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Deep Dive – Precycling und Zero Katharina Klug, Professorin für Marketing an der AMD Akademie zu Precycling als post- modernem Konsum- und Lebensstil im Kontext von und

Ohne Müll durchs Leben: Wie der Zero Waste- Gedanke die Konsumwelt verändert

Über Müll nachdenken, bevor er entsteht

Unsere Gesellschaft hat ein massives Müllproblem: Nahrungsmittelabfälle und ausrangierte oder defekte Produkte sowie Verpackungsmaterialien werden sich bis zum Jahr 2025 auf mehr als 6 Millionen Tonnen belaufen. Damit werden sie sich – im Vergleich zum Jahr 2010 (3,5 Millionen Tonnen) – mengenmäßig nahezu verdoppelt haben (Hoornweg et al., 2013). Beispielsweise verursacht ein: einzelne:r Verbraucher:in in den USA täglich zwei Kilogramm Plastikmüll (Leahy, 2018). Der/die Durchschnittsdeutsche wirft pro Jahr etwa 85 kg Nahrungsmittel weg. Etwa ein Drittel davon wäre vermeidbar (ReFoWas 2019). Während Regierungen auf nationaler und internationaler Ebene im Top-down-Prinzip Verordnungen zur Reduktion von Plastik erlassen, entwickeln sich auf Verbraucherebene post-moderne Konsumstile, die einen verantwortungsvollen und langfristig orientierten (nachhaltigeren) Umgang mit Gütern zeigen. Unter diesen Konsumstilen tritt das sogenannte Precycling in den Vordergrund, das eine konsequente Müllvermeidung propagiert. Precycler treffen ihre Konsumentscheidungen danach, inwieweit dadurch Abfall entsteht: Sie denken über (Verpackungs-)Müll nach, bevor er entsteht. Precycler favorisieren unverpackte Produkte oder verweigern den Kauf extensiv verpackter Güter. Beispielsweise erledigen sie ihren Lebensmitteleinkauf bevorzugt in Unverpacktläden, in Hofläden oder auf Wochenmärkten. Zum Verpacken der Produkte bringen sie ihre eigenen Gefäße und Behälter mit. Auf diese Weise tragen Precycler zur Zielsetzung der Müllvermeidung bei, die im Konzept der Circular Economy derzeit zunehmend Gehör findet. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft reicht zurück bis in die 1960er Jahre, als Kenneth Boulding es als langfristig-orientierten Ansatz beschreibt, der ökonomisches Wachstum, Nachhaltigkeit und Zero Waste verfolgt (Greyson, 2007). 1988 verwendete die Marketingexpertin Maureen O'Rorke erstmals den griffigen Precycling-Begriff, um mehr mediale Aufmerksamkeit des Kreislauf-Ansatzes mit Blick auf dessen Zero Waste- Zielsetzung zu erreichen. Demnach ist Zero Waste das übergeordnete Ziel und Precycling die konkrete Lebensführung, um dieses Ziel zu erreichen. Precyclern geht es um das Vermeiden von Müll; ihn also gar nicht erst entstehen zu lassen, anstatt ihn später (nachhaltig) aufzuarbeiten.

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Precycling als post-moderner Lebens- und Konsumstil

Precycling gilt als nachhaltiger, post-moderner Lebens- und Konsumstil, der die Art zu konsumieren beeinflusst und durch spezifische Charakteristika erkennbar wird (Klug 2018, S. 59 ff.). Dazu zählen die aktive Demonstration nachhaltiger Verhaltensweisen, ein hochgradig reflektiertes Kaufverhalten sowie ein achtsamer Umgang mit Ressourcen zur konsequenten Müllvermeidung im Sinne des Zero Waste. Während Zero Waste – die gänzliche Vermeidung von Müll – als eher theoretisch und kaum umsetzbar im täglichen Leben gilt, ist Precycling für Verbraucher:innen ein praktikabler Weg, um eine nachhaltige Konsumpraxis zu unterstützen. Precycler sind auf Müllvermeidung bedacht und reflektieren ihren Konsum, indem sie all das zurückweisen, was sie nicht unbedingt brauchen (z.B. Verpackungsmaterial). Indem sie insgesamt das reduzieren, was sie brauchen (z.B. sparsam konsumieren) und wiederverwerten, was mehrfach verwendbar ist (z.B. Verzicht auf Einweg-Produkte). Übergeordnetes Ziel ist der möglichst rückstandlose Konsum (Zero Waste). Zero Waste ist eng verbunden mit Konzepten wie , der Wieder- /Weiterverwertung gebrauchter Produkte, und , der Kreation neuer Produkte aus recycelten Materialien. Für Recycler und Upcycler ist der Umgang mit Müll eine Konsequenz nach dem Konsumieren. Sie verlängern beispielsweise den Lebenszyklus eines Produktes. Im Gegensatz zu Recyclern und Upcyclern, agieren Precycler bevor sie eine (Kauf-) Entscheidung treffen, indem sie die langfristigen Konsequenzen ihres Konsums berücksichtigen und möglichst rückstandslos handeln. Anders ausgedrückt: Precycler denken über ihren Müll nach, bevor sie ihn verursachen, Recycler und Upcycler denken erst über ihren Abfall nach, wenn sie ihn in den Mülleimer werfen. Mit Blick auf die Circular Economy mit dem übergeordneten Ziel des Zero Waste entfaltet Müllvermeidung eine weitaus effektivere Wirkung als eine Müllreduktion. Deshalb lässt sich Precycling im Vergleich zu Recycling und Upcycling durchaus als ambitionierter einstufen. Wenngleich den letztgenannten Ansätzen ihre positive Wirkung in der Kreislaufwirtschaft deshalb nicht abgesprochen werden soll.

