, seinen Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern hat. Er sie lehnen ihn eindeutig ab. Es gibt Kolleginnen und Kol- ist dort mit dem Wohnmobil unterwegs. Ob wir wollen, legen im Haus, die ihn interessant finden und vielleicht dass die Wahlkreise noch größer werden und die Bindung zustimmen werden. Aber es gibt keinen Grund, sich die- zwischen Wählern und Abgeordneten nachlässt, kann ser Abstimmung dadurch zu entziehen, dass man im man doch wirklich einmal fragen. Fachausschuss nicht abgeschlossen hat. Sie können sich Der zweite Punkt, den das Bundesverfassungsgericht hier keinen schlanken Fuß machen und gleichzeitig als nennt, ist: Das ist ein Korrektiv. Das ist für Karlsruhe so Koalition keinen Vorschlag vorlegen. bedeutsam, dass nicht jedes Wahlkreismandat ausgegli- Deshalb beantrage ich namens der drei Fraktionen den chen werden muss. Deshalb zitiere ich noch einmal: Eintritt in die zweite Beratung. … der Gesetzgeber [darf] das Anliegen einer pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, portionalen Verteilung der Gesamtzahl der Sitze bei der FDP und der LINKEN) grundsätzlich zurückstellen und Überhangmandate ohne Wiederherstellung des Proporzes zulassen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Es geht weiter mit dem Bundesverfassungsgericht – letz- Bevor wir gleich über den Geschäftsordnungsantrag tes Zitat –: namentlich abstimmen, kommen wir noch zu einer Aus- Das Anliegen der Personenwahl und das mit der schussüberweisung; das ist der Zusatzpunkt 38. Interfrak- Verhältniswahl verfolgte Ziel weitgehender Propor- tionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache tionalität stehen ... in einem Spannungsverhältnis, 19/20602 an den Ausschuss für Inneres und Heimat vor- das sich nur durch ... einen Ausgleich beider Prinzi- geschlagen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – pien auflösen lässt. Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschla- gen. Jetzt stelle ich einmal fest: Das ist das, was wir vor- schlagen: ein Ausgleich dieser beiden Prinzipien, dieses Wir kommen jetzt zur namentlichen Abstimmung über Spannungsverhältnisses: Reduzierung der Zahl der Wahl- den Geschäftsordnungsantrag der Fraktionen FDP, Die kreise um 19 – das tut uns schon weh; ich habe die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, in Bezug auf den (B) Gründe genannt –, auf der anderen Seite zu akzeptieren, Gesetzentwurf der genannten Fraktionen zur Änderung (D) dass sieben Direktmandate nicht ausgeglichen werden. des Bundeswahlgesetzes auf Drucksache 19/14672 in die zweite Beratung einzutreten. Gemäß § 80 Absatz 2 Wir halten die Regelung nicht für ideal. Aber es ist ein Satz 1unserer Geschäftsordnung ist zur Annahme dieses Kompromissvorschlag. Als solches sollte man das anse- Geschäftsordnungsantrages eine Zweidrittelmehrheit der hen. Wir wollen dafür kämpfen und uns dafür einsetzen, anwesenden Mitglieder erforderlich. dass wir eine Reduzierung der Abgeordnetenzahl im Deutschen Bundestag und damit eine Funktionalität, eine Zu der Abstimmung über den Antrag liegt eine Erklä- Arbeitsfähigkeit des Bundestages in der künftigen Wahl- rung nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen periode hinbekommen. Wir sind auch bereit, das schon Bundestages vor.1) 2021 zu machen. Die namentliche Abstimmung findet in der Westlobby (Beifall bei der CDU/CSU) statt. Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihre vorgesehenen Plätze bereits eingenommen. Ich eröffne Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: die namentliche Abstimmung. Ihnen stehen als Zeitfens- ter wieder 30 Minuten zur Verfügung. Die Urnen werden Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungs- 2) punkt. um 15.20 Uhr geschlossen. Die Fraktionen von FDP, der Linken und Bündnis 90/ Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Die Grünen haben beantragt, gemäß § 80 Absatz 2 Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Satz 1und 2 in Verbindung mit § 20 Absatz 2 Satz 3 der Geschäftsordnung in Bezug auf den Gesetzentwurf zur Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu be- Änderung des Bundeswahlgesetzes auf Drucksache nennenden Mitgliedes des Kuratoriums des 19/14672 in die zweite Beratung einzutreten. Über den Deutschen Instituts für Menschenrechte ge- Geschäftsordnungsantrag soll namentlich abgestimmt mäß § 6 Absatz 2 Nummer 4 und 5 des Ge- werden. setzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Kollegin (DIMRG) Haßelmann. Drucksache 19/19906 Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- 1) Anlage 6 nen und Kollegen! Ich finde, dass die Debatte sehr ein- 2) Ergebnis Seite 21464 C 21454 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetzt eine Tiere artgerecht halten und Bäuerinnen (C) Gremienwahl durchführen. Der Übersichtlichkeit halber und Bauern ordentlich entlohnen bitte ich Sie, Platz zu nehmen, damit ich sehe, wie die Abstimmung ausgeht. Drucksache 19/20566 Wir werden die Wahl per Handzeichen durchführen. Es ZP 28 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion der AfD auf Druck- CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines sache 19/19906 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvor- Gesetzes zur Verbesserung des Tierwohls in schlag der AfD? – Das ist die AfD-Fraktion. Wer stimmt Tierhaltungsanlagen dagegen? – Das sind alle übrigen Fraktionen des Hauses. Drucksache 19/20597 Enthaltungen? – Eine Enthaltung. Der Wahlvorschlag ist damit abgelehnt. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen (f) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 e und Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz den Zusatzpunkt 28 auf: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 27 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der Federführung strittig CDU/CSU und SPD Hier ist eine Aussprache von 30 Minuten beschlossen. Empfehlungen des Kompetenznetzwerkes Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Nutztierhaltung konsequent umsetzen Kollegin Silvia Breher, CDU/CSU-Fraktion. und Zukunftsperspektiven für die Tier- haltung in Deutschland schaffen (Beifall bei der CDU/CSU) Drucksache 19/20617 Silvia Breher (CDU/CSU): b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Berichts des Ausschusses für Ernährung und Kollegen! Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem An- und habe auch lange in diesem Bereich gearbeitet, und trag der Abgeordneten Stephan Protschka, zwar aus Überzeugung. Für mich ist die Tierhaltung in Berengar Elsner von Gronow, Wilhelm von Deutschland, für mich ist die Landwirtschaft in Deutsch- Gottberg, weiterer Abgeordneter und der land, für mich ist die Zukunftsperspektive der Nutztier- Fraktion der AfD haltung in Deutschland ein absolutes Herzensthema. (B) (D) Zukunftsfähige Nutztierhaltung – Pla- (Beifall bei der CDU/CSU) nungs- und Investitionssicherheit für Landwirte herstellen Die Diskussion dreht sich im Kern leider schon viel zu lange im Kreis. Das mögen einige anders sehen. Aber aus Drucksachen 19/20120, 19/20673 meiner, aus unserer Sicht stellt es sich eben oft so dar: Die Bäuerinnen und Bauern wollen mehr Tierwohl im Stall c) Beratung der Beschlussempfehlung und des möglich machen. Aber dann bekommen sie die Geneh- Berichts des Ausschusses für Ernährung und migung für den Umbau nicht. Auf den Mehrkosten blei- Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem An- ben sie am Ende leider auch oft sitzen, weil sich ein ent- trag der Abgeordneten Karlheinz Busen, sprechender Preis an der Ladentheke nicht erzielen lässt, Frank Sitta, Dr. Gero Clemens Hocker, wei- weil der Handel zwar von Montag bis Mittwoch mehr terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tierwohl bewirbt, aber von Donnerstag bis Freitag bei Tierwohl europäisch denken und bau- unseren offenen Märkten mit Billigfleischangeboten die rechtlich ermöglichen Kunden in den Laden lockt. Am Ende fordert die Gesell- schaft zwar mehr Tierwohl. Aber der einzelne Verbrau- Drucksachen 19/20047, 19/20673 cher ist unter diesen Voraussetzungen leider viel zu selten bereit, den angemessenen Preis zu zahlen. d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Diese Rechnung kann leider nicht aufgehen und geht Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem An- ausschließlich zulasten der Landwirtschaft. Deshalb bin trag der Abgeordneten Dr. Kirsten ich der Ministerin sehr dankbar, dass sie im vergangenen Tackmann, Ralph Lenkert, Dr. Gesine Jahr das Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung eingesetzt Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der hat. Jochen Borchert ist es mit einer großen Bandbreite an Fraktion DIE LINKE Experten gelungen – das ist wirklich bemerkenswert –, einen Konsens herzustellen Nutztierhaltung an Fläche binden (Beifall bei der CDU/CSU) Drucksachen 19/15120, 19/20673 und Empfehlungen für den Umbau der Tierhaltung, für e) Beratung des Antrags der Abgeordneten einen langfristigen Transformationsprozess vorzulegen. Renate Künast, Harald Ebner, Oliver Vielen Dank für diese wertvolle Arbeit! Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21455

Silvia Breher (A) Mit unserem heutigen Antrag unterstützen wir aus- 2025 soll eine verpflichtende Tierwohlkennzeichnung (C) drücklich und mit voller Überzeugung die Umsetzung auf EU-Ebene eingeführt sein. Wird dieses Tierwohllabel dieser Empfehlungen, und zwar in Gänze; denn wer den auf einheitlichen und verbindlichen Kriterien beruhen? Umbau der Nutztierhaltung in Deutschland will, wer eine Sehr unwahrscheinlich! Zukunft für die Nutztierhaltung in Deutschland will, muss die Empfehlungen der Borchert-Kommission im Zur Umsetzung der Empfehlungen nennt das Papier Ganzen umzusetzen bereit sein. verschiedene Maßnahmen. Diese sind zeitaufwendig und bergen die Gefahr des Scheiterns der angestrebten (Beifall bei der CDU/CSU) Reform. Beispiele dafür: a) Die Vorschläge werden in Ich habe das schon viel zu oft gehört: Ja, wir wollen einem breiten politischen und gesellschaftlichen Prozess mehr Tierwohl, aber das soll nicht mehr kosten. Ja, wir diskutiert. b) Die Fördermaßnahmen müssen grünes wollen mehr Tierwohl. Aber dafür Stallbauten? Und das Licht von der EU bekommen. c) Die Studie nennt einen Bau- und Umweltrecht wollen wir anpacken. Nein, das jährlichen Finanzbedarf ab 2025 von 1,2 Milliarden bis packen wir lieber nicht an. – Aber das Herauspicken von 2,4 Milliarden Euro. d) Es soll eine externe Machbar- Rosinen – nur das Tierwohl nehmen und die Landwirte keitsstudie mit Folgenabschätzung auf den Weg gebracht mit dem Rest alleine lassen – funktioniert einfach nicht. werden. Wer Borchert will, muss auch Ja sagen zu den notwen- digen Veränderungen und muss die Voraussetzungen da- Diese Maßnahmen stellen Klippen dar, an denen das für schaffen. Vorhaben scheitern kann. Ist denn die Machbarkeitsstudie bereits auf den Weg gebracht worden? Das wäre doch ein (Beifall bei der CDU/CSU) erster Schritt hin zur konsequenten Umsetzung des Bor- Mit unserem Antrag fordern wir nun die Bundesregie- chert-Papiers. rung auf, noch in dieser Legislaturperiode, also jetzt, eine Umsetzungsstrategie vorzulegen und auch einen Finan- Das Ziel der Studie – Zitat –: zierungsvorschlag zu unterbreiten. Bei den offenen Märkten ist uns ganz wichtig: Der Verbraucher soll er- Nutztierhalter stellen eine gesellschaftlich ge- kennen können, woher das Fleisch in der Ladentheke wünschte Leistung bereit, ein hohes Tierwohlni- stammt und wie das Tier gelebt hat. Dafür brauchen wir veau, und erhalten als Gegenleistung der Gesell- ein EU-weit verpflichtendes Haltungs- und Herkunfts- schaft sowohl eine finanzielle Honorierung wie kennzeichen. Dafür wird sich die Bundesregierung wäh- auch eine verbesserte Akzeptanz des Sektors. rend der EU-Ratspräsidentschaft einsetzen. (B) Wer könnte diesen Zielvorgaben nicht zustimmen? Die (D) Lassen Sie uns nun alle gemeinsam den Empfehlungen Studie benennt in bemerkenswerter Klarheit die Negativ- der Borchert-Kommission folgen – ehrlich und konse- folgen, wenn eine politische Finanzierung des Umbaus quent für eine Zukunft für unsere Nutztierhaltung in nicht erreicht werden kann. Die Konsequenz daraus: Ver- Deutschland. lagerung der Nutztierhaltung ins Ausland und damit Ver- Vielen Dank. lust der Wertschöpfung in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU) Ein sportliches Foul leistete sich die Koalition bezüg- lich unseres Antrages „Zukunftsfähige Nutztierhaltung“. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wir haben ihn gleich nach Bekanntgabe des Borchert- Vielen Dank, Kollegin Breher. – Der nächste Redner Papiers am 27. Mai eingebracht. Er wurde im Agraraus- ist für die Fraktion der AfD der Kollege Wilhelm von schuss abgelehnt. Die Koalition hat dann ihren eigenen Gottberg. Antrag – ohne Vorbereitung im Ausschuss und mit So- fortabstimmung hier und heute – ins Plenum eingebracht. (Beifall bei der AfD) Inhaltlich gibt es so gut wie keine Unterschiede zwischen den beiden Anträgen. Wir sehen das locker. Unsere Frust- Wilhelm von Gottberg (AfD): rationstoleranz ist hoch. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Frak- tionen hier im Hause wollen mehr Tierwohl. Die vorge- Gegenstand dieser Debatte ist auch die erste Lesung legten Anträge weisen das aus. Die Bundesregierung hat des von der Koalition eingebrachten Gesetzentwurfes zur dazu eine Studie vorgelegt: Empfehlungen des Kompe- Verbesserung des Tierwohls in Tierhaltungsanlagen. tenznetzwerkes Nutztierhaltung. Respekt, Frau Ministe- Dass dieser Entwurf erst vorgestern bekannt wurde, müs- rin Klöckner, dass es Ihnen gelungen ist, für diese Auf- sen wir als Opposition rügen. Der Entwurf beinhaltet die gabe Herrn Borchert zu gewinnen. Er ist einer Ihrer Modifizierung des Bauordnungsrechtes im Außenbe- Vorgänger im Amt und ein ausgewiesener Experte. Die reich. In diesem Sinne kann der Entwurf als ein erster Studie weist für die Nutztierhaltung Reformbedarf aus. Schritt für die Umsetzung des Borchert-Papiers angese- Es ist der gesellschaftliche Druck, der von den Nutztier- hen werden. Die AfD wird dem Gesetzentwurf zustim- haltern mehr Tierwohl fordert. Das ist aber mit deutlich men. höheren Kosten für die Tierhalter verbunden. Das Papier nennt Finanzierungsmöglichkeiten, die fragwürdig er- Danke. scheinen. Für die Realisierung der Empfehlungen nennt die Studie einen Zeitraum von maximal 20 Jahren. Bis (Beifall bei der AfD) 21456 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ausgearbeitet werden, um sie dann erneut zu verhandeln, (C) Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin zu debattieren und auch zu entscheiden, und zwar dieses Susanne Mittag. Jahr. (Beifall bei der SPD) Aber vor allem die Kriterien für die Haltungsstufen des Tierwohllabels für alle Nutztierarten fehlen. Die Vorga- Susanne Mittag (SPD): ben für Schweine müssen endlich vervollständigt wer- den – diesen Sommer –; die Erstellung der Kriterien für Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Rind, Milch, Eier und Geflügel fehlt noch komplett. Kollegen! Sehr geehrte – einige sind ja da – Damen und Auch das geht an Ihr Haus, Frau Klöckner. Ich bin ge- Herren! Die landwirtschaftliche Nutztierhaltung steht seit spannt. Jahren in der gesellschaftlichen Kritik; das haben ja nun alle mitbekommen. Die Wut und der Frust der Landwirte Gleiches gilt für die Vorarbeit innerhalb der deutschen nehmen zu. Es wird auf beiden Seiten in der Debatte EU-Ratspräsidentschaft, die wir seit drei Tagen haben, vereinfacht. Fachliches und Ausgleichendes bleibt leider hinsichtlich eines verpflichtenden Labels. Das heißt, das oft auf der Strecke oder wird teilweise gar nicht wahrge- gesamte Fleisch sowie Eier und Milch werden klassifi- nommen. ziert, also gelabelt, oder haben nur Mindeststandard. Ers- te Schritte sind unternommen worden, gut. Aber ent- Das Kürzen der Ringelschwänze beim Schwein oder scheidend ist die Umsetzung und nicht die Ankündigung. das Enthornen der Kälber ohne Betäubung widersprechen dem Grundgedanken des Tierwohls. Immer wieder wer- Das ist auch die Voraussetzung zur Definition des un- den Ausnahmen vom Tierschutzgesetz zugelassen, so- bestimmten Rechtsbegriffs des Gesetzentwurfs, der vor- dass am Ende Gerichte dafür sorgen müssen, dass Ge- liegt. Was ist eigentlich Tierwohl? setze und Verordnungen in der Praxis umgesetzt werden, siehe heute die Entscheidung zum Kastenstand im Bundesrat; die Debatte dazu hat lange genug gedauert. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende. Es reicht nicht aus, nur die Landwirtschaft in den Blick zu nehmen. Die Schlacht um die Verarbeitungsindustrie, Susanne Mittag (SPD): der Lebensmitteleinzelhandel, Transport, Veterinärwe- Jawohl. sen, Tierschutzorganisationen sowie Verbraucherinnen und Verbraucher müssen und sollen in einen Umbau der (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der Tierhaltung in Deutschland einbezogen werden. CDU/CSU) (B) In den Diskussionen geht es jedoch nicht allein um die Also, ich bin optimistisch, dass das Ministerium das (D) Art der Tierhaltung, sondern auch um die Frage des Res- diesen Sommer hinbekommt. Wir wünschen da alles Gu- sourcenverbrauchs, des Klimaschutzes und der gesund- te, und im Herbst wollen wir auch entscheiden. heitlichen Folgen des derzeitigen Fleischkonsums. Daher Herzlichen Dank. greifen die Oppositionsanträge zu kurz oder sind teilwei- se auch veraltet. Mit dem Einsetzen des Kompetenznet- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwerks Nutztierhaltung haben Sie, Frau Klöckner, einen der CDU/CSU) wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Aber den entscheidenden Schritt hat dann doch der Vorsitzende, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: der ehemalige Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Borchert, vollzogen. Karlheinz Busen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP) – Ja, den können Sie auch mal beklatschen; er hat gut gearbeitet. Karlheinz Busen (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahrzehnte Mit Sachverstand, Ausgleichsfähigkeit und Zähigkeit wurde der Stallbau von der Politik stiefmütterlich behan- hat er die betroffenen Verbände an einen Tisch geholt, um delt. Als selbstständiger Bauingenieur habe ich über viele ein gemeinsames Ergebnis in relativ kurzer Zeit vorzu- Jahrzehnte Ställe gebaut, und aus Erfahrung kann ich legen. Das hat jahrelang nicht funktioniert. Es wurden sagen: Stallbau ist hochkomplex. Es ist trotzdem völlig Vorschläge auf den Tisch gelegt, deren Deutlichkeit viele überflüssig, für kleinste Änderungen eines Stalles, die vorher wahrscheinlich nicht erwartet hätten. Ich war ganz dem Wohl der Tiere dienen, riesige Bauanträge vorzu- begeistert. Und gut, wo immer Sie auch sind, dass Sie sehen. weiter bei der Debatte sind. Wir wollen, dass die Empfehlungen des Kompe- (Beifall bei der FDP) tenznetzwerks Nutztierhaltung die Grundlage für die Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ist gut ge- zukünftige Ausrichtung der landwirtschaftlichen Nutz- meint. Aber auf einen vorhabenbezogenen Bebauungs- tierhaltung werden. Zeitnah muss daher eine Machbar- plan sind die wenigsten Betriebe angewiesen. Stattdessen keitsstudie vorgelegt werden; das ist schon mal für heute bleiben die Vorschriften im Bundes-Immissionsschutzge- der Auftrag. Bis zum Herbst dieses Jahres müssen die setz bestehen. Solange diese Vorschriften bestehen blei- Empfehlungen mit detaillierten Regelungsvorschlägen ben, bringt der Gesetzentwurf keinen Mehrwert. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21457

Karlheinz Busen (A) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Dr. Kirsten Tackmann (C) Der zudem vorgelegte Antrag der Koalitionäre ist mit [DIE LINKE]: Sagt die FDP!) der heißen Nadel gestrickt. Sie wollten doch nur nicht schon wieder mit leeren Händen dastehen, während wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Freie Demokraten Ihnen immer gute Vorschläge unter- Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin breiten. Dr. Kirsten Tackmann. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Frau Klöckner, Sie sollten auch Ihre Prioritäten klären. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Setzen Sie sich für umfassende Erleichterungen im Stall- baurecht ein! Das Herzensanliegen, Frau Ministerin, die Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen Tierwohlkennzeichnung, ist leider nicht erfolgreich. und Kollegen! Die sogenannte Borchert-Kommission Trotz eines guten privaten Kennzeichnungssystems in hat im Auftrag von Ministerin Klöckner im breiten Kon- Deutschland wollen Sie ein nationales Label gesetzlich sens Vorschläge für mehr Tierwohl vorgelegt. Union und und freiwillig einführen. Finanzieren wollen Sie das mit SPD greifen das heute auf. Es ist gut, aber auch über- einem Umverteilungsmodell ähnlich wie beim EEG. fällig. (Julia Klöckner, Bundesministerin: Da haben (Beifall bei der LINKEN) Sie was verwechselt!) Gerade als Tierärztin weiß ich sehr gut, dass es ein Wer mehr Tierwohl will, soll dafür an der Ladentheke Weiter-so nicht geben darf. bezahlen. Ein Tierwohl-EEG braucht dieses Land aber Aber es geht nicht nur um bessere Ställe. Ich kritisiere nicht. ein krankes System, und zwar schon viele Jahre. Auch Ministerin Klöckner stellt unterdessen die Systemfrage. (Beifall bei der FDP – Dr. Kirsten Tackmann Nur muss sie die als zuständige Ministerin auch beant- [DIE LINKE]: Oh, mein Gott!) worten. Ambitioniert wäre ein europäisches Label, das die Standards bei der Tierhaltung europaweit harmonisiert. (Beifall bei der LINKEN) Ihr Vorschlag eines nationalen Alleingangs ist ambitions- Denn es geht um ein System, in dem Tiere, Menschen los, mutlos und nutzlos. Gestern noch hat mir der Wissen- und Natur ausgebeutet werden, und zwar zum Wohl we- schaftliche Dienst bestätigt: Eine Tierwohlabgabe, wie niger, aber auf Kosten von uns allen. Das ist weder ak- von Ihnen geplant, wäre verfassungswidrig. Wenn Sie zeptabel noch zukunftsfähig. (B) einen nationalen Tierwohlkonsens erreichen wollen, (D) dann müssen Sie mehr liefern als nur kalten Kaffee. (Beifall bei der LINKEN) Die Folgen einer scheinheiligen Politik mit immer hö- Man braucht übrigens kein Brennglas einer Pandemie, heren Auflagen sieht man in der Schlachtindustrie. Drei um das festzustellen. Spätestens seit dem Gutachten des Unternehmen beherrschen mehr als 50 Prozent des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarfragen, also seit Schlachtmarktes. Das ist die direkte Folge einer ideologi- März 2015, kennen wir den dringenden Handlungsbe- schen grünen Politik. darf. Die Union bewegt sich nur auf großen Druck, und dann lediglich in homöopathischen Dosen. Die Verlierer (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist sind nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen, die der Markt! Das ist Ihr Markt, der das macht!) sie betreuen, die in Schlachthöfen arbeiten oder in Super- märkten, ganz zu schweigen von Natur und Klima. Wer Wenn Sie Menschen bürokratisieren, bevormunden und übernimmt endlich die Verantwortung dafür, dass die abkassieren, müssen Sie sich nicht wundern, wenn es nur ganze Lebensmittelkette mit Vollgas in die Sackgasse ge- noch wenig Platzhirsche am Markt gibt. fahren wurde? Die tierhaltenden Betriebe wurden im (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stich gelassen, erst recht jene, die sich längst aufgemacht NEN]: Ich denke, wir reden über Schweine!) haben, weil sie wissen, dass sie ihre Tiere so betreuen sollen, dass sie gut leben können. Aber sie brauchen eben Kleinbetriebe können bei diesem Regulierungswettlauf nicht nur Geld; sie brauchen Schutz vor dem übermäch- nur verlieren. tigen Druck von Schlacht- und Handelskonzernen. (Beifall bei der FDP – Dr. Kirsten Tackmann (Beifall bei der LINKEN) [DIE LINKE]: Sagt die FDP!) Der Koalitionsantrag öffnet Türen, ja, aber eben nicht Werkverträge und Zeitarbeit gibt es in diesem Ausmaß mehr und nicht weniger. Weil das Anliegen wichtig ist nur, weil Rote und Grüne es verbockt haben, den Unter- und die Richtung immerhin stimmt, wird Die Linke heute nehmen genug Beinfreiheit zu lassen. Wenn Sie bei der zustimmen. Trotzdem müssen wir zwingend über ein Tierhaltung so sehr gegen große Stallanlagen sind, dann paar Defizite reden. Ich will zwei zentrale nennen. dürfen Sie die bürokratischen Fesseln nicht immer enger ziehen. Der grüne Antrag zeigt einmal mehr: Es geht nur Erstens. Die Kosten müssen fair verteilt sein. Also sind um Ideologie. Für eine erfolgreiche Zukunft brauchen wir statt eines Aufpreises lieber erst mal die Profiteure zur allerdings keine Ideologie, sondern nur Vernunft. Kasse zu bitten. Danke. (Beifall bei der LINKEN) 21458 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dr. Kirsten Tackmann (A) Und übrigens, wer Dumpingpreise und die Unmoral von Exportorientierung von heute umbauen. Das wird so (C) Tönnies und Co duldet, hat überhaupt gar nicht das Recht, nicht sein. an die Moral von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu appellieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben heute festzustellen, dass man quasi sagen (Beifall bei der LINKEN) kann: Die gesellschaftliche Betriebserlaubnis für den Zweitens. Die Hochrisikostrukturen entlang der ge- Großteil der heutigen Tierhaltung ist abgelaufen. – Und samten Lieferkette müssen korrigiert werden. Deswegen wir wissen, als Rahmenbedingungen auch einiges andere. stellt die Linksfraktion heute ihren Antrag zur Abstim- Es wird Gerichtsentscheidungen geben. Wenn jetzt mung; denn wer flächengebundene Tierhaltung will, der groß geplant wird – meine Kollegin Mittag hat sich ja muss auch bereit sein, Tierbestände zu deckeln, und zwar sehr engagiert; das finde ich auch positiv –, wenn wir sowohl in Regionen als auch an Standorten. glauben würden, dass das, was jetzt oder im nächsten (Beifall bei der LINKEN) halben Jahr hier in dem Rahmen vereinbart würde, ewig Bestand hat, dann steht dahinter ein Nein: Nächsten Aber dazu brauchen wir einen sozialverträglichen Um- Sommer, im Sommer 2021, wird das Bundesverfassungs- bau. gericht über die Schweinehaltung entscheiden, es wird Aber nicht nur die Ministerin muss ihren Job machen, auch in anderen Bereichen Gerichtsentscheidungen ge- sondern auch die Koalition. Und das heißt für uns Linke ben, und danach müssen wir uns strecken. Wir müssen ganz klar: Erstens. Die Vernünftigen müssen vor den uns danach strecken, dass der Artikel 20a Grundgesetz Skrupellosen geschützt werden. Und zweitens. Die Kos- tatsächlich umgesetzt wird, ernsthaft. ten für mehr Tierwohl müssen auf breite Schultern ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN teilt werden statt auf die schmalen. Daran werden wir alle sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE Vorschläge messen. LINKE]) Und klar ist auch: Wer Machtverhältnisse und Struktu- Was ich als Mangel in unserer Debatte empfinde, ist, ren nicht korrigiert, wird allenfalls Symptome lindern. dass das Thema Klima in diesem Punkt überhaupt nicht Als Linke wollen wir das kranke System nicht. adressiert wird. Der Arbeitsauftrag in dem Kontext von Vielen Dank. Frau Klöckner hat die Reduktion von Tierzahlen gar nicht dabei. (Beifall bei der LINKEN) Und wissen Sie was? Die Landwirtschaft, insbesonde- (B) re die Tierhaltung, muss aber den Ausstoß an CO2 und (D) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Methan reduzieren. Wir können doch nicht sagen: Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwei Hinweise: Ers- machen ein Programm mit Zielstellung 2030 und 2040, tens. Ich bitte die Mitglieder des Ältestenrates, sich in und zwischendurch operieren wir dann in drei, vier Jah- dessen Sitzungssaal zu begeben. Die Sitzung beginnt ren das Thema Klima noch rein. – Das halte ich für einen jetzt. Mangel. Wir müssen die Courage haben, die Dinge zu- Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass wir um sammen zu organisieren. 15.20 Uhr die namentliche Abstimmung schließen. Also, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wer noch nicht abgestimmt hat, hat dafür noch acht Minu- ten Zeit. Ich sage: Ja, meine Damen und Herren, die Borchert- Kommission ist beachtlich. Es ist beachtlich, wer sich da Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, alles zusammengefunden hat. Aber es ist eben leider auch Bündnis 90/Die Grünen. nicht genug: Der Tierschutzbund war gar nicht drin, die Verbraucher sind ausgestiegen, über die Reduktion der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Tierzahlen ist nichts da, die Weltmarktorientierung bleibt, Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Menge an Gülle bleibt, die wegen der Reinigung hohen Wasserpreise bleiben, und wir haben einen Vor- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es schlag zum Baugesetzbuch vorliegen, das den unbe- wäre nicht aufrichtig gegenüber den Bäuerinnen und stimmten Begriff „Tierwohl“ nimmt, den noch keiner Bauern, den Landwirten, wenn wir behaupten würden definieren kann, oder sie in einer Art Sicherheit wiegen würden, die da heißt, dass die Tierhaltung in der heutigen Art und Di- (Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Aber Sie mension in Zukunft Bestand haben kann. auch nicht!) Es wäre nicht aufrichtig, wenn man sagen würde: So, und sagt: „Die Ställe dürfen größer werden“, aber nicht ein paar kleine Änderungen, und dann kann das tatsäch- sagt: weniger Tiere. – Das ist zu wenig, meine Damen lich für das Unternehmen für 10, 20, 30 Jahre aussichts- und Herren. voll so weiterbetrieben werden. – Und es wäre übrigens auch nicht fair und aufrichtig, wenn wir gegenüber den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) jungen Leuten, ob jetzt solchen von Fridays for Future Deshalb haben wir einen eigenen Antrag gemacht, der oder jungen Bäuerinnen und Bauern, so tun würden, als einen ganz klaren Zielpfad hat, der auch sagt, für alle könnten wir ein System auf der Basis der Freiwilligkeit, Tiere müsse es rechtlich verbindliche Mindeststandards also nur für die, die mitmachen, und bei Beibehaltung der für ein artgerechtes Leben geben. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21459

Renate Künast (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, 90 Prozent unserer (C) Die Ausnahmen – von Qualzucht bis Amputation der Bevölkerung sind Fleischesser. Das ist keine Nische. Für Tiere, damit sie in die Ställe passen –, müssen jetzt auf- dieses Verbraucherbedürfnis halten unsere Landwirte gehoben werden, nicht irgendwann. Nutztiere. Es ist ihr Beruf, sie leben davon, und es ist ein Beruf, der Sachkenntnis, der Befähigung, der hohe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Investitionen, viel Einsatz und auch Zeit erfordert. Das ist kein Beruf, der der Work-Life-Balance entspricht. Er Erstens. Verpflichtende Haltungs- und Herkunftskenn- hat damit wenig zu tun. Auch deshalb nimmt die Zahl der zeichnung, ein Tierschutzmonitoring und Tierschutzkon- tierhaltenden Betriebe in Deutschland kontinuierlich ab. trollen sowie ein Tierschutzbeauftragter – das alles gehört Auflagen, steigende Kosten, harter internationaler Wett- dazu, damit man den Prozess weiter begleiten kann. bewerb kommen hinzu. Wissen Sie, 2040 ist ein hehres Ziel, aber es ist weit Die Tierhalter sind in dieser Debatte das eine Ende, wir weg. Wir müssen zum Beispiel bis 2030 Klimaleistungen Verbraucher sind das andere Ende. Der Großteil der Ver- erbringen. Die sind hier nicht adressiert. braucher sagt: Wir wollen besseres Fleisch mit mehr Tier- Und zweitens sage ich Ihnen: Es wäre unfair den wohl. Tiere werden geschlachtet; dann sollen sie wenigs- Bauern und Bäuerinnen gegenüber, falsche Hoffnung zu tens ein gutes, ein besseres Leben gehabt haben. Diese verbreiten, wenn wir sehen, dass im Markt die großen Forderung, sehr geehrtes Parlament, unterstütze ich und Konzerne oder auch die Mittelständischen zum Teil aus unterstützen wahrscheinlich alle hier in diesem Haus. Es Fleisch aussteigen und als Alternative vegane Produkte geht um Respekt den Tieren gegenüber, aber auch den auf den Markt bringen. Das wird auch eine Konkurrenz Tierhaltern, statt ihnen, wie es in Mode gekommen ist, für die Bauern sein. pauschal immer das Schlimmste zu unterstellen. Also, halten wir die Bauern nicht in falscher Sicher- (Beifall bei der CDU/CSU) heit, sondern helfen wir ihnen, die Tierhaltung massiv auf artgerechte Standards zu bringen oder eben auch auf neue Aber für mehr Tierwohl braucht es bessere Preise an Produkte zu gehen. Das muss unsere Zielstellung sein. der Theke: Mehr Tierwohl im Stall, bessere Preise an der Theke. Fleisch soll kein Luxusprodukt für Reiche wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den, aber Fleisch soll auch keine Alltagsramschware sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Deshalb, liebe Kollegen: Wenn Fleisch als Lockmittel Die nächste Rednerin ist die Frau Bundesministerin herhalten muss, um Käufer in den Laden zu bekommen, Julia Klöckner für die Bundesregierung. – Frau Ministe- (B) dann halte ich das ethisch für bedenklich; denn Billig- (D) rin. preise bei Fleisch und Wurst geben niemals den wahren (Beifall bei der CDU/CSU) Wert wieder. „Kracher Hammerpreise“, „noch billiger“, „Preise in den Keller“ – so flattert die Werbung nahezu Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und wöchentlich mit den Prospekten in den Briefkasten. Ich Landwirtschaft: halte diese Art von Werbung aus ethischen Gründen nicht Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und für in Ordnung. Kollegen! Eines vorweg: Herr Busen, ich habe Sie nicht so oft im Agrarausschuss gesehen. Das erklärt auch, wa- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: rum Sie Tierwohlabgabe, Tierwohlkennzeichen, Freiwil- Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? ligkeit und Nichtfreiwilligkeit so durcheinandergeworfen haben. Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und (Widerspruch des Abg. Karlheinz Busen Landwirtschaft: [FDP]) Gerne. Ich glaube, es ist schon wichtig, dass man das ein biss- chen aufklärt. Dr. Gero Clemens Hocker (FDP): Vielen Dank, Frau Ministerin, dass Sie diese Zwi- Verehrte Frau Künast, Sie sagen, dass der vzbv ausge- schenfrage zulassen. – Die Kollegin Künast hat eben stiegen sei. Auch das ist falsch. Der vzbv ist die ganze davon gesprochen, dass, selbst wenn die Vorschläge der Zeit dabei gewesen. Nur bei dem Thema Tierwohlabga- Borchert-Kommission vollumfänglich umgesetzt werden be, die Sie ja unterstützen, hat er Nein gesagt. Ich glaube, würden, es dann keine Zusicherung an die Landwirte, die wir sollten da ein bisschen ehrlicher sein. Bäuerinnen und Bauern in Deutschland geben könnte, dass damit sozusagen das Ende der Fahnenstange erreicht (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wäre. Das heißt für mich, dass Landwirte damit immer NEN]: Ich habe das nicht unterstellt! Er unter- noch keine Planungsgrundlage haben, sondern sie davon schreibt nicht! Er hat nicht unterschrieben!) ausgehen müssen, dass auch zusätzliche Auflagen darü- Also, wenn Sie hier Wert darauf legen, dass man or- ber hinaus vom Gesetzgeber beschlossen werden, die sie dentlich arbeitet, dann würde ich das gerne auch von dann einzuhalten haben. Ihnen verlangen. Deswegen würde ich von Ihnen gerne wissen, Frau (Beifall bei der CDU/CSU) Ministerin, ob Sie den Landwirten in Deutschland eine 21460 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dr. Gero Clemens Hocker (A) Garantie geben können, dass, selbst wenn die Vorschläge um am Ende Verbraucher in den Laden zu locken und (C) der Borchert-Kommission umgesetzt werden würden, mischkalkulatorisch das Ganze auf den Waschmittelpreis dann für einen überschaubaren Zeitraum keine weiteren, draufzuschlagen, halte ich das für unanständig. Deshalb zusätzlichen Auflagen auf unsere Nutztierhalter zukämen werden wir prüfen, ob wir juristisch gegen diese Dum- und sie damit Planungssicherheit hätten. pingpreise bei Lockangeboten von Fleisch vorgehen kön- nen. Denn es kann doch niemand allen Ernstes glauben, Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und dass für diese paar Cent ein Tier gut gelebt hat, ein Bauer Landwirtschaft: ordentlich kalkuliert hat und ein Schlachthofarbeiter an- Wenn die CDU weiterhin eine Regierungsfunktion hat, ständig bezahlt werden konnte. kann ich Ihnen diese Garantie geben. Mir geht es um regionale Erzeugung und um die Er- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – höhung von Tierwohlstandards. Genau mit dieser Zu- Heiterkeit der Abg. Susanne Mittag [SPD] – kunftsfrage, wie wir die Nutztierhaltung in Deutschland Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tierwohlgerecht so umbauen, dass Landwirte davon auch NEN]: Stimmt nicht!) leben können, hat sich die Borchert-Kommission be- schäftigt, die ich in Auftrag gegeben habe. Ich danke – Ich bin noch nicht fertig, nein, nein. Ich wollte schon Jochen Borchert sehr, sehr herzlich. Er ist aktiv. Es wer- noch tiefer einsteigen. den jetzt gerade – Frau Mittag, das wissen Sie – die Herr Dr. Hocker, danke für Ihre Frage, die ich für sehr anderen Kriterien erarbeitet. Ich halte es für wichtig, dass berechtigt halte. Wir brauchen eine Art Generationenver- wir sie wieder im Konsens für die anderen Tierarten er- trag, wenn es um den Umbau der Tierhaltung geht. Es arbeiten und wir nicht jetzt einzeln vorpreschen. Sie wis- geht hier um einen Umbau der Tierhaltung in Deutsch- sen, die Coronazeit hat auch einige vulnerable Mitglieder land, der erreicht, dass auch darüber geredet wird und die dieser Gruppe dazu gezwungen, etwas zurückzufahren. Erkenntnis deutlich gemacht wird: Wir sind in einem Ihre Arbeit fährt jetzt wieder hoch. großen Markt und in einem Wettbewerb, und wer mehr Deshalb: Danke an Jochen Borchert, an die ganze für das Tierwohl tun will, der erweist dem Tierwohl einen Kommission; aber ich will auch Ihnen, den Mitgliedern Bärendienst, wenn er Tierhalter aus dem Land treibt und dieses Parlamentes, danken. Ich habe alle Anträge durch- wir dann Fleisch importieren, über dessen Standards wir gelesen. Ich sehe in diesen Anträgen Rückenwind für die überhaupt nicht mitentscheiden können. Insofern wird es Borchert-Kommission und auch den Willen, dass wir bei allen Wünschen für mehr Tierwohl, die man aus dem partei-, dass wir fraktionsübergreifend einen Konsens Bauchgefühl hat, wichtig sein, dass Anspruch und Um- herstellen, um Tierhaltung in Deutschland zu halten, aber setzung auch zusammenpassen, das heißt, dass entweder (B) das Tierwohl schwungvoll zu verbessern und vor allen (D) die Ansprüche, die wir an die Tierhaltung im Stall haben, Dingen unsere Ställe nachhaltig umzubauen. an der Theke bezahlt werden oder zwischendrin mit staatlichen Förderungen geholfen wird, dass eine Land- Dafür, sagen wir, brauchen wir einen Pakt vom Stall wirtsfamilie davon leben kann. Ansonsten werden die bis zum Teller; den müssen wir schmieden. Aber wir Tierhalter hier aufhören, und wir werden nicht alle Vege- fangen nicht erst heute an, uns mit der Frage des Tier- tarier oder Veganer werden. wohls zu befassen, sondern Sie wissen: Ich habe mich auch für 300 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket Deshalb gebe ich den Landwirten eine Zusage. Sie eingesetzt. Soeben ist im Bundesrat die Verordnung zur brauchen eine Zusage; da bin ich absolut bei Ihnen. Denn Nutztierhaltung in einem breiten Konsens angenommen wer heute einen Stall umbaut, nicht um mehr Tiere zu worden. Sie hat eines erreicht: mehr Tierwohl, mehr Tier- halten, sondern um für die Tiere, die er hat, mehr Platz, schutz. Wir helfen den Tierhaltern mit richtig viel Geld Außenluft, Frischluft und Bewegungsfreiheit zu haben, des Bundes, dass sie schnell die Ställe umbauen können, braucht nicht nur die gesetzlichen Grundlagen dazu; er dass wir Tierhaltung hier halten, aber den Anspruch erhö- muss auch Zielkonflikte, wenn es um die TA Luft oder hen und vor allen Dingen Gas geben, um zu zeigen, dass das Baugesetzbuch geht, von uns als Politikern klar im Ökologie, Ökonomie und die soziale Frage zusammen- Sinne des Tierwohls gelöst bekommen. Er benötigt aber passen. Da sind wir Verbraucher gefragt, da sind Tier- dann auch eine gewisse gesellschaftliche Friedenspflicht, halter gefragt, und da ist die gesamte Kette gefragt. Da wenn er nämlich Hunderttausende, 1 Million Euro oder kann sich keiner raushalten. noch mehr investiert. Er bekommt einen Kredit überhaupt nicht, wenn nicht klar ist, dass er auch für eine Zeit lang (Beifall bei der CDU/CSU) die Zusage hat, dass er planbar wirtschaften kann. Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolle- Deshalb meine ich: Ja, die breite Beteiligung bei dieser ginnen und Kollegen: Am Ende muss der Verbraucher Kommission, die ich eingesetzt habe, hat genau diesen erkennen können, was für ein Fleisch er an der Theke Grund gehabt, dass wir eine gesellschaftliche Akzeptanz kauft. Deshalb haben wir für ein Tierwohlkennzeichen und einen Konsens brauchen, der überparteilich und klare Kriterien entwickelt. Im Übrigen sind die auch die überfraktionell sein soll. Deshalb brauchen Landwirte Grundlage für die Empfehlungen der Borchert-Kommis- Planungssicherheit. sion. Diese Kriterien für ein Tierwohlkennzeichen sind so wichtig, dass man an der Ladentheke auch dokumentie- (Beifall bei der CDU/CSU) ren kann, wie wichtig einem am Ende mehr Tierwohl ist. Sehr geehrte Damen und Herren, ich war bei der Frage Für unsere europäische Ratspräsidentschaft habe ich das der Preise. Wenn Fleisch als Ramschware genutzt wird, Thema eines europäischen Tierwohlkennzeichens auf die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21461

