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Werbeseite HAUSMITTEILUNG 1999

or einem Jahr – der Abenteurer war gerade vor Austra- lien notgelandet – wagte der Ballonfahrer Steve Fossett Vin der SPIEGEL-Jahreschronik eine Prognose: Die erste Ballonfahrt um die Welt werde 1999 gelingen. Seine hartnäcki- gen Konkurrenten, der Schweizer Bertrand Piccard und der Brite Brian Jones, schafften es tatsächlich. Mit welchen Äng- sten, Risiken und Hochgefühlen die Piloten durch die eisigen Höhen schwebten, beschreibt Piccard in diesem Heft.

Der Krieg auf dem Balkan war das beherrschende, bewe- gendste Thema des Jahres, und deshalb beginnt die Chronik 1999 mit Berichten und Analysen über das Bombardement auf Serbien und das Vertreibungsdrama im Kosovo. Hans Koschnick, fast zwei Jahre lang EU-Administrator im bosni- des Deutschen Tennis schen Mostar, zieht eine Bilanz des Konflikts und warnt vor Bundes. Die „Talentsich- tung“ attestierte dem Prüfling „noch techni- sche Mängel“. „Beine zu schlampig“, rügten sie,

und weiter: „Vorhand BONGARTS peitscht aus dem Hand- gelenk mit Unterarm“. Becker, Becker-Beurteilung (1976) Immerhin sahen die Gut- achter in Bobele einen Spieler mit Zukunft – „förderungs- würdig, im nächsten Jahr Kontrolle“.

Bonn-Fan und Talkmaster Erich Böhme betrachtet den Re- gierungsumzug nach Berlin mit Skepsis. Böhme war 15 Jahre C. JUNGEBOLDT Koschnick in Mostar lang SPIEGEL-Redakteur in Bonn, bevor er 1973 als SPIE- GEL-Chefredakteur nach Hamburg wechselte. Im Rückblick einer weiteren Zersplitterung der Region. Der Essay wird il- beschwört er, spöttisch und mit lustriert mit einer ungewöhnlichen Fotostrecke: leisen, schein- liebevoller Distanz, noch einmal bar emotionslosen Schwarzweißbildern, die das Grauen von die Freuden der sinnenfrohen, Krieg, Mord und Zerstörung mitunter eindrucksvoller doku- rheinischen Provinz. mentieren als die plakative, vordergründige Farbfotografie. Thomas Brussig, einer der erfolg- Richard von Weizsäcker hat Steffi Grafs Karriere von Anfang reichsten jüngeren deutschen Er- an engagiert verfolgt. Zuletzt, „in Steffis vorgerücktem Al- zähler, hatte Günter Grass 1995 ter“, haben sich Alt- auf der Frankfurter Buchmesse bundespräsident und kennen gelernt. Grass war „sehr Tennis-Queen sogar mit PRESS ACTION freundlich“ und lobte den Brussig- Böhme einem Küsschen be- Roman „Helden wie wir“. In die- grüßt. Steffis Rückzug sem Jahr trafen sich die beiden wieder, als Grass gerade mit aus dem aktiven Tennis dem Nobelpreis geadelt worden war. Jetzt würdigt Brussig nimmt Weizsäcker nun den Kollegen als großes zum Anlass für eine Vorbild und genialen Hommage an die Jahr- „Stehpultschriftsteller“. hundert-Spielerin. Ein anderer prominen- Das letzte Wort im Heft ter Ruheständler, Boris hat ein weltläufiger H. SCHULZE Becker, schreibt, wie Schöngeist: Im SPIE- Graf, Weizsäcker ihm sein Leben als GEL-Gespräch rät Sir Privatier bekommt Peter Ustinov zum Mil- („schrecklich schön“). Er wird in diesem Jahresrückblick ein lenniums-Optimismus. Dokument finden, das ihm selbst womöglich unbekannt ist. Wie er die Wende In einem Heidelberger Restaurant entdeckte die SPIEGEL- begrüßt, hat er exklusiv Leserin Barbara Birzle ein unscheinbares Papier, das eine für die Chronik ge-

Herrenrunde beim Aufbruch vergessen hatte: eine Beurtei- zeichnet – als Badegast K. ROCHOLL / STERN lung des achtjährigen Knaben Boris Becker durch Experten am Golf von Thailand. Schriftsteller Brussig, Grass 3 Werbeseite

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Werbeseite INHALT

HAUSMITTEILUNG ...... 3

BALKAN-KRIEG: Die Nato bombardiert Serbien. Hunderttausende fliehen aus dem Kosovo, und zum ersten Mal seit 1945 ziehen deutsche Soldaten in den Krieg ...... 14

Balkan-Experte Hans Koschnick zieht eine Bilanz des Konflikts und warnt vor einer weiteren Zersplitterung der Region ...... 20 AP JANUAR Flüchtlingstreck im Kosovo WEIMAR: Die Kulturhauptstadt serviert bunte und freche Events – aber auch heimelige Haus- mannskost...... 34

IOC-SKANDAL: Interview mit dem österreichischen Ski-Altmeister Karl Schranz über Korruption und Ignoranz auf dem Funktionärsolymp...... 40

ASTRONOMIE: Neue Raumsonden und Riesen- teleskope bescheren der Menschheit wahre Stern- stunden...... 44

BASKETBALL: Michael Jordan, der erfolgreichste Spieler aller Zeiten, steigt aus...... 50 ESO Außerdem: Euro am Start / Bayern-Regent Stoiber an D. HELMS / TEMPSPORT der Spitze der CSU / Aufstand im Biergarten...... 52 Himmelsaufnahme Basketball-Idol Jordan

FEBRUAR

WINTER-KATASTROPHEN: Extreme Schneefälle lösen mörderische Lawinen aus und bringen Tod und Zerstörung in Alpentäler ...... 56

KURDEN: Nach der Gefangennahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan organisieren seine Anhänger in ganz Europa blutige Krawalle...... 66

NACHRUF: Lea Rabin beklagt den Tod ihres könig- lichen Freundes Hussein von Jordanien ...... 72

HINRICHTUNGEN: Rechtsanwalt Steffen Ufer, Verteidiger der deutschen Brüder LaGrand, über die Unmenschlichkeit der US-Justiz ...... 78

Außerdem: CDU siegt bei der Hessen-Wahl / Clinton REUTERS übersteht Impeachment-Verfahren ...... 88 Gefangener PKK-Chef Öcalan 6 MÄRZ

AUSSTIEG: Mit seinem schroffen Abgang schafft ein frustrierter Oskar Lafontaine seinerseits Frust bei den Genossen und gibt Rätsel auf über seine Motive und Hintergründe...... 92

UNFÄLLE: 51 Menschen sterben bei grauenvollen Feuersbrünsten im Montblanc- und im Tauern- Tunnel ...... 102

EU-KOMMISSARE: Ex-Staatsministerin Hildegard Hamm-Brücher über den blamablen Rücktritt der 20 Brüsseler Spitzenpolitiker und die Affäre Bangemann ...... 106

BALLONFAHRER: In der Gondel um die Welt – der Schweizer Bertrand Piccard über sein größtes Abenteuer ...... 112

Außerdem: Jörg Haiders FPÖ wird stärkste Partei

BONN-SEQUENZ in Kärnten / Nato expandiert gen Osten / Dow Jones Lafontaine im Bundestag erstmals über der 10000-Punkte-Hürde...... 116

APRIL

REICHSTAG: David Binder, langjähriger Deutsch- land-Korrespondent der „New York Times“, über den neuen Geist des alten Hauses und die Zukunftsaussichten Berlins ...... 120

MASSAKER: Zwei Amok laufende Jungen richten in ihrer Schule in Littleton, Colorado, ein Blut- bad an – sie töten zwölf Schulkameraden und einen Lehrer ...... 130

ZUG-ABSTURZ: Schlamperei von Monteuren führt zur Havarie der 99 Jahre unfallfreien Wuppertaler Schwebebahn...... 136

BLUE JEANS: Nach seinem Aufstieg von der soliden Arbeitshose zum milliardenfach verkauften Kult- objekt gerät das gute Stück in die Krise...... 138

JUBILÄUM: 100 Jahre bei Fuß – der Deutsche Schäferhund ...... 144

Außerdem: Mutmaßliche Lockerbie-Attentäter von Libyen ausgeliefert / Neues 630-Mark-Gesetz sorgt

G. A. F. F. G. A. F. für Aufregung / Japanische Magnetschwebebahn Glaskuppel des Berliner Reichstagsgebäudes erreicht Weltrekord mit 552 km/h ...... 146 7 INHALT

MAI

FUSSBALL: Trainer Giovanni Trapattoni über das Champions-League-Finale in und die bitterste Niederlage des FC Bayern...... 148 DIE GRÜNEN: Auf dem Bielefelder Parteitag prallen die Zwänge des Regierenmüssens auf die reine Lust am guten Gewissen...... 156

MOUNT EVEREST: War vor Hillary schon einer K.-B. KARWASZ auf dem höchsten Berg der Erde?...... 167 Farbbeutel-Opfer Fischer TORNADOS: Wirbelstürme mit Spitzen von 500 km/h richten in Oklahoma und Kansas schwere Verwüstungen an ...... 168 MALEREI: Leonardos „Letztes Abendmahl“ in Mailand ist nach mehr als 20 Jahren Restauration wieder umwerfend schön anzusehen...... 172 AKROBATIK: Knievel Jr. erfüllt sich den Wunsch seines Vaters Evel und springt mit dem Motorrad über den Grand Canyon...... 178 Außerdem: Neues deutsches Staatsbürgerschafts- F. VANDEVILLE F. recht in Kraft / Machtwechsel in Israel / Beate WITTERS W. Uhse geht an die Börse...... 180 Bayern-Spieler Effenberg Restauratorin Brambilla

JUNI

GIFT-SKANDAL: Dioxinverseuchte Nahrung aus Belgien erregt ganz Europa...... 182 HOLOCAUST-MAHNMAL: Der israelische Schriftsteller Amos Oz hält den Eisenman- Entwurf für untauglich...... 186 TENNIS: Die Jahrhundert-Sportler Steffi Graf und Boris Becker treten ab...... 190 Boris Becker über seine neue Freiheit ...... 193 Was Altbundespräsident Richard von Weizsäcker an Steffi Graf fasziniert...... 195 RUHESTAND: Das afrikanische Freiheitsidol Nelson Mandela zieht sich zurück ...... 198 LANDSCHAFT: Augenschmaus Raps ist von Subventionskürzungen bedroht...... 200

Außerdem: G-8-Runde tagt in Köln / Sir Simon S. SIMON Rattle zu den Berliner Philharmonikern...... 202 Tenniscrack Becker (1988) 8 JULI

UMZUG: Aus Anlass des Hauptstadtwechsels nach Berlin wirft Ex-SPIEGEL-Chefredakteur Erich Böhme einen nostalgischen Blick zurück nach Bonn...... 204 US-GESELLSCHAFT: Der Schriftsteller John Updike über die Trauer der Amerikaner nach dem tragischen Unfall von John F. Kennedy Jr...... 214 Schumacher-Crash in Silverstone MOTORSPORT: Eine Reihe spektakulärer Unfälle in Silverstone und Le Mans sorgt für Aufregung und Verwirrung bei Ferrari und Mercedes...... 220

MALLORCA: Unter schwerem Leidensdruck durch immer noch anschwellende Ströme von Billigtouristen sinnen die Inselbewohner auf Abschreckungsmaßnahmen...... 222 Außerdem: Studenten rebellieren gegen das Regime der Mullahs in Iran / Johannes Rau als achter Bundespräsident vereidigt / Die

ADC DIFFUSION/SIPA PRESS ADC DIFFUSION/SIPA Abtreibungspille „Mifegyne“ wird auch in Ehepaar Kennedy Deutschland zugelassen...... 226

AUGUST

SONNENFINSTERNIS: Das fiebrig herbei- gesehnte Totalereignis fällt in Deutschland weitgehend ins Wasser ...... 228 NATURKATASTROPHEN: Zwei schwere Erdbeben nacheinander fordern in der Türkei fast 18000 Todesopfer und hinterlassen ein Gefühl permanenter Bedrohung ...... 232 GOETHE: Zum 250. Geburtstag des Kultur- Genies wird allerorts viel geredet, gefeiert, geschrieben und ausgegraben...... 236 FILM: George Lucas landet mit dem vierten „Star Wars“-Spektakel einen neuen Hit aus der Computer-Trickkiste ...... 240 Außerdem: Neue Rechtschreibung setzt sich durch / Spannungen im indisch-pakistanischen

BECKER/BREDEL Dauerkonflikt / Gelbfieber-Todesfall löst Totale Sonnenfinsternis Hysterie aus ...... 242 9 INHALT

SEPTEMBER

LITERATUR-NOBELPREIS: Der Erfolgs- Schriftsteller Thomas Brussig über die erdrückende literarische Potenz des Preisträgers Günter Grass ...... 244

ABTREIBUNG: Die deutschen Bischöfe gehen vor Papst Johannes Paul II. in die Knie und geloben den Rückzug der katholischen Kirche aus der gesetzlichen Schwangerenberatung ...... 248

ATOM-UNFALL: Eine Kette menschlicher Fehlleistungen in der japanischen Nu-

klearanlage Tokaimura löst ein Strahlen- AFP desaster aus ...... 250 Papst Johannes Paul II. AFFÄREN: Der CSU-Politiker Peter Gauweiler über Edmund Stoibers Um- gang mit seinem Justizminister Alfred Sauter und den alten bayerischen Brauch des Haberfeldtreibens ...... 254

Außerdem: Massaker in Osttimor nach MASTER/AGENTUR FOCUS MASTER/AGENTUR Unabhängigkeitsvotum / Stromriesen GAMMA fusionieren ...... 258 Grass Rettungskräfte in Tokaimura

OKTOBER

TSCHETSCHENIEN: Mit brutaler Mili- tärgewalt walzt Moskau zum zweiten Mal die Kaukasusrepublik nieder...... 260

BUNDESKANZLER: Rudolf Augstein über Gerhard Schröders erstes Jahr und die rot-grüne Zukunft...... 266

BEVÖLKERUNG: Der sechsmilliardste Erdenbürger erblickt im bosnischen Sarajevo das Licht der Welt...... 270

RELIQUIEN: Unter gewaltigem Andrang versteigert Christie’s in New York den Nachlass der Marilyn Monroe...... 276

Außerdem: Rätselhafter Absturz einer

EgyptAir-Maschine / Medizin-Nobelpreis DPA für Deutschamerikaner Blobel ...... 280 Außenminister Fischer, Kanzler Schröder 10 NOVEMBER

AFFÄREN: Der Satiriker Matthias Beltz über die kabarettreife Schnäppchenjagd des niedersächsischen Regierungschefs Gerhard Glogowski...... 282 ARCHÄOLOGIE: Sensationeller Fund einer von Grabräubern unentdeckten STUDIO X Mumien-Goldmaske Bestattungsanlage mit vermutlich 10000 Mumien in Ägypten ...... 288 MAUERFALL: Zum zehnten Jahrestag des Jahrhundert-Ereignisses will trotz hochrangigen Besuchs so recht keine Jubelstimmung aufkommen ...... 294 HUMANGENETIK: Mit Chromosom 22 ist das erste von 23 Genpaketen des menschlichen Erbmaterials so gut wie entziffert...... 296 Außerdem: Krenz muss sitzen / Macht- BOENING/ZENIT L. WILLATT/SCIENCE PHOTO LIBRARY PHOTO L. WILLATT/SCIENCE kampf um Mannesmann / Kanzler rettet Feuerwerk zum Jahrestag des Mauerfalls Menschliche Chromosomen Baukonzern ...... 298

DEZEMBER

POLIT-SKANDAL: Mit seinem Einge- ständnis der „schwarzen Kassen“ holt sich Helmut Kohl vom Sockel...... 300 ZWANGSARBEITER: Das quälende Ringen um Entschädigung für Arbeits- sklaven in Nazi-Deutschland...... 305 UMWELT: Die Naturschützerin Julia Hill kämpft zwei Jahre gegen die Holzindu- strie – auf einem Mammut-Baum...... 308 Interview mit Julia Hill...... 311 HUMOR: Sir Peter Ustinov nimmt das Millennium auf die leichte Schulter und blickt froh ins Jahr 2000...... 320 IMPRESSUM...... 312 GESTORBEN 1999 ...... 314 Außerdem: Euro unter einem Dollar /

R. PFEIL/AP Organklau an Kinderkliniken / Massen- Ex-Kanzler Kohl, Parteifreund Schäuble panik in Skistadion...... 318 11 Werbeseite

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Werbeseite 1999 DPA Brennende Chemiefabrik in Pancevo bei Belgrad nach Bombenangriff, vertriebene Kosovo-Albanerin

14 KRIEG

Mord und Vertreibung im Kosovo – erstmals seit 1945 rücken wieder deutsche Soldaten zum Kriegseinsatz aus. Nach schweren Bombarde- ments siegt die hoch gerüstete Westallianz, aber der Krieg ist noch nicht gewonnen. N. SOLIC/REUTERS

15 ir müssen siegen“, forderte wenn dadurch die Nato-Allianz plat- US-Präsident Bill Clintons zen und eine politische Eiszeit in Mos- WSicherheitsberater Sandy kau und Peking ausbrechen sollte. Berger am 77. Tag des Nato-Kriegs ge- Keine 24 Stunden später war die gen Jugoslawien. Und die versammel- Schlacht gewonnen. Völlig überra- ten Spitzenpolitiker wussten genau, schend akzeptierte Slobodan Milo- was Washingtons Chefstratege meinte: ∆eviƒ am 9. Juni die Kapitulationsfor- Notfalls müsse Amerika den Balkan- derungen der Nato. Nur der Kriegs- Despoten allein niederringen, selbst herr in Belgrad könnte erklären, was

Waffen, Bomber auf dem Flugdeck des F. WEBB/KATZ PICTURES F. Serbische Soldaten beim Abzug aus dem Kosovo 16 1999

noch kurz bevor die ersten Kampf- flugzeuge am 24. März zum Feindflug abgehoben hatten. Aber noch elf Wochen später war die internationale Armada von bis zu 1500 Flugzeugen, darunter 14 „Tornados“ der Bundeswehr, rund um die Uhr im Einsatz. Sie hob ab von Flugzeugträ- gern im Mittelmeer, von Luftstütz- punkten zwischen Brügge in Westfa- len und dem türkischen Incirlik. Sogar in ihren Heimatbasen starteten ame- rikanische Interkontinentalbomber mit ihrer todbringenden Fracht zum 14-stündigen Nonstopflug gegen ser- bische Ziele. Weit über 37000 Starts und Landungen zählten die Alliierten. Mehr als 10000 Tonnen Bomben war- fen sie insgesamt auf jugoslawische Flugabwehrbatterien, Führungszen- tren, Fabriken und Brücken. Kein ein- ziger Nato-Soldat kam im Kampfein- satz ums Leben. Doch bis zum 9. Juni zeigte Belgrad keine Anzeichen von Schwäche. Milo- ∆eviƒs Kalkulation, die westliche Al- lianz werde einen Krieg politisch nicht lange durchstehen können, schien auf- zugehen. Denn kaum etwas lief so, wie von der Nato geplant. Zunächst hatte der Westen Gewalt angedroht, um Belgrads Unterschrift

M. RIBEIRO/REUTERS unter das Rambouillet-Autonomie- US-Flugzeugträgers „Theodore Roosevelt“, Flüchtlingslager in Mazedonien abkommen für das Kosovo zu erzwin- gen. Unter den ersten Bomben zer- sprang dieses Ziel. ihn letztlich zum Einlenken bewog – Dann schworen Staatsmänner der die schweren Bombenschäden an der Allianz, der Militäreinsatz verfolge Infrastruktur des Landes, der Verlust nur das Ziel, „eine humanitäre Kata- Russlands als politischer Rückhalt, die strophe von unermesslichem Ausmaß wachsende Bereitschaft des Westens, zu verhindern“. Das aber, so mahnte das Kosovo notfalls mit einem blutigen der britische Militärstratege Jonathan Bodenkrieg freizukämpfen. Mag sein, Eyal, sei „aus der Luft schlicht nicht dass er mit der Vertreibung der Koso- zu leisten“. Den Einsatz von Boden- vo-Albaner das Ziel einer ethnischen truppen lehnte die Nato gegen den Säuberung bereits erreicht hatte. Rat ihrer eigenen Militärs ab. Was der als Kriegsverbrecher Ange- Die Luftangriffe jedoch beschleunig- klagte vom Balkan nicht wusste: Auch ten die Massenvertreibung der Koso- seine Gegner wähnten sich mit dem varen. Eine aufgewiegelte Soldateska Rücken an der Wand. begann mit Mord- und Brandaktio- „Eher Tage als Wochen“ werde der nen. Hunderttausende Flüchtlinge im Waffengang dauern, hatte Außenmi- Kosovo, aber auch im angrenzenden

DPA nisterin Madeleine Albright getönt, Mazedonien und Albanien zeigten 17 AP Brennende Ölraffinerie bei Novi Sad E. MALANCA/SIPA PRESS E. MALANCA/SIPA Zerstörte Brücke bei Novi Sad E. MALANCA/SIPA PRESS E. MALANCA/SIPA Zerbombter Zug bei Grdeli‡a Flüchtende Kosovo-Albaner 18 1999

unübersehbar, dass die humanitäre Einmal häuften sich Fehlwürfe: Flücht- führten. Erst als die Serben aus dem Katastrophe die schlimmsten Erwar- lingskolonnen wurden getroffen, ein Kosovo abzogen, wurde diese serbi- tungen übertraf. Die Rückkehr der Eisenbahnzug zerrissen, Wohnviertel sche Kriegslist bekannt. Vertriebenen in ihre angestammte eingeäschert. Zum Debakel kam es, Die Masse der Flüchtlinge ist unter- Heimat wurde zum Kriegsziel ausge- als in der Nacht des 7. Mai amerika- des im Schutz einer 52 000 Soldaten rufen. nische Fernbomber die chinesische starken Schutztruppe zurückgekehrt. Doch der militärische Erfolg, der das Botschaft in Belgrad zerstörten. Die Doch bei Wintereinbruch sind noch erzwingen sollte, blieb – zunächst – Aussicht auf eine diplomatische Be- mindestens 500 000 Menschen ob- aus. Vergebens machten Nato-Bom- endigung des Konflikts, von der deut- dachlos. Die Kriegsfolgen sind noch ber Jagd auf die gefährliche serbische schen Regierung entschieden befür- lange nicht überwunden. Luftverteidigung. Die serbischen Ge- wortet und betrieben, schien auf Im Kosovo sieht es so aus, als könne neräle ließen ihre Radargeräte und unabsehbare Zeit entschwunden. Milo∆eviƒ den wirtschaftlich ergiebi- Raketen einfach in den Bunkern. Aus Zum anderen trafen die Alliierten aus geren Norden der Provinz doch noch Angst vor diesen Waffen blieben die dieser Höhe oft nur Papp-Panzer oder vom Not leidenden Rest abspalten. Bomber des Westens fortan in Flug- Ofenrohrgeschütze – allerlei Attrap- Dann hätte die Nato die Schlacht zwar höhen über 4500 Meter. Das hatte pen, mit denen die Jugoslawen schon gewonnen, den Krieg aber verloren. zwei fatale Folgen: immer überlegene Gegner in die Irre SIEGESMUND VON ILSEMANN D. SAGOLJ/REUTERS auf dem Weg nach Mazedonien 19 Kosovarische Flüchtlinge nach der Ankunft in Albanien

20 TOM STODDART / IPG / AGENTUR FOCUS hat unsimGriff“ N verschiedenen Man wohn- Volksgruppen aufjugoslawischem Boden. Zu diesen Ansatzpunkten gehörte daslabile Verhältnis zwischen den seineeigene Machtzufestigen. denzen zufördern mit dem Ziel, vorhandene derden aggressiveWillen unddieMittelhatte, Ten-nigen, Ganzsicheraber gab es Ansatzpunkte fürdenje- was geschehen ist. Esgab keine Zwangsläufigkeit fürdas, das heißtdervon Milo∆eviƒ. falls unternationalistischen Vorzeichen stehendenNach-Tito-Zeit, wiederbelebtundinstrumentalisiertindereben- begierig aufgegriffen, Jahrhundert, nalistischer GeschichtsschreibungderSerbenim 19. Resultat verfälschender natio- ses Trauma istvielmehrrelativ jung, Die- Serben undmuslimischen Albanern sonachhaltig vergiftet hat. dasdie Atmosphäre zwischen gen die Türken aufdem Amselfeld, dasserbische Trauma von derverlorenenzu lesenwar, Schlachtge- wiesooft Wie konnte eszudiesemKonflikt kommen? Eswar nicht, bevorstand. nach Bosniendernächste Völkerbrand aufdemBalkanunmittelbar als mansuchteerstdannLösungen, doch nichtsDurchgreifendes, Geschehenistje- vorbeugend einzugreifen. Lage undwillenssei, wenn dieinternationale Staatengemeinschaft nichtinder könne, aafhneisn dasseshierzurExplosionkommen darauf hingewiesen, undständighaben Warner Kosovo schwelte seitJahren, DieKriseim erseiüberrascht worden. iemand darfsagen, „Der Balkan 1999 Von HANSKOSCHNICK 21 te, räumlich gesehen, schon jahrhundertelang als Nach- barn zusammen und kooperierte mehr oder weniger gewollt, weil sich das historisch nun einmal so ergeben hatte. Es entwickelte sich aber nicht das Gefühl, wirk- lich zusammenzugehören: Von einer Minderheit abge- sehen, sah man sich selbst vor allem als einen Serben, Kroaten, Bosniaken, Kosovaren. Mit Angehörigen an- derer Volksgruppen musste man in einem Staatsgebil- de leben, das nicht gewachsen, sondern geschaffen wor- den war und erst nach dem Zweiten Weltkrieg gewollt wurde. Mit diesem Staat verband man aber keine grundlegenden Emotionen. Jede Gruppe hatte ihre na- tionalen Mythen, die sie selbst an die Spitze einer Wer- tepyramide setzte und nicht selten auf die anderen mit einer gewissen Verachtung herabsehen ließ.

as neue mit Tito geschaffene Jugoslawien woll- te aus den Schwächen des Königreiches nach Ddem Ersten Weltkrieg die notwendigen Konse- quenzen ziehen und versuchte, nach österreichischem Vorbild eine Föderation zu gründen, in der ausdrück- lich auf die Dominanz auch nur eines Volkes verzich- tet wurde.Als dann nach Titos Tod von Belgrad aus die Forderung nach erneuter Dominanz des serbischen Volkes aufkam, fehlten weise Führer, die die Einsicht in die Unvermeidlichkeit einer anderen Entwicklung vermitteln und für eine behutsame Modernisierung von Staat und Gesellschaft sorgen konnten, die allen diente. Stattdessen schürten Milo∆eviƒ und seine Ge- fährten Ressentiments. So kam es zum Zerfall Jugoslawiens und dem Krieg in Bosnien, aus dem alle Seiten – nicht nur Serbien – nur unzureichend gelernt haben, anderenfalls wäre es nicht zum Krieg um das Kosovo gekommen. Milo∆eviƒ hat kein Gespür dafür entwickelt, wie stark westliche Empörung über die von den Medien täglich in die Wohnzimmer getragene Verletzung von Menschen- rechten werden kann, wenn diese sich unmittelbar vor der Haustür abspielt. Die Politiker der westlichen Staa- ten hatten die allergrößten Probleme, wirklich zu begreifen, dass all die aufklärerischen Ideen von De- mokratie, Pluralismus, Gleichwertigkeit aller Men- schen und Völker, friedlichem Wettbewerb, europäi- schem Zusammenwachsen und weltweitem Interes- Italienische Kfor-Soldaten bei der Durchsuchung

22 1999 JOACHIM LADEFOGET FOCUS / NETWORK AGENTUR JOACHIM eines serbischen Bauernhofs

23 senausgleich nicht den mindesten Eindruck machten auf den tak- tisch, aber nicht strategisch denkenden Milo∆eviƒ. Obwohl seine Neigung zu Entscheidungen, die im Sinne der bei uns üblichen Mit- tel-Zweck-Abwägungen grob irrational wären, bereits im Bosnien- konflikt immer wieder deutlich geworden war, blieb sie unbegreif- lich und daher unbeachtet. Man behalf sich damit, ihn als radika- len Nationalisten einzustufen. Aber Nationalisten wollen das Wohl ihres Landes fördern, für Milo∆eviƒ war das nie selbstverständlich. Die westlichen Politiker hätten nur eines begreifen müssen: Unak- zeptabel für Milo∆eviƒ war immer, einer Entwicklung zuzustim- men, die seine eigene Machtposition gefährdet hätte. Dies wurde nicht wirksam ins Kalkül einbezogen. So kam es zu verhängnis- vollen Fehleinschätzungen. Wie so oft in Konflikten mit Bürgerkriegscharakter kann man aber auch beim Kosovokonflikt die beteiligten Parteien nicht einfach nach „gut“ und „böse“ einteilen. Der Arroganz der Serben entsprach eine zunehmende Aggressivität der Albaner, was zu einer Eskala- tionsspirale führte. Der albanische Bevölkerungsanteil im Kosovo hatte immer stärker zugenommen und betrug am Ende 80 bis 85 Prozent. Gleichzeitig wuchs das Selbstbewusstsein der Albaner, das sie mit Nachdruck und keineswegs immer mit friedlichen Mitteln auch in politische Macht und stärkere Teilhabe am Wohlstand umsetzen wollten. Zunächst ging es um Autonomie, die von Tito gewährt, 1989 aber von Milo∆eviƒ wieder beseitigt wurde.

as brachte Milo∆eviƒ die gewünschten Sympathien unter den Serben, arbeitete aber den langfristig wichtigen Kräften auf Dalbanischer Seite in die Hände, die ohnehin nicht an Inte- gration interessiert waren und den Konflikt suchten.Autonomie war schließlich für eine ständig zunehmende Zahl von Albanern als End- ziel nicht mehr ausreichend. Die im Kosovo lebenden Serben fühl- ten sich natürlich mehr und mehr in ihrer Herrenrolle gefährdet, sorg- ten sich um ihre Privilegien, die sie, der Rückendeckung aus Belgrad gewiss, umso arroganter und rücksichtsloser verteidigten. Beide Sei- ten konnten schließlich ohne Unterlass von Bedrohung und realer Gewalt durch die jeweils anderen berichten, und beide waren fel- senfest davon überzeugt, auf der Seite des Guten zu stehen. Die Albaner trugen ihren Teil zur Verschärfung in der Endphase bei: Sie verstärkten ihre bewaffneten Provokationen, um die Serben zu unverhältnismäßigem Gegenterror zu provozieren, was wiederum ein militärisches Eingreifen der Nato nach sich ziehen sollte. Dem Westen insgesamt ist vorzuwerfen, dass es ihm an einer klaren und einheitlichen Lagebeurteilung und eindeutigen Signalen an die Kon- fliktparteien fehlte. Diese konnten daher hoffen, durch Taktieren Vor- teile für sich herauszuschlagen. UÇK--Kämpfer

24 1999 25

A. KORNHUBER / LOOKAT Die Nato hat bisher daran festgehalten, dass das Kosovo ein Teil Jugoslawiens bleibt. Der politische Sinn dieser Festle- gung dürfte klar sein: Europa entwickelt sich eindeutig hin zu stärkerer Integration; Aufweichung, nicht Vermehrung und Ver- stärkung von Grenzen ist die Parole. Auch hat die Nato immer betont, das einzige Ziel ihres Eingreifens sei, die Einhaltung von Mindestnormen zivilisierten Verhal- tens im Kosovo zu erzwingen – kurz ge- sagt: Menschenrechte durchzusetzen und Menschen zu schützen. Es ging ihr nicht darum, einer der Konfliktparteien zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele zu verhelfen.

enn man jetzt im Kosovo sepa- ratistischen Tendenzen seinen WSegen gäbe, würde sich der Wes- ten zu seinen eigenen Grundsätzen in eklatanten Widerspruch setzen. Man träfe eine gefährliche Präzedenzentscheidung, die auch anderswo auf dem Balkan, wo es fast überall unzufriedene Minderhei- ten gibt, zur Nachahmung reizen könnte: Mazedonien zum Beispiel mit seinem al- banischen Bevölkerungsanteil von bis zu 30 Prozent wäre konkret von der Spaltung bedroht. Die Haltung des Westens findet meine Un- terstützung. Ganz wohl ist mir dabei aber Flüchtlings-Treck bei Kukës, Kfor-Hubschrauber nicht, denn wir tauschen lediglich ein Di- lemma gegen ein anderes aus: Die Integra- tionstendenzen innerhalb der EU verstärken sich, weil die betroffenen Staaten im Großen und Ganzen reif dafür sind. Das darf einen Haben wir wirklich die Macht und die Kraft, die Ressenti- aber nicht blind dafür machen, dass es außer- ments zu beseitigen, die so tief verwurzelt sind in den Köp- halb dieses Kreises weitgehend Gleichge- fen vieler und die zum Vorwand für separatistische Ten- sinnter Staaten und Regionen gibt, die nicht denzen genommen werden, aus denen dann die Forderung – jedenfalls noch nicht – die gleichen Werte nach einer stärkeren Separierung der Volksgruppen abge- teilen. Und dieses Manko – zumindest in un- leitet wird? Wenn wir das nicht schaffen, steht uns eine sehr seren Augen – lässt sich nicht durch Appelle unerfreuliche Zukunft bevor. Im Kosovo ist die Gefahr groß, an die Vernunft beseitigen, sondern es ist so dass ein maßgeblicher Teil der Bevölkerung die Segnungen tief verwurzelt, dass es sich noch lange hal- der Befreiung vom serbischen Joch vergessen wird, und der ten kann. Ärger darüber wächst, dass die erhoffte Unabhängigkeit

26 geben sichandere Schwierigkeiten wegen seinererwähnten Gleichzeitig mitdiesenProblemen innerhalbdesKosovo er- würde abnehmen. schlichtend einzugreifen, auchanderswo wieder reitschaft derbeteiligtenStaaten, DieBe- diemanzuvor kategorisch abgelehnt hat. führen, menden DruckszuKonzessionen undZugeständnissen Diesekönnten dannwegen desausderHeimat kom- men. waltsamen Attacken aufdie„Besatzungstruppen“ kom- Imschlimmsten Fall kanneszusystematischen ge- wird. nicht kommt undmanaufDauervon Fremden gegängelt 1999

SEBASTIA SALGADO / AMAZONAS IMAGES / AGENTUR FOCUS neue Verhandlungenverlangenwird. zur Kooperation zeigt undmöglicherweise anderen Fragen keine sonderliche Neigung dasaber indieserwie auchin goslawien, Rückübernahmeabkommen bestehtmitJu- Eingenerelles Zuflucht gesucht haben. die lange vor demKriegin Deutschland Kosovo-Albaner nachHausezuschicken, inabsehbarer Zukunftauch sche Anliegen, Zudenken istetwa andasdeut- werden. zustören undlästigzu ten fürBelgrad, Hier ergeben sichvielfältige Möglichkei- des eigentlichen Souveräns voraussetzen. irgendwelche MaßnahmendieZustimmung wenn äußerst störend bemerkbar machen, Siemagsichaber immerwieder rium geht. Ausübung realer Machtaufjenem Territo- soweit esumdie auf demPapier stehen, lierte Souveränität überdasKosovo nur wird dessenpostu- Grundlegendes ändert, sich inderRegierungJugoslawiens nicht Wenn rechtlichen Anbindung anBelgrad. I Ausmaß ingrößerem bereit undinder Lage ist, dassmanim Westen ment nichtsehen, IchkannimMo- Sparen oberstes Gebot. Ihnenist lieren dieHaushaltspolitiker. Den Zugang zudiesemZielaber kontrol- Aggressionspotenzial verringern. zur Zusammenarbeitveranlassen unddas Daskönnte sie liche Perspektive eröffnet. grenzüberschreitend auch einewirtschaft- sondern nur militärischeSicherheitbietet, die denMenschenaufdemBalkannicht tive beruhte: einePolitik zuverfolgen, deraufdeutscherInitia- Stabilitätspaktes, Das war jaaucheinerderGedanken des Kosovo, sondernfürdengesamten Balkan. Diesgiltnichtalleinfürdas können glaubt. politische Umwälzungen befriedigen zu der seinenpersönlichenEhrgeiz nurdurch eher kompromissbereit seinalsderjenige, catihnVrelfrsc ih,wird schaftlichen Vorteil fürsichsieht, Wer einenklaren wirt- werden wird. dassjedeLösung teuer ch binsicher, zusätzliche Mittel fürdenBalkan 27 bereitzustellen. Die Auseinandersetzungen innerhalb der EU über die Mittel, die für den Wiederaufbau im Kosovo erforderlich sind und mit erheblichem publizistischem Aufwand zugesagt wurden, sind ein Beispiel. Die Kom- mission war davon ausgegangen, dass ihr Haushalt dem- entsprechend vergrößert werden würde, während die Fi- nanzminister verlangten, dass die für das kommende Jahr vorgesehenen 500 Millionen Euro in vollem Umfang durch Kürzungen und Umschichtungen bei anderen Haushalts- titeln aufzubringen seien. Dies erhellt ein grundsätzliches Problem, das über den Kosovo-Konflikt weit hinausweist: Die zunehmenden Ak- tivitäten bei der weltweiten Streitlösung und Konflikt- prävention sind nicht umsonst zu haben. Ein Haushalt wie der deutsche, der aus guten Gründen unter striktestem Sparzwang zusammengestellt wurde, hat Ressorts wie ins- besondere diejenigen für Verteidigung, wirtschaftliche Zusammenarbeit (Entwicklungshilfe) und das Auswärtige in vielen Bereichen bereits an die Grenzen einer vertret- baren Aufgabenwahrnehmung gebracht. Für zusätzliche Ausgaben zur Krisenbewältigung ist kein Puffer mehr vor- handen, das heißt, unser zunehmendes internationales Engagement kann dazu führen, dass wichtige andere Auf- gaben in der Welt, aber auch zu Hause nicht mehr wahr- genommen werden können.

ie oft wird der Vorwurf erhoben, der Westen messe Menschenrechtsverletzungen mit zwei- Werlei Maß und engagiere sich intensiv nur da, wo es ihm auch um eigene Interessen gehe. Ich will die ernste moralische Frage, die hier aufgeworfen wird, gar nicht be- antworten, aber darauf hinweisen, dass die westliche Fähig- keit, auf Krisen mit massivem Einsatz zu reagieren, auch enge finanzielle Grenzen hat, wenn die beteiligten Staaten nicht wirtschaftlich ausbluten sollen. Die Welt rückt enger zusammen, nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Kri- sen lassen sich nicht mehr ohne weiteres lokal begrenzen. Die Frage ist daher nicht mehr, ob wir uns zunehmend an der Verhinderung und Schlichtung von Konflikten beteili- gen müssen – daran führt wohl kein Weg vorbei –, sondern ob es möglich sein wird, dies nicht so ausufern zu lassen, dass schwere negative Auswirkungen auf die westliche Staatenwelt und ihre Bürger unvermeidlich werden. Und Albanerin in ihrem zerstörten Haus

28 1999 JOACHIM LADEFOGET FOCUS / NETWORK AGENTUR JOACHIM

29 1999

Kosovaren auf der Flucht

30 SEBASTIA SALGADO / AMAZONAS IMAGES / AGENTUR FOCUS O westlichen Staaten. nur dieSpannungen vor Ortundverstärkt dieRisiken fürdie Isolierungvergrößertströme mächtiganunsere Tore pochen. diedannalsFlüchtlings- Menschenmassen inBewegung, Sosetztjede Auseinandersetzung aufdemBalkan werden. nichtmitindenStrudelgezogen zu Schwierigkeiten hätten, in einer dasswirunsererseits diegrößten Weise aufunsüber, griffen dieentsprechenden Konflikte diese aber sichselbst, Überlässt man benden Kräfte unterKontrolle haltenkönnte. Zeiten desKommunismus und Titos dieauseinanderstre- dienochwiezu Es gibtkeine MachtmehrinderRegion, aber helfen auchnichtweiter. sind zwar nachvollziehbar, eingebrockten Problemsuppen auchselbstauslöffeln lassen, mansolledochdieseMenschendieselbst Stammtischparolen, uns mitMachtaufdrängt unddassdasauchsobleiben wird. hinweg inallen sich Aspekten von peripherer Bedeutungwar, dung derGefahr ausden Türkenkriegen überJahrhunderte dieseitÜberwin- dasseineeuropäische Region, zu leben, damit Wir müssenlernen, reits auf Dauerumgestellt worden. Hierjedenfalls sindeinige Weichen be- Zurück zumBalkan. Kontinent undunsere Nachbarn. das bedeutetfürmichauch:Beschränkung aufdeneigenen id Einewirksame Alternative seheichnicht. wird. dass dieEUhierfüreinenPreis zuentrichtenhaben men, wird mannichtdaran vorbeikom- schaftlich anbietenkann, was derBalkanMitteleuropa wirt- Augenblick wenig gibt, Daesim ser RegionmitderEUisteinedenkbare Lösung. Staaten untereinander undeineallmähliche Verzahnung die- EineFreihandelszone derbetroffenen Spannungen fördern. tegration unterGleichenunddamitaucheinen Abbau von dieeinewirtschaftlicheIn- Fakten zuschaffen, Dazu gehört, se Aufsplitterung längerfristig anBedeutungverlieren wird. durch diedie- der ineinergrößeren Einheitzusammenfassen, dasswirsiewie- nere Einheiten dadurch zukonterkarieren, zurzeit stattfindende Atomisierung derRegioninimmerklei- die EinZielmusssein, und flankierende Hilfe leistenmüssen. werden wirUnterstützung ben damitnichtzubewältigen sind, Da dielokaleInfrastruktur oftüberlastet istunddie Aufga- Teil unserer materiellen Ressourcen dorthinabfließen wird. airn a wnsäfgbdue,dassauchein was zwangsläufig bedeutet, gagieren, alsunsmassiv aufdemBalkanzuen- andere Wahl, haben wirkeine bwohl dieProbleme immenssind, 31 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Mit Hilfe neuer Sonden, Satelliten und Großteleskope gelangen Astrono- men zu dem beruhi- genden Schluss: Das Universum wird ewig expandieren, also niemals enden. GAMMA REUTERS JANUAR Weimar spielt Hauptstadt

s sollte ein Jahr der Spektakel und Diskussionen werden, ein Reigen bunter, frecher oder besinnlicher EEvents, ohne Pomp und deutschen Weihrauch: Mit gewaltigem Aufwand an Geld und Einfällen trat Weimar an, um als offizielle „Kulturstadt Europas 1999“ zu glänzen. Städtebaulich an allen Ecken aufgefrischt und unterneh- mungslustig wollte sich Thüringens Musennest, das schon Minister Goethe „wie Bethlehem in Juda, klein und groß“ vorkam, den Gästen präsentieren. Und sie kamen in Scha- ren: Rap-Freunde, Tanzfans und Archivare, Kunstkenner und Klassikerpilger ließen sich vom Würfel-Logo locken. Goethes Gartenhaus im Weimarer Ilmpark 34 Das IOC feuert kor- Die Amerikaner haben rupte Funktionäre. ihn wie einen Heiligen Österreichs Ski-Idol verehrt. Nun nimmt Karl Schranz, 1972 von der geniale Athlet, Olympia verbannt, Basketball-Superstar beklagt Inkompetenz Michael Jordan, des Senioren-Clubs seinen Abschied und und fordert eine Mit- hinterlässt eine Nation sprache der Sportler. in Trauer. ACTION PRESS ACTION DAS FOTOARCHIV DAS

35 one nonrshmfn dass die konnten Anwohner schimpfen, Derweil Verdopplungsaktion grübeln. bundesweit überdentieferen Sinnder durftenIntellektuelle publik machte, zumindest indeutschenLanden leidlich eine Werbekampagnedas Würfel-Logo nach Wunsch: Währendganz lief musste, Kulturstadt Europas spielen mar die15. indem Wei-Skurrilitäten reichen Jahres, Die wohl seltsamsteInszenierungdesan originalgetreu kopiert. Gartenhaus, Meter weiter auchzusehenist:Goethes was o rundhundert Wunder, schein kam, fielen diePlastikplanen–und zum Vor- Reportern längstausgeplaudert waren, von diederseltsameKlotzbarg, nisse, alsalleGeheim- Erst imMärz, Parkrasen. paket monatelang aufdem Weimarer standdasmonumentale Wert- gefallen, A DAS FOTOARCHIV 36 Ilm der an Park im Überraschungs-Box verschnürt undwievom Himmel miteinemgemalten Strick blau, m Anfang war der Würfel: Blitze- Defizit inderBilanzkeinen guten Ein- Zwar machtenknapp 13MillionenMark überhaupt rechnen? los gewirkt hatte? Könnte sichderSpaß Wieland ehedemvergleichsweise harm- Schillerund die das Wessi-Trio Goethe, gegen nicht einerInvasion ausgesetzt, Hypotheken durch dasDauerfestival tesmetropole mitdenvielenhistorischen Vergangenheit? Würde diekleineGeis- auchzwiespältigen mit derallzugroßen, 000Einwohnern das Städtchenvon 60 Musste esdennwirklich Weimar sein, chen Rollenverteilung sinniertwurde: blättchen eifrigundganz nachderübli- stadtjahres inFeuilletons undLokal- worum zuvor undwährend desKultur- So bündeltedie Attrappe symbolisch, wesen wären. ten –sichervolksnäher einsetzbarge- lionen Mark aus Sponsormittelnstamm- Bausummen –wovon übrigens 1,6Mil-

REUTERS M. SCHUCK OSTKREUZ DAS FOTOARCHIV haesük„as Furioso“ „Faust Theaterstück Französisches Artisten-Ensemble Harlem“ of Theatre „Dance Ausstellung „AufstiegundFall JANUAR 1999

der Moderne“ TRANSIT TRANSIT „Compagnie Oposito“ Goethe-Schiller-Denkmal am Theaterplatz 37 JANUAR 1999 druck. Doch der Andrang sprach für sammeln wollten die Veranstalter mit sanierungsbedürftigen Anna-Amalia- sich: Schon bei Halbzeit meldete In- Aktionen der fetzigeren Art. Zum Bibliothek, gab es zwei Monate lang tendant Bernd Kauffmann 65 Prozent Beispiel gab es „Anschläge an Säu- unter freiem Himmel Egon Günthers mehr Besucher als in gewöhnlichen len“, die als „Konzept zur Stadt- reichlich platten Christiane-Film „Die Jahren; der Mega-Mix von Tanzspek- möblierung“ auftraten. Die österrei- Braut“ mit Veronica Ferres zu sehen. takeln, Filmereignissen, exotischen chische Gruppe „Bilderwerfer“ trat Kulturkonsum satt, ohne Risiken und Workshops, Ausstellungen, Gastspie- mit einer Performance auf, die „den Nebenwirkungen. len internationaler Theatertruppen Zuschauern Einblick gibt in die im- und Goethe-Rap habe sich bewährt. mer aktuelle Geschichte von Sehn- ur mit einem Projekt lösten die Sicher ist, dass die Stadt noch lange sucht und Beziehungen“ (Programm- NEreignismacher dann doch noch von den über 70 Millionen Mark För- heft). überregional Palaver aus. Die große dergeldern des Festjahres profitieren Nicht genug mit derlei Allerwelts- Kunstausstellung „Aufstieg und Fall wird. Nicht bloß der Bahnhof, An- kunst. Zur Demonstration der Welt- der Moderne“ präsentierte Nazi-Öl- kunftsort vieler Besucher mit eigens offenheit durften schwarze Tänzer schinken und Werke des „sozialisti- konzipierten Halbpreis-Tickets, glänzt aus Harlem nicht fehlen, die pikan- schen Realismus“ suggestiv parallel, neu. Auch Klassikerstätten wie das terweise in einer ehemaligen Vieh- dicht an dicht wie Beweisstücke vor zum Literaturzentrum verwandelte auktionshalle lautstark ihre Bewe- graue Plastikplanen gehängt. Etliche Kirms-Krackow-Haus, das von Goethe gungskünste vorführten. An der Bau- Ost-Künstler fühlten sich verunglimpft mit entworfene „Römische Haus“ im und gingen sogar vor Gericht, um ihre Park und vor allem das komplett um- Werke vor dem angeblichen Ab- gestaltete Goethe-Nationalmuseum wicklungsdünkel der federführenden bieten die Substanz der Tradition in „Wessis“ zu schützen. „Vorfristig“, so gesamtdeutscher Frische. die „Sächsische Zeitung“ in bestem Die historischen Ballaststoffe des Or- DDR-Deutsch, schloss die Schau tes wurden bei aller Ausgelassenheit schon am 26. September.

nicht unterschlagen. 23 über die Stadt FOTOARCHIV DAS Doch da war, nach dem obligaten Tru- verteilte Informationspunkte, pädago- Schwelle zu Goethes Wohnhaus* bel zu Goethes rundem Geburtstag gisch klug erdacht von der Berliner (siehe Seite 236), die Nervosität, ein Ausstellungsmacherin Marie-Louise haus-Uni ging für 99 Tage der schwer ganzes Jahr lang repräsentativ sein von Plessen, bezogen selbstverständ- experimentelle und natürlich inter- zu müssen, längst im Alltag eines Ge- lich das Konzentrationslager Bu- aktiv operierende Fernsehsender mischtwarenladens erstickt. Ob der chenwald auf dem nahen Ettersberg „worldhausTV“ auf Sendung. Aus 70. Deutsche Archivtag kurzfristig 800 ein.Auch das schon vor Hitlers Zeiten Lautsprechern, die ein Künstler in den Historien-Hüter versammelte oder braun infizierte Nietzsche-Archiv – Bäumen des Ilmparks versteckt hatte, zur selben Zeit der Berliner Provo- ursprünglich jene Villa auf der An- bekamen Spaziergänger allerlei selt- zierkünstler Christoph Schlingensief höhe, in der der geisteskranke Denker same Quietschklänge zu hören. Ge- vor dem Nationaltheater über Laut- bis zum Tod im Jahre 1900 von seiner gen die beginnende Herbstmüdigkeit sprecher verkündete: „Die Kultur- berüchtigten Schwester Elisabeth ge- wurde, Gipfel der Beliebigkeit, end- hauptstadt Europas präsentiert: Nach pflegt und zum Mythos aufgebaut lich gar ein „Frankenstein-Monster- der erfolgreichen Schändung des wurde – war im Netz der Traditions- festival“ aufgeboten. Goethe-Schiller-Denkmals die Schän- fragen berücksichtigt. Goethe, der „Standortfaktor“ („Neue dung des Goethehauses“ – Weimar Zürcher Zeitung“), musste natürlich war es zufrieden, als Dauerereignis och nur weniges aus der langen am häufigsten ran. Von den „Wahl- zu existieren, wie es schon seit über DListe der Spektakel antwortete so verwandtschaften“ als Schauspiel bis 200 Jahren mit seiner Symbollast fer- ideenreich auf die prekäre Vergan- zu einem Wettbewerb um die beste tig wird: durch Indolenz. genheit wie die eindrucksvolle Aus- Pop-Neuvertonung seiner Gedichte Etliche Besucher, von der Programm- stellung „Gezeichneter Ort“, die Wol- war der Jubilar dutzenden von An- gestaltung eher befremdet, verließen kenskizzen Goethes in der KZ-Ge- eignungsversuchen ausgesetzt. die Szene in der Überzeugung, auch denkstätte präsentierte. Die meisten Allein der „Faust“ wurde in so vielen ohne Event-Zirkus kann es hier schön übrigen Inszenierungen boten Amüse- Fassungen geboten, dass eine Kombi- sein. Vielleicht kommen sie ja noch ment von schrill bis spinnert. version aus Tokio und Bukarest schon einmal nach Weimar, wenn auf den Eine Schau mit italienischem Design fast alltäglich wirkte. Und am „Platz Ilmwiesen wieder klassische Harmo- oder ein selten aufgeführtes Oratori- der Demokratie“, gleich neben der nie zu spüren ist. Das geklonte Gar- um von Louis Spohr waren da noch tenhaus soll schon bald in Übersee * Das Begrüßungswort „Salve“ aus dem Haus am Hausmannskost. Originalitätspunkte Frauenplan diente als Motto des Kulturstadtjahres. gastieren. JOHANNES SALTZWEDEL 38 Werbeseite

Werbeseite T. STOME / IMAGES STOME T. Olympia-2002-Stadt Salt Lake City, ausgeschlossene IOC-Mitglieder

„Bestochen wird immer“ Fantini (Chile) Gadir (Sudan)

Nach Korruptionsvorwürfen werden sechs IOC-Mitglieder ausgeschlossen. Österreichs Ski-Idol KARL SCHRANZ, 1972 wegen Verstoßes gegen das Amateurstatut disqualifi- ziert, über käufliche Funktionäre, den Kommerz im Sport und das Geheimnis des Ruhms. Keita (Mali) Arroyo (Ecuador) SPIEGEL: Sie sind 1972 kurz vor Beginn und kriegte gnadenlos ein Startverbot der Spiele in Sapporo disqualifiziert verpasst. worden. Hatten Sie sich so schwer am SPIEGEL: Heute geht es ja um ganz olympischen Geist versündigt? andere Summen. Was haben Sie denn SCHRANZ: Ich bitt Sie, ich habe da- empfunden, als Sie hörten, dass eini- mals Fußball gespielt in einem Leib- ge IOC-Herren vom Bewerber Salt chen mit der Aufschrift „Aroma Kaf- Lake City mit insgesamt 1,2 Millionen fee“. Dafür gab’s lächerliche 2000 Dollar geschmiert worden sind? Hät- Dollar, aber es galt als Werbung, eine ten Sie das für möglich gehalten?

olympische Todsünde, und damit hat- SCHRANZ: Natürlich. Da hatte ich kei- REUTERS (5), AP FOTOS: te ich meinen Amateurstatus verloren ne Illusionen. Wer hat denn geglaubt, Wallwork (Samoa) Ganga (Kongo) 40 ACTION PRESS ACTION Salt-Lake-City-Bürgermeisterin Corradini, Samaranch bei der Abschlussfeier der Winter-Olympiade in Nagano 1998 41 JANUAR 1999 da werde nicht geschmiert? Alles ist den Alpen aussuchen und wissen teurstatus der Athleten geachtet. Der doch heute käuflich. Bestochen wird kaum, was Schnee oder Skier sind. war doch längst im Eimer. immer, wenn Sie bedenken, dass es SPIEGEL: Und wonach urteilen sie? SCHRANZ: Sicher, schon zu meiner viele Formen der Bestechung gibt – SCHRANZ: Zum Beispiel, ob eine at- Zeit, 1972. Als der damalige sowje- manchmal reicht vielleicht schon ein traktive Großstadt in der Nähe liegt. tische Sportchef Sergej Pawlow ver- gewinnendes Lächeln. Aber ich bin Und wenn man, wie für das Jahr 2006, kündete, ich sei disqualifiziert, hab keiner, der mit Freuden sagt: Das IOC die Wahl hat zwischen dem schweize- ich ihm gesagt: Wieso lasst ihr euch gehört abgeschafft. Ganz im Gegen- rischen Bergnest Sion und dem italie- vor den Karren der kapitalistischen teil, wir müssen Olympia und seine nischen Turin, wo das mondäne Mai- Länder spannen? Glaubt denn noch Institutionen erhalten. Man muss die land in der Nachbarschaft liegt, dann irgendjemand, dass Eiskunstläufer, die Substanz bewahren und Verkrustun- wird eben Turin gewählt. Letztlich überall ihre Show abziehen, Ama- gen aufbrechen. nämlich reden auch die Ehefrauen der teure sind? SPIEGEL: Das IOC ist ja schon bußfer- SPIEGEL: Mit Ihrem Kaffee-Leibchen tig und hat eine Reformkommission haben Sie die Heuchelei entlarvt. eingesetzt. SCHRANZ: Ich habe damals klipp und SCHRANZ: Hab ich gehört. Da sitzen klar gesagt, wir sind im Prinzip alle unter anderen die Herren Giovanni keine Amateure. Das hat mir wahn- Agnelli, 78, und Henry Kissinger, 76. sinnig viel Ärger eingebracht, aber Nichts gegen so hochkarätige Senio- durch Karl Schranz ist der Amateur- ren, aber den Sport kennen sie eben paragraf tatsächlich gefallen, die Ver- nur aus dem Fernsehsessel. Das ist logenheit hatte ein Ende. Ich habe mal nicht ehrenrührig, doch auch keine im Flugzeug zu einem Funktionär ge- Empfehlung für dieses Amt. sagt: Schaut, ihr sitzt hier in der First SPIEGEL: Wollen Sie den alten Herren Class und wir, die wir Leistung brin- an den Kragen? gen müssen, drücken die Holzbank. SCHRANZ: Sie übertreiben. Natürlich Da stimmt doch was nicht. ist das IOC ein Feudalclub, in dem SPIEGEL: Jetzt werden Olympiasieger

auch manch ein Seniler lebenslang TEMPSPOR sogar Millionäre. Freut Sie das? hockt. Aber, noch einmal, es gibt kei- Schranz SCHRANZ: Natürlich, weil jeder Sport- ne vernünftige Alternative, wir brau- ler endlich das bekommt, was er ver- chen das Olympische Komitee. Was IOC-Mitglieder ein Wörtchen mit. Die dient. mich stört, ist der Modus, nach dem Damen gehen doch lieber in Mailand SPIEGEL: Vielleicht können viele die Olympia-Orte ausgesucht werden. schick shoppen und anschließend in Olympia-Fans die Wettkämpfe bald Das ist eine Lehre, die wir aus dem die Scala zu „La Bohème“. Das Letz- nicht mehr im Fernsehen betrachten, Korruptionsfall Salt Lake City ziehen te aber, was wir brauchen, sind Ent- weil nur noch das Pay-TV live über- sollten. scheidungsträger, die sich erst mal ver- trägt. SPIEGEL: Wer soll denn in Zukunft gewissern, ob die Damen mit dem SCHRANZ: Das fände ich ganz über die Austragungsorte entschei- Olympia-Ort einverstanden sind. schlecht. Das Zusammengehörigkeits- den? SPIEGEL: Würden Sportler-Funktio- gefühl einer Nation wird doch auch SCHRANZ: In erster Linie die Sportler näre die Spiele energischer gegen po- durch den Sport gestärkt. Was ist selbst,Athleten, die maximal fünf Jah- litische Übergriffe schützen? denn, wenn zum Beispiel die Kinder re raus sind aus den Wettkämpfen. Die SCHRANZ: Ich denke ja. Als die Mos- ihre Idole nicht mehr auf dem Bild- sollen die Stadien auswählen, kon- kauer Spiele von 1980 wegen des Af- schirm erleben können? trollieren und testen, die olympischen ghanistan-Konflikts boykottiert wur- SPIEGEL: Sie sind ganz ohne olympi- Dörfer planen, über Sicherheitsvor- den, hab ich vor Zorn eine Gänsehaut sches Metall ein Idol geworden. kehrungen mitentscheiden. Kurz: Leu- bekommen. Es war eine Sauerei, dass SCHRANZ: Als ich ohne Medaille aus te mit Augenmaß und Sachverstand. Politiker den Sportlern die Chance ge- Sapporo nach Wien zurückkam, ha- SPIEGEL: Was läuft jetzt falsch? raubt haben, ein Lebensziel zu errei- ben mich 200 000 Österreicher nar- SCHRANZ: Es fehlt an Kompetenz. Um chen – eine olympische Medaille, für risch gefeiert. Ich sagte zu meinem bei den Winterspielen zu bleiben: Vie- die sie ein ganzes Leben lang trainiert Abfahrt-Kollegen Franz Klammer, der le Delegierte, sagen wir aus Afrika haben. Damals hätten sich Sportler ja viele Rennsiege nach Hause ge- oder Australien, haben doch über- und Funktionäre gegen das Diktat der bracht hat: Schau, Franz, eine Gold- haupt keine Ahnung vom Skilaufen. Politiker wehren müssen. medaille gewinnen kann jeder. Aus- Diese Seilschaften sollen nun einen SPIEGEL: Stattdessen haben IOC-Gre- schließen lassen musst dich, dann bist Austragungsort in Amerika oder in mien mit Argusaugen auf den Ama- du jemand. 42 Werbeseite

Werbeseite Todesschreie aus dem All Eine neue Ära der Astronomie beginnt.

s war – buchstäblich – eine Sternstunde der Astronomie: Um 9.47 Uhr Weltzeit am 23. Ja- Enuar registrierte der italienisch-niederländische Röntgen-Satellit „BeppoSax“ einen extrem starken Schauer von Gammastrahlen aus den Tiefen des Alls. Von BeppoSax alarmiert, schwenkte schon 22 Se- kunden später ein Robot-Teleskop in der Wüste New Mexicos in Richtung Strahlenquelle; in den folgen- den Stunden und Tagen wurden das Satellitentele- skop „Hubble“ und mehrere erdgebundene Riesen- fernrohre auf den vermutlichen Ausgangspunkt der Gammablitze gerichtet. Die Auswertung der Daten des Strahlenblitzes „Gamma-Ray Burst 990123“, wie das Ereignis von GAMMA ESO-Observatorium, ESO-Himmelsaufnahmen 3 FOTOS: ESO GAMMA Planetensonde „Galileo“, „Galileo“-Aufnahme von Jupiter und Jupitermonden

46 JANUAR 1999

den Astronomen bezeichnet wurde, lieferte den Experten wichtige Hinweise für eine plausible Er- klärung dieser seit ihrer Entdeckung im Jahr 1967 rätselhaften Schauer. Was die Instrumente von BeppoSax an jenem 23. Januar registriert hatten, waren wohl die späten Spuren einer gewaltigen stellaren Explosion, einer „Hypernova“, die sich vor Jahrmilliarden in der Frühphase des Univer- sums ereignet haben muss. „GRB 990123“, so er- rechneten die Experten, war zwischen 10- und 100- mal heller als zuvor beobachtete Gammaschauer. An seinem Ursprungsort muss bei der stellaren Katastrophe so viel Energie freigesetzt worden

47 JANUAR 1999 sein, als seien mehrere zehntausend Sterne gleichzeitig als Supernova ex- plodiert, ehe der Riesenstern zum Schwarzen Loch kollabierte. „Todesschreie von Riesensternen“ nannte der Himmelsforscher Shrini- vas Kulkarni vom California Institute of Technology in Pasadena auf einem Symposion in Baltimore denn auch die Gammablitze. Kulkarni und seine Mitarbeiter haben durch die Nachbe- obachtung eines Gammablitzes vom 26. März 1998 mit Hilfe des Zehn-Me- ter-Teleskops auf dem Mauna Kea auf Hawaii die These bestätigt gefunden, nach der ein Gammaschauer die Ent- stehung eines Schwarzen Loches si- gnalisiere, das alle Materie und sogar das Licht in seinem Schwerefeld ver- schlingt. Kurz nach dem Januar-Schauer, am 10. Mai 1999, konnte ein auf dem Cer- ro Paranal in der chilenischen Ataca- ma-Wüste installiertes neues Groß- teleskop der Europäischen Südstern- warte (ESO), wiederum alarmiert vom Strahlenwächter BeppoSax, im Sternbild Chamäleon abermals ein Gammablitz-Ereignis fotografieren. Es muss sich vor zehn Milliarden Jahren ereignet haben, in der Morgendäm- merung des Universums.

och das Jahr 1999 brachte die DAstronomen nicht nur bei der Lö- sung des Gammablitz-Rätsels weiter. Auch die Frage nach dem Alter des Weltalls – umstritten, seit der US- Astronom Edwin Hubble in den zwan- ziger Jahren die These von der Aus- dehnung des Universums aufstellte – glauben die Kosmologen nun mit einiger Sicherheit beantworten zu können.Vor dem Start des Weltraum- teleskops Hubble, so formulierte es Weltraumteleskop „Hubble“, „Hubble“-Aufnahme von Spiralnebel NGC 4603 auf einer Pressekonferenz Ende Mai die US-Astronomin Wendy Freedman, ermittelt. Nun zogen Astronomen als 65 Millionen Lichtjahren am wei- „konnten wir uns nicht entscheiden, daraus den Schluss, dass sich der testen von der Erde entfernt lag – hat- ob das Universum 10 oder 20 Milliar- kosmische Urknall, der den Beginn ten den Hubble-Astronomen dabei als den Jahre alt war“. des Universums markierte, vor 13,4 kosmischer Maßstab gedient. Acht Jahre lang hatten Freedman und Milliarden Jahren (+/– 12 Prozent) Dank Hubble und einer Reihe neuer ihr Team mit Hilfe des erdumkrei- ereignet haben musste. 800 pulsie- irdischer Großteleskope mit bislang senden Teleskops die Ausdehnungs- rende Riesensterne in 18 verschie- unerreichtem Auflösungsvermögen geschwindigkeit des Universums mit denen Galaxien – darunter die Spi- sieht Freedman „eine Ära der exak- vorher nicht gekannter Präzision ralgalaxie NGC 4603, die mit mehr ten Kosmologie“ heraufziehen, die 48 der ESO-Astronom Bruno Leibund- gut schrieb, „unser Bild des Univer- sums“. Danach deutet alles darauf hin, dass es im Universum neben der an die bisher bekannte Materie gebun- denen Energie eine der Schwerkraft entgegenwirkende, eine „kosmologi- sche Konstante“ gibt. Mit ihr, so Leib- undgut, „ist auch die Zukunft des Uni- versums besiegelt: Es wird ewig ex- pandieren“. Unser Universum habe zwar einen Anfang im Urknall gehabt, aber „es wird nie ein Ende finden“.

nd schließlich waren auch jene Uvier Himmelskörper, die vor Jahr- hunderten gleichfalls zu einem Um- denken in der Kosmologie geführt

NASA, GAMMA NASA, hatten, 1999 ein Schwerpunkt astro- nomischer Forschungen – die von Galileo Galilei 1610 entdeckten Jupi- termonde Io, Europa, Ganymed und Kallisto. Ihre Entdeckung hatte sei- nerzeit die Vorstellung von der Erde als Mittelpunkt des Kosmos endgültig ad absurdum geführt. Die Robot-Sonde „Galileo“, die den größten Planeten des Sonnensystems seit Dezember 1995 umkreist, und ver- besserte irdische Teleskope brachten „große Fortschritte“ im Wissen um die Beschaffenheit der großen Jupiter- trabanten, schrieb das Wissenschafts- magazin „Science“.Von den über 100 Kilometer aufsteigenden Vulkanwol- ken auf Io, Spuren von Sauerstoff in den Atmosphären von Europa und Ganymed bis zu vermutlich aus- gedehnten Ozeanen unter den Ober- flächen von Kallisto und Europa reichen die überraschenden Ent- deckungen. Den Planetenexperten geht es freilich

JEFFREY NEWMAN + NASA kaum anders als ihren Kollegen, die über Jahrmilliarden Lichtjahre in die Vergangenheit des Kosmos schauen, endlich zuverlässigere Antworten auf len Teleskopen der 8-m-Klasse, die sie alle sehen sich mit dem gleichen die Fragen zur Entstehung und Ent- derzeit weltweit in Planung, in Bau Problem konfrontiert. „Die Daten wicklung, aber auch über das künf- oder bereits in Betrieb sind“. (über die Jupitermonde) sind so ein- tige Schicksal des Universums geben Tatsächlich haben zwei internationale zigartig, dass sie unser Verständnis kann. Forschergruppen mit ihren Superno- enorm erweitert haben“, schreiben „Bis nahe an die Grenzen des sicht- va-Messungen nicht nur die Alters- die Planetenforscher Adam Showman baren Universums“, schrieb das Fach- berechnung der Hubble-Astronomie und Renu Malhotra in „Science“, blatt „Sterne und Weltraum“, werde bestätigt. Die Ergebnisse ihrer jüngs- „und sie werfen zugleich zahllose man vorstoßen können „mit den vie- ten Forschungen „verändern“, wie neue Fragen auf.“ ROLF S. MÜLLER 49 JANUAR 1999 NBA US-Basketball-Star Jordan, Jordan in Aktion Abschied Michael Jordan – eine Legende tritt ab.