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Die Charakteristika von Precyclern

Precycling basiert auf dem Prinzip der third generation of humanity (Bartl, 2014; Palmer, 2009). Während sich die erste und zweite Generation auf unverzügliche Bedürfnisbefriedigung durch Konsum bzw. kurzzeitorientierte Ziele (Recycling des entstandenen Mülls) ausgerichtet hat, fokussiert sich die dritte Generation auf die Langzeitperspektive (Müllvermeidung zum Umwelt- und Ressourcenschutz). In dieser dritten, post-modernen Generation agieren Precycler. Sie zielen mit systematischer Müllvermeidung auf nachhaltige Nutzung und Schutz verfügbarer Ressourcen ab und sind auf Langfristigkeit und Langlebigkeit ausgerichtet. Umweltorientierung sowie Sparsamkeit sind hierbei zentral, um das eigene (Konsum-) Leben verantwortungsvoll zu gestalten. Denn Umweltbewusstsein und Langzeit-/Zukunftsorientierung erfordern den sparsamen Umgang mit knappen Ressourcen. Dazu zählen Precycler sowohl den Umgang mit Energie und Rohstoffen als auch mit den eigenen verfügbaren Finanzmitteln. Sparsamkeit ist dabei die Eigenschaft einer Person, wie auch die Konsumzurückhaltung und einfallsreicher Umgang mit Gütern, um langfristige Ziele zu erreichen. Ebenso wie sparsame Verbraucher:innen tendieren Precycler dazu, verfügbare Ressourcen immer wieder zu verwenden und die Menge der „notwendigen“ Dinge im täglichen Leben auf das Wesentliche zu reduzieren. Precycling erfordert eine kontextbezogene Reflexion über eine bevorstehende (Kauf-) Entscheidung. Daher agieren Precycler äußerst aufmerksam und achtsam in ihrem Konsumverhalten. Diese Achtsamkeit ist das Gegenteil von impulsiven, fremdgesteuerten Entscheidungen zur kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung. Reflexion und Nachdenken über die eigene Konsumentscheidung erfordert Zeit. Daher sind Precycler nicht selten auf bewusst entschleunigte Lebens- und Konsummomente bedacht, was die Minimierung von Müll, den Verzicht auf Konsum sowie die konsequente Mehrweg-/Mehrfachnutzung von Produkten beinhaltet (Lubowiecki-Vikuk et al., 2021, S. 97). Ebenso wie Slow Life Seeker als Anhänger:innen eines entschleunigten Lebens, entscheiden Precycler deshalb sehr bewusst und bedenken die Konsequenzen ihres Konsums. Sie sind in der Lage, achtsam einen nachhaltigen Konsum in ihr Leben zu integrieren, indem sie möglichst rückstandslos konsumieren. In letzter Instanz ist Precycling mit Konsumzurückhaltung assoziiert, dem vielzitierten Minimalismus. Motive hierfür liegen in einer geringen Orientierung an materiellem Besitz und dem Wunsch nach Unabhängigkeit (Hüttel et al., 2020). Kurzum, Precycler verzichten auf Materielles wie überflüssiges (Verpackungs-)Material, um ihre eigenen Besitztümer zu „entrümpeln“ und sich freier und unabhängig bewegen zu können. Das individuelle Wohlbefinden erscheint Precyclern als erstrebenswertes Ziel dann erreichbar, wenn sie insgesamt weniger konsumieren, weniger besitzen und sich damit weniger abhängig und fremdbestimmt fühlen.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten: zentrale Ankerpunkte des Precycling- bzw. Zero Waste-Gedanken sind Verantwortungsbewusstsein, ein reflektierter und achtsamer Umgang mit sich selbst und verfügbaren Ressourcen sowie der bewusste (Konsum-)Verzicht.