Bundesministerin Julia Klöckner (A) Tagesordnung gesetzt. Das geschah zum ersten Mal, das kann, zeigen uns gerade Tönnies und Co. Wenn die (C) gab es so noch nie. FDP das toll findet, dann ist das ihre Sache; wir finden das alles schlecht. In einem halben Jahr werden wir auf europäischer Ebene kein Tierwohlkennzeichen verabschiedet haben, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aber wir stoßen es an. Ich halte es für wichtig, nicht nur der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE national, sondern wirklich europäisch zu denken. Dazu GRÜNEN – Widerspruch des Abg. Karlheinz gehören dann auch Transportzeiten, dazu gehört auch die Busen [FDP]) Frage der Schlachtung und dass wir eine Dezentralität Ich finde, Jochen Borchert hat eine tolle Arbeit ge- brauchen – Frau Tackmann sagte, wir brauchen sie stär- leistet. Ich freue mich für die Koalition, dass wir es mög- ker –, auch in der Schlachtbranche. Das halte ich für lich gemacht haben, das heute zu diskutieren. Wenn ich notwendig, das halte ich für wichtig. Deshalb will ich das Papier von Jochen Borchert richtig verstanden habe, heute noch einmal klar und deutlich sagen: Fleisch soll geht es darin um zwei zentrale Punkte. Der eine Punkt ist kein Luxusprodukt sein. Aber wenn der Landwirt für sein Transparenz; und aus der Transparenz wird gesellschaft- Tier mehr Geld bekommt, dann kann er auch gelassen liche Akzeptanz abgeleitet. Lassen Sie mich drei Gedan- sein, wenn es darum geht, ob er weniger Tiere hält. So ken dazu sagen. wird ein Schuh daraus. Es gibt einen „Zeit“-Artikel von letzter Woche, in dem Deshalb ist diese Borchert-Kommission wichtig, zu- „Tiere töten“ beschrieben wird, ein sehr nachdenklicher sammen mit allen anderen Vorschlägen und Aktivitäten, Artikel. Ich fasse ihn mal zusammen: „Die Zeit“ sagt, die wir angehen, das heißt: Förderung bei der Digitalisie- dass wir sehr, sehr sorgfältig aufpassen müssen, dass rung. Wir messen das Tierwohl und messen die Bewe- wir das lebende Tier Schwein nicht als laufendes Schnit- gungsprofile von Tieren. Wir entwickeln die Ställe der zel sehen und damit entseelt. Ich glaube, das ist eine ganz, Zukunft. Wir geben 40 Millionen Euro aus. Dieses Geld ganz große Gefahr, in der wir uns befinden, gerade den investieren wir in die Ställe der Zukunft. Wir wollen, dass jungen Menschen gegenüber. Wir laufen Gefahr, den jun- am Ende das Tierwohl, der Respekt vor dem Tier, aber gen Menschen das Signal zu geben: Wir akzeptieren das auch der Respekt vor dem Tierhalter und am Schluss der Tier nicht mehr als Lebewesen. – Lassen Sie uns gemein- Respekt vor dem Verbraucher, der selbst entscheidet, was sam diesen Tag heute nutzen, um das Gegenteil zu be- er verzehrt, zusammen gedacht werden und nicht die ein- weisen. zelnen Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Dafür legt die Union die Grundlage, zusammen mit der Ernst [DIE LINKE]) SPD, und ich lade Sie alle, alle Fraktionen ein – ich werde (B) auf Sie zukommen –, diesen gemeinsamen gesellschaft- Der zentrale Punkt, über den wir heute diskutieren, ist (D) lichen Konsens zu nutzen. Begonnen haben wir lange vor das Baugesetzbuch. Lassen Sie mich auch dazu ein paar den Skandalen und den Schlagzeilen in der Schlacht- Gedanken verlieren. Im Baugesetzbuch, so wie wir es branche. Aber wir haben jetzt das Momentum, aus den jetzt andiskutieren – so werden wir es nicht enddiskutie- Anfängen einen Trend zu machen. ren, sicher nicht –, ist Privilegierung vorgesehen, und zwar auf der Basis der Gesetzgebung von 2013. Nun sind, Herzlichen Dank. glaube ich, viele von Ihnen wie ich aus der Kommunal- (Beifall bei der CDU/CSU) politik gekommen, und mich hat eins immer höllisch in Zorn gebracht: wenn ich über ein Privileg gestolpert bin und als Bauausschussvorsitzender etwas durchwinken Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: musste, was meine ganze Gemeinde nicht wollte. Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zurück können heute nicht dazu übergehen, etwas privilegieren zu Zusatzpunkt 39. Die Zeit für die namentliche Abstim- zu wollen, was die Menschen vor Ort nicht wollen. mung über den Geschäftsordnungsantrag ist gleich vor- bei. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich Stimme nicht abgegeben hat? – Draußen ist auch alles Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) okay? – Gut, dann schließe ich die Abstimmung und bitte Wenn wir über gesellschaftliche Akzeptanz reden, die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- dann müssen wir uns darüber im Klaren sein: Welche lung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später be- unserer Schritte erzeugen welche Reaktionen vor Ort? 1) kannt gegeben. Jetzt sage ich mal ganz bewusst an die Kolleginnen und Wir kommen wieder zurück zum Tagesordnungs- Kollegen aus dem Südwesten dieses Landes: Ihre Region punkt 27. Der Kollege Rainer Spiering hat das Wort für hat eine völlig andere Struktur der bäuerlichen Landwirt- die SPD-Fraktion. schaft als die, aus der ich komme. Achten Sie sorgfältig darauf, dass Sie sich Ihre Strukturen erhalten! (Beifall bei der SPD) Wir haben heute von einem Hof gehört, der 12 050 Sauenplätze hat, 9 500 Quadratmeter überdacht Rainer Spiering (SPD): für Tiere, 1 Hektar. Das sind die Größenordnungen, über Herr Präsident! Frau Ministerin! Herr Busen, vorab: die wir reden, und dann kommen Sie nämlich auch an den Was Beinfreiheit bedeutet und wie man sie ausnutzen Punkt, an dem die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt. Wenn wir über die Änderung des Baugesetzbuches reden, 1) Ergebnis Seite 21464 C dann sollte sich jeder darüber im Klaren sein: Das kann 21462 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Rainer Spiering (A) nicht nur eine Richtung haben. Wenn, dann muss man Die FDP. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfeh- (C) darüber reden, wie weit man privilegiert oder wie weit lung des Ausschusses ist angenommen. man entprivilegiert. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c (Beifall der Abg. Renate Künast [BÜND- die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf NIS 90/DIE GRÜNEN]) Drucksache 19/15120 mit dem Titel „Nutztierhaltung an Fläche binden“. Wer ist für die Beschlussempfehlung des Und wenn man privilegiert, dann müssen auch die Fakten Ausschusses? – Das ist die Koalition, FDP und AfD. Ge- dafür geschaffen werden. genprobe! – Die Linke. Enthaltungen? – Die Grünen. Die Der unbestimmte Rechtsbegriff muss aufgelöst wer- Beschlussempfehlung ist damit angenommen. den. Dann definieren wir: Was ist im Immissionsschutz- Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ recht zulässig? Dann definieren wir: Wie viel Platz Grüne auf Drucksache 19/20566 mit dem Titel „Tiere braucht das Tier? Dann definieren wir: Wie viel Platzver- artgerecht halten und Bäuerinnen und Bauern ordentlich brauch ist überhaupt angegeben? Dann definieren wir: entlohnen“. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion Was ist Tierwohl als Ganzes? Wo fühlt sich das Tier Bündnis 90/Grüne? – Bündnis 90/Grüne stimmt dafür. wohl? Wir werden die ganze Kette der Definitionen in Wer stimmt dagegen? – AfD, FDP, CDU/CSU und das Baugesetzbuch packen, und wenn wir diese Defini- SPD. Enthaltungen? – Bei Enthaltung der Fraktion Die tionen abgeschlossen haben, dann können wir uns über Linke ist der Antrag abgelehnt. Privilegierung oder Entprivilegierung unterhalten. Zusatzpunkt 28. Interfraktionell wird Überweisung der Ich wünsche Ihnen allen eine schöne Sommerpause. Vorlage auf Drucksache 19/20597 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Aller- Herzlichen Dank. dings ist hier die Federführung strittig. Die Fraktionen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Aus- der CDU/CSU) schuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommu- nen. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aus- Ich lasse erst über den Antrag der Linken abstimmen, sprache. also Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt für diesen Antrag? – Die Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke sowie die AfD. Wer stimmt dage- Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache (B) gen? – Alle übrigen Fraktionen des Hauses. Enthaltun- (D) 19/20617 mit dem Titel „Empfehlungen des Kompetenz- gen? – Keine. Der Überweisungsvorschlag ist damit ab- netzwerkes Nutztierhaltung konsequent umsetzen und gelehnt. Zukunftsperspektiven für die Tierhaltung in Deutschland schaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag von CDU/CSU Wir stimmen ab über den Überweisungsvorschlag der und SPD? – Das ist die Koalition, die AfD und Die Linke. Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Federführung beim Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Kommunen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- GRÜNEN]: Ich stimme auch dafür!) schlag? – Das ist die Koalition, Grüne und FDP. Wer – Und eine Zustimmung aus der Fraktion Bündnis 90/ stimmt dagegen? – AfD und Linke. Enthaltungen? – Kei- Grüne. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Ent- ne. Der Überweisungsvorschlag ist damit angenommen. haltung der FDP und der Grünen mit den genannten Aus- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c auf: nahmen. Der Antrag ist damit angenommen. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, schusses für Ernährung und Landwirtschaft auf Druck- Immunität und Geschäftsordnung (1. Aus- sache 19/20673. Unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten fehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Thomas Seitz, Jens Maier, Andreas Bleck, Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/20120 weiterer Abgeordneter und der Fraktion der mit dem Titel „Zukunftsfähige Nutztierhaltung – Pla- AfD nungs- und Investitionssicherheit für Landwirte herstel- Änderung der Geschäftsordnung des len“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Aus- Deutschen Bundestages schusses? – Das sind alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Gegenprobe! – Die AfD. Enthaltungen? – Keine. hier: Besondere Lage beenden – § 126a Die Beschlussempfehlung ist angenommen. GO-BT aufheben Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- Drucksachen 19/19523, 19/20654 schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten tion der FDP auf Drucksache 19/20047 mit dem Titel Joana Cotar, Jens Maier, Uwe Schulz, weite- „Tierwohl europäisch denken und baurechtlich ermögli- rer Abgeordneter und der Fraktion der AfD chen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Dafür stimmen die Koalition, die AfD, Reform des Bundestages – Änderung der Die Linke und Bündnis 90/Grüne. Wer stimmt dagegen? – Geschäftsordnung des Deutschen Bundes- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21463

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) tages – Digitale Abstimmungsgeräte nut- Der Antrag lässt übrigens völlig offen, welche Beein- (C) zen trächtigungen der parlamentarischen Arbeit für eine so- fortige Aufhebung sprechen. Der Grund ist einfach: Es Drucksache 19/19243 gibt keine Beeinträchtigungen. Im Gegenteil: Es finden Überweisungsvorschlag: weiterhin Anhörungen statt, die ohne diese Regelung Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- nicht möglich wären. Sachverständige – wir haben das nung (f) Ausschuss Digitale Agenda (f) selbst erlebt – halten sich weiterhin die Möglichkeit of- Ausschuss für Inneres und Heimat fen, von einer Anreise nach Berlin Abstand zu nehmen Federführung strittig und im Wege der Videokonferenz zugeschaltet zu wer- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten den. Das heißt, eine Abschaffung zum jetzigen Zeitpunkt Thomas Seitz, Dr. Marc Jongen, Jens Maier, würde die Entscheidungsfindung nicht verbessern, ganz weiterer Abgeordneter und der Fraktion der im Gegenteil. Deshalb werden wir einer Aufhebung vor AfD dem Ablaufdatum 30. September nicht zustimmen. Reform des Bundestages – Änderung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Geschäftsordnung des Deutschen Bundes- der SPD und des Abg. Friedrich Straetmanns tages [DIE LINKE]) hier: Sachverständige vor Hass schützen Zum zweiten Antrag: „Digitale Abstimmungsgeräte nutzen“. Während die AfD also die Sonderregelung für Drucksache 19/20655 modernes Arbeiten im Bundestag abschaffen will, die wir Überweisungsvorschlag: in § 126a konstituiert haben, sollen mit einem anderen Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung heute für wichtig erachteten Antrag digitale Abstim- mungsgeräte eingeführt werden. Unter anderem mit die- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- ser Frage beschäftigen sich alle Fraktionen gerade in schlossen. einer Arbeitsgruppe, die vom Präsidenten eingerichtet Wir könnten zügig beginnen, wenn Sie den Raum ver- wurde. Der AfD war das Thema dort so wichtig, dass lassen oder sich hinsetzen würden. Ich verlasse den Raum sie bei einem Expertengespräch mit Rechtsprofessoren auch. in der letzten Sitzungswoche als einzige Fraktion nicht anwesend war. Eine schöne Sommerpause! (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Hört! Hört!) (B) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Da wundert man sich natürlich auch nicht, dass in dem (D) Der Kollege Friedrich hat schon angekündigt, dass wir Antrag überhaupt keine Ausführungen zu den verfas- die Aussprache eröffnen können, was ich hiermit tue. Ich sungsrechtlichen Fragen rund um die Einführung digita- erteile das Wort dem Kollegen Patrick Schnieder, CDU/ ler Abstimmungsgeräte auftauchen. Das ist eine ganz CSU. wesentliche und schwierige Entscheidung, bei der Rah- menbedingungen verfassungsrechtlicher Art zu berück- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sichtigen sind. Nun denn: Die AfD wird sich im Aus- Dr. Matthias Bartke [SPD]) schuss die entsprechenden Kenntnisse verschaffen,

Patrick Schnieder (CDU/CSU): (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Da sind wir uns Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! noch nicht so sicher! – Michael Grosse-Brömer Wir debattieren hier über ein Sammelsurium an Vorschlä- [CDU/CSU]: Im günstigsten Fall!) gen zur Änderung der Geschäftsordnung. und dann werden wir schauen, wie wir damit umgehen. Ich beginne mal mit dem ersten Punkt: Aufhebung des Der dritte Antrag hat die Überschrift „Sachverständige § 126a der Geschäftsordnung des Deutschen Bundesta- vor Hass schützen“. Der Antrag ist sehr kurzfristig vor- ges. Das ist eine Sonderregelung, die wir uns im März gelegt worden; ich habe ihn erst gestern bekommen. Ich unter dem Eindruck der Pandemie gegeben haben, damit habe mir vorher schon Gedanken gemacht: Was könnte wir hier in jedem Fall beraten und entscheiden können, in da drinstehen? Es gibt ein ganz einfaches Rezept: Wenn Ausschüssen auch durch Videokonferenzen und Fern- Sie mal aufhören würden, zu hetzen, Hass zu schüren, abstimmungen. Die Sonderregelung gibt uns auch die Möglichkeit, Experten und Sachverständige digital über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Videokonferenzen in den Ausschüssen anzuhören oder SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- die Öffentlichkeit über Videostreaming an öffentlichen NEN und des Abg. Friedrich Straetmanns Anhörungen teilhaben zu lassen. [DIE LINKE]) dann würden wir nicht nur Sachverständige vor Hass Man könnte darüber nachdenken, dass das alles auch schützen, sondern hätten in der Gesellschaft insgesamt ohne Pandemie sinnvolle Regelungen sind. Doch weil ein anderes Klima in der politischen Auseinandersetzung. wir auch das Quorum für die Beschlussfähigkeit hier im Bundestag angepasst haben, haben wir diese Regelung Aber was Sie inhaltlich dort präsentieren, ist geradezu mit einem Enddatum versehen, nämlich dem 30. Septem- widersinnig. Denn ausgerechnet bei öffentlichen – ich ber dieses Jahres. Von der Sonderregelung sind also noch sage es noch mal: bei öffentlichen – Anhörungen ist es genau drei Sitzungswochen berührt. doch geradezu widersinnig, Sachverständigenbenennun- 21464 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Patrick Schnieder (A) gen geheim zu halten. Es geht immer um Interessen, und Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) deshalb ist es doch gerade wichtig, zu wissen, wer wel- Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe chen Sachverständigen benannt hat und warum man sich ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern auf einen Sachverständigen beruft, um diese Transparenz ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung herzustellen. über den Geschäftsordnungsantrag der Fraktionen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gemäß Der Antrag ist inhaltlich also vollkommen daneben. § 80 Absatz 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 20 Ab- Wie gesagt, bei der Überschrift sind Sie Teil des Prob- satz 2 Satz 3 der Geschäftsordnung über den sofortigen lems, aber nicht der Lösung. Da können Sie was machen. Eintritt in die zweite Beratung des Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes bekannt: Vielen Dank. abgegebene Stimmkarten 636. Mit Ja haben gestimmt 261, mit Nein haben gestimmt 368, Enthaltungen 7. Der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Antrag hat damit jedenfalls nicht die Zustimmung der neten der SPD und der LINKEN und der Abg. Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundestages gefunden. Der sofortige Eintritt in die zwei- NEN]) te Beratung ist damit abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis Waldemar Herdt Thomas Seitz Dr. Christoph Hoffmann Abgegebene Stimmen: 635; Martin Hess Martin Sichert Reinhard Houben davon Dr. Heiko Heßenkemper Detlev Spangenberg Ulla Ihnen ja: 261 Karsten Hilse René Springer Olaf In der Beek nein: 367 Nicole Höchst Beatrix von Storch Gyde Jensen enthalten: 7 Martin Hohmann Dr. Alice Weidel Dr. Christian Jung Dr. Bruno Hollnagel Dr. Harald Weyel Karsten Klein Ja Leif-Erik Holm Wolfgang Wiehle Dr. Marcel Klinge SPD Dr. Heiko Wildberg Daniela Kluckert Thomas Oppermann Fabian Jacobi Pascal Kober Dr. Marc Jongen FDP Dr. Lukas Köhler Jens Kestner AfD Grigorios Aggelidis Carina Konrad (B) Stefan Keuter Wolfgang Kubicki (D) Dr. Bernd Baumann Renata Alt Norbert Kleinwächter Konstantin Kuhle Marc Bernhard Christine Aschenberg- Enrico Komning Dugnus Alexander Kulitz Andreas Bleck Jörn König Nicole Bauer Alexander Graf Lambsdorff Peter Boehringer Steffen Kotré Jens Beeck Ulrich Lechte Stephan Brandner Dr. Rainer Kraft Dr. Jens Brandenburg Christian Lindner Jürgen Braun Rüdiger Lucassen (Rhein-Neckar) Michael Georg Link Marcus Bühl Frank Magnitz Mario Brandenburg (Heilbronn) Matthias Büttner Jens Maier (Südpfalz) Oliver Luksic Petr Bystron Dr. Lothar Maier Sandra Bubendorfer-Licht Till Mansmann Tino Chrupalla Dr. Birgit Malsack- Dr. Marco Buschmann Dr. Jürgen Martens Joana Cotar Winkemann Karlheinz Busen Christoph Meyer Dr. Gottfried Curio Corinna Miazga Carl-Julius Cronenberg Alexander Müller Berengar Elsner von Hansjörg Müller Britta Katharina Dassler Roman Müller-Böhm Gronow Volker Münz Bijan Djir-Sarai Frank Müller-Rosentritt Dr. Michael Espendiller Sebastian Münzenmaier Christian Dürr Dr. Martin Neumann Dr. Anton Friesen Christoph Neumann Hartmut Ebbing (Lausitz) Dr. Götz Frömming Jan Ralf Nolte Dr. Marcus Faber Matthias Nölke Dr. Alexander Gauland Ulrich Oehme Daniel Föst Bernd Reuther Dr. Axel Gehrke Gerold Otten Otto Fricke Dr. h. c. Thomas Albrecht Glaser Tobias Matthias Peterka Thomas Hacker Sattelberger Franziska Gminder Paul Viktor Podolay Reginald Hanke Christian Sauter Wilhelm von Gottberg Jürgen Pohl Peter Heidt Frank Schäffler Kay Gottschalk Stephan Protschka Katrin Helling-Plahr Dr. Wieland Schinnenburg Armin-Paulus Hampel Martin Reichardt Markus Herbrand Matthias Seestern-Pauly Mariana Iris Harder-Kühnel Martin Erwin Renner Torsten Herbst Frank Sitta Dr. Roland Hartwig Roman Johannes Reusch Katja Hessel Judith Skudelny Jochen Haug Jörg Schneider Dr. Gero Clemens Hocker Dr. Hermann Otto Solms Udo Theodor Hemmelgarn Uwe Schulz Manuel Höferlin Bettina Stark-Watzinger Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21465

(A) Dr. Marie-Agnes Strack- BÜNDNIS 90/ Charlotte Schneidewind- Enak Ferlemann (C) Zimmermann DIE GRÜNEN Hartnagel Dr. Maria Flachsbarth Benjamin Strasser Kordula Schulz-Asche Luise Amtsberg Thorsten Frei Katja Suding Dr. Wolfgang Strengmann- Lisa Badum Dr. Hans-Peter Friedrich Linda Teuteberg Kuhn (Hof) Annalena Baerbock Michael Theurer Margit Stumpp Michael Frieser Margarete Bause Stephan Thomae Markus Tressel Hans-Joachim Fuchtel Dr. Danyal Bayaz Manfred Todtenhausen Jürgen Trittin Ingo Gädechens Canan Bayram Dr. Florian Toncar Dr. Julia Verlinden Dr. Thomas Gebhart Dr. Franziska Brantner Dr. Andrew Ullmann Daniela Wagner Agnieszka Brugger Alois Gerig Gerald Ullrich Beate Walter-Rosenheimer Dr. Anna Christmann Eberhard Gienger Johannes Vogel (Olpe) Gerhard Zickenheiner Ekin Deligöz Eckhard Gnodtke Sandra Weeser Katharina Dröge Ursula Groden-Kranich Nicole Westig Harald Ebner Fraktionslos Hermann Gröhe Matthias Gastel Marco Bülow Klaus-Dieter Gröhler DIE LINKE Kai Gehring Lars Herrmann Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Gökay Akbulut Stefan Gelbhaar Markus Grübel Dr. Dietmar Bartsch Katrin Göring-Eckardt Nein Manfred Grund Matthias W. Birkwald Erhard Grundl CDU/CSU Oliver Grundmann Michel Brandt Anja Hajduk Dr. Michael von Abercron Christine Buchholz Britta Haßelmann Monika Grütters Stephan Albani Jörg Cezanne Dr. Bettina Hoffmann Fritz Güntzler Sevim Dağdelen Dr. Anton Hofreiter Norbert Maria Altenkamp Christian Haase Fabio De Masi Ottmar von Holtz Peter Altmaier Florian Hahn Klaus Ernst Dieter Janecek Philipp Amthor Jürgen Hardt Susanne Ferschl Dr. Kirsten Kappert- Artur Auernhammer Matthias Hauer Nicole Gohlke Gonther Peter Aumer Mark Hauptmann Dr. André Hahn Uwe Kekeritz Dorothee Bär Dr. Matthias Heider (B) Heike Hänsel Katja Keul Thomas Bareiß Mechthild Heil (D) Matthias Höhn Sven-Christian Kindler Norbert Barthle Frank Heinrich (Chemnitz) Andrej Hunko Maria Klein-Schmeink Maik Beermann Mark Helfrich Dr. Achim Kessler Sylvia Kotting-Uhl Manfred Behrens (Börde) Rudolf Henke Caren Lay Oliver Krischer Veronika Bellmann Michael Hennrich Sabine Leidig Christian Kühn (Tübingen) Sybille Benning Marc Henrichmann Ralph Lenkert Renate Künast Dr. André Berghegger Ansgar Heveling Stefan Liebich Markus Kurth Melanie Bernstein Christian Hirte Dr. Gesine Lötzsch Monika Lazar Christoph Bernstiel Dr. Heribert Hirte Thomas Lutze Sven Lehmann Peter Beyer Alexander Hoffmann Pascal Meiser Steffi Lemke Marc Biadacz Karl Holmeier Amira Mohamed Ali Dr. Tobias Lindner Steffen Bilger Erich Irlstorfer Norbert Müller (Potsdam) Dr. Irene Mihalic Norbert Brackmann Thomas Jarzombek Zaklin Nastic Claudia Müller Michael Brand (Fulda) Andreas Jung Thomas Nord Beate Müller-Gemmeke Dr. Reinhard Brandl Ingmar Jung Petra Pau Dr. Ingrid Nestle Dr. Helge Braun Alois Karl Sören Pellmann Dr. Konstantin von Notz Silvia Breher Anja Karliczek Victor Perli Omid Nouripour Sebastian Brehm Volker Kauder Tobias Pflüger Friedrich Ostendorff Heike Brehmer Dr. Stefan Kaufmann Martina Renner Cem Özdemir Ralph Brinkhaus Ronja Kemmer Eva-Maria Schreiber Lisa Paus Dr. Carsten Brodesser Roderich Kiesewetter Dr. Petra Sitte Filiz Polat Gitta Connemann Michael Kießling Helin Evrim Sommer Tabea Rößner Astrid Damerow Dr. Georg Kippels Friedrich Straetmanns Claudia Roth (Augsburg) Alexander Dobrindt Volkmar Klein Dr. Kirsten Tackmann Dr. Manuela Rottmann Michael Donth Axel Knoerig Jessica Tatti Corinna Rüffer Marie-Luise Dött Jens Koeppen Andreas Wagner Ulle Schauws Hansjörg Durz Markus Koob Sabine Zimmermann Dr. Frithjof Schmidt Thomas Erndl Carsten Körber (Zwickau) Stefan Schmidt Hermann Färber Alexander Krauß 21466 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Gunther Krichbaum Dr. Christoph Ploß Arnold Vaatz Dr. Edgar Franke (C) Dr. Günter Krings Eckhard Pols Kerstin Vieregge Ulrich Freese Rüdiger Kruse Thomas Rachel Volkmar Vogel (Kleinsaara) Dagmar Freitag Dr. Roy Kühne Kerstin Radomski Christoph de Vries Martin Gerster Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Alexander Radwan Kees de Vries Angelika Glöckner Andreas G. Lämmel Alois Rainer Dr. Johann David Wadephul Timon Gremmels Katharina Landgraf Eckhardt Rehberg Marco Wanderwitz Kerstin Griese Ulrich Lange Lothar Riebsamen Nina Warken Michael Groß Dr. Silke Launert Josef Rief Kai Wegner Uli Grötsch Jens Lehmann Johannes Röring Albert H. Weiler Bettina Hagedorn Paul Lehrieder Dr. Norbert Röttgen Marcus Weinberg Rita Hagl-Kehl Dr. Katja Leikert Stefan Rouenhoff (Hamburg) Metin Hakverdi Dr. Andreas Lenz Erwin Rüddel Dr. Anja Weisgerber Sebastian Hartmann Andrea Lindholz Peter Weiß (Emmendingen) Dirk Heidenblut Dr. Carsten Linnemann Stefan Sauer Sabine Weiss (Wesel I) Hubertus Heil (Peine) Patricia Lips Dr. Wolfgang Schäuble Ingo Wellenreuther Gabriela Heinrich Nikolas Löbel Andreas Scheuer Marian Wendt Marcus Held Bernhard Loos Jana Schimke Kai Whittaker Wolfgang Hellmich Dr. Jan-Marco Luczak Tankred Schipanski Annette Widmann-Mauz Gabriele Hiller-Ohm Daniela Ludwig Christian Schmidt (Fürth) Bettina Margarethe Thomas Hitschler Wiesmann Dr. Saskia Ludwig Dr. Claudia Schmidtke Frank Junge Klaus-Peter Willsch Karin Maag Patrick Schnieder Josip Juratovic Nadine Schön Elisabeth Winkelmeier- Thomas Jurk Yvonne Magwas Becker Felix Schreiner Oliver Kaczmarek Dr. Thomas de Maizière Oliver Wittke Dr. Klaus-Peter Schulze Elisabeth Kaiser Gisela Manderla Tobias Zech Ralf Kapschack Dr. Astrid Mannes Emmi Zeulner Armin Schuster (Weil am Gabriele Katzmarek Matern von Marschall Paul Ziemiak Rhein) Cansel Kiziltepe Hans-Georg von der Dr. Matthias Zimmer (B) Marwitz Torsten Schweiger Arno Klare (D) Andreas Mattfeldt Detlef Seif Lars Klingbeil Stephan Mayer (Altötting) Johannes Selle SPD Dr. Bärbel Kofler Dr. Michael Meister Reinhold Sendker Niels Annen Daniela Kolbe Jan Metzler Dr. Patrick Sensburg Ingrid Arndt-Brauer Anette Kramme Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Bernd Siebert Bela Bach Christine Lambrecht Michelbach Thomas Silberhorn Heike Baehrens Christian Lange (Backnang) Dr. Mathias Middelberg Björn Simon Ulrike Bahr Dr. Karl Lauterbach Dietrich Monstadt Tino Sorge Nezahat Baradari Sylvia Lehmann Karsten Möring Jens Spahn Doris Barnett Helge Lindh Elisabeth Motschmann Katrin Staffler Dr. Matthias Bartke Kirsten Lühmann Axel Müller Dr. Wolfgang Stefinger Sören Bartol Caren Marks Sepp Müller Albert Stegemann Bärbel Bas Dorothee Martin Carsten Müller Andreas Steier Lothar Binding Katja Mast (Braunschweig) Peter Stein (Rostock) (Heidelberg) Christoph Matschie Stefan Müller (Erlangen) Sebastian Steineke Dr. Eberhard Brecht Hilde Mattheis Dr. Andreas Nick Johannes Steiniger Leni Breymaier Dr. Matthias Miersch Petra Nicolaisen Christian Frhr. von Stetten Dr. Karl-Heinz Brunner Klaus Mindrup Michaela Noll Dieter Stier Katrin Budde Susanne Mittag Dr. Georg Nüßlein Gero Storjohann Dr. Lars Castellucci Falko Mohrs Wilfried Oellers Stephan Stracke Bernhard Daldrup Claudia Moll Florian Oßner Max Straubinger Dr. Daniela De Ridder Siemtje Möller Josef Oster Dr. Hermann-Josef Tebroke Dr. Karamba Diaby Bettina Müller Henning Otte Hans-Jürgen Thies Esther Dilcher Detlef Müller (Chemnitz) Ingrid Pahlmann Alexander Throm Sabine Dittmar Michelle Müntefering Sylvia Pantel Dr. Dietlind Tiemann Saskia Esken Dr. Rolf Mützenich Martin Patzelt Antje Tillmann Yasmin Fahimi Dietmar Nietan Dr. Joachim Pfeiffer Markus Uhl Dr. Johannes Fechner Ulli Nissen Stephan Pilsinger Dr. Volker Ullrich Dr. Fritz Felgentreu Josephine Ortleb Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21467

(A) Mahmut Özdemir Svenja Stadler AfD (C) (Duisburg) Johann Saathoff Martina Stamm-Fibich Siegbert Droese Aydan Özoğuz Axel Schäfer (Bochum) Sonja Amalie Steffen Markus Paschke Dr. Nina Scheer Mathias Stein Christian Petry Marianne Schieder Kerstin Tack Fraktionslos Sabine Poschmann Udo Schiefner Claudia Tausend Dr. Achim Post (Minden) Dr. Nils Schmid Michael Thews Florian Pronold Ulla Schmidt (Aachen) Markus Töns Dr. Enthalten Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Träger Martin Rabanus DIE LINKE Mechthild Rawert Carsten Schneider (Erfurt) Ute Vogt Andreas Rimkus Johannes Schraps Marja-Liisa Völlers Doris Achelwilm Sönke Rix Ursula Schulte Dirk Vöpel Lorenz Gösta Beutin Martin Schulz Dr. Joe Weingarten Dennis Rohde Dr. Birke Bull-Bischoff Dr. Martin Rosemann Swen Schulz (Spandau) Bernd Westphal Dr. Diether Dehm René Röspel Frank Schwabe Dirk Wiese Dr. Ernst Dieter Rossmann Stefan Schwartze Gülistan Yüksel Anke Domscheit-Berg Michael Roth (Heringen) Andreas Schwarz Stefan Zierke Katja Kipping Bernd Rützel Rainer Spiering Dr. Jens Zimmermann Dr. Alexander S. Neu

Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.