ür die Amerikaner ist er ein „Gott in Basketball-Schuhen“. Und als er in Chicago, vor 1000 Journalisten und 100 Kame- Fras, seinen Rücktritt verkündet, herrschen Trauer und Trübsal im ganzen Land. „His Airness“ haben die Fans den kraftstrotzen- den Giganten ehrfürchtig genannt. Denn wo immer er mit seinen Chicago Bulls spielte, hatte nur einer die Lufthoheit über dem Korb – Michael Jordan, der Superstar mit der Trikotnummer 23. Er war das Vorbild aller US-Kids („Be like Mike“) und der erfolg- reichste Basketballspieler aller Zeiten – sechsmal Meister mit den Bulls, zweimal Olympiasieger. Jordan war ein Glücksfall, ein Goldesel für die amerikanische Wirt- schaft. Der Sportausrüster Nike setzte allein mit Michael-Jordan- Artikeln fast drei Milliarden Dollar um, der Basketballer selbst kassierte 78 Millionen jährlich. Jordan war ein Ball-Genie und unwiderstehlicher Fighter: Im Endspiel 1998 etwa lagen die Bulls 37 Sekunden vor Schluss einen Punkt zurück, als der Herr der Lüfte sich den Ball erkämpfte und mit einem gewaltigen Sprung im Korb versenkte. Nach Jordans Ausstieg stürzt der Club in eine tiefe Krise und landet auf dem letzten Tabellenplatz. 50 BILL SMITH 51

MANNY MILLAN MELDUNGEN

1. Januar Euro-Start it dem Jahreswechsel ist das viel- Mleicht kühnste wirtschaftspolitische Projekt der Weltgeschichte Realität geworden: die Europäische Währungs- union. In elf Ländern ist nun der Euro gesetzliches Zahlungsmittel. Mark, Franc, Peseta oder Lira sind nur noch Untereinheiten des Euro, die spätestens nach einer dreieinhalbjährigen Über- gangsphase verschwinden werden. Na- tionale Notenbanken fungieren nur noch als Zweigstellen des alleinigen geldpolitischen Machtzentrums in Euro- land, der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, deren Präsident der Nieder- länder Wim Duisenberg ist. Weil Euro- Scheine und -Münzen erst ab 2002 gül- tig sind, kann die neue Währung vorerst nur im bargeldlosen Zahlungsverkehr verwendet werden. Im Devisenhandel startet der Euro mit einem Kurs von

1,18 Dollar, sackt bis Ende des Jahres DPA aber fast auf einen Dollar. Duisenberg mit Umrechnungskursen für Euro-Währungen

16. Januar Stoiber neuer CSU-Chef uf einem Sonderparteitag der CSU in München wählen 880 Ader 957 Delegierten den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber zum Vorsitzenden der Partei. Damit hat erst- mals seit dem 1988 gestorbenen Ober-Bayern Franz Josef Strauß wieder ein Politiker neben dem höchsten Regierungsamt auch die Führung der stärksten Partei im Freistaat inne. Stoiber löst den früheren Bundesfinanzminister Theo Waigel ab. Der hatte zehn Jahre lang an der Spitze der CSU gestanden, nach dem Regierungswechsel zu Rot-Grün in Bonn aber auf die weitere Führung seiner Partei verzichtet. Gegen den langjährigen Kontrahenten Stoiber, der seine Position als starker Mann in Bayern durch einen klaren Sieg bei der Landtagswahl im September 1998 gefestigt hatte, wäre Waigel bei innerpartei-

AFP lichen Auseinandersetzungen ohnehin chancenlos gewesen. Aktienhändler an der Börse in São Paulo Der neue CSU-Chef gilt nun als scharfer Konkurrent des CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble beim Rennen um die 13. Januar Nominierung zum nächsten Kanzlerkandidaten der Union. Finanzchaos in Brasilien rasiliens Zentralbankchef Gustavo Franco tritt zurück, sein BNachfolger wertet den an den Dollar gebundenen Real um acht Prozent ab und gibt kurz darauf unter dem Druck anhalten- der Abwertungsspekulation den aussichtslosen Versuch auf, den Wechselkurs der brasilianischen Währung zu verteidigen. Der Real stürzt ab. Weltweit brechen die Kurse an den Aktienbörsen ein. Denn die Anleger fürchten den Dominoeffekt, der in den beiden Jahren zuvor Währungskrisen in Asien und Russland aus- gelöst hatte. Um das seit längerem angeknackste Vertrauen in das hoch verschuldete Land zu festigen, hatten der Internatio- nale Währungsfonds und die großen Industrieländer im Novem- ber 1998 Brasilien Finanzhilfen von 41,5 Milliarden Dollar zuge- sagt. Doch nun zeigt sich erneut, dass kein noch so großes Hilfs-

programm ein Finanzchaos verhindern kann, wenn ein Land zu ARGUM sehr auf Pump lebt und seine Währung überbewertet ist. Waigel, Stoiber 52 MELDUNGEN

19. Januar den erwerbstätige Alleinerziehende haben. Bei berufstätigen verheirateten Eltern sei die Anerkennung dieser Kosten im Re- Teures Familien-Urteil gelfall nicht geboten, weil Ehepaare durch den Splittingtarif be- günstigt seien. Das Gericht verkündet nun, dass vom Jahr 2000 er Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts erklärt ein an auch alle verheirateten Eltern Kinderbetreuungskosten und DSteuergesetz für verfassungswidrig, das der Erste Senat in ei- ab 2002 einen Haushaltsfreibetrag geltend machen können. Bis- nem Urteil von 1982 gefordert hatte. Damals hatten die Verfas- lang seien sie gegenüber unverheirateten Eltern benachteiligt. sungsrichter dem Gesetzgeber auferlegt, bei der Einkommensbe- Bei voller Umsetzung des Urteils würden die Steuerausfälle, so steuerung den Kinderbetreuungsaufwand zu berücksichtigen, das Finanzministerium, 54 Milliarden Mark jährlich betragen.

22. Januar Museum im Zickzack useen, so schwärmt der Architekt, „sind die MKathedralen von heute“: Mit bizarren, höchst umstrittenen Monumentalbauten ist der Amerikaner Daniel Libeskind weltberühmt ge- worden. Libeskind-Kreationen gelten als „Sprengkörper“ oder „inszenierter Irrweg“, der „Schwindel“ und „Klaustrophobie“ erzeugt. Nach sechsjähriger Bauzeit wird in Berlin sein neues Werk, das Jüdische Museum, eröffnet – ein

symbolbeladener, labyrinthisch verzweigter ACTION Zickzack-Bau. Ausstellungsraum im Jüdischen Museum Berlin

28. Januar Aufstand im Biergarten in Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin führt zu einer bayerischen E„Biergarten-Revolution“: Die Richter sehen in den verlängerten Öffnungs- zeiten bajuwarischer Open-Air-Schenken einen Verstoß gegen das „Bundes- Immissionsschutzgesetz“. Spätestens um 22 Uhr müssten die Zapfhähne ge- schlossen werden. Das Gericht entscheidet damit zu Gunsten entnervter Bier- garten-Anrainer, die sich durch laute Musik und Autolärm belästigt fühlten. Ein „Schandurteil“, grollen aufständische Freilicht-Zecher und drohen mit Protest- märschen nach Berlin. Die Staatsregierung reagiert prompt und patriotisch auf den preußischen Übergriff. Schon Anfang Februar erlässt Umweltminister Werner Schnappauf eine neue „wasserdichte und berlinfeste“ Verordnung, die den Wirten gestattet, ihre Brezel-und-Bier-Gehege bis 23 Uhr offen zu halten. Rebellion beendet, unter allen Wipfeln ist Ruh. SIPA Ehepaar Caroline, Ernst August von Hannover 23. Januar Hochzeit bei Hofe rnst-Fall im Hause Grimaldi: Unter Ausschluss Evon Presse und Paparazzi heiratet Welfen- Prinz Ernst August von Hannover, 44, seine mo- negassische Traumfrau Caroline, 42, die damit von der kleinkalibrigen „Durchlaucht“ zur „Kö- niglichen Hoheit“ aufsteigt. Zu der Trauung im Palast von Monte Carlo fährt das Brautpaar, gut getarnt, im grünen VW-Transporter. Nach der Zeremonie schlüpfen die Hoheiten erneut in das

schmucklose Nutzfahrzeug und enteilen zur MARC F. Hochzeitsparty in die Villa der Prinzessin. Biergarten in München 53 Werbeseite

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Werbeseite Der Krieg ist aus: Trotz der drohen- den Hinrichtung des PKK-Chefs Öcalan sind die re- bellischen Kurden zum Rückzug bereit und legen die Waffen nieder. REUTERS SIPA FEBRUAR Fluch der weißen Pracht

kiläufer und die Wintertourismusbranche frohlocken, als schwere Schneefälle in den Alpen erstmals seit Svielen Jahren die Pisten mit einer dicken, weißen Hülle decken. Aber schon bald schlägt die Freude über die weiße Pracht in Entsetzen um. Brachial wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr, donnern riesige Schneestaubla- winen zu Tal und schlagen Schneisen der Zerstörung. Sie vernichten Bergwälder, verschütten Straßen, zermalmen Häuser und reißen dutzende Menschen in den Tod. Win- tersportorte werden zu Fallen, in denen Einheimische und Touristen von der Außenwelt abgeschnitten sind. Suche nach Lawinenopfern in Evolène 56 Die Welt trauert um Mit Gift und Gas Hussein von Jorda- werden die deutschen nien. Lea Rabin, die Brüder Karl und Walter Witwe des 1995 ermor- LaGrand im US-Staat deten israelischen Arizona hingerichtet. Premiers, würdigt den Ihr Anwalt Steffen Ufer Monarchen als einen beschreibt schockiert wahrhaft königlichen die Gnadenlosigkeit Freund. der Justiz. REUTERS ARC

57 58 Schreckens Schneisen des des 700-Seelen-Ortesrasen inschneereichen den steilenHängen derGebirgsflanke nördlich Vor allemvon Ende desengen Paznauntals. Meter hochgelegenen Bergdorfamoberen Solche Plätze sindseitjeherrar indem1600 lut lawinensicheren Bauplatz.“ denndahastdueinenabso- „Werner, greif zu, im Galtürer Ortsteil Winkl beteiligen solle: obersichaneinemSiedlungsprojekt fragte, alsderihnvor vierJahren geben zuhaben, nem Neffen Werner Jehle denrichtigen Rat ge- sei- Darum war Walter felsenfest überzeugt, gerschule „PizBuin“. sogutwiederInhaber derBergstei- können, Muren oderSteinschlaglauern denen Lawinen, an rer Einheimischerkennt dieGefahrenstellen, Tiroler Kein Heimatort Galtürauf ande- Tour. oder auchalleinindenBergen rund umseinen S Wintersaison fast jeden Tag mitGästen Hugo Walter inderSommer- wieinder eit etwa vierJahrzehnten istBergführer

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Ortsteil Winkl in Galtür nach dem Lawinenunglück ARC SIPA Verschüttetes Chalet in Evolène Hubschrauber im Evakuierungseinsatz in Tirol Chalet-

Wintern immer mal wieder Lawinen Schneemassen, die fast in jedem Win- schweren und über 400 Meter breiten gefährlich dicht an die Häuser heran ter die Felsrinnen „Äußere Wasser- Schneemonster, das auf das Dorf zu- oder auch in sie hinein. leiter“ oder „Weiße Riefe“ hinunter- schießt und über die Hauptstraße hin- So darf ein allein stehendes Haus rauschten, im Talboden vor dem Winkl weg weit in den Winkl vordringt. westlich des Ortes nur im Sommer be- ihre tödliche Wucht verloren. Das Ge- Die Mordslawine fegt das dreistöcki- wohnt werden, weil es vor 80 Jahren biet war grüne Zone, galt als sicher. ge Gästehaus „Litzner“ gleich jenseits von einer Lawine verschüttet wurde. Aber dann geschieht, was kein Galtü- der Straße wie ein Kartenhaus hin- Und im März 1967 drangen Schnee- rer jemals für möglich gehalten hätte. weg. Im ersten Stock eines anderen massen sogar in den Speisesaal des Am Nachmittag des 23. Februar gegen Gebäudes reißt das Schnee-Ungetüm Hotels „Fluchthorn“ ein. 16 Uhr donnern zwei Lawinen aus ei- ein Eckzimmer weg, als habe es ein Doch bis in den Ortsteil Winkl südlich ner Höhe von rund 2700 Metern die wütender Riese mit seiner Pranke aus der Hauptstraße war noch nie eine „Wasserleiter“ und die „Riefe“ hinab, dem Mauerwerk herausgeschlagen. Lawine vorgestoßen. Stets hatten die verschmelzen zu einem 85000 Tonnen Sieben Häuser brechen unter dem An- 60 FEBRUAR 1999 SYGMA VOTAVAFOTO SYGMA Ruine in Montroc Bergung eines Lawinenopfers in Galtür

prall der Schneemassen zusammen, nur wenige Meter entfernten Dorf- Seit Ende Januar hat es in Tirol und weitere 17 werden mehr oder minder platz unter sich begraben, wären sie den anderen Regionen nördlich des schwer beschädigt. Selbst außerhalb womöglich zum Leichentuch für hun- Alpenhauptkamms beinahe ununter- des Lawinenkegels splittern Fenster, derte von Einheimischen und Touris- brochen geschneit. Eine bis zu drei reißen Mauern; so zerstörerisch ist die ten geworden. Denn die besuchen dort Meter hohe Schneedecke liegt jetzt Druckwelle der Lawine. eine Gaudiveranstaltung mit Fassdau- auf Hängen, auf denen in den schnee- Bis an den Haupteingang der Kirche, ben-Rennen und Glühweinausschank, armen Wintern zuvor Skilauf oft nur die auf einer kleinen Anhöhe über um sich davon ablenken zu lassen, dank Pistenberieselung aus Schnee- dem Dorfplatz thront, stürmt die La- dass sie wegen extrem schweren kanonen möglich war. wine heran. Die Spitze eines schmie- Schneefalls schon seit Tagen von der Was der schneebedürftigen Skitouris- deeisernen Grabkreuzes nahe dem Außenwelt abgeschnitten sind. Nie- mus-Industrie zunächst ein Geschenk Portal knickt wie ein Streichholz. Hät- mand kommt aus Galtür heraus, des Himmels scheint, wird zum Fluch ten die Schneemengen auch noch den keiner hinein. dieses Winters. Schon bei Neuschnee 61 FEBRUAR 1999 von 40, 50 Zentimetern ist die Lawi- Meter vom Trubel des Dorfplatzes Einen Tag später poltert eine weitere nengefahr in heiklem Gelände so entfernt auf der Straße hinauf zur Kir- Killerlawine ins Paznauntal. Im Weiler groß, dass Skiläufer besser im Hotel che im steinharten Schnee eingemau- Valzur, nur 3,5 Kilometer von Galtür oder in der Berghütte bleiben. Nach ert ist. Fast drei Stunden dagegen dau- entfernt, fegt sie mehrere Häuser weg. dem wochenlangen Dauerrieseln ert es, bis Suchtrupps, die mit Sonden Sieben Menschen sterben. schießen nun allerorten die unverfes- in den bis zu sechs Meter dicken Mit zwei riesigen Dämmen im Tal, mit tigten Schneeschichten als riesige Schneeschichten stochern, in einem Lawinensperren hoch am Berg und Staublawinen mit unvorstellbarer Zer- schneegefüllten Haus einen jungen Aufforstungen an bislang baumlosen störungskraft zu Tal. Mann aufspüren. Es ist Werner Jehle, Hängen soll nun in Galtür verhindert Sie rasieren Bergwälder weg, ver- der wie sein Onkel Hugo Walter und werden, dass sich die Tragödie wie- schütten Straßen und Schienenwege, alle anderen Galtürer angenommen derholt. Solch aufwendigen Schutz machen so über 100 000 hatten die Galtürer Einheimische und Urlau- selbst und die Landes- ber in den Dörfern und regierung in Innsbruck Weilern schmaler Berg- bislang für überflüs- täler zu ihren Gefangenen sig gehalten, weil das – und reißen nicht nur, wie Gelände unterhalb des in jedem Winter, unvor- Grieskogl-Gipfels, aus sichtige Tourengeher oder dem die Lawinen hin- Tiefschneefahrer in den abstürzten, bis zu 70 Tod, sondern ersticken Grad steil ist. oder erdrücken auch Men- Jeder Experte weiß, schen, die sich in den Ort- dass sich eigentlich nur schaften sicher wähnen. an Hängen mit höchs- tens 50 Grad Neigung m 8. Februar zertrüm- so mächtige Schnee- A mert eine Lawine ein decken bilden können, Restaurant am Ortsrand wie sie für Großlawi- von Wengen im Berner nen unerlässlich sind. Oberland und tötet das In- In steilerem Terrain haber-Ehepaar. Einen Tag rutscht der Schnee im- später sterben zwölf Men- mer wieder in kleineren schen in Montroc und Le Mengen in die Tiefe. Tour nahe Chamonix, als „Wie sich in dem Steil- zwei Lawinen Schneisen gelände der Schnee so der Zerstörung durch Cha- lange halten konnte, let-Siedlungen schlagen. dass es zu einer so rie- Am 21. Februar bringen sigen Lawine kam“, Lawinen zehn Einheimi- sinnt Bergführer Hugo schen und Feriengästen im Walter noch lange nach Walliser Wintersportort der Katastrophe, „ist

Evolène den Tod. Am Tag REUTERS mir ein Rätsel. Dort darauf kommen in Gargel- Neuschnee-Massen in Lech am Arlberg oben muss es ein so un- len (Vorarlberg) zwei An- glückliches Zusammen- gestellte eines Restaurants um, das hatte, dass eine Wohnung im Winkl spiel von Sturm, Niederschlägen und durch eine Lawine verschüttet wird. für Lawinen unerreichbar sei. Temperaturen gegeben haben, wie Weit schlimmer noch schlägt der Nach drei Stunden im Schneebeton dies seit vielen Jahrhunderten nicht weiße Tod im idyllischen Galtür zu. ist die Überlebenschance von Lawi- mehr der Fall war.“ Von den 53 Menschen, die das Lawi- nenopfern sehr, sehr gering – aber Jeh- Touristenwerber für das Berner Ober- nenmonstrum verschlingt, können 31 le lebt. Obgleich noch benommen, land dagegen lassen sich von Lawi- nur noch tot geborgen werden. Allein schlägt er wild um sich, als ihn die nentoten nicht irritieren. In einer 14 sterben im Haus „Litzner“. Retter aus dem Schnee befreien. Es Broschüre für die nächste Saison wer- Die anderen Verschütteten können ge- scheint, als kämpfe der kräftige Mann ben sie um „Adrenalin Junkies“, die rettet werden. Als Erste befreien Hel- immer noch gegen die Massen an, die „mit Schneelawinen Wettrennen ver- fer eine Galtürerin, die nur wenige ihn stundenlang umklammerten. anstalten“. WALTER KNIPS 62 Niedergang von ZürsamArlberg einer Lawine amOrtsrand 63

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Werbeseite AFP Demonstrierende Kurden in Hamburg DPA Von Kurden besetztes griechisches Generalkonsulat in Berlin Endstation Alcatraz

Nach 15 Jahren Guerrillakrieg geht PKK-Chef Abdullah Öcalan seinen türkischen Häschern AP Selbstverbrennung in Athen ins Netz und wird zum Tode verurteilt. 66 FEBRUAR 1999 SIPA Gefangener PKK-Chef Öcalan auf dem Flug in die Türkei

er amtierende türkische Minis- Kraft der Lyrik zunächst nicht mehr führt hatte, auf Grund eines deutschen terpräsident Bülent Ecevit, 74, die Rede. In der Türkei feiern Politik Haftbefehls sistiert worden. Aber die Dist Sozialdemokrat, Intellektu- und Presse die Ergreifung des Chefs junge Bonner Regierung hatte Angst eller mystisch-humanistischer Prägung der militant-marxistischen Arbeiter- vor gewalttätigen Ausschreitungen der und auch ein geschätzter Lyriker. Und partei Kurdistans (PKK) so rauschhaft großen kurdischen Gemeinde und ver- vor vielen Jahren, 1975, hat er schon wie einen gigantischen Fußball-Tri- zichtete auf eine Auslieferung. Mit einmal, im Gedicht „Urteil“, über umph. Der „Baby-Killer“, der „Sa- griechischer Hilfe war Öcalan dann in Schuld und Vergebung geschrieben: tan“, die „Bestie“ ist außer Gefecht. die griechische Botschafterresidenz „Täglich steckt ein Messer/im Rücken Öcalans Entführung ist Endstation ei- nach Nairobi gelangt und dort unter eines anderen/Gestochene wie Ste- ner monatelangen Odyssee, die mit dem Vorwand, er solle in die Nieder- chende sind wir.“ seiner Ausweisung aus Syrien begon- lande gebracht werden, von keniani- Doch als am 15. Februar der Staats- nen hatte und erst nach Italien führte. schen Sicherheitsbeamten heraus- feind Nummer eins der Türkei, Ab- Dort war der Guerrillachef, der mit gelockt worden – direkt in die Hände dullah Öcalan, 50, seinen Häschern dem Endziel eines freien Kurdistan türkischer Agenten. vom türkischen Geheimdienst in die gegen die Türkei 15 Jahre lang einen Öcalan hatte gehofft, sich vor dem Falle geht, ist von der versöhnenden Krieg mit mehr als 30000 Toten ge- Internationalen Gerichtshof in Den 67 FEBRUAR 1999 REUTERS Angeklagter Öcalan bei Verkündung des Todesurteils

Haag verantworten und bei der Gele- geräumt.Während Politiker an die tür- fang August folgte ein weiteres Frie- genheit ein Tribunal gegen die Unter- kische Regierung appellierten, Öcalan densangebot: Der PKK-Chef rief drückung der Kurden in der Türkei im Fall eines Todesurteils nicht hinzu- seine Kämpfer auf, sich bis zum 1. Sep- aufziehen zu können. Er wusste, dass richten, schien die Hoffnung auf ei- tember aus der Türkei zurückzuzie- der bewaffnete Kampf verloren war, nen fairen Prozess eher gering. hen, vom bewaffneten auf den politi- von einst etwa 15000 Kämpfern sollen Öcalan hat nach einer Untersuchung schen Kampf umzurüsten. Die neue ihm nur noch 4000 geblieben sein. Ihm des Europarats einen halbwegs recht- Führung der PKK ließ wenig später schwebte wohl eine Wandlung vom mäßigen, aber politisch motivierten mitteilen, sie wolle Folge leisten. „Freiheitskämpfer“ zum politischen Prozess gehabt. Er übernahm die volle Seit 1984 ist in der Türkei kein To- Führer vor nach dem Muster Nelson Verantwortung für alle ihm und der desurteil mehr vollstreckt worden, das Mandelas und Jassir Arafats. PKK zur Last gelegten Taten – in lässt für Öcalan hoffen.Auch Ecevit ist Die Nachricht von Öcalans Gefan- Wahrheit seien es noch mehr gewe- ein Gegner der Todesstrafe und ar- gennahme, die Bilder des gedemütig- sen, sagte er. Wie von jedermann er- beitet an ihrer Abschaffung. ten Idols führen zu einer Welle der wartet, wurde er wegen Hochverrats Im November bestätigt das Appellati- Gewalt. Zehntausende Kurden stür- und Mordes zum Tode verurteilt. onsgericht das Todesurteil. Jetzt muss men, mit Knüppeln und Eisenstangen Nach seinem Spruch outete sich der das Parlament über die Vollstreckung bewaffnet, durch die Straßen, attackie- Richter des Staatssicherheitsgerichts, abstimmen. Für den Fall der Zustim- ren türkische, deutsche, israelische, Turgut Okyay, als Gegner der Todes- mung, hat Staatspräsident Süleyman amerikanische, griechische Einrich- strafe, angesichts der herrschenden Demirel bereits wissen lassen, könne tungen. In Berlin erschießen israe- Gesetze habe er aber kein anderes Ur- „der Europäische Gerichtshof für lische Sicherheitsbeamte drei kurdi- teil fällen können. Dann ließ er noch Menschenrechte die Ausführung stop- sche Männer und eine Frau. Mehrere wissen: „Alle sind Menschen.“ pen“. Steht zu hoffen, dass der Geist Selbstverbrennungsversuche heizen Öcalan, die personifizierte Reue und der Versöhnung anhält, der sogar die die Emotionen weiter an. Friedfertigkeit, bot sich als Mittler an, sonst so radikale „Hürriyet“ erfasst Derweil wurde für den Kurdenführer der am Leben bleiben müsse. Sollte er hatte: Sie forderte, statt an Rache „lie- das Staatssicherheitsgefängnis auf der hängen, so Öcalan, werde das „hun- ber an das Leben der noch ungebore- Insel Imrali, das „türkische Alcatraz“, derttausende das Leben kosten“. An- nen Generationen“ zu denken. 68 Werbeseite

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Werbeseite FEBRUAR 1999

KÖNIG HUSSEIN 1935 – 1999

„Friede sei mit Ihnen, Gottes Friede. Ich stehe heute vor Ihnen mit einem Gefühl größten Stolzes, einem Gefühl der Erfüllung. Dies ist ein ungewöhnlicher Tag, ein Tag wie kein anderer. Gott zu Gefallen und mit Gottes Segen werden wir uns an diesen Tag erinnern, solange wir leben. Jordanier, Israelis, Araber, Palästinenser, allen Kindern Abrahams wird dieser Tag im Gedächtnis bleiben als Anbruch einer neuen Ära des Friedens, der gegenseitigen Achtung und Toleranz.“

Jordaniens König Hussein zum Friedensab-

AFP kommen mit Israel, am 26. Oktober 1994

72 SIPA PRESS SIPA Hussein-Trauerzug

73 Freunde für den Frieden LEA RABIN, Witwe des ermordeten israelischen Premiers Jizchak Rabin, zum Tode des jordanischen Königs Hussein ACTION

önig Hussein von Jordanien auf dem Empfang eines Kon- tarf ich zum ersten Mal auf gressabgeordneten, kam der Kdem Rasen des Weißen Hauses Protokollchef des US-Außen- in Washington. Es war der 25. Juli 1994, ministeriums auf mich zu und ein drückend heißer Tag. Jizchak, der erzählte, er sei gleich noch in König und Präsident Bill Clinton hat- der Nähe zu einem Dinner zu ten jene Erklärung unterzeichnet, die Ehren von König Hussein ein- den Kriegszustand zwischen Jordanien geladen. und Israel offiziell beendete. Dazu muss man wissen, dass Als wir uns schließlich die Hand schüt- uns Jordanien, Israels Feind aus telten, war ich sehr beeindruckt. Er dem Sechstagekrieg 1967, in- hatte ein sehr warmes, gewinnendes zwischen einen großen Dienst Lächeln und war unglaublich char- erwiesen hatte. Zwei Monate mant. Dass er so klein war, vergaß vor jenem Abend in Washing- man in seiner Gegenwart völlig. Im ton hatte Hussein in einer groß

Gegenteil: Wenn man ihn traf, spürte angelegten Militäraktion zum ACTION man sofort, dieser Mann hat Größe. Schlag gegen die PLO-Verbän- Freunde Lea Rabin, König Hussein* „Wie geht es dir, meine Schwester?“, de auf seinem Territorium aus- erkundigte sich Hussein nach dem At- geholt – obwohl Syrien zur Unter- tokollchef. Mehrmals habe er ihn er- tentat auf meinen Mann stets fürsorg- stützung der palästinensischen Kämp- innert: „Bitte vergessen Sie nicht, den lich. Häufig rief er bei uns zu Hause fer Panzer in Jordanien einrollen ließ. Rabins meinen aufrichtigen Dank und an, etwa um uns zu jüdischen Feierta- So kam es zu einer ersten israe- die besten Wünsche zu übermitteln.“ gen alles Gute zu wünschen. lisch-jordanischen Kooperation: Auf Trotzdem dauerte es noch einige Jah- Eigentlich ist es merkwürdig, dass es Wunsch der USA schloss sich Israel re, bis sich mein Mann und Hussein so lange dauerte, bis wir uns begeg- den Drohungen gegen Syrien an, das dann zu Geheimgesprächen trafen. neten. Im Grunde waren wir uns näm- daraufhin nach einigen Tagen tatsäch- Das erste fand um 1975 statt, nach- lich schon 1952 sehr nahe – rein ört- lich seine Panzer zurückzog. dem Jizchak Premierminister gewor- lich. Damals studierte mein Mann an Deshalb gab ich dem Protokollchef den war. Selbst ich wusste nie genau, der Generalstabsakademie im briti- eine Botschaft mit auf den Weg: wo sie sich eigentlich trafen – mal in schen Camberley. Und sozusagen um „Richten Sie dem König bitte Grüße der Wüste, mal in London, mal auf die Ecke, im Nachbarort Sandhurst, von mir aus, und versichern Sie ihm, einer Yacht. Jizchak kam stets gut büffelte der damals 17-jährige jorda- dass wir Israelis seinen Mut und seine gelaunt von diesen Begegnungen nische König an der Militärakademie. Entschlossenheit im Kampf gegen die zurück: „Der König ist wahnsinnig 1970 kamen wir erneut in Reichweite PLO sehr bewundern.“ Schon am nett. Es war wunderbar – auch wenn – ohne uns zu sehen. Mein Mann dien- nächsten Morgen erhielt ich die Re- nichts dabei herausgekommen ist.“ te zu der Zeit als israelischer Bot- aktion. Den König habe die Nachricht schafter in Washington. Eines Abends, „sehr beglückt“, berichtete der Pro- * Anlässlich der Beisetzung von Jizchak Rabin 1995. 74 FEBRUAR 1999

Das Problem war, dass Hussein sich der beiden, eine Zigarette anzu- Schulmädchen auf einem Ausflug keinen Zentimeter bewegen wollte. Er stecken. Schließlich hielt es mein erschoss, ging er wie selbstverständ- war unnachgiebig und verlangte die Mann nicht mehr aus. Er bot dem lich zu den trauernden Eltern in komplette Rückgabe aller 1967 er- König einfach eine Zigarette an: Israel – und kniete vor ihnen nieder. oberten Gebiete einschließlich Ost-Je- „Schließlich ist es doch Ihr Zuhause, Mit dieser historischen Geste erober- rusalem. oder?“ Hussein griff sofort zu und bot te er endgültig die Herzen der Is- Fast 20 Jahre dauerte es, bis wir seinerseits Jizchak eine Zigarette aus raelis. schließlich Frieden schlossen. Im seiner Schachtel an. Von diesem Zu Jizchaks Beerdigung nach dem At- Grunde war Hussein dazu erst bereit, Augenblick, als die beiden sich ge- tentat kam er mehr als Freund denn als er 1993 sah, dass wir den Palästi- genseitig Feuer geben, gibt es ein als Staatsoberhaupt. Seine Rede auf nensern die Hand zum Frieden reich- großartiges Foto. dem Friedhof hat mich sehr berührt. ten. Da fürchtete der jordanische Über die Jahre war das Verhältnis zwi- „Du hast als Soldat gelebt, und du bist Monarch, der Zug in die Zukunft schen den beiden Männern sehr eng als Soldat des Friedens gestorben“, könnte ohne ihn weiterfahren. geworden, ich würde sagen, sie ver- würdigte er meinen Mann. Der Friedensvertrag zwischen Israel band eine echte Freundschaft. Beide Er selbst wünsche sich, so sagte er, ei- und Jordanien wurde am 26. Oktober hatten große Hochachtung voreinan- nes Tages genauso zu sterben – wie 1994 am neuen Arawa-Grenzübergang der. Das galt auch für Jizchak und den Jizchak und sein Großvater Abdullah. in der Nähe von Akaba und Eilat un- PLO-Chef Arafat, doch bei Hussein Beide starben im Kampf für den terzeichnet. Anschließend waren wir, kam diese Wärme und menschliche Frieden durch die Hand eines Ex- gemeinsam mit dem US-Präsidenten, Nähe dazu. tremisten. Das Attentat auf seinen Gäste des Königs zum Festbankett in Hussein besaß echte königliche Wür- Großvater 1951 vor der Al-Aksa-Mo- seinem Sommerpalast in Akaba am de, doch gleichzeitig war er sehr direkt schee in Jerusalem hatte Hussein als Roten Meer. und schnörkellos. Sein Gespür für 15-Jähriger sogar miterlebt. Sowohl Jizchak als auch König Hus- Menschen machte ihn so populär. Er hätte wohl nie gedacht, dass ihn sein waren leidenschaftliche Raucher, Als 1997 ein durchgedrehter jordani- kein äußerer Feind, sondern der Krebs doch wegen Clinton traute sich keiner scher Grenzsoldat sieben israelische besiegen würde. Raucher Hussein, Rabin im königlichen Sommerpalast am Roten Meer (1994) REUTERS Werbeseite

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Werbeseite FEBRUAR 1999 REUTERS Verurteilte Karl, Walter LaGrand, Hinrichtungsstätten im Staatsgefängnis Florence, Arizona Ein barbarischer Tod Nach 15 Jahren in der Todeszelle werden die Deutschen Karl und Walter LaGrand in Arizona hingerichtet. Ihr Verteidiger, der Münchner Rechtsanwalt STEFFEN UFER, schildert die verzweifelten Versuche, das Leben der Brüder zu retten.

m 24. Februar wird Karl La- Noch mindestens sechs Minuten habe Die Gefängnisverwaltung von Flo- Grand im Staatsgefängnis von er verzweifelt um Luft gerungen und rence hatte die Todesfolter noch er- AFlorence, Arizona, von Staats seine Hinrichtung bewusst mitbe- höht, weil sie Walter fünf Stunden lang wegen getötet. kommen, berichtete mir Mitverteidi- auf den Todesstuhl gefesselt in der Am 3. März stirbt sein Bruder Walter. ger Bruce Burke. Noch nie habe er ein kleinen Gaskabine warten ließ. In Er erleidet einen grauenvollen Tod. solches Horrorszenario erlebt. dieser Zeit befand zunächst das US- 78 AFP

SIPA DPA FEBRUAR 1999

Bundesberufungsgericht in San Fran- wollte mich heiraten“, schrieb sie in Mann und fürsorglicher Vater trotz cisco, dass eine Tötung durch Vergasen den Fragebogen. Aber Mr. Lopez seiner erst 23 Jahre. 1968 wurde er zutiefst grausam und deshalb mit der verschwand in die USA und ließ nie endlich Adoptivvater der drei Gebel- amerikanischen Verfassung nicht zu wieder etwas von sich hören. Kinder. vereinbaren sei.Aber der Oberste Ge- Während Emma Gebel als Bedienung Dann aber musste Sergeant LaGrand richtshof in Washington wischte diese arbeitete, wurden Walter und seine nach Vietnam, und als er von dort Entscheidung vom Tisch. 18 Monate ältere Schwester Petra von zurückkam, war er nicht mehr so rei- der Großmutter mehr schlecht als zend und fürsorglich zu Frau und Kin- alter LaGrand wollte, wie er mir recht versorgt, sie mussten sogar we- dern. Die Familie lebte inzwischen in Win seinem Abschiedsbrief schrieb, gen Unterernährung behandelt und Tucson,Arizona. Masie fing an zu trin- bewusst die Tortur der Hinrichtung später in einem Heim untergebracht ken, schlug die Frau vor den Augen auf sich nehmen, um anderen Todes- werden. In dieser Zeit gebar Emma der Kinder. Karl war neun Jahre alt, kandidaten, speziell den noch in Flo- Gebel einen weiteren Sohn: Karl – Va- als die Brüder zum ersten Mal davon- rence einsitzenden deutschen Brüdern ter unbekannt. liefen – und bei der Heimkehr zog der Michael und Rudi Apelt, ein ähnliches Dann aber lernte Emma Gebel den Adoptivvater den Gürtel aus der Hose Schicksal zu ersparen. Ich war von der US-Sergeanten Masie Lee LaGrand und verprügelte die Jungen. Mutter der Apelts gebeten worden, kennen, der in einer Augsburger Ka- Karl und Walter LaGrand mussten mich um ihre Söhne zu kümmern. Ei- serne stationiert war. Endlich schien sich im Rahmen der gesetzlich vorge- ner dieser Brüder bat mich dann, die sich etwas zum Besseren zu wenden schriebenen Gnadenanhörung jeweils LaGrands zu betreuen, denen es letzt- in ihrem Leben. Masie LaGrand einen Tag vor ihrer Hinrichtung vom lich noch schlechter gehe als ihm und („Neger“, vermerkte das Kreisju- US-Staatsanwalt vorhalten lassen, seinem Bruder. gendamt seinerzeit) war bereit, Emma dass dieses Weglaufen und nächtliche Die Brüder Karl und Walter LaGrand zu heiraten und die drei Kinder zu Wegbleiben bereits den Beginn einer waren im Alter von 18 und 19 Jahren adoptieren. deutlichen kriminellen Karriere mar- verhaftet worden und warteten 15 Am 18. März 1966 war die Hochzeit, kiere. Jahre auf die endgültige Beurteilung ein Jahr später kehrte Sergeant La- Über die Mutter schrieb eine Sozial- ihrer schriftlichen Eingaben. Walter Grand mit seiner Frau und den drei arbeiterin 1975: „Sie hat nie verstan- LaGrand wurde 1962 geboren, seine Kindern in die USA zurück. Der In- den, dass man ein Kind auch einmal in Mutter Emma Gebel nannte dem ternationale Sozialdienst schickte aus den Arm nehmen und ihm einen Kuss zuständigen Jugendamt den US-Sol- Texas einen begeisterten Bericht an geben muss.“ Zu diesem Zeitpunkt daten Molina Lopez als Vater des das zuständige deutsche Jugendamt. war Karl zwölf Jahre alt und die Ehe Kindes. „Er bekannte sich dazu und Masie LaGrand sei ein reizender zwischen Emma und Masie gerade geschieden.

arl und Walter entschlossen sich, Kam 7. Januar 1982 in Marana, Ari- zona, einen Banküberfall zu begehen. Sie hatten sich einen von vielen US- Fernsehfilmen zum Vorbild genom- men und wählten eine winzige Klein- stadt-Bank am Rande der Wüste und in der Nähe der Autobahn. Sie erwarteten keinen Widerstand und nahmen lediglich eine Spielzeug- pistole als Drohmittel und ein Elek- trokabel als eventuell notwendiges Fesselmaterial mit. Beim Versuch, von den Angestellten die Kombination für den Tresor zu erpressen, agierte das Duo derart stümperhaft, dass ein Bankmanager trotz Fesselung die Be- drohung nicht mehr ernst nahm und nach Karl LaGrand trat.

DPA Karl rastete daraufhin aus und ergriff LaGrand-Anwalt Ufer vor dem Gnadenausschuss in Florence einen Brieföffner, mit dem er den Ma- 80 Werbeseite

Werbeseite FEBRUAR 1999 nager mit einer Vielzahl von wilden Der Betontrakt, der neuerdings die Justizministerin sowie den Bundes- Schnitten und Stichen fast am ganzen rund 120 zum Tode verurteilten tagsausschuss für Menschenrechte. Zu Körper verletzte und ihn dadurch Gefangenen in Florence beherbergt, meiner Überraschung rief der Bun- tötete. Die vor Angst aufschreiende wirkt von außen wie ein supermoder- deskanzler auch sofort hier in der Angestellte Dawn Lopez wurde durch nes Krankenhaus. Er wirkt auch in- Kanzlei an, versprach jede Hilfe. Aber einige Stiche verletzt. Nach meinem nen so sauber, dass man als Besucher gehandelt wurde viel zu spät. Rechtsverständnis das eindeutige Bild meint, auf dem Weg in eine Intensiv- Erst am Vorabend der Hinrichtung einer Affekt-Tat. station zu sein. von Walter LaGrand, etwa gegen 19 In Arizona aber hatten Karl und Wal- Die Betonzellen sind fensterlos und Uhr, wurde in Bonn entschieden, eine ter ihr Leben verwirkt. Beide wurden, auch nach innen nahezu hermetisch Eingabe beim Internationalen Ge- weil sie ihr Auto vor der Bank geparkt abgeschlossen. Das Licht brennt 24 richtshof in Den Haag zu machen. hatten und vor der Tat schon mehre- Stunden am Tag, so dass die Gefange- Claudia Roth, die Vorsitzende des ren Zeugen aufgefallen waren, noch nen jederzeit per Kamera überwacht Menschenrechtsausschusses, rief mich am gleichen Tag verhaftet. Sie gestan- werden können. Ein winziges Gitter beglückt an und las mir die Presse- den sofort. mit stecknadelkopfgroßen Löchern, mitteilung vor, die allerdings mit dem durch die man nur schemenhaft er- Hinweis endete, man verspreche sich or dem Geschworenengericht wa- kennen kann, ob sich vor der Zelle je- nicht viel von diesem Schritt. Damit Vren Karl und Walter ohne jede mand bewegt, bietet die einzige Mög- wollte man offenbar die zeitliche Ver- Chance. Ihre Pflichtverteidiger er- lichkeit, anderen etwas zuzurufen. zögerung beschönigen und entschul- klärten ihnen von vornherein, dass sie Das Essen wird, nachdem sich der Ge- digen. Ich war fassungslos. Ich hatte angesichts der Small-Town-Jury kaum fangene an das Zellenende begeben noch keinen Anwalt erlebt, der eine etwas für sie würden tun können. hat, unter der Tür durchgeschoben. Klage einreichte und gleichzeitig öf- Karls Anwalt hatte wenigstens noch Gemeinsame Freizeit findet nicht fentlich darlegt, dass er nichts von sei- so viel Anstand und Charakter, auf statt. Der Hofgang erfolgt einzeln in ner Maßnahme hält. seine eigene Inkompetenz hinzuwei- einem etwa acht mal drei Meter Entgegen der pessimistischen Einstel- sen. Vor privaten Problemen war er großen Käfig. lung der Bundesregierung reagierte in Alkohol und Drogen geflüchtet und Trotz dieser unsäglichen Haftbedin- der Internationale Gerichtshof in Den fühlte sich nicht in der Lage, der Ver- gungen, die jeden Kontakt zu anderen Haag sofort und erließ per einstwei- handlung ordnungsgemäß zu folgen. Menschen oder auch nur zu einer liger Verfügung einen Hinrichtungs- Doch seine drei Anträge, von der Ver- Maus oder einer Fliege unmöglich ma- stopp. Hätte Deutschland rechtzeitig teidigung entbunden zu werden, lehn- chen, haben Karl und Walter eine er- die einstweilige Anordnung in Den te der Richter ab – ihm genügte die staunliche menschliche Entwicklung Haag beantragt und auch politisch in bloße Anwesenheit des Juristen. durchgemacht. den USA deutlich genug unterstützt, Bei der ersten Überprüfung des To- Karl glich Bildungsdefizite aus und wären nach meiner Überzeugung desurteils bejahten die Bundesrichter wurde zu einem überaus gebildeten, hier die Hinrichtungen allemal aufge- mit gerade einmal 2:1 Stimmen, dass religiös-philosophisch interessierten schoben worden. Es hätte eine neue die Verteidigung soeben noch dem jungen Mann. Ihm konnte man schon Chance gegeben. notwendigen gesetzlichen Mindest- nach dem ersten Gespräch abnehmen, standard entsprochen habe. dass er seine Tat von Anfang an zu- ie USA haben sich laut Wiener Über 17 Jahre zog sich das Verfahren tiefst bedauert hat. In seinem Ab- DKonsularrechtskonvention der Ge- hin, angefüllt mit stetiger Hoffnung schiedsbrief schrieb er, dass er die richtsbarkeit in Den Haag ausnahms- und Verzweiflung, unter Haftbedin- Gaskammer auf sich nehmen wolle, weise unterworfen. Sie hätten hier gungen, die nichts mehr mit Sicher- um auf die aberwitzige, unmensch- gegen einen deutlich erkennbaren heit, sondern nur noch mit Un- liche Grausamkeit der Todesstrafe politischen Willen in Bonn die Ent- menschlichkeit zu tun hatten. schlechthin aufmerksam zu machen – scheidung aus Den Haag nicht arro- Während Karl und Walter in ihrer und so anderen das Leben zu retten. gant beiseite gewischt: Der Bundes- ersten Todeszelle wenigstens noch von Als die Hinrichtungstermine festge- staat Arizona hielt am Todesurteil fest. Zeit zu Zeit Gesprächskontakt mit an- setzt wurden, bat mich Carla Ryan, Im Falle Karl LaGrand wurde der In- deren Gefangenen hatten, wurde in die die Brüder in den letzten Jahren ternationale Gerichtshof vorher nicht den letzten Jahren jeglicher Kontakt engagiert verteidigt hatte und eigent- eingeschaltet, so blieb als Hoffnung zur Außenwelt mit Ausnahme von Be- lich sicher war, das Schlimmste ver- der Gnadenausschuss des Staates Ari- suchen der Schwester und der Anwäl- hindern zu können, um jede vorstell- zona. Zur Anhörung wurde Karl in ei- te ausgeschlossen – Trennscheibe und bare, auch politische Hilfe. nen etwa zwei Quadratmeter großen entsprechende Fesselung waren aber Wir wandten uns an Bundeskanzler Käfig gesetzt. Außerdem war er nicht auch da immer obligatorisch. Schröder, den Außenminister und die nur mit Hand- und Fußfesseln fixiert, 82 Werbeseite

Werbeseite FEBRUAR 1999 REUTERS Begräbnis von Walter LaGrand auf dem Gefängnis-Friedhof von Florence sondern auch noch durch schwere gen amerikanischen Soldaten ange- Als auch noch amerikanische Bürger Ketten, die um seinen Bauch gebun- richtete Massaker an drei Deutschen buchstäblich um Karls Leben bettel- den waren und ihn total auf seinen schilderten, die viehisch vergewaltigt ten, kam ein Gefühl von Hoffnung und Stuhl zwangen. Er war überhaupt nur und dann umgebracht worden waren. Menschlichkeit auf. Doch der wie aus der Nähe zu erkennen. Hinter den Ausgerechnet in der Geburtsstadt von „Doc Holliday“ ganz in Schwarz und engen Maschen des Käfigs hätte – aus Karl LaGrand hatte letztlich die Ju- mit Cowboy-Stiefeln gekleidete Staats- der Ferne gesehen – durchaus auch gendkammer wegen der schwierigen anwalt trägt nicht ohne Grund den ein gefährliches Tier gefangen sein Entwicklung der Angeklagten als Sol- Spitznamen „Dr. Death“. können. daten im Ausland Reiferückstände Im schwierigsten Plädoyer meines festgestellt und auf Jugendstrafe er- r zertrampelte diesen Hoffnungs- Lebens wollte ich bei den vier Mit- kannt. Alle drei erhielten das in Ekeim mit wenigen Sätzen, erklärte gliedern des Gnadenausschusses das Deutschland zulässige Höchstmaß von rundheraus, dass er in keinem Land normalerweise in Amerika stark aus- zehn Jahren Jugendstrafe. leben möchte, in dem Mörder nur geprägte Grundgefühl für Fairness Ich versuchte zu erklären, dass in zehn Jahre Haft bekämen, und dass wecken. Ich verwies auf eine Vielzahl Deutschland niemand verstehen wür- die Strafe letztlich im Interesse der junger amerikanischer Soldaten, die de, dass wir amerikanischen Soldaten Angehörigen des Opfers und der bei trotz schrecklichster Vergewaltigun- nach einigen Jahren Strafhaft die der Tat verletzten Dawn Lopez voll- gen mit Tötungen oder Raubmorden Chance für ein neues Leben gegeben streckt werden müsse, wenn hier nicht von deutschen Gerichten menschlich haben, während in den Vereinigten schreckliche Ungerechtigkeit herr- und letztlich gnädig behandelt wor- Staaten nach einer über 17-jährigen schen solle. Er garnierte sein Plädoyer den waren. Haftverbüßung noch eine schreckli- mit dem für zwei Minuten an eine Ich konnte noch auf alte Zeitungsbe- che Vollstreckung der Todesstrafe Wand projizierten Dia des Hundes des richte verweisen, die das von drei jun- droht. getöteten Bankangestellten: Dieser 84 Werbeseite

Werbeseite FEBRUAR 1999

Hund habe tagelang auf seinen Herrn Gerichtshof ein, und es entstand eine gewartet. vielstündige, unerträgliche Pause. Dawn Lopez erinnerte noch an das Wie in einem schlechten Film nahm ihr zugefügte Leid und behauptete, dann die blonde Pressesprecherin in was in solchen Fällen in den USA im- Anwesenheit von knapp hundert war- mer wieder behauptet wird: Karl La- tenden Anwälten und Journalisten ei- Grand würde seine Tat gar nicht auf- nen gespenstischen Anruf entgegen. richtig bedauern. Schließlich wurde Das Telefonat löste ihr strahlendstes noch eine Erklärung der Angehörigen Lächeln aus, und sie verkündete freu- des Getöteten verlesen, die auch die dig erregt: „The Supreme Court says Vollstreckung der Todesstrafe ver- we can go on. The stay has been lif- langten. ted“ – „Wir dürfen weitermachen, der Nach gut acht Stunden Verhandlung Aufschub ist nicht länger wirksam“. brauchte der Ausschuss nur wenige In Phoenix verkündeten alsbald die Sekunden für die Abstimmung. Ohne Fernsehstationen, dass die Todesstra- jede Beratung entschieden drei der fe vollstreckt worden sei. Karl La- vier Mitglieder gegen eine Begnadi- Grand habe im letzten Moment doch gung.Alle vier hatten lange Karrieren noch um die Giftspritze gebeten. Die- als Polizei- oder Gefängnisbeamte hin- se letzte Gnade habe man ihm aus ter sich – die Gouverneurin konnte Menschlichkeit gewährt. und kann sich auf deren Grundein- stellung offensichtlich blind verlassen. in deutscher Journalist, der die „Dr. Death“ fühlte sich bemüßigt, mir EHinrichtung miterlebt hatte, er- noch jovial auf die Schulter zu schla- klärte anschließend via TV den Ame- gen und mir zu bescheinigen, „you did rikanern, er sei zwar bisher immer für a good job“. Ich fragte ihn nur ent- die Todesstrafe gewesen, was er so- setzt: „Wie können Sie so argumen- eben erlebt habe, hätte ihn aber doch tieren, und wie können Sie für die Ver- nachdenklich gemacht. Ich war völlig gasung dieses Menschen sein?“ Er fassungslos, zumal ich glaubte, diesen lachte nur und erklärte, er habe damit Menschen zu kennen. nicht das allergeringste Problem. Vielleicht hätte ihn der qualvolle Tod Wenn sonst niemand den Hebel um- von Walter LaGrand in der Gaskam- drehen würde, würde er dies auch mer eine Woche später noch etwas selbst erledigen. nachdenklicher gemacht. Vergebens hatte der Internationale Gerichtshof m Tag darauf keimte dann wieder in Den Haag gefordert, die Hinrich- AHoffnung auf, als ein letzter ju- tung auszusetzen. Die Justizministe- ristischer Schachzug meiner US-Kol- rin von Arizona, Janet Napolitano, legin Ryan wenigstens einen längeren lehnte es ab, die Vollstreckung der To- Aufschub versprach. Sie hatte, wohl desstrafe auszusetzen. Etliche ame- wissend, dass das US-Bundesberu- rikanische, vor allen Dingen aber fungsgericht in San Francisco die Hin- deutsche Journalisten reagierten auf richtung in einer Gaskammer als grau- das Geschehen ähnlich fassungslos sam und absolut menschenunwürdig wie ich, versuchten wie ich, mit empfand, den Mandanten geraten, auf größeren Mengen Alkohol der Rea- dieser Form der Vollstreckung zu be- lität zu entfliehen. stehen. Am Tag nach der Hinrichtung von Ihre Eingabe, die Vollstreckung zu Walter LaGrand sprach ein US-Mili- stoppen, hatte denn auch beim Ge- tärgericht den amerikanischen Un- richt in San Francisco den erhofften glückspiloten von Cavalese frei. Der Erfolg. Die Vollstreckung wurde we- Hauptmann Richard Ashby habe nicht gen der nicht hinnehmbaren Grau- einmal fahrlässig getötet, als er im samkeit aufgeschoben. Tiefflug das Tragseil einer italieni- Die Justiz Arizonas aber gab nicht auf. schen Gondelbahn durchtrennte und Sie legte Einspruch beim Obersten 20 Passagiere in den Tod riss. Werbeseite

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2. Februar Neuer BMW-Chef ls „blutigen Freitag in Bayern“ be- Aschreibt die „Sunday Times“ einen Führungswechsel bei BMW. In einer chao- tischen Aufsichtsratssitzung treten Vor- standschef Bernd Pischetsrieder und Ent- wicklungschef Wolfgang Reitzle zurück. Neuer BMW-Boss wird Produktionschef Joachim Milberg. Der Aufsichtsratsvor- sitzende Eberhard von Kuenheim hatte geplant, den für Milliardenverluste bei der BMW-Tochter Rover verantwortlichen Pischetsrieder durch Reitzle zu ersetzen. Doch die Arbeitnehmervertreter wollten Pischetsrieder halten. Am Ende wurde Kompromisskandidat Milberg gewählt. SIPA Impeachment-Sitzung im US-Senat 12. Februar Amtsenthebung Clintons scheitert S-Präsident Bill Clinton, skandalgestählter Stehaufmann der amerikanischen Politik, Uübersteht auch die unappetitlichste Affäre seiner Polit-Karriere. Rund 13 Monate nach den ersten Enthüllungen über Liebesspiele Clintons mit einer Praktikantin im Weißen Haus schlägt der Versuch seiner politischen Gegner fehl, den Demokraten per Amtsenthebungsverfahren vorzeitig in den Ruhestand zu schicken. Der Impeachment- Prozess, den republikanische Abgeordnete anstrengten, weil der Präsident im Verlauf der Untersuchungen angeblich einen Meineid geschworen und die Justiz behindert habe, endet mit einer Abstimmungsniederlage der Ankläger im Senat, der als Gericht fungiert. Nur 45 der 100 Senatoren halten Clinton des Meineids für schuldig, ledig-

ACTION lich 50 sind überzeugt, er habe die Justiz behindert. Die für eine Amtsenthebung erfor- Milberg derliche Zweidrittelmehrheit wird damit klar verfehlt.

7. Februar Rotes Hessen wählt schwarz n der ersten Landtagswahl nach dem Erfolg von Rot-Grün bei Ider Bundestagswahl 1998 müssen Kanzler Schröder und seine Regierung „eine schallende Ohrfeige“ hinnehmen. So jedenfalls deutet CDU-Bundesvorsitzender Wolfgang Schäuble den Sieg sei- ner Partei bei der Wahl in Hessen, wo seit acht Jahren Rot-Grün mit dem Sozialdemokraten Hans Eichel an der Spitze regiert. Die CDU legt gegenüber 1995 um 4,2 Punkte auf 43,4 Prozent zu, die SPD dagegen schafft nur einen Stimmenanteil von 39,4 Prozent (1995: 38,0 Prozent). Der geringe Zuwachs der SPD reicht nicht, um Regierungschef Eichel im Amt zu halten. Denn die Grünen sacken von 11,2 auf 7,2 Prozent ab – weit stärker noch als die Frei- en Demokraten, die mit 5,1 Prozent (1995: 7,4 Prozent) den Wie- dereinzug in den Landtag schaffen und so für eine Koalition mit der CDU bereitstehen. Dass nun der Weg des CDU-Spitzenkandi- daten Roland Koch in die Wiesbadener Staatskanzlei frei ist, hat der, da sind sich alle Experten einig, kaum seinem landespoliti- schen Einsatz zu verdanken. Koch profitiert davon, dass eine Kampagne seiner Partei gegen den Plan der Bundesregierung,

Ausländern in Deutschland das Recht auf doppelte Staatsbürger- REUTERS schaft zu gewähren, auf breite Zustimmung der Wähler stößt. Wahlsieger Koch 88 MELDUNGEN

25. Februar Eine Ewigkeit im Kerker ach 41 Jahren im südkoreanischen Gefängnis Taejon Nwird der Häftling Woo Yong Gak, 71, amnestiert. Er gilt als politischer Gefangener, der weltweit am längsten eingekerkert war. Der Nordkoreaner war 1958 wegen Spionage für das kommunistische Regime seines Landes zu einer Haftstrafe von 49 Jahren verurteilt worden, obwohl er immer wieder seine Unschuld beteuert hatte. Ein Bekenntnis zu südkoreanischen Gesetzen hatte Woo stets verweigert. Erst als Menschenrechtler den Fall hart- näckig anprangern und der Häftling Woo für die Behör- den „keine Bedrohung mehr darstellt“, kommt die Be- gnadigung. FOTOCREDIT NAT BULLS/NATIONAL NEWS (2) BULLS/NATIONAL NAT Myatt-Werk in Bissière-Manier Myatt-Werk in Sutherland-Manier 15. Februar Die hohe Kunst des Fälschens er größte Fälscher-Skandal der neueren DKunstgeschichte endet mit der Verurteilung des Haupttäters zu sechs Jahren Haft. Binnen zehn Jahren drehte der Brite John Cockett, der sich seit dem Schulabgang John Drewe nannte, Galerien und Auktionshäusern wie Sotheby’s und Christie’s 200 Werke an, die angeblich von namhaften modernen Malern wie Roger Bissière und Graham Sutherland stammten. Tatsächlich aber hatte der Provinz- maler John Myatt die Pseudo-Meisterwerke im Auftrag Drewes gepinselt. Die Dokumente, DPA PA/epa mit denen er die Herkunft der Bilder belegte, Kunst-Schwindler Drewe hatte Drewe selbst raffiniert gefälscht. Woo Yong Gak nach der Haftentlassung

21. Februar Rekord-Flieger eutsche Triumphe bei der Weltmeis- Dterschaft der Skispringer im öster- reichischen Bischofshofen: Der Furt- wanger Himmelsstürmer Martin Schmitt, 21, gewinnt den Weltmeister- titel auf der Großschanze, knapp vor seinem Hinterzartener Teamkollegen Sven Hannawald, 24. Zum ersten Mal seit zehn Jahren, als der DDR-Cham- pion Jens Weißflog im finnischen Lahti einen Titel holte, ist damit ein Deut- scher wieder Skisprung-Weltmeister. Erstklassig springen auch Christof Duffner und Dieter Thoma, die in der Mannschaftswertung gemeinsam mit Schmitt und Hannawald die Goldme- daille gewinnen. Vier Wochen später krönt Kunstflieger Schmitt seine Sie- gesserie: Er überholt seinen Hauptkon- kurrenten, den Finnen Janne Ahonen, und sichert sich damit den Gesamt- Weltcup der Skispringer. Sein Manager sieht ihn bereits als neues deutsches

Idol: „Der Martin kann einmal in die BONGARTS Fußstapfen von Boris Becker treten.“ Skispringer Schmitt 89 Werbeseite

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Werbeseite Bei infernalischen Bränden im Mont- blanc- und im Tauern- Tunnel sterben 51 Menschen. Ist eine Röhre zu wenig? Oder sind die Lkw- Lawinen schuld an den Katastrophen? F. NEUMAYR F. REUTERS MÄRZ Oskar auf der Geisterbahn

o spektakulär und schroff wie Oskar Lafontaine ist im Nachkriegs-Deutschland noch kein Politiker Szurückgetreten. Aber irgendwie will er im Nach- hinein wohl doch nicht alles so endgültig gemeint haben. Mit seinem früheren Männerfreund und Rivalen Gerhard Schröder, der ihn nicht nur als Kanzler überflügelt, sondern nun auch als SPD-Vorsitzender beerbt hat, steht ein klären- des Wort noch aus. Als öffentlich tingelnder Privatmann redet er, als sei er noch Parteichef. Doch in Wahrheit ist er selbst von sich enttäuscht. Privatmann Lafontaine mit Sohn Carl- 92 Das politische Jahr- Eine tiefere Beziehung hundert-Ziel verpasst, zum Planeten Erde stattdessen im Sumpf hätten er und sein gelandet – so urteilt Co-Pilot Brian Jones Staatsministerin a. D. bei ihrer Nonstoptour Hamm-Brücher über um die Welt bekommen, den skandalträchtigen schreibt der Schweizer Rücktritt der 20 EU- Ballonfahrer Bertrand Kommissare. Piccard. J.-F. LUY J.-F. AFP Maurice nach dem Rücktritt vor seinem Haus in Saarbrücken 93 Kontrahenten Schröder, Lafontaine

igentlich gibt es das nur als Her- gäbe es nichts. „Mit freundlichen Grü- Herz“, sagt er, „wird noch nicht an renwitz – dass einer mal eben Zi- ßen“. Punkt. Aus. der Börse gehandelt, aber es hat einen Egaretten holen geht, und dann Ende? Standort – es schlägt links.“ verschwindet er aus dem Leben seiner Ein politischer Skandal, kein Zweifel. Linke Lyrik auf einem politischen Mitmenschen auf Nimmerwiederse- Und auch, unübersehbar, ein persön- Grabstein? Nein, ein Ende sollte das hen. Am Donnerstag, dem 11. März, liches Drama: Nach 30 Jahren Arbeit nicht gewesen sein. Der hochtalen- führt Oskar Lafontaine, SPD-Bundes- in politischen Führungsfunktionen, tierte und maßlos ehrgeizige Oskar tagsabgeordneter, Vorsitzender der nach spektakulären Erfolgen und kra- Lafontaine hatte nur ein Kapitel seiner Sozialdemokratischen Partei Deutsch- chenden Niederlagen bricht ein Mann quälenden Lebensgeschichte abge- lands und Finanzminister der führen- in aufrechter Haltung öffentlich zu- schlossen, als öffentliches Schauspiel. den Wirtschaftsmacht Europas, diese sammen. Zutiefst persönlich und poli- Seit langem schon ist es ihm offenbar Variante in die Politik ein. Er nimmt tisch verletzt, knallt er im Amt die Tür nicht mehr möglich, seine privaten sein Familienfoto von der Wand seines zu und taucht drei Tage später als Persönlichkeitsprobleme anders zu lö- Büros, packt seine Reisetasche, steigt Privatmann, das Söhnchen geschul- sen denn als Mischung aus Psycho- in seinen Dienstwagen – und weg ist tert, in Saarbrücken wieder auf. Frei- drama und Staatstheater. er. In drei kurzen Briefen teilt er mit, lich nicht nur vor seiner Haustür, son- „Dass ich meine Ämter zur Verfügung dass er alles hinschmeiße. Zu bereden dern auch vor den Mikrofonen. „Das gestellt habe, heißt nicht, dass ich mich 94 M. EBNER/MELDE PRESS

nicht mehr öffentlich äußere“, droht Und unermüdlich tingelt er seither helm Hankel? Der vorherrschende der Politikflüchtling. Und so heiß sein durch die Republik und ihre Nach- Eindruck bleibt: Ein Frustrierter linkes Herz schlägt, so heftig keilte barländer, um der staunenden Öffent- schafft Frust für andere. er fortan gegen „den eigenen Laden“, lichkeit in Talkshows, Bühnenauftrit- Politisch war Oskar Lafontaine in sei- wie er zu sagen pflegt, immer „den ten und Pressekonferenzen klarzu- nen 136 Regierungstagen so gut wie al- Irrweg des Neoliberalismus“ vor machen, dass ihm nach „30 Jahren les misslungen, was er sich vorge- Augen, auf den Ex-Freund Gerhard volles Rohr Politik“, nach „30 Jahren nommen hatte. Für den Saarländer die tumben Genossen zu locken ver- Stress“ ein Rückzug ins Privatleben stand fest, dass sein Rivale Gerhard sucht. nun wirklich zustehe. Schröder dem Kanzleramt nicht ge- Nicht mit ihm. Sie mochten ihn als wachsen war. Dass es der Hanno- Fahnenflüchtling, Arbeitsverweigerer skar, der Gemobbte? Opfer der veraner nicht kann, war keine Er- und Egomanen schmähen, in seinem OMedien-Gewaltherrschaft? Oder kenntnis, die dem Männerfreund Buch, das er mit beträchtlichem PR- hat er sich selbst zum „Skandalfüh- Oskar erst bei seinem Ausscheiden ge- Tamtam auf den Markt brachte, ent- rer“ aufgeschwungen, wie der Philo- kommen wäre. Im Gegenteil: Nur weil hüllte Oskar Lafontaine, dass nicht er soph Peter Sloterdijk glaubt – „un- er sich da ganz sicher war, trat er in die die SPD, sondern die Sozialdemokra- fehlbar“ und „unbelehrbar“ in den Regierung ein. Aus der Position des tie ihn im Stich gelassen habe. Augen von Finanzfachleuten wie Wil- Finanzministers und Parteichefs her- 95 MÄRZ 1999 aus glaubte er, den Kanzler kontrol- lieren zu können. Mit dieser Einschätzung freilich stand er von Anfang an allein. Alle hatten Oskar Lafontaine gewarnt. Und auch bei seinen furiosen Attacken gegen die chaotische Weltfinanzordnung und die heimische Bundesbank blieb er ohne Unterstützung – nicht so sehr, weil er sich im Ton vergriff und im Stil verga- loppierte. Nicht der Keynes war sein Schicksal, sondern er selbst war seiner Sache im Wege.

inmal mehr. Stets stand – um wen Eoder was es dem Saarländer auch immer gehen mochte – im Mittelpunkt die bullige Figur Lafontaine selbst. Nie hat ihn der detailbesessene Perfek- tionismus seiner Sachargumentation oder die pedantische Strenge seiner scholastischen Rabulistik davor ge- schützt, selbst ins Scheinwerferlicht zu geraten. Oskar, der Schurke, das war und ist ein pralles Negativklischee. Na und? Vor und nach seiner Bonner Amtszeit ist ihm das gleichermaßen egal. Sagt er. Er sei wohl das „Ekel Alfred der deut- schen Politik“, pflegte er schon mal zu seufzen, aber das klang dann eher geschmeichelt als genervt. Oskar Lafontaine – der gefährlichste Mann Europas? Der schwarze Ritter? Der Buhmann und Bösewicht, der Macht- Macho und Strippenzieher? Der Schatten-, Neben-, Überkanzler? Viel Feind, viel Ehr? Gewiss, vor allem aber viel Frust. Stets wiederholte sich derselbe Prozess. Schon Oskar, der Held der Friedensbewegung, hatte Anfang der achtziger Jahre mit kru- den Angriffen auf Kanzler Helmut Schmidt seine Sache, die Abrüstung, in den Hintergrund gedrängt. Seit er dem Genossen Kanzler vorgeworfen hat- te, der brüste sich mit Sekundärtu- genden wie Ordnung und Disziplin, mit denen man, so Lafontaine damals, auch ein KZ betreiben könne, ging es nicht mehr um Raketen und „Cruise Missiles“, sondern um „den Oskar“ selbst.