Für Unternehmen, oder auch zum Selbst-Check, liegt die Herausforderung darin, das Precyclingverhalten praktikabel und valide erfassen zu können. Für die unkomplizierte Identifikation von Precyclern schlagen Klug/Niemand (2021) deshalb folgende fünf Fragen vor, deren Zustimmungswerte Auskunft darüber geben, wie stark die befragte Person zum Precycling tendiert bzw. davon abweicht.

Beantworten Sie die Fragen auf einer Skala von „1-trifft überhaupt nicht zu“ bis „7-trifft vollkommen zu“.

Fazit

Seit einigen Dekaden bewerten Wissenschaftler:innen, Manager:innen und Politiker:innen einen nachhaltig(er)en Konsum als entscheidend und höchst relevant für eine moderne Gesellschaft (Lim 2017). Dringender denn je sind wir damit konfrontiert, langfristig orientierte Konsumpraktiken zu etablieren, die Mitverantwortung und kluge Lebensführung vereinen. Dieser Beitrag demonstriert, wie sich der Zero Waste-Ansatz als post-moderner Lebens- und Konsumstil in Form von Precycling dem Ziel der 4 Februar 21

Müllvermeidung ganz praktisch nähern kann. Er führt vor Augen, dass das Müllproblem (besser) lösbar ist, wenn wir Müll gar nicht erst entstehen lassen. Während ein NULL Müll-Ansatz in der Kreislaufwirtschaft nach Utopie und wenig alltagstauglich klingt, repräsentiert Precycling ein nachhaltiges Konsumverhalten, das ganz praktisch zu WENIGER Müll beitragen kann. Bevor wir also vor utopischen Zielen resignieren, fangen wir doch einfach an – Jetzt! Es ist dabei entscheidend, dass sich jede:r Einzelne bewusst macht, welchen (kleinen) Teil er/sie beitragen kann. Denn wenn alle ein bisschen tun, ist das schon eine Menge!

Literatur

Bartl, A. (2014): Moving from recycling to waste prevention: A review of barriers and enables. & Research, 32(9), 3-18, https://doi.org/10.1177/0734242X14541986.

Greyson, J. (2007): An economic instrument for zero waste, economic growth and sustainability. Journal of Cleaner Production, 15(13/14), 1382-1390, https://doi.org/10.1016/j.jclepro.2006.07.019.

Hoornweg, D., Bhada-Tata, P., Kennedy, C. (2013): Environment: Waste production must peak this century. Nature, 502(Oct), 615-617, https://doi.org/10.1038/502615a.

Hüttel, A., Balderjahn, I., Hoffmann, S. (2020): Welfare Beyond Consumption: The Benefit of Having Less. Ecologocal Economics 176 (Oct), in press, https://doi.org/10.1016/j.ecolecon.2020.106719.

Klug, K. (2018): Vom Nischentrend zum Lebensstil – Der Einfluss des Lebensgefühls auf das Konsumentenverhalten, Wiesbaden: Springer.

Klug, K.; Niemand, T. (2021): The Lifestyle of Sustainability: Testing a Behavioral Measure of Precycling, Journal of Cleaner Production, forthcoming.

Leahy, S. (2018): How People Make Only a Jar of Trash a Year, National Geographic, https://www.nationalgeographic.com/news/2018/05/zero-waste-families-plastic-culture/ (accessed March 10th 2020).

Lim, W.M. (2017): Inside the sustainable consumption theoretical toolbox: Critical concepts for sustainability, consumption, and marketing. Journal of Business Research, 78(Sep), 69-80, https://doi.org/10.1016/j.jbusres.2017.05.001.

Lubowiecki-Vikuk, A., Dabrowska, A., Mnachnik, A. (2021): Responsible consumer and lifestyle: Sustainable insights. Sustainable Production and Consumption, 25(Jan), 91-101, https://doi.org/10.1016/j.spc.2020.08.007.

Palmer, P. (2009): Zero waste institute. http://zerowasteinstitute.org/ (accessed March 10th 2020).

ReFoWas (2019): News research results on food waste, https://www.f02.uni- stuttgart.de/en/faculty/news/news/ISWA-New-research-results-on-food-waste/ (accessed November 16th 2020).

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Weiterführende Literatur:

Klug, K.; Niemand, T. (2018): The Lifestyle of Precycling: Measuring and Evaluating a new Form of Anti- Consumption, Proceedings of the ICAR-Symposium 2018, Nov 9-10. Almería-Spain, 128-134.

Klug, K. (2018): Precycling: Bevor Müll entsteht. In K. Klug, Vom Nischentrend zum Lebensstil – Der Einfluss des Lebensgefühls auf das Konsumentenverhalten, Wiesbaden: Springer, 59-68.

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