Jetzt hat das Wort der Kollege Thomas Seitz, AfD. Aber auch jenseits des Schutzes der Sachverständigen bietet unser Vorschlag einen Mehrwert. Ein Sachverstän- (Beifall bei der AfD) diger, der nicht weiß, von wem er benannt wurde, kann kein Auftragsgutachten liefern. Es geht Ihnen doch auch Thomas Seitz (AfD): um die ergebnisoffene Einbeziehung externen Fachwis- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und sens und nicht um die auftragsgemäße Bestätigung einer (B) Herren! Ich beginne mit dem Antrag zum Schutz von vorgefassten Meinung. (D) Sachverständigen vor Hass – ein notwendiger Antrag, wenn mit SPD, Grünen und SED-Nachfolgern (Beifall bei der AfD) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Aus der Oder sind Sachverständigenanhörungen nur eine Simula- Mottenkiste!) tion oder ein Fake? drei Pro-Antifa-Fraktionen in ihrem Kampf gegen rechts Damit bin ich beim nächsten Antrag. Die Coronakrise, nahezu alle Mittel für zulässig halten. Und nur zur Er- meine Damen und Herren, die in Wahrheit eine von der innerung: Es waren Antifaschisten, die die Mauer gebaut Regierung leichtfertig verursachte Lockdown-Krise ist, und dort Menschen erschossen haben. fördert den Ausbau des bevormundenden Staates. Angst vor Krankheit und Tod ist das Fundament neuen Unter- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tanengeistes. Unser Hauptantrag fordert deshalb das En- NEN]: Zumindest haben sie sich so genannt!) de des Ausnahmezustandes auch im parlamentarischen Unsere einfache Forderung lautet, dass bei Sachver- Betrieb. Wir wollen mit diesem Antrag ein Zeichen set- ständigen nicht mehr mitgeteilt wird, von welcher Frak- zen. Es gilt, die besonderen Coronaregeln aufzuheben – tion diese benannt wurden, um die Sachverständigen vor in der Gesellschaft und auch im Parlament. Der Geltungs- beruflichen und privaten Repressalien zu schützen. zeitraum bis Ende September war von Anfang an viel zu lang; denn zu keinem Zeitpunkt war die Handlungsfähig- (Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]: Ich keit des Bundestages auch nur ansatzweise gefährdet; die werde das gleich mal erklären!) Teilnahmequoten bei den namentlichen Abstimmungen der letzten Wochen sprechen für sich. An Deutschlands hohen Schulen ist die Atmosphäre be- reits längst linksvergiftet. Echte Wissenschafts- und Mei- Es ist daher ein Skandal, wenn auch weiterhin die nungsfreiheit gibt es vielfach nicht mehr. Anwesenheit von einem Viertel der Abgeordneten aus- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE reicht, um Gesetze zu beschließen, und es ist ein Armuts- GRÜNEN]: Und wer hat das provoziert?) zeugnis, mit der zu erwartenden Ablehnung unseres An- trags in die ohnehin viel zu lange Sommerpause zu gehen. Mir liegt auch ein konkreter Fall vor, in dem ein von der Was denkt denn der Bürger da draußen im Land? Der AfD benannter Sachverständiger anschließend von einem Bürger sieht Abgeordnete, die keine Lust haben, im Falle Parteimitglied einer der genannten Fraktionen beruflich der Einberufung einer Sondersitzung das zu tun, wofür gemobbt wurde. sie bezahlt werden. 21468 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Thomas Seitz (A) (Gabriele Katzmarek [SPD]: Das ist ja übelst! – GRÜNEN – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Die (C) Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Das ist doch Hamburger Antifa demoliert mein Haus! Die Humbug! Unsinn!) Sie schützen!) Und richtigerweise hätte man in dieser Sommerpause, die Der Mörder von Walter Lübcke hat sogar für die AfD natürlich kein Urlaub ist, in Anbetracht der Herausforde- plakatiert, wie wir heute wissen. rungen mindestens zwei Sondersitzungswochen ansetzen Als ich Ihren Antrag „Sachverständige vor Hass schüt- sollen. zen“ gelesen habe, habe ich erst gedacht, wir sollen Sach- (Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]: Wie wä- verständige vor Ihnen schützen. re es denn, wenn Sie selber mal arbeiten wür- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) den? Das wäre doch schon mal ein Anfang!) Aber dann habe ich gemerkt, dass es um Ihre eigenen Jetzt, wo Millionen in Kurzarbeit sind und schon Hun- Sachverständigen geht. Das ist bemerkenswert. Die derttausende ihren Arbeitsplatz verloren haben, wäre all AfD ist bekanntlich diejenige Fraktion, die sich ja kaum das von uns Abgeordneten nicht zu viel verlangt gewe- ernsthaft an Ausschussarbeit beteiligt und schon gar nicht sen. Mit dem Verzicht auf eine Erhöhung der Abgeord- an Sachverständigenanhörungen. netenentschädigung haben wir kein Vorbild geliefert, sondern nur verhindert, dass wir unser Ansehen weiterhin (Dr. Roland Hartwig [AfD]: Das ist doch massiv beschädigen. grober Unfug!) (Gabriele Katzmarek [SPD]: Schauen Sie doch Mein Sozialausschuss hat in dieser Wahlperiode bis- mal in Ihre Reihen gerade! Mein lieber Mann! lang 34 Anhörungen durchgeführt. Die AfD als größte So ein Blödsinn! Jetzt reicht es mir auch lang- Oppositionsfraktion hat überhaupt nur neunmal einen sam! Das ist doch nicht zu fassen!) Sachverständigen benannt, also noch nicht mal bei einem Drittel der Anhörungen. Alle anderen Fraktionen haben Die Vorbildfunktion des Parlaments geht aber viel natürlich in jeder Anhörung Sachverständige benannt, so weiter. Von wem, wenn nicht von uns, soll das Signal wie sich das auch gehört. Und bei den neun Malen haben an unser Volk ausgehen, dass jetzt durchgestartet werden Sie auch noch zweimal einen Professor benannt, bei dem muss, damit Deutschland nicht vollständig abstürzt? Es sich danach herausstellte, dass er gar kein Professor ist. gibt keine Pandemie, und daran ändern auch einzelne lokale Problemgebiete nichts. (Lachen der Abg. Leni Breymaier [SPD]) Gegen den ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft wegen (B) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Titelmissbrauchs. Unsäglich! (D) Herr Kollege Seitz, Ihre Redezeit ist zu Ende. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gabriele CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Katzmarek [SPD]: Ja, Gott sei Dank!) NEN – Leni Breymaier [SPD]: Typisch AfD!) In Ihrem Antrag fordern Sie nun, dass niemand wissen Thomas Seitz (AfD): soll, welche Sachverständigen die Fraktionen benennen, Schönen Dank. also dass vor allem natürlich niemand wissen soll, welche (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer Sachverständigen Sie benennen. Sie wollen, dass diese [DIE LINKE]: So viel Unsinn in vier Minu- Informationen nach der Geheimschutzordnung als VS- ten!) Vertraulich eingestuft werden. Meine Damen und Herren, wir diskutieren hier im Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Bundestag die Einführung eines Lobbyregisters. Die Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Bartke, GroKo hat sich heute sogar auf die Einführung eines SPD. Lobbyregisters verständigt. Wir diskutieren hier im Par- lament die volle Transparenz über Einflussnahmen im (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gesetzgebungsverfahren, und Sie wollen die Zuordnung der Sachverständigen unter die Geheimschutzordnung Dr. Matthias Bartke (SPD): fassen. Unglaublich! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es nicht so schlimm wäre, wäre es schon fast komisch: Die (Dr. Roland Hartwig [AfD]: Warum wohl?) AfD beschwert sich über Hass. Die Partei, deren Marken- In Ihrem zweiten Antrag fordern Sie die Aufhebung kern der Hass ist, beschwert sich über Hass. der Coronasonderregeln des Bundestags zur Beschluss- fähigkeit. Begründung: Die Pandemie ist vorbei; wir kön- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Was für ein nen wieder zu einem normalen Leben zurückkehren. – Blödsinn!) Der erste Antrag, über den ich eben geredet habe, der Die rechtsextremistischen Morde von Halle und an ist einfach nur gaga. Dieser zweite Antrag ist allerdings Walter Lübcke waren die furchtbaren Früchte der Saat hochgefährlich; denn natürlich ist die Pandemie nicht des Hasses, die Sie gesät haben. vorbei. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die ganze Welt lobt die Bundesregierung für ihre vor- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE sichtige und umsichtige Vorgehensweise mit Corona. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21469

Dr. Matthias Bartke (A) Und Sie wollen, dass wir den Weg Ihrer großen Vorbilder noch genau zweieinhalb Wochen Zeit haben, in denen (C) Bolsonaro und Trump einschlagen. der § 126a gilt. (Heiterkeit der Abg. Helin Evrim Sommer Das heißt, sollte es – was wir nicht hoffen wollen und [DIE LINKE]) wohl auch nicht erwarten müssen – zu einem Wieder- anfluten der Infektionszahlen, gerade jetzt in der Som- Diese beiden haben mit ihrer verantwortungslosen Coro- merpause, im Juli und August, kommen, dann müssen na-ist-harmlos-Politik ihre Länder ins Unglück geführt, wir nicht etwa vorsorglich in der Sommerpause allein und genau das wollen Sie auch. zu dem einen Zweck zu einer Sondersitzung zusammen- (Beifall bei der SPD) treten, um diese Regeln wieder in Kraft zu setzen, son- dern sie gelten noch automatisch. Sie gelten noch für eine Dieser Antrag macht einmal mehr in schlimmer Weise kurze Spanne nach dem Wiedereintritt in die Beratungs- deutlich, wie gefährlich und verantwortungslos die AfD phase im Herbst. ist. Wir haben alle keine Kristallkugel, wir wissen nicht, Danke. was passiert. Wir haben diese Regeln und können sie einfach wieder benutzen. Und wenn wir sie nicht benöti- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem gen, treten sie automatisch zweieinhalb Wochen später, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- zum 30. September, wieder außer Kraft. ordneten der LINKEN) Die Coronapandemie ist noch nicht vorbei, liebe Kol- leginnen und Kollegen. Es ist sicherlich keine epidemi- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: sche Notlage von nationaler Tragweite mehr gegeben, Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, aber wir wissen nicht genau, was passiert. Deswegen ist FDP. es ein Gebot der Vorsicht, diese Regeln in Kraft zu lassen. (Beifall bei der FDP) Wenn wir sie nicht benötigen, dann treten sie automatisch außer Kraft. Das ist eine kluge Regelung. Stephan Thomae (FDP): Ich würde Ihnen vorschlagen, meine Damen und Her- Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! ren von der AfD: Befassen Sie sich mit Ihren Problemen! Verehrte Kollegen! Wenn man sich die Anträge der Damit haben Sie genug zu tun. AfD-Fraktion ansieht, dann fragt man sich ein bisschen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ob Sie eigentlich keine anderen Sorgen haben, als uns der CDU/CSU und der SPD – Heiterkeit bei der (B) jetzt in den letzten Stunden vor dem Beginn der sitzungs- (D) LINKEN) freien Zeit im Sommer mit Themen zu beschäftigen, die sich ohnehin im Herbst zum Teil erledigen werden. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Ich will nur mal den einen Antrag herausgreifen, den Jetzt erhält das Wort der Kollege Friedrich auch Kollege Schnieder und andere schon angesprochen Straetmanns, Die Linke. haben, nämlich Ihren Antrag, den § 126a der Geschäfts- ordnung dieses Hauses aufzuheben. (Beifall bei der LINKEN) Ganz kurzer Rückblick auf das, was geschehen ist: Wir Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): haben am 25. März mit ganz großer Mehrheit in diesem Hause diese Vorschrift eingeführt, die für den Fall, dass Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- die Pandemie uns die Arbeitsweise im Parlament er- nen und Kollegen! Es liegen uns mehrere Anträge zur schweren sollte, die Beschlussfähigkeit erleichtert. Eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages seitens Regelung, der Sie übrigens nicht zugestimmt haben; Sie der AfD-Fraktion zur Beratung vor. Vorschläge dieser haben sich damals enthalten. Fraktion sind allerdings immer vor dem Hintergrund zu diskutieren, dass die AfD ein rein instrumentelles Ver- Ich will nicht sagen, dass unser Land von der Pandemie hältnis zur Geschäftsordnung hat und ihr daher an einer verschont worden ist. Aber so gravierende Auswüchse, Verbesserung der Arbeit hier in Wirklichkeit gar nicht wie es sie in anderen Nachbarländern, vor allem in Italien gelegen ist. und Spanien, gegeben hat, hatten wir in Deutschland glücklicherweise nicht. Wir sind arbeitsfähig geblieben. (Dr. Michael Espendiller [AfD]: Deswegen Aber wir haben die Weichen dafür gestellt, dass wir, sind Sie gegen digitale Abstimmungen? Okay!) wenn es für uns schwierig geworden wäre, die Arbeits- Ich will dennoch kurz auf die vorliegenden Vorschläge fähigkeit sicherzustellen, die entsprechenden Instrumente eingehen. haben. Eine Diskussion über die pandemiebedingte Lage und Nun haben wir den § 126a, der die Beschlussfähigkeit ihre Folgen für die Arbeit des Bundestages ist zu diesem an ein geringeres Maß knüpft, bis zum 30. September Zeitpunkt sinnlos. Wir werden heute in die Sommerpause 2020 befristet. Das ist eigentlich eine kluge Regelung gehen, und wie die Lage im September sein wird, können gewesen, die wir auch beibehalten sollten. Denn das heißt wir jetzt noch nicht wissen. Das diskutieren wir daher doch, dass wir nach dem Wiedereintritt in die Beratungen besser, wenn wir hier wieder zusammentreten. – Das zu nach der sogenannten parlamentarischen Sommerpause diesem Antrag. 21470 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Friedrich Straetmanns (A) Zu der Möglichkeit der elektronischen Abstimmung Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) lässt sich sicher diskutieren. Macht man das aber mit Jetzt wird das Redepult für die Kollegin Britta dieser Truppe, sind wir vielleicht schnell in der Situation, Haßelmann vorbereitet. – Es ist bereit. Sie haben das dass wir darüber streiten müssen, ob Herr Brandner von Wort. der Toilette aus abstimmen darf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der AfD) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu dem Vorschlag namens „Sachverständige vor Hass Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Präsident! Meine schützen“ muss ich sagen: Da bleibt mir die Spucke Damen und Herren! Ich möchte mal eins fürs Parlament weg. – Weil diese Truppe aufgrund ihres unsäglichen klarstellen, und das kann ich sicherlich für die Fraktionen Verhaltens und des damit verbundenen berechtigt des Hauses sagen: Zur Vorbildfunktion des Parlamentes schlechten Rufs Mühe hat, Sachverständige zu benennen, brauchen wir keine Erklärungen der AfD-Fraktion. sollen einfache Verwaltungsvorgänge auf „Verschlusssa- che Vertraulich“ gestellt werden. Das kann nur vorschla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gen, wer keinen blassen Schimmer davon hat, wie die bei der SPD, der FDP und der LINKEN sowie Arbeitsprozesse hier ablaufen. bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie sind wirklich keine Adresse dafür, wenn es um die (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Vorbildfunktion dieses Parlamentes geht. Dr. Matthias Bartke [SPD]) Wir kennen sehr vieles und erleben das jede Sitzungs- Es würde die tägliche Arbeit der Ausschusssekretariate so tiefgreifend verändern, dass diese vor faktisch unlös- woche aufs Neue: Verächtlichmachung demokratischer baren Aufgaben stünden. Das fängt bei der Kommunika- Institutionen, Angriffe auf den Bundespräsidenten, auf die Bundeskanzlerin, auf das Parlament als solches, auf tion an und geht bis zur Lagerung der Unterlagen. die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes. Dazu kommt, dass es der AfD auch gar nicht darum (Thomas Seitz [AfD]: Sie sollen sich nicht mit geht, hier irgendjemanden vor Hass zu schützen oder die Linksextremisten gemein machen! – Weitere Geschäftsordnung zu verbessern, wie ich zu Anfang sag- Zurufe von der AfD) te. Ich will Ihnen das noch kurz an einem Beispiel ver- deutlichen. – Merken Sie, wie die Aufregung steigt? Man weiß ganz (B) genau, dass ich im Kern recht habe, meine Damen und (D) Im Juni 2018 nutzte der Abgeordnete Seitz, der eben Herren. hier geredet hat, eine Debatte zur Geschäftsordnung für ein perfides Schauspiel. Statt zur Sache zu reden, rief er (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, eine Schweigeminute für ein kürzlich ermordetes Mäd- bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abge- chen aus. Ein klarer Verstoß gegen die Geschäftsordnung; ordneten der CDU/CSU und der SPD) denn über Gedenken entscheidet der Bundestagspräsi- dent. Als die damals amtierende Vizepräsidentin Roth Niemand kann die Augen davor verschließen. Herrn Seitz aufforderte, zur Sache zu reden, folgte dieser Also, bitte verschonen Sie uns mit Ihren Einlassungen der Aufforderung nicht. Daraufhin entzog sie ihm zu dazu, wie hier eine Vorbildfunktion des Parlamentes Recht gemäß § 36 Geschäftsordnung des Bundestages wahrgenommen wird. Gestern erst diskutierten wir bei das Wort. Anschließend startete die AfD ihre Propagan- dem wichtigen Tagesordnungspunkt zu Coronahilfen damaschine und ließ diese auf Frau Roth los, was letztlich und dem Nachtragshaushalt darüber, meine Damen und zu unzähligen Hass- und Drohmails gegen Frau Roth Herren, dass der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, führte. Der Bundestagspräsident musste die AfD darauf- der der AfD-Fraktion angehört, den Beratungen einfach hin zur Ordnung rufen. vier Stunden unentschuldigt ferngeblieben ist, ohne jede Begründung. Das zeigt die Haltung dieser Fraktion zur Arbeitsweise hier im Parlament. (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Unfassbar! – Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]: Arbeits- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem verweigerung! – Zuruf von der AfD: Stimmt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- überhaupt nicht!) ordneten der CDU/CSU) Also, bitte verschonen Sie uns damit. Deswegen diskutiere ich auch lieber nicht mit Ihnen, sondern mit den gesamten anderen Kollegen und Kolle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ginnen, die dieses Haus und seine Geschäftsordnung bei der SPD, der FDP und der LINKEN) schätzen und ernst nehmen. Meine Damen und Herren, dann geht es weiter mit dem Danke. Thema „Sachverständige vor Hass schützen“. Wieso eigentlich Sachverständige der AfD vor Hass schützen? (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Wieso können wir nicht darüber reden, Menschen vor BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hass zu schützen? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21471

Britta Haßelmann (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einfach „wegbeschließen“, sondern Corona ist da. Des- (C) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der wegen wäre es das falsche Zeichen, hier einfach zu sagen: SPD, der FDP und der LINKEN) Wir erklären das für erledigt, nutzen die Abstandsmög- Warum fällt Ihnen an dieser Stelle nur ein, Ihre Sachver- lichkeiten und die Regelungen, die § 126a bietet, nicht. ständigen vor Hass zu schützen? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wissen Sie, was wir hier bei den Diskussionen über Sie haben mit Ihren Äußerungen gezeigt, dass Sie es Menschen, die vielleicht nicht Ihren Vorstellungen ent- gar nicht verstanden haben. Herr Kollege Seitz, Sie haben sprechen – Menschen mit einer anderen Biografie, mit gesagt: Bei den Abstimmungen war doch eine hohe Teil- einer anderen Herkunft, mit einer anderen Religion –, nehmerquote. – Ich hoffe, an den Abstimmungen haben zum Teil an gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, alle teilgenommen. Aber es geht um die Beschlussfähig- an Verachtung, an Hass und Hetze erleben? Was maßen keit und darum, den Abstand wahren zu können. Das ist Sie sich eigentlich an, heute solch eine Antragsinitiative der Grund gewesen. Ich glaube, Sie haben es im Grunde zu Sachverständigen in öffentlichen Anhörungen zu stel- gar nicht verstanden. len! Meine Damen und Herren, für dieses Haus, für die demokratischen Fraktionen, ist doch völlig klar, dass jede Das Zweite. Die Sachverständigen vor Hass zu schüt- und jeder vor Hass zu schützen ist. zen, ist grundsätzlich ein gutes Anliegen. Aber dass ge- rade Sie das ansprechen, ist – das haben meine Vorredner (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gezeigt – schon sehr bizarr. bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- ordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) In Bezug auf die Arbeit des Parlamentes bin ich über- Ich möchte zum dritten Punkt kommen – den muss haupt nicht einverstanden damit, zu sagen: Wir müssen man sich wirklich genauer angucken –: Das ist Ihre For- noch viel mehr Sachen Vertraulich und VS einstufen. derung, hier im Grunde zu erfassen: Wer bewegt sich Wieso eigentlich? Wir reden gerade darüber, dass wir wohin? Sie kleiden das so schön in einen Antrag, digitale das Lobbyregister endlich – hoffentlich bald – einführen, Abstimmungsgeräte einzuführen. Aber der Antrag ist im um mehr Transparenz, mehr Nachvollziehbarkeit, mehr Text – nach meiner Meinung – unverschämt, und er ist in Offenlegung im Deutschen Bundestag darüber zu haben, der Sache falsch. wer hier ein und aus geht, wer hier berät, wessen Sach- Unverschämt ist er, weil Sie formulieren, dass in der verstand wir in Anspruch nehmen. Also kommen Sie mir Sitzung am 28. Juni 2019 weniger als die Hälfte der Ab- doch nicht damit, das hier einzustufen! geordneten anwesend gewesen wäre und der Sitzungs- (B) vorstand unter Leitung von Frau Vizepräsident Roth den- (D) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: noch beschlossen habe, dass die Beschlussfähigkeit Frau Kollegin Haßelmann. gegeben sei. Sie bewerten dieses Verhalten als – ich zi- tiere jetzt hier – einen Verstoß gegen „das Gebot der Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fairness“; es sei „der Moral“ und „dem Wortlaut der Ge- Das würde dem Anspruch auf mehr Transparenz des schäftsordnung“ widerstrebend. Wenn man Anträge rü- Parlamentes überhaupt nicht entsprechen, meine Damen gen könnte, müsste so ein Antrag eine Rüge erhalten. Es und Herren. gehört sich nicht, so mit der Entscheidung des Sitzungs- vorstands umzugehen, die nach der Geschäftsordnung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur er trifft. sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP Man muss auch verstehen: Warum ist das so? Die Ge- und der LINKEN) schäftsordnung regelt eindeutig, dass die Opposition die Möglichkeit hat, die Tagesordnung mitzubestimmen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Wenn Sie einen Tagesordnungspunkt an prominenter Dr. Patrick Sensburg, CDU/CSU, ist der nächste Red- Stelle haben wollen, dann können Sie sich dafür auch ner. einsetzen. Sie können sogar am Anfang eine namentliche Abstimmung beantragen. Aber Sie müssen sich nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wundern, wenn um weit nach Mitternacht in diesem Ple- num vielleicht nicht alle Sitzplätze besetzt sind. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ich wundere mich übrigens, dass bei einer Debatte, in Kollegen! Debatten über die Geschäftsordnung sind gut, der es darum geht, Präsenz im Plenum herzustellen, bei weil sie ja doch oft einen tiefen Einblick in die demo- Ihnen, wenn ich es richtig sehe, kaum 15 Mitglieder Ihrer kratischen Entscheidungsprozesse liefern, besonders Fraktion, der AfD, anwesend sind. dann, wenn die Anträge auch qualitativ und substanziiert (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der brauchbar sind. Das sind Ihre drei Anträge heute leider SPD, der FDP und der LINKEN) nicht. Das zeigt nicht Unterstützung für Ihren Antrag. Ihr Antrag, § 126a der Geschäftsordnung abzuschaf- fen, ist – das haben meine Vorredner schon gezeigt – Übrigens sichert der Antrag, die Beschlussfähigkeit unpassend. § 126a dient dem Schutz aller hier. Er dient feststellen zu lassen, auch nicht ein reines Oppositions- aber auch dem Vorbild; denn Corona kann man nicht recht. Es ist genauso auch ein Recht der Koalition. Es ist 21472 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dr. Patrick Sensburg (A) in diesem Haus schon öfters vorgekommen, dass, wenn 7. November 2019, das Energiewirtschaftsgesetz wird (C) Abstimmungen nicht so zu verlaufen schienen, wie sie verabschiedet. Knapp 100 MdBs anwesend – nötig zur sollten, auch die Koalition von diesem Recht Gebrauch Beschlussfähigkeit 355. Den AfD-Antrag zur Überprü- macht, um gegebenenfalls die Abstimmung mit den Ab- fung der Beschlussfähigkeit lehnt diesmal Vizepräsident stimmungsverhältnissen, wie sie im Bundestag herr- Friedrich ab. Das Präsidium sei sich einig, es sei alles schen, später durchzuführen. Das ist also auch kein Recht okay. Die danach von der AfD beantragte namentliche der Opposition. Abstimmung zeigt: Es sind nur 133 Abgeordnete da. Die Sitzung muss abgebrochen werden. Schön wird es aber – dafür möchte ich die letzten Se- kunden meiner Redezeit noch nutzen –, sich den Antrag (Beifall bei Abgeordneten der AfD) inhaltlich anzuschauen. Es geht Ihnen ja nicht um ein digitales Stimmgerät – darüber wird schon lange disku- Dass Herr Friedrich schon vorher wusste, dass der tiert –; Sie formulieren, dass jeder Abgeordnete ein digi- Bundestag nicht beschlussfähig ist, war klar: Bei offenem tales Stimmgerät haben muss und dass mit diesem dann Mikrofon flüsterte er seinem Kollegen zu: Wir kriegen da die Anwesenheit festgestellt werden soll. Sie möchten nicht alle zusammen. – Dieser antwortete: Das wird nicht also ein digitales Überwachungsgerät für jeden Abgeord- klappen, dass die Hälfte der Leute kommt. – Aber man neten, das feststellt: Wer ist in diesem Sitzungssaal? Sie war sich im Präsidium einig, dass der Bundestag be- möchten, dass wir demnächst mit einem Chip herumlau- schlussfähig ist. fen. Wie praktisch, dass die AfD ebendiesem Präsidium (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht angehört, weil wir keinen Bundestagsvizepräsiden- DIE GRÜNEN) ten bekommen, Ihre Leute protestieren – wirr, wie sie sind – gegen das (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Sie haben vor dem Chippen. Und diese Fraktion beantragt, dass wir dem- Bundesverfassungsgericht geklagt und verlo- nächst mit einem Chip herumlaufen und dass elektro- ren! Das ist die Wahrheit!) nisch festgestellt wird: Wer ist hier wo in diesem Ge- der bei diesen Spielchen dazwischengrätschen kann – ein bäude, im Sitzungssaal, auf der Toilette oder sonst wo? Schelm, wer denkt, dass das Absicht war!

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Herr Kollege. Liebe Kollegen, solche plumpen Tricks sind dieses Hohen Hauses nicht würdig. Es ist respektlos den Bür- (B) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): gern gegenüber, die erwarten können, dass sich auch (D) Das ist wirr, meine Damen und Herren. Deswegen Politiker an Regeln halten und der Bundestag Gesetze müssen wir es ablehnen. nur dann beschließt, wenn er auch beschlussfähig ist. Danke schön. (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Das sieht das Bun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der desverfassungsgericht aber anders!) SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Timon Gremmels [SPD]: Die Die AfD-Fraktion beantragt daher, die elektronische AfD will chippen, ha! – Steffi Lemke [BÜND- Abstimmung im Bundestag möglich zu machen. Jeder NIS 90/DIE GRÜNEN], an die AfD gewandt: Anwesende drückt auf einen Knopf, und schon wissen Ihr könnt das doch für eure Fraktion einfüh- wir, ob der Bundestag beschlussfähig ist und wie die ren!) Mehrheiten aussehen. Das Ergebnis wird für alle sichtbar eingeblendet. Keine Schätzungen, keine Tricks mehr. Das Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ist transparent, das ist fair, und das spart Zeit. Da wir alle zusammen den Bundestag moderner und digitaler ma- Jetzt hat das Wort die Kollegin Joana Cotar, und damit chen wollen, ist hier die Chance, das zusammen anzu- ist die AfD an der Reihe. gehen. Ich hoffe, Sie stimmen unserem Antrag zu. (Beifall bei der AfD) Vielen Dank. Joana Cotar (AfD): (Beifall bei der AfD) Herr Präsident! Werte Kollegen! 30. Juni 2017, der Bundestag beschließt das NetzDG. Anwesende Abgeord- nete 60 – nötig zur Beschlussfähigkeit des Bundestages Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: 316. 27. Juni 2019, das über 500 Seiten starke Daten- Nächste Rednerin ist die Kollegin , SPD. schutz-Anpassungsgesetz wird nachts um 1.30 Uhr ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) abschiedet. Anwesende Abgeordnete rund 100 – nötig zur Beschlussfähigkeit 355. Die AfD bezweifelt die Be- Sonja Amalie Steffen (SPD): schlussfähigkeit. Vizepräsidentin Claudia Roth lehnt den Einspruch ab. Man sei sich im Präsidium einig, der Bun- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und destag sei beschlussfähig. Kollegen! Kurz an meine Vorrednerin: Wie wir alle wis- sen, ist der Bundestag ein Arbeitsparlament. Die Arbeit (Ute Vogt [SPD]: Ja!) findet in den Ausschüssen statt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21473

Sonja Amalie Steffen (A) (Joana Cotar [AfD]: Um 1.30 Uhr nachts? gar nichts beschleunigen. Im Gegenteil: Sie wollen doch (C) Wem wollen Sie das erzählen?) nur das Plenum behindern. Wir haben vorhin und auch gestern schon mehrmals ge- (Beifall des Abg. Timon Gremmels [SPD]) hört, wie Ihre Disziplin in den Ausschüssen ist: Da hört man nie etwas von Ihnen. Der Kollege Bartke hat schon Wie Herr Kollege Sensburg schon gesagt hat: Sie wollen darauf hingewiesen, wie wenig Sachverständige Sie tat- mit Chips dafür sorgen, dass jeder von uns hier ans Ple- sächlich zu den Anhörungen einladen. Nun sitzen Sie hier num gefesselt ist, um dann festzustellen: Wenn nicht ge- wie die Zinnsoldaten. Allerdings sind Sie heute sehr we- nug Abgeordnete anwesend sind, dann stoppen wir die nig, obwohl es um Ihre Anträge geht. Das wundert dann Plenararbeit, dann sorgen wir dafür – obwohl Koalitions- schon. mehrheiten vorhanden sind –, dass eine halbe Stunde bis eine Stunde überhaupt nicht mehr gearbeitet werden Sie wollen Ihr Anliegen mit Zahlen belegen. Dabei kann. Das ist wirklich Unfug. wissen Sie so gut wie wir alle, dass die Kollegen, wenn sie nicht im Bundestag sind, nicht auf der Terrasse sitzen Zum Schluss zu Ihrem Antrag „Sachverständige vor oder sich ihres Lebens erfreuen. Nein, hier wird gearbei- Hass schützen“. Sie wissen selber, warum Sie das wollen: tet, und das mindestens 60 Stunden in der Woche. Sie finden einfach keine Sachverständigen. (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Die wissen (Beifall des Abg. Konstantin Kuhle [FDP]) das eben nicht! Das ist ja deren Problem!) Die allermeisten Professorinnen und Professoren wollen Das müssten Sie wissen. Insofern finde ich es wirklich einfach nicht mit Ihnen zusammenarbeiten. Und warum unverschämt, dass Sie sich immer wieder hierhinstellen wollen Sie das nicht? und uns alle in die Tonne hauen wollen, indem Sie vor- geben, dass wir hier gar nichts tun. Das Gegenteil ist der (Zurufe von der AfD) Fall. Weil Sie eine menschenverachtende, unsympathische Truppe sind, mit denen man einfach nichts zu tun haben (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie will. bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/ Ich will mich auf wenige Punkte in den Anträgen be- CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordne- schränken. Der erste Punkt, der § 126a Geschäftsordnung ten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE betrifft, ist hier schon ausreichend diskutiert worden. GRÜNEN) (B) (D) Ich will noch etwas zu den digitalen Abstimmungs- Ich wünsche uns allen eine schöne Sommerpause, geräten im Plenum sagen. Wir haben heute schon gehört wohl wissend, dass wir alle zwischendurch sehr viel ar- – ich glaube, der Kollege Schnieder hat schon darauf beiten müssen. hingewiesen –, dass sich derzeit eine Kommission damit (Beifall bei der SPD – Dr. Alexander Gauland beschäftigt, wie der Bundestag zukünftig digitaler arbei- [AfD]: Mir kommen die Tränen! – Gegenruf ten kann. Das ist eine sehr gute Idee. Dort haben Sie der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD]: Ja, das übrigens auch wieder mit Abwesenheit geglänzt. kennen Sie nicht! Das weiß ich! – Zuruf von (Abg. Thomas Seitz [AfD] meldet sich zu einer der AfD: Das war eine Hassrede!) Zwischenfrage) – Nein, Herr Seitz, bevor der Bundestagspräsident mich Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: fragt, gebe ich schon jetzt die Antwort: Ich werde nicht Jetzt hat das Wort der Kollege Michael Frieser, CDU/ zulassen, dass Sie eine Frage stellen. CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sie werden sie nicht zulassen. Michael Frieser (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sonja Amalie Steffen (SPD): Es handelt sich wieder einmal um den Missbrauch einer Nein. Debatte; denn es geht nicht wirklich um die Geschäfts- ordnung, es geht nicht um die Frage: Was kann man (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Thomas diesem Parlament Gutes tun, damit es arbeitsfähig wird? Seitz [AfD]: Sie haben wohl Angst vor der Vielmehr geht es um das Instrumentalisieren. Deshalb Wahrheit! – Gegenruf des Abg. Patrick will ich mich in meinen Ausführungen beschränken. Schnieder [CDU/CSU]: Lachnummer!) Herr Präsident, ein persönliches Wort sei mir erlaubt. Ich komme auf die Sachebene zurück. Der Einsatz von Ich bin einer von den Abgeordneten, die an Corona er- digitalen Abstimmungsgeräten kann sogar sinnvoll sein. krankt waren. Ich danke meinem Herrgott für einen sehr Bei namentlichen Abstimmungen werfen wir derzeit glimpflichen Verlauf, noch Namenskarten ein. Wir alle sind durchaus offen, zukünftig modernere Verfahren einzuführen. Warum (Beifall der Abg. Dr. Manuela Rottmann nicht? Aber darum geht es Ihnen gar nicht. Sie wollen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 21474 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Michael Frieser (A) und ich danke dafür – täglich –, dass ich in einem Land (Dr. Matthias Bartke [SPD]: „Ich war gar nicht (C) lebe, das – Achtung! – gut regiert und gut organisiert ist, abwesend“! – Michael Frieser [CDU/CSU]: Der betroffene Abwesende!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Peter Boehringer (AfD): Herr Präsident! Ich danke für die Gelegenheit zur Aus- dass es Menschen gibt, die auf einen achtgeben, die einen sprache. Das ist mein Recht, auf dem ich in diesem Fall befragen. bestehen muss. Wegen der Versuche der geistigen Verunreinigung mit Es wurde im Rahmen einer Aussprache in diesem Haus all den Möglichkeiten, die in den vorliegenden Anträgen zum zweiten Mal behauptet, ich sei in einer Haushalt- aufgezeigt werden, muss ich mich auf § 126a Geschäfts- sausschusssitzung in dieser Woche für vier Stunden – ordnung des Deutschen Bundestages fokussieren. Er hat Zitat – „unentschuldigt abwesend“ gewesen; das war gezeigt, wozu dieses Land, dieses Parlament in der Lage ein Zitat aus der Rede von Frau Haßelmann eben. Ich ist; denn er hat unsere Arbeitsfähigkeit und vor allem das stelle dazu fest: Es ist erstens faktisch falsch. Es ist nicht Vertrauen der Menschen in das Parlament als Verfas- so. sungsorgan gestärkt. Wir konnten nicht nur belegen, dass wir arbeitsfähig sind, sondern wir konnten auch die we- (Michael Frieser [CDU/CSU]: Es waren nur sentlichen Säulen unserer parlamentarischen Arbeit dar- dreieinhalb Stunden!) legen: die Teilhabe an der Gesetzgebung und die Her- Es ist faktisch falsch, auch wenn es wiederholt wird. Ich stellung der Öffentlichkeit. Wir haben in kürzester Zeit fordere Sie auf, diese Aussage zu belegen. Es wird Ihnen bewiesen, dass wir sehr effektiv und sehr effizient sind. nicht gelingen. Die Falschaussage des Kollegen Rohde gestern hier ist nicht der Beweis für die Richtigkeit dieser Bisher ging es bei Ihren Anträgen immer mehr um Aussage, in keiner Weise. geistige Brandstiftung. Jetzt geht es in der Tat nahezu um das selbstverständliche Herstellen vorsätzlicher Kör- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: perverletzung. Wie lange waren Sie denn weg, wenn es keine vier Stunden waren?) (Lachen bei der AfD) – Das war der Vorwurf, Frau Kollegin. Die ganzen Maßnahmen, die wir getroffen haben, waren Zweitens. Es gibt hier nichts zu entschuldigen. § 59 alle dafür gemacht, die persönliche, die gesundheitliche Absatz 4 der GO-BT schreibt vor, dass ich als Ausschuss- Integrität der Menschen zu gewährleisten. (B) vorsitzender für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Sit- (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zung zu sorgen habe. Das ist geschehen. Niemand be- streitet das. Das hat übrigens auch Kollege Rohde nach Es wäre mir ein Leichtes, in diesem Saal herumzulaufen; der Sitzung nicht bestritten. Die einzige Verantwortung, denn – das sagt zumindest die Wissenschaft im Augen- die ich hatte und ausgeübt habe, war, meinen Stellver- blick – ich bin einigermaßen immun, auch gegen die Ver- treter entsprechend einzusetzen. Das ist bereits fünf Stun- suche der geistigen Verunreinigung. den vor Sitzungsbeginn geschehen,

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und der FDP) Wie lange waren Sie denn nun abwesend? – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Wie lange waren Hier wird tatsächlich zur vorsätzlichen Infektion auf- Sie denn abwesend?) gerufen. Covid-19 lässt sich aber nicht von Ihren Anträ- und zwar mit seinem vollständigen Einverständnis. Es ist gen dirigieren. Wenn es um die Arbeitsfähigkeit des Par- im Haushaltsausschuss bei sehr langen Sitzungen und laments geht, sieht es schon anders aus. Aber vielleicht speziell bei Bereinigungssitzungen üblich, dass man sich geht es genau darum, die Arbeitsfähigkeit dieses Parla- abwechselt. Es gab eine Vorabsprache, die noch nicht mentes zu hintertreiben. einmal spontan war; aber selbst das wäre zulässig. Herr (Zuruf von der AfD: So ein Blödsinn!) Gerster bestreitet das nicht. Er ist mein regulärer Stell- vertreter. Herr Rohde hat ohne das Wissen von Herrn Dem darf man tatsächlich nicht Folge leisten. Stimmen Gerster interveniert, und Sie plappern hier ungeprüft Sie um Gottes willen möglichst breit – so breit ist die nach, was er gesagt hat. Fraktion nicht – gegen die vorliegenden Anträge. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich wünsche uns einen gesunden Sommer. Bleiben Sie DIE GRÜNEN) standhaft! Bleiben Sie gesund! Es ist in keiner Weise belegt. Es ist falsch. Es ist nicht korrekt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sagen Sie, wie lange Sie weg waren!) Damit schließe ich die Aussprache und erteile das Wort Ich fordere Sie eigentlich zu einer Entschuldigung an zu einer Erklärung zur Aussprache nach § 30 unserer dieser Stelle auf – ich weiß, dass Sie nachher vermutlich Geschäftsordnung dem Kollegen Boehringer, AfD. keine Gelegenheit haben werden, zu antworten –; aber sie Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21475