Und so korrekt auch seine Warnungen BONN-SEQUENZ vor der überstürzten Einheit 1990 ge- Politiker Lafontaine im Bundestag 96 wesen sein mochten: Die Ostdeut- schen hörten aus Ton und Attitüde des leidenschaftlichen Anti-Preußen La- fontaine die herzhafte Abneigung ge- gen ein wieder entstandenes Groß- deutschland heraus – zu Recht. Ihre Ablehnung bei der Wahl galt ihm als Person. Und gab denn 1995 bei der legendären Lafontaine-Rede auf dem Parteitag von Mannheim, die Rudolf Scharping das Amt kostete, die stringente Argu- mentation des Saarländers den Aus- schlag? Es war die Person Lafontaine, der Politprofi der mit seiner Leiden- schaft, seiner demagogischen Kraft und seiner blutvollen Aggressivität den Putsch bewirkte. Und nur wer ihn ein bisschen besser kannte, wusste, dass seine Beteuerung, er habe das nicht so berechnend und cool geplant, wie es aussah, nicht ganz gelogen war. Diese Version war zumindest auch eine Wahrheit.

eit eh und je ist Ambivalenz das SMarkenzeichen des kraftvollen Saarländers, ein zerstörerisches und Frust auslösendes Charakteristikum, das Macht und Ohnmacht zugleich bedeutet: Immer geraten sich die zwei Oskars ins Gehege – der Vollblutpo- litiker und der Familienvater, der weltpolitische Karrierist und der Saar- brücker Heimatfreak, der hochin- telligente Denker und der soziale Tölpel. Das irritiert nicht nur seine Umge- bung. Das macht ihm auch selbst zu schaffen. „Jetzt ist es auch wieder nicht richtig“, jammert er heute. Denn irgendwie ist er wieder in einer Posi- tion gelandet, die er eigentlich nicht wollen konnte, wenigstens nicht ganz und nicht so, und folgerichtig geraten seine Stellungnahmen – so logisch und geradlinig er sie auch entwickelt – bis- weilen geradezu grotesk verquer. Seine Tournee gleicht bisweilen einer Geisterbahn. Wo immer er derzeit öffentlich auftritt – ob er in Berlin sein Buch „mit sozialdemokratischem Gruß“ signiert oder im Wiener Burg-

BINDER theater „sozialdemokratische Politik“ Müßiggänger Lafontaine nach dem Rücktritt predigt –, erweckt er den Eindruck, er 97 MÄRZ 1999 A. GEBHARD/DPA Autor Lafontaine im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse werde anschließend ins SPD-Präsi- ausschließen will er natürlich auch Hause, wie Ex-Männerfreund Lafon- dium gehen und die Dinge in Ordnung nichts. Er hat einen Film im Kopf, sagt taine behauptet. bringen, die er beklagt. er, „und in zwei Jahren sieht die Welt Manch „einfacher Mann“ mit SPD- Besonders gespenstisch geriet im Ok- ganz anders aus“. Parteibuch verweigerte die Wahl wohl tober die Vorstellung seiner Recht- auch aus Enttäuschung über „den fertigungsschrift auf der Frankfurter ass er „in der deutschen Sozial- Oskar“. In Berlin stand im November Buchmesse. Vor Hunderten von Jour- Ddemokratie“ weiterkämpfen wol- plötzlich der ehemalige Genosse Ümit nalisten verkündete er, ohne über sich le, ist er seither nicht müde geworden Yazicioglu vor ihm, als er signierte. zu stutzen: „Das Buch ist, wenn Sie zu verkünden, nachdem er ihren Vor- Der hatte nach 19 Jahren aus Frust wollen, so etwas wie eine längere sitz weggeworfen hat. Er spielte sogar über „Oskars“ Rücktritt vom Partei- Parteitagsrede.“ mit dem Gedanken, zum Berliner Par- vorsitz sein SPD-Mitgliedsbuch zu- Oskar Lafontaine war zu diesem Zeit- teitag zu reisen. Doch spürte er, dass rückgegeben. Lafontaine lauschte den punkt schon so in Rage geraten, dass er dort auch bei den Delegierten nicht Vorwürfen des arbeitslosen türkisch- ihm offenbar gar nicht mehr in den willkommen sein würde. Denn nicht stämmigen Mannes und schwieg. Sinn kam, wie bizarr diese Bemer- alle Genossen, die in den letzten Mo- „Wer enttäuscht schon gerne Leute?“, kung aus dem Munde eines Mannes naten – vor allem im Saarland, in Ber- hatte er achselzuckend kurz vorher in wirken musste, der sich durch seinen lin und in Nordrhein-Westfalen – der einer Fernseh-Show gesagt. Resigniert Abgang für Parteitagsreden fürs Ers- SPD bei Wahlen ihre Stimme nicht ga- klang er da, unglücklich. Denn wen te disqualifiziert hatte. ben, blieben aus Ärger über Kanzler hätte Oskar Lafontaine wohl mehr Nein, ein direktes politisches Come- Schröder und dessen „geistlose“ und enttäuscht als sich selbst? back hat er nicht im Sinn, aber direkt „alberne“ Modernisierungspolitik zu JÜRGEN LEINEMANN 98 Werbeseite

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Werbeseite Montblanc-Tunnel nach der Brandkatastrophe

ls der belgische Lkw-Fahrer Gil- bert Degraves, 57, an diesem A 24. März gegen 11 Uhr bei Kilo- Tod im meter 7 im Montblanc-Tunnel aus sei- nem rauchenden Laster flüchtet, steht die Ladung – Margarine und Mehl – schon in Flammen. Das Feuer, von Feuerschlund Frischluft-Ventilatoren angefacht, ent- wickelt sofort giftige Gase und eine Höllenhitze von 1000 Grad. Nur wenige Menschen aus den 20 Lastwagen und 11 Pkw, die sich im Die Brandkatastrophen im Montblanc- und im Tauern- beißenden Rauch bei Degraves’ Volvo Tunnel alarmieren Straßenplaner und Politiker. Sie FH 12 stauen, sind noch im Stande, wollen der Gefahr mit Doppelröhren und Fluchtstollen dem Inferno zu Fuß in die Schutz- räume zu entkommen. Doch auch vorbeugen. Doch die größten Sicherheitsrisiken sind dort gibt es keine Rettung. Die meis- der Leichtsinn und die Unvernunft der Autofahrer. ten der 39 Opfer ersticken innerhalb 102 KR IMAGES PRESSE KR IMAGES Einfahrt zum Montblanc-Tunnel AP REUTERS Autowracks, Feuer im Tauern-Tunnel (u.) REUTERS 103 MÄRZ 1999

der ersten Viertelstunde in ihren Au- Speziell in hoch gelegenen Scheitel- tos, bevor das Feuer sie erfasst. Es tunneln ist die Brandgefahr durch die dauert Tage, bis Feuerwehrleute zum langen und steilen Zufahrten immer Brandherd in der Mitte des 11,6 Kilo- akut. Überhitzte Motoren von Lkw meter langen Tunnels zwischen dem und überladenen Personenwagen ent- französischen Chamonix und dem ita- zünden sich leicht. Am 25. August lienischen Courmayeur vordringen fängt im Gotthard-Tunnel ein franzö- können. Sie finden ausgeglühte Fahr- sischer Bus Feuer. Der Fahrer, der zeuge, den Asphalt geschmolzen, die ohne Passagiere unterwegs ist, ver- Betondecke verbrannt. sucht zuerst, den Brand selbst zu Nur zwei Monate später, am frühen bekämpfen.Als dies nicht gelingt, hält Morgen des 29. Mai, sterben erneut er ein Auto an und lässt sich zum Süd- Menschen im Feuer – im österreichi- portal fahren. Meldung macht er erst schen Tauern-Tunnel, nach einem Auf- anderthalb Stunden später. Da war die fahrunfall vor einer Baustellenampel. Straße natürlich längst gesperrt, das 800 Meter vor der Nordausfahrt Feuer gelöscht. kracht ein Laster in vier Pkw und schiebt sie in einen davor stehenden iel mehr als Feuersbrünste machen Lkw, der Lackdosen geladen hat V Unvernunft und Verantwortungs- Die Fahrzeuge geraten sofort in losigkeit der Fahrer Tunnelstrecken Brand. Insgesamt verglühen 24 Per- gefährlich. Trotz Tempo 80 und einer sonenwagen und 16 Lkw.Acht Perso- durchgezogenen Doppellinie, so be- nen sterben bei dem Crash, vier fin- richten Gotthard-Polizisten, komme den im Feuer den Tod. Rettungsleute, es zu riskanten Überholmanövern die den Tunnel wenige Minuten nach (italienischer Lkw mit Tempo 110), dem Unfall erreichen, können nicht gebe es Geisterfahrer (zwei Araber mehr zum Brandherd vorstoßen. mit 160 km/h) und übergeschnappte Kaum waren die Toten geborgen Touristen (ein Japaner legte sich zum und die Trümmer weggeräumt, war Fotografieren auf die Fahrbahn). Die scheinbar die Ursache der Katastro- Überwachungskameras zeigen auch phen ermittelt: Beide Tunnel haben immer wieder Reisende, die in Halte- nur eine Röhre. Er werde, verkündet buchten Pause machen und sich bei der österreichische Verkehrsminister Fußball oder Frisbee amüsieren. Caspar Einem, bald eine zweite boh- Etwa 50 Unfälle ereignen sich jedes ren lassen. Auch in der Schweiz ver- Jahr im Gotthard-Tunnel, Brände sind langen Politiker, der 16,9 Kilometer selten. Doch je mehr die Laster-Lawi- lange Gotthard-Tunnel, der längste ne anschwillt, desto größer wird die Straßenstollen Europas, sei subito Gefahr. In der Schweiz und in Öster- auszubauen. reich wird deshalb erwogen, Lkw künftig nur noch in Konvois mit vor- xperten wie Walter Steiner, Sicher- geschriebenen Abständen durch die Eheitschef des Gotthard-Tunnels, hal- Tunnel zu lotsen. Und in Frankreich ten wenig von solcher Hektik. Sie wis- kündigte Präsident Chirac an, er wol- sen, dass richtungsgetrennte Fahrspu- le den Schwerverkehr auf die Schiene ren kaum höhere Sicherheit bieten. zwingen. Selbst wenn alle vernünfti- Viel wichtiger sind leicht erreichbare gen Vorschläge umgesetzt würden, Fluchtstollen (wie im Gotthard) und sind Tunnelbrände nie ganz auszu- Ventilationssysteme, die den Rauch zu- schließen. „Das Risiko ist klein“, verlässig abziehen. Noch wirkungs- meint allerdings der Sicherheits- voller sind klare Verhaltensregeln für experte Walter Steiner. Europas Mo- die Automobilisten. Im Montblanc- tor-Touristen teilen diese Meinung: Brand wären weit weniger Menschen Unbeeindruckt brettern sie auch 1999 umgekommen, wenn die Fahrer recht- zu zehntausenden durch die langen, zeitig gestoppt hätten, anstatt unbeirrt engen Löcher im Alpenkamm gen im Rauch weiterzufahren. Süden. JÜRG BÜRGI Werbeseite

Werbeseite MÄRZ 1999 REUTERS Europäische Kommission mit Präsident Santer (M.), Kommissarin Cresson (l. neben Santer)

erichte über Günst- dungsprojekten – hatten lingswirtschaft, Be- die Europa-Parlamenta- Btrug, Missmanage- rier bereits im Dezember ment und verschleuderte Geschlossene 1998 so in Rage gebracht, Millionen; der blamable dass sie der Kommission Rücktritt einer diskredi- die Entlastung für den tierten EU-Kommission; Haushalt 1996 verwei- der Wirbel um den allzu Gesellschaft gerten. Verärgert über schamlos demonstrierten diese Rüge waren nicht Erwerbssinn eines noch nur die selbstherrlichen amtierenden deutschen HILDEGARD HAMM-BRÜCHER, Kommissare, sondern Kommissars: Dieses Jahr Staatsministerin a. D., über den Rücktritt der auch eine frühere Lon- wird fürwahr kein gutes EU-Kommission und die Affäre Bangemann doner Polizistin. in den Annalen der Eu- Die britische Europa- ropäischen Union sein. Abgeordnete Pauline Ansehen und Glaubwür- Green, Vorsitzende der digkeit der EU-Kommis- sozialistischen Fraktion, sion sind auf dem Tiefststand ange- hatte das Votum gegen die Kommis- langt. Der Weg zu einem vereinten sion aus parteitaktischen Gründen zu Europa als politischem Jahrhundert- verhindern versucht. Denn die beiden Ziel hat in einen tiefen Brüsseler Hauptsünder in der Kommission, die Sumpf geführt. Französin Edith Cresson und der Spa- Erste Enthüllungen über eine schon nier Manuel Marín, sind Sozialisten. seit Jahren äußerst dubiose Haus- Aber etliche Mitglieder ihrer Fraktion, haltsführung in Brüssel – über fehl- darunter die deutschen Sozialdemo- gelenkte Mittel für humanitäre Hilfe, kraten, spielten dieses Spiel nicht mit. vergeudete Gelder des Atomsicher- In Absprache mit Kommissionspräsi-

heitsprogramms für Osteuropa oder PRESS ACTION dent Jacques Santer ließ die Britin Unregelmäßigkeiten bei Berufsbil- Autorin Hamm-Brücher daraufhin einen Misstrauensantrag 106 Werbeseite

Werbeseite MÄRZ 1999 gegen die gescholtene Kommission Bürger gegenüber der EU nach die- lefónica. Das Insiderwissen, das Ban- stellen – nicht etwa um alle Kommis- sem Brüsseler Beben war, zeigte sich gemann als für die Telekommunika- sare aus dem Amt zu jagen, sondern bei den Wahlen zum Europäischen tion zuständiger Kommissar erwarb, um den Bedrängten erneut zu Hilfe Parlament im Juni. Die Wahlbeteili- würde ihm mit an Sicherheit gren- zu eilen. Green und Santer hofften gung sank auf 49,8 Prozent (1994: 56,8 zender Wahrscheinlichkeit bei seiner nämlich, dass die meisten Parlamen- Prozent) und wäre noch geringer generös dotierten neuen Tätigkeit von tarier es nicht wagen würden, die ge- gewesen, bestände nicht in einigen Nutzen sein. Die EU-Botschafter der samte Kommission zu demontieren. Ländern Wahlpflicht. In Deutschland Mitgliedsländer sahen Bangemanns Der von Green gestellte, aber von ihr gingen lediglich 45,2 Prozent (1994: Spanien-Plan denn auch als einen selbst befehdete Antrag werde daher 60 Prozent) der Wähler zur Urne, in Verstoß gegen jene Bestimmung an, kläglich scheitern, das Votum ge- die einem Kommissar nach sei- gen ihn in einen Vertrauensbe- nem Ausscheiden ehrenhaftes weis für die Spitzen-Eurokraten und zurückhaltendes Verhalten umgemünzt. abverlangt. Für den Rat reichten Doch das sonderbare parlamen- sie Klage beim Europäischen tarische Manöver gelang nur Gerichtshof ein. halb. Zwar erreichten die Befür- worter des Misstrauensantrags elbst Bangemanns (und mei- bei weitem nicht die erforder- Sne) Partei, die FDP, der er liche Zweidrittelmehrheit, aber die entscheidenden Stationen 232 Stimmen für eine Amtsent- seiner wechselvollen Karriere hebung (bei 552 abgegebenen verdankte, ging lautstark auf Stimmen) waren zu viel, um das Distanz. Fragt sich nur, weshalb Ergebnis als Vertrauensvotum sie nach früheren Krächen mit deuten zu können. dem Herrn immer wieder die Augen zudrückte und ihn so- en Kommissaren blieb nur gar 1995 für eine zweite Amts- Deine kurze Gnadenfrist. Ein periode in Brüssel beließ. fünfköpfiger „Rat der Weisen“, Hoffen wir, dass nun aus den den die Kommission und das Fehlentwicklungen nachhaltige Parlament gemeinsam einge- Konsequenzen gezogen werden, setzt hatten, um die Vorwürfe dass sich die geschlossene Ge-

gegen die Brüsseler zu prüfen, GAMMA sellschaft der „Eurokraten-Trutz- lieferte im März ein für die Zurückgetretener EU-Kommissar Bangemann burg“ („Neue Zürcher Zeitung“) Eurokraten vernichtendes Un- endlich wirksamer Überwa- tersuchungsresultat: Die unabhängi- Großbritannien sogar nur 24 (!) Pro- chung zu öffnen hat. Neben eindeuti- gen Experten bestätigten schon be- zent (1994: 36,4 Prozent). gen Bestimmungen gegen Korruption, kannt gewordene Fälle von Betrug, Zu allem Übel sorgte der unrühmliche Filz und dubiose Haushaltsführung Misswirtschaft und dreistestem Ne- Abgang des zurückgetretenen, aber müssen klare Zuständigkeiten und potismus und machten ein paar wei- noch amtierenden deutschen Kom- Kontrollmechanismen her, wie sie in tere publik. missars Martin Bangemann für einen Demokratien üblich sind. Da nützten keine Beschwichtigun- weiteren Glaubwürdigkeitsverlust der Die Kommission, dieses merkwürdi- gen mehr und keine mal weinerlich, Brüsseler Spitzen. Ende Juni bat Ban- ge Gebilde von Macht und Ohnmacht mal nassforsch vorgetragenen Un- gemann brieflich um sofortige Verab- zwischen Ministerrat und Parlament, schuldsbeteuerungen (die besonders schiedung. Er wolle beratend für das muss zu einer echten Exekutive auf- unliebsam aufgefallene Kommissarin spanische Unternehmen Telefónica gewertet werden, in der die Kommis- Cresson faselte von einem Komplott tätig werden. sare Ministerverantwortung tragen. der Deutschen gegen sie). Weil sich Von Kommissar Bangemann war man Und das Europäische Parlament hat die Hauptbeschuldigten Cresson und ja in dessen zehn Brüsseler Jahren die Legislativ- und Kontrollrechte ei- Marín weigerten, allein die Verant- schon einiges gewohnt. Wiederholt nes echten Parlaments zu erhalten. wortung für ihr Versagen zu überneh- wurden Fälle großzügiger Vermi- Nur so kann die EU demokratische men, traten alle 20 Kommissare in der schung von dienstlichen Belangen und Gestalt annehmen, nur so werden das Nacht zum 16. März zurück. privaten Interessen ruchbar. Diese „Europa der Bürger“ und das „Euro- Wie groß die Europa-Verdrossenheit aber waren „Peanuts“, verglichen mit pa für die Bürger“ kein Phantom von und, schlimmer noch, Verachtung der seinem geplanten Jobwechsel zur Te- Sonntagsrednern bleiben. 108 Werbeseite

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Werbeseite Im Ballon um die Welt

Der erste Ballonflug um die Erde endet nach 46759 Kilometern in der ägyptischen Wüste. Der Pilot BERTRAND PICCARD beschreibt, wie sich sein Traum erfüllte – das letzte Abenteuer dieses Jahrhunderts.

an kann die erste Weltumrundung im Ballon „Breitling Orbiter 3“ unter mehreren Aspek- Mten betrachten: sportlich, historisch, technisch, menschlich oder auch philosophisch. Mich hat jede dieser Facetten begeistert, weil alle zusammen erst die Tragweite und die Faszination dieses Abenteuers erklären. Am Anfang geht es um einen Traum, den vielleicht jeder begeisterte Ballonfahrer realisieren möchte: den aller- letzten, den längsten und aufregendsten Flug, die Erdum- rundung. Viele Ballonpiloten haben es schon versucht, zum ersten Mal 1981. Zu Beginn der neunziger Jahre wur- de dann ein richtiger Wettkampf daraus, dessen Regeln vom Luftsport-Weltverband festgelegt wurden. Viele Menschen sahen darin das letzte große Abenteuer

des Jahrhunderts. Die Pole, die Kontinente, die Berge, der J.F.LUY

112 SYGMA „Orbiter 3“ über den Alpen, bei der Landung in Ägypten SYGMA Ballonfahrer Piccard, Jones nach der Weltumrundung

113 In 19 Tagen um die Welt Die Reise des Ballons „Breitling Orbiter 3“ Tag Nacht START: 1. März im Schweizer Alpen- dorf Château-d’Oex 10. März Mittags verlassen ASIEN die Piloten China Mittelmeer in Richtung Pazifik 13. März Die Hälfte der Strecke ist geschafft 6. März „Orbiter“ schwebt mit Die Piloten verringern knapp 140 mehrfach ihre Flughöhe 7. März auf unter 4000 Meter: km/h über Der Ballon verlässt Nordafrika Sie lassen Eis auf der die Arabische Halb- Marshall- Äquator Hülle abschmelzen, füh- insel. Die britischen ren Reparaturen durch Inseln Konkurrenten Elson oder ändern den Kurs und Prescot not- wassern vor Japan Indischer AFRIKA Ozean

AUSTRALIEN

Weltraum und die Tiefsee sind schon macht. Die meisten Erfindungen je- Unsere erste Aufgabe war es, so weit erforscht. Doch obwohl der Ballon be- doch dienten dazu, die Naturgewal- nach Süden zu fliegen – bis unterhalb reits 1783 erfunden wurde, war ein ten zu beherrschen. Ein Ballonfahrer des 26. Breitengrades –, dass wir das Nonstop-Flug um die Erde noch nie hingegen muss sich den Elementen verbotene chinesische Hoheitsgebiet gelungen. In den Geschichtsbüchern ganz und gar ausliefern und sich von umschiffen konnten. Für unsere bei- blieb noch eine unbeschriebene Seite. den Luftströmen treiben lassen – mit den beratenden Meteorologen hieß Das Abenteuer sollte auch zu einer gleicher Geschwindigkeit und in die das ungefähr, einen Faden in 15000 technischen Herausforderung werden. gleiche Richtung. Die äußerst kompli- Kilometer Entfernung durch ein Na- Zu dem Zeitpunkt, als ich das Projekt zierte Technik, die wir entwickeln delöhr zu ziehen. Breitling Orbiter vorzubereiten be- mussten, diente einem Ziel: ein Bünd- Wir brauchten elf Tage bis zum Pazi- gann, hatte sich der Ballon, der am nis mit der Natur zu schließen. fik – durch die Tiefdruckgebiete über längsten geflogen war, nur sechs Tage Das Bedürfnis des Menschen, alles dem Mittelmeer, den Hochdruck über in der Luft gehalten. Unsere Meteoro- zu beherrschen, hat viel Leid und Indien. Manchmal schwebten wir in logen hatten aber eine Flugdauer von Schmerz erzeugt. Es ist schwer er- den Jetstreams, aber oft auch in viel drei Wochen vorhergesagt. Es musste träglich, dass das Leben uns in eine langsameren Winden. Wir fuhren mit eine riesige Hülle von 55 Meter Höhe Richtung drängt, die wir partout nicht hundertprozentiger Konzentration, konstruiert werden, die von einer wollen. Der Ballonflug zwingt uns zu um die Höhen einzuhalten, die unse- Wärme-Isolierschicht überzogen war. der Einsicht, dass unser eigener Wille re Meteorologen auf den Meter genau Diese Hülle sollte überdies eine Über- angesichts des Windes von geringer berechnet hatten. Fluglotsen und Di- druckkabine tragen, in der eine Mann- Bedeutung ist. Brian Jones und ich plomaten halfen uns, den Weg über schaft in 10000 Meter Höhe, wo der brachen also sowohl zu einem Wett- Ägypten, den Jemen, Indien, China Jetstream bläst, überleben kann. kampf als auch zu einer Schule des und Japan zu öffnen. Diese technischen Herausforderungen Lebens auf, zu einer Weltreise ebenso Die strategischen Entscheidungen wa- hatten mich hoch motiviert. Doch ein wie zu einer Selbsterfahrung. ren häufig quälend. Sollte man besser Aspekt faszinierte mich ganz beson- Nach dem Misserfolg aller unserer nach Norden in die schnellen Winde ders: die symbolische Bedeutung. Bis Konkurrenten startete Breitling Orbi- oder mehr Richtung Süden, wo nur zu jenem Zeitpunkt hatte die Wissen- ter 3 schließlich am 1. März von Châ- schwache Winde wehen? Beim Anflug schaft erstaunliche Fortschritte ge- teau-d’Oex in den Schweizer Alpen. auf den Pazifik stellte sich die Frage 114 NORD- EUROPA AMERIKA 19. März Piccard und Jones sind 17 Tage, 17 Stunden und 42 Minuten in der Luft: neuer AFRIKA Ausdauer-Rekord Hawaii- Inseln LANDUNG: 21. März Die Weltrekordler lan- 17. März den nach 19 Tagen, Die Über- 21 Stunden und 47 querung Minuten in der ägypti- des Pazifiks schen Wüste dauerte sechs Tage

Pazifik Atlantik SÜD- AMERIKA

noch dringlicher, denn die südliche schließlich in den Jetstream, der uns Gefühl, dass wir mit unserem Pla- Route verlängerte die Strecke um 4000 mit 180 km/h nach Mexiko brachte. neten eine neue, intimere, respekt- Kilometer! Doch genau dies beschlos- Als wir uns der Karibik näherten, vollere Beziehung knüpfen konnten. sen unsere Meteorologen wegen der fiel die Geschwindigkeit noch einmal Wir waren ergriffen von dem Kon- im Norden wütenden Stürme. stark ab. Wir waren in eine Strömung trast zwischen der Schönheit der An diesem riesigen Ozean vermissten geraten, die uns total vom Kurs ab- Welt, die wir bewunderten, und den wir die beruhigende Schönheit der brachte, ähnlich wie kurz zuvor Ri- Grausamkeiten, die sich dort auch afrikanischen Wüsten, die wir eine chard Branson, der zum Notwassern abspielen. Woche lang überflogen hatten; die gezwungen wurde. Wir pusteten eine Warum hatten wir das Glück, den scheinbar unendliche Fläche von Wel- Masse Propan in den Brenner, um so Traum unseres Lebens zu verwirkli- len wurde zu einem Spiegel, vor dem hoch wie möglich zu steigen. In 11000 chen, während so viele Menschen in Brian und ich uns allein mit unseren Meter Höhe schließlich brachte uns Kriegen, Hungersnöten und anderen Emotionen wiederfanden. Wir saßen die Strömung wie durch ein Wunder in Gräueln sterben? Eine solche Weltrei- verzagt in der Kapsel, inmitten schwe- die richtige Richtung. se, angetrieben von den Kräften der rer Gewitterwolken. Unsere Satelli- Da hatten wir noch eine Strecke von Natur, ist so, als müsse man die Welt tenantenne funktionierte nicht, wir 10 000 Kilometern vor uns und nur umarmen und könne niemals mehr waren abgeschnitten von der Kon- noch ein kümmerliches Achtel unserer dem Leid dieser Welt gleichgültig ge- trollstelle. Hilflos sahen wir unsere Er- Gasvorräte.Aber mit Glück und güns- genüberstehen. Deshalb haben wir in folgsaussichten und unsere Propan- tigen Winden vervierfachte sich un- unserem Buch „Mit dem Wind um die vorräte schwinden. Wir konnten un- sere Geschwindigkeit. Am 20. März Welt“ die Einrichtung einer huma- sere Angst nur akzeptieren und ler- überquerten wir den letzten Meridian nitären Stiftung angekündigt. nen, sie durchzustehen. Denn ein unseres Traums und landeten am Die „Winds of Hope Foundation“ soll Kampf gegen die Gefühle ist genauso nächsten Tag in Ägypten – und in den helfen, überall auf der Welt Leiden zu nutzlos wie ein Fight gegen den Wind. Geschichtsbüchern: mit dem weites- lindern. Wenn unser Flug das letzte Nach den sechs beklemmendsten Ta- ten und längsten Flug der Luftfahrt- Jahrhundert-Abenteuer war, so könn- gen des Fluges zeigte sich: Unsere geschichte. te eine größere Solidarität zwischen Wetterkundler lagen mit ihrer Vor- Doch was noch wichtiger war: Wir den Menschen das erste Abenteuer hersage richtig, und wir gerieten kehrten zurück auf die Erde mit dem des nächsten Jahrhunderts sein. 115 MELDUNGEN

1. März Die ausländischen Touristen hatten im Bwindi-Reservat lebende Berggorillas beobachten wollen. Die Hutu-Marodeure bringen Touristen-Mord in Uganda gezielt Amerikaner und Briten unter den Entführungsopfern so- wie zwei Neuseeländer um, weil, so ihre Begründung, die USA it Macheten ermorden ruandische Hutu-Rebellen acht von und Großbritannien auf der Seite ihrer Todfeinde, der Tutsi in M31 Touristen, die sie kurz zuvor im Bwindi-Nationalpark in Ruanda, stünden. Einige Touristen können fliehen, andere wer- Uganda entführt hatten. Die Killer gehören zu einer über 100 den freigelassen. Einen Monat nach dem Terrorakt öffnen Ugan- Mann starken Bande, die vom nahen Kongo aus in den Park ein- das Behörden den Bwindi-Park wieder für Besucher. Aber der gedrungen war und zunächst vier einheimische Wildhüter tötete. neue „Gorilla-Tourismus“ läuft nur sehr langsam an.

4. März Freispruch im Cavalese-Prozess

ut ein Jahr nach dem Seilbahn- Gunfall im Dolomiten-Ort Cavalese, bei dem ein Jet der US-Marineinfan- terie im Tiefflug das Tragseil der Bahn durchtrennte und 20 Insassen einer Kabine in den Tod riss, spricht ein amerikanisches Militärgericht den der fahrlässigen Tötung beschuldigten Pi- loten frei. Der Höhenmesser sei de- fekt, die Seilbahn nicht in der Karte eingezeichnet gewesen, hatten die Verteidiger Richard Ashbys zu dessen Entlastung vorgetragen. Angehörige der Opfer und Italiens Politiker sind über den Freispruch empört. Als „nie- AP PANATO derträchtig“ kritisiert der Bürgermeis- Abgestürzte Seilbahn-Kabine in Cavalese (1998) ter von Cavalese das Urteil. Pilot Ashby

7. März Wahltriumph Haiders

rstmals bei Wahlen in einem österreichi- Eschen Bundesland gelingt es FPÖ-Matador Jörg Haider, seine Partei zur stärksten Kraft zu machen. Mit sensationellen 42,1 Prozent verdrängt der darob zu Tränen gerührte Rechtspopulist in Kärnten die auf 32,9 Pro- zent abgesackte SPÖ von der Spitze. Die re- lative Mehrheit reicht der FPÖ, um ihren Chef im April zum Landeshauptmann zu küren. Denn die dritte Kraft im Landtag, die ÖVP (20,7 Prozent), übt Stimmenthaltung. Haider war bereits von 1989 bis 1991 Kärn- tens Regierungschef. Die damalige Koalition mit der ÖVP platzte, als Haider die Beschäf- tigungspolitik im Dritten Reich lobte. DPA Frauen in Katar bei der Stimmabgabe 8. März Frauen-Power am Golf amad Al Thani, reformfreudiger Emir von Katar, wagt kleine Schritte in Richtung HDemokratie: An den ersten demokratischen Wahlen dürfen in dem Zwerg-Golf- staat, der mit Öl und Erdgas besonders reich gesegnet ist, auch die Frauen aktiv und passiv teilnehmen. Den Gang zur Urne freilich müssen die 9000 Wählerinnen ver- schleiert und getrennt von den Männern antreten. Sechs Damen stellen sich zur Kommunalwahl, keine erringt ein Mandat. Weitere Zugeständnisse will der Emir

SIPA aber vorerst nicht machen. Parlamentswahlen sollen erst in einigen Jahren statt- Wahlsieger Haider, Ehefrau finden – aus „Rücksicht auf islamische Traditionen“. 116 MELDUNGEN

Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die Führungsmacht USA. 1952 kamen Griechenland und die Türkei hinzu, 1955 die Bundesrepublik Deutschland und 1982 Spanien. Gegen die Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns in das westliche Bündnis hatte bis zuletzt Russland protestiert. Durch die Nato-Erweiterung nach Osten werde ein neuer Graben in Europa aufgerissen, Russland gedemütigt und in die Isolation getrieben – so die Kritik aus Moskau, die auch manche Sicherheitspolitiker im Westen für berechtigt hal- ten. Aber die Nato will sich nicht bremsen lassen. Als im Juli der neue slowakische Präsident Rudolf Schuster die Nato- Zentrale in Belgien besucht, stellt Generalsekretär Javier Solana eine schnellstmögliche Nato-Aufnahme der Slowakei in Aussicht. REUTERS Außenminister Albright, Kavan, Martonyi, Geremek 12. März Ex-Ostblockländer in der Nato it einem Festakt in Independence (Missouri), dem Heimat- Mort des 33. Präsidenten der USA und Nato-Mitgründers Harry S. Truman, feiert das Nordatlantische Bündnis den Bei- tritt dreier ehemaliger Mitglieder des Warschauer Pakts, der einstigen Militärallianz des Ostblocks. Im Beisein von Gastge- berin Madeleine Albright, der US-Außenministerin, überbrin- gen die Außenminister der neuen Nato-Staaten – der Tscheche Jan Kavan, der Ungar János Martonyi und der Pole Bronislaw Geremek – die Ratifizierungsurkunden ihrer Länder. Der in den Anfängen des Kalten Krieges im Jahr 1949 gegründeten West-

Allianz, die gegen die Expansionsbestrebungen der Sowjet- REUTERS union gerichtet war, hatten zunächst zwölf Staaten angehört – Feierlichkeiten zum Nato-Beitritt Ungarns in

26. März 29. März Pest per Post Magische Marke er Computer-Virus „Melissa“ n der Wall Street knallen Champagner- Dverursacht weltweit ein Cha- Akorken: Erstmals endet ein New Yorker os im Datennetz. Der virtuelle Börsentag mit einem Stand des Dow Erreger hängt an E-Mails und Jones von über 10000 Punkten. Im Okto- veranlasst den Rechner des ber 1990 hatte das bekannteste und älteste Empfängers, selbständig elektro- Kursbarometer der USA erst 2500 Punkte nische Post zu versenden. Die angezeigt. Im November 1995 war der In- Epidemie breitet sich nach dem dex an der 5000-Marke angelangt. Die Schneeballprinzip aus und längste Hausse der US-Börsengeschichte blockiert die Zentralrechner mit basiere auf der robusten Konjunktur, den ungeheuren Datenmassen. Pro- niedrigen Zinsen, den vielen Firmenfusio- gramme auf Festplatten werden nen, der Computerisierung und Globali- dabei nicht zerstört. Melissa be- sierung. So argumentieren jene Börsianer, fällt ausschließlich bestimmte die in der Kursrekord-Jagd noch rationales Microsoft-Programme, legt die Handeln zu erkennen meinen. Börsenpes- Dateien diverser Konzerne lahm simisten dagegen warnen schon seit drei, und beeinträchtigt den elektro- vier Jahren, dass amerikanische Aktien nischen Postverkehr des US-Ver- überteuert seien, ein Crash daher unver- teidigungsministeriums. Als Ur- meidlich sei. Der Aktienmarkt in den Ver- heber der EDV-Pest wird ein einigten Staaten sei nur noch ein Kasino, 30-jähriger Programmierer fest- in dem Millionen spekulationssüchtiger genommen. Ihm droht wegen Amerikaner ihre Personalcomputer mit Störung des öffentlichen Kom- Börsenorders füttern wie Glücksspieler in

munikationssystems eine mehr- SIPA Las Vegas die einarmigen Banditen mit jährige Haftstrafe. Jubelnde Börsianer Münzen. 117 Werbeseite

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Werbeseite Littleton, Colorado: Zwei schwer bewaffnete Jungen laufen Amok, töten zwölf Mitschüler und einen Lehrer. Amerika bleibt da- bei: freier Zugang zu Schusswaffen. ACTION PRESS ACTION SYGMA/KOCHANIERC/R.M.N.

APRIL April Ein neues deutsches Haus

ährend der 105 Jahre seiner bewegten Geschichte wurde er verlacht, verhöhnt, an- W gezündet, zerschossen und dem Verrotten preisgegeben. Am Ende des 20. Jahrhunderts jedoch wird er wieder ins Herz geschlossen. Von Christo verpackt, rundherum saniert, repariert und mit einer spektakulären Glaskuppel des britischen Star-Architekten Sir Norman Foster verziert, beherbergt der Reichstag in Berlin erneut das deutsche Parlament. Und das begeisterte Wählervolk steigt seinen Abgeordneten in Scharen auf den Kopf, um die phantastische Aussicht von der Kuppel zu genießen. Norman Fosters Glaskuppel über dem 120 99 Jahre schaukelte sie Omas und Opas, Clin- unfallfrei, abgehoben ton und Schröder vom Straßenverkehr, tragen Blue Jeans und durch Wuppertal. sehen alt darin aus. Der erste Absturz der Das finden zumindest geliebten Schwebebahn die jungen Leute und war die Folge von ziehen die Kulthose Schlamperei, sagt ein aus. Trauriges Ende Staatsanwalt. einer Legende? M. SCHRÖDER/ARGUS G. A. F. F. Reichstagsgebäude in Berlin 121 Berliner Reichstag 1945, vor der Eröffnung im April P. LANGROCK/ZENIT P. DPA Genscher, Ehepaar Kohl, Weizsäcker vor dem Reichstag 1990 122 APRIL 1999

Alter Klotz ganz groß

Der Amerikaner DAVID BINDER ist seit mehr als vier Jahrzehnten Deutschland-Experte der „New York Times“. Vom sanierten und umgestalteten Reichstag ist er hinge- rissen, weil der historische Bau zum ersten Mal seiner

CORBIS/PICTURE PRESS Widmung gerecht wird – „Dem deutschen Volke“. APRIL 1999

Besucher in der Reichstagskuppel 124 en Reichstag kannten fast alle nur flüchtig – Deutsche und DAusländer, egal, ob sie pro- oder antideutsch waren. Er war mehr Symbol als Wirklichkeit – wie könnte es anders sein. Kaiser Wilhelm II. hatte ihn einst als „Reichsaffenhaus“ verhöhnt. 1919 zo- gen 2000 Reichswehr-Soldaten vor- übergehend dort ein. Die Berliner ver- spotteten ihn in den zwanziger Jahren als „Schwatzbude“. 1933 setzte der niederländische Anarchist van der Lubbe dieses deutsche Haus in Brand. Am Ende des Zweiten Weltkriegs hiss- ten die triumphierenden sowjetischen Truppen ihre Fahne auf der Ruine. Im geteilten Deutschland war der Reichs- tag vollends an den Rand der Nach- kriegsgeschichte gerückt. So war der Reichstag, wie wohl keine andere Stätte, Zeuge und Opfer des deutschen Elends, ein Sinnbild für die Schrecken des 20. Jahrhunderts. Erst heute kommt der Klotz, der so viele Jahre wie eine Beule aus der preußischen Streusandbüchse heraus- ragte, zu seiner berechtigten Geltung – nicht mehr am Rande, sondern mit- ten in der deutschen Landschaft und in der Mitte der vereinten Hauptstadt. Von dem sanierten, neuen Reichstag war ich bei einem kurzen Besuch im Oktober hingerissen – nicht we- gen seiner architektonischen Schön- heit, sondern weil dieser demokra- tische Parlamentssitz, der von acht Uhr früh bis Mitternacht geöffnet ist, zum ersten Mal seiner Widmung wirklich gerecht wird: „Dem deut- schen Volke“. Der Reichstag ist Berlins meistbe- suchte Sehenswürdigkeit. Jeden Tag stehen tausende Schlange, um die rie- sige Glaskuppel von Norman Foster zu besteigen. Denn sie ist die Haupt-

G.A.F.F. attraktion, von der man einen unver- gleichlichen Blick über ganz Berlin 125 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite APRIL 1999 genießen kann – während direkt dar- rors“ beweist, in der die dunkelsten gen. Alles wird viel gedämpfter be- unter die Abgeordneten über die Ge- Kapitel der deutschen Vergangenheit sprochen. Auch sieht es so aus, als schicke von 82 Millionen Bürgern ent- offen behandelt werden. ob kein einziger der heutigen Par- scheiden. Wohin die rot-grüne Regierung die lamentarier einem Wehner, Strauß, Ich habe auch an den Wänden viel Se- Deutschen führen wird, ist äußerst Adenauer oder Carlo Schmid das henswertes entdeckt, das zum Nach- schwer zu sagen. Wenn man sieht, Wasser reichen könnte. Eine Aus- denken über die Geschichte dieses dass mächtige Gesetzgebungsorgane nahme ist vielleicht Außenminister Jahrhunderts anregt. Zum Beispiel die wie der US-Kongress den Kontakt Joschka Fischer, der von seiner ame- über hundert kyrillischen Graffiti von mit den breiten Massen der Bevölke- rikanischen Kollegin Madeleine Al- Sowjetsoldaten, die gegen Hitlers rung verlieren; wenn man bemerkt, bright so hoch gelobt wird. Truppen gekämpft hatten. wie wenig Interesse der Durch- Ich fand das Archiv der deutschen Ab- schnittsbürger für wichtige parla- as der neue Reichstag für Berlin geordneten bemerkenswert, wo in mentarische Entscheidungen auf- Wbedeuten wird, ist leichter vor- Kästen alle Parlamentarier verzeich- bringt, erhebt sich die Frage, wie re- auszusagen. Die 3,5-Millionen-Stadt net sind, die zwischen 1919 und 1998 levant die politischen Institutionen wird die etwa 30 000 Zuzügler aus demokratisch gewählt im Reichstag heute sind. Klar ist nur, dass der Bun- Bonn ohne Rülpsen verdauen. Dank oder später im Bundestag saßen: rund destag in Berlin anders ist als der seiner geografischen Lage, Größe, kos- 3000 insgesamt, auch Nazis und Kom- Bundestag in Bonn. mopolitischen Tradition und seines munisten. Die Berliner mit Esprits wird Berlin wieder ihrem Hang zum Spott nen- die Hauptstadt aller Deut- nen die Kästen despektier- schen werden. Und es wird lich „Keksdosen“. genau so vital und anzie- Ich war tief bewegt, als ich hend wirken wie London die Namen der Sozialdemo- und – obwohl es nun kraten Julius Leber und Ru- nicht mehr eines der größ- dolf Breitscheid und den des ten Industriezentren Euro- Kommunisten Ernst („Ted- pas ist, sondern eine Metro- dy“) Thälmann in diesem pole großer Dienstleistungs- Archiv entdeckte – und ihre unternehmen. Todesdaten in Plötzensee Ob die Deutschen in West und im KZ Buchenwald. und Ost sich durch die Ver- Ein paar hundert Meter einigung nach 1989 verän-

westlich, an der Straße des A. EISELE dert haben? Vielleicht haben 17. Juni, steht das Ehrenmal Autor Binder im Reichstag vor russischen Graffiti sie sich ein bisschen besser mit den zwei T-34-Panzern kennen gelernt. Aber die und dem Standbild eines Sowjetsol- Der Bundestag der fünfziger, sechzi- Kluft zwischen beiden Teilen ist im- daten, das 1945 auf Befehl der Roten ger und siebziger Jahre, wie ich ihn mer noch groß, und sie wird nicht Armee errichtet und kürzlich saniert erlebt habe, war ein großer Dampf- kleiner, solange die westdeutschen wurde. Niemand wäre doch über- kessel, wo existenzielle Fragen der Politiker das ehemalige DDR-Volk wie rascht gewesen, wenn solche Mahn- Deutschen behandelt wurden: die fremde Wesen betrachten. male nach der Wiedervereinigung Mammutdebatte über die atomare Ich erinnere mich, dass die DDR- Re- dem Erdboden gleichgemacht worden Rüstung, 1958, und die Auseinander- gierung Ulbricht 1969 zeitweise die wären – so, wie es die Nazis und Kom- setzungen über die Ostverträge, die Transit-Autobahn blockierte, um ge- munisten skrupellos mit all jenen das Parlament 1972 wochenlang be- gen die Wahl von Gustav Heinemann Denkmälern getan haben, die ihnen schäftigten. zum Bundespräsidenten im Reichs- nicht genehm waren. Die Debatten waren oft hitzig, manch- tagsgebäude zu protestieren. mal brillant. Das ganze Volk verfolg- An einer Tankstelle an der West-Ber- ch denke, wir Amerikaner und vie- te per Funk und Fernsehen die Dis- liner Avus fragte ich damals einen Ile andere Nationen könnten uns ein kussionen über die Ostpolitik, als ob Lkw-Fahrer, wohin er wollte. „Ich Beispiel nehmen an dem heutigen es ein spannendes Theaterstück wäre. fahre zurück nach Deutschland“, sag- Reichstag, an der Toleranz gegenüber Überall haben Millionen über die Aus- te er und meinte damit die Bundes- den Gedenkstätten der Siegermächte söhnung mit Polen und den endgülti- republik. und am Umgang der Deutschen mit gen Verzicht auf Schlesien diskutiert. Es wird eine verdammt lange Weile ihrer Geschichte – wie es die Frei- Keine Frage in der gegenwärtigen dauern, bis die Deutschen sich wie- lichtausstellung „Topographie des Ter- Politik könnte die Gemüter so erre- der als Nation betrachten. 128 Erste Plenarsitzung imReichstag am19.April 129

P. LANGROCK/ZENIT SYGMA AP AP AP Opfer und Helfer beim Massaker in Littleton, verzweifelte Schülerin 130 APRIL 1999 SYGMA „One shot, one kill“ In einer Schule Littletons, einer gepflegten Kleinstadt nahe der Colorado-Metropole Denver, richten zwei Jugendliche ein grausiges Blutbad an. In einstündigem Amoklauf töten die Schwerbewaffneten einen Lehrer sowie zwölf Schüler und erschießen sich dann selbst. Nach dem Massaker verwandeln die Amerikaner ihre Schulen in Festungen. An eine Verschärfung der Waffengesetze aber trauen sich die Politiker nicht heran. 131 orne kommen die Kinder aus der Schule gestolpert, rennen V über den Rasen, eines nach dem anderen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und mit angstverzerrten Gesichtern. Am Hintereingang mar- schieren Polizeikommandos auf in schwarzen Kampfanzügen, Handgra- naten am Gürtel, die Sturmgewehre im Anschlag. „Runter, duckt euch“, ruft ein Polizist den Schülern zu. Dann stürmt die erste Einheit das Gebäude. Schüsse rattern, Granaten detonieren, Kinder schreien. Es ist kurz nach neun Uhr, ein klarer Sommermorgen am Rande Pittsburghs. In der Brashear High- School ist Krieg ausgebrochen. Zumindest sieht es so aus. Denn an diesem beschaulichen Ort, zwischen Wiesen und Holzhäusern, proben ein paar hundert Polizisten, Schüler und Lehrer gerade, was ihrer Meinung nach zum Alltagsrisiko in einer ame- rikanischen Vorortschule gehört: Eine bewaffnete Gang hat die Bibliothek besetzt, Geiseln genommen und be- gonnen, diese der Reihe nach umzu- legen.

Manöver wie in Pittsburgh sind nur AP eine der Maßnahmen, mit denen die Gedenkstätte für die Ermordeten in Littleton, Täter Eric Harris, Dylan Klebold, SYGMA SYGMA AP SYGMA Cassie Bernall, 17 Isaiah Shoels, 18 Daniel Rohrbough, 15 John Tomlin, 16 SYGMA AP AP SYGMA SYGMA SYGMA Kelly Fleming, 16 Daniel Mauser, 15 Matthew Kechter, 16 Rachel Scott, 17

132 AP Kyle Velasquez, 16 SYGMA Corey DePooter, 17 AP Opfer Steven Curnow, 14 SYGMA Lauren Townsend, 18 SYGMA ACTION Dave Sanders, 48

133 Amerikaner verhindern wollen, dass sich Massaker wie in Littleton wie- derholen. In dem Ort nahe Denver stürmten am 20. April, dem 110. Geburtstag Adolf Hitlers, gegen 11.30 Uhr die beiden schwer bewaffneten Jugendlichen Dylan Klebold, 17, und Eric Harris, 18, in die Columbine High-School, töteten in einem ein- stündigen Amoklauf einen Lehrer und zwölf Mitschüler, verletzten 28 wei- tere Schüler, darunter einige sehr schwer, und erschossen sich schließlich selbst. Das Blutbad, das die durchge- knallten Hitler-Verehrer anrichteten, ist das bislang größte in den Annalen der US-Schulhistorie, in der immer wieder mal von Psychopathen zu berichten war, die auf Schulhöfen, in Unterrichts- oder Gemeinschaftsräu- men wild um sich ballerten. Mittlerweile sind die Blutlachen in Littleton aufgewischt, die Einschuss- löcher verputzt. In den Klassenräu- men wird wieder Shakespeare gele- sen und Mathematik geübt. Doch bei vielen Schülern, Eltern und Lehrern im Land ist die Angst geblieben, dass die nächsten Schüsse an ihrer High- School fallen könnten. Obwohl an US-Schulen nur noch halb

so viele Kinder durch Gewalt sterben D. BOHRER wie vor zehn Jahren, bauen Behörden Polizei-Eskorte für jüdische Kinder in Los Angeles* nahezu hysterisch die Gebäude zu kleinen Festungen aus und heuern Kästen an der Wand, in jedem ein schaffen die Amerikaner jedoch wei- Wachmannschaften an. In der Thou- Handy, mit dem Hilfe herbeitelefo- ter die Bedingungen, die für Gewalt- sand Oaks High-School bei Los An- niert werden kann. Vielerorts dürfen ausbrüche wie in Littleton zumindest geles beispielsweise patrouillieren die Schüler nur durchsichtige Ruck- mitverantwortlich sind. So schotten Sicherheitsbeamte in Golfwagen über säcke mitbringen, sie dürfen keine ver- sie sich trotz ihres Wunsches nach das Gelände, Spürhunde schnüffeln dächtige Kleidung wie Trenchcoats mehr Gemeinschaft immer mehr durch Umkleideräume und Hallen. tragen und müssen einen Ausweis ans gegeneinander ab, indem sie aus den Hemd oder Sweatshirt klammern. Innenstädten in wuchernde Vorstadt- m Hernando County in Florida und Bizarre Übungen gehören zum Schul- siedlungen ziehen, deren grausame Idann auch in anderen Distrikten alltag. Wenn ein Alarmsignal ertönt, Langeweile Teenager geradezu in die haben Techniker pro Schule ein Dut- müssen sich die Kinder mitten im Rebellion treibt. zend Überwachungskameras instal- Unterricht auf den Boden werfen. Es gibt keine urbanen Zentren, keine liert. Schuldirektoren lassen Neben- Dann stürmen Männer mit Stahlhelm Kinos, nicht einmal Fußwege. Selbst eingänge zumauern, Metalldetektoren und Automatikwaffen schreiend durch für kürzeste Wege nutzen die Stadt- am Haupttor anbringen und schicken die Gänge, heulen draußen die Sire- flüchtlinge ihr Auto, natürlich auch um die Lehrer zu Anti-Gewalt-Kursen. nen, knattern Helikopter. „Wird es die Kinder zur Schule zu bringen. Hersteller von Sicherheitstechnik jemals wieder normal zugehen in Während die Eltern arbeiten, um Geld mussten Wartelisten für High-Schools Littleton oder anderswo?“, fragt das für das teure Heim heranzuschaffen, anlegen. Magazin „Newsweek“ besorgt. suchen die Kids Geborgenheit in Cli- In den Klassenräumen einiger Schulen In ihrer Sehnsucht nach Normalität * Nach dem Anschlag auf ein jüdisches Gemeindezen- in Oregon hängen neuerdings kleine und friedfertigem Zusammenleben trum am 10. August. 134 quen, deren Ideale Film, Fernsehen Nur an die Waffengesetze trauen sich mern. Heute gibt es in den USA über und Werbung vorgeben: Muskeln, die Amerikaner nicht heran. Noch 200 Millionen Schusswaffen, hat jede Make-up und Markenklamotten. immer sind Sturmgewehre frei erhält- dritte Familie mindestens einen Revol- Die Cliquenmitglieder sehen das lich, für die mit Slogans wie „One ver. Jährlich werden rund 10000 Men- Leben als eine Art Extremsport an. 82 shot, one kill“ geworben wird. Fast schen erschossen. Prozent der Jugendlichen bestätigten alle Pläne, den Waffenhandel stärker So bleiben den Erziehern neben Über- kürzlich bei einer Umfrage: „Ich zu kontrollieren, sind gescheitert. Für wachungsmaßnahmen vorerst nur schätze den Wettkampf, er macht mich Konservative gehört das Recht auf die Moralappelle, um zu verhindern, dass besser.“ Zwei Drittel sagten: „Ich Knarre zu den Urwerten wie eheliche Jugendliche ihren Aggressionsstau mit muss alles nehmen, was ich in diesem Treue, Glauben an Gott oder die Ver- der Waffe abbauen. Einige Schulen Leben kriegen kann. Denn niemand achtung von Homosexuellen. haben die Zehn Gebote in ihren Räu- schenkt mir etwas.“ Dabei ist es ein Märchen, dass Waffen men aufgehängt, andere lassen die Wer sich dem Vorstadtalltag aus Schu- schon immer Teil der US-Kultur Kinder ein Gelöbnis unterschreiben, le, Sport und Fernsehen entzieht, gilt waren. In frühen Wildwestzeiten, bis das die National Education Associa- erst als Sonderling und bald als poten- zum Beginn des Bürgerkriegs 1861, tion formuliert hat. Darin heißt es: zieller Störenfried. Immer mehr Eltern hatten nur zehn Prozent der Ameri- „Ich möchte dazu beitragen, meine schicken ihre Kinder zum Psychiater, kaner ein Schießeisen. Erst im 20. Gemeinde sicherer zu machen, indem selbst wenn sich deren vermeintliche Jahrhundert, als die Indianer fast aus- ich mehr auf andere Rücksicht neh- Neurose lediglich in blau gefärbten gerottet waren, kein Bürgerkrieg mehr me.“ Und: „Ich werde mich nicht Haaren und einigen Marihuana-Expe- die Nation zerriss, verwandelten sich mehr über andere lustig machen.“ rimenten manifestiert. Amerikas Haushalte in Waffenkam- MATHIAS MÜLLER VON BLUMENCRON 135 APRIL 1999 Absturz in die Wupper Die Wuppertaler Schwebebahn erstmals verunglückt H. DARCHINGER Verunglückte Schwebebahn, Unglücks-

ie ist ein Unikum unter den Ver- kehrsmitteln: Seit knapp 100 SJahren schlängelt sich die Wup- pertaler Schwebebahn 13 Kilometer lang durch die Industriestadt im Ber- gischen Land, unfallfrei und allzeit zuverlässig – bis zum 12. April. An diesem Montag verlässt der erste Schwebezug um 5.28 Uhr den End- bahnhof Vohwinkel und rattert schau- kelnd durch die Dunkelheit in Rich- tung Oberbarmen. 17 Minuten später

WUPPERTALER STADTWERKE WUPPERTALER knallt die Aufhängevorrichtung des Schwebebahn Anfang des Jahrhunderts, heute (o.) vorderen Triebwagens auf eine Eisen- 136 W. WESTERHOLZ W. Auslöser Eisenkralle (u.)

kralle. Trotz der an dieser Stelle vor- Die Absturzursache ist für Experten geschriebenen „Langsamfahrt“ reicht und Katastrophengaffer deutlich sicht- der Aufprall aus, um die blauorange- bar: die 100 Kilogramm schwere Klam- farbene Kabine entgleisen zu lassen. mer an der Stütze 203, die mit sechs Sie springt aus der Fahrschiene und Maschinenschrauben am Schienen- reißt bei ihrem Sturz aus acht Meter strang verankert war. Die Kralle ge- Höhe die anderen Wagenteile mit in hörte zu einem Stabilisierungsge- die Tiefe. rüst, das Reparaturmannschaften an- Minuten später ist die Feuerwehr am gebracht hatten, um zwei Stützpfeiler Unglücksort, die Retter stehen hüfttief gegen ein Brückenstück auszutau- im Wasser der Wupper. „Es herrschte schen. Die Monteure hatten versäumt, eine gespenstische Stille, kein Schrei- die Kralle zu demontieren; die Strecke en drang aus den Kabinen“, berichtet war voreilig für den Verkehr freigege- Unfallarzt Klaus Westhoff. Drei tote ben worden. Passagiere werden geborgen und 47 Nach Einschätzung des ermittelnden Verunglückte in umliegende Kliniken Wuppertaler Oberstaatsanwalts Al- eingeliefert, zwei von ihnen erliegen fons Grevener ist das Unglück die Fol-

ihren Verletzungen. ge „unglaublicher Schlampereien“. WESTERHOLZ W. 137 Das Ende der blauen Periode

Ein armes Schneiderlein aus Bay- ern, das in Kalifornien sein Glück suchte, hat sie erstmals zusam- mengestichelt und 1873 auf den Markt geworfen: Mehr als 100 Jah- re war die Nietenhose von Levi Strauss für Milliarden in aller Welt ein unverzichtbares Kleidungsstück. Doch seit die modehungrige Ju- gend die Blue Jeans ächtet, schnallt die Branche den Gürtel enger – die einst kultisch verehrten Beinkleider H. SCHWARZBACH/ARGUS werden zu toten Hosen. H. SCHWARZBACH/ARGUS ACTION PRESS, SIPA PRESS, CINETEXT PRESS, SIPA ACTION Jeans-Träger Tony Blair, Marlene Dietrich (1946), James Dean (1956) 138 Bergarbeiter-Jeans aus dem 19. Jahrhundert imLevi’s-Museum Bergarbeiter-Jeans ausdem19.Jahrhundert A PRIL 1999 139

LEVI STRAUSS APRIL 1999

F. BLICKLE/BILDERBERG Jeans-Reklame auf einer Wand am New Yorker Times Square

ode ist das, was alle tragen Levi’s legendäres Hosenmodell 501, Nieten. Natürlich war auch Marilyn wollen, bis es dann alle tra- das bis heute unverändert produziert Monroe very sexy in der 501. Blue Mgen“, hat einmal Bob Haas wird, war eigentlich gedacht für Gold- Jeans standen für Aufbegehren, neues formuliert, Chef der weltberühmten mineros und Cowboys, für Farmer Denken, freien Sex, freie Drogen. Jeans-Firma Levi’s. Aber wer über- und Arbeiter in der neuen Welt. Ein Woodstock 1969 war auch eine Orgie sieht, dass Mode just dann wieder out über 100 Jahre altes Stück, das 1948 in in Blau. Die Nachkriegsgeneration ist, darf sich nicht wundern, wenn er einer südkalifornischen Mine gefun- liebte die Jeans als Protest gegen Uni- auf dem Blue-Denim-Hinterteil auf- den wurde, hat nun einen Ehrenplatz Muff und Eltern-Mief. schlägt, dass die Funken aus den Nie- im Firmenmuseum von Levi’s. Doch wie die Mode so spielt: In den ten stieben. Richtig Weltkarriere machten die siebziger und achtziger Jahren geriet 126 Jahre alt sind sie, die Blue Jeans, Jeans allerdings erst seit Ende der die Hose zum Outfit für jedermann – die der Krämersohn Levi Strauss, ein fünfziger Jahre. Die Hosen aus stei- kombiniert mit T-Shirt,Smokingjacke, bayerischer Emigrant, erstmals 1873 fem, indigoblau gefärbtem Denim- Brilliecollier, alles war möglich. Zu in San Francisco zusammengenäht zwirn wurden zur Kultkluft der Ju- den „authentischen“ Levi’s-Jeans ge- hatte. Und seither waren diese Nie- gend- und Gegenkultur, der Beatniks, sellten sich billigere Lee’s und Wrang- tenhosen ein Evergreen in der Textil- Halbstarken und Filmstars. Jack ler’s, Gap’s, Diesel’s und H&M’s. industrie. Nun freilich sind die blauen Kerouac und James Dean, Marlene Designer von Armani bis Zegna ver- Röhren auf dem Weg zur toten Hose: Dietrich und Marlon Brando, Elvis, edelten, verfremdeten, vergeigten das Der Absatz sackt, die Firma steckt in Horst Buchholz, Joschka Fischer und Objekt, machten es weicher, stretchi- der Krise. Tony Blair – sie alle vertrauten den ger, flippiger oder schlicht 5450 Mark 140 Werbeseite

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Werbeseite APRIL 1999 teuer wie Gucci mit seinem spitzen- US-Jugendforscher Peter Zollo. Klar, und perlenverzierten Modell. dass ein solcher Wandel eine eigene Schätzungsweise eine Milliarde Jeans Hose fordert. Traditionelle Jeans wer- wurden weltweit allein im Jahr 1989 den zum Ladenhüter. verkauft. Und dieses hochprofitable Besonders hart trifft es Levi’s. Zu spät Jahr erfüllte die Hersteller mit den erkennt die Firma: „Hängende Hosen schönsten Hoffnungen. Blue Jeans sind kein Modefimmel, sondern ein schienen der einzig siegreiche Gleich- Paradigmenwechsel.“ Ende Februar macher auf der Welt zu bleiben – nach gibt sie bekannt, dass sie elf ihrer 22 dem Motto „Je weniger Kommunis- nordamerikanischen Fabriken schlie- mus, desto mehr Jeans“. ßen werde. 5900 Arbeiter müssen ge- Doch als Ostler in Stonewashed-Kluft hen. Schon 1998 hatte Levi’s 13 US- in den Westen einfielen, kam das und vier Europa-Betriebe stillgelegt Jeans-Image schwer unter die Räder. und 7400 Beschäftigte entlassen. Im Wie schrecklich litten junge Menschen April beschreibt das Wirtschaftsmaga- zudem darunter, dass sich auch Un- zin „Fortune“ in einer Titelgeschichte, befugte mit schlaffem oder dickem „wie Levi’s eine große amerikanische Gesäß und rundlicher Taille in die Tex- Marke herunterwirtschaftete“. tilien zwängten: Oma und Opa, Mama Levi’s neuer Kreativdirektor Devon und Papa, Bill Clinton und Gerhard Burt rüstet um: Jetzt kommt figurbe- Schröder machten nicht unbedingt tonter „Non Denim“ mit permanenter „bella figura“ in Jeans. Bügelfalte. Ob das an Coolness reicht? So nehmen die Kinder von Rap, Rave Die US-Marktforscherin Irma Zandl und HipHop nun Abschied vom har- meint, Blue Jeans seien allenfalls noch ten Blue Denim. Sie rüsten um auf etwas für „anspruchslose Minima- Track und Tank und Cargo Pants, auf listen“. Der deutsche Hersteller H.I.S., Combat Trousers, Khakis, Chinos und ebenfalls von der Flaute betroffen, wie all die mehr oder weniger hän- hofft Terrain bei den Senioren zurück- genden, beuteligen oder militärischen zugewinnen, beispielsweise mit der Beinklamotten heißen. Werbung: „Ach Joschka…, weißt du „Rap war das erste bedeutende kul- noch?“ Aber der findet sich nach sei- turelle Phänomen der jüngeren Ver- nem persönlichen Paradigmenwech- gangenheit, das nicht ein Nebenpro- sel gewiss ohne Jeans viel schöner. dukt des Baby-Booms war“, sagt der MAREIKE SPIESS-HOHNHOLZ SYGMA/MC NAMEE WALLY SYGMA/MC Jeans-Liebhaber Ehepaar Clinton beim Urlaub im US-Bundesstaat Wyoming APRIL 1999

Hasso wird 100 M. SCHWEITZER 144 usgerechnet zum 100. Jubiläum im Fernsehen verehren. Hundeführer des deutschen Schäferhundes bei Polizei und Zoll freilich klagen, Akommt eine betrübliche Meldung der Jubilar sei als beamtete Spürnase aus Italien. Der Schäferhund „ist von nur noch beschränkt einsatzfähig: Die Natur aus gefährlich“, das hat ein Gericht Nachfahren des Stammvaters „Hektor in Perugia festgestellt und den Besitzer Linksrhein“ sind demnach kreuzlahme des Rüden „Rusty“ verdonnert, die Arzt- „Angsthasen“. Eine urdeutsche Tugend kosten für eine attackierte Frau zu be- haben die Hassos aber offenbar nicht zahlen. Das kaltschnäuzige Pauschal- verlernt – Disziplin. Hoch erregt, doch urteil hat alle Kynophilen laut aufheulen friedlich beäugt die Meute eine kesse lassen, die den treuen „Kommissar Rex“ Katze, die in Bissweite vorbeiflaniert.