Peter Boehringer (A) wäre fällig. Ich werde das vom Kollegen Rohde auch Fraktion der AfD mit dem Titel „Änderung der Ge- (C) noch einfordern. schäftsordnung des Deutschen Bundestages, hier: Beson- dere Lage beenden – § 126a GO-BT aufheben“. Der Aus- Wenn nicht gewährleistet ist, in einer Neunstundensit- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der zung – wie in diesem Fall – eine reguläre Stellvertretung Drucksache 19/20654, den Antrag der Fraktion der AfD einzusetzen, dann sinkt die Leistungsqualität des Aus- auf der Drucksache 19/19523 abzulehnen. Wer stimmt schusses; denn dann sind keine Mittagspausen mehr für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- möglich. Ich war in dieser Zeit beim Mittagessen – es gen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussemp- war im Reichstag kein Catering gewährleistet –; anders fehlung gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen des ging es gar nicht. Sonst hält man eine Neunstundensit- übrigen Hauses angenommen. zung auch gar nicht durch. Tagesordnungspunkt 28 b. Interfraktionell wird Über- (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem weisung der Vorlage auf der Drucksache 19/19243 an die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- – Da hilft die ganze Schreierei nichts. Das ist die Wahr- geschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die heit. Nachdem das schon zum zweiten Mal hier in diesem Koalitionsfraktionen wünschen Federführung beim Aus- Hohen Haus behauptet wurde, müssen die Dinge richtig- schuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- gestellt werden. nung. Die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. (Beifall bei der AfD – Patrick Schnieder [CDU/ CSU]: Vier Stunden Mittagspause!) Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der Fraktion der AfD. Wer stimmt für diesen Vor- Es gibt nur hier die Möglichkeit, das richtigzustellen; schlag? – Die AfD. Wer stimmt dagegen? – Die übrigen sonst kommt es nicht ins Protokoll. Ich habe das hier Fraktionen. Enthält sich jemand? – Das ist nicht der Fall. schon mal erlebt: Man kann hinterher selbst faktische Dann ist der Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen Falschaussagen gerichtlich nicht rückgängig machen, der AfD mit den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt. nicht abmahnen lassen. Dann lasse ich jetzt abstimmen über den Überwei- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sungsvorschlag der Koalitionsfraktionen: Federführung Stellen Sie es doch mal richtig!) beim Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Das geht bei diesem Haus nicht. Das geht nur per Inter- schäftsordnung. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- vention. Es ist faktisch falsch, was behauptet wird. Alles gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist war GO-konform. Es ist auch völliger Usus im Haus- gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen des übrigen (B) haltsausschuss. Herr Rohde selbst, der das behauptet, Hauses angenommen. (D) hat als mein ehemaliger Stellvertreter nichts anderes ge- Tagesordnungspunkt 28 c. Es wird interfraktionell macht. Wir haben uns immer abgewechselt. Es war völlig Überweisung auf der Drucksache 19/20655 an den Aus- normal. schuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- Sie haben keine Ahnung, was im Haushaltsausschuss nung vorgeschlagen. Gibt es weitere Vorschläge? – Das passiert ist. Es war ein reines Nachplappern, und das ist nicht der Fall. Dann wird so verfahren. wohlgemerkt in einer Debatte zur GO. Hier ging es um Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c GO-Einhaltung, und Sie selbst halten die GO nicht ein, sowie Zusatzpunkt 29 auf: weil Sie sie noch nicht mal kennen, Frau Kollegin. 21 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der Herzlichen Dank. CDU/CSU und SPD (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer Start einer Nationalen Diabetes-Strategie – [CDU/CSU]: Mannomannomann!) Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland und Versorgung des Diabetes Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mellitus zielgerichtet weiterentwickeln Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach § 30 unserer Drucksache 19/20619 Geschäftsordnung hat ein Kollege das Recht zu einer Er- klärung nach Schluss der Aussprache, wenn er in der b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Debatte persönlich angesprochen worden ist, Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Maria Wir haben auch alle zugehört!) Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion und nur dann, Herr Kollege Rehberg. So viel zur Erläu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN terung. Nationale Diabetes-Strategie umgehend (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Alles gut! Ich initiieren hätte ihn gerne widerlegt!) Drucksachen 19/14389, 19/20710 Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Berichts des Ausschusses für Gesundheit 21476 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- Die direkten Gesundheitskosten im Jahr 2020 belaufen (C) ordneten Jörg Schneider, Jürgen Braun, Peter sich auf 21 Milliarden Euro. Die Kosten für diabetesbe- Felser, weiterer Abgeordneter und der Frak- zogene Behandlungen von Kindern und Jugendlichen lie- tion der AfD gen bei etwa 110 Millionen Euro. Und ja, die Prognose für das Jahr 2040 ist erschreckend. Bei gleichbleibender Schwere Verlaufsformen bei Infektion mit Entwicklung haben wir bis 2040 über 12 Millionen Er- dem Coronavirus SARS-CoV-2 reduzie- krankte. Der – in Anführungszeichen – „Tsunami“ Diabe- ren – Vitamin-D-Mangel in der Bevölke- tes rollt weiter ungebremst auf uns zu. Deshalb brauchen rung beseitigen, Immunabwehr stärken wir diese Strategie. Drucksachen 19/20118, 19/20709 Meine Damen und Herren, wir haben schon im Koali- ZP 29 Beratung des Antrags der Abgeordneten tionsvertrag die nationale Diabetes-Strategie verankert, Dr. Andrew Ullmann, Michael Theurer, damit die sinnvollen Einzelmaßnahmen unter Einbin- Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und dung aller Akteure auf Bundes-, Länder- und Selbstver- der Fraktion der FDP waltungsebene strategisch gebündelt werden. Diese Stra- tegie setzt acht wesentliche Schwerpunkte: Diabetes mellitus – Rahmenbedingungen für Erstens. Diabetes-Bekämpfung als ressortübergreifen- Prävention, Versorgung und Forschung schaf- de Aufgabe wahrnehmen. Alle Bereiche wie Sport, Er- fen nährung, Bildung, Arbeit, Soziales, Forschung, Verbrau- Drucksache 19/20555 cherschutz, Familie, Senioren, Jugend müssen mit eingebunden werden. Die Grundpfeiler Ernährung und Überweisungsvorschlag: Bewegung müssen zukünftig gleich stark verankert wer- Ausschuss für Gesundheit den. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- schlossen. – Bitte nehmen Sie Platz. Zweitens. Die Vorbeugung und Früherkennung von Diabetes mellitus ist auszubauen. Prävention und Versor- Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort gungsforschung müssen deutlich vorangetrieben werden. dem Kollegen Dietrich Monstadt von der CDU/CSU. Dazu zählt aber auch, dass ärztliche Fort- und Weiterbil- dung in gesunder Ernährung und ausreichender Bewe- (Beifall bei der CDU/CSU) gung verstärkt berücksichtigt werden müssen. Drittens. Versorgungsangebote müssen für Diabetes Dietrich Monstadt (CDU/CSU): (B) bekannt gemacht und weiterentwickelt werden. Die sek- (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und torenübergreifende Versorgung muss ausgebaut und ge- Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Ich bin froh, stärkt werden. Zusätzlich sollen Behandlungen an indivi- dass wir jetzt mal wirklich wichtige Dinge diskutieren duellen, altersgerechten Bedürfnissen ausgerichtet können. werden. Was lange währt, wird endlich gut. Seit mehr als sechs Viertens brauchen wir eine zuverlässige Datengrund- Jahren arbeitet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion an ei- lage zur Versorgungssituation bei Diabetes mellitus. Hier ner nationalen Diabetes-Strategie. Ganz persönlich ist das neu eingeführte Nationale Diabetes-Überwa- möchte ich an dieser Stelle Michael Hennrich und unse- chungssystem am RKI weiterzuentwickeln. rem Gesundheitsminister Jens Spahn danken, die diese Initiative von Beginn an, Letzterer seinerzeit noch als Fünftens sind Information und Aufklärung über Diabe- gesundheitspolitischer Sprecher, unterstützt haben. Dan- tes zu verbessern. Der Bekanntheitsgrad und die Reich- ken möchte ich auch Bärbel Bas und Dr. Georg Nüßlein, weite der bestehenden Informationsdienste sind auszu- die in der letzten Phase die noch bestehenden Diskus- bauen, und die Finanzierung ist sicherzustellen. Die sionspunkte ausgeräumt und damit die heutige Debatte große Bedeutung der ersten 1 000 Lebenstage für das erst möglich gemacht haben. weitere Leben ist herauszustellen. Meine Damen und Herren, warum ist es so wichtig, Sechstens ist die Diabetes-Forschung zu erweitern. dass wir endlich eine nationale Diabetes-Strategie be- Hier muss die individualgerechte Diabetes-Medizin noch kommen? Von 1993 bis 2020 haben sich die Zahlen von stärker in den Mittelpunkt rücken. 6 Millionen Erkrankten in Deutschland auf über 9 Millio- Siebtens. Telemedizin muss in der Diabetes-Versor- nen erhöht, einschließlich einer Dunkelziffer. Damit ist gung ausgebaut werden. Ziel ist hier die Steigerung der fast jeder achte Einwohner, vom Säugling bis zum Greis, Versorgungs- und Lebensqualität von Patienten und An- an Diabetes erkrankt – wenn ich mich hier umschaue, gehörigen; mein Kollege Tino Sorge hat heute Mittag sehe ich nicht so viele junge Leute; sie mögen das als gerade auch im Hinblick auf Diabetes hierzu bereits Aus- Mahnung nehmen –, Tendenz steigend. Alle 55 Sekunden führungen gemacht. erkrankt ein Mensch an Diabetes. Jedes Jahr haben wir 560 000 Neuerkrankungen Typ-2-Diabetes. Im europä- Letztlich müssen, achtens, gesunde Ernährung und ischen Vergleich liegt Deutschland damit an zweiter Stel- mehr Bewegung erleichtert werden; denn sie sind zent- le. Menschen mit Diabetes haben ein 2,6-fach erhöhtes rale Faktoren für ein gesundes Leben. Ernährungsbildung Risiko für einen frühzeitigen Tod. Wir beklagen circa muss schon an Kitas und Schulen gestärkt werden, damit 180 000 Todesfälle durch Diabetes jährlich. von Kindheit an ein gesundes Ernährungsverhalten er- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21477

Dietrich Monstadt (A) lernt wird. Das gilt auch für die Freude an Bewegung. Menschen, die an Corona verstorben sind, untersuchen, (C) Auch hier müssen schon in der Jugend Grundlagen gelegt stellen wir einen niedrigen Vitamin-D-Level fest. Jetzt werden. könnte man natürlich sagen: niedriger Vitamin-D-Level gleich höhere Sterblichkeitswahrscheinlichkeit. Anderer- Meine Damen und Herren, wir wollen weiter den Dia- seits ist es natürlich so, dass die Menschen, die an Corona betes-Patienten dabei unterstützen, sein eigener Gesund- versterben, häufig auch älter sind und deswegen einen heitsmanager zu werden: beim Ernährungsverhalten und niedrigeren Vitamin-D-Level haben. Hier ist tatsächlich beim Bewegungsverhalten. noch erheblicher Forschungsaufwand notwendig. Und Ich bin froh, dass wir es noch vor der Sommerpause auch den zu betreiben, fordern wir in unserem Antrag. geschafft haben, diesen Antrag hier heute zur Abstim- Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Wir mung zu stellen, und werbe dringend um Zustimmung. haben in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutsch- Herzlichen Dank. land einen anerkannten Vitamin-D-Mangel. Wir können ihn sehr einfach herausfinden, bei jedem Einzelnen ana- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lysieren und auch sehr einfach behandeln. Es gibt durch- aus Hinweise, dass das für die Gesundheit der Menschen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: in diesem Land eine sinnvolle präventive Maßnahme wä- Nächster Redner ist der Kollege Jörg Schneider, AfD. re. Als ich das in dieser Woche in unserem Ausschuss vorgestellt habe, hat Herr Professor Ullmann von der (Beifall bei der AfD) FDP sich sehr unflätig geäußert. Er sprach von „Unsinn“ und von „Aluhut“. Jörg Schneider (AfD): Herr Professor Ullmann, Sie werden ja gleich nach mir Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sprechen. Ich bin gerne bereit, dazuzulernen. Ich hoffe, ren! Im Antrag der AfD geht es um das Thema „Vita- Sie geben mir heute etwas mehr Gelegenheit dazu, als Sie min D“. Vitamin D wird im menschlichen Körper erzeugt das am Mittwoch getan haben. unter Einfluss von Sonneneinstrahlung. Damit wären wir eigentlich schon direkt beim Problem. Uns Menschen Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen und wün- gibt es seit ungefähr 1 Million Jahren. Die meiste Zeit sche Ihnen einen schönen Sommer. davon haben wir draußen verbracht. Vor ungefähr 150 Jahren hat sich das geändert: Erst waren es Fabrik- (Beifall bei der AfD) hallen, dann waren es Büros, jetzt ist es das Homeoffice. Wir sind nicht mehr so viel draußen. Die Evolution ist da Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (B) (D) nicht wirklich hinterhergekommen. Einen anderen Me- Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Dittmar, chanismus, um körpereigenes Vitamin D zu erzeugen, SPD. haben wir bisher noch nicht entwickelt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dietrich Damit wären wir im Grunde genommen schon bei der Monstadt [CDU/CSU]) Konsequenz, die daraus folgt. Die meisten Menschen haben im Winter tatsächlich einen Vitamin-D-Mangel, Sabine Dittmar (SPD): viele aber auch ganzjährig. Das sind vor allen Dingen ältere Menschen, aber auch Menschen wie zum Beispiel Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- Schichtarbeiter. gen! Die Vermeidung und Versorgung von chronischen Krankheiten, die durch Lebensstil, durch Umwelt- und Die gute Nachricht ist: Man kann das Ganze relativ Arbeitsbedingungen und die soziale Lage bedingt oder einfach analysieren. Eine Analyse kostet ungefähr 20 Eu- beeinflussbar sind, ist eine gesundheitspolitische Aufga- ro. Wir schlagen in unserem Antrag vor, sie zukünftig zu be, die trotz aller bisherigen Anstrengungen deutlich einer Kassenleistung zu machen. mehr Aufmerksamkeit verlangt. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflichtet, verstärkt gegen soge- (Beifall bei der AfD) nannte Volkskrankheiten vorzugehen und eine nationale Auch die Behandlung ist nicht besonders teuer. Sie kostet Diabetes-Strategie zu initiieren. pro Tag ungefähr 10 Cent. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wozu das Ganze? Wir sprechen heute vor allen Dingen Ich freue mich deshalb sehr, dass wir Ihnen heute end- über Diabetes. In einer Langzeitstudie in Finnland wurde lich einen Antrag dazu vorlegen können. festgestellt, dass, wenn Kinder bereits in frühen Jahren Vitamin D zusätzlich bekommen, die Gefahr, an Diabetes (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Typ 1 zu erkranken, für sie deutlich niedriger ist. Auch ein Zusammenhang zu Corona lässt sich herstellen. Es ist Lange haben wir mit den Kolleginnen und Kollegen aus so, dass man festgestellt hat, dass ein erhöhter Vitamin- dem Bereich Ernährung der Union um einen Kompro- D-Spiegel zwar nicht die Infektion verhindert, aber den miss zur Zuckerreduktion und zu Nährwertvorgaben für Verlauf der Erkrankung dämpft. Kinderlebensmittel gerungen. Darauf wird meine Kolle- gin Schulte eingehen. Ich möchte aber hier trotzdem un- Andererseits sind – das sage ich ganz klar – natürlich missverständlich klarmachen, dass wir als SPD im Ein- an solchen Untersuchungen auch Zweifel angebracht. klang mit den Fachgesellschaften und Krankenkassen Schauen wir uns zum Beispiel Corona an: Wenn wir strengere Reduktionsvorgaben befürworten. Wir werden 21478 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Sabine Dittmar (A) deshalb sehr genau beobachten, ob der Kompromiss zum Deshalb ist es notwendig, dass wir eine aktuelle Leit- (C) gewünschten Ziel führt. linienrecherche des Gemeinsamen Bundesausschusses bekommen, um die Voraussetzungen für eine Kassenleis- (Beifall bei der SPD) tung zu schaffen. Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden An- Meine Damen und Herren, ich denke, wir geben mit trag beschreiben wir nun wesentliche Bestandteile einer unserem Antrag wichtige Impulse für mehr Aufklärung, nationalen Diabetes-Strategie, die aus Sicht der Koali- Vorbeugung, bessere Versorgung und Forschung. Des- tionsfraktionen wichtig sind. Wichtig ist mir dabei, fest- halb bitte ich um Ihre Zustimmung. zustellen, dass eine Diabetes-Strategie perspektivisch in eine ressortübergreifende Strategie für Gesundheitsförde- Ich danke für die Aufmerksamkeit, wünsche Ihnen rung und Prävention in Deutschland einmünden muss, die allen eine erholsame parlamentarische Sommerpause alle chronischen und lebensstilbedingten Volkskrankhei- und, dass wir uns im September alle gesund wiedersehen. ten in den Blick nimmt. Denn auch bei Herz-Kreislauf- Erkrankungen, chronischen Lungenerkrankungen, mus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kuloskelettalen Erkrankungen oder Allergien liegen die der CDU/CSU) Zahlen in Deutschland auf einem anhaltend hohen Ni- veau. Gesündere Lebens-, Arbeits- und Umweltbedin- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gungen, Bildungsgerechtigkeit und gesundheitliche Dr. Andrew Ullmann, FDP, ist der nächste Redner. Chancengleichheit schafft aber nicht ein Ressort oder ein Akteur allein. Das liegt in ressortübergreifender und (Beifall bei der FDP) auch in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. Hier muss die Bundesregierung das Heft des Handelns stärker Dr. Andrew Ullmann (FDP): als bisher in die Hand nehmen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben heute wieder einmal klassische AfD-Politik erlebt: Wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sprechen über Diabetes; das Wort fängt mit D an, also Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜND- sprechen wir mal über Vitamin D. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Heiterkeit bei der LINKEN und dem BÜND- Selbstverständlich fangen wir bei der Vermeidung und NIS 90/DIE GRÜNEN) Bekämpfung von Diabetes mellitus in Deutschland nicht bei null an. Die Bundesregierung hat vielfältige und auch In dem Antrag der AfD, Herr Schneider, fehlt das Wort sehr gute Programme und Projekte auf den Weg gebracht. „Diabetes“ vollständig – Thema verfehlt, relativ klar. Die Krankenkassen haben in den zurückliegenden Jahren (B) Meinen Wutausbruch im Gesundheitsausschuss gebe (D) ihr Engagement zur Senkung des Erkrankungsrisikos ich zu. Ich hätte mich da beherrschen müssen; das war deutlich ausgeweitet. In allen Bundesländern gibt es Lan- ein bisschen schwierig. desrahmenverträge. Und die vielfältigen Aktionen auf kommunaler Ebene kommen noch dazu. Mir fällt hier (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ ganz spontan aus meinem Wahlkreis das Projekt „Dem DIE GRÜNEN]: Ich fand es sehr angemessen!) Diabetes davonlaufen“ im Landkreis Rhön-Grabfeld ein, das von meinem ärztlichen Kollegen Dr. Helm mit sehr Aber wenn ich das, was Sie da von sich gelassen haben, viel Engagement und Herzblut betrieben wird. Und den- hier beurteilen würde, dann würde ich dafür – mit Ver- noch, Kolleginnen und Kollegen, haben wir eine anhal- laub – sofort eine Verwarnung bekommen. Sie haben tend hohe Zahl von Neuerkrankungen in Deutschland, Korrelation mit Kausalität verwechselt; Sie haben die mit all den Folgen für die Betroffenen selbst und für unser Begriffe „in vitro“ und „in vivo“ verwechselt. Ich denke, Gesundheits- und Sozialsystem. Ich denke, das müssen Sie sollten da erst mal Nachhilfeunterricht nehmen. und das wollen wir auch ändern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Erich der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- Irlstorfer [CDU/CSU]) SES 90/DIE GRÜNEN) Was mir vor allem Sorge bereitet, sind die vielen Men- Wir sprechen heute über Diabetes, meine Damen und schen, die unter Übergewicht und Adipositas leiden. Herren. Diabetes ist eine Volkskrankheit. Diabetes ist Zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in auch tatsächlich eine Pandemie, die wir ernst nehmen Deutschland sind betroffen, 15 Prozent der Kinder und müssen. Seit zweieinhalb Jahren warten wir auf einen Jugendlichen sind übergewichtig, 6,5 Prozent davon adi- Vorschlag der Koalition für eine nationale Diabetes-Stra- pös. Es ist wichtig, diese stark übergewichtigen oder be- tegie. Erst jetzt ist dazu etwas gekommen. Gott sei Dank reits adipösen Menschen leitliniengerecht zu versorgen. ist jetzt was gekommen. Aber in der Zwischenzeit sind Sie brauchen eine auf ihre individuellen Bedürfnisse zu- 1 Million Menschen mehr an Diabetes erkrankt. Das ist geschnittene Versorgung, die sich multimodal und inter- keine ambitionierte Politik. Das muss eigentlich schneller disziplinär aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltens- gehen, meine Damen und Herren. therapie zusammensetzt. Hier haben wir Defizite, und die (Beifall bei der FDP) gilt es abzubauen. Bei einer Diabetes-Strategie gibt es eigentlich zwei (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der übergeordnete Ziele, die wir angehen müssen. Ein Ziel CDU/CSU) ist die Prävention, und das zweite Ziel ist, dass die an Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21479

Dr. Andrew Ullmann (A) Diabetes Erkrankten lange und mit einer hohen Lebens- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) qualität weiterleben können. Das sind die beiden Ziele. Frau Dittmar hat Ihnen ja quasi Redezeit eingespart. Um sie zu erreichen, bedarf es der Methodik „Health in All Policies“. Das ist etwas ganz Wichtiges; dazu haben Dr. Andrew Ullmann (FDP): die Kollegen aus den anderen Fraktionen ja schon einiges Ja, ich gebe ja auch Gas. gesagt. Dazu braucht es Mut und Willensbekundungen. Dass das möglich ist, haben wir durch unseren Umgang Die Kritik am Papier der Koalition ist relativ klar: Es mit der Covid-19-Krise schon bewiesen. ist sehr dünnbrettartig, es sind viele Wünsche und Wil- lensbekundungen geäußert worden, es enthält nicht ge- Vier Maßnahmen müssen ergriffen werden – ich möch- nügend Maßnahmen. Aber die Willensbekundungen sind te dazu Beispiele bringen –: richtig. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Unser Antrag enthält auch noch Maßnahmen – machen Sie sich Erstens müssen Risikofaktoren minimiert werden. Ein die auch zunutze! –, um das Thema Diabetes in Deutsch- Beispiel ist hier Adipositas. Die Kollegin Dittmar hat land besser voranzubringen bzw. das Risiko, daran zu dieses Thema gerade sehr richtig dargestellt; dadurch erkranken, zu minimieren. Das sollte unser gemeinsames kann ich etwas Zeit gewinnen. Ziel sein. Zweitens ist die Gesundheitskompetenz in allen Le- Ich danke Ihnen. bensaltern voranzubringen. Angefangen vom Kindergar- ten bis zu den berufsbildenden Schulen muss es hier le- (Beifall bei der FDP) benslanges Lernen geben. Das ist ganz wichtig, damit wir mehr Gesundheitskompetenz bekommen und auch Prä- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: vention im Blick auf Diabetes erreichen. Wir haben es da Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Petra Sitte, Die aber nicht nur mit Diabetes zu tun, sondern auch mit Linke. vielen anderen Erkrankungen, bei denen die Lage durch Gesundheitskompetenz verbessert werden kann. Wenn es (Beifall bei der LINKEN) um Prävention geht, stellt sich für mich auch die Frage nach der Novellierung des Präventionsgesetzes, die un- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): längst vonseiten des BMG versprochen wurde. Es wäre Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, Diabe- schön, wenn dies bald erfolgen könnte. tes ist explosiv angewachsen in den letzten Jahren, und im Zuge der Pandemie hat sich gezeigt, dass der Verlauf Drittens: Versorgung der Patienten. Hier bedarf es – von Covid-19 noch verschärft werden kann durch Vorer- das hat Frau Dittmar auch schon erwähnt – hochwertiger, krankungen wie eben Diabetes. Die Zahl der Diabetes- (B) bundeseinheitlicher und vor allem evidenzbasierter Me- (D) Erkrankten in Deutschland ist allein in den letzten 20 Jah- dizin; die müssten wir wieder einführen. Es geht nicht um ren um dramatische 38 Prozent gestiegen. Es ist also in eminenzbasierte Medizin, sondern um evidenzbasierte der Tat höchste Zeit, eine umfassende Strategie zur Ein- Medizin. Im Hinblick darauf ist es natürlich wichtig, dass dämmung von Diabetes vorzulegen. viele Sektoren verzahnt werden. Dies stellt zwar eine besondere Herausforderung dar, aber auch das ist sicher- (Beifall bei der LINKEN) lich möglich. Leider lässt der Koalitionsantrag das Zeitfenster dafür Zu guter Letzt, viertens: die Forschung. Wir haben so- sperrangelweit offen; denn es steht kein Termin drin. Die genannte DMPs, also Disease-Management-Programme, ressortübergreifende Strategie für Gesundheitsförderung die bereits laufen, und dadurch haben wir viele Versor- und Prävention soll sozusagen grundiert werden durch gungsdaten. Diese Daten müssen wir zusammenführen ein Eckpunktepapier. Aber wann, wo, wie, was findet und öffentlich machen. Auch dadurch können wir eine man nicht in dem Antrag. Da hätte ich mir ein ambition- zielgerichtetere Versorgung gewährleisten. ierteres Vorgehen gewünscht. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ Herr Kollege Ullmann. DIE GRÜNEN]) Medizinische Fachkreise – der Kollege von der FDP Dr. Andrew Ullmann (FDP): sagte es gerade – sprechen seit zehn Jahren von Diabetes Ich komme zum Schluss. als einer weltweiten Pandemie; schon allein daran zeigt sich, wie spät wir dran sind. Diabetes ist offensichtlich eben nicht allein mit Aufklärung und dergleichen mehr zu Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: bekämpfen; vielmehr hat er auch strukturelle und sozio- Bitte. ökonomische Ursachen. Pillen und Spritzen helfen da auch nur begrenzt. Warum sage ich das? Weil Tausende Dr. Andrew Ullmann (FDP): Menschen ihren Lebensstil eben nicht frei wählen kön- Tut mir leid. Es war schwierig, nicht darauf zu ant- nen. So hat Bewegungsarmut auch mit der Art zu tun, wie worten. wir arbeiten. Angestellte bei Lidl oder bei Amazon be- kommen eben kaum Zeit, um sich zu bewegen; sie kön- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nützt nen nicht einmal in Ruhe auf Toilette gehen. Das sind aber nichts!) Stressfaktoren. Das hat natürlich körperliche Auswirkun- 21480 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dr. Petra Sitte (A) gen und führt dazu, dass Diabetes begünstigt wird. Und zu handeln, hat die Bundesregierung hier einen regiona- (C) schließlich werden sie auch gezwungen, an Arbeitsplät- len Versorgungsflickenteppich entstehen lassen. Wie zen zu sitzen oder zu stehen und sich nicht zu bewegen. Diabetes-Betroffene versorgt werden, wie ihre Chancen Das ist nicht nur Tyrannei, das führt eben auch zu er- auf Heilung sind – und auch das gibt es ja durchaus –, heblichen gesundheitlichen Problemen. Arbeit darf nicht hängt in Deutschland maßgeblich vom Wohnort ab. Das krank machen! ist ungerecht! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber auch ältere und erwerbslose Menschen leiden und bei der LINKEN) unter Bewegungsmangel und sozialer Ausgrenzung. Doch reicht es aus, vor allem die Versorgungssituation Fehlernährung ist oft zu beobachten. Das betrifft nicht in den Blick zu nehmen? Sicherlich nicht; denn es muss selten insbesondere arme Haushalte und dort wiederum uns ja nicht nur darum gehen, Menschen mit Diabetes gut insbesondere die Kinder. Kaufen Sie doch mal bei Lidl zu behandeln, sondern es sollte unser aller Ziel sein, der eine kleine Packung! Die beste Prävention wäre hier also Entstehung von Diabetes vorzubeugen. In Sachen Prä- in der Tat, Familienarmut konsequent zu bekämpfen. vention setzen Sie aber weiterhin vor allem auf die Ver- antwortung der Einzelnen, statt endlich möglichst gesun- (Beifall bei der LINKEN) de Lebensbedingungen für alle zu schaffen. Das wäre Und deshalb brauchen wir auch klare gesetzliche Vorga- dringend notwendig, um soziale Gerechtigkeit bei den ben. Gesundheitschancen herzustellen. Bis heute tut sich diese Regierung schwer, Anbietern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grenzen zu setzen – die Kollegin hat es angedeutet –, und bei der LINKEN) wenn es um Zucker geht, wenn es um Salz geht, wenn es um Fette geht. Ich erinnere nur an das ganze Ge- Während Großbritannien positive Erfahrungen mit der schwurbel um die Lebensmittelampel, oder ich erinnere Zuckerreduktion macht, setzen die Ernährungsministerin an die hübschen Bilder einer Ministerin Arm in Arm mit und die Koalition weiter auf die Selbstverpflichtung der Nestlé. Das war keine Pose, das war eine Posse. Industrie. Wir wissen, dass das vorne und hinten nicht ausreicht. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN]) und bei der LINKEN) Während in Dänemark und den Niederlanden massiv in (B) Abschließend will ich sagen, dass sich öffentlich ge- (D) förderte Diabetes-Forschung deutlich stärker – die Kol- die Fahrradinfrastruktur und somit in bewegungs- und legen haben es auch schon bestätigt – auf Prävention, damit gesundheitsfördernde Mobilität investiert wird, Versorgung und Pflege konzentrieren muss. Damit lässt gibt der Verkehrsminister Geld für Straßen aus, das sich in der Tat wenig Geld verdienen, aber sehr viel Geld eigentlich für Radwege vorgesehen ist. Das ist das Ge- einsparen. Vor allem bleibt den Menschen viel Leid ers- genteil von Verhältnisprävention. part. Sie gewinnen Lebensqualität, Lebensfreude. Und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das ist es, worum es uns am Ende hier bei unseren Strate- sowie der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE gien gehen sollte. LINKE]) Danke. All das zeigt: Sie meinen es leider nicht ernst mit (Beifall bei der LINKEN) Prävention und Gesundheitsförderung. Und das schadet! Wie viele Menschen könnten von gesundheitsfördernden Bedingungen im Alltag profitieren, von einer Prävention, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: die in den Lebenswelten ansetzt. Dabei müssen Sie doch Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert- bei alldem das Rad nicht neu erfinden. Auf den „Health in Gonther für Bündnis 90/Die Grünen. All Policies“-Ansatz verweisen Sie ja sogar selbst in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihrem Antrag. Wir müssen Gesundheitsförderung endlich als verbindliche Aufgabe aller Politikbereiche, die inei- nandergreifen, verstehen. Wie das geht, können Sie in Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/DIE unserem grünen Antrag lesen. GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun Zu Ihrem Antrag werden wir uns als Anerkennung, also doch! Bis zur letzten Minute durften wir ja durchaus dass Sie das Thema nun endlich angehen, skeptisch sein, ob die Koalition den TOP „Diabetes-Stra- tegie“ wieder von der Tagesordnung streicht. Aber was (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Kraft- debattieren wir heute? Eine Strategie? Nein, einen An- voll enthalten!) trag, der eine nationale Diabetes-Strategie fordert. Das ist enthalten. jetzt leider noch kein großer Wurf. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich Die Weltgesundheitsorganisation fordert schon seit wusste es!) Jahren abgestimmte Maßnahmenpakete gegen Diabetes und andere nichtübertragbare Krankheiten. Doch statt Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21481

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (C) Sabine Dittmar [SPD]) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Alexander Krauß, CDU/CSU, ist der nächste Redner. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula Schulte, (Beifall bei der CDU/CSU) SPD.

Alexander Krauß (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ursula Schulte (SPD): ren! Diabetes kommt nicht wie der Blitz aus heiterem Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Himmel, sondern hat eine Vorgeschichte. Das kann die Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit genetische Veranlagung sein, häufig sind es aber Bewe- dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen star- gungsmangel, ungesunde Ernährung und daraus resultie- ten wir die nationale Diabetes-Strategie. Das ist gut so, rend Übergewicht. Jeder vierte Deutsche ist adipös, also und darüber freue ich mich. stark übergewichtig. Unser Antrag geht auf das Thema Adipositas ein. Als Berichterstatterin für gesunde Ernährung hätte ich mir allerdings klarere und verbindlichere Aussagen zur Diabetes ist die Krankheit, die heute zu Recht im Reduktionsstrategie, zur Zuckerreduktion und den Nähr- Blickfeld steht. Wichtig ist aber auch, dass wir uns die wertprofilen gewünscht. Dazu waren die Kolleginnen Wurzel von Diabetes anschauen, die verborgen und we- und Kollegen von CDU/CSU leider nicht bereit. Das ist nig beachtet im Boden liegt, nämlich Adipositas. Adipo- wirklich bedauerlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, sitas ist die Wurzel, aus der und auf der Diabetes wächst. vor allen Dingen, wenn man weiß, dass zu den Risiko- Es ist wie beim Unkraut: Wenn man die Löwenzahnblät- faktoren, an Diabetes zu erkranken, Bewegungsmangel ter nur ausreißt, bringt das nicht viel. Man muss sich mit und eben eine ungesunde Ernährung gehören. Um dem der Wurzel befassen, und das tun wir heute auch in un- entgegenzuwirken, haben wir die Reduktionsstrategie, serem Antrag. Adipositas ist in Deutschland als Krank- das Verbot von Zucker in Kinder- und Säuglingstees heit noch nicht anerkannt, anders als in den meisten eu- und den Nutri-Score auf den Weg gebracht. Aber das ropäischen Staaten, in den Vereinigten Staaten oder bei ändert leider nichts an folgendem Befund: der Weltgesundheitsorganisation. Im Antrag sprechen wir von der Adipositas-Erkrankung. Heute wird für die Die Deutschen essen zu energiereich. Sie essen zu viel Adipositas-Erkrankten ein ganz wichtiger Meilenstein Fleisch, zu wenig Obst und zu wenig Gemüse, und sie (B) erreicht: die Anerkennung ihrer Erkrankung durch den bewegen sich zu wenig. Die Kita- und Schulverpflegung (D) Deutschen Bundestag. entspricht oft nicht den DGE-Qualitätsstandards, und die Bevölkerung weiß zu wenig über gesunde Ernährung, Meine sehr geehrten Damen und Herren, Menschen wie eine AOK-Studie jüngst bewiesen hat. mit Adipositas werden unzureichend behandelt; Frau Kollegin Dittmar ist darauf eingegangen. Es reicht nicht, Zudem spaltet das Thema Ernährung unser Land. Är- wenn ein Patient zum Arzt geht und dieser ihm dann nur mere Menschen ernähren sich häufiger ungesund, erkran- sagt, er solle mal ein bisschen weniger essen und sich ein ken öfter und versterben früher. bisschen mehr bewegen. Das ist keine ausreichende The- Angesichts dieser Tatsachen, Frau Klöckner, mutet der rapie. Es mangelt an einer facharztübergreifenden, pro- Ernährungsreport 2020 schon ein wenig merkwürdig an. fessionellen ambulanten Behandlung. Es mangelt an Er gaukelt uns eine Welt vor, die mit der Wirklichkeit in Schulungsprogrammen für Betroffene. Es mangelt aber vielen Fällen nicht übereinpasst. auch an Verständnis für die Betroffenen und an Informa- tionen über die Erkrankung. Das Einzige, das die Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grundsteine für troffenen leider überreichlich erfahren, ist Hohn und eine gesunde Ernährung werden schon in der Kindheit Spott. Damit werden wir uns nicht abfinden, und wir gelegt. Deswegen ist Ernährungsbildung von der Kita werden jetzt auch daran arbeiten, dass sich in diesem an notwendig. Mit dieser Forderung kommen wir bei Land etwas ändert. den Länderkollegen leider nur schleppend weiter. Darü- ber hinaus brauchen wir einen verstärkten Blick auf die Was brauchen wir? Wir brauchen endlich eine Versor- ersten tausend Tage des Lebens. Schon da beginnt oft die gung für Menschen mit Adipositas durch Haus- und falsche Ernährung. Herr Monstadt hat das ja auch er- Fachärzte, die ihren Namen verdient, in erster Linie eine wähnt. Deswegen gehört das Thema Ernährungsbildung anständige ambulante Behandlung. In den vergangenen in die Lehrpläne des medizinischen und pflegenden Per- Monaten hat sich die Deutsche Adipositas Allianz ge- sonals. gründet, in der Betroffene, Ärzte, Krankenkassen, Arz- neimittelhersteller, die Rentenversicherung mitarbeiten Der SPD-Fraktion ist es wichtig, dass für Kinder- mit dem Ziel, dass Menschen mit Adipositas nicht mit lebensmittel die klaren Regelungen der von der Weltge- altklugen Ratschlägen erschlagen werden, sondern ihnen sundheitsorganisation 2015 entwickelten europäischen geholfen wird. Wenn Sie diesen Menschen auch helfen Nährwertprofile gelten. Darüber streiten wir auf europä- wollen, dann bitte ich Sie, unserem Antrag heute zuzu- ischer Ebene schon viel zu lange und vor allem ohne stimmen. Erfolg. Die Leidtragenden sind die Kinder und Jugend- lichen. Über 15 Prozent sind übergewichtig, 6,3 Prozent Vielen Dank. sogar adipös. Die Kinder haben ein hohes Risiko, an 21482 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Ursula Schulte (A) Diabetes zu erkranken. Deswegen frage ich mich inzwi- nerpult, sondern als betroffener Patient, der Diabetiker (C) schen: Welche Interessen vertreten wir hier eigentlich, ist. Ich bin mir sicher, dass Sie sagen: Ja, typisch, schau die der Lebensmittelbranche oder die unserer Kinder? ihn dir an. In dieser Gewichtsklasse. Selber schuld! – Sie kennen mich nicht über viele Jahre. Deshalb wissen Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nicht, dass ich früher ungefähr die Hälfte des Gewichts Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE] und hatte. Niemand von Ihnen kann sich auch vorstellen, dass Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ ich sportlich aktiv war und über Jahrzehnte jeden Tag auf DIE GRÜNEN]) dem Fußballplatz gestanden habe. Ich habe diesen Unsere Position ist da ganz klar: Die Gesundheit der schleichenden Prozess einfach übersehen. Ich weiß um Kinder muss an erster Stelle stehen. die Bedeutung, was Diabetes auslöst, und ich weiß auch, dass es teilweise ein Selbstmord mit Messer und Gabel Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Fraktion hat ist. bei der Erarbeitung des Diabetes-Antrages für die Forde- rung gekämpft, den Zuckeranteil bei zuckergesüßten Ge- Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist tränken, die gerade bei Kindern und Jugendlichen beliebt es mir wichtig, dass wir an der Wurzel anfangen, dass wir sind, um 50 Prozent zu reduzieren und dies auch gesetz- im Endeffekt im Elternhaus – ich sage mal – Leitplanken lich zu regeln. Denn nach den Vorkommnissen in der geben, dass auch wieder richtig gekocht, auch richtig ein- Fleischindustrie ist mein Vertrauen in freiwillige Selbst- gekauft wird und dass wir unseren Kindern – als zwei- verpflichtungen der Wirtschaft mächtig geschrumpft. Wir facher Vater ist es mir extrem wichtig – wieder vermit- finden für unsere Forderungen viel Unterstützung: bei teln, was in einem Lebensmittel drin ist, woher dieses Krankenkassen, bei Kinder- und Jugendärzten und bei Lebensmittel kommt und welchen Wert dieses Lebens- vielen Verbänden. Warum wollen Sie eigentlich nicht mittel hat. auf diese Experten hören, liebe Kolleginnen und Kolle- gen von der CDU/CSU? Diese Frage kann ich Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- leider nicht ersparen. neten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dennoch freue ich mich, dass es unsere Forderungen zu den Kinderlebensmitteln und zum Zuckergehalt in Er- Deshalb plädiere ich natürlich auch dafür, dass wir das Thema Diabetes auch wieder in der Schul- und Familien- frischungsgetränken in den Antrag geschafft haben, wenn politik verankern. Woher sollen es die Kinder wissen? Ich auch nur in abgeschwächter Form. habe diesen Prozess selbst erlebt, dass wir in die Digita- lisierung gegangen sind und den Bereich Kochen und Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Hauswirtschaft aus den Schulen rausgenommen haben, (B) Frau Kollegin. dass wir ihn abgetan haben, indem wir gesagt haben: (D) „Na ja, ist ja nicht so wichtig“, und dass wir dann in eine Ursula Schulte (SPD): andere Richtung gegangen sind. Deshalb ist es wichtig, Aber immerhin, sie stehen drin. Das sind kleine, aber dass Bund und Länder zusammenarbeiten. Es ist auch ein wichtige Schritte in die richtige Richtung. Teil der Schulpolitik. Und deshalb es ist auch notwendig, dass wir den Sportunterricht hier nicht reduzieren, son- In Richtung AfD: Wir hätten heute gerne noch ein dern dass wir den Sportunterricht ausbauen oder zumin- bisschen Vitamin D getankt. Hätten Sie uns die Aktuelle dest in der jetzigen Form beibehalten, meine sehr geehr- Stunde erspart, dann hätten wir das auch noch tun kön- ten Damen und Herren. nen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD) neten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Ich plädiere aber auch dafür, dass wir die Vereine un- Frau Kollegin. terstützen, dass wir ihre Jugendtrainer bei der Ausbildung für das Ganze sensibilisieren, dass wir Bewegungsmög- Ursula Schulte (SPD): lichkeiten anbieten. Ich glaube, das ist enorm wichtig. Ja, herzlichen Dank, Herr Präsident. Bleiben Sie ge- Der Weg führt über eine Präventionsstrategie. Ich hoffe sund! aber auch für all die Millionen Betroffenen, dass in der Versorgung und in der Behandlung – da bietet sicher auch (Beifall bei der SPD) die Digitalisierung eine Chance – die Ärzteschaft und die Betroffenen näher zusammenrücken und gemeinsam Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: passgenaue Leistungen entwickeln, die dann auch im Ar- Jetzt ist die Redezeit wirklich abgelaufen. – Das Wort beitsalltag Realität werden können. Dass das und das und hat als voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte das richtig ist, das wissen die Betroffenen und bekommen der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU. es immer wieder gesagt. Aber es geht um die Umsetzung. Schöne Worte – wunderbar –, aber es geht darum, etwas (Beifall bei der CDU/CSU) zu tun. Und dafür ist heute, glaube ich, ein guter Tag, an Erich Irlstorfer (CDU/CSU): dem wir mit dieser Diabetes-Strategie starten. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Herzlichen Dank für Ihre Zustimmung, und danke ren! Ich stehe heute nicht nur als Abgeordneter am Red- auch, dass wir jetzt so weit sind. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21483

Erich Irlstorfer (A) Danke schön. ZP 30 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ottmar (C) von Holtz, Uwe Kekeritz, Claudia Roth (Augs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion ordneten der SPD) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Friedensarbeit und zivile Krisenprävention Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: während der COVID-19-Pandemie stärken, Damit schließe ich die Aussprache. Abwärtsspirale verhindern Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Drucksache 19/20587 Koalitionsfraktionen auf der Drucksache 19/20619 mit Überweisungsvorschlag: dem Titel „Start einer Nationalen Diabetes-Strategie – Auswärtiger Ausschuss (f) Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und Versorgung des Diabetes mellitus zielgerichtet wei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union terentwickeln“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer Federführung strittig stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der An- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- trag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ent- schlossen. – Dann bitte ich, Platz zu nehmen. haltung der übrigen Fraktionen angenommen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Tagesordnungspunkt 21 b. Beschlussempfehlung des Abgeordneten Heike Hänsel, Die Linke. Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Nationale Diabe- (Beifall bei der LINKEN) tes-Strategie umgehend initiieren“. Der Ausschuss emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache Heike Hänsel (DIE LINKE): 19/20710, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin- nen auf der Drucksache 19/14389 abzulehnen. Wer nen! Vorab möchte ich sagen: Deutschland hat ab Juli stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt nicht nur die EU-Ratspräsidentschaft inne, sondern auch dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Dass es dazu weder ist bei Enthaltung der Linken gegen die Stimmen von von der Bundesregierung eine Regierungserklärung gab Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des übrigen noch dass die Regierungsfraktionen dazu einen Tages- Hauses angenommen. ordnungspunkt aufgesetzt haben, zeigt eigentlich den Stellenwert, den die UN bei Ihnen hat. Dass dies die Op- Tagesordnungspunkt 21 c. Beschlussempfehlung des position machen musste, ist wirklich ein Armutszeugnis. (B) (D) Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Schwere Verlaufsformen bei (Beifall bei der LINKEN) Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 reduzie- Wir begrüßen es ausdrücklich, dass nun endlich eine ren – Vitamin-D-Mangel in der Bevölkerung beseitigen, Resolution zu dem Appell von UN-Generalsekretär An- Immunabwehr stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- tónio Guterres für eine globale Waffenruhe in Zeiten der ner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 19/20709, Coronapandemie verabschiedet wurde: ausdrücklich eine den Antrag der Fraktion der AfD auf der Drucksache ganz wichtige Resolution. Jetzt liegt es aber an der Bun- 19/20118 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- desregierung, diese Resolution auch umzusetzen. Da empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält würde ich doch gerne mal hören, wie die Bundesregie- sich? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen rung das machen möchte. Unseres Erachtens wäre es am der AfD mit den Stimmen des übrigen Hauses angenom- besten, sie würde für diesen Beitrag ihre Bundeswehrsol- men. daten aus den Kriegseinsätzen zurückziehen und alle Waffenlieferungen an Länder, die Krieg führen, stoppen. Zusatzpunkt 29. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 19/20555 an den Ausschuss (Beifall bei der LINKEN) für Gesundheit vorgeschlagen. Gibt es weitere Vorschlä- Das betrifft zum Beispiel ganz konkret Libyen. Ich ge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vor- muss sagen: Die Appelle von Außenminister geschlagen. an alle kriegführenden Staaten in Libyen, ihre Waffen- lieferungen einzustellen, sind mittlerweile nur noch Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 29 sowie den heuchlerisch, solange die Bundesregierung selbst weiter Zusatzpunkt 30 auf: Waffen an genau diese Brandstifter in Libyen liefert. Ich 29 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike finde, Sie müssen diese endlich stoppen, wollen Sie über- Hänsel, Dr. Alexander S. Neu, Michel Brandt, haupt noch glaubwürdig bleiben. weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Beifall bei der LINKEN) LINKE Skandalös ist es auch, dass sich die Bundesregierung in Deutschen Vorsitz im Sicherheitsrat der Ver- dem aktuellen Konflikt zwischen Frankreich und der Tür- einten Nationen für aktive Friedenspolitik kei – es geht hier um die Kontrolle von Schiffen, die nutzen Waffen liefern – neutral verhält und damit dem engsten Partner, nämlich Frankreich, auch noch in den Rücken Drucksache 19/20548 fällt. Diese Haltung ist unfassbar! 21484 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Heike Hänsel (A) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Heike Hänsel (DIE LINKE): (C) Es geht auch um die humanitäre Hilfe für Syrien; die Wir alle wissen doch, dass die Türkei sowohl Waffen steht auf der Tagesordnung. Wir setzen uns dafür ein, als auch islamistische Milizen nach Libyen transportiert dass die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien und auch und dass sie nun, weil sie Kontrollen verhindern will, gegen viele andere Länder endlich beendet werden. Das Frankreich militärisch droht. Ein unglaublicher Vorgang! wäre ein ganz konkreter Beitrag für Armutsbekämpfung Hier erwarte ich von der Bundesregierung eine klare Ver- und für Frieden in der Welt. urteilung und auch, dass es zu Konsequenzen für die Türkei kommt, sonst untergräbt sie doch ihren eigenen Danke. Friedensprozess, den sie in Berlin angestoßen hat. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Die Türkei ist ein Aggressor in der gesamten Region. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Das betrifft auch die Bombardierungen im Nordirak. Das Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Nick, betrifft die Annexionspolitik im Norden Syriens. Dies CDU/CSU. sind klare Völkerrechtsbrüche. Diese müssen auch so (Beifall bei der CDU/CSU) von der Bundesregierung benannt und im UN-Sicher- heitsrat verurteilt werden. Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Juli hat Deutschland erneut den Vorsitz im Sicherheits- Die Bundesregierung spricht ja sehr gerne vom Multi- rat der Vereinten Nationen übernommen. Als konkretes lateralismus. Auch wir unterstützen ein multilaterales Ergebnis des European Spring, der aufeinanderfolgenden System. Das heißt aber, dass wir erwarten, dass sich die Präsidentschaften von Estland, Frankreich und Deutsch- Bundesregierung gegen die zunehmende Blockbildung land, hat sich der Sicherheitsrat am Mittwoch auch end- und Feindbildpolitik gegenüber China und Russland po- lich auf eine schon lange überfällige Resolution zu Co- sitioniert, also für ein multilaterales System, und dass vid-19 geeinigt. Dem darin enthaltenen Aufruf zur sie – das ist auch eine der zentralen Herausforderungen Unterstützung der von Generalsekretär Guterres gefor- der Vereinten Nationen – endlich zur Wiederherstellung derten globalen Waffenruhe möchten wir uns auch hier des Völkerrechts beiträgt. im Deutschen Bundestag anschließen. Wir erleben eine Erosion des Völkerrechts bei den Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (B) einten Nationen, unter anderem durch die zahlreichen Christoph Matschie [SPD] und Ulrich Lechte (D) Regime-Change-Kriege der NATO-Staaten. Wollen wir [FDP]) die Vereinten Nationen stärken, dann muss endlich die Im Sicherheitsrat wollen wir in den kommenden Wo- Stärke des Rechts wieder gegen das Recht des Stärkeren chen klare Akzente setzen. Mit den Komplexen „Klima durchgesetzt werden. und Sicherheit“ und „Sexuelle Gewalt in Konflikten“ (Beifall bei der LINKEN) führen wir dabei die Schwerpunkte unserer Präsident- schaft aus dem vergangenen Jahr fort. Dabei handelt es Das betrifft unter anderem auch den Nahen Osten – wir sich keineswegs um sogenannte weiche Themen oder – haben das diese Woche schon debattiert –: Die jahrzehn- wie mancher meinen würde – „Gedöns“. Der Klimawan- telange israelische Besatzungspolitik und der Siedlungs- del und seine Folgen bedrohen als Auslöser und Kataly- bau sind völkerrechtswidrig. Nun kündigt die israelische sator für Konflikte in vielen Regionen unmittelbar Frie- Regierung mit den Annexionsplänen ganz offen einen den und Sicherheit. In aller Deutlichkeit: Der weiteren Völkerrechtsbruch an. Auch damit muss sich systematische Einsatz von sexueller Gewalt in Konflikten der UN-Sicherheitsrat beschäftigen. Das darf nicht ohne ist und bleibt eine knallharte Menschenrechtsverletzung. Konsequenzen für die israelische Regierung bleiben, wenn man in der Region eine Zweistaatenlösung über- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haupt noch ernsthaft verfolgen will. Die Bundesregierung neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- muss deshalb Palästina endlich als Staat anerkennen und SES 90/DIE GRÜNEN) die Rüstungsexporte in den Nahen Osten stoppen. Besonders wichtig ist uns auch das Thema „Peacekee- ping und Menschenrechte“. Die Verteidigungsministerin (Beifall bei der LINKEN) Annegret Kramp-Karrenbauer wird dazu eine offene De- batte im Weltsicherheitsrat leiten. Gewaltsame Konflikte Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: sind heute vorrangig innerstaatlicher Natur. Damit sind Frau Kollegin. auch veränderte Anforderungen an Peacekeeping-Mis- sionen verbunden: weg von rein militärischen und hin zu oft auch mehr polizeilichen Aufgaben, zu einem er- Heike Hänsel (DIE LINKE): höhten Maß an Interaktion mit der Zivilbevölkerung und Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. damit auch entsprechenden Anforderungen an das Ver- halten von Peacekeepern. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Das ist deshalb auch ein zentrales Thema für den Si- Ja, schnell. cherheitsrat. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir das Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21485

Dr. Andreas Nick (A) als Europäer auch auf die Tagesordnung setzen. Wir wer- richtig registriert, und von Jubel kann keine Rede sein, (C) den dabei auch Vertreterinnen der Zivilgesellschaft die meine Damen und Herren. Warum? Die UN sind seit Möglichkeit geben, bei den entsprechenden Sitzungen Jahren dringend reformbedürftig. Es war der ehemalige im Sicherheitsrat vorzutragen, und tragen damit auch deutsche Bundespräsident von Weizsäcker als Vorsitzen- zur Öffnung und zur Verbreiterung des Dialogs in diesem der der UN-Reformkommission, der das schon vor rund Gremium bei. 20 Jahren immer wieder kritisiert hat und genügend Vor- schläge gemacht hat, um eine Reform der Strukturen der Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 75 Jahren, am UN in die Wege zu leiten. Nur ist von deutscher Seite 26. Juni 1945, unterzeichneten 50 Staaten auf der Konfe- danach nie wieder etwas geschehen. Das müsste bei der renz von San Francisco die Charta der Vereinten Natio- Union ja Trauer hervorrufen, tut es aber nicht. nen. Noch heute ist sie eine der wichtigen Eckpfeiler der regelbasierten Weltordnung. Zugleich sehen einige der P- Ich weiß nicht, Herr Nick, was Sie getrieben hat, über 5-Staaten die Vereinten Nationen offenbar nur noch als Themen zu sprechen, die vielleicht auf der Agenda der Plattform zur Durchsetzung ihrer nationalen Interessen Weltgeschichte stehen, aber bestimmt nicht als prioritäres und weniger als Forum zur gemeinsamen Lösung globa- Ziel. Wir haben eine Situation zwischen den USA und ler Herausforderungen. In aller Klarheit: So können die China, die sich schlecht entwickelt. Wir haben Sanktio- Vereinten Nationen den ihnen von den Gründervätern zu- nen gegen Russland. Herr Poschardt von der „Welt“ hat gedachten Auftrag nicht erfüllen. einmal gesagt, wo wir uns positionieren müssen: zwi- schen China und den USA. Vielleicht könnten wir eine Wenn sich etwa auch die USA aus ihrer seit Jahrzehn- europäische oder gar eine deutsche Haltung entwickeln. ten angestammten Rolle als Hüter der regelbasierten Aber all das gehen wir nicht an. Weltordnung zurückziehen, dann hat das Konsequenzen. Hüter der Ordnung ist – so hat es Herfried Münkler kürz- Was wir völlig vergessen haben, ist, dass neben der lich beschrieben – derjenige, der bereit ist, in „common Lösung der unsicheren Situation im Nahen Osten – bisher goods“ zu investieren, und der eben nicht nur fragt: „Was finden wir keine – nützt es mir?“, und vor allen Dingen nicht: Was nützt es nur mir und sonst keinem anderen? Und er folgert: Eine (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Die Lö- Ordnung, die einen Hüter benötigt, aber keinen mehr hat, sung wäre, dass man keine Waffen schickt!) wäre eine hochriskante Konstellation. So erleben wir be- eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im reits – oft hinterrücks – den Umbau der internationalen Vorderen Orient – wir von der AfD haben das vorschla- Ordnung. gen; das hört man auch aus anderen Reihen – dringend notwendig wäre. Die entsprechende Initiative ist bislang Für uns muss dabei klar sein: Die Bewahrung und (B) ausgeblieben. Derweil werden nach Schätzungen von (D) Weiterentwicklung einer regelbasierten internationalen Open Doors 260 Millionen Christen in der Welt verfolgt – Ordnung ist und bleibt das überragende strategische In- ein Thema für die Vereinten Nationen; von deutscher teresse unseres Landes und aller Europäer. Seite dazu kein Wort! Daraus ergibt sich eine klare Konsequenz: Wir müssen (Beifall bei der AfD) auch als Europäer gemeinsam mit gleichgesinnten Part- nern weltweit in deutlich höherem Maße willens und in Hinzu kommt, dass in früheren Zeiten Namen wie Kofi der Lage sein, Verantwortung zu übernehmen und unse- Annan und Boutros Boutros-Ghali nicht nur jedem be- rerseits zur Bereitstellung globaler Gemeinschaftsgüter kannt waren. Vielmehr waren diese Personen auch immer beizutragen. Das gilt nicht nur aktuell während der Präsi- wieder in der Berichterstattung über die großen Problem- dentschaft im UN-Sicherheitsrat, sondern weit darüber konferenzen der Welt zu sehen. Heute kennt den Namen hinaus. des Generalsekretärs der UN, Guterres, kaum noch einer, und die Wirkung der Vereinten Nationen hat dramatisch Vielen Dank. nachgelassen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Christoph Matschie [SPD]: Bei Ihnen kennt vielleicht keiner den Namen! – Helin Evrim Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sommer [DIE LINKE]: Doch!) Nächster Redner ist der Kollege Armin Hampel, AfD. – Herr Matschie, Sie sind zu weit weg von den Bürgern in diesem Lande. Fragen Sie einmal nach und lassen Sie (Beifall bei der AfD) sich den Namen buchstabieren. Dann werden Sie eine Überraschung erleben. Armin-Paulus Hampel (AfD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren! Die wenigen Besucher im Deutschen Bundestag grü- NEN]: „Hampel“ kennt auch niemand!) ße ich ebenfalls. Weltmacht Deutschland, so scheint es ja – Das kann sich ja ändern, Herr Kollege. Achtung! zu heißen, wenn man den Worten des deutschen Außen- ministers folgt. Wir sind EU-Ratspräsident. Wir sitzen Nach 75 Jahren, in denen die Vereinten Nationen vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vor. Der Vor- allen Dingen in den frühen Jahrzehnten viel Gutes be- sitz im Europarat kommt auch noch. Das alles waren wirkt haben, müssten wir an sich Motor sein. Motor Jubelmeldungen in diesen Tagen, interessanterweise nur müssten wir auch sein, indem wir Deutschland den Sitz vonseiten der Bundesregierung. Kein anderer hat das so im UN-Sicherheitsrat verschaffen, der für dieses Land 21486 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Armin-Paulus Hampel (A) angemessen ist. Wir sind die stärkste Nation in Europa. Werte Kolleginnen und Kollegen, da scheut die Bun- (C) Briten und Franzosen sind im Sicherheitsrat vertreten, desregierung auch vor heißen Eisen nicht zurück. Der Amerikaner, Chinesen und Russen ebenso. Die Initiative, Bundesaußenminister ist vor wenigen Tagen in Israel ge- Deutschland einen Platz im UN-Sicherheitsrat zu ver- wesen wegen der komplizierten Frage der Annexion in schaffen, ist aber seit Jahren erlahmt und wird von dieser den besetzten Gebieten und hat versucht, hier eine klare Bundesregierung nicht betrieben. Nach unserer Meinung Position deutlich zu machen. Diese Annexion wäre aus hat Deutschland ein Anrecht auf diesen Sitz und sollte unserer Sicht völkerrechtswidrig, und die Bundesregie- sich zusammen mit Brasilien und Indien vehement dafür rung arbeitet mit vielen anderen gemeinsam daran, dass einsetzen. diese Annexion möglichst vermieden wird. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Last, but not least ist das in Vergessenheit geratene Dr. Andreas Nick [CDU/CSU]) Problem der Feindstaatenklausel, das auch hier immer Ich will an dieser Stelle auch – weil Sie das angespro- wieder erwähnt werden sollte, ein Thema. chen haben – an die Libyen-Konferenz erinnern. Auch hier hat die Bundesregierung in einer völlig verfahrenen (Ulrich Lechte [FDP]: Bitte!) Situation die Initiative mit der Berlin-Konferenz ergriffen Sie steht nach wie vor in der Charta der Vereinten Natio- und alle an einen Tisch gebracht. Es ist klar: Der Erfolg nen. ist noch nicht da, und wir müssen weiter darum werben. (Ulrich Lechte [FDP]: Oh, bitte, Kollege (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die Waffenlie- Hampel!) ferungen stoppen!) Jetzt werden Sie mir zurufen: Das wurde schon zweimal Aber genau das tut die Bundesregierung. Wir lassen eben für obsolet erklärt. – Die Frau Kollegin Özoğuz ist ja nicht locker in dieser Frage und versuchen, eine politi- immer so interessiert am Duden. Ich habe einmal nach- sche Lösung zu finden. geschlagen, was das Wort „obsolet“ bedeutet, Frau Kolle- gin: nicht mehr gebräuchlich, nicht mehr üblich, veraltet. (Zuruf des Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD]) „Obsolet“ bedeutet: out, passé, von gestern. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch, Herr (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hampel, an andere, schon lange währende Bemühungen, NEN]: So wie die AfD!) bei denen die Bundesregierung ganz vorne versucht, Lö- sungen zu entwickeln, nämlich im Ukraine-Konflikt. Es ist in der Mottenkiste der Gesellschaft. Die Feindstaa- Auch dort ist das Bohren dicker Bretter angesagt, genau- (B) (D) tenklausel gehört in die Mottenkiste der Geschichte. so wie in vielen anderen Konflikten. Die Bundesregie- Danke schön. rung hat immer wieder neue Initiativen ergriffen, um hier voranzukommen; die Liste ließe sich fortsetzen. (Beifall bei der AfD) Auch bei den globalen Friedensfragen ist die Bundes- regierung aktiv. Der Sicherheitsrat hat seit acht Jahren auf Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: unsere Initiative hin das erste Mal wieder über atomare Nächster Redner ist der Kollege Christoph Matschie, Abrüstung diskutiert. Alle fünf ständigen Mitglieder – SPD. wie Sie wissen: Atomwaffenstaaten – haben sich noch einmal nachdrücklich dazu bekannt, dass der Nichtver- (Beifall bei der SPD) breitungsvertrag eingehalten werden muss. Dazu gehört auch die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten, abzurüs- Christoph Matschie (SPD): ten. Diese Verpflichtung ist anerkannt und damit die De- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es batte wieder in Gang gesetzt. ist gut, dass wir anlässlich des Vorsitzes im UN-Sicher- heitsrat hier noch einmal über die Friedens- und Sicher- (Beifall bei der SPD) heitspolitik diskutieren. Aber es ist auch klar: Die Auf- gabe, Friedens- und Sicherheitspolitik zu betreiben, Auch wenn damit noch kein Abrüstungsschritt erreicht reicht natürlich weit über den Sicherheitsratsvorsitz hi- ist – Sie wissen, wie schwierig solche Verhandlungen naus. Unsere Politik muss dabei zwei Grundsätzen fol- sind –, ist es doch wichtig, immer wieder diese Themen gen: auf die Tagesordnung zu setzen. Das Auswärtige Amt hat übrigens im März vergangenen Jahres auch eine interna- Zum Ersten. Wir wollen mit unserer Friedens- und tionale Konferenz in Berlin abgehalten, wo es um neu- Sicherheitspolitik multilaterale Lösungen unterstützen artige Waffensysteme, zum Beispiel autonome Waffen, und multilaterale Institutionen stärken. ging, um dafür zu sorgen, dass solche Waffen entweder verboten werden oder in Rüstungskontrollabkommen Zum Zweiten. Wir als Land mit einem starken politi- einbezogen werden. schen und ökonomischen Gewicht werfen dieses Gewicht in die Waagschale, wenn es darum geht, internationale (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dann müssen Konflikte zu lösen; das wird auch weltweit anerkannt. aber bewaffnete Drohnen dazugehören!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Auch das ist ein wichtiger Schritt hin zum Frieden und zu bei Abgeordneten der FDP) einer friedlichen Lösung. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21487

Christoph Matschie (A) Wir müssen aber auch feststellen, dass der Sicherheits- päisch gedacht und konzipiert sein, sie muss die inter- (C) rat in vielen wichtigen Fragen blockiert ist. Das hat auch nationalen Organisationen stärken, und sie muss vor al- mit der Rivalität der Großmächte zu tun. Ich will Ihnen lem eben auch reale Machtverhältnisse im Blick behalten. nur ein Beispiel nennen. In dem Krieg mit den wahr- Denn nur so kann kluge Außenpolitik erfolgreich sein. scheinlich schlimmsten Folgen aktuell, im Syrien-Krieg, Daran gemessen greift der Antrag der Linken leider zu hat Russland seit Beginn des Krieges 14-mal im Sicher- kurz und an manchen Stellen auch, offen gesagt, ziemlich heitsrat mit seinem Veto Sicherheitsratsresolutionen und daneben. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen. Lösungen blockiert. Da kann die Bundesregierung natür- lich appellieren, aber wenn wichtige Staaten wie Russ- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – land Veto einlegen, dann kommen eben keine Lösungen Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aha! So, so!) zustande. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lechte, FDP. ruf des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LIN- KE]) (Beifall bei der FDP) Aber auch die gegenwärtige US-Administration unter- gräbt das Handeln der UN-Institutionen und schwächt Ulrich Lechte (FDP): dieses Handeln. Deshalb hat der Bundesaußenminister Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und zu Recht, wie ich finde, eine Initiative gestartet, um eine Herren! Was man sich hier teilweise bei Debatten anhö- Allianz der Multilateralisten auf den Weg zu bringen. Das ren muss, ist unterirdisch. Ich spreche jetzt nicht vom ist am Anfang belächelt worden, aber es hat sich bewährt, Kollegen Matschie, der große Teile meiner eigentlichen gerade auch in der Covid-19-Krise. Die Allianz für Mul- Rede schon gehalten hat, tilateralisten hat 60 Außenminister zusammengebracht, die mit ihrer Unterschrift unter einer gemeinsamen Reso- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Dann lution deutlich gemacht haben: Diese globale Gesund- können Sie sich ja setzen!) heitskrise kann nur gemeinsam bewältigt werden, und sondern vom Kollegen Hampel. Also, ernsthaft: Jemand, ein Impfstoff, der notwendig ist, muss allen gleicherma- der über Jahrzehnte hinweg in der Welt als Journalist ßen zur Verfügung stehen. – Damit wird Druck aufge- unterwegs war, weiß, dass er vorhin über eine Verschwö- baut, auch auf die UN-Institutionen. rungstheorie gesprochen hat, was wir auf Antrag der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten AfD-Fraktion im Unterausschuss Vereinte Nationen, der CDU/CSU) dem ich netterweise vorsitzen darf, ganz am Anfang der (B) Periode bereits besprochen haben. (D) Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch die Kon- fliktprävention ist ein aktives Thema für die Bundesre- Die Feindstaatenklausel, die Sie angesprochen haben, gierung. Der Zusammenhang von Klimawandel und Si- Herr Kollege, steht in der UN-Charta drin. cherheit ist vom Kollegen Nick hier schon angesprochen worden. Ich finde: Eine ganze Reihe der Forderungen im (Armin-Paulus Hampel [AfD]: So ist es!) Antrag der Linken ist von der Bundesregierung längst Sie ist dort reingeschrieben worden nach dem Zweiten aufgegriffen, wird längst bearbeitet. Weltkrieg, als Japan und Deutschland die Welt in Brand Ein Teil Ihrer Forderungen, muss ich aber auch sagen, gesetzt hatten. Und nur auf diese beiden Staaten bezieht steckt in einem nationalen Denken und in nationalen sich die Feindstaatenklausel. Lösungen fest. Sie fordern auf der einen Seite immer (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das wissen wir die Stärkung der Organisationen der Vereinten Nationen auch!) und des UN-Sicherheitsrates, aber Sie haben noch bei jedem Peacekeeping-Mandat der Vereinten Nationen ge- Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat be- gen eine deutsche Beteiligung gestimmt. So kann man die reits dreimal mit großer Mehrheit beschlossen, dass diese UN eben nicht stärken, und so kann man Frieden nicht Feindstaatenklausel nicht mehr wirksam sichern. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Sie ist obsolet!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dementsprechend obsolet ist. Welche Überraschung, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dass Sie dann aber hier in diesem Hohen Haus diese Ver- Heike Hänsel [DIE LINKE]: Doch! Man kann schwörungstheorie immer wieder bringen! Es ist un- sie zivil stärken!) glaublich, weil man nämlich die UN-Charta nur ändern Werte Kollegin Hänsel, ich kann Ihnen das nicht er- kann, wenn alle Mitgliedstaaten zustimmen und das dann sparen: Diesen Konflikt müssen Sie in Ihrer Fraktion ratifizieren. irgendwann mal auflösen. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Dann tun Sie (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Nein! Den müs- was dafür!) sen Sie lösen! Gewaltverbot zwischen den Na- Wir wissen ja, dass die Welt gerade nicht unbedingt kon- tionen!) fliktfrei ist und dass es äußerst, äußerst schwer ist, über Denn deutsche Außenpolitik darf nicht national isoliert 190 Staaten unter einen Deckel zu kriegen. Aber wir gedacht werden. Außen- und Friedenspolitik muss euro- müssen uns hier natürlich so was anhören. 21488 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Ulrich Lechte (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ottmar von Holtz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) der CDU/CSU) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Jetzt zu den Linken. So leid es mir tut, aber ihr schreibt allen Dingen der Linken! Der Titel eures Antrags ist ja in eurem Antrag – den wir ja beschließen sollen, und der sehr vielversprechend. Aber wenn man ihn sich dann angeblich wieder sehr, sehr gut ist –, dass wir die ganzen durchgelesen hat, mich hat er dann irgendwie ratlos hin- privaten Spender aus der Finanzierung der UNO-Unter- terlassen. organisationen entsprechend rausholen müssen. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Oh!) Die UN ist seit Jahrzehnten chronisch unterfinanziert. Es ist ein einseitiges USA-Bashing. Russland wird nicht ein einziges Mal in dem Antrag erwähnt. Kein kritisches (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das Wort zu China, und ungeprüft und pauschal wollen Sie stimmt! Pflichtbeiträge! – Heike Hänsel [DIE alle Wirtschaftssanktionen aussetzen, die gegen Assad in LINKE]: Die Staaten müssen mehr zahlen!) Syrien; Frau Hänsel hat es gesagt. Ich frage mich: Auch Deutschland versucht immer wieder, wenn die USA wie- die gegen Russland? der Gelder abziehen, weil Trump seine fünf Minuten in der Keramikabteilung des Weißen Hauses hat, das auszu- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das fordern die gleichen. Aber am Ende des Tages wollt ihr jetzt in der Vereinten Nationen übrigens!) größten Krisenzeit, wo der humanitäre Bedarf weltweit Ich frage mich dann: Was wird aus der Krim? Die Pas- immens steigt – 15 Millionen mehr Flüchtlinge als im sagen zu Palästina sind in dieser verkürzten Form, finde vergangenen Jahr –, die nächste Verschwörungstheorie ich, wenig hilfreich. Kein Wort zur Blockade im UN- unterbringen mit Bill Gates und Co, weil ihr das alles Sicherheitsrat, weil die Vetomächte dort eine eigene In- sofort stoppen wollt. So steht es in eurem Antrag. teressenpolitik betreiben. Kein Wort darüber, wie essen- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Was? – Helin ziell es ist, endlich mehr Frauen in die gewaltfreie Lösung Evrim Sommer [DIE LINKE]: Quatsch! Das von Konflikten einzubeziehen und eine feministische Au- ist nicht richtig!) ßenpolitik zu etablieren. Und so leid es mir tut: Auch das ist nicht redlich. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Dazu hatten wir einen extra Antrag!) Ich bin dankbar, dass wir heute hier über die UNO diskutieren durften. Aber dass ausgerechnet von rechts Vor allem aber eines vermisse ich ganz besonders, und links versucht wird, nur wieder über Verschwörungs- etwas, was uns zurzeit zutiefst besorgen sollte und meine (B) theorien zu debattieren, lassen wir nicht zu; das funktio- Fraktion auch veranlasst hat, zu diesem Tagesordnungs- (D) niert nicht. punkt einen Antrag einzureichen: die destabilisierenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. Herr Dr. Nick, es (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Helin geht nicht nur um Peacekeeping, es geht auch um Peace- Evrim Sommer [DIE LINKE]: Aber die Staa- building, um mal dieses Fachwort zu verwenden. Das ten dürfen sich doch nicht aus der Verantwor- Friedensgutachten 2020 beschreibt eindrucksvoll die tung stehlen! Die müssen mehr Beiträge zah- schwerwiegenden gesundheitlichen, wirtschaftlichen, so- len! Das ist keine Verschwörungstheorie!) zialen und politischen Folgen der Pandemie. Sie gefähr- den den Frieden in vielen Ländern, wenn wir da jetzt Ganz am Schluss, weil ich jetzt meine ganze Redezeit nicht dringend gegensteuern. für eure beiden Fraktionen aufgebraucht habe, möchte ich eins sagen: Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) durch die Einbindung in Bündnisse, durch die Westbin- dung, durch die Nato und durch unser Verhalten in den Nutzen wir Deutschlands Ansehen, um im Sicherheits- Vereinten Nationen wieder so stark geworden, wie es rat etwas in Bewegung zu setzen! Sorgen wir dafür, dass heute ist. Ich bin stolz darauf, dass wir das geschafft die Welt uns am Ende unserer Mitgliedschaft nachsagt, haben, und das lassen wir uns durch Verschwörungstheo- für Friedenspolitik prägend gewesen zu sein, so wie man retiker nicht kaputtmachen. den Schweden heutzutage nachsagt, in Sachen feministi- scher Außenpolitik prägend gewesen zu sein! Herzlichen Dank. Es wäre verheerend, wenn der Einsatz der zivilen Kri- (Beifall bei der FDP – Heike Hänsel [DIE LIN- senprävention und der gewaltfreien Konfliktbearbeitung KE]: Das ist ja abstrus! Schwache Argumenta- der letzten Jahre durch die Folgen der Covid-19-Pande- tion! – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: mie zunichte gemacht wird, weil wir jetzt nicht eingrei- Uns als Verschwörungstheoretiker zu bezeich- fen. Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden nen, wenn man sagt, dass die Staaten mehr in vielen Ländern mit aller Härte durchgesetzt und treffen Geld zahlen sollen, ist unerhört!) benachteiligte Bevölkerungsteile besonders hart: Frauen, Kinder, auch Oppositionelle oder Geflüchtete. Willkür- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: lich werden Sündenböcke für das Virus ausgeguckt, und Nächster Redner ist der Kollege Ottmar von Holtz, gepaart mit der wirtschaftlichen Krise verschärfen sich Bündnis 90/Die Grünen. gesellschaftliche Spannungen. Täglich erreichen uns Be- richte von neu aufflammenden bewaffneten Auseinander- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) setzungen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21489

Ottmar von Holtz (A) Ausgerechnet in dieser Lage müssen viele Friedens- Ich glaube, das ist eine gute Stelle, an der wir jetzt auch (C) initiativen und Organisationen ihre Arbeit reduzieren einmal Christoph Heusgen, unserem UN-Botschafter, oder einstellen. Wichtige Räume für Austausch, Vermitt- und seinem gesamten Team Danke sagen können. Jeden- lung oder Mediation sind weggefallen. Die Organisatio- falls ich danke ihm und seinem Team von Herzen, dass nen und ihre Partner vor Ort stehen vor einer existenzge- sie diese schwierige Arbeit für uns vor Ort in New York fährdenden finanziellen Belastung. Diese müssen wir leisten, meine Damen und Herren. unbedingt auffangen. Wir müssen diese Akteure massiv stärken; sonst drohen große Rückschritte für die Frie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- densarbeit und im schlimmsten Fall neue Gewaltspiralen. ordneten der SPD) Da stellt sich auch die Frage: Kennen die Linken über- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) haupt die Arbeit im Sicherheitsrat und die Schwerpunkte, Wir müssen dafür sorgen, dass die Maßnahmen der die wir uns hier gesetzt haben? Wir werden uns für Multi- Pandemiebekämpfung nicht zulasten bestehender Frie- lateralismus weiter einsetzen. Das ist das Oberziel, meine densmaßnahmen gehen. Von der Bundesregierung for- Damen und Herren. Wir werden natürlich auch weiterhin dern wir, dass sie systematisch nach Chancen Ausschau die regelbasierte internationale Ordnung zu stärken ver- hält, wo die Covid-19-Pandemie möglicherweise auch suchen. einen kann, wo Widersprüche zwischen Konfliktparteien zurücktreten können und wir diese dann gezielt unterstüt- (Zuruf des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE zen können. Tun Sie alles dafür, dass die Coronakrise für LINKE]) die Friedensarbeit nicht zu einer Abwärtsspirale führt! Wir werden uns dem umfassenden Sicherheitsbegriff weiter widmen und diesen weiterentwickeln. Da stecken Ich habe nicht die Zeit, auf alle Punkte unseres Antrags so wunderbare Themen drin wie: Klima, Gesundheit, einzugehen. Menschenrechte, Schutz der Frauen vor Gewalt, Huma- nitäres und Abrüstung – alles für sich selbst genommen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: schon Megathemen. Vor allem, meine Damen und Her- Nein, in der Tat. Ihre Redezeit ist abgelaufen. ren, wollen wir uns auch sehr verstärkt dem präventiven Gedanken der Arbeit des Sicherheitsrates widmen und dabei auch frühzeitig die Zivilgesellschaft einbeziehen. Ottmar von Holtz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber wir werden ihn ja auch in den Ausschüssen be- Meine Damen und Herren, mit dieser Agenda knüpfen raten. wir nahtlos an unseren Sicherheitsratsvorsitz von Ap- (B) ril 2019 an. Da kann man, wenn man das zusammen- (D) Vielen Dank. nimmt, guten Gewissens behaupten, dass sich Deutsch- land während seiner gesamten Zeit im Sicherheitsrat und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) insbesondere in diesem Vorsitzmonat Juli 2020 für eine aktive Friedenspolitik starkmacht. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Peter Beyer, CDU/CSU, ist der nächste Redner. Aber klar ist auch: Es wird ein schwerer Monat wer- den. Es wird schwer werden, die Ziele zu verwirklichen, (Beifall bei der CDU/CSU) die wir für uns selbst definiert haben – angesichts Israels Annexionsplänen, angesichts des Drängens der Vereinig- ten Staaten auf eine Verlängerung des Waffenembargos Peter Beyer (CDU/CSU): gegen den Iran, das im Oktober auslaufen wird, ange- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sichts einer Blockadehaltung Russlands und auch ange- ren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte mir sichts der Lage in Libyen. natürlich auch den Linken-Antrag zur Brust genommen, hatte dann aber schon ziemlich am Anfang gar keine Meine Damen und Herren, umso wichtiger ist es doch Freude mehr daran, weiterzulesen, und habe mich dann und umso klarer muss uns doch sein, dass die europäische da durchgequält. Das lag daran, dass ziemlich am Anfang Stimme im UN-Sicherheitsrat stark und hörbar und er- schon die Formulierung steht, es könnten dann doch noch kennbar nach vorne gebracht wird. Dazu gehört für uns der deutsche Vorsitz und die deutsche Sicherheitsratsar- im Kern auch, dass es keine Kompromisse geben kann, beit nach 2019 und jetzt Juli 2020 zu einem friedens- wenn es um die Einhaltung internationalen Rechts geht. politischen Profil führen. Man muss immer wieder ganz besonders auf die Beto- nung des internationalen Rechts pochen, und dort, wo es Man lasse sich diese Formulierung einmal durch den verletzt wird, dies auch benennen und, ja, auch anpran- Kopf gehen. Also, ich habe sie als eine große Beleidigung gern. für all diejenigen aufgefasst, die sich nicht nur im Ap- ril 2019 und in der Zeit dazwischen eingesetzt haben, Und ich zitiere António Guterres – Herr Hampel, Sie sondern sich auch jetzt in diesem Vorsitzmonat Juli wirk- sehen, ich kenne den Namen –, den UN-Generalsekretär. lich intensiv und ehrlich dafür einsetzen, internationale Er hat neulich bei einem Treffen mit den E10 gesagt, Allianzen im Sicherheitsrat zu schmieden, und sich dafür internationales Recht werde im Sicherheitsrat leider nur einsetzen, dass die Welt etwas friedvoller wird und dass respektiert, wenn es den großen Drei in den Kram passt – eine friedvollere Welt ein Stück weit mehr Realität wer- er meint mit den großen Drei Amerika, China und Russ- den kann. land –, und es gebe keinen Respekt mehr vor dem inter- 21490 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Peter Beyer (A) nationalen Recht. Insbesondere, wenn man sich vor Au- rungsprogramm aufbessern müssen und wo wir endlich (C) gen hält, dass China sich jetzt starkgemacht hat – – taugliche Friedensverhandlungen brauchen, weil auch dieser Konflikt nicht aus dem Blickfeld der Weltöffent- lichkeit verschwinden darf. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege, auch Ihre Redezeit ist zu Ende. (Beifall bei der CDU/CSU – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Dem Kriegspartner Peter Beyer (CDU/CSU): Saudi-Arabien erst mal keine Waffen liefern!) Deswegen komme ich tatsächlich zum Schluss. Wir wissen auch, dass der UN-Sicherheitsrat ein In- strument ist, welches sich im Augenblick in vielen Be- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: reichen gegenseitig blockiert. Deswegen gibt es keine Ja, darum bitte ich Sie. notwendigen Resolutionen gerade im Hinblick auf einen dauerhaften Frieden in Syrien. Und wir dürfen nicht lo- Peter Beyer (CDU/CSU): ckerlassen, diese Frage der Reform des UN-Sicherheits- Trotz und gerade wegen dieser verkorksten Lage im rates zu adressieren. Es geht darum, dass die internatio- UN-Sicherheitsrat kommt es doch jetzt gerade auf eine nale Ordnung auch im UN-Sicherheitsrat konstruktiv engagierte deutsche Arbeit an. Wir können etwas bewir- abgebildet wird. ken – nicht alleine, sondern als geeinte Europäer. Da möchte ich mich noch mal an die Kollegen der Herzlichen Dank. Ich wünsche allseits eine freudige Linken wenden, die in ihrem Antrag schreiben, die UN Sommerpause. möge sich gegenüber der NATO stärker durchsetzen. Das kann nicht unsere Sprache sein. (Beifall bei der CDU/CSU) (Heike Hänsel [DIE LINKE]: UNO statt Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: NATO!) Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Zum Ersten stehen wir zur NATO und zur Westbindung, Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. weil nur diese Einbindung in das Bündnis uns stark ge- macht hat. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Und zum Zweiten kann es nicht sein, dass wir das Frie- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- dens- und Sicherheitskonzept der NATO gegen das Han- (B) ren! Der Vorsitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat (D) deln der UN ausspielen. Wir brauchen beides. Deswegen dauert einen Monat, aber er hat bereits mit einem guten lehnen wir Ihren Antrag ab. Vorzeichen begonnen, nämlich mit der Entschließung, einen weltweiten Waffenstillstand wegen der Coronapan- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der demie herbeizuführen. Und das zeigt, unter welchen Vor- LINKEN) zeichen die deutsche Präsidentschaft stehen soll. Es geht uns um die Werte, die uns wichtig sind: um die Geltung der internationalen Rechtsordnung, um das Völkerrecht, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: um die gemeinsamen Anstrengungen in Sachen Abrüs- Damit schließe ich die Aussprache. tung und Klimaschutz, aber auch darum, wie wir eine Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der internationale Ordnung gestalten sollen. Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/20548 mit dem Wir wissen, dass Zusammenarbeit nicht bedeutet, dass Titel „Deutschen Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten einer gewinnt, wenn der andere verliert, und dass die Nationen für aktive Friedenspolitik nutzen“. Wer stimmt einen nur stark sein können, wenn andere schwach sind. für den Antrag? – Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Wer Die internationale Ordnung ist kein Nullsummenspiel, enthält sich? – Niemand. Der Antrag ist gegen die Stim- sondern sie muss durch gemeinsame Ziele und Interessen men der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des übrigen geprägt sein, um diese Ordnung voranzubringen. Und da Hauses abgelehnt. gibt es im Augenblick auch Themen, die wichtig sind, die Zusatzpunkt 30. Es wird interfraktionell die Überwei- über den Waffenstillstand, der vereinbart wurde, hinaus- sung der Vorlage auf der Drucksache 19/20587 an die in gehen. der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Unsere Blicke gehen nach Hongkong, wo am 1. Juli gen. Die Federführung ist strittig. Die Koalitionsfraktio- internationales Recht gebrochen wurde, wo das verein- nen wünschen Federführung beim Auswärtigen Aus- barte Abkommen „ein Land, zwei Systeme“ durch das schuss, Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung neue Sicherheitsgesetz in Abrede gestellt wird und wo beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit Menschen in Hongkong bang fragen: Kann ich noch Frei- und Entwicklung. heits- und Sicherheitsrechte und den Rechtstaat genie- Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der ßen? Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmt Unsere Blicke gehen aber auch in den Jemen, wo ein dafür? – Bündnis 90/Die Grünen, die FDP, Die Linke. furchtbarer Krieg und eine humanitäre Katastrophe dro- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist hen, wo wir die humanitäre Hilfe mit dem Welternäh- der Antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21491