145 MELDUNGEN

1. April Eigener Staat für Eskimos ie Eskimos im unwirtlichen kanadischen DNorden erhalten ein eigenes Territorium: Nunavut. Das Gebiet der Inuit, wie die Be- wohner sich selbst nennen, erstreckt sich über zwei Millionen Quadratkilometer. In dieser Wildnis leben 25000 Indianer und Inuit – viele arbeitslos und Sozialfälle. 600 Millio- nen Dollar pumpt die Regierung in Ottawa jährlich in die Provinz. Wie aus Polarkreisen verlautet, wird in Nunavuts Hauptstadt Iqaluit ein Beschäftigungs-Boom erwartet: 85 Prozent der Jobs im öffentlichen Dienst sollen für Inuit reserviert werden. SYGMA Bei Lockerbie abgestürztes US-Flugzeug (1988) 5. April Libyen liefert mutmaßliche Attentäter aus

ehr als zehn Jahre nach Mdem Sprengstoffanschlag auf ein US-Verkehrsflugzeug, durch den die Maschine über dem schottischen Ort Locker- bie zum Absturz gebracht wur- de und 270 Menschen ihr Le- ben verloren, lässt Libyens Machthaber Muammar al-Gad- dafi zwei Tatverdächtige in die Niederlande überstellen. Dort sollen die beiden ehemaligen li- DPA byschen Geheimdienstler Amin DPA Chalifa Fuheima und Abd al- Tatverdächtige Fuheima, Mikrahi (1992) Bassit Ali al-Mikrahi in einem früheren US-Militärcamp, das vorübergehend britisches Territorium wird, vor ein Gericht gestellt werden, das nach schottischem Recht verfährt. Nur nach Austüftelung dieses einzigartigen juristischen Konstrukts war Gaddafi bereit, seine Ex-Agenten auszuliefern. Im Gegenzug setzt der Uno-Sicherheitsrat ein

DPA 1992 beschlossenes Waffen- und Luftverkehrsembargo sowie weitere Sanktio- Eskimo mit Nunavut-Flagge nen gegen Libyen aus.

1. April Umstrittenes 630-Mark-Gesetz ach peinlichem Hin und Her tritt eine der umstrittensten Refor- Nmen der rot-grünen Koalition in Kraft: die Neuregelung des 630-Mark-Gesetzes. Statt einer Pauschalsteuer von 20 Prozent müssen Arbeitgeber für Beschäftigte mit einem Monatslohn von höchstens 630 Mark nun Sozialabgaben in Höhe von 22 Prozent abführen. Während reine Teilzeitjobber weiterhin von eigenen Ab- gaben befreit sind, ist für alle 630-Mark-Beschäftigten, die einen Hauptjob haben, die Nebentätigkeit jetzt weniger attraktiv. Denn Steuer- und Sozialabgabenlast sind fortan vom Gesamtverdienst aus Haupt- und Nebenjob abhängig. Gegen die Änderung protes- tieren vor allem Zeitungsverleger, Gastwirte, Händler und Reini-

gungsfirmen, weil viele 630-Mark-Kräfte kündigen. Selbst Politiker G. HAGEN/ZEITENSPIEGEL des Regierungslagers erklären das Gesetz für korrekturbedürftig. 630-Mark-Job Reinigungsdienst 146 MELDUNGEN

14. April erreicht die Bahn ein Spitzentempo von 552 Kilometern pro Stunde. Ende 1997 hatte ein bemannter Maglev-Zug bereits 552 km/h auf der Schiene 531, ein unbemannter 550 Stundenkilometer geschafft. Damit hängt die japanische Magnetschwebebahn den deutschen Kon- uf einer Teststrecke westlich von Tokio stellt die von japani- kurrenten Transrapid deutlich ab. Der beschleunigte bei be- Aschen Technikern entwickelte Magnetschwebebahn Maglev mannter Fahrt auf 450 Stundenkilometer. Den Rekord für kon- einen neuen Geschwindigkeits-Weltrekord für Schienenfahr- ventionelle Schienenfahrzeuge hält seit Mai 1990 mit 515,3 zeuge auf. Bei einer Versuchsfahrt mit 13 Ingenieuren an Bord Stundenkilometern der französische Eisenbahnflitzer TGV. MILEPOST Japanische Magnetschwebebahn Maglev

20. April Gendarmen zündeln auf Korsika eltsamer Auftakt einer französischen Staatsaffäre: In einer Bucht bei Ajaccio Ssetzen vermummte Gestalten zu nächtlicher Stunde ein Restaurant in Brand. Die Täter sind schnell identifiziert, da sie jede Menge Spuren hinterlas- sen. Es sind Gendarmen einer Elite-Einheit, die mit ihrer kriminellen Zündelei – angeblich auf Anordnung des Präfekten von Korsika – ein Fanal gegen die populäre Praxis des ungenehmigten Baus von Strandlokalen setzen wollten. Der Präfekt Bernard Bonnet bestreitet jede Schuld, wird aber trotzdem seines Amtes enthoben: Der Chef der tölpelhaften Polizisten sagt aus, er habe den feurigen Einsatz auf Anweisung des Präfekten angeordnet. Damit ist auch Pre- mierminister Lionel Jospin blamiert. Der hatte Bonnet 1998 mit dem Auftrag

MAX-PLANCK-INSTITUT nach Korsika geschickt, dort für Recht und Ordnung zu sorgen. Namibische Schwefelperle 15. April 29. April Kleines Ungeheuer Thüringen: Rauswurf einer Abgeordneten ie Kollegen schütteln ungläubig die Köpfe, lmuth Beck, einst Kaderreferentin im Dals die Wissenschaftlerin von ihrem Sensa- AKreis Sonneberg, tat zu DDR-Zeiten brav, tionsfund berichtet: Im Südatlantik, vor der was in ihrem Job zur dienstlichen Pflicht Skelettküste Namibias, entdeckt die Bremer gehörte: Sie spitzelte für die Stasi. Nun hat Biologin Heide Schulz ein kleines See-Unge- die Thüringerin, die seit 1994 der PDS-Land- heuer – ein Monsterbakterium, das mit einem tagsfraktion angehört, einen in der deutschen Durchmesser von bis zu 0,75 Millimetern mit Parlamentsgeschichte bislang einmaligen Akt bloßem Auge sichtbar ist. Die „namibische ausgelöst. Wegen ihrer Stasi-Verstrickung Schwefelperle“ lebt im schlammigen Meeres- spricht der Landtag der Abgeordneten die boden, ernährt sich von Schwefelverbindungen, „Parlamentswürdigkeit“ ab und entzieht ihr die sie mit Hilfe von Nitraten umwandelt. Die das Mandat. Beck bestreitet, als Stasi-Zuträ- Nitrate speichert der „Riese“ in einem blau- gerin anderen geschadet zu haben. Im Juni

grün schimmernden Sack. Im ozeanischen Öko- reicht sie beim Landesverfassungsgericht DPA system spielt die Mikrobe eine wichtige Rolle. Klage gegen den Mandatsentzug ein. Beck 147 Joschka Fischer ist unter Beschuss, Basis und Vorstand sind sich nicht mehr grün. Erbittert strei- tet die Öko-Partei über den Bomben- krieg der Nato auf dem Balkan. REUTERS SIPA MAI Aus allen Träumen gerissen

ls Gipfelstürmer waren sie gestartet, als Tiefflieger sind sie unsanft gelandet: Nach dem Gewinn der A Deutschen Meisterschaft wollte der stolze FC Bay- ern München den Champions-League-Cup und den DFB- Pokal holen. Doch der Traum vom Triple-Triumph geht schon in Barcelona grausam zu Ende. Im Finale der Cham- pions League gegen Manchester United führt Bayern bis zur 90. Minute mit 1:0. Dann jedoch schießen die Briten zwei Tore binnen 102 Sekunden. Zweieinhalb Wochen spä- ter geht die Matthäus-Passion weiter: Bayern vergeigt auch das Pokal-Endspiel gegen Werder Bremen. Bayern-Spieler nach der Niederlage 148 Ein kostbarer Pflegefall Tornados mit Ge- des Abendlandes ist schwindigkeiten von frisch restauriert: Zwar über 500 Stunden- war der alte Glanz kilometern wüten im vom „Abendmahl“ US-Staat Oklahoma. da Vincis schon lange Exakte Vorhersagen verloren, aber sein der Monsterstürme Reichtum lässt sich sind noch immer nicht nun wieder ahnen. möglich. DPA WITTERS SPORT-PRESSE-FOTOS WITTERS SPORT-PRESSE-FOTOS gegen Manchester United 149 D. DAVIS/SPORTSPHOTO Bayern-Führungstor in der 6. Minute ACTION KUNZ Ausgleichstreffer in der 91. Minute Manchester-Siegtor in der 93. „Fußball ist komisch“ Der ehemalige Bayern-Trainer GIOVANNI TRAPATTONI über das Debakel der Münchner und die seltsamen Wege des runden Leders

150 MAI 1999 AP Minute Manchester-Mittelfeldspieler Beckham

ls es passiert war, musste ich Zwei Drittel meines Lebens habe ich Bis zur 90. Minute führte Bayern Mün- flüchten. Ich hatte nicht mehr mit Fußball verbracht, erst als Spie- chen im Finale der Champions League A die Kraft, auf dieses Feld zu ler, dann als Trainer. Nach so einer 1:0 gegen Manchester United, und in blicken. Es waren vielleicht noch Strecke meint man, es könne nichts den drei Minuten der Nachspielzeit ein paar Sekunden bis zum Schluss- mehr passieren, was man nicht schon verloren die Deutschen noch 1:2. pfiff, aber ich bin einfach aufgestan- einmal erlebt hat. Aber das, was an Im Rausch des Augenblicks sind in den, habe das Stadion verlassen und diesem Abend im Stadion Nou Camp meinem Kopf noch einmal jene Mi- draußen auf dem Parkplatz auf den von Barcelona passierte, ist mit nichts nuten abgespult worden, die wahr- Mannschaftsbus der Münchner Bay- zu vergleichen, mit keiner Niederlage, scheinlich die bittersten meiner Lauf- ern gewartet. Sagen wir es so: Ich mit keiner Enttäuschung, die ich selbst bahn waren. Das war 1983, ich war hatte fertig. jemals durchstehen musste. Trainer von Juventus Turin, und wir 151 MAI 1999 W. WITTERS W. DPA GES BAADER DPA W. WITTERS W. verloren im Finale des Europapokals der Landesmeister gegen den Ham- burger SV mit 0:1. Seinerzeit stieß uns Felix Magaths Schuss in den Winkel zu Boden – aber vergleichbar sind die beiden Ereig- nisse dennoch nicht. Wir hatten da- mals noch 81 Minuten Zeit, um selber ein Tor zu schießen. Es war mit- hin – aus der Distanz betrachtet – ein ganz normales Fußballspiel. Was Bayern München widerfuhr, war ein- zigartig. In Italien gibt es eine Redewendung, die dem Billardspiel entliehen ist: „Abbiamo avuto sempre il pallino in mano“, sagt man da, zu deutsch: Wir Verzweifelte Bayern-Spieler, siegreiche Manchester-Mannschaft haben immer die kleine Kugel in der

153 MAI 1999

Hand. Gemeint ist ein Mensch in vor- Katakomben des Stadions, und als er Minuten vor dem Ende ausgewech- teilhafter Situation, vergleichbar mit unten angekommen war, stand es selt und damit die Niederlage einge- einem Billardspieler, der den ersten nicht mehr 1:0, sondern 1:2. leitet. Mit solchen Diskussionen kann Stoß ausführen darf. Häufig verschafft Gibt es irgendjemanden, dem man man ganze Abende füllen, in Wirk- ihm das für das gesamte Spiel einen die Schuld an diesem Ausgang geben lichkeit aber betreibt man Kaffeesatz- komfortablen Vorsprung. könnte? Nein, es gibt keinen. Nicht die leserei. So erging es Bayern München in Bar- Spieler und nicht den Trainer. Ich habe als Trainer Leute eingewech- celona. Es wäre logisch gewesen, wenn Die Spieler mussten sich absolut si- selt, die ein paar Minuten später das die Bayern hier gewonnen hätten. Sie cher fühlen zu diesem Zeitpunkt. Sie Spiel für uns entschieden haben, und führten sehr früh 1:0, sie hatten dieses waren weder überheblich, noch fehl- ich habe andere Leute eingewechselt, Spiel unter Kontrolle, Manchester te es ihnen an der nötigen Konzentra- die ein paar Minuten später das Spiel spielte nur noch aus der Verzweiflung tion. Sie waren voll und ganz bei der verloren haben. Im Fußball ist nichts heraus, Bayern hatte schon gewonnen, Sache, sie hatten keinen Grund anzu- vorhersehbar.Alles ist der reine Zufall. Es wäre dehalb vollkom- men unsinnig, danach zu fragen, ob man aus die- sem Spiel irgendwelche Lehren ziehen kann. Es gibt keine Lehren aus sol- chen Ereignissen – wir re- den von Fakten, die sich so im Leben nicht mehr wiederholen werden. Die Niederlage der Bayern ist keine Frage richtiger oder falscher Taktik, sondern – noch mal – eine Frage des Zufalls. Sepp Herberger hat ge- sagt: Der Ball ist rund. Und das heißt auch: Selbst wenn es nach objektiven Maßstäben vielleicht ge- recht wäre, dass ich ein Spiel gewinne, kann es

L. BADER doch sein, dass ich es ver- Bayern-Trainer Trapattoni (1986) liere. Das ist immer der Reiz des Fußballs gewesen, sie hatten schon diesen Pokal, sie nehmen, dass sie dieses Spiel noch schon damals, als es noch kein Fern- mussten nur noch auf den Schlusspfiff verlieren könnten. Nichts deutete dar- sehen gab, und heute, wo er sich warten. Jeder, ohne Ausnahme jeder auf hin, dass hier Bayern-Profis am scheinbar so hoffnungslos dem Kom- musste das so sehen, selbst die, von Werk waren, die mit ihrer Kraft und merz ausgeliefert hat. denen es heißt, sie wären auf dem Kondition am Ende waren. Sie haben Nichts in unserem Sport ist kom- Gebiet des Fußballs im Besitz der letz- sogar überaus intelligent Fußball ge- merzieller als ein Finale der Cham- ten Wahrheit. spielt und mussten einfach nur fest- pions League. In diesem Jahr nun Man erzählt sich beispielsweise diese stellen, dass Fußball manchmal ko- hat man diesen Wettbewerb noch ein- Geschichte von Franz Beckenbauer. misch ist. mal auf 32 Mannschaften erweitert, Der große Bayern-Präsident saß wäh- Mit dem Trainer Ottmar Hitzfeld habe und ich teile die Sorge des ehemali- rend des Endspiels neben dem großen ich an diesem Abend während des gen holländischen Superstars Johan Pelé, und kurz vor dem Schlusspfiff Banketts gesprochen, und ich habe Cruyff, der sagte, man habe diesen sagte Beckenbauer zu seinem Nach- ihm gesagt, er habe nur das getan, was Wettbewerb „entcoffeiniert“. barn, jetzt müsse er aber runter auf richtig war. Doch der Fußball scheint auch das zu den Rasen, um im Augenblick des Sie- Journalisten haben ihm später vor- verkraften. Er lebt, solange er solche ges bei seiner Mannschaft zu sein. geworfen, er habe mit Lothar Mat- Dramen produziert wie das in Bar- Beckenbauer stand auf, ging durch die thäus seinen erfahrensten Spieler zehn celona. 154 Werbeseite

Werbeseite Prügel für den Frieden

Auf einem Sonderparteitag streiten die Grünen über den Nato-Einsatz gegen Serbien. Rabiate Pazifisten rebellieren vergebens gegen die Kriegsbefürworter.

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Anti-Kriegs-Demonstranten beim Grünen-

latsch! Volltreffer. Der Außen- minister presst die rechte Hand F ans Ohr. Rote Flüssigkeit sickert durch seine Finger. Blut? Nein, nur Farbe – im Gesicht, am Hals, im Ohr, auf dem Anzug. Ein Verwirrter hat auf dem Sonderparteitag am Himmelfahrtstag dem grünen Chef-

K.-B. KARWASZ denker Joschka Fischer einen Farb- Farbbeutel-Opfer Fischer beutel an den Kopf geworfen. Mit 156 MAI 1999 K.-B. KARWASZ Parteitag in Bielefeld

gerissenem Trommelfell – die Reste Die Provokation hat Erfolg: Erstmals rot-grüner Regierung? Wo bleiben die der roten Pampe trägt er wie eine auf einem Parteitag siegt Fischers real- Koordinaten des grünen Weltbildes, Tapferkeitsmedaille – redet der ge- politischer Flügel über die sperrige wenn die Fundis Diktatoren verteidi- beutelte Fischer wenig später auf Basis, die einen einseitigen Ausstieg gen, die Realos zu Kampfgefährten der die Delegierten in der Bielefelder der Bundeswehr aus dem Nato-Krieg Nato werden, wenn plötzlich Polizisten Seidenstickerhalle ein. „Hier spricht fordert, der seit Wochen schwerste die grünen Anführer vor ihren eigenen ein Kriegshetzer“, so der Minister, Zerstörungen in Serbien anrichtet. rabiaten Parteifreunden schützen müs- „und ihr schlagt Herrn Milo∆evi´c Aber was haben der Außenminister sen, die den Wechsel von der Opposi- demnächst für den Friedensnobel- und seine Realos tatsächlich gewon- tions- zur Regierungspartei nicht mit- preis vor.“ nen außer dem Verbleib in Schröders machen wollen? 157 MAI 1999 REUTERS Parteitagsredner Fischer, Leibwächter

Fraktionschef Rezzo Schlauch Doch was viele Grüne gern wird regelrecht niedergeschla- als großes Finale im Trans- gen, die Bundestagsabgeord- formationsprozess von der nete Claudia Roth bekommt Mäkel- zur Macher-Partei se- eine Currywurst an den Kopf, hen, ist erst der Anfang. Parteichefin Gunda Röstel wird Atom-, Umwelt- und Verkehrs- an den Haaren gerissen. „Nie politik, Menschenrechte oder wieder Krieg“, skandieren die Waffenexporte – überall lauern Friedensbewegten. „Nie wie- Themen, die für eine Spaltung der Auschwitz“, hält ihnen der der Partei allemal gut sein verhasste Außenminister ent- würden. gegen. Was ist noch grün nach gut Die Schlacht der Schlagworte einem halben Jahr in der Bun- illustriert den Grundsatzkon- desregierung? Für Fischers Ver- flikt: Die Zwänge des Regie- trauten Georg Dick, den stra- renmüssens und die Lust am tegisch klugen Planungsstabs- guten Gewissen passen im tris- chef im Auswärtigen Amt, der- ten politischen Alltag selten zu- zeit nur eines: „die gigantische sammen. Unsicherheit, wohin der Zug

Schonungslos brechen jetzt SIEGMANN J. fährt“. die lange verdrängten Fragen Erzürnter Delegierter Immerhin wird der Himmel- auf: Wer sind die Grünen? fahrts-Parteitag der Grünen Welche Position ist noch unverrück- stürzen die Grünen bei den Europa- einen festen Platz im deutschen bar? Was würden sie noch alles an- wahlen wenige Wochen nach Bie- Gedächtnis finden: Der rot gefleckte stellen, um an der Macht zu bleiben? lefeld auf weit unter sieben Prozent. Anzug, den der Schmerzensmann Wie würde der Wähler reagieren? „Hauptsache dringeblieben“, sagt er- Joschka Fischer in Bielefeld trug, wird Die Antwort kommt prompt und leichtert Gesundheitsministerin An- im Bonner „Haus der Geschichte“ schmerzhaft. Von über zehn Prozent drea Fischer. ausgestellt. HAJO SCHUMACHER 158 Werbeseite

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Werbeseite MALLORY-IRVINE EXPEDITION/GAMMA-LIAISON/STUDIO X EXPEDITION/GAMMA-LIAISON/STUDIO MALLORY-IRVINE Mallory-Leichnam am Mount Everest Hillary oder Mallory?

Das Rätsel der Everest-Erstbesteigung

er waren die ersten Bergsteiger, die den höchsten Punkt der Erde erreichten, Wden – nach neuesten Messungen – 885o Meter hohen Gipfel des Mount Everest? Un- strittig ist, dass der Neuseeländer Edmund Hil- lary und der Sherpa Tensing Norgay 1953 als Er- ste erfolgreich von einer Everest-Expedition heimkehrten.Aber waren vielleicht auch schon fast drei Jahrzehnte früher die Briten George Mallory und Andrew Irvine auf dem Gipfel? Mitglieder ihrer Expedition hatten die beiden im Frühjahr 1924 über die Nordroute bis etwa 8500 Meter Höhe aufsteigen sehen. Dann ver- schwanden die zwei auf Nimmerwiedersehen in den Wolken. Ein internationales Suchteam stößt am 1. Mai 1999 in 8200 Meter Höhe auf den halb entblößten Leichnam Mallorys und birgt Teile der Ausrüstung. Doch das Rätsel, ob der Everest-Pionier vor oder nach Erreichen des Gipfels starb, bleibt ungelöst. Mallorys Kamera,

mit der er oder Irvine einen Gipfelsieg hätte DPA dokumentieren können, wird nicht gefunden. Bergsteiger Mallory in den französischen Alpen (1909) 167 Rasender Rüssel Killer-Stürme verwüsten den amerikanischen Mittelwesten. ie kommen, unweigerlich, jedes Jahr über den geplagten amerikanischen Mittelwesten: Von SMitte April bis Mitte Juni ist Hochsaison für die Tornados. Dann rasen die gewaltigen Stürme durch die so genannte Tornado-Alley, die sich von Texas über Oklahoma und Kansas bis nach South Dakota erstreckt. Wenn die charakteristischen Rüssel der Killer-Stürme die Erde berühren, zerstören sie alles, was in ihrem Weg liegt: Hochspannungsmasten knicken, Starkstromleitungen zerreißen, Autos und Rindvieh werden durch die Luft gewirbelt. MAI 1999

Die Verwüstungen, die rund 70 Tor- nados in der ersten Maiwoche in wei- ten Landstrichen von Oklahoma und Kansas hinterlassen, sind die stärksten seit knapp 20 Jahren: 49 Menschen werden getötet, etwa 1000 verletzt, der Sachschaden beläuft sich auf über eine Milliarde Dollar. Tornados sind das Produkt von Gewittern, die sich entlang des Jet- Streams entwickeln. Diese Windströ- mung entsteht in einer Höhe von rund zwölf Kilometern zwischen kalten und warmen Luftmassen. Beim Auf- einandertreffen dieser Windströme mit den feuchtwarmen Luftmassen, die von Süden heranziehen, wird die Warmluft explosionsartig in die Höhe gezogen. Dabei kondensiert die feuch- te Luft und entlädt sich in schweren Niederschlägen. Ausschlaggebend für die Enstehung dieser „Twister“ sind zwei unter- schiedlich schnelle Windströme, zwi- schen denen die langsam aufsteigende Luft zunächst in eine horizontale Drehbewegung versetzt wird. Die Warmluftwalze knickt schließlich un- ter Einwirkung der hochrasenden Luftmassen ein und wird zu einem wirbelnden Kegel mit nach unten ge- richteter Spitze, die in Bodennähe den Tornado-Rüssel bildet. Forscher können mittlerweile Rich- tung und Tempo der Luftmassen sowie die Luftfeuchte vermessen, sogar die Größe der Regentropfen lässt sich be- stimmen. Aber ob der Rüssel tatsäch- lich niederkommt, wann, wo und mit welcher Gewalt, kann bislang noch niemand voraussagen. Dass ein Tor- nado in einem furiosen Finale enden kann, bei dem innerhalb weniger Mi- nuten die Windgeschwindigkeiten im Sturmkegel rasant ansteigen, daran wurden die Twister-Forscher auch diesmal erinnert. Im Zentrum des Tor- nados, der am 3. Mai minutenschnell Vororte von Oklahoma City verwüs- tete, wurden Geschwindigkeiten von

über 500 km/h gemessen. X, AP (S. 168/169) C. SMITH/ENID NEWS & EAGLE/GAMMA/STUDIO

Tornado-Schäden in Oklahoma 170 AFPT AFP SIPA AP SCALA SIPA Leonardo-Wandbild „Abendmahl“ in Mailand vor, nach der Restaurierung (u.) 172 MAI 1999

Schon der Meister selbst hat gepfuscht: Für sein Mailänder „Abendmahl“ wählte Leonardo da Vinci eine unsolide Technik. Spätere Restauratoren, die das geniale Werk auffrischen wollten, verschandel- ten es erst recht. Ganz zu retten war es auch nun, in zwei Jahrzehnten Arbeit, nicht mehr. Aber der Reichtum der Malerei lässt sich wieder erahnen. Kostbarer Pflegefall

nd jetzt soll die Sache ausgestanden sein? Die Arbeit ge- tan? Das Ziel erreicht? Nicht leicht zu glauben. Alle kann- Uten das berühmte Wandgemälde, Leonardo da Vincis „Letz- tes Abendmahl“ im einstigen Speisesaal des Mailänder Klosters Santa Maria delle Grazie, ja nur noch als ein Work in progress – unabsehbar in der Schwebe zwischen jämmerlichem Ruin und panischen Rettungsversuchen. Und nach einem Pflegefall sieht es noch immer aus, auch wenn nun endlich jene mehr als 20-jährige Kur beendet ist, die Enthusiasten die „Restaurierung des Jahr- hunderts“ nennen. Also keine auf den ersten Blick umwerfende Enthüllung wie das Farbwunder der gereinigten Michelangelo-Fresken im Vatikan, das mindestens gleichen Anspruch auf den Superlativ hat. Nein, als zerschlissener Flickenteppich präsentiert sich das 4,55 mal 8,77 Me- ter große „Abendmahl“ dem erwartungsfrohen Auge – mit großen abgeschabten Schadstellen zwischen Inseln aus leidlich intaktem Ge- 173 SCALA Philippus-Figur vor, nach der Restaurierung (r.) webe. Die aber lohnen nun allerdings Körper- und Raumdarstellung Leo- punkt geschildert ist, ganz überzeu- den zweiten und dritten Blick, und sie nardos zu Tage gebracht, wie sie vor- gend – gerade hat Jesus den Jüngern rechtfertigen, wie sich dann rasch her niemand dieser Malerei ansehen eröffnet, einer von ihnen werde ihn herausstellt, jede Schwärmerei. konnte, und das buchstäblich seit Jahr- verraten; mühsam gebändigte Erre- Restauratorin Giuseppina („Pinin“) hunderten. gung wogt durch die Szene. „Leonar- Brambilla Barcilon, die in ihrem Kno- Erst jetzt, in ungeahnter, reich abge- do“, so schreibt der französische chenjob 73 geworden ist, hat Feinhei- stufter Ausdruckskraft, wirkt das Psy- Kunsthistoriker Daniel Arasse, „mal- ten an Kolorit und Lichtführung, an chodrama, das da auf seinem Höhe- te das Unsichtbare bei seiner Ankunft 174 G. EICHHOLZ

im Sichtbaren und machte die Er- mal weiter zurückzutreten, um den gegen aller Tradition ist der Verräter schütterung gegenwärtig, die diese An- Eindruck von Zerstückelung zu mil- Judas nicht von den ehrenwerten Jün- kunft auslöste.“ dern – die Lücken sind feinfühlig ab- gern isoliert, sondern (als Vierter von Heutige Betrachter sind aufgefordert, getönt, der Bildentwurf bleibt als links) in die Tischgesellschaft einge- sich den ursprünglichen Farbenreiz, ganzer nachvollziehbar. reiht. Zur Bühne des Geschehens wird der nun hier und da wieder aufblitzt, Auf Zeitgenossen muss diese zwischen ein illusionistischer Perspektivraum in über die ganze Fläche ausgebreitet 1495 und 1498 ausgeführte Komposi- voller Breite des realen Refektorium- vorzustellen. Dabei hilft es, auch ein- tion sensationell gewirkt haben: Ent- Saals. 175 MAI 1999

Hier im Konvent der Mönche Publikum ausgesperrt, dann konnten nur ausgewählte Be- wieder durfte es für eine Wei- sucher Zutritt haben. Den- le den Zeitlupenfortschritt noch verbreitete sich der der Akteure auf dem Gerüst Ruhm des Gemäldes, das als- vom Boden aus verfolgen. bald – und auf Jahrhunderte Wie immer nun der obligate – als vorbildhaft empfunden Chor von Besserwissern tönt, wurde, unaufhaltsam: Repro- die das „Abendmahl“ an- duktionsstiche machten es in geblich zu einem „Werk des großen Zügen bekannt, ma- 20. Jahrhunderts“ verfälscht lerische Raffinessen blieben sehen – der aktuelle Zustand wohl oder übel auf der kommt dem Original un- Strecke. Seit je hatte das bedingt näher als alles, was „Abendmahl“ etwas von ei- seit Jahrhunderten im Re- nem Phantom-Bild. fektorium von Santa Maria Umso mehr, da sich das Ori- delle Grazie zu sehen war. ginal, kaum erschaffen, auch Stückchen für Stückchen sind schon zu verflüchtigen be- nicht nur die wahren Züge gann – Leonardos Schuld. der heiligen Figuren enthüllt Der vom Herzog Ludovico worden, so dass zum Beispiel („il Moro“) Sforza in die Philippus wieder staunend Stadt geholte Meister hat- den Mund öffnet und der te die bewährte Fresko- Bart des Simon auf ur- technik seiner toskanischen sprüngliche Länge gestutzt Heimat, die Dauerhaftigkeit ist. Auch das noble Gewirk

garantierte, aber zügige Ar- VANDEVILLE F. des Tafeltuchs liegt samt Bü- beit verlangte, verschmäht. Restauratorin Brambilla gelfalten den Blicken offen. Er kam und ging unregel- Brot und Früchte, blinkende mäßig, werkte nach dem Bericht eines zusudeln“. Erst im 20. Jahrhundert Zinnteller und halb volle Gläser bil- Zeitgenossen mal wie besessen und setzte sich allmählich das Finger-weg- den kostbare Stillleben. brachte nächstes Mal nur „ein paar Prinzip moderner Denkmalpflege Freilich: Hin ist hin. Neben farblich Pinselstriche“ an. durch. eingepassten Aquarell-Schraffuren, Zugleich wuchs die Belastung durch die (deutlich unterscheidbar und olche Kapricen, so schien es zu- Staub und Dunst, die von immer problemlos reversibel) nackte Fehl- Snächst, konnte sich Leonardo leis- größeren Besuchermassen verursacht stellen kaschieren, künden noch an- ten, weil er nicht auf frischen Putz wurde. 1977 sah die Restauratorin dere Partien von unwiederbringlichen („affresco“) malte, sondern, in Tem- Brambilla, die an einem anderen Verlusten: Weil von dem eigenhän- perafarben, auf eine wie für ein Tafel- Wandbild im selben Raum beschäf- digen Judas-Kopf Leonardos nichts bild grundierte Fläche. Bestürzende tigt war, das „Abendmahl“ nicht übrig geblieben war, konnte Giu- Folge jedoch: Schon zwei Jahrzehnte nur neuerlich verschleiert, sondern seppina Brambilla hier nur jüngere später krümelte die Farbe von der auch in akuter Gefahr: Früher appli- Übermalungen bis zu einer Version feuchten Wand. zierte Klebestoffe warfen sich be- des 18. Jahrhunderts abtragen. Bei der Es folgte eine unendliche Krankenge- drohlich auf. gemalten Kassettendecke und den schichte mit vielen kurpfuscherischen Wandbehängen musste sie gleichfalls Heilversuchen. Was unansehnlich ge- ach ausgiebigen Vorstudien ging resignieren. Mehr als ein erlesenes worden war, wurde kurzerhand neu Ndie Expertin, von wenigen gele- Stückwerk war nun mal nicht zu gemalt. Der Italienreisende Goethe, gentlichen Helfern unterstützt, mit erreichen. der 1788 zornbebend vor dem herun- Mikroskop, Pinsel, Skalpell und Wat- Dem soll nun jedoch, damit nicht tergekommenen Meisterwerk gestan- tebausch daran, den Jahrhunderte-Filz gleich das alte Unheil wieder von vorn den hatte, empörte sich, ein kurz zu- aus jüngeren Farb- und Bindemittel- losgeht, äußerste Schonung zuteil vor tätiger Restaurator habe „die we- schichten, aus Schmutz, vertrockne- werden. Besucher werden nur nach nigen alten Originalstellen, obschon tem Schimmel und den Ausscheidun- Voranmeldung in kleiner Anzahl durch fremde Hand zweimal getrübt“, gen von Mikroorganismen abzutragen, durch eine Klimaschleuse für knapp auch noch „mit Eisen beschabt“, um ursprüngliche Farbpartikel hingegen bemessene Zeit eingelassen. „die Züge seiner frechen Kunst hin- zu festigen. Periodenweise wurde das JÜRGEN HOHMEYER 176 Werbeseite

Werbeseite Knievels Himmelfahrt s war ein Sprung, von dem sein Vater nur träumen konnte: Mit Eeiner Geschwindigkeit von 145 km/h hebt der amerikanische Stunt- man Robbie Knievel, 37, von einer Startrampe ab und fliegt auf einem Motorrad über den Grand Canyon. Die Himmelfahrt dauert drei Se- kunden. Bei der Landung nach 69,5 Metern stürzt der Teufelsflieger zu Boden, bricht sich zwei Rippen, ver- staucht sich einen Knöchel und spricht benommen, aber glücklich: „Ich bin noch nicht ganz bei mir.“ Bei einem missglückten Flug über den 61 Meter breiten Canyon wäre der Draufgänger 762 Meter tief gefallen. Schon 1974 wollte Robbies Vater, der legendäre Motorrad-Stuntman Evel Knievel, das abgründige Abenteuer wagen. Damals

hatten Umweltbehörden die Über- MICELOTTA F. FOTOS: flugerlaubnis verweigert. Knievel nach dem Canyon-Sprung MELDUNGEN

6. Mai Homos unter der Haube uf einem Hamburger Standesamt geben sich sieben lesbische und Aschwule Paare das Ja-Wort, tauschen Ringe und lassen sich in ein neues „Partnerschaftsbuch“ eintragen. Die „Hamburger Ehe“, im April von der SPD/GAL-Koalition in der Hamburger Bürgerschaft beschlos- sen, stößt bei den (geschätzt) 200000 Lesben und Schwulen in der Hansestadt zunächst auf verhaltenes Interesse, weil sie nur symbo- lischen Charakter hat. Die gleichgeschlechtlichen Paare erklären ledig- lich, dass sie in einer dauerhaften Beziehung leben wollen, privatrecht- liche Rechte können in einem Zusatzvertrag geregelt werden. Der Lesben- und Schwulenverband fordert, aus dem Hamburger Beispiel Konsequenzen zu ziehen, und startet eine Kampagne zur rechtlichen Gleichstellung der homosexuellen mit der bürgerlichen Ehe. Unter- stützt wird der schwule Aufbruch vom Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, der für „mehr Toleranz“ plädiert. Auch Deutschlands Langhaar-Pieper Guildo Horn erklärt sich solida- risch: „Ich hab dich lieb! – das möchten auch Schwule und Lesben auf dem Standesamt sagen können.“ W. WITTERS W. Kameramann von TM 3 bei Champions-League-Spiel 3. Mai Fußball im Bügel-Kanal er Poker um die Fernseh-Übertragung der DChampions League ist entschieden: Für rund 2oo Millionen Mark pro Saison erwirbt der Münchner Zwerg-Sender TM 3 die deutschen TV-Rechte an den Spielen der auf 32 Clubs aufgestockten Fußball- Europaliga in den nächsten vier Wettbewerben. Drahtzieher des Deals, der für Pay- und Free-TV gilt, ist der angloamerikanische Medien-Tycoon Rupert Murdoch, der mit 66 Prozent der Anteile Hauptgesell- schafter von TM 3 ist. Damit hat zur Verblüffung der Fachwelt ausgerechnet ein quotenschwacher Frauen- sender, in dem bislang kein einziger Sportjournalist arbeitet, das Rennen um die attraktivste Domäne des Männersports gewonnen. Kult-Satiriker Harald

Schmidt ulkt in seiner Late-Night-Show: „In der ACTION Halbzeit wird weiterhin live gebügelt.“ Schwules Paar nach der „Eheschließung“

4. Mai 7. Mai Mysteriöse Uralt-Krakeleien Neues Staatsbürgerrecht in Bericht der BBC über Tonscherbenfunde eines Archäologenteams n der Bundesrepublik geborene Kinder auslän- Ein Pakistan macht Furore: Sind die pflanzen- oder dreizackförmigen Idischer Eltern erhalten die deutsche Staatsan- Gravuren auf 1998 entdeckten Artefakten der Ausgrabungsstätte Harappa gehörigkeit, wenn ein Elternteil seit acht Jahren im Indusgebiet Schriftzeichen? Wenn ja, wie Harvard-Archäologe Richard rechtmäßig in Deutschland lebt. Sie bleiben aber Meadow vermutet, dann nur dann Deutsche, wenn sie sich im Alter von sind die wahrscheinlich 18 bis 23 Jahren für den deutschen Pass und gegen 5300 bis 5500 Jahre alten den der Heimat ihrer Eltern entscheiden. Mit die- Krakel die ältesten der ser Regelung novelliert der Bundestag das als an- Welt. Bislang haben die tiquiert kritisierte Staatsbürgerrecht, wonach nur Schriftgelehrten angenom- Deutscher ist, wer von Deutschen abstammt. Ur- men, Sumerer und Ägypter sprünglich hatte die rot-grüne Koalition auch Aus- seien vor 5100 bis 5300 ländern die Einbürgerung gestatten wollen, die

Jahren die ersten Schrei- M. KEHOYER J. seit langem in Deutschland leben, aber auf ihren berlinge der Welt gewesen. Rund 5300 Jahre alte Gravuren auf Harappascherbe bisherigen Pass nicht verzichten möchten. 180 MELDUNGEN

17. Mai Machtwechsel in Israel ei der Direktwahl des israelischen Ministerpräsidenten Bsiegt der Favorit: Ehud Barak, der Vorsitzende der Ar- beitspartei. Mit 58 Prozent der Stimmen triumphiert er über den bisherigen Amtsinhaber Benjamin („Bibi“) Netanjahu vom konservativen Likud-Block. Der hatte dem populären ehemaligen Generalstabschef Barak das Siegen leicht ge- macht. Allzu oft hatte „Bibi“ frühere Anhänger durch gebro- chene Versprechen verprellt, allzu häufig hatte er durch Hin- haltetaktik und Täuschungsmanöver den Friedensprozess in Nahost torpediert und schließlich sein Land in die Isolation geführt. Barak verspricht, Israels Verpflichtungen aus dem Wye-Abkommen zu erfüllen, das Netanjahu 1998 nur unter massivem Druck der USA mit den Palästinensern geschlossen hatte und dann nicht einhielt. Der Wahlsieger will zudem

SIPA über 30 Jahre nach der Okkupation der Golanhöhen durch Wahlsieger Barak Israel eine Einigung mit Syrien über diese Region erreichen.

21. Mai 27. Mai Olivetti schluckt Telefonriesen Run auf Erotik ie größte Übernahmeschlacht in der europäi- ex an der Börse. Mit ei- Dschen Industrie endet mit dem Sieg des ver- Sner Champagner-Party meintlichen Außenseiters. Trotz Gegenwehr des feiert der Flensburger Managements von Telecom Italia gelingt es dem Triebartikel-Konzern Bea- Mailänder Elektronikkonzern Olivetti, sich die te Uhse den Verkaufsstart Aktienmehrheit des früheren Telefon-Monopolisten der „ersten Erotik-Aktie zu sichern, der etwa fünfmal so groß ist wie Europas“. Firmengründe- Olivetti selbst. Mit der Offerte, zehn Euro je rin Beate Rotermund, 79, Telecom-Italia-Anteil zu zahlen, nahm der frühere findet den Börsengang Büromaschinenhersteller, nach langem Siechtum „furchtbar aufregend“,

erst kürzlich wieder erstarkt, im Februar den interessiert beobachten ACTION Kampf um den Telekommunikations-Koloss auf. die Händler das Debüt: Beate-Uhse-Aktie Ende März erhöhte er auf 11,50 Euro – fast 120 1,12 Millionen Aktien Milliarden Mark für alle Aktien. Telecom-Italia- werden am ersten Tag umgesetzt, der Ausgabekurs von 7,20 Euro steigt Chef Franco Bernabè suchte daraufhin Schutz bei bei der Erstnotiz auf 13,20 Euro. Die Emission wird 40fach überzeichnet. einem noch Stärkeren, der Deutschen Telekom. Mit den rund 63 Millionen Euro, die der Wertpapier-Coup einbringt, will Er vereinbarte eine Fusion beider Firmen. Doch das Unternehmen expandieren und zum weltweit größten Sexartikel-Ver- 52 Prozent der Telecom-Italia-Aktionäre ziehen treiber aufsteigen. Die Uhse-Gruppe schaffte 1998 mit Sex-Shops, Ver- Olivettis Offerte dem Pakt mit den Deutschen vor. sandhandel und Porno-Filmen einen Umsatz von 168,4 Millionen Mark.

23. Mai Sintflut im Süden tarke Regenfälle und die Schnee- Sschmelze in den Alpen lassen Flüsse und Seen in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz so anschwellen, dass die Fluten vielerorts die schwersten Hochwasserschäden des Jahrhunderts anrichten. Allein in Bayern überschwem- men die Wassermassen eine Fläche, die etwa anderthalbmal so groß ist wie der Chiemsee. Rund 25000 Anwesen im Freistaat sind betroffen. Mehrere Men- schen kommen in den Fluten um. Land unter auch an den Ufern des Bodensees: Der Pegel steigt so hoch wie seit 109 Jahren nicht mehr. Vor allem in der

Schweiz verwüsten zudem Erdrutsche REUTERS und Schlammlawinen das Land. Hochwasser in Neustadt an der Donau 181 Ohne seine Politik der Aussöhnung wäre Südafrika in einem Meer von Gewalt versunken. Nelson Mandela, epochale Polit- Figur, geht mit 80 ins Retiro. AP EISENMAN ARCHITECTS JUNI Dioxin zum Frühstück

iftalarm im affärengeplagten Belgien und dann in ganz Europa. Eier und Hähnchen, Rind- und GSchweinefleisch aus belgischen Agrarbetrieben sind mit dem hochgiftigen Dioxin belastet. Die größte Rück- rufaktion in der europäischen Lebensmittelbranche rollt an. Skandal im Skandal: Das Brüsseler Landwirtschafts- ministerium wusste seit Monaten von der Dioxingefahr, erklärte Informationen darüber jedoch zur Verschluss- sache. Die Verbraucher fürchten neues Unheil, als es belgischen Schülern nach dem Genuss von Coca-Cola speiübel wird. Eine weitere große Rückrufaktion beginnt. Legehennen vor der Notschlachtung in 182 Das Eisenman-Mahn- Fast zeitgleich treten mal wird gebaut, ein zwei Sport-Ikonen ab. Ort, wo Deutsche die Boris Becker schreckt toten Juden aufsuchen. ein Dasein ohne Der Schriftsteller Tennis nicht. Zu Amos Oz hätte lieber, Steffi Grafs Abschied „dass die toten Juden entbietet Richard die Deutschen zu von Weizsäcker ein Hause besuchen“. leises Servus. RTL / OBS RTL ACTION PRESS ACTION einer belgischen Geflügelfarm 183 as Elend beginnt mit Eiern, die in belgischen Hühnerbatterien auf Ddie Transportbänder plumpsen und Spuren des Seveso-Gifts Dioxin enthalten. Auch Hähnchenfleisch ist verseucht. Lebensmittelkontrolleure in ganz Europa schwärmen aus, um Eier, Hähnchenkeulen und Geflügel- pasteten belgischer Herkunft aus den Ladenregalen zu beschlagnahmen. Belgiens Gesundheitsminister Marcel Colla und Agrarminister Karel Pinx- ten treten zurück. Als Nahrungsmittelprüfer das Gift auch in Schweine- und Rindfleisch entdecken, weitet die Brüsseler Re- gierung ein bereits für Geflügel erlas- senes Schlachtverbot auf Borsten- und Rindvieh aus. Die Europäische Kom- mission untersagt den Verkauf von Milch-, Rinder- und Schweineproduk- ten aus rund 650 verdächtigen belgi- schen Betrieben. Zudem sollen in der EU alle belgi- schen Lebensmittel, die zwischen dem 15. Januar und dem 1. Juni hergestellt wurden und einen Eigehalt von über zwei Prozent haben, eingezogen wer- den – die aufwendigste Lebensmittel- Rückrufaktion in Europa. Betroffen sind Mayonnaisen und Nudeln, Baby- kost und Desserts. Ein neuer Lebensmittelskandal bahnt sich in Belgien an, als Schülern nach dem Genuss von Coca-Cola schlecht wird. Andere Coca- oder Fanta-Trin- ker müssen sich ebenfalls erbrechen. Der Coca-Cola-Konzern ruft 14 Mil- lionen Getränkekästen in fünf eu- ropäischen Ländern zurück. Zeitun- gen spekulieren, Cola-Produkte seien mit Rattengift verseucht. Der Image- schaden des 113 Jahre alten Unter- nehmens ist unermesslich. Nur wenige Tage später gibt die Firma jedoch Entwarnung. Die Übelkeit der Cola-Trinker sei auf verunreinigtes Kohlendioxid zurückzuführen, das ein Abfüllbetrieb in Antwerpen verse- hentlich verwendet habe. Und in einer nordfranzösischen Anlage seien Do- sen von außen durch Holzschutzmit- tel auf den Paletten kontaminiert worden. Ernsthafte Gefahr für Cola- Trinker habe nie bestanden. JUNI 1999

Die Suche nach den Quellen der Dio- dern auch nach Spanien, Deutschland, – und das aus einem Grund, der kaum xinbelastung in Fleisch und Eiern ist Luxemburg oder Frankreich. geeignet ist, Ängste vor gesundheit- sehr viel schwieriger. Zunächst ent- Nur ansatzweise lassen sich die Spu- lichen Schäden zu dämpfen. Noch decken die Fahnder eine Fährte, die ren der Dioxinpanscher ausmachen. weitgehend unbekannt ist nämlich, von Agrarbetrieben, die verseuchtes Denn luschig sind die Kontrollen nicht von welcher Menge an Dioxin den Futter bezogen haben, zu Fettschmel- nur im affärengeplagten Belgien, son- menschlichen Organismus gefährdet. zen in Flandern führt. Die wiederum dern auf dem gesamten europäischen Unstrittig ist jedoch, dass die massive haben – wie rund ein dutzend andere Futtermittelmarkt. So gelangen auch Angst der Bevölkerung vor Dioxin im Futtermittelhersteller in Belgien, hierzulande Dioxine via Viehfutter Frühstücksei oder Grillhähnchen be- Frankreich und den Niederlanden in Nahrungsmittel, weil Second-Hand- grenzt worden wäre, wenn Belgiens auch – Mixturen des wallonischen Fette aus Gaststätten, Großküchen Behörden so früh wie möglich gehan- Fettverwerters Fogra verwendet. Es oder Imbissbuden dem Viehfutter bei- delt hätten. Schon Anfang des Jahres stellt sich heraus, dass Fogra vergam- gemixt werden dürfen. Dass gelegent- war das Landwirtschaftsministerium melte Frittieröle und kontaminierte lich sogar Altöle in die Kessel gelan- über rätselhafte Krankheitsfälle in Plastikkübel in seine Schmelzkessel gen, mögen beamtete Experten nicht flämischen Hühnerställen informiert gekippt hat. ausschließen.Analysen von Toxikolo- worden. Die Beamten verfassten ein gen zeigen zudem, dass schadstoff- Dossier, erklärten es für geheim und or allem niederländische Produ- belastete Getreiderückstände, Stroh- taten dann monatelang nichts. Erst als Vzenten mischen ihrem Fraß für und Erdreste, die Futtermitteln beige- eine TV-Journalistin einen hohen Hühner, Schweine und Rinder auch mengt werden, ebenfalls die Dioxin- Agrarbeamten mit dem Dossier kon- mit Industrie-Altölen verunreinigte werte in der Nahrung erhöhen. frontierte, beendete die Behörde die Fette bei. Vereinzelt gelangt solches Grenzwerte für das Seveso-Gift im verantwortungslose Geheimniskräme- Futter nicht nur nach Belgien, son- Tierfutter gibt es in Deutschland nicht rei und schlug Alarm. 185 FOTOS: EISENMAN ARCHITECTS FOTOS:

edenken muss mit den richtigen Worten beginnen. Deshalb stört Ges mich noch immer, wenn vom „Untaugliches Holocaust gesprochen wird, der inter- national üblichen Vokabel für den systematischen Mord an den Juden. In der griechischen Mythologie be- deutet das Wort „Brandopfer an Symbol“ Gott“. Aber das, was in Deutschland und ganz Europa passierte, war kein Mehr als zehn Jahre lang haben die Deutschen über ein zen- Opfer, und es hatte auch nichts mit Gott zu tun. Es war ein Verbrechen trales, deutsches Holocaust-Mahnmal debattiert. Nun ent- unter Menschen, ein Massenmord, scheidet sich der Bundestag für den überarbeiteten Entwurf und so sollte man es auch nennen. des amerikanischen Architekten Peter Eisenman. Doch der Zehn Jahre haben die Deutschen ge- israelische Schriftsteller AMOS OZ hegt große Bedenken braucht, um sich auf ein Mahnmal in Berlin zu einigen. Und ich fürchte, sie gegen dieses Projekt: Ein klassisches Mahnmal tauge nicht als haben trotz der Mühe nicht die rich- Antwort auf ein so ungeheuerliches Verbrechen. tige Antwort gefunden. Mit einem sol-

Eisenman-Entwurf zum Berliner Holocaust-Mahnmal aus der Fußgänger-Perspektive, Gesamtansicht (o.) 186 Werbeseite

Werbeseite JUNI 1999 chen klassischen Mahnmal kann man hause, ihrer Straße, ihrer Stadt. Wir deine Schuldigkeit getan. Abhaken vielleicht eines Krieges gedenken, ei- brauchen eine Privatisierung des Ge- und weitergehen. nes Erdbebens oder großen Unfalls. denkens. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich Aber es taugt nicht für ein so unge- Natürlich würden die Tafeln, die ich will der gegenwärtigen Generation heuerliches Verbrechen. mir vorstelle, auch Vandalismus an- keinerlei Schuld aufladen. Sie ist nicht ziehen. Es gäbe Widerstand von Leu- schuldig. Sie sind nicht anders als jun- in Monument, ob figurativ oder ten, die dagegen sind.Aber ich denke, ge Leute in anderen Ländern. Ich Eabstrakt, kann nur eine Metapher dieser Konflikt zwischen denen, die möchte vielmehr, dass sich Deutsch- sein. Das heißt, dass eine Sache oder sich erinnern möchten, und denen, die land seinem kollektiven Gedächtnis ein Ereignis durch etwas anderes dar- verdrängen wollen, sollte ausgetragen stellt. Dass die Menschen von etwas gestellt wird, das ihm ähnelt. So kann werden in Deutschland. Es wäre ein gestoppt werden auf dem Weg zur etwa ein Vogel mit gespreizten Flü- tägliches Referendum darüber, wo Arbeit, zum Kino, zum Metzger. Dass geln die Luftwaffe symbolisieren. Deutschland steht. Ein Weg, die Tem- sie sich bewusst machen: Hier lebten Aber für die Ausrottung der europäi- peratur des deutschen Volkes zu mes- früher Juden, und jetzt gibt es sie schen Juden gibt es keine Metapher, sen, jeden Tag, jede Woche: Wie viele nicht mehr. Die Deutschen sollten weil diesem Verbrechen nichts ähnelt. Tafeln wurden diese Woche zerstört? noch für sehr lange Zeit ein sehr kom- Nun will ich nicht behaupten, pliziertes historisches Bewusst- dass es überhaupt keine ange- sein haben. messene Form des Gedenkens Auch in Israel haben wir ein gibt.Aber ich hätte in Deutsch- zentrales Mahnmal – Yad Va- land gerne ein Mahnmal gese- shem, das ist Museum und Er- hen, das völlig anders ist als der innerungsstätte zugleich. Da Eisenman-Entwurf: Jedes Haus, wir über keine authentischen in dem vor dem Krieg Juden Orte des Gedenkens verfügen, lebten, wird mit einer Metallta- mussten wir einen schaffen. fel versehen. Am Eingang oder Aber ich sähe es lieber als im Treppenhaus, zweiter Stock bloßes Museum. Denn Museen links, stünde dann etwa zu le- sollten niemals Ersatz werden sen: „Hier wohnten Ludwig für Tempel und Schreine, für Meyer, Helga Meyer und ihre Kirchen und Kathedralen. kleine Tochter Ruth. Sie wur- den am 6. Juli 1942 deportiert. eit eindringlicher scheint Sie starben in Dachau.“ Ich Wmir ohnedies die Sirene, möchte nicht einen Platz, wo die bei uns einmal im Jahr zum Deutsche die toten Juden auf- Gedenken an die Ermordeten

suchen, ich möchte, dass die to- PEITSCH P. ertönt und alle mitten im Alltag ten Juden die Deutschen zu Schriftsteller Oz innehalten lässt. Für eine Mi- Hause besuchen. nute stoppt der komplette Ver- So entstünde ein sehr präziser, kon- Und wie viele wurden von den Nach- kehr, die Menschen unterbrechen ihre kreter Dialog über die verschleppten barn wieder angebracht? Arbeit und ihre Telefongespräche. und ermordeten jüdischen Nachbarn. Jedes Mal wenn ein Student im Ar- Warum nicht auch in Deutschland? Hatten die Rosenbergs nicht einen chiv einen Brief etwa mit dem Ab- Einmal im Jahr hörte man eine Sirene, Zigarrenladen? Und wie hieß der sender von Herrn Kurz an seinen Nef- und das ganze Land stünde still für jüngste Sohn der Lichtensteins? Die- fen in Polen entdeckt, gibt es schon eine Minute des Gedenkens. se Fragen sind viel wichtiger als ein wieder eine Adresse, und eine neue Ich spreche nicht als direktes Nazi- abstraktes Philosophieren darüber, wo Plakette hat einen Platz. Das wird ein Opfer, ich bin in Israel geboren und Gott war. dynamischer Prozess – der konstante betrachte Deutschland nicht als Fein- Das nun gewählte Mahnmal in Berlin Kampf zwischen Erinnern und Ver- desland. Schon häufig bin ich dorthin soll die Möglichkeit schaffen, der sechs gessen. gereist, vor allem, um aus meinen Millionen ermordeten Juden an einer Büchern zu lesen. Und doch ist es für zentralen Stelle zu gedenken. Doch s ist diese andauernde Anstrengung, mich anders als bei Reisen in andere in dieser riesigen Gesamtheit ist Er- Edie nötig ist. Wir dürfen keine mo- Länder. Tagsüber funktioniere ich dort innerung gar nicht zu leisten.Wir müs- numentalen Einweg-Denkmäler er- sehr gut.Aber die Nächte in Deutsch- sen auf den einzelnen Menschen richten. Das sind solche, die man be- land sind noch immer anders als über- schauen, die Individuen in ihrem Zu- sucht und dann denkt: Nun hast du all sonst. 188 Werbeseite

Werbeseite Boris Becker Kinder des Olymp Nach 15 Jahren beenden zwei Jahrhundert-Sportler ihre unvergleichlichen Karrieren: Steffi Graf und Boris Becker. Richard von Weizsäcker rühmt Steffi Grafs „unzerstörbaren“ Siegeswillen. Boris Becker beschreibt sein entspanntes Leben nach dem Tennis. SPIEGEL- Autor Hans-Joachim Noack würdigt den charismatischen Superstar Becker als Leitfigur seiner Generation.

m Sommer 1989 meldete sich beim in der Kneipe ersonnenen Schnaps- SPIEGEL ein der Redaktion unbe- idee: ob das Magazin daran interes- Ikannter Mann „aus Amerika“. Er siert sei, seinem Freund ein Praktikum gab vor, „im Auftrag Boris Beckers“ zu ermöglichen. zu telefonieren, und was er dann et- Der deutsche Tenniscrack hatte da was umständlich in Worte zu fassen gerade erst wenige Wochen zuvor zum

FOTOS: S. SIMONS (2), ACTION PRESS, J. FASSBENDER, GAMMA, H. RAUCHENSTEINER FASSBENDER, PRESS, J. S. SIMONS (2), ACTION FOTOS: versuchte, klang verdächtig nach einer dritten Mal Wimbledon gewonnen – verlegerischenwieder Ambitionen Dass sich die Medien reinzuriechen“. „indie Also hielteresfürsinnvoll, Court eineSportzeitung zugründen. seiner Laufbahnaufdem Center nach Abschluss Ihm schwebte vor, erstaunlichePläne. te 192), Antwort gestanden hatte (sieheSei- fi Graf geführten Gespräch Redeund Karriere imeinzigen jemalsmit Stef- der demSPIEGELam Anfang seiner haft impulsive Megastar ausLeimen, der ebenso schüchternewiesprung- Schon einige Tage später entwickelte Aber der Anruf erwiessichalsecht. denn docheinigermaßen absurd. erschien Lehrzeit bemühenkönnte, plötzlich umeinejournalistische sich soeinerimZenitseinesRuhms dass Diebloße Annahme, tierte. ends indieUnsterblichkeit katapul- dasihnnunvoll- ein Bravourstück, Steffi Graf zum Endeseines anderthalbJahr- Bis blieb ihmtrotzdem wichtig. tete, nie undNetznachjedemBall hech- mit Leidenschaftzwischen Grundli- die Kampfmaschine vorzuführen, mehr alsdievielzitierteteutonische aber seinen Anhängern inaller Welt schwand – nen Namenzumachen, sichpublizistischei- Die Neigung, deutscher Heros. tisch seineFremdbestimmung als kus zuFelde undbeleuchtete kri- gegen die Auswüchse im Tenniszir- „Sind dennallebescheuert?“zog er Unter derÜberschrift den SPIEGEL. nen weithin beachtetenBeitrag für 199o ohnenennenswerte Hilfe ei- „Autor“ BorisBecker imFebruar Immerhinverfasste der denken. mals 21-Jährigen wohl kaumver- kannmaneinemda- daktionellen), erledigten (undmitihnendiere-

FOTOS: S. SIMON (2), ACTION PRESS, BONGARTS, AP, ALLSPORT zehnte währenden Höhenflugs sah er sich selbstbewusst als gefragter „Meinungsbildner, der praktisch jedes Forum hat“. Denn „Boris Nazionale“ hatte den Ehrgeiz, Sein und Schein voneinan- der zu trennen. Begeistert widmete sich der wissbegierige Autodidakt, der schon kurz nach der Mittleren Reife in die weite Welt aufbrach, in nächtelan- gen Gesprächen den „wirklichen Fra- gen des Lebens“. Die „Geheimnisse zwischen Himmel und Erde“ und was die Menschheit aus den Phänomenen lernen könne, beschäftigten ihn schließlich stärker