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) und der AfD gegen die Stimmen des übrigen Hauses ab- Faktisch unbegrenzte und unkontrollierte Einwande- (C) gelehnt. rung hat dazu geführt, dass es in vielen deutschen Groß- städten inzwischen ein kritisches Potenzial an jungen Und damit stimmen wir ab über den Überweisungsvor- Männern vornehmlich aus dem islamisch-orientalischen schlag der Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dafür? – Die Kulturkreis gibt, Koalitionsfraktionen und die AfD. Wer stimmt dage- gen? – Die übrigen Fraktionen. Der Überweisungsvor- (Zuruf der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE schlag ist mit den umgekehrten Mehrheiten angenom- LINKE]) men. die den deutschen Staat und die Mehrheitsgesellschaft Damit kommen wir zum Zusatzpunkt 41: mehr oder minder offen verachten. Aktuelle Stunde (Timon Gremmels [SPD]: Die Mörder von auf Verlangen der Fraktion der AfD Lübcke verachten den Staat! Die haben Ihnen gespendet!) Lehren aus den Gewaltexzessen in Stuttgart Dazu kommt die politische und zum Teil sogar mit Staats- ziehen – Für eine Wende in der Migrations- geld finanzierte Verhätschelung linksradikaler Gruppen, und Sicherheitspolitik die sich als Kämpfer gegen rechts tarnen. Das hat die Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Entstehung eines organisierten und militanten linksextre- Fraktionsvorsitzenden der AfD, Dr. Alice Weidel. men Milieus begünstigt, das den Rechtsstaat offen he- rausfordert und rechtsfreie Räume für sich beansprucht. (Beifall bei der AfD) Eine Mehrheit in diesem Haus hat sich erst vor weni- Dr. Alice Weidel (AfD): gen Wochen geweigert, einem Verbot linksterroristischer Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Antifa-Gruppen zuzustimmen. Herren! Die Trümmer in der Stuttgarter Innenstadt sind (Gabriele Katzmarek [SPD]: Das ist jetzt aber weggeräumt, die Scherben der zertrümmerten Schaufens- Blödsinn!) ter und geplünderten Geschäfte zusammengefegt. Aber der Schock sitzt immer noch tief bei den Polizeibeamten, Die Stuttgarter Krawallnacht ist auch eine von vielen die von einem organisierten Mob mit maximaler Brutali- Quittungen, die dafür noch ausgestellt werden. tät angegriffen und deren Kollegen ins Krankenhaus ge- prügelt wurden, und bei den Bürgern, deren scheinbar (Beifall bei der AfD) friedliche Stadt über Nacht zum Schauplatz von bürger- Und sie ist eine Quittung für die beispiellose Zündelei, (B) kriegsähnlichen Szenen wurde. die in den letzten Wochen noch zusätzlich über dieses (D) Land gegangen ist. Die geistigen Brandstifter Nach der Stuttgarter Krawallnacht können wir nicht einfach weiter so tun, als gäbe es kein grundsätzliches (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Sie sind Problem. Nicht nur Stuttgart, jede deutsche Großstadt, die geistigen Brandstifter!) das ganze Land hat ein Problem; und das Problem heißt nicht Rassismus, das Problem heißt Politikversagen. sind vor allem auf der grün-roten Seite des politischen Spektrums zu finden, leider auch in diesem Haus – und (Beifall bei der AfD) das beweisen Sie gerade –; Die Gewalt auf den Stuttgarter Straßen kam nicht aus (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Sie sind heiterem Himmel. Es war auch keine Party- und Event- die geistigen Brandstifter!) szene, die sich da ausgetobt hat. Randalierer und Schläger sind keine Partyleute, sondern Kriminelle, die hart be- dort, wo man sich unreflektiert zur sogenannten Antifa straft werden müssen. bekennt und den linksextremen und rechtsstaatsfeindli- chen Hintergrund dieser fragwürdigen Bewegung leugnet (Beifall bei der AfD) und wo man die Polizei und Sicherheitskräfte demontiert, indem man ihnen pauschal Rassismus vorwirft und sie Diese Verharmlosung ist im Übrigen eine Verhöhnung von friedlichen Partygängern, von Barbetreibern und unter Generalverdacht stellt. Klubbesitzern, die unter dem viel zu langen und harten (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Pfui Teufel!) Lockdown und den fortgesetzten Coronabeschränkungen leiden. Der Mob, der in Stuttgart das staatliche Gewalt- Dieses verantwortungslose Gerede muss von all jenen, monopol herausgefordert und Polizeibeamte als staatli- die diesen Staat und seine Rechtsordnung ablehnen, mit che Hoheitsträger gezielt angegriffen hat, rekrutierte sich und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne deutschen aus zwei Gruppen: aggressive junge Männer mit Migra- Pass, geradezu als Ermunterung verstanden werden, den tionshintergrund und organisierte gewaltbereite Links- Aufstand und den Bürgerkrieg zu proben, so wie wir ihn extremisten. gesehen haben. (Widerspruch bei der LINKEN) (Beifall bei der AfD – Zuruf von der LINKEN: Bürgerkrieg?) Beides ist die Frucht falscher, verantwortungsloser Poli- tik. Ein Staat, der die Sicherheit seiner Bürger nicht mehr gewährleisten und Recht und Gesetz nicht überall und (Beifall bei der AfD) jederzeit durchsetzen kann, riskiert seine Legitimation. 21492 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Dr. Alice Weidel (A) Unsere Polizeibeamten brauchen für diese Aufgabe mehr Es geht um Menschen, liebe Kolleginnen und Kolle- (C) als nur Lippenbekenntnisse und Genesungswünsche; sie gen. Es geht darum, dass dort Schaufensterscheiben brauchen volle politische Rückendeckung. eingeschmissen worden sind, in einer Zeit, wo wir die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie bekämpfen, wo (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer Einzelhändler und Familien ohnehin versuchen, die Nase [DIE LINKE]: Von Ihnen bestimmt nicht!) über dem Wasser zu halten. Da werden Millionenschäden Das heißt auch: eine Politik, die sich unvoreingenommen angerichtet. Allein ein Kiosk muss für 100 000 Euro gegen jeden Extremismus stellt, der Rechtsstaat und öf- renoviert werden; die Einnahmeausfälle gar nicht mitge- fentliche Ordnung angreift, rechnet. So etwas ist unverantwortlich. Deshalb brauchen wir darauf eine klare Antwort, genauso wie auf die Atta- (Zurufe von der LINKEN und dem BÜND- cken auf Polizisten, die behandelt wurden, als wären sie NIS 90/DIE GRÜNEN) keine Menschen. Das ist inakzeptabel. Es verlangt die und diejenigen, die das Gastrecht missbrauchen volle Rückendeckung des Staates und der staatlichen Or- gane, wenn es um unsere Polizei geht. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Die sind hier zu Hause!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der AfD und der FDP sowie bei Abgeordneten des und den Staat und seine Hoheitsträger angreifen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Landes verweist. Ich finde, an der Stelle sind folgende Dinge richtig und (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels [SPD]: notwendig: Wir müssen genau analysieren, was da pas- Räumen Sie im eigenen Laden auf!) siert ist. Wer war das? Was waren das für Gruppen? Ha- Tatsachen und Fehlentwicklungen offen anzusprechen, ben die einen politischen Hintergrund, oder haben sie ihn ist der erste Schritt, um die rechtsstaatliche Ordnung wie- nicht? Wie sind die organisiert gewesen? der in vollem Umfang durchzusetzen. Die Stuttgarter (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Krawallnacht war auch ein Weckruf, damit endlich anzu- GRÜNEN]: Fragen Sie Frau Weidel!) fangen. Das müssen wir beantworten. Deswegen möchte ich ein- Ich bedanke mich. fach auch an Ihre Adresse, Frau Kollegin Weidel, sagen: Ich halte es für falsch und fahrlässig, zum jetzigen Zeit- (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer punkt, wo wir all diese Fragen nicht beantworten können, [DIE LINKE]: Schämen Sie sich! – Gegenruf Vermutungen in den Raum zu stellen, die die Dinge nicht der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD]: Schämen Sie besser machen, sondern im Gegenteil schlechter. (B) sich mit Ihrer Schlägertruppe!) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Benjamin Strasser [FDP]: Sagen Sie das mal dem Minister Strobl!) Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/ CSU. Ich finde, das sollten wir abwarten; das sollten wir über- prüfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dann gibt es weitere Punkte, die man auch ungeachtet Thorsten Frei (CDU/CSU): dessen heute bereits sagen kann: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, Erster Punkt. Kommunale Kriminalitätsprävention ist was wir am vorvergangenen Wochenende in Stuttgart etwas, was das Sicherheitsgefühl der Menschen verstärkt erlebt haben, ist bedauerlicherweise nicht nur ein Einzel- und was die Pflicht jeder guten Kommunalpolitik ist. fall, sondern wir erleben das immer wieder in Städten wie Wenn es in Stuttgart so ist, dass es im Schlossgarten Berlin, Leipzig, Hamburg, beispielsweise in der Silves- Bereiche gibt, die No-go-Areas sind; wenn es Bereiche ternacht oder in den 1.-Mai-Nächten. Wir haben es 2017 gibt, die nicht ausgeleuchtet sind; wenn es Bereiche gibt, in Hamburg beim G-20-Gipfel erlebt. Wir haben es 2015 wo man beispielsweise die Möglichkeiten, die sich aus in Frankfurt bei der Eröffnung des Neubaus der EZB der Videoüberwachung ergeben, nicht nutzt; wenn man erlebt. die Möglichkeiten, die sich aus den zeitlich und örtlich Das, was wir in Stuttgart in der Nacht vom 20. auf den begrenzten Alkoholverboten ergeben, nicht nutzt; wenn 21. Juni gesehen haben, war insofern etwas Besonderes, man die Angebote der baden-württembergischen Landes- als es an einem äußeren Anlass ganz offenkundig gefehlt regierung, eine Sicherheitspartnerschaft aufzulegen, an- hat. Trotzdem war da etwas, was unsäglich ist. Wenn 400 ders als alle anderen baden-württembergischen Groß- bis 500 Jugendliche und Heranwachsende marodierend, städte nicht nutzt: Dann ist das etwas, was aus meiner plündernd, brandschatzend durch die Stuttgarter Innen- Sicht schon mal nicht akzeptabel ist. Das ist der erste stadt ziehen, dann ist das nicht akzeptabel; dann brauchen Punkt, mit dem man niedrigschwellig das Sicherheitsge- wir eine klare Antwort des Rechtsstaates, weil wir es fühl und auch die objektive Sicherheitslage für die Men- nicht zulassen dürfen, dass Menschen, die sich so ver- schen deutlich verbessern kann. halten, dem Rechtsstaat auf der Nase herumtanzen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zweiter Punkt. Gerade wenn es um jugendliche und ordneten der SPD, der AfD und der FDP) heranwachsende Straftäter geht, muss der Rechtsstaat Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21493

Thorsten Frei (A) glaubwürdig sein. Wie handelt er glaubwürdig? Nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) indem er herumeiert, sondern indem er die Strafe auf der SPD und des Abg. Cem Özdemir [BÜND- dem Fuß folgen lässt. Das bedeutet, dass man die Mög- NIS 90/DIE GRÜNEN]) lichkeiten des beschleunigten Verfahrens, wie wir sie Der Polizei den Rücken stärken – das wurde richtiger- heute in der Strafprozessordnung haben, eben auch tat- weise in den vergangenen Tagen von unterschiedlichen sächlich einsetzt und das Ganze dem Motto folgt: „Heute Fraktionen in diesem Haus gesagt, und dahinter versam- Radau, morgen Bau.“ Das ist etwas, was die jungen Leu- meln wir uns. Aber es darf auch keine leere Worthülse te, die so etwas machen, dann vielleicht auch verstehen. werden. Wer in einer wichtigen Rassismusdebatte in un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) serem Land einseitig und stigmatisierend die Polizei in eine Ecke stellt – wie die SPD-Vorsitzende Esken –, Der dritte Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir soll- ten uns schon genau anschauen, ob wir, auch was die (Widerspruch bei der SPD) Möglichkeiten des Strafrechts anbelangt, richtig sortiert der stärkt der Polizei eben nicht den Rücken. sind oder ob wir an der einen oder anderen Stelle viel- leicht nachbessern sollten. Ich will zwei Punkte nennen: (Beifall bei der FDP und der AfD sowie des die tätlichen Angriffe auf Polizeibeamte, insbesondere Abg. Marc Henrichmann [CDU/CSU]) die, von denen sie schwere Gesundheitsschäden davon- tragen, aber auch den Widerstand gegen Vollstreckungs- Wer mit Schaum vor dem Mund Thesen vertritt, wie wir beamte. Ich bin dafür, dass insbesondere dann, wenn es gerade gehört haben, der stärkt der Polizei nicht den Polizisten schweren körperlichen und gesundheitlichen Rücken. Aber auch wer Scheuklappen aufsetzt und Ur- Schaden nehmen, wir die Mindeststrafe auf zwölf Mona- sachen nicht sehen will, die dazu geführt haben, der stärkt te erhöhen und damit das Ganze zum Verbrechen ma- der Polizei ebenfalls nicht den Rücken. Man stärkt viel- chen. Das wäre ein klares Signal der Wertschätzung. mehr der Polizei den Rücken, wenn man sachlich auf- klärt, was tatsächlich geschehen ist, und die notwendigen (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Konsequenzen zieht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Abg. Marc Henrichmann [CDU/CSU] und Karsten Hilse [AfD]) (Beifall bei der FDP) Diese sachliche Aufklärung habe ich bei Verantwort- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: lichen durchaus vermisst. Da war die Rede von einer Herr Kollege Frei, die Redezeitregeln der Aktuellen „Partyszene“, die für diese Taten verantwortlich gewesen Stunde sind streng. Ihre fünf Minuten sind vorüber. sein soll. Liebe Kollegen, ich war als junger Mann auch (B) mal Teil dieser Stuttgarter Partyszene, und ich kann Ihnen (D) sagen: Die trifft sich nicht am Eckensee in Stuttgart; die Thorsten Frei (CDU/CSU): trifft sich in der Theodor-Heuss-Straße oder beim Hans- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. im-Glück-Brunnen oder woanders. Aber umso mehr hät- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der te ich mir schon gewünscht, dass gerade der grüne Ober- FDP sowie bei Abgeordneten der AfD – bürgermeister Kuhn hier mal ein Wort spricht; der sollte Markus Grübel [CDU/CSU]: Dem hätte ich die Verhältnisse eigentlich kennen. Dass dieser Mensch noch eine halbe Stunde zuhören können!) schweigt, das zeigt auch eine bestimmte Einstellung, weil das Wort „Partyszene“ nicht nur junge Menschen diskre- ditiert, die friedlich feiern wollen, sondern weil es ein Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Problem verharmlost, das aus meiner Sicht in Stuttgart Nächster Redner ist der Kollege Benjamin Strasser, besteht. FDP. Peinlich und unprofessionell war aber vor allem der (Beifall bei der FDP) Innenminister des Landes Baden-Württemberg, Herr Thomas Strobl, der sich in einem SWR-Interview zu Benjamin Strasser (FDP): Wort gemeldet hat und sagte – Zitat –: „Ich habe mich Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schon im letzten Jahr darüber gewundert, was sich gerade Kollegen! Die Krawallnacht von Stuttgart hat ein Ge- in den Abendstunden dort tut.“ Wir fragen uns: Was hat waltpotenzial in einer Dimension offenbart, das in meiner eigentlich Thomas Strobl im vergangenen Jahr gemacht? Heimat, in Baden-Württemberg, bisher seinesgleichen Wo war denn der Anlauf einer Sicherheitskooperation in sucht. Wir haben einen Kontrollverlust des staatlichen Stuttgart? Er hat schlicht und einfach die Hände in den Gewaltmonopols erlebt, das bisher seinesgleichen sucht. Schoß gelegt und damit die Polizistinnen und Polizisten Fünf Stunden lang hat es gedauert, bis in Stuttgart die in Stuttgart im Stich gelassen, liebe Kollegen. öffentliche Ordnung wiederhergestellt worden ist, fünf (Beifall bei der FDP) Stunden, in denen Polizisten zu Freiwild erklärt worden sind, in denen Geschäfte geplündert wurden und in denen Es geht ja noch weiter. Strobl vor einigen Tagen in den unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger verbal, aber auch „Stuttgarter Nachrichten“ – Zitat –: „Da ist alles dabei – körperlich angegriffen wurden. Diese Täter haben ein vom Betrunkenen bis zum gewalttätigen Linksextremis- widerwärtiges und schändliches Verhalten offenbart, das ten.“ Die Linksextremisten hätten „keine untergeordnete meine Fraktion in tiefer Abscheu verurteilt, liebe Kolle- Rolle gespielt“, so Strobl. Das ist ja ein alarmierender ginnen und Kollegen. Befund. 21494 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Benjamin Strasser (A) Wir haben im Innenausschuss mal nachgefragt bei der Ich finde, wir sollten uns eher um das Thema kümmern, (C) Bundesregierung: Was sind denn das für linksextremisti- um das es hier in der Debatte gehen soll, und wir sollten sche Gruppen, die dahinterstehen? Antwort: Wir haben uns vor allem um diejenigen kümmern, die an diesem keine Erkenntnisse. – Das Land Baden-Württemberg hat Wochenende den Kopf für uns hingehalten haben, näm- momentan keine Erkenntnisse. Lieber Herr Strobl, wenn lich die Polizistinnen und Polizisten. Sie Erkenntnisse besitzen, dann müssen Sie sie offenle- gen, und wenn Sie keine haben, dann gebietet es, dass (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gunther sich ein Innenminister nicht an Mythenbildung beteiligt, Krichbaum [CDU/CSU] – Benjamin Strasser sondern faktenbasierte Aufklärung der Vorwürfe voran- [FDP]: Das habe ich gesagt!) bringt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich hatte am Montag nach diesen Ausschreitungen die Gelegenheit, im Polizeipräsidium auch mit denen zu re- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den, die direkt beim Einsatz dabei gewesen sind. Wenn der AfD und der LINKEN) man sich die Bilder anschaut und sich vor Augen führt, 37 von 500 Tatverdächtigen sind ermittelt. Es ist klar: dass es eine Streife war mit zwei ganz normal ausgerüs- Wir sind am Anfang der Aufklärung, und wir erwarten, teten Polizisten, die zu zweit einfach auf Kontrollgang dass alle diese 500 Personen zur Rechenschaft gezogen waren, wie sie es jeden Abend dort machen, und die dann werden. Wir müssen auf unterschiedlichen Ebenen an- quasi aus dem Nichts heraus angegriffen wurden, wenn setzen; das ist klar geworden. Herr Frei hat einige Punkte man sich vor Augen führt, dass sehr schnell Kolleginnen genannt, was die Stadt Stuttgart angeht. Aber zur Wahr- und Kollegen zu Hilfe kamen und dann 45 Beamtinnen heit gehört auch: Wenn die Polizei in Stuttgart beispiels- und Beamte eine halbe Stunde lang dastanden und mit weise die fehlende Schutzausrüstung in dem Einsatz be- Pflastersteinen beworfen wurden, dann muss man wirk- mängelt, dann ist nicht die Stadt Stuttgart verantwortlich, lich sagen: Allererste Pflicht von uns ist es, denen zu sondern der Innenminister Strobl. Wenn wir zu wenig danken, die dastanden, die angegriffen wurden, die keine Richter- und Staatsanwaltstellen in Baden-Württemberg spezielle Ausrüstung hatten, weil das nicht zur Ausstat- haben – wir brauchen genügend Stellen, damit die Strafe tung des Abends gehörte, und die trotzdem so besonnen auf dem Fuß folgen kann –, dann ist nicht die Stadt waren, dass sie keinen Warnschuss abgaben, sodass keine Stuttgart verantwortlich, dann ist Justizminister Guido Exzesse daraus entstanden. Wolf von der CDU verantwortlich, liebe Kollegen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Wir müssen uns auch im Bund die Frage stellen: Wo BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können wir besser werden? Beispielsweise beim Thema Ich finde, es ist eine große Leistung, in so einer Situation „Abschiebungen von vollziehbar Ausreisepflichtigen“. ruhig zu bleiben. (B) 16 Tatverdächtige haben keinen deutschen Pass, und da (D) müssen wir genau hinschauen, an was das gelegen hat. Diese Polizistinnen und Polizisten haben es nicht ver- dient, dass man auf ihrem Rücken politische Spielchen Aber alles in allem: Es ist ein gesellschaftliches Pro- austrägt. blem, dem wir uns stellen müssen. Da helfen auch keine Verschärfungen von Strafnormen, sondern da hilft eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesellschaftliche Debatte, die mehr Rechtsstaat täglich DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der einfordert. CDU/CSU und der LINKEN) Sondern sie haben es verdient, dass wir uns ernsthaft Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Gedanken machen, ernsthaft darüber Gedanken machen, Und Ihre Redezeit ist jetzt auch abgelaufen. wo solche Gewaltexzesse herkommen. Diese Gewaltex- zesse haben eben keine eindimensionale Begründung, Benjamin Strasser (FDP): und es waren eben ganz viele unterschiedliche Menschen. An dieser Debatte werden wir uns beteiligen. Die Polizei hat am nächsten Tag verkündet: Es waren vor allem viele Männer, viele junge Männer, viele Be- (Beifall bei der FDP) trunkene und alkoholisierte Männer. Aber sie waren aus allen Schichten der Gesellschaft, und sie waren alle unter- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: schiedlicher Herkunft. Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt, SPD. (Dr. Alice Weidel [AfD]: So wie immer schon! (Beifall bei der SPD) Wie früher!) In diesem Sinne ist sicherlich ein Punkt – Kollege Frei hat Ute Vogt (SPD): ihn angesprochen –: Ermitteln, bestrafen – und das ganz Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr schnell. Kollege Strasser, es ist ein bisschen schade, dass Sie das jetzt zu so einer Art Wahlkampfrundumschlag nach dem Ein zweiter Punkt ist aber auch, dass wir uns um die Motto „Und jeder kriegt eine mit“ nutzen. kümmern müssen, die dort herumstanden, die nicht geh- olfen, die nicht eingegriffen, die nicht gesagt haben: (Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/ „Lasst es sein!“, sondern die noch dabeigestanden sind. CSU] – Zuruf des Abg. Benjamin Strasser Wenn Sie sich die Filme anschauen: Die stehen da rum [FDP]) und schauen zu. Nicht wenige zücken das Handy. Die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21495

Ute Vogt (A) Jungs posieren zum Teil; die Mädels, aber auch andere Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) Jungs filmen sie. Auch das müssen wir ins Auge fassen. Gökay Akbulut, Die Linke, ist die nächste Rednerin. So was ist doch eine kranke Entwicklung in unserer Ge- sellschaft, dass man sich an Gewalt erfreut, die entsprech- (Beifall bei der LINKEN) enden Bilder postet und dafür noch Likes bekommt. Gökay Akbulut (DIE LINKE): (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Kollegen! In der letzten Debatte vor der Sommerpause ordneten der FDP und der LINKEN) möchte die AfD wieder einmal ihre rassistische Hetze auf Das sind genauso wichtige Diskussionen wie die über die die Tagesordnung setzen. Frage der Bestrafung der Täter, derer wir hoffentlich hab- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – La- haft werden. chen bei der AfD) In diesem Sinne ist es jetzt notwendig, zu überlegen: Thema dieses Mal sind die Ereignisse in Stuttgart in der Was sind die einzelnen Maßnahmen? Kommunale Krimi- Nacht vom 21. Juni. Aber wir alle wissen ja ganz genau, nalprävention – da will ich Ihnen ausdrücklich recht ge- dass es der AfD wieder um rassistische Hetze und vor ben. Dazu gehören aber auch die Fragen: Was hat man für allem auch um Fake News geht. Wenn Sie hier von nie ein Beleuchtungskonzept? Welche Alternativen haben dagewesener Gewalt in Stuttgart sprechen, dann möchte die Leute dort? ich Sie auch an den Schwarzen Donnerstag 2010 in Stutt- gart erinnern. Schauen Sie sich auch mal die Bilder von Für alle, die Stuttgart jetzt nicht so gut kennen: An den damals an! Eckensee kommen die Leute abends hin, haben mehrere Kästen Bier dabei, setzen sich hin, haben eigene Musik (Beifall bei der LINKEN) dabei, und in jeder Ecke ist eine Gruppe, die irgendwie Ihnen fällt eigentlich auch nichts Neues ein. Man einer eigenen Szene zugehört. Deshalb müssen wir uns könnte Sie auch einfach umbenennen in „Rassistische auch überlegen: Wie kommen wir an die ran? Wie ma- Alternative für Deutschland“; denn mehr haben Sie nicht chen wir den Platz sicher? Wie nehmen wir zum Beispiel zu bieten. Sie instrumentalisieren erneut Ereignisse und Videoüberwachung an bestimmten schwierigen Stellen machen hier ganze Menschengruppen zum Sündenbock vor? Aber natürlich auch: Wie kommen wir ins Gespräch Ihrer Politik, die mit Gewalt nichts zu tun haben. Schauen mit den Leuten? Denn es ist eine Staatsferne, die da Sie sich auch noch mal die Pressekonferenz der Stuttgar- deutlich wird. Wer die Polizei angreift, der greift auch ter Polizei an, die da ganz differenziert berichtet. (B) den demokratischen Rechtsstaat an. (D) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Alice Weidel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [AfD]: Genau! Party- und Eventszene!) der CDU/CSU und der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]) Vor allem: Hätten Sie in der Sitzung des Innenausschus- ses diese Woche mal besser zugehört, dann wüssten Sie Deshalb ist es auch unsere Aufgabe, an dieser Stelle auch, dass von den 37 Beschuldigten über die Hälfte klarzumachen: Wir dürfen das nicht dulden. – Aber wir Deutsche sind. müssen mit den Leuten ins Gespräch kommen, damit wir (Beifall der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE merken: „Wie können wir eingreifen?“, und dürfen nicht LINKE] – Zurufe von der AfD: Deutscher warten, bis es wieder explodiert. Pass! – Gegenruf des Abg. Timon Gremmels (Dr. Alice Weidel [AfD]: Das ist ja ein hehrer [SPD]: Mit einem deutschen Pass ist man Ansatz: „mal ins Gespräch kommen“!) deutsch! – Weitere Zurufe von der SPD) – Original-, Ur- oder Biodeutsche, wie auch immer Sie es Deshalb ist es für unsere Fraktion eine besonders wich- bezeichnen möchten: Es waren gemischte Jugendgrup- tige Aufgabe, an dieser Stelle mit vielen unterschiedli- pen. chen Maßnahmen zu arbeiten. Wir versuchen schon seit Jahren, hier auch gesetzlich, also mit Strafen, zu reagie- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) ren. Das alleine hat nichts genutzt; deshalb brauchen wir diese Vielfalt von Maßnahmen. Da gehört, selbst wenn Auch die Polizei spricht von einer heterogenen Gruppe. die AfD es höhnisch erwähnt, natürlich auch eine mobile Wenn Sie nicht mal der Polizei glauben, dann ist das Ihr Sozialarbeit dazu; denn wir müssen mit den Leuten in Problem. Kontakt kommen und ein positives Verhältnis zum Staat (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wiederherstellen. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Angesichts eines Migrationsanteils von 45 Prozent in der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Stuttgarter Bevölkerung ist diese Zusammensetzung auch CDU/CSU und der Abg. Helin Evrim Sommer normal. Für Sie ist es auch egal, dass die Kontrolle eines [DIE LINKE] – Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja, deutschen Jugendlichen Ausgangspunkt für die Ereignis- mehr Sozialarbeiter, das ist die Lösung des se am 21. Juni war. Hauptsache, Sie können wieder über Problems! Großartig!) migrantische Jugendliche herziehen! 21496 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Gökay Akbulut (A) Wir verurteilen natürlich jede Form von Gewalt sowie (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (C) die Zerstörung von Geschäften oder auch Plünderungen Nezahat Baradari [SPD]) (Thomas Seitz [AfD]: Ihre Freunde waren doch Es vergeht keine Woche, in der wir nicht davon hören, dabei! – Gegenruf des Abg. Timon Gremmels dass wieder ein Neonazi entdeckt wurde, der für die AfD [SPD]: Was soll denn das?) arbeitet. und fordern eine umfassende Aufklärung der Ereignisse (Lachen bei Abgeordneten der AfD) in dieser Nacht. Der Bundestagsabgeordnete René Springer hat einen Ne- onazi eingestellt, der einer rechtsextremen Prepper-Grup- (Beifall bei der LINKEN) pe angehört, die sich auf einen „Rassenkrieg“ vorbereitet Es haben sicherlich eine Reihe von vielen verschiedenen und sich dafür auch bewaffnet hat. Faktoren dazu geführt, dass es zu dieser Entwicklung gekommen ist; aber all das muss noch aufgearbeitet wer- (Alexander Throm [CDU/CSU]: Was hat das den. Für uns ist natürlich wichtig, dass diese Situation mit Stuttgart zu tun? – Dr. Alexander Gauland sich nicht wiederholt. Aber härteres Durchgreifen, mehr [AfD]: Der war aber nicht in Stuttgart dabei!) Polizeipräsenz, Ausweitung der Polizeibefugnisse, mehr Sie sind der politische Arm solcher rechtsextremen Ter- Videoüberwachung etc. werden wenig zur Lösung der rorgruppen. Probleme der Jugend beitragen. Wichtig ist, sich die Ur- sachen genauer anzuschauen, vor allem aber auch, prä- Die größte Gefahr in unserer Gesellschaft geht weiter- ventive Maßnahmen zu ergreifen, wie zum Beispiel hin vom Rechtsextremismus aus; das weiß auch der Bun- Streetworker-Programme, die aber 2012/2013 aus dem desinnenminister. Denken wir an Hanau. Stuttgarter Haushalt gestrichen worden sind. (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das ist auch Re- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!) lativieren, was Sie machen!) Denken wir an Gökhan Gültekin, an Sedat Gürbüz, an Viele Sozialarbeiter und Multiplikatoren in der Jugend- Said Nesar Hashemi, an Mercedes Kierpacz, an Hamza arbeit lehnen die Rufe nach mehr „Law and Order“ und Kenan Kurtovic, Vili-Viorel Paun, Fatih Saracoglu, Fer- nach mehr Härte gegenüber Jugendlichen ab. Die Lokal- hat Unvar und Kaloyan Velkov. Sie alle sind Opfer dieses und Fachpolitik scheint viel sachlicher mit der Thematik rassistischen Terroranschlags. Ihre Namen dürfen wir umzugehen als die weit entfernte Bundespolitik heute nicht vergessen; denn das alles ist auch Ergebnis Ihrer hier. Hetze gewesen. (B) (D) (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. In Stuttgart ist viel von Partizipation, Aufklärung, Dialog Nezahat Baradari [SPD] – Zuruf von der und Integration die Rede. Das ist ein Schritt in die richtige AfD: Verleumdung!) Richtung. Die AfD trägt rassistische und antisemitische Weltbilder – Die AfD ist aber weit davon entfernt, ein Interesse daran zu haben, dass sich die Situation vor Ort für alle Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: verbessert. Viele Jugendliche mit einem sogenannten Mi- Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen. grationshintergrund werden weiterhin tagtäglich Opfer von Rassismus und Diskriminierung. Dazu gehören auch Gökay Akbulut (DIE LINKE): Polizeipraktiken wie Racial Profiling. Hierzu gibt es – in unsere Gesellschaft hinein. zahlreiche Studien, unter anderem auch Studien des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Rassismus ist Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. in den Behörden, auch innerhalb der Polizeistrukturen, leider kein vereinzeltes Problem, sondern ein strukturel- (Beifall bei der LINKEN) les Problem, das wir ansprechen und angehen müssen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der LINKEN – Helin Evrim Jetzt hat das Wort der Kollege Cem Özdemir, Bünd- Sommer [DIE LINKE]: So ist es! – Thorsten nis 90/Die Grünen. Frei [CDU/CSU]: So ein Schwachsinn! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sinn! – Zurufe von der AfD) Deshalb fordern wir mehr Studien, mehr Analysen, mehr Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aufarbeitung und vor allem auch unabhängige Be- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- schwerdestellen. ren! Der Schock über den Gewaltausbruch von Stuttgart sitzt tief. Alle Gewalttäter gehören gerecht bestraft. Zu Die AfD betreibt mit ihrem rassistischen Diskurs wei- den Anstiftern – das möchte ich schon ausdrücklich sa- terhin ein gefährliches Spiel zur Spaltung unserer Gesell- gen – gehören für mich auch all diejenigen, die die Ge- schaft. Dabei ist sie selbst die größte Gefahr und vor walttaten – die Kollegin Vogt hat das bereits erwähnt – im allem das größte Sicherheitsrisiko in unserer Gesell- Netz gefeiert haben, als ob es eine Heldentat wäre, Schau- schaft. fenster zu zerstören oder auf Polizisten einzuprügeln. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21497

Cem Özdemir (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Vor allem aber waren es junge Männer – das ist doch das (C) bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- Entscheidende –, viele davon stark alkoholisiert. Dass geordneten der SPD und der Abg. Helin Evrim man dazu von Ihnen nichts hört, das wundert jetzt, glaube Sommer [DIE LINKE]) ich, niemanden hier. Ich möchte ausdrücklich – ich nehme an: im Namen aller (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN demokratischen Kräfte hier im Bundestag – unseren Ein- sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der satzkräften von der Polizei, unserer Feuerwehr, unserem Abg. Gabriele Katzmarek [SPD] – Jürgen THW und unseren Sanitätern für ihre Arbeit danken. Braun [AfD]: Sie haben die Verantwortung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es sind unsere Jugendlichen, und jeder Einzelne von und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ihnen, den wir verlieren, ist einer zu viel. CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Besonders perfide wird es, wenn in die Debatte eine Es ist aber auch unsäglich, wenn der Geschäftsführer neue Kategorie eingeführt wird, nämlich die sogenannten der Stiftung Sächsische Gedenkstätten im Zusammen- Passdeutschen. Was soll das denn bitte sein? Jemand, mit hang mit Stuttgart von einer – ich darf zitieren – „Bundes- dem wir zwar die Staatsbürgerschaft teilen, aber dessen kristallnacht“ spricht. Was für eine unglaubliche Ver- Vorfahren vielleicht nicht in der Schlacht im Teutoburger harmlosung des NS-Terrors! Was für eine Verhöhnung Wald gegen die Römer mitgekämpft haben? Meine Da- der Opfer der NS-Gewalt! men und Herren, merken Sie eigentlich, auf welch unsäg- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liche Tradition Sie sich hier berufen? Schon einmal wur- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten den in Deutschland Bürger ausgebürgert und wurde ihnen der CDU/CSU, der SPD und der FDP – die Zugehörigkeit abgesprochen. Das wird es mit uns nie Thomas Seitz [AfD]: Dann hätte er die Klappe wieder geben in diesem Land, meine Damen und Herren! halten sollen!) Ihr identitäres Geschwätz widert mich an. Ich habe nach den Krawallen mit vielen Betroffenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gesprochen: mit unserer Polizei, mit Ladenbesitzerinnen bei der SPD, der FDP und der LINKEN sowie und Ladenbesitzern, mit Mitarbeitern der mobilen Ju- bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von gendarbeit. Jetzt geht es erst mal darum, dafür zu sorgen, der AfD) dass sich so was nicht wiederholt. Wir werden unsere Probleme so regeln, wie wir das in Stuttgart seit Langem Als Identitätsbeschaffungsmaßnahme reicht mir unser überparteilich in gutem Geiste machen: Wir setzen uns Grundgesetz vollkommen aus. Das ist die Geschäfts- (B) zusammen und stellen uns auch selbstkritische Fragen. grundlage unserer Republik und nichts anderes, meine (D) Das muss man ja machen, wenn so was passiert; das ist Damen und Herren. gar keine Frage. Wir hören einander zu, und dann ergrei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fen wir Maßnahmen, um einerseits die Sicherheit zu er- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- höhen und gleichzeitig auch an die Wurzel des Problems KEN) zu gehen. Es muss uns Sorgen bereiten, wenn junge Menschen Nur, das, bitte schön, hat nichts mit dem zu tun, worum unserer Polizei misstrauen. Ich weiß selber, wie sich Ras- es Ihnen geht, meine Damen und Herren. sismus anfühlt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Lachen bei der AfD – Gegenruf der Abg. und bei der LINKEN sowie des Abg. Grigorios Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aggelidis [FDP]) Was lachen Sie denn da so blöd? Jetzt reicht es Denn Ihr Geschäftsmodell ist nicht das Lösen von Proble- aber! Schämen Sie sich! – Weiterer Gegenruf men, sondern das Verbreiten von Angst und Hass. Das vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kann wissen Sie, und wenn Sie ehrlich sind, geben Sie es zu. man da lachen?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich hoffe, dass Ihr Gelächter hier möglichst wenig sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- junge Leute hören. – NSU und rechte Umtriebe beim KEN und der Abg. Gabriele Katzmarek KSK haben uns gezeigt, dass wir Probleme mit Rassis- [SPD] – Zuruf des Abg. Martin Hess [AfD]) mus bei Uniformträgern, aber auch bei Menschen ohne Uniform haben. Aber ich sage auch in aller Deutlichkeit: Sie machen es sich mal wieder sehr einfach: Für Sie sind Die deutsche Polizei ist nicht die US-Polizei. Das darf einfach die Migranten schuld. und kann man nicht gleichsetzen, meine Damen und Her- (Jürgen Braun [AfD]: Sie haben die Verant- ren. wortung für Stuttgart!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Niemand verschweigt hier – ich glaube, alle sind sich hier bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- einig –, dass es unter den Randalierern auch Männer mit geordneten der SPD) migrantischem Hintergrund gab. Bei uns darf man exekutives Handeln, auch der Polizei, (Jürgen Braun [AfD]: Sie haben die Verant- kritisieren. Ja, man darf es sogar juristisch überprüfen. wortung für Stuttgart, Herr Özdemir!) Aber erst mal leistet man bitte schön den Anweisungen 21498 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Cem Özdemir (A) des Polizisten und übrigens auch der Polizistin Folge. 2017, traf ich auf Reichsbürger, Staatsleugner, ohne jeden (C) Das muss die Regel sein. Respekt auftretende Angeklagte und Zeugen – schon we- sentlich schwieriger war die Situation. Anfeindungen in (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- den sogenannten sozialen Netzwerken, in der Öffentlich- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und keit, im privaten Bereich, Fotografieren und Verbreiten der FDP) privater Szenen waren nur einige der Unannehmlichkei- Diejenigen, die den Glauben daran verlieren, dass man ten, denen man sich ausgesetzt sah. es durch eigenen Fleiß und durch die Hilfe der Gemein- Am meisten und am ehesten trifft der Verlust staat- schaft zu etwas bringen kann, müssen wir gewinnen. Das licher Autorität diejenigen, die sich schon rein optisch dürfen wir nicht an die Polizei delegieren, sondern da für jedermann repräsentieren: die uniformierte Schutz- sind wir alle als Gesellschaft gefordert. polizei mit ihren Einsatzfahrzeugen, die als Erste vor (Dr. Götz Frömming [AfD]: Alle Opfer!) Ort sind, die ihren Kopf hinhalten für diesen Staat und seine Bürger. Nicht gerade üppig bezahlt und in manchen Meine Damen, meine Herren, „Gewalt beginnt, wo das Bundesländern auch nicht besonders gut ausgerüstet, ris- Reden aufhört“, sagt Hannah Arendt. In diesem Geiste kieren gerade sie ihr Leben, um das Leben und die kör- arbeiten wir in Stuttgart: liberal, respektvoll und erstklas- perliche Unversehrtheit anderer zu schützen. sig. Der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das im Innenausschuss diese Woche wie folgt erklärt: sowie bei Abgeordneten der SPD und des Jungen Polizeibeamten und -beamtinnen wird in ihrer Abg. Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]) Ausbildung beigebracht, dass sie dafür da sind, Recht und Gesetz zur Geltung zu verhelfen und Rechtsbrecher Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dingfest zu machen, um sie der Justiz zu übergeben. In Axel Müller, CDU/CSU, ist der nächste Redner. Stuttgart mussten genau diese jungen Beamten und Be- amtinnen feststellen, dass sie das nicht mehr konnten, (Beifall bei der CDU/CSU) weil ein anarchischer Mob dies vereitelte. Die Lage war außer Kontrolle trotz des Einsatzes aller verfügbaren Axel Müller (CDU/CSU): Kräfte. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegen Neben der Angst um das eigene Leben oder die körper- und Kolleginnen! Mein Wahlkreis erstreckt sich auf das liche Unversehrtheit erzeugt das bei Polizisten und Poli- Gebiet Oberschwaben/Württembergisches Allgäu. Man zistinnen das Gefühl der Hilflosigkeit – eine Frustration, (B) sagt, das ist dort, wo der Süden am schönsten sei. Die die sich leider teilweise auch im Wahlverhalten nieder- (D) größte Stadt ist Ravensburg, sie hat 50 000 Einwohner. schlägt. Also tun wir doch bitte alles dafür, dass dieses Zwischen Ravensburg und Stuttgart sind 180 Kilometer Gefühl der Ohnmacht sich nicht weiter verfestigt. Ge- Distanz. Stuttgart hat über 600 000 Einwohner. Man setze und Strafschärfungen bei Übergriffen gegen Polizei könnte meinen, beide Städte liegen nicht nur räumlich und Rettungskräfte sind das eine. Harte, abschreckende weit auseinander, sondern auch gesellschaftlich. Doch Strafen für die Verbrecher in Stuttgart sind das andere in Wahrheit ist das anders. und die dringend notwendige Reaktion der Justiz zur Ver- Am Montag dieser Woche, um 4.30 Uhr morgens, hat teidigung unserer Rechtsordnung. sich in Ravensburg Folgendes ereignet: Es fand eine Aber am Ende wird das alles nichts nutzen, wenn in Polizeikontrolle eines Verkehrsrowdys statt, der betrun- dieser Gesellschaft nicht jeder Einzelne bereit ist, Recht ken und hupend mit seinem Pkw durch die Stadt fuhr. Die und Gesetz als verbindlich zu betrachten. Dazu gehört, Streife hielt ihn an, kontrollierte ihn, und plötzlich war sie dass man die Integrität anderer respektiert, dass man auch umringt von zehn Personen, die diese Maßnahme behin- ihre Andersartigkeit respektiert, dass man fremdes Eigen- derten. Unvermittelt erhielt einer der Beamten einen Stoß tum achtet. Und dazu gehört auch, dass man bei der gegen den Kopf vom Knie des Delinquenten. Es gelang Steuer nicht bescheißt, nicht vorsätzlich zu schnell fährt dennoch dessen Festnahme. Am nächsten Tag wurde er oder nicht größer baut, als man darf, usw. usf. dem Richter am Amtsgericht vorgeführt, um ihn in Haft zu nehmen. Dort trafen er und die Beamten allerdings auf Und dazu gehört, dass man das staatliche Gewalt- eine Menge, die sich zusammengerottet hatte und vor monopol nicht ständig infrage stellt, seine Repräsentan- dem Amtsgericht skandierte: Das ist Rassismus! ten nicht mit Misstrauen überzieht und nicht immer neue Kontrollmechanismen fordert und die Hürden für staat- Ravensburg und Stuttgart sind räumlich weit entfernt, liche Eingriffe nicht immer höher setzt. Jede staatliche aber gesellschaftlich offenbar sehr nahe, selbstverständ- Maßnahme unterliegt der Kontrolle durch die unabhängi- lich nicht in den Ausmaßen, aber doch in den Ursachen. ge Justiz, und das genügt. Der Polizeipräsident von Ravensburg hat das in einem Zeitungsinterview in der Folge dann wie folgt erklärt: Diejenigen, die Recht und Gesetz verteidigen – an vor- „Staatliche Autorität wird nicht mehr anerkannt.“ Ich derster Stelle steht da unsere Polizei –, dürfen nicht als glaube, das trifft es sehr gut. Gegner, sondern müssen als das gesehen werden, was sie sind: als Freund und Helfer. Mit den vergleichsweise Als ich 1992 als junger Amtsrichter, als erkennbarer wenigen, die das alles nicht beachten wollen, wird dieser Berufsanfänger begonnen habe, war es mir ein Leichtes, Rechtsstaat schon fertig – und ich füge zum Schluss hin- eine Strafverhandlung zu führen. Mit 53 Jahren, im Jahre zu: wenn man ihn denn lässt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21499

Axel Müller (A) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der AfD) (C) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Sparen Sie sich Ihre leeren Solidaritätsbekundungen, und bei Abgeordneten der SPD) sorgen Sie in Deutschland endlich für mehr Sicherheit! Stuttgart ist nämlich nicht vom Himmel gefallen. Stutt- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gart ist die logische Folge des Totalversagens aller Alt- Nächster Redner ist der Kollege Martin Hess, AfD. parteien in der Migrations-, in der Integrations- und in der Sicherheitspolitik. Sie schützen bis zum heutigen Tage (Beifall bei der AfD) unsere Grenzen nicht und lassen Hunderte und Tausende Islamisten, Staatsfeinde und Gewaltverbrecher in unser Martin Hess (AfD): Land. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die heutige Debatte zu den (Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) Gewaltexzessen in Stuttgart verfolgt, muss man eines feststellen: Bis auf die AfD weigern sich offenbar alle No-go-Areas wie zum Beispiel in Duisburg-Marxloh Fraktionen, den Kern des Problems klar und deutlich zu oder Leipzig-Connewitz sind ebenfalls Ihr Werk. benennen. Entweder sind Sie dazu wirklich nicht in der Über Jahrzehnte haben Sie zugelassen, dass Clankri- Lage, oder Sie verweigern sich schlicht der Realität. minelle und Linksextremisten in unserem Land nahezu Stuttgart war kein Event der Partyszene, ungestört ihr Unwesen treiben. Anstatt linke Gewalt jetzt (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE endlich konsequent zu bekämpfen, kooperieren Sie alle- GRÜNEN]: Hat hier auch niemand gesagt!) samt mit Linksextremisten – mittlerweile, wie wir wis- sen, zumindest auf Länderebene ja auch die CDU. sondern ein Gewaltexzess von Migranten und Linksext- remisten. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Und mit all diesen Sicherheitsbedrohungen, die Sie selbst geschaffen haben, lassen Sie unsere Polizei alleine. Von 37 Festgenommenen haben 22 einen Migrations- hintergrund, (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: In wel- cher Welt leben Sie?) (Zuruf der Abg. Dr. Anna Christmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich sage es in aller Deutlichkeit: Ihre auch heute wieder vorgetragenen hohlen Phrasen und Lippenbekenntnisse viele haben Flüchtlingsbezug. Auf den Tatvideos sind die (B) können Sie sich sparen. Nicht an Ihren Worten, sondern (D) Rufe „Allahu akbar“, „Fuck the system“, „Fuck the poli- an Ihren Taten werden Sie gemessen. Die Kollegen da ce“ klar und deutlich zu hören. Wer hier einen politischen draußen – genau dieses Feedback habe ich eins zu eins Hintergrund verneint, der ignoriert Tatsachen. bekommen – fühlen sich von Ihnen gnadenlos im Stich (Beifall bei der AfD) gelassen. Islamisten und Linksextremisten haben sich in dieser (Beifall bei der AfD) Nacht zusammengetan, um unseren Rechtsstaat zu desta- bilisieren. Das zeigt auch das Verhalten des Innenministers in dieser Woche wieder. Zuerst kündigte er an, eine Straf- (Zuruf der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- anzeige gegen eine Autorin zu erstatten, die unsere Poli- NIS 90/DIE GRÜNEN]) zisten bundesweit menschenverachtend als „Abfall“ be- Und ich sage gerade Ihnen, die Sie das immer vehement leidigt hat, wenige Tage später ließ er sich dann von der leugnen, ganz klar: Wenn wir Stuttgart jetzt nicht zum Kanzlerin davon abbringen. Ein Innenminister mit For- Anlass nehmen, um hier konsequent gegenzusteuern, mat, Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen hätte dann wird auf unseren Straßen immer mehr Chaos und sich ohne Wenn und Aber vor seine Beamten gestellt und Gewalt herrschen, selbstverständlich Anzeige erstattet. (Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) (Beifall bei der AfD) und das können und dürfen wir nicht zulassen. Dass der Minister dieses notwendige Signal der politi- schen Rückendeckung für unsere Polizei nicht ausgesen- (Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜND- det hat, zeigt eindeutig: Wenn es darauf ankommt, lässt NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Leute bereiten auch der Bundesminister des Innern die Polizei im Stich. sich doch auf den Bürgerkrieg vor! Sie sind die Bürger mit Waffen!) Die Bürger haben Ihre leeren Ankündigungen satt. Was Deutschland jetzt braucht, ist ein radikaler Wandel Ich habe mit etlichen Kollegen gesprochen, die in die- in der Sicherheitspolitik, und der beinhaltet insbesondere ser Nacht im Einsatz waren. Die Gewalt- und Zerstö- folgende Elemente: rungsorgien von Stuttgart zeigen für Baden-Württemberg eine völlig neue Qualität des Hasses auf Deutschland und Erstens. Schluss mit dem Generalverdacht gegen un- die Polizei. Die Bürger und vor allem die Polizeibeamten sere Sicherheitskräfte. Wer Polizisten Rassismus oder sind es leid, ständig für Ihr Politikversagen den Kopf Rechtsextremismus unterstellt, der schürt polizeifeindli- hinhalten zu müssen. che Stimmungen und ist für mangelnden Respekt vor 21500 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Martin Hess (A) dem Staat und für Gewalt gegen Polizeibeamte mitver- Wenn man sich selbst zitiert, dann ist das entweder ein (C) antwortlich. Ausdruck von Senilität oder Weisheit. In meinem Fall ist es ein Ausdruck von Weisheit. (Beifall bei der AfD) Zweitens. Klare politische Rückendeckung und ziel- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) führende Einsatzstrategien für unsere Sicherheitskräfte. Ich habe in meiner letzten Rede gesagt: Für die AfD ist Unsere Polizei braucht eine konsequente Nulltoleranz- der Mensch nicht Zweck, sondern Mittel und nur Stimm- strategie mit klaren Vorgaben für ein robustes Einschrei- vieh. – Frau Weidel, Sie haben in Ihrer schwülstig- ten. Bei dem Tätertypus von Stuttgart hilft keine Deeska- schmierigen Rede genau wie Herr Hess mit seiner Ket- lation, hilft keine Prävention, hilft keine Sozialarbeit, tenhundvariante genau das wieder bewiesen. Für Sie ist sondern nur harter Zwangsmitteleinsatz. der Mensch nur Mittel. (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- (Lachen bei der AfD) ten der LINKEN) Ich selbst habe in den letzten Monaten und Jahren Drittens. Sofortiger effektiver Grenzschutz, damit kei- erlebt, wie die Polizei und auch der Staatsschutz an mei- ne Gewaltverbrecher mehr als Flüchtlinge einreisen kön- ner Seite standen, und ich bin dafür zutiefst dankbar. nen, und konsequente Abschiebung aller ausländischen Deshalb empfinde ich umso mehr Bedauern für das er- Straftäter. bärmliche Handeln und für die erbärmliche Erniedrigung, die diesen Polizistinnen und Polizisten in Stuttgart zuteil- Viertens. Schluss mit falscher Toleranz gegenüber Pa- wurde. Gerade weil das so ist, weil sie das erdulden rallelgesellschaften. Wer sich nicht integriert, sondern mussten, verdienen sie es nicht, Spielball Ihrer dreckigen unseren Staat aktiv bekämpft, der hat in unserem Land Ausspielpolitik gegen Menschen mit Migrationshinter- nichts zu suchen. grund zu sein. Das ist widerlich. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Fünftens. Bekämpfen Sie endlich den Linksextremis- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. mus. Verhindern Sie, dass Antifa und Co ethnische Un- Axel Müller [CDU/CSU]) ruhen anheizen, um Deutschland zu destabilisieren. Die Sie interessieren sich nicht im Geringsten für das Gruppen der Antifa sind ausnahmslos zu verbieten. Schicksal von Polizistinnen und Polizisten, sondern an- Diese Maßnahmen und Leitlinien sind unmittelbare gesichts Ihrer Umfragewerte sehen Sie da die letzte Mög- Voraussetzung dafür – – lichkeit, sich irgendwie profilieren zu können. Deutsch- (B) lands Polizei ist aber klug genug, in diese Falle nicht (D) (Beifall bei der AfD) reinzufallen und sich nicht ausspielen zu lassen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Martin Hess Herr Kollege, auch Ihre Redezeit ist abgelaufen. [AfD]: Reden Sie mal mit den Kollegen darü- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ber, was sie von der SPD halten!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das, was Sie hier präsentieren, ist zutiefst unredlich, Das Wort erteile ich jetzt dem Kollegen Helge Lindh, und ich nenne es „parasitäre Politik“. Wie Schmarotzer SPD. nutzen Sie so ein ernstes Vorgehen in Stuttgart, um daraus politische Geländegewinne zu ziehen. Widerlich, erbärm- (Beifall bei der SPD) lich, unredlich ist das!

Helge Lindh (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE glaube, ich habe Herrn Hess gerade richtig verstanden: GRÜNEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Ernste Wer sich in diesem Land nicht integriert und den Staat Worte! Peinlich, was Sie sagen!) bekämpft, hat in diesem Land nichts zu suchen. – Bitte Man sieht in Ihrem Umkreis auf Memes und Sharepics gehen Sie; Bilder des Nahen Ostens und Nordafrikas, und dazu ist geschrieben – das muss man sich mal vergegenwärtigen –: (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem „Party-Szene“. Wie nenne ich das? Blanker Rassismus! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Frechheit!) (Dr. Götz Frömming [AfD]: Und das kommt denn Sie sind weder integriert, noch tragen Sie in irgend- aus Ihrem Mund!) einer Weise konstruktiv zu diesem Gemeinwesen bei, und Sie haben hier eine Aktuelle Stunde im Namen von blan- Sie bekämpfen diesen Staat notorisch. Insofern haben Sie kem Rassismus beantragt. das Urteil über sich selbst gerade gefällt. Sie haben auch großartige Unterstützer; es ist jetzt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bitter für uns, das feststellen zu müssen. Ich lese in der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Tweets von Herrn Maaßen – er war leider mal Verfas- GRÜNEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Sie sungsschutzpräsident und ist Mitglied der WerteUnion –, haben nicht zugehört!) dass man sich gegen die Ideologisierung und Instrumen- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21501

Helge Lindh (A) talisierung des Antirassismus verwahre. Und dann steht Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) da, Stuttgart wäre doch der Beleg für falsche Toleranz Nächster Redner ist der Kollege Alexander Throm, und die Ideologie der bunten Gesellschaft. CDU/CSU. Wie verstrahlt und – ich muss das so sagen – heuchle- (Beifall bei der CDU/CSU) risch kann man sein, dass man sich einerseits gegen Ideo- logie und Instrumentalisierung wendet und anderseits ein Gipfelstück, ein Meisterstück der Instrumentalisierung Alexander Throm (CDU/CSU): und Ideologisierung aufführt? Sie leben diese Tradition Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und und steigern diese sogar noch. Kollegen! „Die Polizei, dein Freund und Helfer“: Das habe ich in meiner Kindheit gelernt; das war damals ge- (Zuruf von der CDU/CSU: Noch schlimmer als sellschaftlicher Konsens in Deutschland. Frau Esken! – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Jetzt weiß ich wenigstens, was Hass und Hetze Heute müssen wir alle feststellen, dass der Respekt vor ist! Das, was Sie sagen!) unserer Polizei nachgelassen hat und die Angriffe auf die Polizei zugenommen haben. Insofern möchte ich zu- – Wenn Sie mir Hetze vorwerfen, dann ist das für mich nächst mal Danke an alle Polizistinnen und Polizisten eine Ehrenbezeichnung, sagen, die am vorletzten Samstag in Stuttgart ihren Dienst vollbracht und unsere Werte – Sachwerte –, aber (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das habe ich auch Personen und Menschen geschützt haben und dabei mir gedacht!) ihr eigenes Wohl ein Stück weit außer Acht gelassen genauso wie Ihr hämischer Applaus für mich immer eine haben. Das ist Aufgabe von Politik. Würdigung ist, die ich sehr stolz entgegennehme. Für mich war es unvorstellbar, dass wir einen solchen (Lachen bei Abgeordneten der AfD) Gewaltexzess erleben müssen, ohne dass es dafür einen äußeren Anlass gibt, ohne dass er durch Hooligans oder Da Sie ja so viel Wert auf deutsche Tradition und An- durch Links- oder Rechtsextremisten im Rahmen einer stand legen: Als eine Kollegin vorhin sagte, einige der Demonstration organisiert wurde. Wir haben erleben Täter seien Deutsche gewesen, war der Zwischenruf – ich müssen, dass ein kleiner, marginaler Anlass einen sol- habe es genau gehört –: „Deutscher Pass!“. Das sagt alles. chen Gewaltausbruch verursachen kann. Für Sie ist nicht Deutscher, wer die deutsche Staatsange- hörigkeit hat, nein, für Sie ist Deutscher, wer ethnisch, Ich stellte mir schon die Frage: Warum passiert das biologisch, rassisch – wie auch immer – deutsch ist. ausgerechnet in unserem sauberen, liberalen, fleißigen, (B) schaffigen Stuttgart? Warum ausgerechnet dort? Nach (D) (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Blut-und-Boden- ein paar Tagen hat mich das gar nicht mehr so verwun- Politik!) dert. Damit stehen Sie nicht auf dem Boden dieses Grund- gesetzes. Herr Kollege Özdemir, da müssen wir schon auch noch mal ein bisschen in die Vergangenheit zurückgehen – ge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- rade zu den letzten zehn Jahren in Stuttgart und zu den SES 90/DIE GRÜNEN) politischen Auseinandersetzungen, die wir da hatten. Das hat schon auch Auswirkungen auf eine Stadt und ihre Sie haben damit gezeigt – quod erat demonstrandum –, Gesellschaft. dass Sie sich mit diesem Land nicht identifizieren und dieses Land am liebsten verlassen wollen, wie Sie am Sie wissen ja – ausgehend von Stuttgart 21 –: Da ist Anfang ja selbst bekundet haben. nicht alles optimal gelaufen. Es gab einen ersten und einen zweiten Untersuchungsausschuss. Ich war als (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Landtagsabgeordneter im zweiten Untersuchungsaus- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- schuss dabei. Da hat man Einzelfälle zu Generalfällen NEN) gemacht. Man hat einen Generalverdacht gegenüber der Ich fand es suboptimal, dass wir hier kleine Formen Polizei in Baden-Württemberg und darüber hinaus ge- des Landtagswahlkampfs erlebt haben, und ich appelliere äußert. Manche haben da ihr Verhältnis zur Polizei klären dringend an uns alle hier, dass wir solche Riots wie in wollen. Stuttgart – wir haben auch welche in Dijon, Den Haag und anderswo erlebt – nicht für politische Kämpfe und Wir haben auch eine Diskussion über die Kennzeich- parteipolitische Spiele nutzen. Sicherheit wird auf Ver- nungspflicht gehabt, Herr Kollege Özdemir, bei der Sie trauen und nicht auf Verdacht und Angst gebaut, und Misstrauen gegenüber der Polizei geschürt haben. Das deshalb gebietet es die Würde dieses Hauses und der haben die Polizistinnen und Polizisten in Baden-Würt- Politik, dass wir das nicht für unsere Zwecke ausschlach- temberg auch so empfunden. Wir konnten diese Kenn- ten – weder für Rassismus noch für Landtagswahlen. zeichnungspflicht glücklicherweise verhindern. Vielen Dank. Und wir hatten jahrelang eine Diskussion über Body- cams zum Schutz der Polizistinnen und Polizisten. Die (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Grünen haben sich verweigert. Jetzt konnte es eingeführt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- werden, im Übrigen vom Innenminister Strobl gegen Be- ordneten der CDU/CSU) denken aus der FDP. Und das Einzige, was heute hier 21502 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

Alexander Throm (A) peinlich war, war ein Stück weit Ihr Angriff auf den Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) Minister Strobl, Herr Strasser. Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol- lege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. (Zuruf des Abg. Benjamin Strasser [FDP]) Die FDP ist ja bekanntlich für nichts verantwortlich, weil (Beifall bei der CDU/CSU) sie nirgendwo Verantwortung übernommen hat bzw. zu- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): getragen bekommen hat. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- (Otto Fricke [FDP]: Ja, dann erklären Sie das ren! Zum Abschluss dieser Aktuellen Stunde will ich mal dem Ministerpräsidenten von Nordrhein- noch mal betonen, um was es eigentlich geht: um die Westfalen!) Frage, wie in einer Gesellschaft das Zusammenleben or- ganisiert wird und welche Regeln und Haltungen für uns Dann kann man alles besser wissen, ohne etwas besser alle gelten, damit ein respektvoller Umgang möglich ist machen zu müssen. und weiter gedeihen kann. Insofern hoffe ich, liebe Kolleginnen und Kollegen ge- (Zuruf von der AfD: Das ist eigentlich klar!) rade auch der Grünen, dass Sie Ihr Verhältnis zur Polizei klären. Dazu gehört, dass es in dieser Gesellschaft keine Toleranz für Gewalt gibt. Gewalt ist kein Mittel der Auseinander- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: setzung. Gewalt ist etwas, was wir ächten müssen. Und Ach Gottchen!) wir müssen auch darauf schauen, wie Gewalt entsteht. Sie Ihre Kollegin Mihalic hat in einem heute veröffentlichten entsteht auch durch Gedanken, die zur Sprache werden, Interview mit der „FAZ“ gesagt: „Wir mussten als Grüne und Sprache, die zu Hass wird, und Hass, der in Taten aber erst lernen, dass die Polizei ein positiver Faktor in umschlägt. Deswegen muss es für alle Demokraten klar der Gesellschaft ist“. und deutlich sein, dass wir Gewalt ächten, meine Damen und Herren. (Zuruf des Abg. Dr. Alexander Gauland [AfD]) Damit wir die Ächtung von Gewalt durchsetzen kön- Ich glaube nur, Ihr Lernprozess ist noch nicht abgeschlos- nen, brauchen wir in unserem Staat eine starke, grund- sen; rechtsgebundene Polizei. Und diese Polizei hat unseren Respekt und unseren Rückhalt verdient. (Zuruf des Abg. Otto Fricke [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- denn erst vor wenigen Wochen haben wir hier auf Antrag (B) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (D) der Grünen über einen Polizeibeauftragten diskutiert. In- ten der SPD und der Abg. Linda Teuteberg sofern sollten Sie da noch mal in sich gehen, um wirklich [FDP]) die Unterstützung für unsere Polizei, für unsere Sicher- heitskräfte zu gewährleisten. Es ist klar, dass sich die Polizei auf uns verlassen kann. Wir schützen die, die uns schützen. Ich möchte mit einem Tweet von gestern schließen, der mich sehr geärgert hat. Fridays For Future Weimar Ich bitte Sie einfach, mal einen Abend wie den in schreibt: Stuttgart aus den Augen eines Polizeibeamten im mitt- leren oder auch im gehobenen Dienst zu sehen. Das sind Feuerwehr und Rettungsdienst retten Menschen. Die junge Menschen, die nicht wissen, was sie erwartet, die Polizei diskriminiert, mordet, aber aufgrund von Erzählungen befürchten, dass sie an- gespuckt werden, dass sie angerempelt werden, dass viel- – mordet! - leicht jemand ein Messer zückt. Deswegen haben wir die prügelt, hehlt. Lasst uns aufhören die beiden in ei- Polizei auch immer stärker mit stichfesten Westen aus- nem Atemzug als „Helfer“ zu titulieren. statten müssen. Es sind Polizeibeamte, die nicht wissen, wie sich eine explosive, alkoholgetränkte Stimmung auf Stattdessen sollten wir Antifa und Migrantifa wert- sie ganz persönlich auswirken wird. Und wer auch immer schätzen! so einen Dienst macht, eine ganze Nacht lang, der hat unseren Respekt verdient. Deswegen ist noch mal deut- Deutschland hat ein #Polizeiproblem lich zu machen, dass wir hinter diesen Polizeibeamten Bis vorhin gab es keine Reaktion von Fridays for Fu- stehen. ture Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Ich habe meine Rede damit begonnen, dass wir damals, NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- in meiner Kindheit und Jugend, den Satz „Die Polizei, ten der AfD) dein Freund und Helfer“ gelernt haben. Lassen Sie uns Wir müssen auch deutlich machen, dass Stuttgart nicht alle zusammenstehen und dabei helfen, dass wir unseren irgendein Gewaltexzess war. Alle Beschönigungen in Kindern und Jugendlichen diesen Satz wieder beibringen. Richtung „Exzesse einer Partyszene“ sind völlig fehl Herzlichen Dank. am Platz. Es handelt sich hier um Delikte wie Landfrie- densbruch, wie Brandstiftung, wie schwere Körperver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. letzung. Das sind schwere Straftaten, die der Rechtsstaat Nezahat Baradari [SPD]) mit allem Nachdruck aufklären und verfolgen muss. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21503

Dr. Volker Ullrich (A) Aber zum Rechtsstaat gehört auch, dass wir uns zu- Ich glaube, dass wir umfassende kriminalpräventive (C) nächst einmal fragen: „Wer waren die Täter? Was waren Konzepte in unseren Städten brauchen. Ein starker Rück- ihre Motive?“, dass wir ihrer habhaft werden und dass wir halt, eine ordentliche Ausstattung für unsere Polizei ist sie dann verurteilen. Eine Vorverurteilung ist nicht etwas, das eine, was rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht. (Jürgen Braun [AfD]: Mann, Mann, Mann! So (Beifall bei der CDU/CSU, der LINKEN und ein dummes Geschwätz!) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Präventionskonzepte sind das andere. Wir gehen das Pro- Abgeordneten der SPD und des Abg. blem gesamtgesellschaftlich an. Wir wollen nicht Grup- Dr. Christoph Hoffmann [FDP]) pen gegeneinander ausspielen, sondern wir wollen eine Was ich in der Tat befremdlich fand – ich muss das effektive Lösung haben, die auf dem Boden des Grund- noch mal ansprechen –, war die Unterscheidung zwi- gesetzes steht. Das ist unsere Haltung dazu. schen Deutschen und Passdeutschen. Das ist ein völki- Ich kann abschließend sagen: Wir stehen hinter unserer scher Gedanke, von dem wir gehofft haben – alle mit- Polizei, weil wir wissen, dass durch sie Freiheit, Sicher- einander –, dass er in diesem Hohen Hause nie mehr zu heit und Grundrechte verwirklicht werden. hören ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ Benjamin Strasser [FDP] – Dr. Götz Frömming DIE GRÜNEN) [AfD]: Dass man das dreimal sagen muss, lässt tief blicken!) Aber ich bitte uns alle auch, dass wir die Konsequen- zen aus Stuttgart differenziert betrachten. Und da sind – angefangen beim Kollegen Frei über den Kollegen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Müller bis zum Kollegen Throm – viele interessante An- Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. sätze gekommen. Wir müssen über die Frage diskutieren: Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir jetzt in die Welche Rolle spielt Alkohol? Sommerpause gehen, ist es – in einer Phase, in der unser (Lachen bei Abgeordneten der AfD – Gegenruf Land vor dieser schwierigen, von uns allen nie gekannten der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Herausforderung der Pandemie steht und wir sehen, wie Da brauchen Sie gar nicht so zu lachen! – Steffi schwierig es ist, den Weg aus der Pandemie in die Norma- Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die lität zu finden – vielleicht gar nicht schlecht, wenn wir (B) AfD gewandt: Vielleicht solltet ihr trinken da alle auch das, was wir in der letzten Stunde debattiert (D) drüben! Das hilft! Fragen Sie mal Herrn Kalb- haben, nachdenklich mitnehmen. In diesem Sinne wün- itz, wie das ist mit Alkohol!) sche ich Ihnen allen eine gute parlamentarische Sommer- pause. Wir müssen auch darüber sprechen, welche Rolle gewalt- legitimierende Normen gerade auch bei jungen Männern Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- spielen. Auch diese Frage müssen wir diskutieren. tages auf Mittwoch, den 9. September 2020, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Beifall der Abg. Charlotte Schneidewind- Hartnagel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Schluss: 18.37 Uhr)

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21505

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Barrientos, Simone DIE LINKE Zimmermann, Pia DIE LINKE

Bleser, Peter CDU/CSU * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes

Dörner, Katja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Anlage 2 Esdar, Dr. Wiebke* SPD Erklärung nach § 31 GO Gabelmann, Sylvia DIE LINKE der Abgeordneten Katrin Budde, Dr. Eberhard Herzog, Gustav SPD Brecht und Dr. Karamba Diaby (alle SPD) zu der Abstimmung über Irmer, Hans-Jürgen CDU/CSU – den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Strukturstärkungsgesetzes Koh- Kamann, Uwe fraktionslos leregionen und Korkmaz-Emre, Elvan* SPD – den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Reduzierung und Korte, Jan DIE LINKE zur Beendigung der Kohleverstromung und Kuffer, Michael CDU/CSU zur Änderung weiterer Gesetze (Kohleaus- stiegsgesetz) Leutert, Michael DIE LINKE (Tagesordnungspunkt 22 a und b) (B) (D) Maas, Heiko SPD Heute wird über das „Strukturstärkungsgesetz Kohle- regionen“ und das „Gesetz zur Reduzierung und zur Be- Mayer (Altötting), Stephan CDU/CSU endigung der Kohleverstromung und zur Änderung wei- Mieruch, Mario fraktionslos terer Gesetze“ entschieden. Für Sachsen-Anhalt sind diese Gesetze von enormer Pasemann, Frank AfD Wichtigkeit. Die Koalitionspartner haben in den vergan- Petry, Dr. Frauke fraktionslos genen Monaten versucht, ein Gesetz vorzulegen, welches den betroffenen Regionen hilft. Wir als SPD-Bundestags- Pilger, Detlev SPD abgeordnete aus Sachsen-Anhalt haben trotzdem weiter- hin schwere Bedenken. Post, Florian SPD Zum einen ist die Einbeziehung der Tagebaustandorte Remmers, Ingrid DIE LINKE der MIBRAG, ohne Kraftwerk, nicht zufriedenstellend geregelt. Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD Zum anderen unterstützen wir zwar die Aufnahme des Steffel, Frank CDU/CSU Altenburger Landes in § 11 des Strukturstärkungsgeset- zes, dass allerdings die dafür notwendigen Finanzmittel Strenz, Karin CDU/CSU aus den Finanzmitteln, die für das Mitteldeutsche Revier vorgesehen sind, genommen werden, ist ein herber Rück- Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE schlag. Weber, Gabi SPD Dass wir trotzdem den Gesetzen zustimmen, begründet sich im Folgenden. Weinberg, Harald DIE LINKE Durch Änderungsanträge, welche jetzt noch in die Ge- Werner, Katrin DIE LINKE setze eingeflossen sind, konnte erreicht werden, dass § 49 des Kohleausstiegsgesetzes geändert wurde, sodass das Zdebel, Hubertus DIE LINKE Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ermäch- Ziegler, Dagmar SPD tigt wird, öffentlich-rechtliche Verträge zur Reduzierung und Beendigung der Braunkohleverstromung auch mit den unmittelbar betroffenen Braunkohletagebauunter- 21506 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) nehmen abzuschließen. Dass es diese Möglichkeit jetzt stieg bis „spätestens 2038“ vor, der durch einen stetigen (C) auch für Tagebauunternehmen ohne eigenes Kraftwerk Ausstiegspfad und zwischenzeitliche Überprüfungen zu geben wird, ist für Sachsen-Anhalt – insbesondere die erreichen sei. MIBRAG – von entscheidender Wichtigkeit. Die öffent- lichen Verträge werden im Herbst dem Deutschen Bun- Bis heute halte ich – im Einklang mit zahlreichen Stim- destag zur Zustimmung vorgelegt. Wir werden sehr ge- men aus der Wissenschaft und einzelnen Mitgliedern der nau darauf achten, dass es dann auch einen Kohlekommission – einen Kohleausstieg bis 2030 für zufriedenstellenden Vertrag für unsere Region geben sowohl machbar als auch klimapolitisch erforderlich. wird. Davon werden wir unsere Zustimmung zu den an- Eben gerade im Beschleunigungsfaktor steckt zudem deren Verträgen abhängig machen. die Chance auf weltwirtschaftliche Vorreiterschaft für zukunftsfeste Schlüsseltechnologien. Gleichzeitig müs- sen auch die vielfachen Hemmnisse für erneuerbare Ener- gien beseitigt werden, die sowohl mit den gesetzlichen Anlage 3 Ausbau-Mengenbegrenzungen, aber etwa auch durch die Einführung von Ausschreibungen zum Ausbau erneuer- barer Energien und deren hemmende Wirkung entstanden Erklärungen nach § 31 GO sind. Hinzu kommen zahlreiche Genehmigungshürden, zu der Abstimmung über die den Klima- und Energiewendezielen widersprechen und überwunden werden müssen. – den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Strukturstärkungsgesetzes Koh- Der Entwurf zum Kohleausstiegsgesetz aus dem Wirt- leregionen und schafts- und Energieministerium weicht unter anderem beim Ausstiegspfad von der Empfehlung der Kohlekom- – den von der Bundesregierung eingebrachten mission ab, womit anstelle der „Stetigkeit“ im Pfad grö- Entwurf eines Gesetzes zur Reduzierung und ßere Abschaltmengen erst um 2030 eintreten. Allein die- zur Beendigung der Kohleverstromung und se Abweichung steht für geschätzte 134 Millionen zur Änderung weiterer Gesetze (Kohleaus- Tonnen CO2-Mehremissionen und ist als solche nicht stiegsgesetz) zu rechtfertigen. (Tagesordnungspunkt 22 a und b) Mit einer Verzögerung im Ausstiegspfad steht zudem die Opportunität von Entschädigungszahlungen infrage, Hilde Mattheis (SPD): Seit Jahren steht rechtlich be- da bereits heutige Unwirtschaftlichkeit zu Abschaltungen günstigte Kohleverstromung für Marktverzerrungen zu- führt. Auch in dieser Hinsicht ist der Gesetzentwurf zu (B) (D) lasten des Klimas, der Umwelt, der Gesundheit und von kritisieren. Zugleich bleibt auch ein früherer Ausstieg Alternativen in Form erneuerbarer Energien. Unermess- möglich; Fehlanreize werden mit den Entschädigungen liche Folgekosten sind nicht nur mit den weltweit wirken- nicht gesetzt. Weder durch das Kohleausstiegsgesetz den Klimafolgeschäden verbunden, sondern etwa auch noch durch die noch gesondert im Herbst vonseiten des mit dem gigantischen Wasserbedarf, der nach Beendi- Bundestages zu beratenden und zu bewertenden Verträge gung des Braunkohletagebaus im Zuge der Rekultivie- (hier gilt Zustimmungspflichtigkeit des Bundestages) rung aufzubringen ist. Insofern muss auch gewährleistet wird das Enddatum 2038 (oder 2035) nach vorne hin sein, dass die Unternehmen für eben diese Bürde auf- zementiert – ein früherer Ausstieg bleibt möglich. Zudem kommen. wird die Bundesregierung mit den heute vorliegenden Vertragsentwürfen nicht gebunden, keine weiteren Maß- Ohne den Ausstieg aus der Kohleverstromung kann nahmen zu schaffen, etwa über einen CO2-Mindestpreis. weder ein beschleunigter Umstieg auf erneuerbare Ener- Eben auf die Beibehaltung solcher Vertragsbedingungen gien, eine hiermit einhergehende Abkehr gesellschaftli- wird bei den parlamentarischen Beratungen über die Ver- cher Abhängigkeiten von endlichen Ressourcen noch das träge genauestens zu achten sein. Erreichen unserer Klimaschutzverpflichtungen erreicht werden. Insofern ist ein gesetzlich zu bewirkender Aus- Gemäß den Aussagen des Abschlussberichts der Koh- stieg aus der Kohleverstromung für den Klimaschutz und lekommission hätte das Kohlekraftwerk Datteln 4 nicht die Energiewende sowie auch Arbeit mit Zukunft für den ans Netz gehen dürfen. Mit den Prinzipien der Power Past Wirtschaftsstandort Deutschland unverzichtbar. Die Ab- Coal Alliance, die ein Verbot neuer Kohlekraftwerke er- kehr vom Verbrauch endlicher Ressourcen hat zudem klären und denen Deutschland 2019 beigetreten ist, stellt eine friedenspolitische Dimension – dies haben vergan- die Inbetriebnahme von Datteln 4 einen Widerspruch und gene Kriege um Öl bewiesen. auch ein fatales weltweites Signal einer Industrienation im Umgang mit eingegangenen Klimaschutzverpflich- Die SPD hat eben dieses politische Ziel des gesetz- tungen dar. lichen Kohleausstiegs in den Koalitionsvertrag hinein- verhandelt. Mit der Einigung des Koalitionsvertrages Die Nicht-Rodung des Hambacher Waldes ist mit dem wurde auch eine Verständigung auf die Einrichtung einer Kohleausstiegsgesetz nun zwar angelegt – auch dies war Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäfti- ein Ergebnis der sogenannten Kohlekommission. gung“ (sogenannte Kohlekommission) erreicht, deren Schätzungen zufolge bedeuten aber die gleichwohl vor- Abschlussbericht vom Januar 2019 als gesamtgesell- gesehenen weiteren Abbauarbeiten an Dörfern und Un- schaftlicher Kompromiss auch über die Parteigrenzen ge- tergrund, dass hiermit dem Hambacher Wald das Grund- tragen wurde. Der Kompromiss sieht einen Kohleaus- wasser genommen wird, womit die Rettung des Waldes Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21507