J. H. DARCHINGER J. als Serve und Volley. In bemerkens- Graf, Becker, SPIEGEL-Redakteure* werten Interviews ließ er das Publi- kum wie keine andere Sportkoryphäe an der allmählichen Verfertigung sei- „Mit 23 schieß ich alle ab“ ner Person teilnehmen – ihre augen- scheinlichen Brüche und schmerzli- Auszüge aus dem ersten SPIEGEL-Gespräch chen Rückschläge inbegriffen. mit Steffi Graf und Boris Becker im Frühjahr 1985 Dem Millionenheer seiner Fans die jeweiligen Seelenzustände offenzu- SPIEGEL: Wie sollen wir euch an- GRAF: Am Anfang habe ich immer legen begründete neben der Art sei- reden? freundlich gegrüßt, aber sie hat nes Spiels Beckers unbestreitbares GRAF: Mit du, so alt bin ich ja noch mich gar nicht beachtet. Nicht ein- Charisma. Und natürlich war das auch nicht. mal hallo hat sie gesagt, dann habe das Resultat einer ausgeprägten „Ego- BECKER: Ich werde meistens ge- ich auch nicht mehr gegrüßt. Seit manie“ (so sein Entdecker und Trainer duzt, mir ist es am liebsten so. ich Erfolg habe, spricht sie schon Günther Bosch). Der zeitweilig welt- SPIEGEL: In der internationalen mal ein paar Worte mit mir. beste Tennisspieler empfand sich ganz Presse werdet ihr als Wunderkin- SPIEGEL: Wie wird der Becker eines allgemein als die entscheidende „Leit- der bezeichnet.Wie fühlt man sich, Tages sein? figur“ zumindest der nachgewachse- wenn man so etwas hört oder liest? BECKER: Das weiß ich nicht. Wenn nen Generation. BECKER: Es gibt sehr, sehr viele Ta- ich 23 bin, dann bin ich der Becker, In früheren Jahren versuchte der no- lente, die sehr gut spielen, und es ist der die Gegner immer abschießt. torische Sinnsucher dieser Rolle mit ein harter Weg nach oben. SPIEGEL: Steffi, weißt du, wie viel immer neuen, absichtsvoll gegen den GRAF: Es kann immer was dazwi- Geld du schon verdient hast? Strich gebürsteten Botschaften etwa schenkommen. GRAF: Da hab ich absolut keine Vor- zur politischen und gesellschaftlichen SPIEGEL: Wie verhalten sich euch stellung mehr. Lage seiner Landsleute zu entspre- gegenüber die Stars? SPIEGEL: Boris, gibt es einen chen – Boris Becker wollte wirken. BECKER: Am Anfang ist man noch Wunsch, den du dir außer der Rei- Später allerdings (und unter dem Ein- ein Außenseiter, da kennt man nie- he erfüllt hast? fluss gewiefter PR-Berater) wurde er manden. Da ist man halt in der BECKER: Ein Wunsch für mich wäre, in manchem glatter und gefälliger, Ecke, man kann nicht gleich sagen: dass ich mir mal eine Hi-Fi-Anlage eine für einen Superpromi des Show- Hallo, hier bin ich. Man muss sich kaufe. Die habe ich nicht. geschäfts womöglich unvermeidliche erst langsam hocharbeiten. Jetzt SPIEGEL: Wie ist es bei dir, Steffi, Häutung. spiele ich schon ein gutes Jahr mit macht Vater das Portemonnaie auf, So wird er nun in seinem Leben nach und komme eigentlich mit jedem wenn du was haben willst? dem Tennis jenen ein bisschen ähnli- Spieler gut zurecht. GRAF: Ja, er gibt mir immer, was ich cher, mit denen er sich das Prädikat SPIEGEL: Wie ist das bei dir, Steffi? brauche. teilt, als der bedeutendste deutsche Kommt da Chris Evert und sagt: Athlet des auslaufenden Jahrhunderts Hallo, wie geht’s? * Hans-Joachim Noack, Kurt Röttgen in Paris. zu gelten: Max Schmeling und Franz Beckenbauer. 192 JUNI 1999 Genießen und schweigen BORIS BECKER über sein „schrecklich schönes Leben“ nach dem Tennis

ährend der ersten Wochen nach meinem Adieu von WWimbledon habe ich keinen Tennisschläger angefasst, zumindest nicht als Arbeitsgerät – ich habe mei- nem Sohn Noah einige Bälle zuge- spielt, seinen Griff korrigiert, sonst nichts. Ich brauchte Abstand. Zu mir selbst. Erholung für meinen geschun- denen Körper, der, wie mir mein Münchner Medizinprofessor nach in- tensiven Blutuntersuchungen bestä- tigte, „auf null Widerstandskraft“ ab- gerutscht war. Wie viele Profi-Sportler stehen plötz- lich vor dieser Stille, der Leere, un- vorbereitet, erschreckt, destabilisiert. Die Helfer, die ihnen Limousinen re- servierten, Flugscheine besorgten, die müden Waden lockerten oder die Socken wuschen, sind entschwunden, im Dienst eines Jüngeren, der die Tor- turen noch ertragen kann. Die Zu- kunft liegt hinter ihnen, und sie wissen nicht, wie sie ihre verbleibenden irdi- schen Jahrzehnte ausfüllen sollen. Mich schreckt dieses Dasein ohne Ten- nis nicht – ein neues, ein anderes Le- ben hat begonnen. Mein Engagement als Entrepreneur etwa. An Ideen fehlt

es mir nicht, allein an der Zeit. Des- H. NAGEL halb – zunächst Abstand. Privatmann Becker, Sohn Noah Unweit von München wird an einem Tag im August ein Golfturnier um den wir uns mit Weißbier, Schnaps und gen Sie dazu?“ „Nichts.“ Ich will „erst „Pokal des Präsidenten“ von Bayern Leberkäs. Sogar einen Zigarillo habe mal meine Runde zu Ende spielen“. München ausgespielt. Franz Becken- ich mir gegönnt. Natürlich, einen Am nächsten Loch fragt der Mann mit bauer hat mich dazu eingeladen. End- Klaren und Zigarrenrauch am Grün, dem Mikrofon erneut. Er bietet mir lich Erholung, Ruhe. Hoffe ich. Für ei- das verstößt gegen die Etikette der ein Gegengeschäft an. Sein Sender nige Stunden keine Verhandlungen Golfpuristen. Wir aber sind unter will 500 Mark in die Beckenbauer-Stif- mit meinen neuen Geschäftspartnern, Freunden, eine Art Betriebsausflug. tung zahlen, damit ich endlich eine keine Beratungen mit der Hebamme Ich zocke gegen einen meiner Part- Erklärung abgebe. Will ich nicht. über die bevorstehende Geburt unse- ner, pro Loch eine Hand voll D-Mark Steffi ist eine Freundin. Ich kenne sie res zweiten Sohnes. Keine Medien. – und verliere. seit jenen Tagen, als unsere Schläger Denkste. Ich spiele die Runde mit den Über ein Handy erreicht uns die Nach- größer waren als wir selbst. Nein, ich Männern, denen ich vertraue. Golf- richt: „Steffi zurückgetreten“.Vor dem will von ihr selbst hören, warum sie fans wie ich. Fußballverbunden. Nach nächsten Abschlag wartet bereits ein nicht mehr will. Warum soll ich mich jedem zweiten, dritten Loch stärken Fernsehteam: „Herr Becker, was sa- jetzt einreihen in die Schar jener, die 193 JUNI 1999 ihr über diese oder jene Gazette oder vor dem Anstoß. Ein Foto, eine Un- per Fernsehinterview ins Ohr hau- terschrift, noch eine. Auch eine für chen: „Steffi, du bist die Größte.“ Das Tante Emma oder Onkel Adolf in weiß sie ohnehin. Leipzig. Der ist Fan. Ewig schon. Vor Später habe ich sie angerufen.Wir ha- dem Mauerfall bereits. Nein, bitte ben geplaudert, über das Leben nach nicht jetzt. Empörtes Abkehren. Die- dem Tennis. Kein Wort über Andre ser Becker.Was glaubt der, wer er ist? Agassi. Liebte sie ihn bereits am Tag Ein Fan, liebe Leute. Der leidet, wenn ihrer Rücktrittserklärung? Er sie? Ihre Scholl, der Mehmet, die Latte trifft. Sache, ihr Leben. Ich habe meine Fünf Minuten vor Schluss liegen die Golfrunde zu Ende gespielt und ge- Bayern im ersten Heimspiel 1:2 im schwiegen. Rückstand. Wahrlich keine Meister- Natürlich bin ich deshalb in einigen leistung. Becker, so steht’s am nächs- Blättern kritisiert worden. Einmal ten Tag in der Zeitung, wollte sich das mehr, was soll’s. Die Anonymität, das Bayern-Elend nicht bis zum Ende an- ahne ich, wird mich nie mehr um- sehen. Vor dem Spielschluss habe er armen. „Da ist der Becker.“ Sieh ihn das Stadion verlassen. Stimmt. Hat er. dir an: „Wie der guckt, isst, geht.“ Aber nicht als Fahnenflüchtiger der Schrecklich schön, diese Existenz. Bayern-Truppe. Die will mich sogar Oder schön schrecklich? Keine Kla- in den Aufsichtsrat befördern. gen von mir. Für den Ruhm, den Nein, der Becker hat sich verabschie- Reichtum musst du bezahlen. Dein det, weil daheim die Frau Schmerzen Gesicht ist zur Massenware geworden, spürte, die Wehen. Bayern schaffte, dein Privatleben wird in der Massen- auch ohne mich, ein Unentschieden. presse millionenfach verdreht. Bei der Geburt von Elias Balthasar Dennoch bin ich ein freier Mann. allerdings habe ich mitgeholfen. Ich Finanziell, wirtschaftlich zumindest. habe die Nabelschnur durchtrennt. Draußen bin ich volkseigener Betrieb. Immerhin. Der Junge ist gesund, mei- Selbst auf dem Weg ins Stadion zu ne Frau schöner denn je. Und Bayern

den Bayern, immer wieder Auto- wird Meister. Davon ist zumindest ROSICKA-RIRO grammwünsche. Noch zwei Minuten Noah überzeugt. Er mag sich irren. Graf, Becker in Leimen (1980) RTL / OBS RTL Graf, Becker bei der Verleihung des „Deutschen Fernsehpreises 1999“ in Köln 194 „Sie war eine Wohltat“ Alt-Bundespräsident RICHARD VON WEIZSÄCKER über sein Tennis-Idol Steffi Graf

SPIEGEL: Herr von Weizsäcker, was hat trierten Menschen – das Gegenbild wie das viele andere Spieler gern ma- Sie an Stefanie Graf fasziniert? zur Oberflächlichkeit und Ablenkung chen. Steffi hat, immer sehr selbstkri- WEIZSÄCKER: Zunächst einmal, dass sie unserer Zeit. Überhaupt war ja ihre tisch, gesagt, ob sie mit sich zufrieden meine Begeisterung für das Damen- Haltung, ihre psychosomatische An- war oder nicht. Basta. tennis geweckt hat. Zur rechten Zeit, mutung, eine Wohltat. Sie war im- SPIEGEL: Boris war gesprächiger. Was denn bei den Herren herrschte damals mer von einer imponierenden Ernst- unterscheidet die beiden außerdem? die pure Langeweile. Ich habe sie 1985 haftigkeit, zurückhaltend, beschei- WEIZSÄCKER: Boris ist ein herausra- zum ersten Mal, dann regelmäßig den und hat sich über das eigene gender Kopf, der die Ansichten und beim Rot-Weiß-Turnier in Berlin ge- Spiel und seine Analyse hinaus sel- Herausforderungen seiner Generation sehen. Zu Anfang verlor sie noch im ten geäußert. repräsentiert. Steffi ist es auf ihre Wei- Finale gegen Chris Evert. Außerdem, SPIEGEL: Haben Sie das bedauert? se: Sie hatte die Fähigkeit, aus den das kann ich nicht leugnen, habe ich WEIZSÄCKER: Nein, ich fand es eher Gaben, die ihr die Natur gegeben hat, mich einfach an ihrem Wesen erfreut. erfreulich, dass sie nicht diese einstu- etwas Eindrucksvolles und Großar- SPIEGEL: Sind Sie sich persönlich dierten Höflichkeitsfloskeln aufsagte, tiges zu machen. näher gekommen? WEIZSÄCKER: Wir sind immer sehr freundlich miteinander umgegangen. Doch es blieb eine gewisse Distanz. In Berlin habe ich ihr nach jedem Tur- niersieg die Hand gegeben und gratu- liert. Zu ersten Umarmungen und Ab- schiedsküsschen kam es erst in Steffis vorgerücktem Alter. Einmal habe ich tatsächlich gegen sie gespielt – Tisch- tennis im Dachgeschoss der Villa Hammerschmidt, meinem Amtssitz. SPIEGEL: Wer hat gewonnen? WEIZSÄCKER: Ich, aber es war natür- lich nur ein hübscher Spaß. SPIEGEL: Auf dem Center Court war sie selten zu Scherzen aufgelegt. Was machte Steffi zum Champion? WEIZSÄCKER: Einerseits ihre faszinie- rende Beweglichkeit. Steffi war viel behender als alle anderen Spielerin- nen, die ich je gesehen habe. Sie tanz- te ja immerfort. In Steffis Spiel gab es lange, schön zu beobachtende Ball- wechsel, bei denen ganz allmählich die Voraussetzungen für einen Punkt- gewinn geschaffen wurden. Das war unglaublich dramatisch. SPIEGEL: Sie war doch auch berühmt für ihren Siegeswillen.

WEIZSÄCKER: Steffi ist für mich der H. SCHULZE Inbegriff eines vollkommen konzen- Graf, Weizsäcker beim Tischtennis in der Villa Hammerschmidt 195 Werbeseite

Werbeseite JUNI 1999 DPA Liebespaar Graf, Agassi

SPIEGEL: Kritiker haben oft Steffis richter an den Hals zu springen. Stef- Mangel an Charisma beklagt. fi war immer überaus fair. Und es war WEIZSÄCKER: Damit tut man ihr Un- wieder sehr charakteristisch, wie sie recht. Steffi war überhaupt nicht auf Abschied genommen hat – ganz au- irgendein Image aus. Sie wirkte durch ßerordentlich entspannt und eigent- ihre unzerstörbare Fähigkeit, schon lich freudig. verlorene Spiele noch umzudrehen. SPIEGEL: Hätten Sie gedacht, dass sie Solche fast aussichtslosen Situationen ihren Ruhestand mit einem Paradies- gibt’s ja nicht nur im Tennis, sondern vogel wie Andre Agassi genießt? im Leben überhaupt. Und just das be- WEIZSÄCKER: Zu amourösen Fragen eindruckt die Menschen. Sie stellen möchte ich mich nicht äußern. Aber fest, wie schwach sie selbst sind und vielleicht kann ich Sie mit einer Anek- wie leicht sie sich ablenken lassen – dote aus meinen Präsidentschaftsta- aber Steffi nicht. gen erheitern. Während eines Staats- SPIEGEL: Kraft und Disziplin sind als besuchs in Washington fragt mich un- deutsche Tugenden ja eher gefürch- ser Botschafter, der von meiner Liebe tet. War die Bewunderung für Steffi zum Tennis wusste, ob ich Lust hätte, nicht ein bisschen ambivalent? ein Turnier anzuschauen. Ein junger WEIZSÄCKER: Nein, überhaupt nicht. Mann, vielleicht 17 oder 18, gewann Es war ein echtes Gefühl der Sympa- das Endspiel, und der freundliche thie, Verehrung für ihre gigantischen Clubvorsitzende winkte den Sieger Erfolge. Sie war doch nie auf eine ab- heran: „This is the German Presi- stoßende Weise verbissen. Was ja gar dent.“ Das hatte er kaum ausgespro- nicht leicht ist: Auf der einen Seite chen, als der Spieler ein Riesenfoto derartig konzentriert auf sich selbst von sich aus der Tasche zog … zu sein und auf der anderen Seite SPIEGEL: Der Bengel wollte Ihnen nicht abstoßend verbissen zu wirken. tatsächlich ein Autogramm geben? SPIEGEL: Besonders, wenn die Medien WEIZSÄCKER: Genau das. Er wollte in jeden Schritt überwachen. überaus herzlicher Bereitschaft den WEIZSÄCKER: Ja, meine Güte, der nor- total unbekannten Besucher von jen- mal reagierende Mensch hat in einem seits des Atlantiks mit einem Starpor- schwer umkämpften Match doch im- trät beglücken und schrieb schwung- mer mal das Bedürfnis, den Schläger voll seinen Namen darauf – Andre hinzuschmeißen oder dem Linien- Agassi. JUNI 1999

r war kein begnade- Mandela überzeugte strei- ter Redner, und seine kende Minenarbeiter, die EZuhörer atmeten er- Arbeit wieder aufzuneh- leichtert auf, wenn der Prä- men. Und er beschwichtig- sident seine meist langen te die verängstigten Wei- Manuskripte aus der Hand ßen, die das Land verlassen legte, wenn er sein un- wollten, und beschwor sie, schlagbares Lächeln auf- am wirtschaftlichen Auf- setzte und das Publikum schwung Südafrikas mit- mit Anekdoten in Stim- zuwirken. mung brachte. Nelson Man- Madiba, so Mandelas afri- dela war ein Mann mit kanischer Klan-Name, hat- einzigartiger Ausstrahlung, te Feinde, aber auch sie ein epochaler Politiker, der liebten und verehrten ihn, Südafrika nach Jahrzehnten selbst wenn sie bisweilen brutaler Apartheid in die moserten, er regiere wie ein Demokratie führte. konstitutioneller König und Ohne Nelson Mandela, sei- agiere eher wie ein Ma- ne Politik der Aussöhnung chiavelli denn als Chef ei- zwischen Schwarzen und nes Regierungsteams. Weißen, wäre das Land am Mandela kokettierte gern Kap in einem Meer von mit seinen Schwächen. Er Gewalt und Chaos versun- konnte unduldsam und ken. 27 Jahre lang hatte er starrköpfig sein und hielt für seinen Kampf gegen die auch bisweilen in falsch Rassentrennung im Gefäng- verstandener Loyalität zu nis gesessen. Die weißen Menschen, die korrupt wa- Herren entließen ihn erst, ren oder ihn enttäuschten als sie erkannten, dass ohne wie seine Ex-Frau Winnie. den ruhelosen Freiheits- „Gottlob, er ist auch nur ein

kämpfer ein Frieden uner- AP Mensch“, sagt der Mandela- reichbar sein würde. So Mandela Freund und Friedensnobel- machten sie sich Mandelas preisträger Bischof Tutu. Charisma zu Nutze, sein In seinem Heimatort Qunu Gespür, seine Wärme im in der Ostkap-Provinz lebt Umgang mit den Menschen. der große Alte jetzt im Re- Es war auch Mandela zu tiro mit seiner weitaus jün- verdanken, seinem überra- Ein König geren Ehefrau Graça Ma- genden Einfluss in der Be- chel, die er an seinem 80. freiungsbewegung African Geburtstag heiratete. Zum National Congress (ANC), Präsidenten und Nachfol- dass die Schwarzen und die dankt ab ger wird, nach einem Weißen in einer „Wahr- triumphalen Wahlsieg für heits- und Versöhnungs- den ANC, der Sohn eines kommission“ öffentlich die Das Freiheits-Idol Nelson Mandela übergibt alten Kampfgefährten ge- Verbrechen der Vergangen- sein Präsidentenamt an Thabo Mbeki. wählt, der machtbewusste heit aufarbeiteten. Täter „Enkel“ Thabo Mbeki, 57. und Opfer standen sich ge- Mbeki hatte Wirtschafts- genüber – bisweilen unversöhnt, aber bunten Hemden erschien. Er täuschte wissenschaft in England studiert. Man- manchmal waren die Gedemütigten sein Volk nicht mit hohlen Verspre- dela selbst hatte ihn jahrelang auf das und Unterdrückten von einst auch chungen. Er war das väterliche Idol schwere Amt vorbereitet, von dessen zum Verzeihen bereit. der schwarzen Jugend. Er ging in die Inhaber so viele schwarze Südafrika- Der hoch gewachsene, vitale Mann Townships und ermahnte auch die ner die Erfüllung ihrer Träume erwar- war ein strahlender Volkstribun, der Radikalen, lieber zu lernen als Mari- ten: Häuser, Strom, frisches Wasser, auch bei Staatsakten am liebsten in huana zu rauchen. Jobs, Schulen. ALMUT HIELSCHER 198 Werbeseite

Werbeseite Rhapsodie in Gelb Naturfreunde und Urlauber trauern, Bauern klagen – die Rapsfelder verschwinden. E Union schonjetztmehrals50Prozent derbenötigten Ölsaaten einführen müsse. weil dieEuropäische ZudemseiendieKürzungen unsinnig, der Rapsvielzuteuer. für die AlsRohstoff fürBio-DieselwerdeVerwendung von Raps alsEnergielieferant. Die Verringerung derBeihilfe bedeuteden„Todesstoß“naturgemäß heftigmissbilligt. diealle Abbaupläne klagtdie Agrarlobby, zen vermutlich umdieHälftezurückgehen, Damitwürde der werdenAnbau dieserPflan- –von 1120Mark auf715Mark jeHektar. SojaundSonnenblumen stark herabgesetzt den Anbau von Ölsaatpflanzen wieRaps, gapaugnfshl.Gemäßder„Agenda 2000“ sollendieSubventionen für Agrarplanungen festhält. wenn dieEuropäische Kommission anihren mertagstraum wird wohl verblassen, sattes GelbuntertiefblauemHimmel–dieserprächtige Som- ndlose Rapsfelder,

MAURITIUS MELDUNGEN

9. Juni 16. Juni Aufpasser auf den Fersen Schnellster Mann der Welt n Modellversuchen mit je 20 lf Jahre nach den Ibis 30 Straftätern wollen drei EOlympischen Spielen Bundesländer die im Ausland in , bei denen der schon vielfach verwendete nachträglich wegen elektronische Fußfessel testen. Dopings disqualifizierte Baden-Württemberg und Kanadier Ben Johnson Hamburg möchten Tätern mit die 100 Meter in 9,79 geringer Haftstrafe oder kur- Sekunden zurücklegte, zer Resthaft einen elektro- erreicht ein Sprinter nisch überwachten Hausarrest erneut diese Fabelzeit. anstelle des Aufenthalts im Im Olympiastadion von Knast gewähren. Hessen hin- Athen unterbietet der gegen will mit dem Aufpasser US-Athlet Maurice am Fuß nur kontrollieren, Greene den 1996 in ob Delinquenten mit Bewäh- aufgestellten

rungsstrafe daheim ihre DPA Weltrekord des Auflagen erfüllen. Elektronische Fußfessel Kanadiers Donovan Bailey um fünf Hundertstelsekunden – 13. Juni im 100-Meter-Sprint fast ein Quantensprung. Europawahl: Schlappe für Rot-Grün Greene hält damit den Nachweis für erbracht, ei der Wahl zum Europaparlament erhält die rot-grüne Regierung die dass eine Zeit von 9,79 BQuittung für ihren innen- und wirtschaftspolitischen Schlingerkurs. Mit Sekunden auch ohne einem Stimmenanteil von 30,7 Prozent bleiben die Sozialdemokraten noch Doping möglich ist. Es unter den schwachen 32,2 Prozent der Europawahl von 1994. Die Grünen bleiben allerdings rutschen von 10,1 auf 6,4 Prozent. Das sei „ein Denkzettel für uns in Zweifel, da Amerikas Bonn“, räumt Peter Struck, Chef der SPD-Fraktion im Bundestag, bundes- Athleten kaum Doping- politische Ursachen des Europa-Desasters ein. Die CDU/CSU dagegen kontrollen im Training feiert ihr bislang bestes Ergebnis bei Europawahlen. Mit 48,7 Prozent baut fürchten müssen. sie ihren Vorsprung gegenüber den Sozialdemokraten um 11,4 auf 18 „Ich finde es unrea- Prozentpunkte aus. Die PDS erreicht 5,8 Prozent und zieht damit erstmals listisch“, meint etwa ins Europaparlament ein. Wieder einmal draußen bleibt die FDP. Mit 3,0 der deutsche Sprinter Prozent scheitert sie kläglich an der Fünf-Prozent-Hürde. Trotz zunehmen- Marc Blume, „diese

der politischer Bedeutung des Europaparlaments ist das Interesse der deut- Zeit sauber laufen zu SPORTIMAGE schen Wähler geringer denn je. Nur 45,2 Prozent geben ihre Stimme ab. können.“ Greene beim Rekordlauf

16. Juni Die Göttliche kehrt heim ie hatte es bei ihrem letzten Besuch Sin Schweden, 1975, prophezeit: „Irgendwann komme ich hierher zurück.“ Nun findet Greta Garbo ihre letzte Ruhe auf einem grünen Hügel des Stockholmer Waldfriedhofs. Die „Göttliche“ Garbo, die mit Kino- Klassikern wie „Ninotschka“, „Mata Hari“ oder „Königin Christine“ welt- berühmt wurde, hatte bereits mit 36 Jahren ihre Filmkarriere beendet. Fortan mied sie panisch die Öffentlichkeit und verbarg sich auf Reisen unter dem Pseudonym „Harriet Brown“. 1990 starb die Diva in New York; um das Privileg, ihre Asche zu bestatten, wett- eiferten Bewerber in Deutschland, England und den USA. Aus Angst vor Grabräubern entschied sich die Garbo- PWE Nichte Gray Reisfield für die abgelegene PRESS ACTION Garbo in „Mata Hari“ schwedische Gedenkstätte. Garbo-Grab in 202 MELDUNGEN

19. Juni Hochzeit bei den Royals nter reger Anteilnahme königstreuer Briten und interna- Utionaler TV-Sender feiert die Firma Royal Windsor wieder einmal eines ihrer beliebten Betriebsfeste: Prinz Edward hei- ratet die bürgerliche Sophie Rhys-Jones, eine Londoner PR- Agentin. Miss Sophie schreitet in einem elfenbeinfarbenen, keck dekolletierten Chiffonkleid zum Altar, der zu Tapsigkeit neigen- de Bräutigam hat Mühe,

den Ring über den Finger DPA der Liebsten zu stülpen. Rattle Zum anschließenden Empfang begeben sich 23. Juni 550 Gäste zu einer eher ungemütlichen Buffet- Ein Traumprinz für Berlin Verköstigung nach Schloss Windsor. Ärger ochstimmung im deutschen Feuilleton: Die Berliner hatten zuvor die „über- HPhilharmoniker haben eine „zeitgemäße und zukunftwei- zogenen“ Wünsche des sende Wahl“ getroffen und ihren „Traumprinzen“ gefunden. Paares erzeugt. Billigster Neuer Chefdirigent des Elite-Orchesters wird Sir Simon Rattle, Präsent-Vorschlag war 44. Der britische Pult-Star tritt 2002 die Nachfolge von Claudio eine Tasse für 255 Mark. Abbado an, der seinen Vertrag nicht verlängern wollte. Rattle, Unwirsche Palastbe- ein gelernter Schlagzeuger, leitet seit 198o das Symphonie- dienstete wollten gar orchester der City of Birmingham, das er zu Weltruhm führte. kein Pfund opfern: Die Der „fröhliche, ernste, kompromisslose Darling-Lockenkopf“

Eheleute gelten als arro- ALPHA (so ein schwelgerischer Kritiker) gilt als Spezialist für die gant und kalt. Vermählte Prinz Edward, Sophie Sinfonik des 19. Jahrhunderts und zeitgenössische Musik.

18. Juni Halbierte Schuldenlast uf ihrem Gipfeltreffen in Köln prä- Asentieren sich die Staats- und Regierungschefs der sieben reichsten Industrieländer als großherzige Gläubiger: Sie wollen den ärmsten der armen Staaten mehr als die Hälfte der Auslandsschulden erlassen, wenn die ihre dadurch frei werden- den Mittel nicht für Waffen ausgeben, sondern zur Bekämpfung der Armut einsetzen. 36 Staaten könnten von der „Kölner Schuldeninitiative“ pro- fitieren, der zufolge einzelne und multilaterale Gläubiger wie die Weltbank auf Forderungen von über 70 Milliarden Dollar verzichten sollen. Noch offen lassen die G-7-Regenten, wer wie viel zur Finanzierung der multilateralen Entschuldung beisteuern wird. Dagegen machen sie dem achten Gipfelteilnehmer Russland klar, dass sie ihm keinesfalls den gewünschten Erlass von 69 Milliarden Dollar Schulden aus Sowjetzeiten gewähren werden. Einziger Trost für die geld- wie geltungsbedürftigen Russen: Obwohl ihr Land praktisch pleite ist, nehmen es die reichen Sieben formell

in ihren Club auf und erweitern die- DPA sen zur G-8-Runde. G-8-Runde (mit Gast Jacques Santer) beim Arbeitsessen im Römisch-Germanischen Museum in Köln 203 Der Absturz der Kennedy-Maschine löst in Amerika kollektive Trauer aus. Der Schrift- steller John Updike erklärt, was die Nation an John- John fasziniert hat. H. MCGEE/GLOBE PHOTOS H. MCGEE/GLOBE H. SCHWARZBACH JULI Adieu, du Lust am Rhein

eit dem Umzug der Politik vom Rhein an die Spree gibt es im wiedervereinten Deutschland nicht nur SOstalgie, sondern auch Westalgie. Wo zum Beispiel finden die Abgeordneten in der sterilen Berliner Neubau- pracht eine Kneipe wie die „Rheinlust“, wo bei Korn und Bier parlamentarische Kompromisse ausgehandelt wur- den? Wer, wenn nicht die flotte Ria vom „Maternus“, singt weinseligen Volksvertretern das Lied vom aufgegangenen Mond? Bonn mit seinen Kungelnischen war so heimelig und vertraut, Berlin dagegen bedeutet für viele Schulden, Abenteuer und gesellschaftliche Fallstricke. Ex-Bundeskanzler Kohl nach der letzten 204 Die Kassen klingeln, Rennwagen auf die Sorgen wachsen. Crash-Kurs: Michael Mallorca meldet einen Schumacher rast im Rekord-Sommer und Ferrari in Reifensta- verflucht den Massen- pel. Mercedes rätselt, tourismus. Gefragt warum in Le Mans die sind künftig Reisende Silberpfeile im Salto mit Manieren und mortale von der Piste Moneten. fliegen. DPA M. MARKUS Sitzung im Bonner Parlament 205 JULI 1999 DPA J.H. DARCHINGER J.H. Konrad Adenauer 1962 Helmut Schmidt 1974 DPA J.H. DARCHINGER J.H. Ludwig Erhard 1964 Helmut Kohl 1986 Kehraus in Bonn Ein sarkastisch-nostalgischer Rückblick

J. H. DARCHINGER auf deutsche Politik in Zeiten rheini- Kurt Georg Kiesinger 1968, Willy Brandt 1970 (u.) scher Gemütlichkeit / Von Talkmaster und Ex-Spiegel-Chef ERICH BÖHME

in hochsommerwarmer Samstagnachmittag vor dem Bahnhof Zoo in Berlin. Der dösende Ta- Exifahrer wird aufgeschreckt von einem Ehe- paar nebst Tochter aus Bonn, unglücklichen Über- siedlern aus der rheinischen Tiefebene. In der Hand eine Checkliste möglicher Wohnobjekte am neuen Dienstsitz des beamteten Familienvaters. Der wegen

J. H. DARCHINGER J. des lukrativen Transportauftrags glückliche Taxifahrer N. MARKUS Endreinigung des Bonner Bundestags 207 JULI 1999 ZEFH KOHLHAS Straßencafé auf dem Bonner Marktplatz H. WOHNER / LOOK BILDERBERG Beethoven-Denkmal auf dem Münsterplatz Kinderchor vor dem Rathaus macht sich samt Fahrgästen auf nach berg räumen gerade vier fleißige Tür- hard Schröder, der höchste Arbeitge- Niederschönhausen, Friedrich-Engels- ken die Gemüsetheke ab. „Nein, hier ber, hat wieder eine Runde verloren. Straße. doch nicht.“ Das heimelige Bonn – ohne Kommu- „Nein, dat jeht nicht, der war doch Letzte Station Grunewald, eine an- nistenadressen, Türken und Staketen- Kommunist.“ sehnliche Immobilie im halbwegs Grü- zäune – hat sie wieder.Vater wird pen- Nächste Station Majakowskiring. Der nen. Einhelliges Urteil der Fahrgäste: deln mit dem Beamtenbomber zwi- Taxler ist vorlaut und lobt die Umge- „Hinter einen Staketenzaun ziehn wir schen alter und neuer Hauptstadt. bung: „Hier wohnt auch der Egon nicht, das sind wir nicht gewohnt.“ Mutter wird vorläufig im idyllischen Krenz.“ Abgelehnt. Karlshorst? „Da Die Beamten-Kleinfamilie tritt den Familienheim eines der Sesselfurzer- wohnten doch die Russen.“ In Kreuz- Rückzug zum Bahnhof Zoo an. Ger- Vororte des entmachteten Bonn zwi- 208 W. SCHMIDT / DAS FOTOARCHIV SCHMIDT / DAS W. T. BABOVIC / DAS FOTOARCHIV / DAS BABOVIC T. Baukräne am Pariser Platz Punker am Brandenburger Tor P. LANGROCK P. Neubauten am Potsdamer Platz in Berlin-Mitte schen Thujahecke und Rosenbeet den So war schließlich über 50 Jahre der tropole suchen, niemanden nach Ber- elektrischen Rasenmäher bewegen. exakt nach Besoldungsgruppen par- lin zieht. Eine Beschäftigung, der sie seit Jahren zellierte Siedlungsring um Bonn zwi- Und es ist nicht nur die Idylle, der nachgegangen ist mit spähendem Blick schen Voreifel, Kölner Bucht und berechenbare Nachhauseweg und die aufs Nachbargrundstück und darauf Siebengebirge gewuchert. Finanziert gemeinsame Erdbeerbowle mit den bedacht, dem Familienvorstand am vom „Bund“, dem Beamtenheim- Nachbarn, die so sesshaft gemacht hat. Abendbrottisch zu melden, ob der Mi- stättenwerk und der benachbarten Das Vertrauen ins tausendjährige nisterkollege von nebenan etwa ein Spar- und Darlehnskasse. Kein Wun- Bonn hat schließlich auch die Hypo- Areal für die Zweitgarage oder den der, dass es da außer ein paar Jungen, thekenlast für Aus-, Um- und Weiter- Swimmingpool hat abstecken lassen. die ihr Abenteuer in der neuen Me- bau des einst bescheidenen Reihen- 209 JULI 1999 J.H. DRCHINGER J.H. Politikertreff „Maternus“, Wirtin Ria Alzen in Bonn Politikertreff hauses so ins Unermessliche steigen Warum auch in der hohen Luftfeuch- dertwende umbauen ließ: für den lassen, dass der Wiederverkaufswert tigkeit des Rheintals verharren, wenn staatlichen Prunk und große Feste un- der rheinischen Immobilie nach dem selbst die Mehrzahl der Bonner Kanz- geeignet. verhängnisvollen knappen Bundes- ler regelmäßig das Weite suchte. Schon tagsbeschluss unter den Buchwert ge- der Rhöndorfer Konrad Adenauer, auf ls der amerikanische Präsident sunken ist. Bonn bedeutet Umgang dessen Insistieren Bonn mit knapper AJohn F. Kennedy zu Besuch kam mit dem Lieben und Teuren, Berlin Mehrheit zur „provisorischen Bun- und ihm die Nachricht vorausgeeilt Schulden,Abenteuer und Versuchung. deshauptstadt“ bis „zur Wiederver- war, der hohe Herr pflege mittags ein Und wer will das schon, wenn er ir- einigung in Frieden und Freiheit“ pro- heißes Bad zu nehmen, war die ge- gendwo in der Besoldungsgruppe B klamiert worden war, suchte allabend- samte Belegschaft des Kanzleramtes nistet. lich sein Adlernest im Siebengebirge unter Anführung des Staatssekretärs auf. Natürlich fuhr er nicht heim, ohne Hans Globke auf Achse: Gemeinsam ie Bundestagsabgeordneten, Mi- dem Fahrer Wilhelm Klockner den bemühten sie sich, das Wasser in einer Dnister gar, hat es dagegen bis auf Auftrag gegeben zu haben, den leeren alten Badewanne mit Tauchsiedern zu wenige sowieso nie nach Bonn ge- Wasserkanister einzupacken, aus dem erhitzen. zogen. Flughafen und Hauptbahnhof er sich tagsüber versorgte. Der Kurzzeit-Nachfolger Ludwig Er- waren in den sechziger, siebziger, Siebengebirgswasser ist schließlich hard, über Jahre vom ersehnten Kanz- achtziger und neunziger Jahren an besser als Bonner Wasser. leramt von Adenauer fern gehalten, Montagen und Freitagen überflutet Den Tag über verbrachte er auf den jieperte dagegen so nach einem Amts- von an- und abreisenden Parlamenta- knarrenden Dielen des Palais Schaum- sitz, dass er noch zu Amtszeiten Ade- riern.Von Freitagmittag an leerte sich burg, einem Phantasieschlösschen am nauers nächtens mit seinem Architek- der Plenarsaal rapide, der Mittags-IC Rheinufer, das vor 140 Jahren der ten Sep Ruf über den Zaun des Palais Richtung Bayern füllte sich. Daran Deutschamerikaner William Loe- Schaumburg kletterte, um für die Zeit hatte man sich in 50 Bonner Jahren schigk errichtete und Prinz Adolf von der eigenen Kanzlerschaft ein ange- gewöhnt. Schaumburg-Lippe um die Jahrhun- messenes Areal für einen Bungalow 210 GLÄSER / ULLSTEIN GLÄSER „Borchardt“ in Berlin

abzustecken. Das Ding wurde schließ- warb sich den Ehrentitel Di-Mi-Do- von Amerongens Villa in Köln-Marien- lich gebaut und erwies sich nach dem Minister, weil er nur dienstags, mitt- burg statt oder bei den großherzigen Erhard-Intermezzo für seine Nachfol- wochs und donnerstags in seinem In- und spendablen Henkels in Düsseldorf. ger als zu eng und zu kleinbürgerlich. nenministerium anzutreffen war. Dort lernten die Ministerialen Essen Allein er wohnte dort gern und hielt und Trinken, ehe sie wieder zu Bonner unter einem scheußlichen Bild, der u so genannten gesellschaftlichen Reibekuchen und rheinischem Sauer- „Schmied des Vulkan“, Hof. ZEreignissen klammerten sich die braten zurückfuhren. Nachfolger Kurt Georg Kiesinger, der hauptstädtischen Ministerialen und ihr Was also band das politische Esta- dank seiner Körpergröße schon gar Presse-Queue an zwei Daten im blishment an Bonn, was macht ihren nicht in Erhards Swimmingpool ge- Jahr, die ihnen das Flair einer Metro- Abschied so tränenreich? Gerade die passt hätte, verzog sich an den Wo- pole vorgaukelten – den Presseball im beamtenhafte, kleinbürgerliche Enge, chenenden ins Schwäbische, Willy Winter und das Kanzlerfest im Som- der Underdog-Stallgeruch der kleinen Brandt wohnte auf dem Bonner Ve- mer. Das eine strahlte in der Beet- Residenzstadt, an den man sich so ge- nusberg, Helmut Schmidt floh nach hovenhalle, später im Ballsaal des wöhnt hat, lässt einen das Schlimmste Hamburg und Helmut Kohl ins hei- Hotels Maritim den Charme eines mit- in der urbanen neuen Hauptstadt mit mische Oggersheim. telständischen Betriebsfestes aus, zu ihren vielen gesellschaftlichen Fall- Franz Josef Strauß verfügte über eine dem das selbst genähte Cocktailkleid stricken befürchten. abscheuliche Parterrewohnung nahe aus dem Schrank musste. Beim an- Wo soll es in Berlin ein Bierbeisel ge- dem Bundeshaus, in die er von Zeit zu deren, einer Freiluftveranstaltung, ben, wie die „Rheinlust“, wo sich in Zeit Besucher, so auch Rudolf Aug- wenn’s nicht wie in Bonn üblich gera- den sechziger und siebziger Jahren stein, zu einem erkalteten Brathendl de regnete, dominierte der fettreiche das Fußvolk des Deutschen Bundes- aufs Sofa nötigte. Im Übrigen war er Duft bis zur Unkenntlichkeit gegrill- tags samt seinen Oberen zu unendlich eher in seiner Cessna auf dem Heim- ter Würste. viel Pils und Korn traf? weg nach München zu Hause als in Wirklich gesellschaftliches Leben blieb Wo mag es in Berlin jene überpar- Bonn. Parteifreund Zimmermann er- aus Bonn verbannt, fand in Otto Wolff teiliche Pissrinne geben, wie die in 211 der „Rheinlust“, an der man sich traf, um parteiübergreifende Kompromisse auszuhandeln, als von Blockaden noch nicht die Rede war? Und es gab damals innerhalb der parlamentarischen Bannmeile nur diese eine und nicht hunderte wie in Berlin.

er damalige Bonner SPIE- DGEL-Redakteur Erich Böh- me erinnert sich noch heute mit einem wohligen Wir-Gefühl daran, wie ihm und seinem Kollegen Helmut Gassmann in ebenjener Kultkneipe zu bier- seliger Mitternachtsstunde der FDP-Finanzminister Rolf Dahl- grün in Hemdsärmeln zum SPIEGEL-Gespräch zur Verfü- gung stand. Die „Rheinlust“ war auch der Ort, wo wir exemplarisch zur Kenntnis nahmen, wie sehr der damalige CSU-Innenminister Hermann Höcherl geknickt war, als er strafhalber vom Innen- zum Landwirtschaftsminister de- gradiert wurde. Höcherl hatte nach der SPIE- GEL-Affäre und einem Abhör- skandal das geflügelte Wort fal- len lassen, man könne nicht immer „mit dem Grundgesetz unter dem Arm“ herumlaufen. Aus dem einen ins andere Amt eskamotiert, erschien der Ex- Innen- und künftige Landwirt- schaftsminister in der „Rhein- lust“ mit einem Packen Akten unterm Arm, deren Aufarbeitung Bonner Rheinaue-Idylle (1968) er im alten Amt verweigert hat- te.Als die grüne Ministertinte trocken Brandt, ein Auge komplizenhaft zu- die Bundestagsabstimmungen für den und der Amtsträger ausreichend an- gekniffen. Der Verlierer Rainer Barzel nächsten Tag. gefeuchtet war, brachten wir Journa- wurde übrigens nie in diesem Kult- Franke zeichnete seine Mannen dort listen ihn vor seine elende Junggesel- Tempel gesichtet. mit der Vorführung der niedersächsi- lenbehausung und lehnten ihn gegen schen „Lüttjen Lage“ aus, dem kunst- die Tür, bis er seinen Schlüssel ins ls die „Rheinlust“ schließen vollen Trinken eines Glases Pils und Loch bugsiert, umgedreht und sich mit Amusste – dort steht jetzt das eines Korn so, dass Korn und Pils zu- einem Sturz kopfüber in häusliche „Haus der Geschichte“ –, verzogen sammen im Mund ankommen. Ande- Sicherheit gebracht hatte. sich die „Kanalarbeiter“, der Ar- re retirierten in den „Hoppegarten“, In der „Rheinlust“ begegnete uns Jah- beiter- und Gewerkschaftsflügel der später in die „Provinz“. Dort übten re später auch der Oppositionsabge- SPD, in den nahe gelegenen „Kes- die Grünen den Parlamentarismus ordnete Höcherl nach dem missglück- senicher Hof“ und übten dort un- und lernten ihre Bräute kennen. Die ten Misstrauensvotum gegen Willy ter Anführung ihres Egon Franke Freidemokraten verzogen sich in ei- 212 Atmosphäre, die einen fränki- schen Ludwig Erhard und den Berliner Willy Brandt mit Ehe- frau Rut bis zum Night-Cup fest- hielt. Dazu gesellte sich das standhafte Bonner Lobbyisten- Corps, das sich oft bis zum Morgengrauen in den verwin- kelten Nischen oder im Hin- terhofgärtchen der Ria Maternus klumpte. Das Hinterhöfchen erlebte zu oft eine Ria „Maternus“ Alzen, die „Der Mond ist aufgegangen“ schmetterte, und einen Lothar Rühl, Staatssekretär im Verteidi- gungsministerium, der sich, ins erste Büchsenlicht blinzelnd, lauthals beschwerte: „Der Mor- genstern, das Schwein, ist auch schon da.“

as alles schliff sich schon et- Dwas ab in den Hoch-Zeiten des Kanzlers Kohl. Er empfing amerikanische Präsidenten und russische Zaren im heimischen Bungalow in Oggersheim. Man wurde staatstragender, aber es blieb doch trotz Edelitaliener und Cuisine Française dieser Hauch von daheim, der den Staatsträgern heute immer noch in den Klamotten hängt und mit dem sie in der Berliner Neubau- pracht angelangt sind. Wo im umtriebigen, neu-mon- dänen Berlin eine „Rheinlust“ finden, eine Ria Maternus? Wo

J.H. DARCHINGER J.H. jene Wärmenester und Kungel- nischen zwischen der neuen protzigen Reichskanzlei des nen Edelitaliener auf der Cecilien- war sie die adrette Wirtin, die zwi- Gerhard Schröder und den Sky-Scra- höhe. Und bei einem Italiener in der schen spendiertem Champagner und pern von Daimler-Benz und Sony, Bonner Innenstadt instruierte Hanns säuerlichen Möselchen den seriösen zwischen dem aufrührerischen Prenz- Martin Schleyer, der damalige BDI- Rahmen abgab für Staatsgäste in- lauer Berg und dem Klein-Istanbul Präsident, den Oppositionsführer Hel- klusive amerikanischer Präsidenten, Kreuzbergs? Wo fände sich im neuen mut Kohl bei Spaghetti Carbonara, die von ihren deutschen Gastgebern Hochsicherheitstrakt des Berliner Re- wie man Kanzler wird. mit der rheinisch-fröhlich-harmlosen gierungsviertels ein Kanzleramtstor, Nicht zu vergessen das Bad Godes- Art der Deutschen vertraut gemacht an dem ein Hinterbänkler namens berger „Weinhaus Maternus“ der wurden. Gerhard Schröder rütteln könnte mit alterslosen Ria Alzen, einer rheini- Es war nicht der Strahlkranz elitärer dem Ruf: „Ich will hier rein“? schen Frohnatur, die bisweilen in- Gourmet-Sterne,Auszeichnungen, de- Nicht nur die Ossis, sondern auch mitten ihres plüschigen Interieurs ren Ria zu Recht nie teilhaftig wurde, die Staats-Wessis tragen an ihrer auf dem Tisch tanzte. Ansonsten aber sondern die rheinische Bonhomme- Nostalgie. 213

JULI 1999 Salut für den kleinen Prinzen

Woods Hole, Massachusetts, Samstag, 17. Juli 1999, gegen zwei Uhr morgens: Eine Anruferin meldet der Küstenwache, dass eine Privatmaschine auf dem Flug nach Martha’s Vineyard verschollen sei. Pilot der Piper Saratoga ist John F. Kennedy Jr., mit an Bord sind Ehefrau Carolyn und deren Schwester Lauren. Fünf Tage später werden die drei tot aus dem Atlantik geborgen. US-Schriftsteller und Pulitzer- Preisträger JOHN UPDIKE über Ruhm und S. TRETTICK/SYGMA Nachruhm des Präsidentensohnes. US-Präsident Kennedy, Sohn John (1963)

nsere Nation hat nie den kleinen Jungen in kurzen Hosen und blassblauem Mäntelchen vergessen, der Usalutierte, als der Sarg seines Vaters auf einer sonnenbeschienenen Straße in Washington an ihm vorbei- gefahren wurde. Doch das sei, wie er später sagte, nur un- sere Erinnerung, nicht seine. John F. Kennedy Jr. war an jenem Tag gerade drei Jahre alt geworden, und allein haften blieb bei ihm das Fehlen eines Vaters. Er erinnere sich noch an den Schreibtisch des Präsidenten, erzählte er hartnäckigen Interviewern – wohl an den Platz unter der Schreibtischplatte, wo er mehr als einmal beim Spielen fotografiert wurde, während ein lächelnder John F. Kennedy Sr. sich oben um die Staatsgeschäfte zu kümmern versuchte. Wir freuten uns über diese Bilder, ob nun gestellt oder nicht: ein junger Präsident, eine junge Familie, eine frische Brise, die mit dem neuen Jahrzehnt Schwung und Hoff- nung ins Weiße Haus brachte. Der Präsident, im Fernsehen so locker wie kein Präsident zuvor, wirkte nie herzlicher und fröhlicher, als wenn er nach dem Aussteigen aus dem Flug- zeug seine beiden Kinder begrüßte oder wenn er mit sicht- lichem Vergnügen am Strand oder auf dem Rasen des SYGMA * Mit Mutter Jacqueline, Schwester Caroline sowie den Onkeln Edward (l.) und Robert

K. WISNIEWSKI/ACTION PRESS K. WISNIEWSKI/ACTION Ehepaar John, Carolyn Kennedy (l.), John Jr. 1963* Kennedy (hinter John) beim Begräbnis des Vaters. 215 JULI 1999

Kennedy-Landsitzes von Hyannis Port zende Fortsetzung erhalten – die Rolle des Vaters spielte. Die Öf- eine weitere unselige Überra- fentlichkeit war entzückt, am Leben schung 36 Jahre nach dem Gruß einer so attraktiven Familie teilhaben jenes unschuldigen, drei Jahre zu können – der Vater so lässig elegant alten Zuschauers. und warmherzig, die Mutter so jung, In den Tagen nach dem Absturz schön, zurückhaltend und anmutig. von John Kennedys Flugzeug Lang ist es her, doch allen immer noch zeigten die Fernsehsender un- gegenwärtig, die damals lebten und zählige Male die Szene des un- hierfür empfänglich waren. Weder vergesslichen Saluts.Wir sehen schäbige Enthüllungen und revisio- die schwarz verschleierte Mut- nistische Geschichtsschreibung über ter, die sich kurz vorher zu JFKs tausend Tage im Amt noch die ihrem Sohn hinunterbeugt und Geißel der Leiden und Skandale, die ihm etwas ins Ohr flüstert, und den schnelllebigen, hohe Ansprüche dann das gehorsame Kind, das an sich selbst stellenden Kennedy- sich zum Leichenzug dreht, die Klan seither unablässig verfolgt ha- Hand tapfer an der Stirn. ben, können den Glanz jener Zeit Jacqueline Kennedy, geborene letztlich trüben. Bouvier, sollte ihn fürs Leben Nun, da sie fast ausgestanden schien, anleiten. Kennedy war sein hat Amerikas schmerzliche Romanze Name, und dieser Name mach- mit dieser Familie durch den Flugun- te ihn berühmt. Doch mit seiner

fall-Tod John Kennedys, seiner Frau S. ROSE/GAMMA dunklen Bouvier-Erscheinung und seiner Schwägerin eine bestür- Traummann John Kennedy und seiner sanften Art war er ganz Jacquelines Kind. Die meiste Zeit seines Lebens war sie Frau Onassis. Sie zog ihn fern vom Kenne- dy-Lager auf, von den Strandfeten und Macho-Riten der Sippe. John sprach ein wenig im gleichmäßigen Tonfall seines Vaters, aber ohne Massachu- setts-Akzent. Er sprach eindringlich, sogar geistreich-witzig, aber ohne jede Schärfe oder aggressiven Unterton.

eine Schwester Caroline gehört Ssichtlich zu dem Stamm mit dem guten Gebiss und dem traurigen Blick, zum Stamm Jacks, Bobbys, Eunices und Teds. John dagegen schien direkt dem Buch der Träume eines Cosmo- politan-Girls von idealer männlicher Schönheit entsprungen. Sein phänomenal gutes Aussehen so- wie die Tatsache, dass er der Sohn ei- nes Präsidenten war und seinen Vater dann an dieses Amt verlor, hoben ihn heraus aus der Menge.Von diesen fas- zinierenden Gaben des Schicksals ab- gesehen, wirkte er wie ein ordentli- cher Bursche, der einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte, um zu tun, was er für richtig hielt.

DPA Im College hatte er an eine Karriere Edward Kennedy (2. v. l.) auf der Fahrt zur Seebestattung als Schauspieler gedacht – bei einem 216 Werbeseite

Werbeseite JULI 1999 gut aussehenden jungen Mann mit ge Anstrengung ab, indem er forderte, men zu reichen Leuten machte. Die noch nicht ausgeprägter Persönlich- in Ruhe gelassen zu werden. Wie privilegierte Welt der Kennedys kön- keit eine durchaus verständliche Ab- glanzvoll sein Prominentenstatus war, nen sich die meisten Amerikaner nur sicht. Aber seine Mutter überredete wurde erst offenbar, als sein Ver- in ihrer Phantasie vorstellen. ihn zum Jurastudium, dem ausgetre- schwinden das gesamte normale tenen Weg in die amerikanische Poli- Samstagsprogramm aller Fernseh- as Objekt des Nachrichtenrum- tik. Für ihn erwies sich dieser Weg als kanäle hinwegfegte. Dmels hätte wohl nachsichtig sein eine Umleitung in die öffentliche In der Woche darauf herrschten in den leichtes, geübtes Lächeln gelächelt, Demütigung. Zweimal fiel er bei der Sendungen die mythischen Bilder des wenn es gesehen hätte, wie mit einem Anwaltsprüfung durch. düsteren Nachspiels vor: die Unter- Bericht nach dem anderen in seine Als die Mutter starb, hatte er die Ju- wassersuche; die Bergung des Ikarus Privatsphäre eingedrungen wurde. risterei bereits aufgegeben; er wurde, aus der Tiefe; die berühmte Familie, John hätte wohl gelächelt bei dieser was sie gewesen war: Herausgeber. Er die, im weißen Hochzeitszelt verbor- Flut von Lobreden für einen Mann, gründete ein unbeschwertes politi- gen, zur Trauergemeinde wird; der be- dessen Leben als eine glamouröse Ein- sches Magazin, wenn es denn so etwas leibte Onkel, wieder einmal gebeugt leitung beschrieben werden könnte, geben kann. Politik als Bühne be- in schon gewohnten Leidensriten; wäre da nicht 1963 der Gruß eines tap- rühmter Persönlichkeiten: Wer kann- das graue Kriegsschiff, das der amtie- feren Kindes gewesen. te sich da besser aus als er? Er war Vielleicht ist unsere Romanze mit den selbst die pure politische Berühmt- Kennedys eine mit ihren Leiden – mit heit, eine ohne ersichtliche politische der Art, wie diese ungewöhnliche Fa- Ambitionen. Doch er war ja noch milie sichtbarer als andere beiderseits jung. Das Fegefeuer eines Wahlkampfs der Grenze zwischen Leben und Tod lag noch vor ihm, wenn er denn ein steht, so als würden die Lebenden und Amt anstrebte. die Toten gemeinsam ein einziges Ziel Er hinterließ den Nachrufschreibern anstreben. nur wenige Anekdoten. Joseph Nye, Die Frage nach der Schuld des Piloten Dekan der Kennedy School of zu stellen ist grausam. Aber die An- Government an der Harvard Univer- nalen des Klans sind gespickt mit sity, entsann sich, ihn gefragt zu ha- Leichtsinnsfehlern, die manchmal ben, als sie bei einem Empfang im auch tödlich für andere waren. Weißen Haus in der Warteschlange Nobelster Wesenszug der Familie ist,

standen: „Erinnern Sie sich noch an A. STERZING dass sie sich zum Dienst am Staat diesen Ort?“ Die Antwort lautete: Schriftsteller Updike berufen fühlt, statt nur den eigenen „Nur sehr schwach.“ Nye fragte Reichtum zu kultivieren. Bei John war weiter: „Möchten Sie hierher zu- rende Präsident als Zeichen seines dieser genetische Drang in die Politik rückkommen?“ John Kennedy Jr. Mitgefühls ausschickt; die improvi- allerdings noch nicht entwickelt. wiederholte lächelnd: „Nur sehr sierten Gedenkstätten; die Asche, die In den Tagen nach seinem Tod haben schwach.“ über einem so unbestimmbaren Ort wir mehr von ihm im Fernsehen gese- verstreut wird wie dem Meer – un- hen als in all den Jahren zuvor. Seine r hatte gelernt, sich seinem erreichbar für einen Dianaesken Per- sanfte Art zu reden beruhigt uns in EBerühmtsein gekonnt und mit An- sonenkult. diesen Zeiten hartmäuliger Typen. stand zu entziehen, und er heiratete Die Medien stürzten sich auf diese Das Schläfrige in seinen hellbraunen eine Frau, die dem ebenso elegant aus- einzelne schlechte Nachricht und Augen schützt vor lebenslangem Ram- wich wie er. Mit ihrer Hochzeit auf zwangen der Öffentlichkeit damit ihre penlicht. einer abgelegenen Insel vor der Küste eigene Vorliebe für die schlagzeilen- Von Geburt an berühmt zu sein ist et- Georgias vermieden sie sehr geschickt trächtigen Kennedys auf. Schließlich was anderes, als es durch eigenes Ver- jeden öffentlichen Rummel. Dass John hatte sich 1960 etwas mehr als die dienst zu werden: Man hat seinen auf Rollerblades und mit Strickmütze Hälfte der Wähler, die ihre Stimme Wert in anderer Münze zu prägen, durch Manhattan sauste, trug ihm wei- abgaben, gegen unseren ersten rö- man muss dem Schatten der Ge- tere Sympathien ein. misch-katholischen Präsidenten ent- schichte entrinnen und sein Leben Er nutzte seine Prominenz zwar als schieden. Und die Öffentlichkeit be- selbst in die Hand nehmen. Zu Johns Aushängeschild für sein unbeküm- wundert nicht unbedingt die Art und Ehre sei gesagt, dass er es versucht mertes Magazin, verlangte aber, wenn Weise, wie Joseph Kennedy Sr., der hat und anscheinend mit Erfolg. es nicht ums Geschäftliche ging, der Vater des Präsidenten, sein Vermögen Reprinted by permission, ©1999 John Updike. Ori- großen Stadt New York eine gewalti- zusammenraffte und seine Nachkom- ginally published in The New Yorker.All rights reserved. 218 Werbeseite

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JULI 1999 Ende einer Dienstfahrt

Unglücksserie im Motorsport

pektakuläre Unfälle sorgen für Unru- he bei den Motorsport-Giganten Fer- Srari und Mercedes: Beim Großen Preis von England rast Michael Schumacher mit 107 km/h in einen Reifenstapel und bricht sich Schien- und Wadenbein. Während die Ursache für das Ferrari-Desaster – schad- hafte Bremsen – rasch ermittelt wird, rätseln die Experten noch über die „Luftverwirbe- lungen“, die im Juni eine Unfallserie bei Mercedes in Le Mans auslösen: Beim Trai- ning zum 24-Stunden-Rennen heben zwei Silberpfeile bei Tempo 300 von der Piste ab, überschlagen sich mehrfach und landen ne- ben der Strecke. Im Rennen schließlich ge- schieht dem Schotten Peter Dumbreck das gleiche Missgeschick: Sein Bolide macht ei- nen vierfachen Salto und fliegt 200 Meter weit in ein Wäldchen.Wie durch ein Wunder kommen weder Zuschauer noch Piloten zu Schaden. Richtungweisender Kommentar von Mercedes-Rennleiter Norbert Haug: „Wir müssen ein Auto bauen, das auf dem

Boden bleibt.“ D.P.P.J. AGENCE

Schumacher-Crash beim Großen Preis von England, Mercedes-Salto in Le Mans (o.) ASA / LAT ASA JULI 1999 K. BOSSEMEYER/BILDERBERG M. GUMM/WHITE STAR K. BOSSEMEYER/BILDERBERG Mallorca 1999 222 M. GUMM/WHITE STAR Paradies auf der Kippe

Katastrophen-Stimmung auf der Sonnenbank: Mallorca ächzt unter dem Ansturm von Billigtouristen und Immobilienkäufern. Das Trinkwasser ist knapp, die Müllkippen fassen den Dreck nicht mehr. Die Politiker reagieren: Bettenburgen werden gesprengt, eine Öko- steuer soll Zechbrüder abschrecken.

enn der TV-Mann Frank Elstner mit dem Charter- Flugzeug in den Mallorca-Urlaub startet, hat er Wzunächst mit heftigen Fluchtreflexen zu kämpfen. Freudlos kauert er neben kreischenden Kleinkindern, speck- bäuchigen Kampftrinkern und Rentnern in geblümten Frei- zeit-Leibchen, die nicht verstehen, „dass die Stewardess keine Peseten umtauscht“. Aber wenn Elstner dem nerv- zehrenden Volkstums-Jet entstiegen ist, sein Blick beglückt auf mallorquinischen Pinien und Schafen ruht, dann ist ihm so wohl wie nirgendwo auf Erden. Und wenn die Zukunft hält, was die Politiker versprechen, wird er bald eine ganz

H. SCHWARZBACH/ARGUS andere Klientel, betucht und gesittet, in seinem Shuttle fin- 223 D. SCHMID/BILDERBERG Strandleben in L’Arenal den.Wanderer beispielsweise, die um- Die Deutschen, die immer närrischer gegen die „perversen Effekte“ des weltfreundlich über insulare Berge werden nach dem Warmwasser-Para- Fremdenverkehrs. Mit sardonischem kraxeln; lebensfrohe Greise, die auf dies, tragen kräftig zu der Misere bei. Vergnügen lässt sie Horrorherbergen den Golfplätzen ihre Handicaps pfle- Von den rund neun Millionen Mallor- abreißen, die den Meerblick versper- gen. Und an die schönen Buchten ca-Touristen kommen etwa 3,5 Mil- ren. Demonstrativ gibt auch der Tou- streben besonnene Badegäste, die lionen aus Deutschland.An einem ein- rismus-Minister in L’Arenal das Start- eimerweise genossene Sangría von zigen Juli-Samstag landen 800 Flug- signal für den Abriss eines Hotels. ganzem Herzen verabscheuen: So kul- zeuge mit über 100000 Urlaubern auf Inselweit sollen Massenunterkünfte tiviert, so idyllisch stellen sich die dem gigantischen Aeropuerto Son kleinen, noblen Quartieren weichen. balearischen Politiker die Insel vor. Sant Joan. Innerhalb einer Woche Mallorca-Besucher müssen künftig Denn nun wollen sie den Fremden- reisen rund 600000 Feriengäste ein. pro Kopf und Urlaub eine Ökosteuer verkehr in eine „sozial verträgliche 70000 Deutsche hausen ständig oder von zwölf Mark entrichten, mit der Richtung lenken“ und einen „Touris- zeitweilig in eigenen Immobilien auf die Rückstände internationaler Bier- mus mit Würde“ fördern. Nach der der Insel. Überfremdungsängste schie- dosen-Barbaren kostendeckend ent- denkwürdigen Saison 1999 haben sie ßen ins Kraut, mancher Einheimische sorgt werden und der Naturschutz ge- vermutlich gar keine andere Wahl. fühlt sich schon „wie in einem be- fördert wird. Die Schmutzzulage soll setzten Land“. 120 Millionen Mark einbringen it Gleichmut und höflicher Dis- Die Invasion der Bleichgesichter stellt Die teutonischen Sangría-Prolos vom Mtanz blicken die tapferen Insu- die Insel vor schier unlösbare Proble- Ballermann 6 sind schon in Bedräng- laner seit vielen Jahren auf die nor- me: Mallorca versinkt im Müll. Was- nis. Unbelehrbare Saufnasen treffen dischen Horden, die fahl und trinkfest ser, Strom und Gas sind knapp, un- dort auf energische einheimische ihre Heimat belagern. Doch in diesem gezügelte Bauwut verschandelt die Gegenwehr. In L’Arenal patrouilliert Sommer ist selbst die Aussicht auf Küsten. „Wenn wir so weitermachen, berittene Polizei. Aufsichtskräfte be- einen prächtigen Profit durch die ist die Insel in einigen Jahren kaputt“, fördern rabiate Fremdlinge unsanft Ballermann-Geschwader nur ein dürf- sagt Francesc Antich, Ministerprä- aus den überfüllten Schenken, bevor tiger Trost für das Inselvolk. Nie zu- sident der Balearen. „Entweder wir sie ins Delirium fallen. „Man darf vor war der Massentourismus eine gehen unter, oder wir ändern uns“, sich nicht mehr danebenbenehmen“, so schwere Heimsuchung, und die lautet die Devise. Der Wille drängt mault ein erzürnter Bierkönig, und ein Schlagzeilen der deutschen Presse zur Tat. Kollege lallt: „Der Ballermann ist kommen der Realität schon er- Margarita Nájera Aranzábal etwa, die auch nicht mehr, was er war. Nicht schreckend nah: „Mallorca steht vor resolute Bürgermeisterin der Edel-Ge- mal in Ruhe besaufen kann man sich dem Kollaps“. meinde Calvià, kämpft unverdrossen hier.“ Adiós, muchachos. 224 Werbeseite

Werbeseite MELDUNGEN DPA Bundespräsident Rau bei der Vereidigung durch Bundestagspräsident Thierse

1. Juli Eid am Rhein ablegt. Wie den Vorgängern Richard von Weiz- säcker und Roman Herzog, die ihren Hauptdienstsitz bereits Johannes Rau – der achte Präsident im Berliner Schloss Bellevue hatten, bleibt dem neuen Prä- sidenten Bonns Villa Hammerschmidt als Nebenresidenz. Zum bschied von Bonn und Amtseinführung des neuen Bundes- Staatsoberhaupt gekürt hatte den früheren Ministerpräsiden- Apräsidenten: In seiner letzten Sitzung vor dem Umzug nach ten von Nordrhein-Westfalen fünf Wochen zuvor die Bundes- Berlin gedenkt der Bundestag unter dem Motto „50 Jahre versammlung in Berlin. Schon im ersten Wahlgang lag Rau er- Demokratie – Dank an Bonn“ der Zeit, in der die Provinzstadt wartungsgemäß klar vor der Unions-Kandidatin Dagmar Schi- am Rhein das politische Zentrum der Bundesrepublik war. panski und der von der PDS nominierten Uta Ranke-Heine- Anschließend nimmt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse mann, verfehlte aber knapp die absolute Mehrheit. Nach dem in einer gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat zweiten Wahlgang war der SPD-Politiker, der schon 1994 kan- dem neuen Bundespräsidenten Johannes Rau den Amtseid didiert hatte, gegen CDU-Mann Herzog jedoch ohne Chance ab. Sozialdemokrat Rau ist der achte und letzte in der Galerie gewesen war, endlich am Ziel. Etliche Freidemokraten, die der Präsidenten seit Gründung der Bundesrepublik, der seinen zunächst Schipanski gewählt hatten, stimmten nun für Rau.