(A) letztlich nicht gesichert ist. Auch dies halte ich für sich von Alternativen in Form erneuerbarer Energien. Uner- (C) genommen für nicht akzeptabel. messliche Folgekosten sind nicht nur mit den weltweit wirkenden Klimafolgeschäden verbunden, sondern etwa Die explizite Feststellung des Tagebaus Garzweiler als auch mit dem gigantischen Wasserbedarf, der nach Be- energiewirtschaftliche Notwendigkeit steht ebenfalls für endigung des Braunkohletagebaus im Zuge der Rekulti- klimapolitisch nicht zu rechtfertigende Verluste an Hei- vierung aufzubringen ist. Insofern muss auch gewährleis- mat und Natur. tet sein, dass die Unternehmen für eben diese Bürde Im parlamentarischen Verfahren wurde eine ausdrück- aufkommen. liche gesetzliche Zustimmungspflicht des Bundestages Ohne den Ausstieg aus der Kohleverstromung kann zu den öffentlich-rechtlichen Verträgen mit den Kohle- weder ein beschleunigter Umstieg auf erneuerbare Ener- kraftwerkbetreibern erreicht. Dies ermöglicht dem Deut- gien, eine hiermit einhergehende Abkehr gesellschaftli- schen Bundestag eine gesonderte Bewertung der öffent- cher Abhängigkeiten von endlichen Ressourcen noch das lich-rechtlichen Verträge und deren Ablehnung. Dies Erreichen unserer Klimaschutzverpflichtungen erreicht wird nach der Sommerpause in einem erneuten parlamen- werden. Insofern ist ein gesetzlich zu bewirkender Aus- tarischen Verfahren zu behandeln sein. stieg aus der Kohleverstromung für den Klimaschutz und In einer Gesamtbetrachtung wird mit dem Kohleaus- die Energiewende sowie auch Arbeit mit Zukunft für den stiegsgesetz das grundsätzliche Risiko von Verständigun- Wirtschaftsstandort Deutschland unverzichtbar. Die Ab- gen auf Ausstiegspfade und Abschalttermine offenbar. kehr vom Verbrauch endlicher Ressourcen hat zudem Dies hätte mit einer die externen Effekte der Kohlever- eine friedenspolitische Dimension – dies haben vergan- stromung aufgreifenden Schadstoffbepreisung vermie- gene Kriege um Öl bewiesen. den werden können. Für Letztere plädiere ich seit vielen Jahren. Auch der gesetzliche Atomausstieg, der hinsicht- Die SPD hat eben dieses politische Ziel des gesetz- lich gesetzlicher Ausstiegsdaten als Orientierung diente, lichen Kohleausstiegs in den Koalitionsvertrag hinein- darf nicht davon ablenken, dass er im Jahr 2010 – unter verhandelt. Mit der Einigung des Koalitionsvertrages Schwarz-Gelb – wieder rückgängig gemacht worden war; wurde auch eine Verständigung auf die Einrichtung einer Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäfti- ohne das Reaktorunglück von Fukushima wäre der „Aus- gung“ (sogenannte Kohlekommission) erreicht, deren stieg aus dem Ausstieg“ möglicherweise bis heute gelten- Abschlussbericht vom Januar 2019 als gesamtgesell- de Rechtslage. Deren Aufhebung kostete den Staat hohe schaftlicher Kompromiss auch über die Parteigrenzen ge- Entschädigungssummen. tragen wurde. Der Kompromiss sieht einen Kohleaus- Mit der heutigen Entscheidung wird ein gesetzlicher stieg bis „spätestens 2038“ vor, der durch einen stetigen (B) Kohleausstieg beschlossen, der meiner Überzeugung Ausstiegspfad und zwischenzeitlichen Überprüfungen zu (D) von möglichen und erforderlichen Abschaltzeiten nicht erreichen sei. entspricht und auch bei den Entschädigungszahlungen zu Wertungswidersprüchen führt. Bis heute halte ich – im Einklang mit zahlreichen Stim- men aus der Wissenschaft und einzelnen Mitgliedern der Zugleich besteht mit dem Gesetz noch immer die Mög- Kohlekommission – einen Kohleausstieg bis 2030 für lichkeit eines auch früheren Kohleausstiegs – sowohl sowohl machbar als auch klimapolitisch erforderlich. durch die Unternehmen selbst als auch im Zuge einer Eben gerade im Beschleunigungsfaktor steckt zudem vorgesehenen Evaluation. die Chance auf weltwirtschaftliche Vorreiterschaft für zukunftsfeste Schlüsseltechnologien. Gleichzeitig müs- Die Haltung von CDU/CSU offenbart, dass ein frühe- sen auch die vielfachen Hemmnisse für erneuerbare Ener- rer Kohleausstieg nicht verhandelbar war. Zugleich weist gien beseitigt werden, die sowohl mit den gesetzlichen auch Peter Altmaier in seiner heutigen Rede zur Verab- Ausbau-Mengenbegrenzungen, aber etwa auch durch die schiedung des Kohleausstiegsgesetzes auf weitere Markt- Einführung von Ausschreibungen zum Ausbau erneuer- entwicklungen und Optionen früherer Abschaltungen barer Energien und deren hemmende Wirkung entstanden hin. Eben hier muss dann im weiteren Verlauf angesetzt sind. Hinzu kommen zahlreiche Genehmigungshürden, werden. Würde man sich heute für weitere Verhandlun- die den Klima- und Energiewendezielen widersprechen gen und eine Vertagung bzw. Verzögerungen entscheiden, und überwunden werden müssen. wird damit zwangsläufig auch die gesetzliche Grundlage für einen Ausstiegspfad verschoben. Bereits mit der heu- Der Entwurf zum Kohleausstiegsgesetz aus dem Wirt- tigen Verabschiedung des Kohleausstiegsgesetzes ist eine schafts- und Energieministerium weicht unter anderem Verzögerung gegenüber den Empfehlungen der Kohle- beim Ausstiegspfad von der Empfehlung der Kohlekom- kommission gegeben. Eine Vertagung des Gesetzes mission ab, womit anstelle der „Stetigkeit“ im Pfad grö- bringt zudem eine Unsicherheit mit sich, ob und wann ßere Abschaltmengen erst um 2030 eintreten. Allein die- es in der Zukunft überhaupt eine Verständigung auf ein se Abweichung steht für geschätzte 134 Millionen Kohleausstiegsgesetz geben wird. Tonnen CO2-Mehremissionen und ist als solche nicht zu rechtfertigen. Vor diesem Hintergrund stimme ich trotz der genann- ten sachlichen Kritik dem Kohleausstiegsgesetz zu. Mit einer Verzögerung im Ausstiegspfad steht zudem die Opportunität von Entschädigungszahlungen infrage, Dr. Nina Scheer (SPD): Seit Jahren steht rechtlich da bereits heutige Unwirtschaftlichkeit zu Abschaltungen begünstigte Kohleverstromung für Marktverzerrungen führen. Auch in dieser Hinsicht ist der Gesetzentwurf zu zulasten des Klimas, der Umwelt, der Gesundheit und kritisieren. Zugleich bleibt auch ein früherer Ausstieg möglich; Fehlanreize werden mit den Entschädigungen entspricht und auch bei den Entschädigungszahlungen nicht gesetzt. Weder durch das Kohleausstiegsgesetz zu Wertungswidersprüchen führt. noch durch die noch gesondert im Herbst vonseiten des Bundestages zu beratenden und zu bewertenden Verträge Zugleich besteht mit dem Gesetz noch immer die Mög- (hier gilt Zustimmungspflichtigkeit des Bundestages) lichkeit eines auch früheren Kohleausstiegs – sowohl wird das Enddatum 2038 (oder 2035) nach vorne hin durch die Unternehmen selbst als auch im Zuge einer zementiert – ein früherer Ausstieg bleibt möglich. Zudem vorgesehenen Evaluation. wird die Bundesregierung mit den heute vorliegenden Die Haltung von CDU/CSU offenbart, dass ein frühe- Vertragsentwürfen nicht gebunden, keine weiteren Maß- rer Kohleausstieg nicht verhandelbar war. Zugleich weist nahmen zu schaffen, etwa über einen CO2-Mindestpreis. auch Peter Altmaier in seiner heutigen Rede zur Verab- Eben auf die Beibehaltung solcher Vertragsbedingungen schiedung des Kohleausstiegsgesetzes auf weitere Markt- wird bei den parlamentarischen Beratungen über die Ver- entwicklungen und Optionen früherer Abschaltungen träge genauestens zu achten sein. hin. Eben hier muss dann im weiteren Verlauf angesetzt Gemäß den Aussagen des Abschlussberichts der Koh- werden. Würde man sich heute für weitere Verhandlun- lekommission hätte das Kohlekraftwerk Datteln 4 nicht gen und eine Vertagung bzw. Verzögerungen entscheiden, ans Netz gehen dürfen. Mit den Prinzipien der Power Past wird damit zwangsläufig auch die gesetzliche Grundlage Coal Alliance, die ein Verbot neuer Kohlekraftwerke er- für einen Ausstiegspfad verschoben. Bereits mit der heu- klären und denen Deutschland 2019 beigetreten ist, stellt tigen Verabschiedung des Kohleausstiegsgesetzes ist eine die Inbetriebnahme von Datteln 4 einen Widerspruch und Verzögerung gegenüber den Empfehlungen der Kohle- auch ein fatales weltweites Signal einer Industrienation kommission gegeben. Eine Vertagung des Gesetzes im Umgang mit eingegangenen Klimaschutzverpflich- bringt zudem eine Unsicherheit mit sich, ob und wann tungen dar. es in der Zukunft überhaupt eine Verständigung auf ein Kohleausstiegsgesetz geben wird. Die Nicht-Rodung des Hambacher Waldes ist mit dem Kohleausstiegsgesetz nun zwar angelegt – auch dies war Vor diesem Hintergrund stimme ich trotz der genann- ein Ergebnis der sogenannten Kohlekommission. ten sachlichen Kritik dem Kohleausstiegsgesetz zu. Schätzungen zufolge bedeuten aber die gleichwohl vor- gesehenen weiteren Abbauarbeiten an Dörfern und Un- Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): Im Regie- tergrund, dass hiermit dem Hambacher Wald das Grund- rungsentwurf des Kohleausstiegsgesetzes wurden wichti- wasser genommen wird, womit die Rettung des Waldes ge Punkte unberücksichtigt gelassen. Es handelt sich da- letztlich nicht gesichert ist. Auch dies halte ich für sich bei um die Sicherung des Wasserhaushaltes in den genommen für nicht akzeptabel. Kohleregionen, die Sicherstellung der Gipsversorgung in Deutschland nach der Abschaltung der Kohlekraftwer- Die explizite Feststellung des Tagebaus Garzweiler als ke sowie die Finanzierung des Rückbaus der Kraftwerke energiewirtschaftliche Notwendigkeit steht ebenfalls für und der entsprechenden Flächensanierung. klimapolitisch nicht zu rechtfertigende Verluste an Hei- mat und Natur. Die Themen Wassermanagement und Rückbau der Im parlamentarischen Verfahren wurde eine ausdrück- Kraftwerke wurden durch einen Entschließungsantrag liche gesetzliche Zustimmungspflicht des Bundestages der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zwar aufgegrif- zu den öffentlich-rechtlichen Verträgen mit den Kohle- fen, jedoch wären meines Erachtens gerade im Hinblick kraftwerkbetreibern erreicht. Dies ermöglicht dem Deut- auf die Sicherung des zukünftigen Wasserhaushaltes in schen Bundestag eine gesonderte Bewertung der öffent- der Lausitz noch weiter gehende Regelungen notwendig lich-rechtlichen Verträge und deren Ablehnung. Dies gewesen. wird nach der Sommerpause in einem erneuten parlamen- Das Kohleausstiegsgesetz und das Strukturstärkungs- tarischen Verfahren zu behandeln sein. gesetz Kohleregionen sind jedoch als Gesamtpaket zu In einer Gesamtbetrachtung wird mit dem Kohleaus- betrachten. In Letzterem sind für die Lausitz wichtige stiegsgesetz das grundsätzliche Risiko von Verständigun- Punkte wie etwa eine zukünftige Medizinerausbildung gen auf Ausstiegspfade und Abschalttermine offenbar. in Cottbus, eine Beschleunigung wichtiger Straßenbau- Dies hätte mit einer die externen Effekte der Kohlever- projekte in Südbrandenburg sowie eine Stärkung des stromung aufgreifenden Schadstoffbepreisung vermie- Cottbuser Bahnwerkes enthalten. Aufgrund dieser für den werden können. Für Letztere plädiere ich seit vielen die Region wichtigen Maßnahmen sowie der Bereitstel- Jahren. Auch der gesetzliche Atomausstieg, der hinsicht- lung umfassender Strukturmittel überwiegen für mich die lich gesetzlicher Ausstiegsdaten als Orientierung diente, positiven Aspekte, weswegen ich beiden Gesetzen zu- darf nicht davon ablenken, dass er im Jahr 2010 – unter stimme. Schwarz-Gelb – wieder rückgängig gemacht worden war; ohne das Reaktorunglück von Fukushima wäre der „Aus- stieg aus dem Ausstieg“ möglicherweise bis heute gelten- de Rechtslage. Deren Aufhebung kostete den Staat hohe Anlage 4 Entschädigungssummen. Erklärungen nach § 31 GO Mit der heutigen Entscheidung wird ein gesetzlicher Kohleausstieg beschlossen, der meiner Überzeugung zu der Abstimmung über den von der Bundesregie- von möglichen und erforderlichen Abschaltzeiten nicht rung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Re- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21509

(A) duzierung und zur Beendigung der Kohleverstro- zahlbare und ökologische Energieversorgung einstehen. (C) mung und zur Änderung weiterer Gesetze (Kohle- Diese Prämissen sehe ich durch das Kohleausstiegsgesetz ausstiegsgesetz) nicht nur nicht erfüllt, sondern in hohem Maße gefährdet. (Tagesordnungspunkt 22 b) Aus genannten Gründen werde ich bei der Abstim- mung zum Kohleausstiegsgesetz mit Nein stimmen. Veronika Bellmann (CDU/CSU): Alle wesentlichen Gesetzesinhalte orientieren sich an den Festlegungen der Jens Koeppen (CDU/CSU): Ein sorgsamer Umgang durch die Bundesregierung berufenen Kommission für mit unseren Ressourcen und der Klimaschutz machen ein Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung (Kohle- Umdenken in der Energiepolitik unumgänglich. Aus mei- kommission). Diese Kommission bzw. deren Beschlüsse ner Sicht ist der Hauptgegenstand des Gesetzes – die entbehren bis auf den Einsetzungsbeschluss jeglicher de- Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung – mokratischer Legitimation. Die politische Willensbil- folgerichtig. dung im Sinne eines geordneten parlamentarischen Ver- fahrens hat nicht stattgefunden. Dennoch werde ich der Gesetzesvorlage nicht meine Zustimmung geben, da die Aufrechterhaltung der Versor- Das Gesetz enthält weder eine Folgen- und Risiko-/ gungssicherheit auf dem jetzigen Niveau zu wenig Be- Gefahrenabschätzung bzw. Vorsorgekonzepte noch eine achtung in den vorgelegten rechtlichen Grundlagen fin- Blackout-Strategie. Dies erscheint mir aber vor dem Hin- det. tergrund der fehlenden Grundlastfähigkeit, zu geringer Speicherkapazitäten der erneuerbaren Energien sowie Es kann nicht darum gehen, dass die Kohleverstro- mangelhafter Netzkapazität bzw. -qualität mehr als erfor- mung und die Produktion von Atomstrom in Deutschland derlich, um für mögliche flächendeckende Stromausfälle beendet werden, sondern dass diese Energieträger nicht in Folge von Unterversorgung gerüstet zu sein. Die Wahr- länger Bestandteil unseres Energiemixes sind. Dass scheinlichkeit ist bei einer angestrebten ausschließlichen Strom aus diesen Energieträgern zukünftig importiert Versorgung mit erneuerbaren Energien durchaus realis- wird, ist für mich keine Lösung. tisch, zumal es bereits in diesem Jahr mehrere sogenannte Dunkelflauten gegeben hat, in deren Folge nicht überall Zudem benötigt Versorgungssicherheit auch Netzstabi- durch den europäischen Stromnetzverbund gegen Zah- lität und für unseren Industriestandort auch eine verläss- lung hoher Geldbeträge mehrtägige Stromausfälle ver- liche Verfügbarkeit weit unterhalb des Sekundenberei- mieden werden konnten. ches. Hier sind in der Gesetzesvorlage Vorkehrungen getroffen, die aus meiner Sicht zu schwach sind, um die Zusätzlich erläutert das Gesetz keine Strategie, wie die Qualität unseres Versorgungssystems in bisher bekannter (B) Grundlast der Energieversorgung ohne Kohle- und Kern- Art und Weise aufrechtzuerhalten. (D) energie dauerhaft und kontinuierlich gewährleistet wer- den soll. So werden in kürzester Zeit über 50 Prozent Zudem fehlen die Voraussetzungen, dass die erneuer- unseres Energiemixes entfallen, ohne dass vernünftige baren Energien die Rolle der fossilen Energien im Ener- Ersatzlösungen angeboten werden. Bereits jetzt ist in giesystem verlässlich übernehmen können. Das EEG hat den Medien von Aluminiumhütten zu lesen, die den Be- zu einem immensen Zubau von Energieanlagen geführt, trieb zur Zeit der Spitzenlast herunterfahren müssen. aber einen klaren und verlässlichen Beitrag für die Ener- gieversorgung können wir bedauerlicherweise nach Die bisherigen Kohlekraftwerke haben im Rahmen der 20 Jahren EEG-Förderung immer noch nicht feststellen. Kreislaufwirtschaft auch Aufgaben der Abfallentsorgung erledigt und dabei noch thermische sowie energetische Es bleibt nur zu hoffen, dass mit der anstehenden EEG- Nutzung gewährleistet, zum Beispiel durch Verbrennung Novelle klare Anforderungen an die zukünftige Unter- von Restmüll, Klärschlämmen usw. Dies sind keine uner- stützung gestellt werden, damit die erneuerbaren Ener- heblichen Mengen. Sie dürften in Zukunft sicher nicht gien endlich einen zuverlässigen Teil unserer Versorgung weniger werden. Mit der Schließung der Kohlekraftwer- absichern. ke werden aber keine Alternativen für die Entsorgung derartiger Reststoffe angeboten. Wie es überhaupt auch Katharina Landgraf (CDU/CSU): Ich stimme dem keine Erwähnung einer stofflichen Verwertung von Koh- Gesetz zu, um die dort enthaltenen vielen wichtigen und le als Brücke hin zu einer funktionierenden Recycling- guten Regelungen zu unterstützen. wirtschaft gibt. Das ist unverantwortlich, da die Gefahr des Exportes dieses Abfalls besteht, der dann gegebenen- Zusätzlich erwarte ich aber, dass in absehbarer Zeit falls nicht ökologisch vertretbar entsorgt bzw. vernichtet nachhaltige, einvernehmliche Lösungen für die Mittel- oder in den Weltmeeren verklappt wird. Auch diesbezüg- deutsche Braunkohlengesellschaft mbH (MIBRAG) und lich fehlen also die oben genannten Folgen- und Risiko-/ ihre Mitarbeiter erarbeitet werden. Gefahrenabschätzungen bzw. Vorsorgekonzepte. Dr. Saskia Ludwig (CDU/CSU): Die Wahrscheinlich- Die Folgen für die Strompreise gegenüber den Ver- keit eines Blackouts ist bei einer angestrebten ausschließ- brauchern, der Wirtschaft oder bezüglich der Steuerzu- lichen Versorgung mit erneuerbaren Energien durchaus schüsse/Subventionen auf den Bundeshaushalt bleiben realistisch. Das Gesetz beinhaltet aber keine Blackout- ebenfalls unerwähnt. Strategie. Um einen flachendeckenden Stromausfall in- Wir als Union haben immer gesagt, dass wir für unser folge von Unterversorgung abzufangen, ist diese aber Land und seine Bürger für eine versorgungssichere, be- notwendig. 21510 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Zusätzlich erläutert das Gesetz keine Strategie, wie die die Ausweisung neuer Eignungsflächen, zum Beispiel (C) grundsätzliche Energieversorgung ohne Kohle- und letzt- für die Windenergie, beklagt bzw. verhindert werden. lich ohne Atomenergie gewährleistet sein soll. So werden Das Risiko bei einer nicht erfolgreichen Umstrukturie- in kürzester Zeit über 50 Prozent unseres Energiemixes rung liegt dann bei der Politik. entfallen, ohne vernünftige Ersatzlösungen zu bieten. Be- reits jetzt ist in den Medien von Aluminiumhütten zu Ich bin weiterhin der Ansicht, dass der vorzeitige Aus- lesen, welche den Betrieb zu Zeiten der Spitzenlast he- stieg aus der Stromgewinnung aus Kohle unverhältnis- runterfahren müssen. mäßige Risiken birgt. So fehlt in diesem Gesetz eine Blackout-Strategie, mit der ein flächendeckender Strom- Die bisherigen Kohlekraftwerke hatten im Rahmen der ausfall infolge von Unterversorgung bei ausschließlicher Abfallentsorgung die Aufgabe, Restmüll durch Verbren- Versorgung mit erneuerbaren Energien aufgefangen wer- nung zu entsorgen. Da das keine unerheblichen Mengen den könnte. sind, kann es nicht sein, das mit Schließung der Werke keine Alternativen angeboten werden. Das ist unverant- Absehbar sind auch Probleme im Rahmen der Abfall- wortlich, da die Gefahr des „Exportes“ dieses Abfalls entsorgung durch Restmüllverbrennung. Zur Entsorgung besteht, der dann gegebenenfalls nicht ökologisch ver- der täglich anfallenden großen Restmüllmengen bietet tretbar entsorgt bzw. vernichtet wird. das Gesetz keinerlei Alternativen an. Dies ist unverant- wortlich, da die Gefahr besteht, dass unser Müll in großen Aus genannten Gründen werde ich bei der Abstim- Mengen nicht ökologisch vertretbar entsorgt bzw. ver- mung im Anschluss an die zweite/dritte Lesung des Koh- nichtet wird. leausstiegsgesetzes mit Nein votieren. Hinzu kommt, dass ich die demokratische Legitima- tion der durch die Bundesregierung berufenen Kommis- Sylvia Pantel (CDU/CSU): Ich werde bei der Abstim- sion für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung mung über das Gesetz zur Reduzierung und zur Beendi- anzweifele, deren Arbeitsergebnisse maßgeblicher Inhalt gung der Kohleverstromung und zur Änderung weiterer des Kohleausstiegsgesetzes sind. Ich halte das Vorgehen Gesetze (Kohleausstiegsgesetz), Drucksache 19/17342, nicht für ein geordnetes Verfahren der Willensbildung. mit Nein stimmen. Wir alle möchten die Schöpfung bewahren. Das ist für Torsten Schweiger (CDU/CSU): Einen Beschluss uns als Christen ein verantwortlicher Umgang mit dem über den Kohleausstieg ohne gesicherte Erkenntnisse Schöpfungsauftrag. Deshalb setzen wir uns für Klima- über einen gelungenen Strukturwandel in den betroffenen und Umweltschutz ein, wohl wissend, wie wichtig eine Regionen halte ich für falsch. Ein erfolgreicher Struktur- (B) nachhaltige und erfolgreiche Umsetzung ist. Dabei ste- wandel kann nur aus einer starken Wirtschaftskraft he- (D) hen der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit des Industrie- raus gelingen und dauert im Hinblick auf Planungs- und standortes Deutschland und der Schutz des Klimas nicht Genehmigungsverfahren mindestens 20 Jahre. Vor in unvermeidbarem Widerspruch. Die derzeitigen Pläne 30 Jahren musste das Mitteldeutsche Revier bereits ein- der Kohlekraftwerke und die festgelegten Ziele im Pari- mal einen solchen Strukturbruch überwinden, verbunden ser Klimaabkommen, die CO2-Emissionen bis 2050 um mit den Brüchen in den Erwerbsbiografien der Men- 80 Prozent zu reduzieren, sind erreichbar. schen.

Der Rückgang der CO2-Emissionen ist durch den EU- Gemäß den Empfehlungen der Kommission „Wachs- Emissionshandel fest programmiert. Ein nationaler Al- tum, Strukturwandel und Beschäftigung“ sollten einver- leingang würde die ohnehin hohen Strompreise weiter nehmliche Vereinbarungen mit den betroffenen Braun- in die Höhe treiben, die Versorgungssicherheit gefährden kohleunternehmen gefunden werden. Im Gegensatz zu und die Importabhängigkeit erhöhen. Dabei würden wir den anderen Revieren ist bisher keine solche einvernehm- in Deutschland kein zusätzliches CO2 in Europa einspa- liche Lösung mit dem Mitteldeutschen Revier abge- ren, jedoch die internationale Wettbewerbsfähigkeit un- schlossen worden. Besonderheit dort ist der systemische serer Industrie aufs Spiel setzen. Deshalb sollte die Ein- Verbund zwischen Tagebauen und Kraftwerken, dem im haltung der internationalen und europäischen Gesetzentwurf nicht in ausreichender Weise Rechnung Klimaschutzziele mit technologieneutralen, marktwirt- getragen wird. Diese wechselseitige Abhängigkeit führt schaftlichen und europäisch ausgerichteten Instrumenten zu einer Ungleichbehandlung der Beschäftigten der statt mit erheblichen staatlichen Eingriffen und Kosten Braunkohleunternehmen im Mitteldeutschen Revier. vorangetrieben werden. Wenn dort ein Kraftwerk stillgelegt wird, führt dies zwangsweise zu einer Stilllegung der dazugehörigen Ta- Wir wollen 2038 für sehr viel Geld aus der Kohlever- gebaue ohne damit verbundene Sicherheitszusagen an die stromung aussteigen, obwohl wir wissen, dass die Ge- Beschäftigten. nehmigungen sowieso nur bis 2043 laufen. Wir steigen damit aus der Erzeugung aus und erhöhen unsere Abhän- Im Hinblick auf Erhalt der Versorgungssicherheit mit gigkeit; denn wir beziehen nach wie vor oder noch mehr Strom und der zu erwartenden Erhöhung der Strompreise Kohlestrom aus Polen, Kernenergie aus Frankreich, Gas halte ich einen Ausstieg aus der Kohleverstromung zum aus Russland und LNG aus den USA (Fracking). Der gegenwärtigen Zeitpunkt für problematisch. Wettbe- weitere Ausbau der regenerativen Energien führt nicht werbsnachteile für energieintensive Unternehmen und nur zu weiteren Erhöhungen der Strompreise, sondern Strompreissteigerungen für den Endverbraucher sind zu stößt vermehrt an Grenzen der Akzeptanz, weil nicht erwarten. Darüber hinaus sind die vielfältigen Probleme nur der dafür notwendige Leitungsbau, sondern auch im Zusammenhang mit den mangelnden Speichermög- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020 21511

(A) lichkeiten für Ökostrom, dem Verlauf der Stromtrassen treten, um einen breit zustimmungsfähigen Kompromiss (C) und dem Ausbau der Windenergie bisher nicht gelöst. zu erreichen. Insbesondere die ostdeutschen Gemeinden sind von den Braunkohlekraftwerken in der Fernwärmeversorgung ab- Ich bin überzeugt, dass der Gesetzentwurf von FDP, hängig. Im Gesetzentwurf ist für mich kein Förderszena- Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke und das von rio erkennbar, welches die Stromversorgung nach Ab- CDU/CSU präferierte Modell nahe genug beieinander- schalten der Kohlekraftwerke in ausreichender Menge liegen, um auf dieser Grundlage einen sachgerechten zu bezahlbaren Preisen sichert. und fairen Interessenausgleich zwischen den unterschied- lichen Zielsetzungen und Anforderungen an das Wahl- Aus den vorgenannten Gründen werde ich dem Koh- recht im Geiste des Grundgesetzes bereits für 2021 er- leausstiegsgesetz nicht zustimmen. reichen zu können. Alle Parteien sind gefordert, kleinliche Egoismen zu- rückzustellen und einen fairen und tragbaren Kompro- Anlage 5 miss jetzt entschlossen umzusetzen. Daher lehne ich den Antrag der Fraktionen FDP, Die Erklärung nach § 31 GO Linke und Bündnis 90/Die Grünen, sofort in die zweite des Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt (BÜND- Lesung ihres Gesetzentwurfs zur Änderung des Bundes- NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Ab- wahlgesetzes einzutreten ab, um Raum für eine partei- stimmung über den Änderungsantrag zu dem von übergreifende Lösung zu lassen. der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ich würde es außerordentlich bedauern, sollte es nicht Gesetzes zur Reduzierung und zur Beendigung der zu einer kurzfristigen Verständigung zwischen den Frak- Kohleverstromung und zur Änderung weiterer Ge- tionen des Deutschen Bundestages in dieser Frage kom- setze (Kohleausstiegsgesetz) men. (Tagesordnungspunkt 22 b) Als frei gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundes- Ich habe versehentlich mit Nein gestimmt. Mein Vo- tages sind wir in dieser zentralen Frage in besonderer tum lautet Ja. Weise gefordert, unsere ganz persönliche Verantwortung im Sinne des Verfassungsauftrags des Artikels 38 GG nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen.

(B) Anlage 6 (D)

Erklärung nach § 31 GO Anlage 7 des Abgeordneten Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) zu der namentlichen Abstimmung über den Antrag Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung gemäß § 80 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu Der Bundesrat hat in seiner 991. Sitzung am 29. Juni dem von den Fraktionen FDP, DIE LINKE und 2020 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz zuzustim- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- men: wurf eines … Gesetzes zur Änderung des Bundes- wahlgesetzes – Zweites Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfs- maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Zusatzpunkt 39) (Zweites Corona-Steuerhilfegesetz) Es ist nach meiner Auffassung von sehr grund- sätzlicher Bedeutung für die Glaubwürdigkeit und Hand- Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung lungsfähigkeit unserer parlamentarischen Demokratie, gefasst: dass der Deutsche Bundestag eine geeignete Reform Der Bundesrat begrüßt, dass die Bundesregierung zu- des Wahlrechts bereits zur Bundestagswahl 2021 auf gesagt hat, den Ländern und Gemeinden sämtliche den Weg bringt. ihnen aus der Umsatzsteuersenkung zwischen dem Neben einer festen Obergrenze für die Gesamtzahl der 1. Juli 2020 und dem 31. Dezember 2020 resultier- Mandate und einer deutlichen Vereinfachung des Zutei- enden Steuerausfälle zu erstatten. Das vorliegende lungsverfahrens für Ausgleichsmandate wird dieser auch Gesetz trifft eine Regelung nur für den Teil der Steuer- eine maßvolle Reduzierung der Zahl der Wahlkreise ausfälle, der bereits 2020 kassenwirksam wird. Der umfassen müssen. Dies ist einer Regelung zur Nichtzu- Ausgleich für die erst im Jahr 2021 kassenwirksam teilung von gewonnenen Wahlkreismandaten deutlich werdenden Steuerausfälle ist im Finanzausgleichsge- vorzuziehen, die für uns aus grundsätzlichen und verfas- setz so zu regeln, dass die Kompensation im Jahr 2021 sungsrechtlichen Erwägungen in keinem Fall akzeptabel erfolgt. wäre. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie Als Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von haben wir unsere Fraktionsführung beauftragt, mit den einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen anderen Fraktionen sehr kurzfristig in Gespräche einzu- absehen: 21512 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 171. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2020

(A) Haushaltsausschuss Drucksache 19/14502 Nr. A.2 (C) Ratsdokument 12382/19 – Unterrichtung durch die Delegation des Deutschen Bundestages in der Interparlamentarischen Konferenz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 19/19077 Nr. A.12 über Stabilität, wirtschaftspolitische Koordinierung Ratsdokument 7195/20 und Steuerung in der Europäischen Union Drucksache 19/19658 Nr. A.5 ERH 11/2020 Vierzehnte Tagung der Konferenz im Rahmen der Drucksache 19/19658 Nr. A.6 Europäischen Woche am 18. und 19. Februar 2020 Ratsdokument 7549/20 in Brüssel Drucksache 19/19658 Nr. A.7 Ratsdokument 7551/20 Drucksachen 19/19305, 19/20213 Nr. 1.2 Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 19/20243 Nr. A.17 Ratsdokument 8275/20 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 19/20243 Nr. A.18 Ratsdokument 8394/20 Bericht der Bundesregierung zum Dritten Gesetz Drucksache 19/20243 Nr. A.19 zur Änderung des Telemediengesetzes Ratsdokument 8400/20

Drucksachen 19/14881, 19/15241 Nr. 2 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 19/18343 Nr. A.9 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ERH 6/2020

Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 19/1780 Nr. A.33 Bericht über das Ergebnis der Vorplanung und der EP P8_TA-PROV(2018)0069 frühen Öffentlichkeitsbeteiligung zum Projekt Drucksache 19/2233 Nr. A.34 Wallauer Spange EP P8_TA-PROV(2018)0184 Drucksache 19/4344 Nr. A.47 Teilmaßnahme des Korridor Mittelrhein: Ziel- Ratsdokument 11169/18 netz I (umfasst unter anderem NBS/ABS Mann- Drucksache 19/4978 Nr. A.20 EP P8_TA-PROV(2018)0340 heim – Karlsruhe, NBS Frankfurt – Mannheim, Drucksache 19/5999 Nr. A.17 ABS Köln/Hagen – Siegen – Hanau) Ratsdokument WK13915/18 INIT Drucksache 19/5999 Nr. A.22 Drucksachen 19/18610, 19/18779 Nr. 1.15 Ratsdokument 14272/18 Drucksache 19/6537 Nr. A.11 Unterrichtung durch die Bundesregierung EP P8_TA-PROV(2018)0456 (B) Drucksache 19/6537 Nr. A.12 (D) Bericht über die Märkte für Wartungseinrichtun- Ratsdokument XT21101/18 gen für Eisenbahnen Drucksache 19/6537 Nr. A.13 Ratsdokument XT21102/18 Drucksachen 19/19100, 19/19655 Nr. 1 Drucksache 19/13202 Nr. A.38 EU-Dok 255/2019 DE Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Si- Drucksache 19/13655 Nr. A.8 cherheit Ratsdokument 11816/19 Drucksache 19/14502 Nr. A.6 – Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Ratsdokument XT21052/19 Drucksache 19/14502 Nr. A.7 Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Aus- Ratsdokument XT21105/3/18 REV 3 schuss) gemäß § 56a der Geschäftsordnung Drucksache 19/15590 Nr. A.18 EP P9_TA-PROV(2019)0050 Technikfolgenabschätzung (TA) Drucksache 19/16956 Nr. A.13 EP P9_TA-PROV(2019)0103 Arzneimittelrückstände in Trinkwasser und Ge- Drucksache 19/17195 Nr. A.14 wässern EP P9_TA-PROV(2020)0006 Drucksache 19/17195 Nr. A.15 Drucksache 19/16430 EP P9_TA-PROV(2020)0014 Drucksache 19/17676 Nr. A.11 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben EP P9_TA-PROV(2020)0033 mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unio- Drucksache 19/19077 Nr. A.20 nsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Ratsdokument 7161/20 Beratung abgesehen hat. Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 19/14239 Nr. A.15 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz EP P9_TA-PROV(2019)0021 Drucksache 19/1252 Nr. C.20 Drucksache 19/15590 Nr. A.19 Ratsdokument 14875/16 Ratsdokument 13914/19

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