1. Juli Seilbahn-Absturz ie Gondel einer Seilbahn, die 20 Arbeiter, DTechniker und Wissenschaftler zu einem über 2500 Meter hoch gelegenen Observatorium in den französischen Alpen befördern soll, gleitet nach einigen Minuten Bergfahrt plötzlich tal- wärts, saust immer schneller zurück und stürzt schließlich 80 Meter in die Tiefe. Beim Aufprall der Kabine werden alle Insassen getötet. Es ist das seit Jahrzehnten schwerste Seilbahnunglück in Frankreich. Ermittler stellen fest, dass der Motor der Anlage ausgefallen war und wohl we- gen eines Wartungsfehlers das Bremssystem versagt hat. Mit dem Hinweis, auf 2,7 Millionen Fahrgäste komme nur ein Unfall, versuchen

AFP Frankreichs Seilbahnbetreiber ihre Kunden zu Trümmer der abgestürzten Seilbahngondel beschwichtigen. 226 MELDUNGEN

6. Juli 25. Juli Abtreibungspille zugelassen Tour de Lance as abtreibungswilligen Französinnen, Britinnen und Schwedinnen schon seit sie- Wben bis elf Jahren möglich ist, wird nun auch deutschen Frauen gestattet: Zum Schwangerschaftsabbruch Berechtigte dürfen mittels Pille abtreiben. Eigens gesetz- lich geregelt ist der Vertrieb des in Frankreich hergestellten Medikaments namens Mifegyne (früher RU 486). Das von Abtreibungsgegnern als „Todespille“ geschmähte Präparat ist nur bei bestimmten Gynäkologen, nicht in der Apotheke zu bekommen.

9. Juli China droht it einem Interview, das er der MDeutschen Welle gibt, löst

Taiwans Präsident Lee Teng-hui REUTERS einen neuen schweren Konflikt aus Armstrong zwischen seinem Inselreich und der Volksrepublik China. Lee er- usgerechnet im härtesten Wettbe- klärt, Kontakte zwischen Taipeh Awerb, den der Radsport zu bieten hat, und Peking seien Beziehungen von triumphiert ein Mann, der vor drei Jah- Staat zu Staat. Das entspricht zwar ren mehrere Krebsoperationen und eine der Realität, verstößt aber gegen strapaziöse Chemotherapie zu überste- das von beiden Seiten vertretene hen hatte. Der US-Amerikaner Lance „Ein China“-Dogma, wonach Armstrong, 27, dessen Karriere nach Volks- und Inselrepublik zwei poli- einer Hodenkrebs-Diagnose beendet tische Gebilde in einem Staat sind. schien, siegt souverän bei der Tour de Wie schon mehrmals drohen Pe- France. Die Sportzeitung „L’Equipe“ kings Militärs mit Krieg gegen Tai- schwärmt vom „Comeback des Jahrhun- wan; zugleich vermelden sie, Neu- derts“, das Blatt „USA Today“ vom tronenbomben zu besitzen. „zweiten Lourdes“. SIPA PRESS SIPA Protestierende Studenten in Teheran 8. Juli Unruhen im Mullah-Staat er Iran erlebt die schwersten Unruhen Dseit der Revolution gegen das Schah- Regime vor 20 Jahren: Nach einer Demon- stration Teheraner Studenten gegen ein ver-

schärftes Pressegesetz und die Schließung GAMMA einer liberalen Zeitung traktieren brutale Suche nach Unglücksopfern im Saxetbach Sicherheitskräfte die Bewohner eines Studen- tenwohnheims mit Schlagstöcken, Ketten 27. Juli und Tränengas. Sechs Tage lang ziehen Stu- denten in Teheran und anderen Städten Tödliches Wildwasser-Abenteuer immer wieder auf die Straße, um ihre Wut auf Gängelung und Bigotterie im Mullah- assanten schlagen Alarm, als sie gegen 18 Uhr im Brienzer See und in Staat kundzutun. Konservative Regimean- Pder Lütschine, einem Zufluss des Sees im Berner Oberland, mehrere leblose hänger organisieren eine Gegendemonstration Körper entdecken. Die grausigen Funde zeugen von einem Drama, das sich und beschuldigen Studentenführer, vom kurz zuvor in einer nahen Schlucht abspielte und mit dem Tod von 18 Aben- Ausland gesteuert zu sein. Teheraner Zeitun- teuerurlaubern sowie drei Führern endete. 53 Teilnehmer einer so genannten gen dagegen berichten später von einheimi- Canyoning-Tour waren trotz Unwetterwarnung in die Klamm des Saxet- schen Agenten, die Gewaltakte provoziert bachs gestiegen, um dem Wildbach in Richtung Lütschine zu folgen. Viele und damit den Vorwand für das Einschreiten von ihnen werden auf der normalerweise simplen Tour in den Tod gerissen, gegen friedlich demonstrierende Studenten als der kleine Bach durch Gewitterregen zu einem tosenden Wildwasserstrom geliefert haben. anschwillt. 227 Mit zwei großen Beben, die fast 18000 Menschen töten und hundert- tausende ohne Bleibe lassen, gerät in der Türkei weit mehr ins Wanken als nur die Erde. SIPA PRESS SIPA FOR ARTS THE VISUAL FOUNDATION WARHOL THE ANDY AUGUST Die Welt als Brille und Vorstellung

roße Ereignisse sind zuweilen selbst der Schatten, den sie werfen. Am 11. August, mittags, rast der GKernschatten des Mondes, vom Atlantik kom- mend, nach Indien ziehend, über Süddeutschland hinweg – 100 Kilometer breit, 2600 km/h schnell, ein Zwei-Minu- ten-Spuk, eine totale Sonnenfinsternis. Der Blackout wirft seinen Schatten auch voraus. Städte locken mit Extra- Touren, Pilgerzüge von „Sofi“-Freaks wälzen sich ins Herz der Finsternis. Folienbrillen werden Suchtobjekte, in Fabriken und auf Autobahnen stehen die Räder still. Und Apokalyptiker fürchten ihr letztes Stündchen. Sonnenfinsternis über Saarbrücken 228 Allerorten und auf Die Sensation des tausend Arten wird aufregend Neuartigen mit heißem Bemühn stellt sich nicht ein bei der 250. Geburtstag George Lucas’ neuem des Dichterfürsten „Star Wars“-Opus – Goethe begangen. Am wie das nun mal so ist Ende ist das Genie beim vierten Aufguss. nur noch als ferne Die Fans stürmen Größe zu erkennen. trotzdem in die Kinos. PWE KINOARCHIV BECKER/BREDEL

229 olche Esoterik-Kreise, die permanent einen Schatten haben, erwarten von der Sonnenfinsternis den Auftakt zum Untergang, auch Millennium genannt. Zwei illustre Propheten vor allem, der Mode-Designer Paco Ra- Sbanne und die sternkundige Madame Teissier, sahen Trümmer vom Himmel fallen, die die Erde in Trümmer legen sollten: die Raumstation „Mir“ und die Raumsonde „Cassini“. Die beiden bauten auf einen Guru des 16. Jahrhunderts, den französischen Propheten Nostradamus. Der hatte, ne- ben Kraut und Rüben, zur Sonnenfinsternis stark Überirdisches angesagt: Am Firmament werde ein „großer König des Schreckens“ erscheinen. Erbaulicher lasen sich die allerorten zitierten Sofi-Erinnerungen eines sinnstiftenden Dichters. Am 8. Juli 1842 hatte Adalbert Stifter hinter dunklen Gläsern in Wien eine wolkenarme Totale erlebt. „Nie, nie werde ich jene zwei Minuten vergessen“, schrieb er: „Es war der Moment, da Gott redete und die Menschen horchten.“ Die Welt als Brille und Vorstellung: Der 11. August wird im deutschen Kern- schatten-Korridor vor allem zum Tag, als der Regen kam. Der Zwei-Minuten- Treff zwischen Mond und Sonne vollzieht sich weitgehend hinter Plumeaus von Wolken. In der Stadt Mühlheim gibt es dazu Dunkelbier zum halben Preis. Auf dem Rhein-Main-Flughafen wird zum High-Noon-Schatten die Lande- bahnbeleuchtung eingeschaltet; auf dem nahen Feldberg bibbern rund tausend Sofi-Frustrierte bei 13 Grad; meldet eine totale Regen- finsternis; im Münchner Olympiastadion betrachten während eines Wolken- bruchs 12 000 Sofi-Pilger, darunter Roman Herzog, die Mond-Sonnen-Begeg- nung – auf einer Großleinwand. Nördlich des Limes sind, wie so häufig, nur halbe Sachen zu sehen. Bei gele- gentlich offenem Himmel tragen viele ihre Netzhaut unbebrillt zu Markte und

ihre Beschwerden dann zum Arzt.Allein in Berlin melden sich hundert Besorgte, AP denen die halbe Sofi ins Auge gegangen ist. Türkei Ganz ohne Schirm, Charme und Brille kommt der aus, der zu Hause bleibt und ins Fernsehen guckt. Und dennoch: Vor Ort horcht der Mensch – in sich hin- ein. Hoch auf der Schwäbischen Alb etwa, unter tief liegenden Wolken, jagt um 12.35 Uhr die magische Nacht heran. Ein läh- mendes Grau legt sich über die Landschaft, ein Schwarm kräch- zender Krähen verstummt. Der AFP Rest ist Regen. AP FRITZ RUMLER Iran Libanon AP AP AP München (Roman Herzog) Ägypten Indien 230 A. BELL / ATP SIPA PRESS SIPA Großbritannien 231 SULEYMAN ARAT/AP SIPA PRESS SIPA AFP DPA Trauernde nach der Katastrophe, Erdbebenschäden 232 AUGUST 1999 SIPA PRESS SIPA Gräber aus Beton Zwei verheerende Erdbeben erschüttern die Türkei. Die schlimmste Katastrophe seit 60 Jahren kostet fast 18000 Menschen das Leben. Hunderttausende sind noch immer obdachlos, die Angst vor neuen Beben wächst.

233 AUGUST 1999

s traf ein jahrtausendealtes Kul- Nacht“, sagt Kan, „sind die Schreie turland.Auf den Hügeln über den der Nachbarn, die eingeklemmt oder ERaffineriehäfen des Marmara- halb erschlagen in den Ruinen lagen meeres sind Hannibal und Belisar be- und denen wir nicht helfen konnten. graben. In der Industriestadt Izmit, Gegen morgen wurde es still.“ dem antiken Nikomedia, residierte Osman Kan hat sich vor 30 Jahren in einst der römische Kaiser Diokletian. der Siedlung Seymen niedergelassen, Nach seiner Zeit verschwindet die er war einer der ersten am Küsten- Provinz vorübergehend aus den An- streifen zwischen Yuvacik, Bahçecik nalen. „Vernichtende Erdbeben“, und Gölcük am südlichen Ufer des Iz- heißt es in einem türkischen Konver- mit-Golfs. „Nestlein“, „Gärtlein“ und sationslexikon, „hatten Nikomedia „Seelein“ heißen die drei ehemaligen zerstört. Das antike Bithynien verlor Dörfer auf Deutsch. Die Ortsnamen an Bedeutung.“ sind Chiffren des Grauens geworden. Das breite, fruchtbare Tal, das sich von Zwar mag die Zahl der Toten in den der heutigen Stadt Düzce Richtung Städten höher sein, doch kaum ein Westen erstreckt und am Golf von Iz- Stück Türkei ist so massiv zerstört mit in zwei dicht besiedelte Küsten- worden wie der Uferstreifen zwischen streifen übergeht, ist historisches Erd- Yuvacik und Gölcük. Und nun blüht bebenland. Die oberste Gesteins- die Legende unter türkischen Islamis- schicht ist hier besonders dünn. 15 bis ten: Allah habe die gottlose Armee-

20 Kilometer unter der Oberfläche, so führung bestraft; die Marinestütz- PRESS SIPA beschreiben es Seismologen, sieht es punkte Gölcük und Seymen habe es Eingestürzte Brücke, umgekipptes Haus aus wie im Inneren einer zertrüm- deshalb hart getroffen, weil sich hier merten Marmorplatte, an der seit der Generalstab versammelt hat, um als der Schock und die Panik nach den Menschengedenken gewaltige Kräfte Maßnahmen gegen den Fundamenta- verheerenden Erdstößen. wirken. lismus zu beschließen. So dicht verläuft das Geflecht der Ver- Um insgesamt fünf Meter verschoben „Mag sein, dass das Erdbeben von werfungen und Bruchlinien in der sich Anatolische und Eurasische Kon- Gott kam“, sagt der Mekka-Pilger Nordägäis, so gefährdet ist die Region, tinentalplatte, als am 17. August bei Osman Kan, „doch die Häuser, die dass mancher Experte meint, ganze Izmit und knapp drei Monate später eingestürzt sind, haben Menschen Jahrzehnte der Industrialisierung und bei der Stadt Düzce die Erde bebte. gebaut.“ Als Kan 1972 mit dem Haus- des „Zuges nach Westen“ müssten Fast 18000 Menschen sind dabei ums bau begann, gab es ein Gesetz, das rückgängig gemacht werden. Etwa ein Leben gekommen, tausende liegen den Tod tausender hätte verhindern Drittel aller Türken lebt rund ums Mar- noch in den Krankenhäusern, hun- können: Kein Wohnhaus durfte da- marameer, fast die Hälfte der wirt- derttausende sind obdachlos. Es ist die nach mehr als zwei Etagen haben. schaftlichen Leistung des Landes wird größte humanitäre Katastrophe der Er hielt sich daran. Dass jedes Jahr hier erbracht. Bei einem Erdbeben der Türkei seit 60 Jahren – und geologi- in der Nachbarschaft viel höhere Stärke von Izmit oder Düzce in der scher Alltag, der sich jederzeit wie- Wohnblocks entstanden, sah Kan mit 15-Millionen-Stadt Istanbul rechnet derholen kann. dunkler Vorahnung. Doch das letzte der türkische Chefseismologe Ahmet „Ich frage mich“, sagt Osman Kan, Beben lag lange zurück, die Gemein- Mete Isikara mit bis zu 200000 Toten. „warum man diesen Vorgang ein Be- de wurde nachlässig, die Bauherren Doch Autofabriken, Raffinerien und ben nennt. Mir kam es eher vor wie setzten sich durch. Chemiewerke lassen sich nicht kurz- eine Explosion.“ Der 62-jährige Rent- Inzwischen sind die ersten Bewohner fristig in die seismischen Ruhezonen ner hatte sich in der Nacht zum 17.Au- von Seymen wieder unter sich. Neun auf der anatolischen Hochebene ver- gust etwas aus dem Kühlschrank ge- von zehn Familien sind weggezogen; legen. Nicht einmal gefährdete viel- holt, als ihn plötzlich eine enorme manche, die nach dem August-Beben stöckige Wohnhäuser können in ab- Wucht durch das Zimmer schleuderte. noch geblieben waren, suchten nach sehbarer Zeit geräumt werden. „Das Auf Knien gelang es ihm, seinen Enkel dem 12. November das Weite. Land wird sich auf ein Leben mit die- zu schnappen und mit ihm ins Freie zu Dass die Erde am Marmarameer nicht ser Gefahr einstellen müssen“, sagt stürzen. einmal, sondern – wider alle histori- Isikara. „Die Leute sollen sich infor- Das Inventar brach zusammen, doch sche Erfahrung – zweimal hinterein- mieren, welche Teile ihres Hauses sta- das zweistöckige Haus blieb stehen – ander so schwer bebte, hat ein Gefühl bil sind und wo die Fluchtwege sind. als einziges in der Nachbarschaft. der Bedrohung und Verwundbarkeit Und dann sollten sie zu ihrem Alltag

„Was mir bleiben wird von dieser hinterlassen, das länger wirken wird zurückkehren.“ BERNHARD ZAND PRESS SIPA 234 SIPA PRESS SIPA Verbogene Bahngleise 235 236 A UGUST 1999

T. BABOVIC / DAS FOTOARCHIV AKG BERLIN THE ANDY WARHOL FOUNDATION FOR THE VISUAL ARTS THE ANDY WARHOL BILDARCHIV PREUSSISCHER KULTURBESITZ AKG „Lieben AKG BERLIN belebt“ GOETHE NATIONALMUSEUM

Deutschland feiert 250 Jahre Goethe.

ie er wirklich aussah, das ist auch nach den Jubel- feiern nicht klarer. So ungeheuer viel man über ihn AKG BERLIN Wweiß, so deutlich Goethe, Deutschlands bewun- AKG BERLIN derter, auch beargwöhnter Kulturpatriarch, all seine Werke als „Bruchstücke einer großen Konfession“ betrachtete, er scheint doch jedem ein anderes Gesicht zu zeigen: werthe- risch nonchalant, ministeriell, seherisch oder altersweise. Immerhin, was die Archive an Bildern kennen, wurde zum lange anvisierten Stichtag am 28. August hervorgeholt. Selbst die Knochen des Jubilars blieben nicht verschont: Mo- nate vor dem fast hysterisch erwarteten Geburtstagstermin er- AKG BERLIN BILDARCHIV PREUSSISCHER KULTURBESITZ BILDARCHIV PREUSSISCHER KULTURBESITZ BILDARCHIV PREUSSISCHER KULTURBESITZ BILDARCHIV PREUSSISCHER KULTURBESITZ SANKT GERTRUDEN HORST JANSSEN / VERLAG 237 T. BABOVIC/DAS FOTOARCHIV BABOVIC/DAS T. Goethes Arbeitszimmer in Weimar schien die „Frankfurter Allgemeine“ museum in seiner neuen Daueraus- ten sich „Mit Goethe beim Wein“ er- mit der reißerischen Hauptmeldung, stellung tatsächlich ein bis vor kurzem laben oder einen eher dürftig gerate- Goethes verweste Überreste seien unbekanntes Porträt des Dichters von nen Lebens-Comic aufblättern. 1970 klammheimlich von DDR-Kon- 1829 präsentieren kann, ging im Bil- Ein paar Großtaten gab es bei allem servatoren „mazeriert“, also aufs pure derreigen fast unter. Trubel auch zu feiern: Sämtliche Vor- Skelett heruntergeputzt, und dann in Auf dem deutschen Buchmarkt wurde arbeiten und Skizzen zum „West-öst- ihren Sarg zurückverfrachtet worden. sowieso jeder Geschmack bedient. Da lichen Divan“, dem epochalen Ge- Dabei konnten Fachleute an der Ak- gab es bemühte Romane über etliche dichtbuch von 1819, kamen in muster- tion selbst nichts wirklich Verwerf- Lebensphasen des Olympiers („Der gültiger Form heraus. Es erschien ein liches entdecken, so bizarr ihre Ver- junge Herr Goethe“, „Goethe zieht in Kommentar zum wohl wichtigsten Al- heimlichung auch sein mochte. den Krieg“, „Goethes letztes Geheim- tersbriefwechsel mit dem Berliner Das Spektakel, wie geschaffen für nis“ und dergleichen), aber auch den Chorgründer Carl Friedrich Zelter. Liebhaber sanften Horrors, die der Generalvorwurf, er sei um des eigenen Das erstmals veröffentlichte Tagebuch Dichtung eher fern stehen, war be- Ruhmes willen zeitlebens über Lei- der Italienreise von Goethes Sohn Au- zeichnend für den Umgang, den sich gust, der ausgerechnet in Rom dem Jubilar Goethe in diesem Jahr gefallen Suff erlag, zeigte authentisch die lassen musste. Zwar gab es zahllose Übermacht des väterlichen Vorbilds. Reden, Festivals, Symposien, Radio- Publikumsliebling aber wurde unver- serien, Inszenierungen,Ausstellungen hofft Goethes Frau Christiane: Eine und Würdigungen; allerorten wurde Biographie von Sigrid Damm rückte der Dichter und Denker, Naturfor- zum Bestseller auf; passend dazu zei- scher und Politiker studiert und ver- gen erst jetzt vollständig gedruckte einnahmt mit heißem Bemühn. Doch späte Tagebuch-Notizen die oft ge- meist blieb das Interesse simpel- schmähte Frau menschlich anrührend biographisch, und am Ende war kaum – eine gelungene Korrektur am ewig

mehr als eine ferne Größe zu erken- ARD changierenden Klassiker-Bild. nen, deren Konturen kaleidoskopisch Goethe-Totenschädel Denkmalkult? Aber sicher, sagten die zerstrahlt wirkten. Verleger ganz ohne Verlegenheit. Natürlich sorgte schon der Medien- chen gegangen. Zweifelhafte Hypo- Schließlich ließen am 28. August da markt für Auftritte in allen Formen thesen wurden aufgewärmt, Goethe und dort auch ein paar echte Fans die der Wiedergängerei. Eine lebensgroße und sein Herzog hätten geheimbünd- Gläser klingen, natürlich mittags um Pappfigur des diktierenden Ministers lerisch herumgespitzelt und üble Un- zwölf, zur überlieferten Geburtsstun- zierte als Blickfang die Schaufenster. terdrückerpolitik getrieben. de. Unermüdet vom Getöse der Me- Studenten der Bauhaus-Uni in Wei- Der römische Gelehrte Roberto Zap- dien, folgten sie einem Motto, das mar brachten einen Schnuller in Ge- peri hingegen durchleuchtete indizien- Goethe selbst ihnen geliefert hat: stalt einer winzigen Goethebüste als sicher und ohne Enthüllerpose „Goe- „Lieben belebt.“ Der Rest ist sowieso subversives Souvenir ins Angebot. thes ganz andere Existenz in Rom“. Schweigen – oder besser: Lektüre. Dass das Weimarer Goethe-National- Weniger investigative Gemüter konn- JOHANNES SALTZWEDEL 238 Werbeseite

Werbeseite Der ewige Sternenkrieg Massenansturm auf die Kinokassen: Auch der vierte „Star Wars“- Film fasziniert die Fans von Darth Vader und Luke Skywalker.

n einer unendlich fernen Galaxie in einer Nun wollte der störrische Einzelgänger noch unendlich fernen Zeit leben Menschen wie einmal groß auftrumpfen und vielleicht Idu und ich, zusammen mit anderen Ge- einen neuen Weltrekord setzen, indem er schöpfen, schlappohrigen, einäugigen, ten- alles, was sein Trick-Konzern an Bravour- takelarmigen oder echsenschnäuzigen, je- kunststücken zu leisten vermag, in ein neu- doch der humanen Intelligenz zugänglichen, es „Star Wars“-Spektakel investierte, das weshalb auch für sie die so genannten Men- recht umständlich „Episode I – Die dunkle schenrechte gelten. Gut und Böse jedoch gibt Bedrohung“ heißt. Die Sensation des Erfin- es auch dort, wie vielleicht überall seit An- derischen, aufregend Neuartigen blieb aus, beginn der Welt, und so tobt dort ein ewiger wie das bei einem zweiten, dritten, vierten Kampf zwischen den Mächten der Finsternis Aufguss zu sein pflegt, doch geballte Mar- und des Lichts, der „Krieg der Sterne“. keting-Macht hat das Spektakel dennoch Vor 22 Jahren, als der junge Filmemacher rund um die Welt zum erfolgreichsten Film George Lucas den ersten, für bescheidene des Jahres befördert. Allein in Deutschland elf Millionen Dollar zusammengebastelten eilen fast acht Millionen Weltraum-Enthu- Teil seiner Weltall-Western-Fantasy-Saga siasten in die Kinos. „Star Wars“ herausbrachte, wirkte das Werk Erfolg ist und bleibt aber relativ: Der neue sensationell durch die Verbindung von Mär- Film hat mit 115 Millionen Dollar mehr als chen-Naivität und neuartiger Trick-Spiele- das Zehnfache des ersten Sternen-Opus ge- rei. Der Film hat im Lauf der Jahre etwa eine kostet, unter dem Strich wird er aber wohl Milliarde Dollar eingespielt, die beiden Fort- kaum mehr als dieses einspielen. Auf Welt- setzungen nicht viel weniger. George Lucas rekordkurs dampft also die „Titanic“ bis- wurde als Großmeister der Computer-Trick- lang noch unerreichbar weit voraus: Der technik zur Ein-Mann-Weltmacht im Reich Luxus-Liner erwirtschaftete weltweit fast des Showbusiness. zwei Milliarden Dollar. 240 241 MELDUNGEN

1. August Streit um verkaufsoffenen Sonntag und 50000 Kunden stürmen den Kaufhof am Berliner Alexanderplatz, Rals der – wie zahlreiche andere Geschäfte in Berlin, Halle, Dessau und Leipzig – für fünf Stunden am Sonntag öffnet. Mit einem Etikettenschwin- del haben sich die Händler über das Verbot des Verkaufs an Sonntagen hinweggesetzt: Weil Innenstädte vielfach als Touristenzone gelten, in der Reisebedarf und Andenken auch an Feiertagen angeboten werden dürfen, kennzeichnen manche Sonntags-Verkäufer selbst Allerweltsartikel als Souvenirs. Während einige Stadtverwaltungen die Schummelei dulden, protestieren Kirchen, Gewerkschaften und kleine Einzelhändler. Diener der Kirche sehen das „Kulturgut“ Sonntagsruhe gefährdet. Gewerkschaf- ter sorgen sich um Freizeit und Familienleben des Verkaufspersonals. Und Mittelständler argwöhnen, dass ihnen die Warenhäuser in der City Kunden

abjagen wollen. Schon bald herrscht wieder sonntägliche Stille. Gerichte DPA machen dem rechtswidrigen Treiben ein Ende. Ladenschild in Halle

1. August Rechtschreibung: Alles paletti onservative Freunde der deutschen Sprache fühlen sich belämmert, alle KAbwehrkämpfe haben nichts gefruchtet – mit der Übernahme der neuen Regeln in Presse und Verlagen tritt die Rechtschreibreform auch im Alltag endgültig in Kraft. Bis 2005 dürfen jedoch alte und neue Schreibweise pa- rallel verwendet werden. An den Schulen wird bereits seit 1998 nach den Reformregeln unterrichtet. Art und Umfang der Reform, an der seit 1980 deutsche, schweizerische und österreichische Germanisten arbeiteten, hat- ten in den vergangenen Jahren hitzige Debatten entfacht. Umfragen bele- gen, dass über 70 Prozent der Deutschen das Neu-Deutsch ablehnen, auch Schriftsteller protestieren. Günter Grass etwa verfügt, dass seine Werke auch künftig nach traditionellen Regeln gedruckt werden. Das Wider- standsnest Schleswig-Holstein freilich, einziges Bundesland, in dem die Schulen noch die alte Orthografie lehren durften, hat die Waffen gestreckt.

ARGUS Die Landesregierung annullierte einen Volksentscheid. Seit dem 1. Novem- Schüler bei Deutschunterricht ber wird auch an der Waterkant das gräuliche Reformdeutsch gepaukt.

2. August Inferno in Indien ast 20 Kilometer lang rattern Fzwei vollbesetzte Eilzüge der indischen Eisenbahn auf ein und demselben Gleis aufeinander zu, bevor sie in der nordostindi- schen Stadt Gaisal mit 90 Stun- denkilometern zusammenpral- len. Die Lokomotiven und ins- gesamt 13 Waggons verkeilen sich zu einem riesigen Trüm- merberg, in dem rund 300 Fahr- gäste und Bahnmitarbeiter ster- ben. Hunderte weitere Men- schen werden verletzt. Ursache des Unglücks: ein falsch gestell- tes Signal. Nach dem Inferno gelobt die Regierung, die Bahn sicherer zu machen. Aber das hat noch jede indische Regie- rung versprochen, ohne dann tatsächlich gegen Schlendrian

vorzugehen und in Sicherheits- SHAW/REUTERS J. technik zu investieren. Verunglückte Personenzüge in Gaisal 242 MELDUNGEN

3. August Berliner Bruchlandung uf den Großflughafen mit Weltniveau, Aden Berlins Airport-Planer bis zum Jahr 2007 auf dem Areal des früheren DDR-Zentralflughafens Schönefeld bau- en lassen wollen, werden die Hauptstäd- ter womöglich noch ein Weilchen länger warten müssen. Denn schon vor dem Start der Bagger stoppt das Oberlandes- gericht Brandenburg erst einmal das Projekt. Die Richter erklären die Ertei- lung des Auftrags an ein Konsortium um den Baukonzern Hochtief für rechtswid- rig, weil gegen Vergaberichtlinien ver- stoßen worden sei. Staatsanwälte ermit-

teln wegen Betrugsverdachts. DPA Polizeieinsatz bei Bückeburg 6. August 19. August Seuchen-Hysterie Schlapphut gibt auf rstmals seit dem Krieg stirbt ein Pa- ch bin der, den Sie suchen“, sagt gelas- Etient in Deutschland an Gelbfieber. Isen der meistgesuchte Knacki der Na- Kameramann Olaf Ullmann hatte sich in tion und lässt sich von zwei braven Westafrika infiziert, die Ärzte dann mit Greifswalder Schupos die Handschellen der Behauptung irritiert, gegen Gelbfie- anlegen. Fast neun Monate lang hatte ein polizeiliches Großaufgebot nach dem entsprungenen Häftling Dieter Zurweh- me gefahndet, immer wieder war der trickreiche Mörder den Beamten ent- kommen. Zurwehme war in Wäldern und Maisfeldern, mal in Bückeburg, mal in Thüringen gesichtet worden, wo ein un- beteiligter Tourist das Opfer einer Ver- wechslung wurde – hypernervöse Poli- zisten erschossen ihn in einem Hotel. In Greifswald erregt Zurwehme – als Pen- nertyp in verwaschenen Jeans, schwarzer Lederjacke und Schlapphut – die Auf- merksamkeit eines Autofahrers. Die alar- „Bild“-Schlagzeile mierten Sicherheitskräfte, Polizeihaupt- meister Hermann Seeck und Ober- ber geimpft zu sein. So fürchten die zu- kommissar Horst Ebeling erledigen den nächst, Ullmann habe einen leicht über- Einsatz wie eine „Routinesache“ und tragbaren Killervirus wie Ebola einge- werden von der begeisterten Presse als

schleppt. Die Boulevardpresse schürt die AFP Helden gefeiert. Seeck: „Wir haben ihn Angst vor einer katastrophalen Seuche. Zurwehme nach der Festnahme an die Wand gestellt und durchsucht.“

10. August Tödliches Kriegsspiel in Südasien eue Runde im Dauerkonflikt zwischen Indien und Pakistan: Ein Nindisches Kampfflugzeug schießt einen pakistanischen Aufklärer ab, der angeblich in den indischen Luftraum eingedrungen ist. Die Absturzstelle des Flugzeugs, in dem 16 Soldaten sterben, liegt aller- dings auf pakistanischem Territorium. Tags darauf kontern die Pakistaner mit einer – erfolglosen – Raketenattacke auf indische Hub- schrauber, die Journalisten ins Absturzgebiet bringen sollen, und deren Kampfjet-Eskorte. Im Bodenkampf gerieten die verfeindeten Nachbarn bereits im Mai aneinander. Von Pakistans Militär unter-

stützt, drangen Freischärler in den von Indien beherrschten Teil REUTERS Kaschmirs ein, zogen sich im Juli aber auf Drängen der USA zurück. Wrackteile des abgeschossenen pakistanischen Aufklärers 243 Ein listiger Plan der deutschen Bi- schöfe scheitert am starren Sinn des Papstes. Die Kirche der Katholiken zieht sich zurück aus dem staatlichen Beratungssystem für schwangere Frauen. REUTERS HELLER/ARGUM SEPTEMBER Triumph für den Trommler

ach langem Hoffen und Harren hat Deutschlands bedeutendster zeitgenössischer Schriftsteller nun Nendlich höchste Weihen empfangen: Der Literatur- Nobelpreis geht an Günter Grass, 71. Der „Blechtrom- mel“-Autor, so die Stockholmer Preis-Jury in ihrer Begründung, habe „in munter schwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet“. Grass ist der elfte deutschsprachige Schriftsteller, der die Aus- zeichnung erhält. Zuletzt war 1972 dem Romancier Hein- rich Böll die Nobel-Ehre zuteil geworden. Das Preisgeld von 1,8 Millionen Mark will Grass wohltätigen Zwecken stiften. Nobelpreisträger Grass 244 Die Art, wie Bayerns Nur 13 Jahre nach Regierungschef Stoiber Tschernobyl gerät in seinen Minister Sauter Japan die Atomanlage rausschmeißt, erinnert von Tokaimura für den CSU-Politiker 20 Stunden außer Kon- Gauweiler an Kleists trolle. Das Entsetzen Dorfrichter Adam: ist groß. Wie immer hat andere aburteilen, um der fehlbare Mensch von sich abzulenken. seine Hand im Spiel. MASTER/BILDAGENTUR FOCUSMASTER/BILDAGENTUR VARIO PRESS VARIO

245 SEPTEMBER 1999 Genie am Stehpult

Der Schriftsteller THOMAS BRUSSIG über den Nobelpreisträger Günter Grass

ls Günter Grass den Nobel- Grass steht sich die Beine in den Dass das, was wie ausbrechende Form, preis erhielt, wollte ich eine Bauch, wie die Verkäuferin hinter der Bilderflut und überbordende Einfälle AGratulation verfassen, die Käsetheke, der Gerüstbauer oder der wirkte, auch einem starken und wohl- eine Chance hat, in der Flut von Koch. Vielleicht muss ein Stehpult- überlegten Konzept folgte, begriff ich Glückwünschen bemerkt zu erst ein paar Jahre später: Nach- werden – durch ein Detail, das dem ich mit meiner Totalitaris- einen Akzent setzt und vielleicht mus-Auseinandersetzung, dem haften bleibt. Roman „Helden wie wir“, ab- So schrieb ich unserem Nobel- geschlossen hatte, bemerkte ich preisträger, dass ich mir nun, bei meiner zweiten „Blech- seinem Vorbild folgend, ein trommel“-Lektüre, dass es eine Stehpult zulegen werde. Der ganze Reihe formaler Parallelen dahinter liegende Gedanke war zwischen den „Helden“ und der einfach: Am Stehpult geht’s an- „Blechtrommel“ gab – vermut- ders zu. Um nicht als albern zu lich induziert die literarische gelten, sage ich gleich: Es geht Totalitarismus-Bewältigung ihre mir nicht darum, von nun an per ganz eigenen, spezifischen Mit- Stehpult Nobelpreisverdächtiges tel. Es ging Grass doch gar nicht zu produzieren. Aber wir ken- darum, den Nazi-Totalitarismus nen die Literatur von Günter zu verstehen oder zu erklären. Grass und wissen, wie er arbei- Es ging ihm nicht mal darum, tet. Und vielleicht ist es gar nicht die Nazi-Zeit zu erzählen – es so schlecht, „Stehpultliteratur“ ging schlicht und ergreifend dar- zu verfassen? um, literarische Mittel zu ent- Was ich damit meine? Nun, kein wickeln, die auch den furcht- Mensch kann ewig stehen. Nach barsten Jahren der deutschen ein paar Stunden möchte sich ein Geschichte gewachsen sind. Ob jeder im Sitzen erholen. Wer nach Auschwitz keine Gedichte steht, zwingt sich zu einer ge- mehr möglich sind, sei dahinge- wissen Effektivität. Findet zum stellt, aber Grass war klar, dass Knappen, Direkten. Schreibt ent- ein Erzähler nach Auschwitz schieden. Denn irgendwann kommt schriftsteller gar „Arbeiter mit der ganz anders Luft holen muss, ehe er am Stehpult der Punkt, wo es an- Stirn“ geheißen werden? den ersten Satz spricht. strengend wird. Und an dem Punkt Dass Grass am liebsten im Stehen ar- Nun, nach meiner ersten Schicht am möchte man das Gefühl haben, dass beitet, ahnte ich schon, als ich das ers- Stehpult, sitze ich wieder und the- sich die Anstrengung gelohnt hat, dass te Mal die „Blechtrommel“ las. Das matisiere Verwandtschaftsverhältnis- etwas geleistet wurde. Da ist ein „viel- muss 1988 gewesen sein, kurz nach- se der besonderen Art: Darf ich leicht“, ein „eigentlich“ zu wenig. dem dieser Roman endlich auch in der mich wirklich „Enkel“ nennen lassen? Vermutlich hat das Stehpult auch ei- DDR erschien. Den Film von Volker Nachdem der SPIEGEL in einer Titel- nen sozialen Appeal. Denn wer, bitte Schlöndorff, diesen Bilderbogen des geschichte sechs jüngere Autorinnen sehr, verbringt denn heute noch sei- Unbegreiflichen, hatte ich schon längst und Autoren als „Die Enkel von Grass nen Arbeitstag stehend? Sogar die gesehen. Grass, gelernter Steinmetz, & Co.“ vorstellte, wird mir ständig die Polizisten laufen nicht mehr Streife, ging tatsächlich auf die Sprache los wie Frage nach der Beziehung zu Grass sondern fahren im Auto herum. Doch der Steinmetz auf Granit. gestellt – denn ich war einer der sechs. 246 wartsliteratur verheerend – sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Nun ist jeder Schriftstel- lergeneration eigen, sich in Abgrenzung zu ihren un- mittelbaren Vorgängern zu definieren. Nur ist es dann nicht verwunderlich, wenn die übernächste Genera- tion, die „Enkel von Grass & Co.“, wieder näher an die rücken, von denen un- sere Vorgänger eigentlich wegwollten. In diesem Sin- ne bin ich eher ein „Enkel“ als ein „Sohn“. Ja, ich will wichtige Bücher schreiben, die von jedem verstanden werden können und viele Leser finden. Bücher, die die Zeit in sich aufnehmen und sich doch gegen sie stellen. Und – versprochen! – ich werd mich von nun an öfter am Stehpult ver- suchen. Grass zeigt sich dem Nach- wuchs gegenüber alles an- dere als gleichgültig: Aus dem Honorar jedes seiner Bücher, heißt es, wird von ihm ein Preis ins Leben ge- rufen. Die Autorität des Stifters ergibt sich also nicht daraus, dass dieser Pfeife raucht, sondern durch die Art, wie die Stif- tungsmittel gewonnen wer- den.Außerdem sucht Grass

G. SCHLÄGER / VISUM G. SCHLÄGER auch den Kontakt zu uns, Autor Grass er liest unsere Bücher, er will uns was mitgeben. Das Titelbild signalisiert vor allem der Versuch, es ihm gleichzutun, zum Ob es jemanden geben wird, der sei- eins: Der Nachwuchs will nicht bloß Scheitern verurteilt ist. Anders weiß ne Nachfolge als außergewöhnlicher Nachwuchs bleiben – er greift ins li- ich mir die Abkehr von literarischer Erzähler und kritischer Intellektuel- terarische Geschehen ein. Er will ge- Opulenz und die kasteiungsgleiche ler antreten kann, ist fraglich. Das lesen werden und von sich reden ma- Beschäftigung mit dem Nichtigen doppelte Dasein, als Künstler und als chen. Und das ist etwas, das nach (doch, doch!) nicht zu erklären. Auch öffentliche Angelegenheit, ist nicht je- Grass & Co. aus der Mode gekommen das Interesse für experimentelle und dermanns Sache. Aber ein Erzähler ist: Der Anspruch, etwas mitteilen zu avantgardistische Erzähltechniken wie Grass, ein Denker wie Enzens- wollen, sich als Zeitgenosse einzu- fand bei den Lesern längst nicht die berger oder ein Maul wie Biermann bringen, galt lange Zeit als unschick. Resonanz wie bei der Edelkritik und lässt sich ohnehin nicht herbeireden – Natürlich ist die literarische Potenz ei- den Literaturtheoretikern. Das war für solche Talente sind schlicht auch nes Günter Grass so erdrückend, dass das Ansehen der deutschen Gegen- Glücksfälle. 247 SEPTEMBER 1999

ie katholische Kirche in seelsorgerischen Gründen in der Be- dern frei, für ihre jeweilige Diözese Deutschland hat 1999 ihre ratung verbleiben wollten – das wa- zu entscheiden, ob und wie lange der Dschwerste Krise seit Kriegs- ren alle außer Johannes Dyba, der Schein noch ausgestellt werden soll. Es ende nicht lösen können. Die hatte im Bistum Fulda die Ausgabe der ist nur noch eine Frage der Zeit, der im Januar 1998 begonnen, als Papst Scheine („Tötungslizenz“) ohnehin Rückzug ist unvermeidlich, und Leh- Johannes Paul II. seine deutschen schon gestoppt hatte. mann weiß, dass die Kirche Schaden Bischöfe in den 27 Diözesen bat, bei Doch als sich die Bischöfe im Sep- genommen hat, dass „viel Porzellan der Schwangerenhilfe keine Bera- tember zu ihrer Herbsthauptver- zerschlagen“ ist. tungsscheine mehr auszustellen. Bit- sammlung aufmachen, ist die trü- Das Vertrauen in die Führung ist er- terste Auseinandersetzungen unter gerische Harmonie schon wieder pas- schüttert. Das Kirchenvolk reagiert den Bischöfen waren die Fol- mit Empörung auf die haar- ge, die Spaltung drohte, das spalterischen, wirklichkeits- Kirchenvolk wendete sich ab. fremden Manöver ihrer Ober- Ohne Rücksicht darauf stell- hirten. Zorn erregt über- te der Vatikan in diesem Sep- dies die Tatsache, dass Kar- tember klar: Die katholische Post vom dinal Meisner im Juni für Kirche hat auszusteigen aus den Verbleib der Kirche dem staatlichen Beratungs- in der Schwangerenberatung system. gestimmt hat und später, bei Es geht um den Beratungs- einem Besuch im Vatikan, schein, den das deutsche Papst heimlich dagegen. Schwangerschaftskonfliktge- Prominente Laien gründen setz von 1995 vorschreibt. auf Initiative des Zentralko- Ohne dieses Papier, das von mitees deutscher Katholiken kirchlichen und freien Trä- Die katholischen Bischöfe wollten die Stiftung „Donum vitae“, gern ausgestellt wird, dürfen den Vatikan überlisten, um in einen Verein bürgerlichen Ärzte keinen Eingriff vor- der Schwangerenberatung bleiben zu Rechts, der von der Caritas nehmen. Der Schein, hatte und dem Sozialdienst ka- der Papst mehrfach wissen können. Sie wurden durchschaut. tholischer Frauen notfalls die lassen, dürfe keinesfalls „zur bundesweit 264 katholischen Durchführung straffreier Abtreibung sé. Denn inzwischen hatte eine Min- Schwangerenberatungsstellen über- verwendet werden“. derheit um Dyba und den Kölner nehmen wird. Wieder scheppert das Seit dem ersten Bannstrahl des Ponti- Kardinal Joachim Meisner („die Faust Porzellan: „Donum vitae“ (Geschenk fex maximus hatten die Bischöfe mo- des Papstes in Deutschland“) wieder des Lebens) möge sich besser „Do- natelang um Auswege gerungen. Im unerbittlich gegen die liberaleren num mortis“ (Geschenk des Todes) Februar dieses Jahres war endlich ein Amtsbrüder um den Mainzer Bischof nennen, wütet Bischof Dyba. Das ist Kompromiss in Sicht, der dem Heili- Karl Lehmann, den Vorsitzenden der erneut ein Schlag ins Gesicht der Be- gen Vater in Rom zumutbar schien. Konferenz, gekämpft und intrigiert – raterinnen, die sich als Anwältinnen Eine listige Lösung war es, die dem mit Erfolg. der Schwächsten der Gesellschaft, der Vatikan und den deutschen Kirchen- Giovanni Lajolo, Nuntius des Papstes ungeborenen Kinder, verstehen. fürsten erlaubt hätte, auf ihrem ho- in Deutschland, weist die bischöfliche Im November, bei einer Visitation der hen Thron von Ethik und Moral sitzen Mogelpackung eindeutig zurück. Er Oberhirten im Vatikan, lobt der Papst zu bleiben, aber doch noch Frauen in revidiert einen Papst-Brief vom Juni, die deutschen Besucher dafür, dass sie Not Hilfe angedeihen zu lassen. Zu- der noch Spielraum verheißen hatte. Schwangere beraten, mahnt jedoch sätzlich zu dem Schein, auf dem ja ge- Lajolo stellt klar, der Papst verlange an, die Praxis möge „gemäß meiner trost stehen könne: „nicht zur Durch- den Ausstieg aus der staatlichen Be- Anweisung neu geregelt“ werden.We- führung einer straffreien Abtreibung“, ratung ohne Wenn und Aber. nige Tage später beschließt die Mehr- werde dann eben ein „kirchlicher Be- Die Konferenz brodelt. Am Ende heit, der Anweisung zu gehorchen. ratungs- und Hilfsplan“ ausgehändigt, herrscht Ratlosigkeit. Ein Beschluss Die Kirche muss sich fragen, sagt Rita den der Staat dann, bitte sehr, als Er- wird nicht gefasst. Bischof Lehmann, Süssmuth,Vorsitzende der CDU-Frau- satz akzeptieren müsse. 63, den die Konfratres auch aus Trotz enunion, „ob sie nicht auch auf diese Damit schien der Konflikt gelöst zu und Protest mit Zweidrittelmehrheit Weise schuldig wird und nur scheinbar sein. Denn auf diesen Weg einigten für sechs weitere Jahre zu ihrem Vor- die Unschuld bewahrt“. sich im Juni all jene Bischöfe, die aus sitzenden wählen, stellt es seinen Brü- MAREIKE SPIESS-HOHNHOLZ 248 REUTERS Johannes Paul II. im Juni in der südpolnischen Stadt Stary Sacz 249 SEPTEMBER 1999 MASTER/AGENTUR FOCUS MASTER/AGENTUR Rettungsmannschaften am Unfallort

Untersuchung MASTER/AGENTUR FOCUS MASTER/AGENTUR Uran-Verarbeitungsanlage in Tokaimura, Unfallort (Pfeil) Polizeisperre 250 NOGI/DPA eines Kleinkinds auf Verstrahlung Tödlicher Cocktail

Ein skandalöser Strahlenunfall reißt Japan aus seinen atomaren Träumen. Die internationale Atomgemeinde blickt fassungslos auf das De- saster von Tokaimura. Seine Banalität dementiert alle Sicherheitsversprechen: Das Restrisiko Mensch ist überall. In Deutschland fühlt sich die JIJI PRESS/DPA vor der Atomanlage Regierung in ihrer Ausstiegspolitik bestätigt. 251 ls ihn die ersten Bürger dräng- ten, ihre Stadt umzubenennen, A ahnte Tatsuya Murakami, wie schlimm es um seine Gemeinde stand. Der Bürgermeister sträubte sich.Aber den stolzen Schriftzug am Orts- eingang von Tokaimura ließ er aus- wechseln. Nicht mehr „Stadt der Atomenergie“ ist dort neuerdings zu lesen, sondern ein schlichtes „Will- kommen“. Seit dem 30. September ist der Name der japanischen Kleinstadt im kol- lektiven Gedächtnis der Menschheit eingebrannt wie der anderer zuvor: Windscale, Harrisburg, Tschernobyl –

aber auch: Hiroschima und Naga- MAYAMA/REUTERS saki. „Nichts, was den Namen Tokai- Spezialeinheit bei Straßenreinigung, Strahlenprüfung in einem Reisfeld mura trägt“, weiß der Bürgermeister, „wird sich in Zukunft verkaufen lassen.“ So war das Feld bereitet. Am Ende Der Alptraum begann, als drei Arbei- reichte, wenn nicht alles täuscht, eine ter an jenem Donnerstag Opfer ihrer simple Verwechslung: In den ominö- Sorglosigkeit wurden. In einer örtli- sen Absetztank kübelten die Arbeiter chen Uranverarbeitungsanlage schüt- nach und nach 16 Kilogramm gelöstes teten sie, wie ungezählte Male zuvor, Uranoxid, exakt die Menge, die er- in Salpetersäure gelöstes Uranoxid laubt gewesen wäre, wenn das Ge- aus Stahleimern in einen kaum mehr misch die üblichen knapp fünf Pro- als papierkorbgroßen Bottich – und zent der spaltbaren Uranvariante U- starteten damit den dramatischsten 235 enthalten hätte. Doch diesmal war Strahlenunfall seit Tschernobyl. Der der Cocktail auf 18,8 Prozent Spalt- blaue Blitz, der im Moment der nu- uran angereichert, weil Brennstoff für klearen Verpuffung den Raum füllte, einen Brutreaktor produziert werden besiegelte ihr Schicksal. sollte. Alles Weitere besorgten die In Sekunden traf zwei der drei Betei- Gesetze der Physik. Die „kritische ligten eine tödliche Salve aus Neutro- Masse“ wurde überschritten, die Neu- nen- und Gammastrahlen. Seither tronenlawine rollte an – und blieb sterben Hisashi Ouchi, 35, und Masa- 20 Stunden außer Kontrolle. to Shinohara, 39, den Strahlentod. Ou- Es gab weitere Strahlenopfer: die Sa- chi vegetiert, am Leben gehalten mit nitäter, die die Schwerstverletzten, Blutstammzellen seiner Schwester, auf praktisch ohne sich selbst zu schüt- der sterilen Isolationsstation in einem zen, aus der Gefahrenzone transpor- Tokioter Krankenhaus, umsorgt von tierten; die Katastrophenhelfer, die in internationalen Ärzteteams, die seit fast archaischer Selbstopferung die den Atombombenabwürfen von 1945 Kettenreaktion am Ende erstickten; nie mit so hoch verstrahlten Patienten und schließlich Anwohner, die erst konfrontiert waren. Stunden nach Beginn der Kettenreak- Zum Auslöser des Desasters wurde tion gewarnt oder evakuiert wurden. die Verkettung menschlicher Fehlleis- Behörden registrierten 96 verstrahlte tungen. Eine Kontrolle der Urananla- Personen, rund 150 wurden aus ihren ge fand jahrelang nicht statt, die Werk- Wohnungen in der unmittelbaren Um- leitung straffte kostenmindernd die gebung evakuiert, mehr als 310000 in- Verfahrensabläufe, die Beschäftigten nerhalb einer Zehn-Kilometer-Zone verfügten nur über vage Vorstellun- aufgefordert, Türen und Fenster zu

gen von ihren Arbeitsrisiken. schließen und ihre Häuser nicht zu NOGI/AFP 252 SEPTEMBER 1999 verlassen. Straßen und Bahnstrecken Was blieb, war Fassungslosigkeit. Re- torsicherheit, machte die „asiatische wurden gesperrt, Landwirte durften gierungssprecher Hiromo Nonaka Mentalität“ für den „einzelnen Rück- nichts ernten. sprach in Tokio aus, was die Atomge- schlag“ verantwortlich. Der atomare Ausnahmezustand hin- meinde rund um den Globus dachte: Ansonsten beteuerten die Befürwor- terließ, obwohl er nur einen Tag währ- „Ein solcher Unfall ist beschämend ter der Kernenergie, Tokaimura kön- te, bei tausenden bleibende Blessuren für eine moderne Nation.“ ne sich in Deutschland nicht wieder- – vornehmlich im Kopf. Ein solches In Deutschland unterdrückten die be- holen. Das war so richtig wie banal. Drama überfordert die Sinne der Op- drängten Atomiker mühsam ihre Wut. Technisch differente Systeme versa- fer, auch der nur potenziellen. Nur Stunden vor dem Desaster hatten gen unterschiedlich. Es gibt nur eine Die Bilder verängstigter Menschen, führende Propagandisten der Nukle- unbestreitbare Gemeinsamkeit: den die sich zu tausenden mit Geiger- arenergie die Bundesregierung wegen fehlbaren Menschen. Der ist überall. zählern abtasten ließen, gingen um die ihrer Atompolitik gegeißelt. Nun stam- Er war in Windscale dabei, in Harris- Welt. Für die meisten von ihnen ver- melten die Nuklearpropheten von burg, in Tschernobyl und nun in To- lief der Unfall glimpflich, weil die Ket- „Überreaktionen“, deren sich diesmal kaimura. Zum Ende des Jahrtausends tenreaktion vor allem Edelgase und niemand, nicht einmal ihr Intimfeind sind nur zwei führende Nuklearna- andere leicht flüchtige Spaltprodukte Umweltminister Trittin schuldig ge- tionen, Frankreich und Deutschland, freisetzte. Die verflüchtigten sich so macht hatte.Adolf Birkhofer, Chef der von schweren Unfällen verschont ge- schnell, wie sie gekommen waren. Gesellschaft für Anlagen- und Reak- blieben. GERD ROSENKRANZ „Minister beißt Stoiber“

Der CSU-Politiker PETER GAUWEILER über eine bayerische Kabinettsaffäre

erbst in Bayern – das Oktober- fest bekam Konkurrenz. Im HWettbewerb zu Geisterbahn und dem weltberühmten Schichtl („Alle 10 Minuten wird ein lebender Mensch enthauptet“) stand kein Geringerer als Edmund Stoiber, weiland Leiter der Staatskanzlei von Franz Josef Strauß und bayerischer Ministerpräsi- dent von heute – weil er sich beim öf- fentlichen Hinrichten beinahe selbst den Kopf abgeschlagen hätte. Das war alles sehr lustig, furchtbar lustig so- gar, aber auch ziemlich traurig. Am 4. September, einem Samstag, teilt Stoiber dem Justizminister Alfred Sauter per Handy mit, dass der nicht länger der Staatsregierung angehöre. Mit sofortiger Wirkung.Aus Anlass ei- nes Zeitungsartikels, der Stoiber nicht gefiel. Das war willkürlich, stil- und taktlos. In der stoiberischen „Tschäm- piens Lieg“ (Champions League) frei- lich gilt solche Dreistigkeit als Aus- druck hoher Regierungskunst. Doch dann geschieht etwas völlig Neues. Jurist Sauter belehrt seinen Chef, der ebenfalls Jurist ist, dass der Ministerpräsident einen Minister nur

ARGUS/FOTOARCHIV mit Zustimmung des Landtags abbe- Ministerpräsident Stoiber rufen darf. Er, Sauter, werde so lange 254 SEPTEMBER 1999 im Kabinett ausharren, wie dies die bayerische Verfassung von ihm ver- langt. Und so muss Stoiber nach Frist- setzung durch den Justizminister sei- nen Regelverstoß auch noch sichtbar machen: Er hat den gerade Entlasse- nen wieder förmlich zur nächsten Ka- binettssitzung zu laden und muss dann mitansehen, wie an seinem Tisch die anderen Regierungsleute ein ver- söhnliches Palaver mit dem „lieben Alfred“ beginnen. Die Blamage ist groß. Seit Edmund Stoiber im weiß-blauen Schach König, Dame und Springer in einer Figur ist, wurde ihm noch nie auf diese Weise in die Parade gefahren. Die Medien jubi- lieren, weil dies – so die „Süddeut- sche Zeitung“ – „eine Geschichte nach dem Motto ‚Minister beißt Stoi- ber‘ ist. Der umgekehrte Fall ist in Bayern alltäglich und uninteressant“. Was war dem Eklat vorausgegangen? Der Ministerpräsident war gefordert, als der Bayerische Oberste Rech- nungshof ein Defizit der halbstaatli- chen Landeswohnungs- und Städte- baugesellschaft Bayern (LWS) von weit über 300 Millionen Mark in den Jahren 1994 bis 1997 beklagte und die Staatsregierung mit kritischen Fragen und Anmerkungen zu verlustreichen Bauträgergeschäften in den neuen Bundesländern traktierte. Denn es war ja der damalige Innenminister Stoiber höchstselbst gewesen, der vor Jahren darauf bestanden hatte, dass die LWS das gewinnorientierte Bau- trägergeschäft in den neuen Ländern zum besonderen Betätigungsfeld aus- baut. Was dann zu den roten Zahlen führte. Ein Wohlmeinender könnte der LWS und der Regierung zugute halten, dass sich damals eigentlich alle Unterneh- men, öffentliche und private, im ost- deutschen Immobiliengeschäft saftige Verluste einhandelten und dass sich Bayern einer nationalen Aufgabe wie dem Aufbau Ost nicht hätte ver- schließen können. Aber ein Edmund Stoiber sucht keine Entschuldigung, sondern die Attacke. Im Gefecht ist

der Ministerpräsident nämlich un- SEYBOLDT PRESS übertroffen, absolut speedy. Einer, der Stoiber-Opfer Sauter 255 SEPTEMBER 1999 in Sekunden von null auf 150 kommt. tung des Staates an den Hals gehängt und Böse sichtbar wird: „Jetza spitz Überhaupt war es von Anbeginn sei- werden könne, schien er somit bestens deine Ohrn, pass auf, was ma sag’n / ner Amtszeit Stoibers höchstes Ziel, geeignet. In der Rückschau war es je- Steh auf’n Mistkarrn, du alter Sau- dem altbayerischen Stamm das tau- doch wohl ein Fehler, dass man diesen mag’n.“ Aber das Haberfeldtreiben sendjährige Phlegma auszutreiben Plan vorzeitig ausgesuchten Presse- der bayerischen Führung erinnerte und ihm ein Sprinter-Image zu ver- vertretern steckte. Unzuverlässig wie schnell an die allzu durchsichtigen passen. Journalisten sind, erzählten die brüh- Versuche von Kleists Dorfrichter warm dem ahnungslosen Sauter, dass Adam, durch Aburteilung anderer von m in die Sprache des Schachs und wann und weswegen er am nächs- eigenen Sünden abzulenken. Uzurückzukehren: Stoiber ent- ten Tag von seinem Ministerpräsiden- schloss sich zu einem Gambit. Das ist ten hören werde. In dem wütenden lfred Sauter, der zwar wenig stoi- eine Eröffnung, in der ein Bauer ge- Vier-Augen-Gespräch, zu dem er dann Aberisch-speedy, aber sehr schwä- opfert wird, um einen Stellungsvor- in die Staatskanzlei kam, bot der ver- bisch-pfiffig ist, übernahm Verantwor- teil zu erreichen. Alfred Sauter, Stoi- ärgerte Sauter seinen sofortigen Rück- tung, jedoch auf ganz andere Weise, bers langjähriger Weggefährte, sollte tritt an. Den aber lehnte Stoiber ab als der fixe Regierungschef erwartet allein die Verantwortung für das LWS- („jetzt nicht“). hatte. Weil Verantwortung von „Ant- Malheur übernehmen dürfen. Was da vorbereitet war, machte den wort geben“ kommt, entgegnete Sau- Der hatte vor seinem Aufstieg ins Eindruck eines Haberfeldtreibens von ter unmissverständlich: „Ich habe mir, Justizministerium als Innen-Staats- oben. Bei diesem alten Brauch des Rü- wenn überhaupt, vorzuwerfen, die sekretär von 1993 bis 1998 dem LWS- gegerichts muss der angeblich Schuld- Einmischung deiner Politik in die LWS Aufsichtsrat vorgestanden. Als Sün- beladene am Pranger stehen, damit hingenommen zu haben, auch wenn denbock, dem die Gesamtverantwor- der ewige Unterschied zwischen Gut ich auf diese keinen Einfluss hatte.“ amigomäßig? Das Verwechslungsri- siko ist nicht auszuschließen. Nur ist unter den negativen Begriffen dieser Welt der Treuebruch um ein Vielfa- ches negativer besetzt als der Vorwurf des Klüngels. Am Ende des Haberfeldtreibens, als die Treiber reichlich dumm aussehen, erspart Sauter den Abgeordneten sei-

F. HELLER/ARGUM F. ner Partei die peinliche Prozedur, im Parteifreunde Stoiber, Gauweiler Landtag über ihn richten und die Bla- mage seiner Verfolger zu ihrer eigenen Sauter schlug vor, die Verantwortung Aus Senecas Erkenntnis „Was einen machen zu müssen.Vor der CSU-Frak- für die LWS gemeinsam zu tragen. treffen kann, kann jeden treffen“ hat- tion erklärt er seinen Rücktritt als Das wäre nicht mehr als recht und bil- te Franz Josef Strauß für Gefah- Staatsminister („Von euch habe ich das lig gewesen. Denn die unglückselige rensituationen die Grundregel ent- Amt bekommen, euch gebe ich es Entscheidung, ins riskante Bauträger- wickelt: „Kopf einziehen, Backen zu- zurück“). geschäft einzusteigen, war ja nun sammenkneifen und warten, bis das Wie es weitergeht? Nix gwiss woas ma wirklich nicht die seinige gewesen – Unwetter vorbeigezogen ist.“ In Ge- net. Demnächst jedenfalls sehen sich wie einiges andere, das zusätzlich auf- fahr also Gelassenheit. Und Kamera- die Kontrahenten wieder: vor dem Un- kam, auch nicht von Sauter zu ver- denverteidigung. Aber klingt „Kame- tersuchungsausschuss des Bayerischen antworten war. radenverteidigung“ nicht irgendwie Landtags. MELDUNGEN AFP Jugendlicher in Dili vor einem von indonesischem Militär gelegten Brand

4. September Zugehörigkeit zu Indonesien nicht strittig ist. Den Hauptort Osttimors, Dili, und zahlreiche andere Ortschaften legen die Marodeure in Schutt und Asche. Hunderttausende der Bewoh- Terror in Osttimor ner fliehen ins bergige Landesinnere. Das indonesische Militär, das Osttimor 1975 nach dem Abzug der früheren Kolonialmacht n der nach Unabhängigkeit strebenden indonesischen Provinz Portugal besetzt hatte, duldet die Exzesse, ja beteiligt sich sogar IOsttimor kommt es zu einem Massenamoklauf militanter Geg- daran. Unter massivem internationalem Druck erklärt sich Ja- ner einer Abspaltung von Jakarta, als Uno-Vertreter das Ergeb- kartas Regierung am 12. September bereit, eine internationale nis einer von ihnen beaufsichtigten Volksabstimmung bekannt Friedenstruppe in die einst annektierte Inselhälfte zu lassen. geben. Bei dem Referendum vom 30. August stimmten 78,5 Pro- Die ersten Einheiten, vornehmlich australische, rücken acht zent der Wähler in Osttimor für einen eigenen Staat. In nur Tage später in Dili an und setzen der Mordbrennerei ein Ende. wenigen Tagen metzeln fanatische proindonesische Milizionäre Die Bundeswehr entsendet etwa 80 Sanitätssoldaten. Nach dem tausende ihrer Mitbürger nieder und vertreiben hunderttausen- Abfackeln der eigenen Kasernen zieht Indonesiens Militär ab, de nach Westtimor, jenen Teil der Tropeninsel Timor, dessen der Weg Osttimors in die Unabhängigkeit ist frei.

7. September 9. September Zurück in die Zukunft Moskaus Einwohner zittern ie deutsche Pädagogik setzt wieder ine Explosion zertrümmert einen Moskauer Dauf Zucht und Ordnung. Um das EWohnblock. Über 90 Bewohner sterben, „Wertebewusstsein“ der Jugend zu stär- mehr als 200 werden verletzt. Vier Tage darauf ken, werden in Niedersachsen vom kom- bestätigen sich Befürchtungen, dass dies die menden Schuljahr an wieder „Kopf- Fortsetzung einer Reihe von Terroranschlägen noten“ verteilt. Von der siebten bis zur ist, die kurz zuvor in der dagestanischen Stadt zehnten Klasse beobachten und bewer- Buinaksk begann. Erneut detoniert in einem ten die Lehrer Betragen, Fleiß und Dis- Moskauer Wohnhaus ein Sprengsatz, 119 Men- ziplin ihrer Schüler – so hat es Kultus- schen kommen um. In einem dritten Wohnge- ministerin Renate Jürgens-Pieper be- bäude wird der Sprengstoff gerade noch recht- schlossen. Auch Hamburg, Berlin, Meck- zeitig aufgespürt. Wenig später werden bei lenburg-Vorpommern und Schleswig- einem Bombenanschlag im südrussischen Wol- Holstein liebäugeln mit den neuen Ver- godonsk 17 Personen getötet. Die Spur der haltensbeurteilungen. Schülervertreter Attentäter führe nach Tschetschenien, behauptet

finden die neuen Zensuren ätzend: ein REUTERS Moskau. Tschetscheniens Führer bestreiten je- „unzumutbarer Rückschritt“. Von Terrorakt geschockte Moskauerin doch, für die Anschläge verantwortlich zu sein. 258 MELDUNGEN

10. September 26. September Eigernordwand live Starke Stromallianzen n gut 30 Stunden erklimmen vier Profi-Bergsteiger, darun- ach knapp halbjährigen Verhandlungen ist die Fusion der Iter eine Frau, die als Mordwand berüchtigte Nordwand des NMischkonzerne Veba und Viag zum drittgrößten deutschen Eiger – und hunderttausende schauen bei jedem ihrer Griffe Industrieunternehmen (nach DaimlerChrysler und VW) perfekt. und Tritte zu. Mit Hilfe von Kamerateams, die in und an der Der neue Riese, der durch Vebas PreussenElektra und Viags 1800 Meter hohen Wand postiert sind, sowie mit Kameras an Bayernwerk Deutschlands größter Stromanbieter wird, will sich den Helmen der Kletterer zeigen das Schweizer Fernsehen auf den Energie- und den Chemiebereich konzentrieren. Mit ge- und der Südwestrundfunk die Kraxelei live und aus nächster ballter Kraft, so hoffen die Fusionspartner, werde ihr Konzern Nähe. Ist der Mythos Eiger durch das Fernsehspektakel nun besser dem zunehmenden Wettbewerbsdruck im liberalisierten beschädigt? Ein wenig schon. Denn die Zuschauer – so zei- Strommarkt standhalten. Knapp einen Monat später geben auch gen deren Fragen an die Sender – interessiert vor allem, was die Stromriesen RWE und VEW Fusionsabsichten bekannt. Ihr nicht auf dem Bildschirm zu sehen ist: Wie verrichtet man in Stromverbund wäre noch größer als der von Veba-Viag. der steilen Fels- und Eiswand seine Notdurft? 27. September Schwache Stadtwerke ie Angst um ihre Ar- Dbeitsplätze treibt tau- sende von Stadtwerkern auf die Straße. Auf einer Großdemonstration in Berlin fordern Abgesandte kommunaler Versorgungs- betriebe aus dem gesam- ten Bundesgebiet staatli- chen Schutz gegen den Billigstrom, mit dem die

großen Energiekonzerne REUTERS seit Freigabe des Wettbe- Demonstrierende Stadtwerker in Berlin werbs im einst monopo- lisierten Stromgeschäft immer härter um Marktanteile kämpfen. Die Stadtwerker wollen insbesondere Abnahmequoten für Strom aus ihren umweltschonenden Kraft-Wärme-Kopplungs-

SF DRS / M. GYGER anlagen. Diese Anlagen, zumeist auf Drängen von Umwelt- Kamerateam an der Eigernordwand schützern gebaut, werden durch den Preisverfall unrentabel.

21. September Blech im Bau in schweres Erdbeben in Taiwan legt Ekriminellen Pfusch am Bau bloß. Viele Hochhäuser in den betroffenen Städten des Inselstaates kippen wie angesägte Bäume um, weil die Baufirmen für Stützmauern und -pfeiler nicht nur Beton verwendet, son- dern diese auch mit alten Blechkanistern, Plastikflaschen und anderem Plunder aufge- füllt haben. Mehr als 2000 der zumeist im Schlaf überraschten Taiwaner kommen in den Trümmern um, über 100000 werden ob- dachlos. Sogar in einem Vorort der Haupt- stadt Taipeh, die rund 145 Kilometer nörd- lich des Epizentrums liegt, bringt das Beben ein zwölfstöckiges Wohn- und Geschäftshaus zum Einsturz. Zahlreiche Nachbeben zer- stören weitere Gebäude und erschweren die Arbeit der Rettungsmannschaften. 16 Unter- nehmer, Architekten und Bauprüfer sollen wegen der gefährlichen Müllverwertung

beim Bau angeblich erdbebensicherer Hoch- DPA häuser vor Gericht gestellt werden. Zerstörtes Hotelgebäude in Wufeng 259 Nach einem Jahr Rot-Grün gibt es keinen Grund, schon schwarz zu sehen, findet Rudolf Aug- stein. Schröder habe begriffen, dass er seinen Zickzackkurs beenden müsse. M. S. UNGER MORGAN/REUTERS P. OKTOBER Die Stunde brutaler Patrioten

um zweiten Mal überzieht Russland die kleine Kaukasusrepublik Tschetschenien mit Krieg und Zjagt hunderttausende in die Flucht. Der Kreml rechtfertigt seinen brutalen Kurs mit Bombenanschlägen auf Wohnhochhäuser in Moskau und anderen Städten, bei denen etwa 300 Menschen umkamen. Zwar bleibt die Regierung den Beweis schuldig, dass Tschetschenen für die Attentate verantwortlich sind. Doch die Gelegenheit ist zu verlockend, alle Aufständischen und Unruhestifter als „Terroristen“ abzuqualifizieren und den inneren Zerfall Russlands mit Gewalt zu stoppen. Russische Soldaten vor Grosny 260 Negligés und Corsagen, Mit seiner Geburt hebt das legendäre mit 6000 Adnan Meviƒ die Zahl Perlen bestickte Kleid der Erdenbürger auf bei Christie’s unterm den Stand von sechs Hammer: Mehr als Milliarden an. Die Uno 13 Millionen US-Dollar hat diesen Knaben bringen die Reliquien auserkoren und Kofi aus dem Haushalt der Annan zum Gratulie- unvergessenen MM. ren geschickt. AP SIPA PRESS SIPA

261 OKTOBER 1999

s scheint so, als glaubten Moskaus Generäle und Machtpolitiker, ein unabhängiges oder auch nur weit- Egehend autonomes Tschetschenien könne als Fanal für Autonomiewünsche anderer Regionen auf russischem Territorium verstanden werden. Es habe, beteuerte Moskaus Vize-Generalstabschef Walerij Manilow, für Russland „keine andere Wahl“ gegeben als den neuen Krieg in Tschetschenien, der in Wahrheit ein „Kampf

um Freiheit und Menschenrechte“ sei. DIFFUSIONLASKI Doch alle Bemühungen an der Propagandafront vernebeln Russische Panzer in Tschetschenien das wahre Kriegsziel: dem Land eine harte, patriotisch ma- nikürte Hand aufzunötigen unter dem Vorwand, einen in- nerrussischen Zerfall zu stoppen. Die Situation in Tschetschenien ist jedoch mit der in ande- ren Republiken des Nordkaukasus nicht vergleichbar. Die Nachbarn etwa in Inguschien oder Dagestan zeigen bislang keine Neigung, die Russische Föderation zu verlassen. Mit dem Wahlsieg des Fliegergenerals Dschochar Dudajew im Oktober 1991 beschritt die kleine Kaukasusrepublik (derzeit rund 300000 Einwohner) zunächst lediglich einen Weg, den Russlands neuer starker Mann selbst gewiesen hat- te: Nehmt euch so viel Selbständigkeit, wie ihr verdauen

könnt, hatte Großrusse Boris Jelzin den kleinen Brüdern DIFFUSIONLASKI zugerufen. Russische Soldaten, Grosny nach Granatenangriff (u.) CORBIS SYGMA / A. GYORI CORBIS SYGMA CORBIS SYGMA / A. GYORI CORBIS SYGMA Straße in Grosny nach Bombardement

Die Tschetschenen nahmen sich, unter tätiger Mithilfe Moskaus, zunächst einmal den größten Teil der auf ihrem Gebiet stationierten Waffen. Die tschetschenische Elite sah, wie auch die im Baltikum, eine Chance der „Trennung von Moskau“. Fast alle in sibirischer Verbannung geboren, welche Stalin 1944 für das gesamte Volk befohlen hatte, begannen die tschetschenischen Politiker nationale Abgrenzung von der Russischen Föderation zu predigen – unter der grünen Fah- ne des Propheten. Die Konfrontation mit Moskau mündete Ende 1994 in den ersten Tschetschenien-Krieg: Die Russen eroberten zeit-

A. SEL / SIPA PRESS A. SEL / SIPA weilig die Hauptstadt Grosny und installierten eine Mario- Opfer nach Raketenangriff auf Grosny nettenregierung. Das Abenteuer kostete schätzungsweise 80000 Menschen das Leben und endete mit einem schmählichen Abzug der Russen. General Alexander Lebed handelte im August 1996 einen fragilen Frieden aus, der Tschetschenien eine be- grenzte Unabhängigkeit von Moskau gewährte. Dem 1997 gewählten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow gratulierte Jelzin nicht nur zu seiner Wahl, er führte mit ihm auch Verhandlungen. Doch die russischen Zusagen, den Wiederaufbau des kriegerischen Landes zu finanzieren, blieben Papier. Entsprechend erfolglos und iso-

A. SELL / SIPA PRESS A. SELL / SIPA liert agierte Maschadow: Es gelang ihm nicht, inmitten von 263 OKTOBER 1999

Ruinen und Verwahrlosung politische wurde deklariert als „antiterroristi- dran, sich im erdölreichen Hinterhof Stabilität zu schaffen. Die Tschetsche- sche Operation“. Bis Anfang Dezem- Russlands heimisch zu machen. nen blieben den Russen keine Rechts- ber besetzten knapp 100000 russische Mit rein militärischen Mitteln jedoch verletzung schuldig: Sie zapften illegal Soldaten rund die Hälfte Tschetsche- kann Moskau den Kampf um die Vor- Öl ab, zahlten nicht für den aus niens und schlossen Grosny ein. herrschaft über Tschetschenien nicht Russland gelieferten Strom, stahlen Die Terroristen hat das kaum ge- für sich entscheiden. Schon präsentie- die seltenen Rentenzahlungen aus schwächt, während ungezählte Zivilis- ren die Moskauer tschetschenische Moskau. ten Opfer von Bombenabwürfen und Günstlinge und Verbündete als mög- Rivalisierende Warlords, „Feldkom- Artilleriefeuer wurden. Bassajew, in- liche Vertreter eines moskautreuen mandanten“, islamische Fanatiker und nenpolitisch ein Gegner Maschadows, Tschetschenien. kriminelle Banden teilten sich immer avancierte nach dem Einmarsch der Doch um die abtrünnige Republik ungenierter die Macht in der kleinen Russen Anfang Oktober gar zum Ver- zu befrieden, bedürfte es zumindest Republik von der Größe Thüringens. antwortlichen für die Verteidigung der der Klugheit einer Katharina II., die Der gemäßigte Maschadow verlor im tschetschenischen Ostfront. 1789 eine „geistige Versammlung der selben Tempo an Einfluss. Muslime des europäischen Die Weigerung Boris Jel- Russland und Sibiriens“ zins, mit ihm zu koope- als halbautonomes Verwal- rieren, trug entscheidend tungsorgan für Russlands dazu bei, die „Republik Muslime im Raum zwi- Itschkerija“, wie sie sich schen Wolga und Ural för- selbst nennt, in eine Sack- derte. gasse zu treiben. Gegenwärtig kann Moskau In der verarmten, aber an das Fehlen einer klaren Waffen reichen Region Konzeption in der Kauka- blühte die Schwerkrimina- sus-Politik noch mühsam lität. Die Entführung von mit militärischem Drauf- Menschen – nach Angaben schlagen kaschieren. Noch des russischen Innenmi- hält ein politischer Kon- nisteriums befanden sich sens, der von Premier Ende November rund 700 Wladimir Putin über die Geiseln in tschetscheni- Kommunisten bis zu den schen Verliesen – avancier- Liberalen reicht: Die Straf-

te zu einer der Haupt- PRESS IZVESTIA / SIPA aktion gegen die „Terro- einnahmequellen bewaff- Tschetschenische Flüchtlinge risten“ soll die Vorausset- neter Formationen. Deren zung für eine erst vage an- Kämpfer werden von Moskau alle- Die Rebellen können sich auf eine lan- gedeutete „politische Regulierung“ samt als „Banditen“ eingestuft. ge Aufstandstradition stützen. Seit (Putin) in Tschetschenien bilden. Ende August schlug die Stunde russi- dem 16. Jahrhundert, als Kosaken in Davor, dass Moskaus neuer Kaukasus- scher Großmachtpolitiker, die von ei- die Gegend nördlich des Flusses Terek Krieg in einem Desaster enden könn- ner „Konsolidierung der Nation“ vordrangen, ringt Russland im Kau- te, warnten Geheimdienstler des Fö- (Premier Putin) träumen. Der Terrorist kasus um die Vorherrschaft. Ende des deralen Sicherheitsdienstes in einem und Flugzeugentführer Schamil Bas- 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts Dossier bereits Anfang Oktober: sajew marschierte mit bewaffneten kämpften die Russen gegen kauka- „Mögliche militärische Misserfolge“ Trupps über die Grenze nach Da- sische Bergvölker, vor allem Tsche- der russischen Bundestruppen könn- gestan, um dort eine „Islamische Re- tschenen, die sich als zähe Wider- ten sich „sowohl für die politische Sta- publik“ auszurufen. sacher erwiesen. bilität als auch für die wirtschaftlichen Nach verheerenden Bombenanschlä- In der Region zwischen Kaspischem Folgen“ als verheerend erweisen. gen in Moskau und anderen russischen und Schwarzem Meer, glauben in Endet der zweite Tschetschenien- Städten im September, die etwa 300 Russland nahezu alle politischen Kräf- Krieg mit einer Niederlage, so die Ge- Menschen das Leben kosteten und die te, entscheide sich jetzt, ob Russland heimdienstler in ihrer pessimistischen Russlands Regierung bislang ohne eine Großmacht von Gewicht bleibe Studie, „wäre die Folge nicht nur eine überzeugende Beweise den Tsche- oder absinke zur Regionalmacht von völlige Diskreditierung der Staats- tschenen zuschreibt, sah sich der minderer Bedeutung: Türken und hin- macht, sondern auch die Abtrennung Kreml schließlich hinreichend legiti- ter ihnen die USA, so lautet die gän- des nördlichen Kaukasus“ von Russ- miert für eine neue Kampagne. Sie gige Bedrohungsthese, seien drauf und land. UWE KLUSSMANN 264 Werbeseite

Werbeseite 266 THOMAS IMO/IMO, P. TURNLEY/BLACK STAR/STUDIO B (L.) TURNLEY/BLACK P. IMO/IMO, THOMAS Wahlsieger Schröder 1998 (l.), Kanzler Schröder Gerhard im Glück RUDOLF AUGSTEIN über das erste Regierungsjahr und die Zukunft von Rot-Grün

uf die Frage, ob er Gerhard Schröder lich weit hergeholt, mag er nun dessen für einen Staatsmann halte, antwor- „Verliebtheit in den äußeren Schein“ tei- Atete der kenntnisreiche britische len oder nicht. Zeithistoriker und Deutschlandexperte Ti- Die Fehler, die Schröder unzweifelhaft mothy Garton Ash, bisher habe er nichts während seines ersten Regierungsjahrs Staatsmännisches an ihm entdecken kön- gemacht hat, sind schon oft aufgezählt nen. Das Auftreten Schröders mit dem des worden. Er gibt sie zum Teil zu, ja, er ge- Erbkaisers Wilhelm II. zu vergleichen, wie lobt Besserung. Noch ist der Zeitraum von in der „Welt“ zu lesen war, scheint reich- einem Jahr Kanzlerschaft zu kurz, um

267 OKTOBER 1999 auch nur eine Zwischenbilanz ziehen mer gearteter Konsequenz der rot-grü- zu können. nen Regierung nicht liegen – zieht an Talfahrt nach Mit seiner ersten Kanzlerrede im Bun- und dürfte, wieder mit Schröder-Glück, dem Siegestaumel destag, der Regierungserklärung, hat fortdauern. Die Arbeitslosigkeit, Kern- Landtagswahlergebnisse der Regierungs- Gerhard Schröder sich rhetorisch auf- stück des Schröderschen Wahlkampfs, parteien 1999 und Umfrageergebnisse von fallend gesteigert. Wie sie beim Wahl- wird erstmals nennenswert um 150000 SPD und Union seit der Bundestagswahl volk ankam und wie weit der damals bis 200000 zurückgehen. An deren Re- positive Eindruck auch heute noch vor- duzierung will er sich und seine Mann- Gewinne und Verluste gegen- SPD Grüne über der letzten Landtags- hält, da kann nur spekuliert werden. schaft ja messen lassen. wahl in Prozentpunkten Bei seiner eigenen Partei hat er endgül- So stehen die Aktien der Regierung der- tig das Geflüster zunichte gemacht, er zeit höher im Wert als im ganzen ver- oder womöglich sogar ein anderer als er flossenen Jahr. Das ist eine Ermutigung, werde die CDU/CSU statt der Grünen die jeder Kanzler braucht, und diesen „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ ins Boot nehmen. Bei der Union aller- macht sie sicherer als bisher. Die Wende, dings bestand dazu bisher auch kaum sosehr sie Anhänger der Koalition auch Emnid-Umfragen für den SPIEGEL, Angaben in Prozent die Neigung. wünschen, ist damit noch nicht geschafft, das weiß man im Kanzleramt genau. Oktober 1998 icher, Schröder hat Glück gehabt, Schröder, und das hätte niemand ge- 42 Ssich in Bonn gar nicht erst einrichten dacht, ist zwar opportunistisch, aber zu müssen. Manche Schröder-Gegner lernfähig – und dies, wenn es sein muss, November meinen, vor allem habe er die richtige mit affenartiger Geschwindigkeit, wie 41 Nase bewiesen, als er Bodo Hombach die Pirouette für die Holzmann AG ge- 40,9 zu seinem Kanzleramtsminister machte. zeigt hat. Er hat Chancen, mit dieser Bundestagswahl vom 27. September 1998 Der habe die Aufgabe gehabt, Schröder Koalition die nächsten Bundestagswah- Dezember gegen den Parteivorsitzenden Oskar len zu erreichen, was bisher, will man 40 Lafontaine abzuschirmen. den Demoskopen glauben, doch sehr Die Art, diesen Beschützer, als er ihm zu zweifelhaft schien. Dabei verfolgt er schaden drohte, kurzerhand als Balkan- das Ziel, die SPD-Fraktion wieder zur Beauftragten der EU nach Brüssel ab- stärksten im Bundestag zu machen. Al- zuschieben, war bestimmt sein Meis- les andere wäre ein Scheitern. Einen terstück. Manchmal nützt Instinkt mehr Vizekanzler Schröder kann man sich als Verstand. Und wann je wäre Glück jedenfalls nicht vorstellen. für einen Politiker schädlich gewesen. Dass Helmut Kohls Finanzgebahren auf Wahlsieger Dass ihm der Saarländer Lafontaine so die CDU derartig durchschlug, wird dem Schröder ruhmlos von der Fahne ging, war wie- Wählervolk nicht entgangen sein und derum Glück, Schröder-Glück eben. wird ihm im Gedächtnis bleiben, jeden- 37 Dass die Grünen sich selbst für die Re- falls bis zu den Wahlen in Nordrhein- gierung opferten, indem sie ihre Grund- Westfalen im Mai. Auch Volker Rühe sätze ins Gegenteil verkehrten – siehe wird dies bereits im Februar in Schles- 36 Joschka Fischer im Kosovo-Konflikt –, wig-Holstein zu spüren bekommen. Bundestagswahl muss sogar für den Kanzler eine Über- Vor Schröder gähnt ein neuer Ab- vom 27. raschung gewesen sein. Aber er hatte grund fehlender Staatsgelder, sollte der September 1998 sie taktisch richtig behandelt. britisch-französische Plan verwirklicht 35,1 35 Sein Zickzackkurs hat ihm am meisten werden, eine von den USA unabhän- geschadet. Den darf er, doch das scheint gige EU-Streitmacht (Scharping: „Ein Ergebnisse der er begriffen zu haben, nicht fortsetzen. historischer Schritt“) zu installieren, die, Emnid-Umfragen Dennoch, seine schärfste Waffe ist die so London, „in Europa und um das Konzeptionslosigkeit der Opposition, Mittelmeer herum“ autonome Aufga- die es Schröder erlaubt, das letztlich ben übernimmt. Die Fischer-Grünen auch ihm fehlende Konzept fast un- jedenfalls werden es nicht verhindern. sichtbar zu machen. Indessen strebt sein Es fehlt aber schon das Geld für die zu Finanzminister Hans Eichel nach dem rasche Ost-Erweiterung der Nato. Rezept vorwärts, lieber einen falschen So wird man denn besser daran tun, in als gar keinen Weg aufzuzeigen. Die zehn Jahren danach zu fragen, ob Schrö- Konjunktur – und dies kann an wie im- der ein Staatsmann geworden ist. 268 Fischer, Schröder FOTOS: RAINER UNKEL, BONN-SEQUENZ FOTOS: + – – – – – 1,4% Hessen 4,0% 5,0% Saarland 2,3% 9,2% Thüringen 3,9% 7. Februar 5. September 12. September

Machtwechsel in Wiesbaden: Trotz leichter Ge- Mit dem Saarland verliert die SPD zum zwei- Mit 21,6% liegt die SPD zum ersten Mal in 45 winne (SPD-Stimmenanteil: 39,4%) kann Hans ten Mal in diesem Jahr die Regierungsmacht einem Bundesland hinter der PDS (22,3%). Eichel wegen der hohen Verluste der Grünen in einem Bundesland. Erstmals seit 1985 Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU), bis- seinen Ministerpräsidentensessel nicht vertei- stellt die CDU (45,5%) den Ministerpräsiden- lang in einer Großen Koalition mit der SPD, digen. Die neue Regierungsmehrheit stellt ei- ten. Peter Müller löst den bisherigen Amts- kann mit 49,3% der Stimmen allein regieren. ne CDU/FDP-Koalition unter CDU-Minister- inhaber Reinhard Klimmt (SPD) ab. Grüne und Die Grünen verpassen mit nur 1,7% den Wie- präsident Roland Koch. FDP scheitern an der Fünfprozenthürde. dereinzug in das Landesparlament.

+ 9,2% Bremen – –14,8% Brandenburg – 4,1% 1,0% – – 6. Juni 5. September 43 5,9% Sachsen 1,5% 19. September Die SPD spürt noch einmal Rückenwind. Als Wahldebakel der SPD: Ministerpräsident Man- Seniorpartner in der Großen Koalition unter fred Stolpe verliert seine absolute Mehrheit Die vierte Wahlschlappe von SPD und Henning Scherf fährt sie mit 42,6% ein (SPD: 39,3%) und muss mit der CDU (26,6%) Grünen in Folge: Die Sozialdemokraten Traumergebnis ein. Die mitregierende CDU eine Große Koalition eingehen. Die PDS ge- sacken auf 10,7% ab, die Grünen ver- gewinnt 4,5 Prozentpunkte hinzu und holt winnt hinzu und holt 23,3% der schwinden mit 2,6% in der Bedeu- 37,1% der Stimmen. Die Grünen erzielen in Stimmen, der rechten DVU gelingt mit tungslosigkeit. Oppositionsführerin ist ihrer Hochburg nur noch 8,9%. 5,3% der Einzug in den Landtag. mit 22,2 % der Stimmen die PDS. 41 41

– – 1,2% Berlin 3,3% 1999 10. Oktober Januar Februar 40 40 40 40 Mit 22,4% unterbietet die SPD mit Walter Momper als Spitzenkandidat noch ihr ver- heerendes Wahlergebnis von 23,6 % im März April Jahr 1995. Auch die Grünen stecken 39 39 erneut Verluste ein und erzielen 9,9%.

Mai Juni 37 37

Juli 36

August 35

September 34

November 33

Oktober 32

OKTOBER 1999 Kinder-Segen

Die Menschheit begrüßt den sechsmilliardsten Erdenbürger – mit Hoffen und Bangen.

ach dem obligatorischen Klaps Kosevo-Krankenhaus von Sarajevo Milliarden“ die bosnische Großstadt auf den Po gab Adnan Meviƒ zur Welt. Und mit seiner Geburt war besuchte, den neuen Erdenbürger und Nin den ersten 60 Sekunden des die Bevölkerung der Erde über die seine Erzeuger in der Klinik. 12. Oktober laut und schrill seine An- Schwelle von sechs Milliarden Men- Dem Amt entsprechend fielen Annans kunft auf dem Blauen Planeten be- schen getreten. So jedenfalls hatten es Geburtstagswünsche aus: „Die Hälfte kannt: Ecce homo, und ein ganz be- die Bevölkerungswissenschaftler der der Weltbevölkerung ist heute jünger sonderer, statistisch gesehen. Vereinten Nationen berechnet. Sym- als 25 Jahre. Es gibt mehr als eine Mil- Adnan Meviƒ, Erstgeborener von Fa- bolisch besuchte Uno-Generalsekretär liarde Menschen im Alter zwischen 15 tima und Jasminko Meviƒ, kam im Kofi Annan, der am „Tag der sechs und 24 Jahren. Die Herausforderung

Bevölkerungsreiche Länder Indien, Nigeria, Japan 272 OKTOBER 1999 ist, sie zu ernähren, zu kleiden und Wie viele Menschen kann die Erde vor allem in den unterentwickelten ihnen Unterkunft zu schaffen.“ tragen? Vor allem aber: Wie lassen sich Weltregionen die Zuwachsraten ab- Doch bis zum 13. Geburtstag von dann die sozialen und wirtschaftlichen sinken. War zwischen 1975 und 1990 Adnan Meviƒ wird die Weltbevölke- Probleme bewältigen? die Weltbevölkerung noch jedes rung voraussichtlich die Sieben-Milli- Jahr um 1,72 Prozent angewachsen, arden-Marke erreichen, und wenn er etrieben von Hunger und Elend, hatte sich der jährliche Anstieg in den 28 Jahre alt ist, könnten acht Milliar- Gso befürchten die derzeit noch darauffolgenden fünf Jahren auf den Menschen sich satt essen und ihr reichen Nordstaaten, werden sich die 1,48 Prozent verringert; für dieses Brot verdienen wollen. Wird das gut Massen des Südens aufmachen und in Jahr rechnen die Bevölkerungsplaner gehen? Die Zweifel überwiegen. die Wohlstandsbastionen eindringen. lediglich mit einem Zuwachs von Die Zuversichtlichen bauen auf die Unbegründet scheinen die Bedenken 1,33 Prozent. jüngsten Statistiken. Danach wird nicht. In Industrieländern wie Japan Tatsächlich scheint heute das drü- zwar noch immer in rasendem Tempo und Deutschland ist die Fortpflan- ckendste Problem der Menschheit, die geboren: 152 Säuglinge pro Minute, zungsrate schon seit Jahren unter die Versorgung mit Lebensmitteln, be- 219000 Menschen pro Tag, 80 Millio- Erhaltungsmarke von 2,1 Kindern je herrschbar zu sein. Die Welt produ- nen pro Jahr. Aber die Wachstums- Einwohnerin gesunken. Konservative ziert dank „Grüner Revolution“ samt kurve verläuft flacher als noch zu Be- Beobachter sind beunruhigt über die der dazugehörigen Düngemittel und ginn des Jahrzehnts vorhergesagt. schwindende Neigung beispielsweise weitflächiger künstlicher Bewässerung Gleichwohl wird die Erdbevölkerung, der Deutschen, sich zu vermehren. ausreichend Nahrung für alle – freilich bei einer Geburtenrate von durch- „Wir haben mehr Särge als Kinder- nicht immer dort, wo sie am drin- schnittlich zwei Kindern je Frau, ir- wiegen“, klagte der Kölner Kardinal gendsten gebraucht wird. gendwann zwischen 2030 und 2050 Joachim Meisner. Doch solche Erfolge sind, wenn nicht nochmals um die Hälfte ihres jetzigen Erleichtert nehmen hingegen Demo- alles täuscht, zu teuer erkauft wor- Bestandes gestiegen sein. graphen den Trend zur Kenntnis, dass den: 40 Prozent aller Nahrungsmittel

Bevölkerungsprobleme Armut, Brandrodung, Wasserverschmutzung

273 wachsen auf Äckern, die mit herauf- gepumptem Grundwasser oder über verzweigte Kanalsysteme versorgt werden, die das Wasser aus den Flüs- sen heranbringen. Die Folge: Auf allen Kontinenten sinkt der Grundwasser- spiegel, in den großen chinesischen Anbaugebieten beispielsweise jedes Jahr um durchschnittlich 1,5 Meter. Indiens Bauern entnehmen den un- terirdischen Reservoirs doppelt so viel Wasser wie durch Monsunnieder- schläge wieder hereinkommt. Verschlimmert wird die Situation noch, weil an den großen Strömen, am Nil etwa, am Gelben Fluss oder am Ganges immer mehr fruchtbares Ackerland der landwirtschaftlichen Nutzung entzogen wird. Denn die dort seit je angesiedelten Ballungs- zentren wuchern zu Megastädten her- an, die magnetengleich Arbeitslose und Verarmte anziehen. Die brauchen Platz zum Wohnen und durchstöbern die Müllhalden nach verwertbarem Abfall. Zu den natürlichen Feinden der ver- slumten Massen zählen die Stadtpla- ner, die ständig mehr Raum für Autos benötigen. Schon heute teilen sich G. LUDWIG/VISUM, S. 272/273: GAMMA, AP die sechs Milliarden Menschen den Lebensraum mit 500 Millionen Per- sonenkraftwagen. In den nächsten 25 Jahren dürfte sich diese Zahl ver- doppeln. Gelingt den Schwellenländern und, mit einiger Verzögerung, auch den Dritt- weltstaaten tatsächlich der Sprung zu einem bescheidenen Wohlstand, droht die gesamte Biosphäre zu kol- labieren. Ist die Katastrophe noch ab- zuwenden, oder wird die Warnung des amerikanischen Biologen Paul Ehrlich wahr, dass „sich die Menschheit zu Tode vermehren“ könnte? Angesichts rücksichtsloser Wachs- tumsphilosophie, wie sie auch in den Nordstaaten betrieben wird, und den weitgehend folgenlosen Mammutkon- ferenzen über Klima, Ernährung und Bevölkerung ist unstrittig: Auch im Jahre 2000 werden die wichtigsten Weichen wohl nicht umgestellt. Uno-Generalsekretär Annan mit Milliarden-Baby

Bevölkerungsgigant China BANGUH/ARGUS, T. FOTOARCHIV, S. 270/271: M. SASSE/DAS HOEPKER/MAGNUM, T. LEESER/BILDERBERG, ABBAS/MAGNUM, S. 268/269: T. FOTOS Adnan, Mutter in Sarajevo 274

Unsterbliche Marilyn

Eine Auktion mit Nachlass-Objekten von Marilyn Monroe erzielt Rekorderlöse.

s war ein Tag, es waren Bilder, die Monroe-Fans Eunvergesslich bleiben: Im New Yorker Madison Square Garden brachte Marilyn Monroe dem US- Präsidenten John F. Kennedy ein Ständchen zum 45. Geburtstag. „Happy Birthday, Mr. President“, so sang sie hauchzart am 29. Mai 1962, und das Publikum bestaunte ihr atemberaubendes Seiden- kleid, das mit 6000 Perlen bestickt war und so haut-

eng saß, dass „von Unterwäsche an diesem Abend PRESS SIPA nicht die Rede war“, wie die scharfsichtige „New Auktions-Objekte Negligés P. MORGAN / REUTERS P. Versteigerung des Monroe-Nachlasses bei Christie’s in New York 276 OKTOBER 1999 B. MATTHEWS / AP B. MATTHEWS Auktions-Attraktion Perlenrobe, Stiletto UPI / BETTMANN CORBIS

CORBIS SYGMA / MAINMAN RICK CORBIS SYGMA Monroe im Perlenkleid bei Kennedy-Gala (1962) 277 OKTOBER 1999 SIPA PRESS SIPA Versteigerte Unterwäsche, Flügel

York Times“ bemerkte. Das bestrickende Gala-Gewand ist Prunkstück einer Auktion bei Christie’s in New York, bei der Hausrat und allerlei persönliche Gegenstände der mythisch verehrten Hollywood-Diva unter den Hammer kommen. Marilyn, die im August 1962 starb, hatte die Stücke ihrem Schauspiellehrer Lee Strasberg vererbt. Dessen Witwe gab sie jetzt frei. 1000 Interessenten drängen sich in den Auk- tionssaal im Rockefeller Center; das Fern- sehen überträgt live. Die Erlöse sind sensa- tionell. Für den hocherotischen Seiden- fummel zahlen zwei US-Unternehmer die Rekordsumme von 1,2675 Millionen Dollar. Und auch die übrigen Reliquien gehen hammerhart weg: Ein Paar Stilettos bringt 42000 Dollar. Der Mode-Designer Tommy Hilfiger berappt 35 650 Dollar für drei Monroe-Jeans und 75 000 Dollar für die Cowboystiefel, die der Superstar im Film „Misfits“ trug. Pop-Sängerin Mariah Carey erwirbt einen weißen Flügel für 600000, ein Platin-Ehering erlöst 700000 Dollar.Am Ende hat das Haus Christie’s 13,4 Millionen

CORBIS SYGMA / MAIMAN RICK CORBIS SYGMA Dollar in der Kasse. 278 Werbeseite

Werbeseite MELDUNGEN

3. Oktober die Freiheitlichen sowie die Konservativen je 52 und die Grünen 14. Damit könnte – wie von Wien: Wer mit wem? Bundeskanzler und SPÖ-Chef Viktor Klima gewünscht – die seit 1987 regierende Koalition rstmals bei Nationalratswahlen schiebt sich von SPÖ und ÖVP weitermachen. Aber der ÖVP- Ezwischen die Sozialdemokratische Partei Öster- Vorsitzende Wolfgang Schüssel ziert sich, Koali- reichs (SPÖ) und die konservative Österreichische tionsverhandlungen aufzunehmen. Vor der Wahl Volkspartei (ÖVP) eine dritte Partei. Mit dem hatte er gelobt, dass seine Partei nach einem hauchdünnen Vorsprung von 415 Stimmen wird Abrutschen hinter die FPÖ in die Opposition ge- die von ihrem Vorsitzenden Jörg Haider auf platt hen werde. Dieses Versprechen bekräftigt er national-populistischen Kurs getrimmte Freiheit- zunächst noch; nach einer Schamfrist von etwa liche Partei Österreichs (FPÖ) vor der ÖVP die zwei Monaten erklärt sich die ÖVP-Führung

zweitstärkste politische Kraft der Republik. Die So- DPA dann doch zu Koalitionsgesprächen mit ihrem zialdemokraten erhalten 65 Sitze im Nationalrat, Haider Dauerpartner SPÖ bereit.

5. Oktober Tödlicher Fehler eil ein Lokführer übersieht, Wdass ein Signal auf Rot steht, krachen im Westen Londons ein Ex- press- und ein Regionalzug aufein- ander. 31 Menschen sterben. Das Unglück offenbart, wie unzurei- chend die Sicherheitsstandards im britischen Eisenbahnwesen sind. Obwohl Zugführer der über zwei dutzend privaten Bahnfirmen im Vereinigten Königreich allein 1998 insgesamt 643mal Signale missach- teten, will die Regierung erst jetzt auf den Schnellstrecken ein Brems- system installieren lassen, das Züge nach Überfahren eines Haltesignals

A. GRANT / AP automatisch stoppt. Den Firmen Waggonwracks nach Kollision zweier Personenzüge in London war das System bislang zu teuer.

11. Oktober 14. Oktober Medizin-Nobelpreis für Deutschamerikaner Luftfahrt-Ehe ür Forschungsarbeiten, die zum besseren Verständnis einiger genetisch bedingter ie Luft- und Raumfahrtunterneh- FKrankheiten führen und wahrscheinlich zu deren wirksamerer Bekämpfung beitragen Dmen Dasa und Aerospatiale Ma- werden, erhält der Deutschamerikaner Günter Blobel den Nobelpreis für Medizin. Der tra, die seit langem beim Airbus- 1936 in Schlesien geborene und an deutschen Universitäten ausgebildete Biochemiker Bau kooperieren, wollen sich bis war in den sechziger Jahren an die New Yorker Rockefeller-Universität gegangen. Dort zum Frühjahr 2000 zur European bemühte er sich erfolgreich, den Eiweißtransport in Körperzellen zu ergründen. Bereits Aeronautic, Defense and Space 1971 stellte er seine zunächst umstrittene „Signalhypothese“ auf, der zufolge jedes Pro- Company (EADS) zusammenschlie- tein, das in den Eiweißfabriken der Zelle produziert wird, ßen. Dasa-Mutter DaimlerChrysler eine Art Adresse bekommt. Dadurch gelangen die rund eine und der französische Staat sowie Milliarde Proteine in der Zelle an den richtigen Platz, wo sie die Finanzgruppe Lagardère als in verschiedenen Funktionen Dienst tun. Mehrere Erbkrank- Aerospatiale-Hauptaktionäre wer- heiten werden durch einen defekten Steuerungsmechanis- den sich die Herrschaft über den mus verursacht. Den Großteil des Preisgeldes von 1,8 Millio- Luft- und Raumfahrtriesen teilen, nen Mark will Blobel für den Wiederaufbau der Frauenkir- den drittgrößten nach den US-Kon- che und der Synagoge in Dresden spenden. Neuer Chemie- zernen Boeing-McDonnell Douglas Nobelpreisträger ist der in Kalifornien forschende Ägypter und Lockheed Martin. Da sich die Ahmed H. Zewail, der mit einer ultraschnellen Laserkamera Regierung in Paris ein Vetorecht bei erstmals atomare Reaktionsprozesse aufgenommen hat. Den wichtigen EADS-Entscheidungen Physik-Nobelpreis bekommen die Niederländer Gerardus ausbedungen hat, gibt es für Daim- ’t Hooft und Martinus Veltman für die Entwicklung wichti- lerChrysler im Streitfall einen Not- ger mathematischer Grundlagen der Elementarteilchenphy- ausstieg. Blockiert Paris Pläne der sik. Der Kanadier Robert Mundell wird für seine Analysen Deutschen, muss es deren EADS-

P. MORGAN / REUTERS P. auf dem Feld der monetären Außenwirtschaftstheorie mit Paket übernehmen. Auch die spani- Blobel dem Ökonomie-Nobelpreis geehrt. sche Casa soll der EADS beitreten. 280 MELDUNGEN

17. Oktober Millenniums-Rad weieinhalb Monate bevor es sich Zerstmals drehen soll, reckt sich das größte Riesenrad der Welt endlich 137 Meter hoch in Londons meist trüben Himmel. Ein erster Versuch, das 1500 Tonnen schwere und rund 60 Millio- nen Mark teure Bauwerk an 136 Stahl- trossen in die Senkrechte zu hieven, war am 11. September fehlgeschlagen. Mehrere Stahlseile waren nicht kor- rekt verankert. Richard Branson, Gründer von Virgin Atlantic Airways, verspottete daraufhin die British Air- ways, einen der Hauptfinanziers des Rades, mit der Aufschrift auf einem Reklameluftschiff: „BA kriegt es nicht hoch.“ In zwei Etappen ist es nun ge- lungen, das Rad, eine der Attraktionen

A. STUART / AP A. STUART für Londons Millenniumsfeiern, noch Londoner Riesenrad in Schräglage rechtzeitig aufzurichten.

24. Oktober nen, dass die frühere Bauern- und Kleingewerbler-Partei erst- mals die zweitstärkste in der Volksvertretung wird. Die SVP Rechtsrutsch in der Schweiz erhöht ihre Nationalratsmandate von 29 auf 44 und zieht damit an den bürgerlichen Konkurrenten Freisinnig-Demokratische ie vor drei Wochen in Österreich triumphiert nun auch Partei (43 Sitze, zuvor 45) und Christlichdemokratische Volks- Wbei der Nationalratswahl in der Schweiz ein Volkstribun partei (35 Sitze, zuvor 34) vorbei. Die Sozialdemokraten büßen des rechten Lagers. Mit Parolen gegen die angebliche Unter- drei Mandate ein, ihre Fraktion bleibt aber mit 51 Sitzen die wanderung des Landes durch kriminelle Asylbewerber, mit der stärkste. Prompt beansprucht Blocher für die SVP einen weite- radikalen Ablehnung eines Schweizer Uno- oder EU-Beitritts ren Platz im siebenköpfigen Bundesrat, der Regierung in Bern. und mit dem populistischen Ruf nach niedrigeren Steuern Dazu müsste die seit 1959 geltende „Zauberformel“ geändert schafft es der milliardenschwere Chemie-Industrielle Christoph werden, der zufolge Sozialdemokraten, Freisinnige sowie Blocher, so viele Stimmen für die von ihm gesteuerte national- Christdemokraten jeweils zwei Minister stellen und die SVP konservative Schweizerische Volkspartei (SVP) hinzuzugewin- einen Vertreter in den Bundesrat schickt.

31. Oktober Stoßgebet im Cockpit ine halbe Stunde nach dem Start in ENew York geht eine Boeing 767 der ägyptischen Staatsgesellschaft EgyptAir aus ihrer Reiseflughöhe von 10000 Metern plötzlich in den Sturzflug über, rast bin- nen 40 Sekunden 5000 Meter tiefer, steigt noch einmal bis auf 7300 Meter Höhe, stürzt erneut ab und kracht schließlich, schon vor dem Aufprall auf das Meer zer- brechend, in den Nordatlantik. Keiner der 217 Menschen an Bord des Jets überlebt. Was hat dieses eigenartige Ab, Auf, Ab verursacht? Nach Ansicht amerikanischer Ermittler deuten Worte des Co-Piloten auf dem Band des vom Meeresgrund ge- borgenen Stimmenaufzeichnungsgeräts darauf hin, dass er den Absturz beabsich- tigt haben könnte. Insbesondere eine Ge- betsformel, die er spricht, halten US-Ex- perten zunächst für einen Beleg der Selbstmordthese. Doch die Ägypter pro-

testieren: Ein frommer Muslim verwende REUTERS die Formel in jeder ungewöhnlichen Lage. Suche nach EgyptAir-Wrackteilen 281 Im Lehrbuch vom Menschen ist das erste Kapitel aufge- schlagen: Das Chromosom 22 ist entziffert. Die Kette seiner Gund- bausteine füllt 8200 Druckseiten. L. WILLATT/SCIENCE PHOTO LIBRARY PHOTO L. WILLATT/SCIENCE GAMMA NOVEMBER Sausen, Sozis und Sponsoren

u seiner Hochzeit hatten Brauereien und eine Kaffeerösterei freigebig die Gäste umhegt. Den ZTauchurlaub am Roten Meer organisierte der Reise- Konzern TUI, die Preussag sorgte für einen erquicklichen Ausflug zur „Aida“ in Ägypten: Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Glogowski ließ sich seine Lebensfreuden gern von spendablen Firmen sponsern. Nun wird er beim Mauscheln ertappt und muss trotz eines chronisch „reinen Gewissens“ auf Druck der ergrimmten Genossen sein Amt niederlegen. Mehr Licht in die Affäre soll ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss bringen. Urlauber Glogowski im Roten Meer 282 Unter Dattelpalmen Am zehnten Jahrestag in der Wüste wird eine des Mauerfalls fehlt es von Grabräubern ver- in der Hauptstadt schonte altägyptische Berlin nicht an Pomp, Gräberstatt entdeckt. hohen Gästen und Die Forscher hoffen, getragenen Worten. am Ende der Grabung Trotz alledem ist bei rund 10000 Mumien den Deutschen die geborgen zu haben. Stimmung eher trüb. BOENING/ZENIT NIEDERSÄCHSISCHE STAATSKANZLEI NIEDERSÄCHSISCHE

283 „Aldi ist überall“ Der Kabarettist und Satiriker MATTHIAS BELTZ über sozialdemokratische Vetternwirtschaft, Getränke freier Wahl und die „Schnäppchenjäger der Republik“ P. MEYER P. DPA P. MEYER P. Ehepaar Glogowski im Ägypten-Urlaub, Glogowski-Sponsoren

SPIEGEL: Ein deutscher Ministerpräsi- SPIEGEL: Sozialdemokraten sind ja kers und Managers gehörte immer dent trickst bei der Bezahlung von Ur- früher auch gern auf lau gereist – in eine ordentliche Portion krimineller laubsreisen und allerlei „Edelsausen“. den Osten. Energie. Sonst wird das nix. Was sagt man bloß zu diesem Rück- BELTZ: Ja, so mancher fuhr leiden- SPIEGEL: Einspruch: Glogowski ist tritt im Sauseschritt? schaftlich gern in die DDR, sang be- kein schlechter Mensch! BELTZ: Erst mal gar nichts. Meine Em- seelt die Internationale und genoss, BELTZ: Das ist ja das Elend! Er hat pörungsenergie ist für dieses Jahr auf- was SED und Gewerkschaftsbosse nicht genug zugelangt. Das fällt auf. gezehrt. Politiker sind halt freilaufen- aufgefahren hatten, Getränke und jun- Die großen Beutelschneider und Erz- de Exoten, ein Fall für Ethnologen. ge, willige Damen. Heute jettet man Spitzbuben lassen sich nicht erwi- SPIEGEL: Oder vielleicht doch nur beflissen und kostenlos zu kleingeisti- schen, und einen großkalibrigen ganz normale Knauser? gen Events, zum Wiener Opernball Schurken hat die SPD noch nie her- BELTZ: Glaub ich nicht, das ist keine oder zur „Aida“ nach Ägypten. vorgebracht. Das kann sie gar nicht, Geldfrage. Ich kenne das von Premie- SPIEGEL: Der Umgang mit der Haute- weil sie viel zu sehr mit der protes- renkarten im Theater. Es gibt massen- volee trübt den Blick für die Realität. tantischen Ethik verbandelt ist. Die haft Leute, die ein Schweinegeld ver- BELTZ: Ganz bestimmt. Ich empfeh- Sozialdemokraten sind Asketen, die dienen und leicht 1000 Mark für ein le deshalb, was jeder rechtschaffene schwer an ihrem schlechten Gewissen Billett bezahlen könnten. Trotzdem Bürger seinen Führungskräften rät: tragen und sich höchstens mal ein sind die Leute ganz wild auf Freikar- U-Bahn, S-Bahn, Taxi fahren. Ohren Fässchen Bier anliefern lassen. Bei den ten. Denn das heißt: Ich bin wichtig, auf im Nahverkehr, das bildet. Katholiken wird die Schuldfrage in ich gehöre zur Society. Rudi Carrell SPIEGEL: Der Ruf der Politiker ist mo- der Beichte geregelt. Die dürfen rich- hat mal gesagt: Es ist herrlich, nach mentan erheblich lädiert. tig sündigen. Nur wenn die Sozialde- Monte Carlo eingeladen zu werden, BELTZ: Sie hatten nie einen guten mokratie sich entschließt, katholisch man muss keinen Pfennig ausgeben. Leumund. Zum Berufsbild des Politi- zu werden, könnte was aus ihr wer- 284 NOVEMBER 1999 den. Es fehlt die Ausbildung zur Dop- BELTZ: Wovor sollte er sich denn pelmoral von Kindesbeinen an. fürchten? Er hat ja nicht mal ein Un- SPIEGEL: Da könnte doch Oskar La- rechtsbewusstsein. fontaine ein Vorbild sein: Links schlägt SPIEGEL: In jedem von uns lauert ein das Herz, rechts geht die Hand auf. cleverer Glogo? BELTZ: Sie meinen das sympathische BELTZ: Natürlich, diese Vorteilswirt- Gefeilsche um sein Buchhonorar? Das schaft nistet doch überall in der Ge- sind gesunde Ansätze für ein neues sellschaft, auch im Alltag der kleinen Denken.Aber vergessen Sie nicht: Der Leute. Der Taxifahrer fragt, welches Mann ist gescheitert. Datum er auf die Rechnung setzen SPIEGEL: Sind die Politiker ihren soll. Im Restaurant hieß es immer: Aufgaben vielleicht schlicht nicht ge- Welchen Betrag darf ich eintragen? wachsen? Der Oberbegriff für dieses Hamster- BELTZ: Das glaube ich nicht. Falsch Verhalten ist für mich „Schnäpp- ist nur die Ausbildung. Eigentlich geht chen“. Jeder will ein Schnäppchen es doch darum, qualifiziertes Personal machen, und die Sozialdemokraten zum Regieren zu kriegen, also so et- sind für mich die obersten Schnäpp- was wie eine politische Elite. Beim chenjäger der Republik. Sie möchten Wort Elite bekommt der Sozial- das Gefühl haben, heute hab ich gut demokrat vor Entsetzen schwitzige eingekauft. Das ist das Aldi-Prinzip. Hände: Um Gottes willen, das ist SPIEGEL: Vielleicht glauben Politiker, politisch nicht korrekt. Also geht man sie hätten sich ein Freibier verdient, die Ochsentour durchs Unterholz der nach dem Motto: Ich schufte mich für Partei und quält sich 20 Jahre lang euch ab, da darf ich mir wohl ein Feld- durch alle Ortsvereinssitzungen. Und schlößchen gönnen. das ist ja wie ein krankhafter Abbau BELTZ: Ja, sicher. Da zeigt sich wieder, von vitalen Zellen. Da wird so viel dass die SPD nicht die Partei des Pro- Mist erzählt – die reinste Folter. Und letariats, sondern des aufstiegsorien- tierten Kleinbürgertums ist. Im Herzen eines echten Sozialdemokra- ten tagt immer ein Orts- verein: Wenn wir schon nicht im Zentrum der Macht und des Kapitals sitzen dürfen, wollen wir wenigstens ein ge- pflegtes Glas Wein trin- ken und was Anständi-

O. BALLHUS/TELEPRESS O. ges essen. Spesen statt Beltz Sozialismus – das ist die konkrete Utopie. wenn sie dann mal in den Land- SPIEGEL: Haben Sie eine Vision für tag kommen, haben diese armseli- bußfertige Genossen? gen Karrieristen schon alle Hoffnun- BELTZ: Sie sollten Marx und Engels gen fahren lassen. Da wird nur noch wiederentdecken, die aufregendsten über die Gewässerabgaben oder die Autoren des 19. Jahrhunderts. kleine Schulreform geredet. Grauen- SPIEGEL: Das ist uns neu. Wir werden haft, da kannst du dir gleich die Ku- es dem Landtagsabgeordneten Glo- gel geben. gowski mitteilen. An welches Kapitel SPIEGEL: Dann schafft jemand den denken Sie? Aufstieg und setzt mit entwaffnender BELTZ: Er könnte in Marx’ „Theorien Chuzpe sein Amt aufs Spiel. Wie ist über den Mehrwert“ eine wunderbare dieser angstfreie Egoismus zu ver- Satire lesen über die Kriminalität als stehen? Kern der kapitalistischen Wirtschaft. Werbeseite

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Werbeseite FOTOS: M. DEVILLE / GAMMA STUDIO X Ruinenfeld in der Oase Baharija, Goldmasken von Mumien, bandagierter Toter Mumien im Massengrab

288 andagierte Leichen, tönerne Sarkophage, kostbarer Schmuck, BMünzen, Mumien mit vergoldeten Masken – unter einem Palmenhain in der ägyptischen Oase Baharija ist ein riesiger Friedhof entdeckt worden. In den von Räubern verschonten Grabkammern werden 10 000 Tote vermutet.

289 und 350 Kilometer südwest- lich der Pyramiden, umgeben Rvon Saharastaub und flirrend heißer Luft, erhebt sich der Palmen- hain von Baharija. Zur Zeit der Pha- raonen wurde hier Dattelwein produ- ziert. Der letzte prominente Besucher, Alexander der Große, sah die abgele- gene Oase 331 v. Chr. auf der Durch- reise. Ausgerechnet in diesem Provinznest, fernab von Memphis, Alexandria und Theben, sind Experten auf einen „Sensationsfund“ (der Archäologe Olaf Kaper) gestoßen: ein Massengrab, sechsmal so groß wie die Felsinsel Helgoland, über 2000 Jahre alt und gefüllt mit Unmengen an prunkvoll verzierten Leichen. Bereits im Jahr 1996 hatte der Esel eines Tempelwächters den Weg in das Mumien-Dorado gewiesen. Beim Ritt war das Tier im Boden einge- brochen. Unter dem Loch schimmer- te ein Grabraum, aus dem der Duft Freigelegtes Gebäude auf dem Friedhof von Baharija, Mumie mit Goldmaske, von Harz aufstieg – dem Konservie- rungsmittel der altägyptischen Bal- samierer. Zunächst blieb der aufregende Fund geheim. Dann, im letzten Frühjahr, rückte der Direktor des Gizeh-Pla- teaus, Zahi Hawass, zu einer ersten Großgrabung an. Ausgerüstet mit Spitzhacken und Mundschutz, drang das Team in vier Gewölbe ein. 105 Mumien, teilweise übereinander ge- stapelt, lagen in den Grüften. „Es war wie in einem Hollywoodfilm“, erzählt Hawass, „zwischen den Stützpfeilern funkelte es von Gold.“ Kein Grabräuber hat die Nekropole jemals betreten. In den unterirdischen Höhlen fanden die Archäologen ein Spielbrett mit Würfeln, kostbare Ohr- stecker, Götterfiguren und Goldmün- zen, darunter eine mit dem Abbild der Kleopatra. Über 7000 Fundstücke ka- men bislang zum Vorschein. Doch das scheint nur der Anfang. Be- rechnungen zufolge erstreckt sich der Friedhof über eine Gesamtfläche von

290 sechs Quadratkilometern. Rund 150 Bodensenken durchziehen den Wüs- tensand. Unter jeder dieser Vertie- fungen befindet sich ein Grabraum. „Es ist wirklich unglaublich“, so Ha- wass, „auf dem gesamten Areal könn- ten rund 10000 Mumien liegen.“ Solche Ankündigungen hat die An- tikenzunft in Aufregung versetzt. Baharija stammt aus der Spätzeit Ägyptens. Um 330 v.Chr. nahmen die Weinbauern der Oase ihren Friedhof in Betrieb. Die letzten Gräber stam- men aus dem 4. nachchristlichen Jahr- hundert, als der Mumienkult unter dem Einfluss des Christentums jäh verboten wurde. Bis zum bitteren Ende, so zeigt sich nun, hielt der Nilbürger auf Etikette. 60 der Oasen-Mumien tragen ver- goldete Masken und Brustplatten. Die Körper, rechts und links mit Schilfrohr versteift, sind mit Leinen umwickelt und mit Gips verschmiert. Grabraum einer Familiengruft Manchmal bildeten auch ausgediente schakalköpfige Totengott Anubis, in dessen Namen die Nil-Priester 3000 Jahre lang ihr Ewigkeitsritual voll- zogen. Neben der prunkvollen Staffage re- gistrieren die Forscher zugleich Zei- chen des Verfalls. Keine der Mumien ist nach altem Brauch gen Osten aus- gerichtet. Auch bei der Konservie- rungstechnik schluderten die Bestat- ter. Die – schnell faulenden – Einge- weide beließen sie einfach in den Verstorbenen. Im Alten Reich standen für Niere, Lunge, Leber und Darm extra „Gefäße“ bereit, die Kanopen. Dennoch bietet Baharija ungeheure wissenschaftliche Erkenntnisse. Ge- Einstieg in eine Katakombe in Baharija nerationen von Menschen, beerdigt über sieben Jahrhunderte, liegen in Papyrusrollen die Basis für den Gips- den Familiengrüften. Genetiker und stuck. „Diese Toten wurden gleich- Parasitologen brennen nun darauf, das sam in alte Zeitungen gewickelt“ (so Material für eine Art medizinische die Hamburger Ägyptologin Renate Reihenuntersuchung auszuwerten. Germer). Eine Mumie wurde bereits im Labor Doch es finden sich auch klobige Ton- des Kairoer Museums mit Röntgen- sarkophage in den Nischen. Solch be- strahlen durchleuchtet. malte Großgefäße kannte man bislang nur aus dem Mittleren Reich (2040 bis uch die Tourismusmanager in 1640 v. Chr.). Die schlichteste Mu- AKairo freuen sich über den neuen Verzierte Totenmaske mienvariante – Typ Boris Karloff – war Stern am Himmel der ägyptischen den armen Leuten vorbehalten. Sie Altertümer. Zügig bauen sie die ab- zogen, nur mit harzgetränkten Ban- gelegene Wüstenstätte zum Touristen- dagen umwickelt, schmucklos in die mekka um. Im November wurden Ewigkeit. in der Oase eine Reihe von Prunk- Besucher wie die australische Bot- gräbern und Ruinen geöffnet, die schafterin Victoria Owen, die die ab- bislang nur mit Sondergenehmigun- geschirmte Zone betreten durften, gen zu betreten waren, darunter auch zeigten sich überwältigt von der „Ma- der 332 v. Chr. erbaute „Alexander- gie und dem Geheimnis“ der Bestat- Tempel“. teten. Fast schaudernd erinnert sich Hauptattraktion aber bleiben die Mark Linz, Direktor der amerikani- frisch geborgenen Leichname aus dem Bemalte Brustplatte schen Universität in Kairo, an seinen „Tal der Mumien“. Fünf der schönsten Trip nach Baharija: „Die Mumien Exemplare hat Hawass in den Nach- schauten mich an, als würden sie barort Bawiti ausgelagert und Anfang leben.“ November einer staunenden Öffent- Die meisten Goldmasken haben ein lichkeit präsentiert. Lächeln im Gesicht, ihre Augen und An die noch ungeöffneten Katakom- Brauen sind kunstvoll mit Tusche auf ben lässt der Chef dagegen niemanden den Golduntergrund gezeichnet. Be- heran. Wächter schirmen den Gra- sondere Mühe gaben sich die Priester bungsplatz ab. Baharija sei immer ein bei der Bemalung der Brustplatten, „sehr stiller Ort“ gewesen, meint Ha- auf denen kleine Götterszenen dar- wass, „Touristen dürfen die Ruhe der gestellt sind. Unter den abgebildeten Toten nicht stören“. Brustimitat einer Mumie Figuren findet sich immer wieder der MATTHIAS SCHULZ

292 Werbeseite

Werbeseite NOVEMBER 1999 Frust zum Fest

Jubiläumsparty in Berlin – Vor zehn Jahren fiel die Mauer

ie Deutschen besinnen und erin- unterm Regenschirm. Kanzler Schrö- Dnern sich: Am 9. November 1989, der spricht getragene Worte. Aber erst vor zehn Jahren, wurde die Berliner als der ewige Pubertätsrocker Udo Lin- Mauer geöffnet. Das Jahrhundert- denberg seine Hymne „Crazyman“ an- Ereignis wird mit allerlei Pomp und stimmt, kommt Frohsinn auf unter Rhetorik gefeiert, doch die Stimmung nostalgischen Mauer-Spechten. ist eher trüb. Das Fernsehen klaubt Superstars des Jubiläums sind drei eme- noch einmal historische Bilder aus den ritierte Staatsmänner: der Texaner Archiven – von verdatterten Grenzpoli- George Bush, der Russe Michail Gor- zisten und den freudetrunkenen Ost- batschow und – noch unbelastet von Berlinern, die nach Westen marschie- den Schatten schwarzer Spendenkon- ren. Die volkseigenen TV-Talkrunden ten – ein seliger Helmut Kohl. „Wohl der Privaten erörtern missgelaunt ein- selten in ihrem Leben“, notiert die schlägige Themen: „Wessis rechnen ab „Berliner Zeitung“, seien die alten Her- – ihr Ossis taugt doch nichts“. ren „so applausgestreichelt und gefeiert Beim großen Mauer-Memorial am Bran- zu Bett“ gegangen wie an diesem denburger Tor frösteln Zehntausende 9. November 1999.

Mauer vor dem Brandenburger Tor 1989, Volksfest am 9. November 1999 PICTURES (U.) / KATZ STODDART T. FOTOARCHIV, MAERCKE / G.A.F.F. Y.

294 295 NOVEMBER 1999

Rätselhaftes Alphabet „Meilenstein“ bei der Erforschung des menschlichen Erbguts

or rund einem Jahrzehnt hatten Bio- Jahre früher als beim Beginn der Forschungs- Wissenschaftler aus aller Welt das gi- arbeiten 1990 geplant. Vgantische Gemeinschaftsunternehmen Freilich, auch wenn die gesamte Abfolge der gestartet. Nun, einen Monat vor Beginn des vier in einer schier endlosen Kette aneinander neuen Millenniums, meldet eine der beteilig- gereihter Grundbausteine (Adenin, Guanin, ten Arbeitsgruppen, den ersten „Meilenstein“ Cytosin und Thymin) des menschlichen Ge- bei der Entzifferung des gesamten mensch- noms demnächst aufgeklärt sein sollte, wird lichen Erbmaterials erreicht zu haben: Mit der es noch Jahre dauern, bis die Bedeutung auch Unterstützung amerikanischer, japanischer nur der wichtigsten Passagen dieser Sequenz und schwedischer Kollegen hatten Ian Dun- entschlüsselt ist. ham und seine Mitarbeiter am Sanger Centre Auf dem Chromosom 22 beispielsweise liegt in der britischen Universitätsstadt Cambridge nach Ansicht des Wissenschaftlers Dunham die genetische Buchstabenfolge eine große Reihe von Genen, die für das Chromosom 22 der bei mindestens 35 verschiedenen menschlichen Zellen zu 97 Pro- Krankheiten wie angeborenen zent entschlüsselt. 32 Megabytes, Herzleiden, Schizophrenie oder rund 8200 Druckseiten, nur ge- bei einer bestimmten Leukämie- füllt mit den vier Buchstaben form eine wichtige Rolle spielen. „A“,„G“, „C“ und „T“ des Erb- Doch wie viele konkrete Bau- gut-Codes, umfasste die Ver- anweisungen in Form von Genen öffentlichung der Forschungser- (aus jeweils hunderttausenden gebnisse im Internet. Buchstaben) sich auf Chromo- Chromosom 22 ist dabei nur das som 22 befinden, vermag auch

zweitkleinste unter insgesamt 23 (r.) LIBRARY PHOTO WILLATT/SCIENCE DPA,L. Dechiffrierer Ian Dunham noch Gen-Paketpaaren im Zellkern Biochemiker Dunham nicht zu sagen. Er schätzt sie auf und enthält schätzungsweise etwa 1000. zwischen 1,6 und 1,8 Prozent der etwa 3,5 „Eine Reihe von Jahren“, so Dunham, werde Milliarden Grundbausteine („Basenpaare“) es sicher noch dauern, bis die entschlüsselte des menschlichen Bauplans. Aber für die Be- Buchstabenfolge auch zu neuen Behand- teiligten an dem drei Milliarden Dollar teu- lungsformen menschlicher Krankheiten ren „Human Genome Project“ ist damit „das führen werde. Ähnlich äußert sich auch der erste komplette Kapitel im Lehrbuch vom deutsche Genforscher Jens Reich vom Berli- Menschen“ lesbar geworden. ner Max-Delbrück-Centrum. Erst in einer Zudem hoffen die Molekularbiologen, nicht „zweiten Runde“, so Reich, müsse erforscht zuletzt durch die fortschreitende Automati- werden, welche Funktion einzelne Erbgut- sierung bei den Dechiffrierarbeiten, schon im abschnitte erfüllen. Das werde vermutlich nächsten Jahr eine grobe Sequenz des ge- länger dauern als das Dechiffrieren. samten Erbguts vorlegen zu können – fünf ROLF S. MÜLLER 296 Chromosomensatz des Menschen, Buchstabencode des Chromosoms 22 MELDUNGEN

1. November rerin. Von seiner Mordabsicht hatte er vor der Tat Mitschü- lern erzählt. Am selben Abend schlägt ein 38 Jahre alter Mord und Totschlag Mann im hessischen Nidderau mit einer Axt auf drei Pas- santen ein und verwundet sie zum Teil schwer. Einen Tag dar- auf tötet ein 34-jähriger türkischer Religionslehrer in Biele- feld mit Pistolenschüssen eine 19-jährige Türkin und sechs Verwandte der jungen Frau. Der verheiratete Täter hatte die Türkin als Zweitfrau begehrt, war aber von seiner Angebete- ten und deren Eltern abgewiesen worden. Von der Polizei gestellt, erschießt sich der furchtbare Freier in seinem Wohn- ort Tübingen. Noch rechtzeitig aufgedeckt werden die mör- derischen Pläne von drei 14-jährigen Jungen in Niederbayern. Das Trio wollte die Klassenlehrerin und die Schulrektorin umbringen. DPA Tatwaffen des Bad Reichenhaller Amokschützen

it einem Amoklauf an Allerheiligen in Bad Reichenhall Mbeginnt eine Serie Aufsehen erregender Bluttaten in deut- schen Landen, durch die insgesamt 14 Menschen getötet und weitere schwer verletzt werden. Während des Amoklaufs in dem oberbayerischen Kurort erschießt ein 16-jähriger Lehr- ling mit Gewehren und einem Revolver seines Vaters drei Passanten sowie seine Schwester und richtet sich anschließend selbst. Weitere Opfer des Amokschützen – unter ihnen der Schauspieler Günter Lamprecht und dessen Lebensgefährtin – überleben mit schweren Verletzungen. Acht Tage später er-

sticht ein maskierter 15-jähriger Schüler vor den Augen seiner AP Klassenkameraden in einem Meißener Gymnasium eine Leh- Amokopfer in Bad Reichenhall

2. November 14. November Super-Minister stürzt Machtkampf um Mannesmann as Kabinett des sozialistischen Pre- it einem Besuch von Chris Gent, dem Chef des britisch-amerikanischen Mobil- Dmierministers Lionel Jospin verliert Mfunk-Riesen Vodafone Airtouch, beim Vorstandsvorsitzenden des Düsseldorfer sein angesehenstes Mitglied. Dominique Mannesmann-Konzerns, Klaus Esser, startet die größte Übernahme-Schlacht der Strauss-Kahn, Frankreichs Wirtschafts- Industriegeschichte. Gent eröffnet Esser, dass seine Firma das deutsche Unternehmen und Finanzminister, tritt zurück, mittels Tausch von Mannesmann- in Vodafone-Aktien im Wert von etwa 200 Milliar- weil er in Verdacht geraten ist, als An- den Mark schlucken wolle. Der Mannesmann-Chef lehnt die Offerte als zu mickrig walt Scheinhonorar von der nationalen ab. Außerdem habe sein Unternehmen, so behauptet Esser, die bessere Strategie, um studentischen Krankenkasse kassiert auf den rasch expandierenden Telekommunikationsmärkten erfolgreich sein zu kön- und versucht zu haben, die Rechtmäßig- nen. Der Deutsche will Festnetz- und Handy-Geschäft zugleich ausbauen, der Brite keit des Geldbezugs mit gefälschten dagegen konzentriert sich auf den Mobilfunk, in dem er seine Position als weltgrößter Papieren nachzuweisen. Strauss-Kahn Betreiber ausbauen möchte. Als Gent kurz darauf sein Angebot um rund 40 Milliar- bestreitet die Vorwürfe. Amtsnachfolger den Mark aufstockt, weist Esser auch das zurück. Letztlich werden aber allein die wird Staatssekretär Christian Sautter. Aktionäre von Mannesmann über den geplanten Tauschhandel zu entscheiden haben.

8. November Krenz muss sitzen m Tag vor dem Zehn-Jahres-Jubiläum Ader Maueröffnung steht fest, dass der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon Krenz, sowie dessen frühere Polit- büro-Kollegen Günther Kleiber und Günter Schabowski als Mitverantwort- liche für die Todesschüsse an Mauer und Grenzzaun ins Gefängnis müssen. Der Bundesgerichtshof bestätigt das Ur- teil der Vorinstanz, die 1997 sechsein- halb Jahre Haft gegen Krenz und je drei Jahre Haft gegen Kleiber und Scha- B. CORR / FINANCIAL TIMESS bowski wegen Totschlags verhängte. Vodafone-Chef Gent 298 MELDUNGEN

15. November Holzmann-Drama chmierentheater beim Baukonzern SPhilipp Holzmann: Noch im August hatte das Unternehmen für 1999 einen Gewinn prophezeit – den ersten nach vier Verlustjahren. Und auf einer Jubi- läumsfeier Ende Oktober mimte eine Schauspieltruppe den Aufbruch in bessere Zeiten. Doch nun verkündet der Vorstand, dass Milliardenverluste aus Altgeschäften drohen, Holzmann daher überschuldet sei. Als sich die Banken, darunter als Hauptgläubigerin die Deut- sche Bank, nicht auf Finanzhilfen eini- gen können, stellt die Firma Insolvenz- antrag. Doch dann hat Bundeskanzler Gerhard Schröder einen großen Auftritt. Mit 250 Millionen Mark Bundeshilfe er- reicht er, dass auch die Banken genü- gend Geld lockermachen. Holzmann ist

– vorerst – gerettet. Vorstandschef Hein- DPA rich Binder aber muss zurücktreten. Demonstrierende Holzmann-Mitarbeiter

19. November 26. November Dopingmittel in der Zahnpasta Verhängnisvoller Kurs rotz neuester elektronischer Naviga- Ttionstechnik an Bord kommt die erst kürzlich in Dienst gestellte norwegische Personen-Schnellfähre „Sleipner“ auf ihrer Fahrt von Stavanger nach Bergen in der Dunkelheit etwa einen halben Kilometer vom Kurs ab und prallt nahe Haugesund gegen einen Schärenfelsen. Obwohl der leckgeschlagene Katamaran erst eine Dreiviertelstunde nach der Kol- lision sinkt, bereitet die Besatzung keine Evakuierung der Passagiere vor. Die müssen sich schließlich, um nicht in die Tiefe gerissen zu werden, von Bord in die zwei bis drei Meter hohen Wogen stürzen. Herbeieilende Rettungsschiffe können 70 Fahrgäste und Besatzungs- mitglieder lebend aus dem kalten Was- ser bergen. 16 Menschen ertrinken. PRESSEFOTO BAUMANN PRESSEFOTO Olympiasieger Baumann (1992)

in Dopingskandal ohnegleichen erschüttert die Sportwelt. Im Urin des Langstreck- Elers Dieter Baumann haben Dopingkontrolleure weit überhöhte Werte von Ab- bauprodukten des Anabolikums Nandrolon gefunden. Ist ausgerechnet Deutschlands Vorzeige-Leichtathlet, der engagiert wie kaum ein anderer Sportler gegen das Do- ping-Unwesen gekämpft hat, nur ein besonders heuchlerischer Schummler? Eides- stattlich versichert der Olympiasieger von 1992 zwar, wissentlich nie verbotene Sub- stanzen verwendet zu haben. Aber das klingt nach der Standardausrede erwischter Dopingsünder, nach der ihnen stets andere die Mittel ins Getränk oder ins Essen geschmuggelt haben müssen. Bei weiteren Untersuchungen, um die Baumann selbst bittet, stellen Kölner Dopinganalytiker fest, dass der Inhalt einer Zahnpastatube des

Athleten kontaminiert ist. Zähneputzen mit dieser Paste führt zu hohen Nandrolon- DPA Werten. Baumann stellt daraufhin Strafanzeige gegen Unbekannt. Katamaran-Fähre „Sleipner“ 299 Die Form ihres Protests gegen den Raubbau an der Natur ist einsame Spitze: Zwei Jahre hat Julia Hill in 60 Meter Höhe auf einem Mammut- Baum gewohnt. Y. GAMBUM / PARIS MATCH GAMBUM / PARIS Y. FRENTZ / ULLSTEIN DEZEMBER Im Netz des Schwarzen Riesen

elmut Kohl, Idol und Personifikation der CDU wie seit Adenauer kein Christdemokrat, Erfinder Hder „geistig-moralischen Wende“ und Heros der deutschen Einigung, unterhielt nach eigenem Einge- ständnis ein ganzes Netz schwarzer Kassen, war somit ein Gesetzesbrecher. Nach drei Wochen immer neuer Enthüllungen über die Geldsümpfe des „Systems Kohl“ ging es für die gerade wieder erstarkte Volkspartei CDU nur noch um die eine Frage: Wie rabiat kann, darf oder muss sie sich von ihrem Ehrenvorsitzenden absetzen, um dessen moralischen Untergang politisch zu überleben? Altbundeskanzler Kohl auf dem Weg zur 300 Auch im 54. Jahr nach Lachen ist für das dem Ende der Nazi- Wohlbefinden so Herrschaft warten wichtig wie das Hin- noch rund eine Mil- terteil zum Sitzen – lion Zwangsarbeiter so lautet Sir Peter auf Entschädigung. Ustinovs Empfehlung Monatelang ringen zur Millenniums- Unterhändler um wende, die er selbst eine Lösung. nicht so ernst nimmt. T. GRABKA / ACTION PRESS GRABKA / ACTION T. R. PFEIL / AP Sondersitzung des CDU-Präsidiums in Berlin 301 DEZEMBER 1999

ie haben sich in ihrem All- machtswahn übernommen und San ihrer Geldgier überfressen. Sie benehmen sich, als seien sie der Volkssouverän oder zumindest ein Teil des Staates – was die deutschen Par- teien laut Grundgesetz aber unbe- streitbar nicht sind. Republikanische Bescheidenheit war ihre Sache nie. Nur auf dem Hintergrund dieser fast schon institutionalisierten Anmaßung konnte das Machtsystem des CDU- Chefs Helmut Kohl jahrzehntelang ungestraft gedeihen – bis es 1999 zur Tragödie reifte. Der Koloss, der am 30. November um die Mittagszeit zunächst dem Partei- präsidium und dann den Medien ge- stand, dass er eine von den offiziel- len Parteifinanzen getrennte Konten- führung, zu deutsch „schwarze Kas- sen“, unterhielt, war ein – wenn auch immer noch imposantes – Häufchen Elend. Ungezählte Male hatte er den politi- schen Gegnern voller Empörung ihre Fehler vorgehalten. Nun aber musste er öffentlich beichten; er, der Un- durchsichtigkeit zum Herrschaftsmit- tel erhoben hatte und sich in dem Ruhm sonnen wollte, länger regiert zu haben als Bismarck und Adenauer. Indes: Kohls Geständnis war nieder- schmetternd, weil es seltsame Rechts- auffassungen offenbarte. Eine „von den üblichen Konten der Bundes- schatzmeisterei praktizierte getrennte Kontenführung“ erschien ihm „ver- tretbar“. Wieso eigentlich, da solche Kohl auf der Pressekonferenz nach der Sondersitzung des Unionspräsidiums Art Kontenführung nach dem Partei- engesetz illegal ist? Weil doch, laut Beichtkind Kohl, „in meinem gesam- lendem Unrechtsbewusstsein schon sion … von meiner Partei abzuwen- ten politischen Leben persönliches des „Schwarzen Riesen“ (so Kohls den gilt“, ist längst eingetreten. Vertrauen wichtiger als rein formale Spitzname aus seiner Aufstiegszeit), Die CDU steht bereits jetzt, bevor sich Überprüfungen war und ist“. Geset- denn die Partei steht für ihn über dem der Untersuchungsausschuss des Bun- zesnormen sind demnach für ihn et- Gesetz. destages durch die Akten ackern wird, was „rein Formales“. Furchtbar war nicht nur der Blick als die Partei der schwarzen Kassen Und dann hat er die langjährig prak- auf seine politische Psychostruktur, da und der geheimen Konten, des tizierten Gesetzesverstöße natürlich den Kohl damit für jedermann frei- Schmierens willfähriger Anhänger, „nicht gewollt, ich wollte meiner Par- gab: „Der Schaden, den es angesichts etwa auf Parteitagen, und des Stramm- tei dienen“. Ein klarer Fall von feh- der gegenwärtig öffentlichen Diskus- stehens gehorsamer Begünstigter, eben 302 von Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Untreue gegen den Pa- ten und die Seilschaft seiner Mittäter war die Rede. Die Demontage des Denkmals Kohl könnte sich für die Partei aber kei- neswegs rentieren. Eher wird sich im Untersuchungsausschuss heraus- schälen, dass sich Amt, Wissen und Geld in der CDU – wenn auch nicht nur in ihr – zu einer Geschwulst ver- dichtet haben, die dem Gebot partei- interner Demokratie Hohn spricht – und mitunter auch Recht und Gesetz. Berühmtestes Beispiel war bis zur Kohl-Konten-Affäre der Fall Flick. Beim Verkauf von 29 Prozent seiner Daimler-Benz-Anteile an die Deut- sche Bank für rund 1,9 Milliarden Mark hatte Flick 1975 nicht einen Pfennig Steuern zu zahlen. Denn die Transaktion war nach Absprache zwi- schen Wirtschafts- und Finanzminis- terium als „volkswirtschaftlich be- sonders förderungswürdig“ eingestuft worden. Die Beschuldigung der Staatsanwalt- schaft, dass der entsprechende Be- scheid durch eine Flick-Zuwendung von 375000 Mark für den damaligen Wirtschaftsminister Hans Friderichs und 135 000 Mark für den Wirt- schaftssprecher der FDP und Fride- richs-Nachfolger Otto Graf Lambs- dorff stimuliert worden sei, ließ sich nicht beweisen. Aber „der erhebliche Verdacht“ blieb laut Bonner Landge-

F. BENSCH / REUTERS F. richt bestehen, dass Flick den beiden die Gratifikation „tatsächlich hat zu- kommen lassen“. Weitere, etwa gleichzeitig enthüllte als die Partei, die dem Zauber des sitzenden zu reduzieren und ein poli- Parteispenden-Skandale zeigten, dass „Bimbes“ (so Kohls Mundartwort für tisches Debakel abzuwenden. alle damaligen Bundestagsparteien Geld) erlegen ist. Wenn aber kein Generalsekretär, kein hunderte von Spendenmillionen per Kohl zur Übernahme der Alleinver- Schatzmeister, kein Landesvorsitzen- Geldwaschanlagen von Vaduz bis antwortung für seine schwarzen Kas- der und natürlich auch nicht der Erbe Miami in ihre Kassen schleusten – ein sen zu zwingen mag seinem Nachfol- Schäuble nach Herkunft, Umfang oder gigantisches System der Steuerhinter- ger Wolfgang Schäuble und dessen Zweck der im Geheimen ausgeteilten ziehung, bei dem offenbar keiner der Generalsekretärin Angela Merkel als Wohltaten gefragt hat, dann doch Beteiligten Bedenken hatte. einziger Ausweg erschienen sein, das wohl aus Bewunderung für das famo- Rund 1860 Verfahren wurden einge- moralische Debakel auf ihren Ex-Vor- se Herrschaftssystem Kohls. Selbst leitet. Die Kassenwarte von SPD, 303 DEZEMBER 1999

Alfred Nau, und FDP, Heinz Herbert Kohl, der langjährige Kanzler und Ei- liche Parteienfinanzierung – gerade Karry, bewahrte nur vorzeitiger Tod niger Deutschlands, sei über jeden von 230 auf 245 Millionen Mark ange- vor gerichtlichen Folgen. „Ein regel- Verdacht erhaben, die politische Ent- hoben – erwiesen sich als unwirksam. rechter Bargeld-Porno“ schrieb Hein- scheidung für den „Fuchs“-Verkauf Seit 1994 ist die steuerliche Begünsti- rich Böll, „Die gekaufte Republik“ ti- an die Saudis sei ihm durch die Koffer- gung von Firmenspenden für Parteien telte der SPIEGEL. Million erleichtert worden, oder gar er nicht mehr erlaubt, für Einzelperso- Aber der damalige Porno war noch selbst habe sich bereichert (was nie- nen auf 6000 Mark begrenzt. Und der soft im Vergleich zu jenem, auf den die mand behauptet hatte), betonen seit- Rechenschaftsbericht jeder Partei Staatsanwaltschaft Augsburg stieß, als her alle CDU-Granden unisono. muss „eine lückenlose Aufstellung al- sie Mitte der neunziger Jahre begann, Doch solche Gelöbnisse werden längst ler Zuwendungen je Zuwender mit gegen den im Waffenhandel aktiven so wenig zum Nennwert genommen Namen und Anschrift“ enthalten. Unternehmer Karlheinz Schreiber zu wie das angebliche Nichtwissen des Aber: Das letzte „Anderkonto“ der ermitteln. Der Verdacht in der inzwi- damaligen Generalsekretärs Volker CDU wurde laut Parteichef Schäuble schen 4000 Seiten starken Ermitt- Rühe über die Existenz der schwarzen erst im Dezember 1998 geschlossen. lungsakte: Schreiber habe Anfang der Kassen. Denn am 26. November hat- neunziger Jahre saudi-arabische „Pro- te ein veritabler Verräter die Szene uf jedem dieser Konten lagerte visionen“ in Höhe von 220 Millionen betreten: Rühe-Vorgänger Heiner Avermutlich Spendengeld, dessen Mark unter deutsche Manager und Po- Geißler, langjähriger Kohl-Verfolgter, Geber und Nehmer gegen diese Be- litiker verteilt, um den Verkauf von stimmungen verstießen, sonst hätte 36 Radpanzern „Fuchs“ der Firma man eine solche Kontenlandschaft Thyssen Henschel an Saudi-Arabien nicht gebraucht.Aber dann hätte Kohl zu fingern. sein neofeudalistisches System auch Zur gleichen Zeit, im August 1991, nicht so gekonnt ölen können. kam es zu einem finsteren, konspira- Jetzt, da der CDU Rückzahlungen tiv anmutenden Treff: Auf einem Park- drohen, die sie an den Rand des Ruins platz im schweizerischen St. Mar- bringen könnten, mag manchem Mit- grethen übergab Schreiber dem Wirt- glied dämmern, dass man dem System schaftsprüfer und CDU-Kontenführer des „Giganten“ Kohl nicht nur die Horst Weyrauch einen Koffer mit ei- wunderbare 16-jährige Regentschaft ner Million Mark in Tausendmark- über Deutschland zu verdanken hat, scheinen – in Gegenwart des damali- sondern auch den Verlust derselben gen CDU-Schatzmeisters Walther in der Bundestagswahl von 1998.

Leisler Kiep. DPA Die Parteien seien „machtversessen“ Der „nadelgestreifte“ Gentleman Ex-CDU-Schatzmeister Kiep und „machtvergessen“, hatte Richard Kiep unter solch mafiamäßigen Um- von Weizsäcker ihnen 1992 noch als ständen musste an sich schon scho- gab die Existenz der parallelen Konten amtierender Bundespräsident ins Ge- ckieren. Noch befremdlicher aber war, öffentlich zu Protokoll. wissen geredet: „machtversessen auf dass Zweck und Verbleib der Million Seither ist die Volkspartei CDU, bis den Wahlsieg und machtvergessen bei seither im Dunst verschwimmen und dahin dank unverhoffter Siege in 15 der Wahrnehmung der … politischen außerdem unter den Beteiligten um- Wahlen voll prallem Selbstbewusst- Führungsaufgabe“. Politiker pflegen stritten sind, und nach dem großzügi- sein, von Panik gezeichnet. So nah am solche Kritik, sogar aus solchem Mun- gen Spender will gar niemand gefragt Abgrund sah sich in der gesamten Ge- de, regelmäßig als Stammtischgejam- haben. schichte der Bundesrepublik Deutsch- mer abzutun, allenfalls geloben sie land noch keine der großen Parteien – Besserung, besonders inbrünstig taten aut Schreiber war die Spende der eine kleine Götterdämmerung. sie dies nach dem Flick-Skandal. LCDU zugedacht, nur taucht sie im Ralf Dahrendorf hatte schon früh den Was den „Bimbes“ angeht, haben der CDU-Rechenschaftsbericht für das wachsenden Kohäsionsverlust zwi- SPD-Mann Helmut Schmidt und der Jahr 1991 nicht auf, was sie nach dem schen Staat, Bürgern und Parteien ge- CDU-Mann Heiner Geißler inzwischen Parteiengesetz müsste. Also hat Wey- ortet, und der Politologe Wilhelm Hen- Radikales vorgeschlagen: ein Verbot rauch sie wohl einem jener Sonder- nis eine von Ämtern auf Personen um- von Firmenspenden, gar jeglicher oder Anderkonten überwiesen, die er gestellte, radikal personifizierte Herr- Spenden an die Parteien. Nur dann für die Partei unterhielt: Zufluss in ei- schaftsweise der Parteien beklagt. Ge- könnte sich – wahrscheinlich – auch nen offenbar illegalen Geldkreislauf, nau das kennzeichnet das System ein noch so schwarzer Riese schwar- aus dem Kohl seine Anbeter alimen- Kohl: Alle Barrieren wie das relativ zer Konten nicht mehr bedienen. tierte. scharfe Parteiengesetz oder die staat- DIETER WILD 304 W. FRENTZ / ULLSTEIN BILDERDIENST Zwangsarbeiter im KZ Mittelbau-Dora (1944), antideutsche Anzeigen in US-Zeitungen Schinders Liste Der quälende Streit um späte Entschädigungen für NS-Zwangsarbeiter

ie Zeitungsanzeigen fielen ge- zielt provokativ aus. „Design. DLeistung. Sklavenarbeit.“ prang- te in weißen Lettern auf schwarzem Grund unter dem dreizackigen Stern samt Firmenlogo Mercedes-Benz. „Menschenversuche und Sklavenar- beit“ stand unter einem Fläsch- chen mit Aspirintabletten – mit der Diagnose „Bayers größter Kopf- schmerz“, dazu ein Porträt des KZ- Arztes Mengele. Anfang Oktober starteten die US-An- wälte ehemaliger Zwangsarbeiter, die zwischen 1939 und 1945 von deut- schen Firmen unter barbarischen Be- dingungen ausgebeutet worden wa- ren, eine spektakuläre Pressekam- pagne. Negative Schlagzeilen in den USA über die NS-Vergangenheit sind

M. RILEY/REUTERS so ziemlich das Letzte, was deutsche M. RILEY/REUTERS 305 Konzerne wie Bayer und Daimler- Chrysler schätzen. Kein Zufall, dass die Anzeigen in Zeitungen wie der „New York Times“ Wirkung zeitigten. Unter Hitlers Herrschaft hatten deut- sche Firmen rund zehn Millionen KZ- Häftlinge und Kriegsgefangene, vor allem aber Fremdarbeiter aus besetz- ten Ländern als Arbeitssklaven einge- setzt. In Rüstungsbetrieben erreichte ihr Anteil 40 Prozent. Auf jedem grö- ßeren Bauernhof im Reich rackerten sie als Knechte.

ohn bekamen die Zwangsarbeiter Laus über 20 Ländern selten. Meist erhielten sie trostlose Unterkunft und minimale Verpflegung. Andere profi- tierten von ihnen: Für KZ-Häftlinge erhielt die SS von den Firmen vier bis sechs Reichsmark pro Tag. Das Pro- gramm lief seit 1942 unter dem Goeb- bels-Motto „Vernichtung durch Ar- beit“. Auf neun Monate kalkulierte die SS die verbleibende Lebensdauer ihrer Leih-Häftlinge. Hunderttausende schufteten sich für Hitlers Kriegsmaschine zu Tode. Mil- lionen „Displaced Persons“, wie sie in der Alliiertensprache der Nach- kriegszeit hießen, kehrten nach 1945, gezeichnet an Leib und Seele, heim. Dort wurden viele noch einmal als „Kollaborateure“ schikaniert. Eine Entschädigung der Opfer blieb Deutschland schuldig. Dabei war das „Sklavenarbeiterprogramm“ einer der vier Hauptanklagepunkte bei den Nürnberger Prozessen. Er führte zur Verurteilung etwa von Albert Speer oder Friedrich Flick. Doch der Kalte Krieg setzte andere Prioritäten. Die Westmächte hatten kein Interesse daran, dass die Deutschen den kom- munistischen Ostblock, aus dessen Ge- biet einst die meisten Zwangsarbeiter verschleppt worden waren, mit Mil- liardenzahlungen alimentierten. Mit Israel und der Jewish Claims Confe- rence handelte die deutsche Regie- rung summarische Entschädigungs- verträge aus, nicht aber dezidiert für Zwangsarbeiter. Auch zwölf west- europäische Staaten erhielten knapp eine Milliarde Mark für ihre NS-Ver- DEZEMBER 1999 folgten. Alle weiteren Forderungen sprüche kamen jedoch auf Umwegen den Mark boten die Deutschen. Als stellte das Londoner Schuldenabkom- wieder auf die Tagesordnung. Hombach weggelobt wurde, über- men von 1953 bis zu einem Friedens- Die erfolgreiche Kampagne gegen nahm Freidemokrat Otto Graf Lambs- vertrag zurück – zu dem es nie kam. Schweizer Banken, die sich an Nazi- dorff dessen Part. Lambsdorff ver- Unter Hinweis darauf, aber auch als Raubgold und herrenlosen Konten jü- suchte, noch mehr Unternehmen zum „Beitrag zur Entwicklung einer discher Opfer bereichert hatten, er- Beitritt in den Fonds zu bewegen, zu- blühenden Völkergemeinschaft“ (so mutigte ehemalige Zwangsarbeiter, mal die Anzeigenkampagne im Ok- lautete das erklärte Ziel des Londoner Anwälte und osteuropäische Regie- tober, wie US-Anwälte drohten, nur Vertrages) wurden fortan Ansprüche rungen, ihr Anliegen erneut vorzutra- ein Anfang sei. Es könne, wie im Fall abgeschmettert. Deutschland, so die gen – mit neuer Taktik. 1,25 Milliarden der Schweizer Banken, zu Boykott- zynische Argumentation, könne nicht Dollar hatten die eidgenössischen Ban- Aufrufen kommen. blühen, wenn es derart geschröpft ken nach Boykott-Drohungen in einen Kalifornien hat ein Gesetz beschlos- würde. Auch sei, bogen bundesrepu- Entschädigungsfonds eingebracht. sen, wonach die Verjährungsfrist für blikanische Behörden und Gerichte Die US-Anwälte drohten nun mit Zwangsarbeiterklagen bis 2010 ver- die Paragrafen zurecht, Zwangsarbeit Sammelklagen gegen deutsche Fir- längert wird; zudem sollen auch Hin- gar kein „NS-typisches Un- terbliebene klageberechtigt recht“ gewesen, allenfalls ein sein. Dadurch entfällt eine kriegsbedingtes. „biologische Lösung“, auf Lediglich die Jewish Claims die manche Firmen gehofft Conference erwirkte mit po- haben mochten. litischem Druck bei Groß- So näherte sich die deutsche unternehmen wie I.G. Far- Seite nach der Runde Mitte ben, Krupp, AEG und Sie- November in Bonn, bei der mens „freiwillige“ Zahlun- ein „letztes“ Angebot von gen. Friedrich Flick, in Nürn- acht Milliarden Mark (drei berg zu sieben Jahren Haft vom Bund, fünf von der In- verurteilt, verweigerte für dustrie) als noch immer un- seine Firma die Unterschrift; zureichend abgelehnt wur- die ausgehandelten Beträge de, zähneknirschend jener

wurden erst viele Jahre spä- DPA Marke, bei der eine Einigung ter vom Nachfolgeunterneh- Unterhändler Lambsdorff, Eizenstat möglich schien: zehn Mil- men ausbezahlt. liarden Mark. Diese Summe Den Polen gewährte Kanzler Schmidt men, die an Sklavenarbeit verdient hatte angeblich US-Präsident Clinton 1975 als kaschierte Wiedergutmachung hatten. Konzerne mit Milliarden-En- schon Kanzler Schröder als Voraus- einen Milliardenkredit sowie weitere gagements in den USA gaben sich setzung dafür genannt, dass den Deut- 1,3 Milliarden Mark zur allgemeinen jetzt einsichtig. Es gebe „eine histo- schen von der Gegenseite „Rechts- Abgeltung von Rentenansprüchen. rische Verantwortung, der wir nicht sicherheit“ zugesagt würde: Die US- Wieweit davon Zwangsarbeiter be- ausweichen können“, fand Mer- Regierung wäre dann zu einer ver- günstigt wurden, ist unbekannt. cedes-Manager Manfred Gentz – bindlichen Erklärung bereit, wonach Erst die deutsche Einheit mit dem nach gut einem halben Jahrhundert. weitere Klagen gegen amerikanisches Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, der Andere Firmen, wie VW oder Sie- Interesse verstießen. juristisch einem Friedensvertrag nahe mens, boten von sich aus „humanitä- Wenn dann am Ende zehn Milliarden kam, bot Gelegenheit zur Wiederauf- re Hilfe“ an – 10 000 Mark für jeden Mark im Fonds aufgelegt würden, er- nahme der Forderungen. Deutschland noch lebenden Zwangsarbeiter. Im hielte jeder überlebende Zwangsar- zahlte nun eine Pauschalsumme von Februar gründeten zwölf Großfirmen beiter – es werden Zahlen zwischen 500 Millionen Mark an Polen sowie eine „Stiftungsinitiative der deut- 800000 und 1,2 Millionen genannt – eine Milliarde an drei Staaten der ehe- schen Wirtschaft“. Im März begannen etwa jene 10000 Mark, die einige Fir- maligen Sowjetunion – an Russland, die Gespräche: auf amerikanischer men schon freiwillig zugestehen. an die Ukraine und an Weißrussland. Seite von Staatssekretär Stuart Ei- Die Stiftung umfasst nun über 60 von Dann aber wollte Kanzler Kohl die zenstat geführt, auf deutscher von insgesamt gut 2000 Firmen, die US- Kasse ein für allemal „nicht mehr auf- Schröders da noch „bestem Mann“ Anwälte als Sklavenhalter benannt machen“, schließlich habe Bonn ins- Bodo Hombach. haben. Eine Schinder-Liste mit 255 gesamt schon weit über hundert Mil- Die Kluft schien unüberbrückbar: Firmen, die dem Fonds nicht direkt liarden Mark für Wiedergutmachung Zweistellige Dollarmilliarden ver- beigetreten sind, steht seit Dezember von NS-Unrecht bezahlt. Die An- langten die Anwälte, einige Milliar- im Internet. SIEGFRIED KOGELFRANZ 307 Jeanne d’Arc der Wälder

Zwei Jahre lang kämpft die Amerikanerin Julia Hill gegen die Holzindustrie – in der Krone eines Mammut-Baums. YANN GAMBLIN/SCOOP/PARIS MATCH GAMBLIN/SCOOP/PARIS YANN

308 309 DEZEMBER 1999 0YANN GAMBLIN / SCOOP / PARIS MATCH GAMBLIN / SCOOP PARIS 0YANN S. WALKER / AP S. WALKER Hill-Unterkunft im Redwood-Baum „Luna“ Hill unterm Regendach

n einem kalten, windigen den Wochen wurden zwei Jahre, so mus, Mut und Ausdauer kämpfte sie Dezembertag des Jahres 1997 lange lebte sie, bei Regen, Schnee gegen die Umweltfrevel jener Holz- Akletterte die junge amerika- und orkanartigen Stürmen, auf ihrem industrie, die „ungestraft unsere nische Naturschützerin Julia Hill in Hochsitz. Seit jenem unwirtlichen Wälder vernichtet“. Jetzt aber will den Wipfel eines gewaltigen Red- 10. Dezember hatte Julia Hill, 25, die sie herabsteigen aus dem Wipfel, Ju- wood-Baumes und ließ sich dort häus- von ihren Öko-Freunden zärtlich lias Feinde sind verhandlungsbereit lich nieder. „Butterfly“ genannt wird, den gigan- (siehe Interview). In lebensgefährlicher Höhe von 60 tischen Redwood im nordkaliforni- Es sind unangenehme Gesellen, die Metern baute sich das tollkühne Girl schen Humboldt County nicht mehr ihr das Leben schwer gemacht hat- eine winzige, notdürftig geschützte verlassen. Ein buchstäblich einsamer ten, brutale Kerle in derben Holzfäl- Zelt-Plattform. Als Toilette benutzte Rekord. lerhemden, die mit kreischenden Ket- sie Eimer und Margarinebecher. Re- Denn Julias wackeliges Baumhaus tensägen die Urwaldriesen abholzen genwasser ersetzte die Dusche. Mit ei- war ein richtiges Widerstandsnest und und mächtige Wut auf jeden haben, nem solarstrombetriebenen Handy die zierliche Aktivistin so etwas wie der ihre gut bezahlten Jobs blockiert. hielt sie Kontakt zur Außenwelt. eine Jeanne d’Arc des kalifornischen Es sind Arbeiter der Firma Pacific Ein paar Wochen wollte sie ursprüng- Urwalds – ein Herz und eine Krone. Lumber, einer Baumfällgesellschaft lich im Wipfel ausharren. Doch aus Mit schier unerschöpflichem Idealis- aus dem Maxxam-Konzern des te- 310 xanischen Industrie-Tycoons Charles zur „Woman of the year“ gewählt. küste weiter: Die Herren von Pacific Hurwitz. Sympathisanten bombardierten US- Lumber traten schließlich ein Red- Zu seinem Reich gehört auch das Präsident Bill Clinton mit Protestno- wood-Areal an den Naturschutz ab. Waldgebiet, auf dem der gewaltige ten, um die Abholzung zu stoppen. Der Staat Kalifornien kaufte für 498 Mammut-Baum steht, den Julia auf Den öffentlichen Druck leitete die Ad- Millionen Dollar ein rund 4000 Hektar den Namen „Luna“ getauft hatte. Die ministration in Washington zur West- großes Waldstück. Riesen sind 2000 Jahre alt, die ältesten und höchsten Bäume der Erde. Längst hätte auch Julias majestä- tischer Rotholz gefällt sein sollen, zersägt zu Nutzholz etwa für San „Uns steht manche Franciscos schicke Veranden im Vik- toria-Stil. So wie ungezählte Mam- mut-Methusalems zuvor, von denen ringsherum allenfalls noch faulige Schlacht bevor“ Stümpfe zeugen. Bis zu 100000 Dollar bringen die rund 500 Festmeter Telefoninterview mit der Umweltschützerin Julia Hill Hartholz eines einzelnen Zypressen- über ihren kompromisslosen Kampf gewächses vom „Luna“-Kaliber. Kein Wunder also, dass Hurwitz & Co. al- gegen Holzfäller, Kälte und korrupte Behörden les unternommen haben, um „die Spinnerin da oben“ aus ihrer zugigen SPIEGEL: Zwei Jahre lang haben Sie nachten zu Hause feiern. Wenn nicht, Zelt-Krone zu vertreiben. in Ihrem Widerstandsnest gesessen. Ist schmücke ich „Luna“ mit Sternen und Mit leuchtstarken Scheinwerfern der Kampf nun zu Ende? Lichtern – den wohl ältesten und versuchten sie nächtens die Waldfee HILL: O nein, Pacific Lumber muss sich womöglich sonderbarsten Weih- zu blenden, tagsüber raubte ihr Hea- zunächst verpflichten, „Luna“ und nachtsbaum der Welt, zugleich ein Fa- vy-Metal-Lärm aus Lautsprechertür- alle Redwoods im Umkreis von 70 nal gegen den Raubbau an der Natur. men den Schlaf. Lebensgefährlich Metern zu erhalten. Wenn die Firma SPIEGEL: Haben Sie jemals an Kapitu- wurde es für Frau Luna, als die Be- einverstanden ist, werde ich Weih- lation gedacht? satzung eines Helikopters minutenlang versuchte, die Baumfrau per Ro- torgebläse aus dem Wip- fel des Widerstands zu pusten. Als dies fehlge- schlagen war, riegelten die Holzfäller den Redwood der Rebellin ab. Nur gut, dass Hills Ver- sorgungsmannschaft von der Umweltgruppe „Earth First“, die allwöchentlich mit prall gefüllten Ruck- säcken anrückte, zuvor schon eine komplette Monatsration Proviant ins Geäst hatte hieven kön- nen. Entnervt von diesen hartnäckigen Blockade- brechern gab Hurwitz’ Bo- denpersonal die Belage- rung schließlich auf. Seither hangelte sich Julia

Hill von Erfolg zu Erfolg. / ZUMA E. SLOMANSON Zweimal schon wurde sie Hill-Freunde mit Proviant-Nachschub 311 HILL: Sicher, ich bin ja auch nur ein Mensch, und die Attacken meiner Gegner haben mir ziemlich zugesetzt. Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (o4o) 3007-0 Ich wünschte mir, ich hätte nicht auf Fax (040) 3007-2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) diesen Baum steigen müssen, um un- E-Mail [email protected] · SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de · T-Online *SPIEGEL# sere Wälder zu schützen. Aber ich glaube nun mal fest an den Wert allen Herausgeber: Rudolf Augstein Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Lebens, egal ob Mensch, Tier oder Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Pflanze. Chefredakteur: Stefan Aust Oltmer, Ulrich Rambow, Constanze Sanders, SPIEGEL: Sind Sie wirklich niemals Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Stellv. Chefredakteure: Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt,Andrea herabgestiegen aus Ihrer Krone? Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß Schumann-Eckert, Dr. Claudia Stodte, Stefan HILL: Kein einziges Mal. Nicht bei Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert, Nacht und nicht bei Nebel. Gandhi Verantwortlich für dieses Heft: Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Peter hat während seines Fastenprotests Horst Beckmann Wetter, Andrea Wilkens, Karl-Henning Manfred Schniedenharn Windelbandt auch nie gegessen. Selbst dann nicht, Peter Stolle Koordination: Ulrich Meier als ihn wirklich keiner hätte sehen können. Diese konsequente Haltung Redaktion: Produktion: Sabine Bodenhagen, Renate ist mir besonders wichtig. Dr. Walter Knips, Mareike Spiess-Hohnholz Freisler-Böhm, Petra Thormann Leitung: Wolfgang Küster SPIEGEL: Sie waren stur, genau wie die Bildredaktion: Werner Bartels, Rüdiger Hein- Holzfäller? rich Grafik: Martin Brinker, Cornelia Pfauter HILL: Ja, das Schlimmste ist, dass die Firma Pacific Lumber nach wie vor Autoren: Rudolf Augstein, Jürg Bürgi, Mat- Titelbild: Thomas Bonnie thias Geyer, Annette Großbongardt, Almut Titelbild-Fotos: Keystone, J.-F. Luy, F. Os- die einzigartigen Bäume fällt. Leider Hielscher, Dr. Jürgen Hohmeyer, Siegesmund senbrink, PPW/M. Kohr, Reuters (3), haben wir es mit sehr korrupten von Ilsemann, Urs Jenny, Uwe Klußmann RTL/OBS, M. Urban Behörden zu tun. So können es sich Siegfried Kogelfranz, Henning Krogh, Jürgen manche Unternehmen erlauben, völ- Leinemann, Walter Mayr, Rolf S. Müller, Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmi- Mathias Müller von Blumencron, Hans-Joa- gung des Verlages. Das gilt auch für die lig skrupellos die Gesetze zu brechen. chim Noack, Rainer Paul, Dr. Gerd Rosen- Aufnahme in elektronische Datenbanken Sie holzen einfach weiter ab. Uns steht kranz, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen noch manche Schlacht bevor. Saltzwedel, Matthias Schulz, Hajo Schuma- auf CD-Rom. Nachdruckgenehmigungen SPIEGEL: Hatten Sie nie Angst um ihr cher, Helmut Sorge, Dr. Dieter Wild, Bern- Deutschland, Österreich, Schweiz: Tel (040) hard Zand 3007-2426, Telefax (040) 3007-2971; übriges Leben? Ausland: New York Times Syndication Sales, HILL: Nein, Angst macht mir nur die Gast-Beiträge: Boris Becker, Matthias Beltz, Paris: Tel. (00331) 47421711, Telefax (00331) Zerstörung der Natur, und ich wehre David Binder, Erich Böhme, Dr. Hildegard 47428044 mich gegen ein Leben in Angst. Die Hamm-Brücher, Thomas Brussig, Dr. Peter Gauweiler, Amos Oz, Dr. Bertrand Piccard, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & hätten mich ins Gefängnis stecken Lea Rabin, Giovanni Trapattoni, Steffen Ufer, CO. KG können – meine Einstellung würde John Updike, Sir Peter Ustinov, Dr. Richard Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe; sich nicht ändern. von Weizsäcker Bestell-Service: 040/3007-2948 SPIEGEL: Kennen Sie Ihren Erzfeind Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlussredaktion: Hermann Harms, Katha- Schlottau Charles Hurwitz persönlich? rina Lüken Anzeigenobjektleitung: Johannes Varvakis HILL: Nein. Er scheut die Öffentlich- Anzeigenstruktur: Katrin Bennert keit. Ich habe ihm unzählige Briefe Dokumentation: Jörg-Hinrich Ahrens, Sophie Produktmanagement: Christoph Hellerung geschrieben, aber nie eine Antwort er- Albers, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Herstellung: Helmut Bade, Hagen Möhring Viola Broeker, Dr. Britta Bugiel, Heiko Druck: „Druckhaus Ahrensburg“, Ahrens- halten. Buschke, Heinz Egleder, Johannes Erasmus, burg bei Hamburg SPIEGEL: In Nordkalifornien kann es Cordelia Freiwald, Dr. Sabine Giehle, Christa ungemütlich werden. Wie haben Sie von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Michael Verlagsleitung: Fried von Bismarck Kälte, Nässe und Stürme ertragen? Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Märkte und Erlöse: Werner E. Klatten Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Lake- Geschäftsführung: Rudolf Augstein, HILL: Da oben ist es extrem kalt, aber meier, Hannes Lamp, Michael Lindner, Karl Dietrich Seikel daran kann sich der Mensch gewöh- nen. Außerdem habe ich fünf Schich- Weitere Auslandspreise: Finnland Fmk 38,-, Hongkong HK$ 70,-, Japan Yen 1.500 ten Kleidung getragen. (exkl. tax), Kanada kan$ 10,-, Norwegen nkr 45,-, Polen (ISSN 00387452) ZL 20,-, SPIEGEL: Ihre Zukunftspläne? Portugal (Cont.) Esc 1.150, Schweden skr 60,- (inkl. moms), Slowenien SIT 930,-, HILL: Darüber mach ich mir keine Ge- Thailand Baht 300,-, Tschechien K‡ 175,-, Türkei TL 3.100.000, Ungarn Ft 1.230 danken. Mein Leben steckte immer voller Überraschungen. Und das soll auch so bleiben. HENNING KROGH 312 Werbeseite

Werbeseite GESTORBEN 1999

HILDE KRAHL, 82. Einer ihrer Regisseure nannte sie einmal dankbar „eine Schauspielerin voller Wunder“ – und rühmte so die Wandelbarkeit, Schönheit und Sprechkultur der Künstlerin, die bis ins hohe Alter, vor allem in Wien, Theater spielte. Mit einer Filmrolle wurde sie früh berühmt: Als 22-Jährige spielte die Krahl 1940 die unglückliche Wirtstochter in der Verfilmung des Puschkin-Romans „Der Postmeister“. Opfer und Täterin, Salondame und Bauernmaid – Hilde Krahls Vielseitigkeit war das Ergebnis künstlerischer Kalkulation. Sie spielte Heroinen, Gescheiterte und Biester mit gleicher Intensität und Zuverläs- sigkeit. Ihren letzten Auftritt hatte die Krahl in der RTL-Serie „Bruder Esel“ als unausstehlich raffinierte Mutter des Titelhel- den. Hilde Krahl starb am 28. Juni in Wien. ACTION PRESS ACTION

IGNATZ BUBIS, 72. Unermüdlich kämpfte der Präsident des Zen- tralrats der Juden in Deutschland dafür, dass Juden frei von Dis- kriminierung in der Bundesrepublik leben können. Er wolle, sag- te Bubis, der Ghetto und Arbeitslager überlebt hatte, die „Aus- grenzerei weghaben“. Wie schwer das zu erreichen ist, hat er selbst schmerzlich erfahren – etwa dann, wenn man ihn, den „deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“, als Israeli ansprach. Jahrelang verdrängte der Frankfurter Kaufmann, dessen Vater im KZ ermordet wurde, seine Erinnerungen an die Nazi-Barbarei. Doch mit zunehmendem Alter wollte ihm der „überlebensnot- wendige Selbstschutz“ immer weniger gelingen, und es traf ihn tief, als Martin Walser von der „Moralkeule Auschwitz“ sprach. Bubis starb am 13. August in Frankfurt.

HEINZ SCHUBERT, 73. Schnauze und Schnauzbart – das waren seine Markenzeichen. Und am besten konnte er sie als Proleten- „Ekel“ Alfred Tetzlaff einsetzen in der TV-Serie „Ein Herz und eine Seele“. Schubert war vor seiner Vereinnahmung durchs Fern-

sehen ein präziser Theaterschauspieler, zuerst bei Bertolt Brecht / INTERFOT LU WORTIG am Berliner Ensemble, nach dem Mauerbau in den Münchner Kammerspielen und bei Zadek in Hamburg. In seiner Freizeit war der Berliner ein besessener Fotograf, der vor allem ein Sujet HASSAN II. VON MAROKKO, 70. Der König herrschte 38 Jah- ablichtete: Schaufensterpuppen. Schubert starb am 12. Februar in re, länger als jeder andere arabische Potentat. Einen der vielen Hamburg an einer Lungenentzündung. Anschläge auf sein Leben überstand er eingeschlossen in einem Palast-WC. Feinde wie beispielsweise den Linken Ben Barka oder die Westsahara-Guer- rilla Polisario ließ er brutal verfolgen. Königliche De- krete durften vom Parla- ment nicht diskutiert wer- den. Doch in einer Region, die von Krieg und Aufruhr geprägt ist, taktierte er vor- sichtig nach allen Seiten, ko- operierte mit Israel wie mit den USA und bescherte sei- nem Reich Stabilität. Isla- mische Fundamentalisten hielt der Monarch im Zaum – mit dem Hinweis auf seine direkte Abkunft vom Pro- pheten Mohammed. Hassan starb am 23. Juli in Rabat an

WDR einer Lungenentzündung. REUTERS 314 GESTORBEN 1999

HEINZ G. KONSALIK, 78. Er fühl- te sich als „Volksschriftsteller“, „im- mun gegen jegliche Literaturkritik“, und schrieb in Fließbandarbeit jene Trivialromane, die ihn zum meist- gelesenen deutschen Autor dieses Jahrhunderts machten. 1956 wurde Konsalik mit dem Landser-Epos „Der Arzt von Stalingrad“ be- rühmt. Es folgten 154 Romane mit einer Gesamtauflage von 83 Millio- nen Büchern. Nach einem Schlag- anfall starb Konsalik am 2. Oktober

ULLSTEIN in Salzburg.

WILLY MILLOWITSCH, 90. „Nä, selbst der Himmel is am kriesche“, jammerten die Trauernden. Es nie- selte, als der beliebte Kölner Volks- schauspieler im Dom aufgebahrt war, und die halbe Stadt schluchz- te beim letzten Geleit: So einen wie den Willy, saftig, komisch und rührend, würden sie nie wieder haben. Am 20. September war der „kölsche Jung“ gestorben. Wenig später wurde die Schmach publik: Seine Vorfahren stammten aus

S. SIMON Düsseldorf. REUTERS

RAISSA GORBATSCHOWA, 67. Sie war die erste und vorerst letzte sowjetische First Lady – und für fast alle Russen ein rotes Tuch. Eine Funktionärsgattin mit Charme und Eleganz, das war eine Provokation. Schlimmer noch: Viele hielten sie für besser in- formiert als die Mehrheit im Politbüro. „Wir besprechen alles“, gab ihr Gatte, der mächtigste Mann der östlichen Hemisphäre, zu und meinte damit auch die hohe Politik. Gorbatschows Art, sich in der Öffentlichkeit mit seiner Frau Hand in Hand zu zeigen, er- schien den Russen „nicht weniger radikal als die Zerstörung der Berliner Mauer“, so der Schriftsteller Wiktor Jerofejew. Erst spät, zu spät, erkannten seine Landsleute, welchen Halt die First Lady dem Reformer gab. Raissa Gorbatschowa starb am 20. Septem-

DPA ber in Münster an Krebs.

YEHUDI MENUHIN, 82. Noch als Greis verstrahlte er den FRITZ FISCHER, 91. Sein 1961 er- Charme eines geigenden Wunderkindes. „Nun weiß ich, dass es schienenes Hauptwerk „Griff nach einen Gott im Himmel gibt“, soll Albert Einstein nach einem der Weltmacht“ löste eine erbitterte Konzert des damals Zehnjährigen ausgerufen haben – ein Rit- Debatte um Deutschlands Rolle vor terschlag, der den asketischen Musiker lebenslang adelte, auch Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die als der Nimbus des unfehlbaren Virtuosen zu verblassen be- „Fischer-Kontroverse“, aus und mach- gann.Auch ohne sein Instrument, als Dirigent beispielsweise, als te den Historiker über Fachkreise hin- Lehrer, Orchester- und Festivalgründer oder als moralische aus bekannt. Fischers – inzwischen Autorität, wurde er zum Symbol des toleranten, großherzigen weitgehend akzeptierte – These: Die Artisten, der Versöhnung nicht nur predigte, sondern auch prak- Reichsführung habe eine aggressive tizierte: in über 500 Auftritten bei den Alliierten des Zweiten „Kriegszielpolitik“ betrieben und im Weltkriegs oder bei einer Tournee durch Nehrus Indien. Yehudi Streben nach Hegemonie den Krieg Menuhin starb am 12. März in Berlin, wo er nach Kriegsende als vorsätzlich herbeigeführt. Fischer

erster prominenter Jude zur Versöhnung aufgespielt hatte. starb am 1. Dezember in Hamburg. RAUPACH/ARGUS 315 GESTORBEN 1999

ROLF LIEBERMANN, 88. Der Grandseigneur, Rechtsanwaltssohn aus Zürich und Groß- neffe des Malers Max Liebermann, war ein idealer Opern-Prinzipal – er besaß die Au- torität des Könners und den Charme einer glücklichen Natur.Während seiner ersten In- tendanz an der Hamburgischen Staatsoper, von 1958 bis 1973, wickelte er mühelos die schwerfällige Hamburger Kulturbürokratie um den Finger und führte das Haus an die Weltspitze. Liebermann vergab zahlreiche Auftragsarbeiten für Neutöner, und er prä- sentierte in grundsoliden Repertoire-Aufführungen künftige Weltstars wie Placido Do- mingo. Für seine Intendanz in Paris (1973 bis 1980) und noch einmal als Nothelfer in Ham- burg in den achtziger Jahren vernachlässigte Liebermann seine Karriere als Komponist, die er 1945 mit der Oper „Leonore“ gestartet und die so Skurriles wie eine Sinfonie für 156 Büromaschinen hervorgebracht hatte. Liebermann starb am 2. Januar in Paris. TEUTOPRESS

AUGUST EVERDING, 70. Er war der große Außenseiter, ein Barockmensch der Jet-Ära, ein westfälischer Dickschädel un- ter weiß-blauem Himmel.Auf den Bühnen der Welt – und jede war auch seine – spiel- te er vor, zwischen und hinter den Kulis- sen, immer jovial, spitzbübisch und im ele- gantesten Sinne durchtrieben. Everding inszenierte an allen führenden Opern- bühnen. Er war Intendant und Kultur-Ani- mateur, Manager und ein begnadeter Fest- redner. Aber am meisten Gefallen fand Everding stets an Everding.Am 26. Januar starb der Rastlose in seiner Wahlheimat

R. WOLF / BILDERBERG München an Krebs.

STANLEY KUBRICK, 70. Unter den großen Hollywood- Regisseuren der letzten Jahrzehnte war er der eigensin- nigste, herrischste, selbstherrlichste, durch Anspruch und Stil eine Klasse für sich: Er ließ sich seit seinem ersten veritablen Erfolg „Spartacus“ (1960) von keinem Geldge- ber mehr dreinreden, lebte und arbeitete in selbst gewähl- ter Isolation in London und nahm in Kauf, dass zu seinen Bedingungen in 40 Jahren nur acht Filme zu Stande kamen. Die aber setzten Maßstäbe und prägten nachwirkend ex- pressive Visionen: die Politsatire „Doktor Seltsam“ (1964) wie der rauschhafte Science-Fiction-Trip „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968), die Jugendgewalt-Studie „A Clockwerk Orange“ (1971) wie der Historienroman „Barry Lyndon“ (1975) oder der Horrorthriller „The Shining“ (1980). Kubrick starb wenige Tage nach Vollendung seines letzten Werks, des Ehedramas „Eyes Wide Shut“, am 7. März in seinem

Haus bei London. WARNER-COLUMBIA 316 GESTORBEN 1999

JÜRGEN FUCHS, 48. Für Wolf Bier- mann war er der „sanftmütige Freund“, der als „moralische Instanz in uns“ wei- terlebt. Der Schriftsteller und DDR-Dis- sident, der 1977 in die Bundesrepublik ausgewiesen wurde, veröffentlichte im Westen „Gedächtnisprotokolle“, in denen er seine Stasi-Erfahrungen be- schrieb. Fuchs überlebte Attentate, und zuletzt verdichtete sich der Verdacht, er sei im DDR-Knast heimlich mit Rönt- genstrahlen traktiert worden, die nun zu seinem Krebstod führten. Fuchs

DPA starb am 10. Mai.

REX GILDO, 63. Die Medien hatten ihn in den letzten Jahren mit Spott überschüttet. Drei Worte machten ihn „reich und berühmt“, stichelte Harald Schmidt: „Hossa, Hicks und Hopsala“. Da war der Sänger längst ein Relikt aus goldenen Schlagerzeiten und fristete sein Leben mit Auftritten in Kaufhäusern und auf Betriebsfesten. Rund 40 Millionen Tonträger hat Gildo verkauft, Hits wie „Speedy Gon- zales“ oder „Fiesta Mexicana“.Am 23. Oktober stürzte er sich nach einem Streit mit seinem Lebensgefährten aus dem Fenster eines Münchner Apartmenthauses und starb drei Tage später. BONGARTS

REINER KLIMKE, 63. Wenn er nach dem Ritt seinen Zylin- der zog, belohnten ihn die Kampfrichter meist mit den höchsten Noten. In seiner fast fünf Jahrzehnte langen Tur- nierkarriere errang der Dressurreiter aus Münster, der in den fünfziger Jahren vorübergehend ins Militaryfach wechselte, mehr internationale Titel und Medaillen als jeder andere Reitsportler. Je sechsmal gewann er bei Olympischen Spie- len und Weltmeisterschaften, elfmal wurde er Europameis- ter. Klimke war kein Berufs- oder Herrenreiter. Er arbeite- te als Anwalt, engagierte sich in der Politik und übernahm

ADOLPH PRESS/XAMAX viele Ehrenämter. Klimke starb am 17. August in Münster.

AKIO MORITA, 78. Der Spross einer uralten Reis- WILLI STOPH, 84. Von 1964 bis 1973 wein-Dynastie war der Star-Unternehmer Japans – und von 1976 bis 1989 war Stoph nicht nur wegen seines ungewöhnlichen Erfolgs als Ministerpräsident der DDR – ein Mitgründer des Elektronik-Weltkonzerns Sony, denn blasser Premier, der nur am 13. No- auch andere Japaner lehrten die Auslandskonkurrenz vember 1989 für Schlagzeilen sorgte. das Fürchten. Bekannt „Erich, es geht nicht mehr“, erklärte wurde „Mr. Sony“ vor al- er seinem langjährigen Weggefähr- lem durch die unjapani- ten Erich Honecker auf der Krisen- sche Art seines Auftritts: sitzung des Politbüros. Honecker Der stets auf Publicity stürzte, und auch Stophs Tage an der bedachte Konzernlenker Macht waren gezählt. Der Minister- pflegte den Kontakt zu präsident stellte sich immerhin der westlichen Managern und Verantwortung und erklärte vor der Medien. Von japanischer Volkskammer: „Ich muss bekennen, Konsenssuche dagegen dass der Ministerrat der DDR und hielt er wenig. Morita be- ich als sein Vorsitzender den verfas- vorzugte rasche, einsame sungsmäßigen Pflichten nicht voll Entscheidungen. Er starb nachgekommen sind.“ Am 13. April COUPON , WILLIAM / ONYX FOCUS PLUS am 3. Oktober in Tokio. starb er in Berlin. EUROPA-PHOTO JÜRGENS / OST U. 317 MELDUNGEN

2. Dezember kurrenzfähigkeit der Unternehmen in Euroland, ist aber, räumt Wim Duisen- 1 Euro = 0,999 Dollar berg, der Präsident der Europäischen Zentralbank, ein, „eine psychologisch m New Yorker Devisenhandel sackt bedeutsame Enttäuschung“. Denn Ider Euro erstmals unter die Ein-Dollar- die Euro-Schwäche an den Devisen- Marke. Eine Einheit der Europawährung märkten könnte auch das Vertrauen in ist nur noch 0,9997 Dollar wert. Tags die Binnenstabilität der Währung min- darauf ist der Euro am Tokioter und am dern. Die neuesten Kursverluste lastet Londoner Devisenmarkt sogar für nur Duisenberg vor allem der deutschen 0,9990 Dollar zu haben, klettert an- Regierung an. Die habe mit ihrem schließend in New York aber wieder auf marktwirtschaftswidrigen Eingreifen bei über einen Dollar. Damit hat der Euro Holzmann und mit Kritik an Vodafones seit seiner Einführung zu Beginn des Mannesmann-Plänen dem Ansehen des Jahres gegenüber der US-Währung Euro geschadet. Diese Argumentation

16 Prozent seines Werts verloren. Das A. WAGNER/IMO sei „ein bisschen weit hergeholt“, kon- erhöht zwar die internationale Kon- Duisenberg tert Kanzler Gerhard Schröder.

4. Dezember Organklau in Kinderkliniken hne Wissen und Zustimmung der Eltern haben britische OKinderärzte viele Jahre, zum Teil sogar jahrzehntelang toten Kindern Herz, Hirn und andere Organe entnommen, um diese für Forschungszwecke zu verwenden. Das gestehen nun neun der größten und angesehensten Kinderkrankenhäuser Groß- britanniens ein, nachdem bereits im September bei einer Unter- suchung einer Serie merkwürdiger Todesfälle am Königlichen Krankenhaus in Bristol nebenbei eine Organbank mit min- destens 170 heimlich entnommenen Kinderherzen und anderen Organen entdeckt worden war. Das ungenehmigte Sammeln von Organen verstorbener Kinder war auch im Liverpooler Kinderhospital Alder Hey üblich. Ein geheim aufgebautes Or- gandepot des größten britischen Kinderkrankenhauses enthielt mindestens 2000 Herzen und 850 wei- tere Körperteile – darunter Herz, Hirn und Lunge des 1990 verstorbenen Säug- lings Niamh Bradley. Niamhs Eltern, die nichts von der Ent- nahme wussten, be- kamen die Organe

ihrer Tochter kürzlich A. FOX ausgehändigt. Niamh Bradley in der Alder-Hey-Klinik (1990) B. GROSSDRUCK/ACTION PRESS B. GROSSDRUCK/ACTION Snowboard-Veranstaltung im Innsbrucker Bergiselstadion Massenpanik im Skistadion chlimmes Ende einer Snowboard-Gaudi im Skisprung- Sstadion am Innsbrucker Bergisel: Als die 40000 Zuschau- er nach der Sport- und Show-Veranstaltung den Ausgängen zustreben, kommt es zu einem Stau, der Drängeleien und dann eine Massenpanik auf dem eisglatten Terrain auslöst. Ein Absperrzaun gibt nach, zahlreiche der zumeist jungen Snowboard-Fans stürzen einen steilen Hang hinab und fal- len übereinander. Fünf Mädchen und junge Frauen ersticken unter den Leibern anderer Gestürzter, weitere Zuschauer werden lebensgefährlich verletzt. Von der Katastrophe un- beeindruckt, feiern heil davongekommene Jugendliche nach dem „Event“ ausgelassen in Innsbrucks Discos. „Soll man

sich deshalb die ganze Stimmung vermiesen lassen?“, fragt A. FOX eine im Fernsehen interviewte junge Frau erstaunt. Niamh Bradleys Eltern 318 Werbeseite

Werbeseite Ustinov beim SPIEGEL-Gespräch „Jesus hat doch gelacht“ Der Künstler und Weltbürger SIR PETER USTINOV über Untergangsängste zum Millennium, deutschen und britischen Humor und kleine Fortschritte in der Weltgeschichte

SPIEGEL: Sir Peter, wo feiern Sie die Hals im Wasser stehen und entschei- USTINOV: Ja und? Das ist doch ein große Zeitenwende? den, ob man die Zehennägel schnei- ganz willkürliches Datum, von den USTINOV: Meine Frau und ich machen den muss. Christen frei erfunden. Warum soll- Silvester wie in jedem Jahr Bade- SPIEGEL: Von Paris bis New York, von ten denn zum Beispiel die Araber ein ferien in Thailand. Wir wohnen im- Berlin bis zu den Fidschi-Inseln ver- neues Jahrtausend feiern? Sie leben mer im selben Hotel, im selben Zim- sinkt die Welt im Millenniums-Tau- nach ihrer Zeitrechnung im Jahr 1420, mer. Der Strand ist herrlich und das mel, und Sie versenken sich in die die Juden sind schon bei 5761. Also, Meer ganz klar. Man kann bis zum Fußpflege. man muss das nicht so ernst nehmen. 320 DEZEMBER 1999

SPIEGEL: Das Millennium hat wieder SPIEGEL: Erfolgreich? Bote, der mir einen Umschlag mit 280 mal die Internationale der Spöken- USTINOV: Ja, ich hatte bloß manchmal Rubel überreichte. Ich sagte verdutzt: kieker aufgeschreckt. Untergangsvi- nichts davon. „Das soll mein Honorar sein für zwölf sionen gehen um, verzagte Esoteriker SPIEGEL: Wie war das möglich? Jahre?“ „O nein“, sagte der Mensch, wollen „kosmische Energien“ anzap- USTINOV: Vor Jahren, noch zu Sowjet- „das ist der Vorschuss.“ fen. Verstehen Sie die Aufregung? Zeiten, entdeckte ich zufällig bei ei- SPIEGEL: Echte Tragikomik. Was er- USTINOV: Ich begreife, was in den nem Besuch, dass eine Moskauer heitert denn deutsche Humor-Freaks? Menschen vorgeht. Der rasende tech- Bühne ein Stück von mir spielte – USTINOV: Komik, die intelligent, also nische Fortschritt macht sie nervös, sie seit zwölf Jahren. Ich spazierte ins sophisticated ist. Mein Publikum lacht können dem Tempo nicht mehr fol- Theater und sagte höflich: „Guten auch über eher leise, hintersinnige gen, und zusätzlich bringt die Globa- Tag, ich bin der Autor.“ Die Herr- Pointen wie diese: „Queen Mary war lisierung die alten Ordnungen durch- schaften waren sehr freundlich und sehr aristokratisch – ein wenig zu aris- einander. Ich glaube, es ist ein biss- sagten: „Ach, Sie wollen sicher eine tokratisch, um angenehm zu sein.“ chen wie im Zeitalter der Entdeckun- Eintrittskarte.“ Das fand ich sehr ku- Die Deutschen sind wirklich an- gen, im 15. und 16. Jahrhundert, als lant, erlaubte mir aber nach der Vor- spruchsvoll. Zu meinem 75. Geburts- portugiesische, englische und spani- stellung die kritische Bemerkung, es tag, 1996, hatte ich in Berlin eine Uni- sche Seefahrer über die Ozeane segel- sei zwar ehrenvoll, im Land meiner cef-Gala, die auch Roman Herzog be- ten. Damals brauchte man neue Kar- Ahnen aufgeführt zu werden, aber suchte. Er amüsierte sich sehr, und ten, Markierungen und Orientierun- doch bedauerlich, dass ich als Stücke- nach der Show sagte ich: „Danke viel- gen, um sich in dieser Terra incognita schreiber bislang gar keine Tantiemen mals, Herr Bundespräsident, dass Sie zurechtzufinden. Uns fehlt etwas Ähn- erhalten hätte. so gelacht haben, es hat mir viel Mut liches – ein Leitfaden durch die ver- Aufgeregtes Gemurmel in der Thea- gemacht.“ Herzog antwortete: „O ich wirrende Computer- und Internetwelt. terleitung, und schließlich erschien ein liebe das Lachen, aber natürlich ist es SPIEGEL: Für Kulturpessimisten ist das Fin de Siècle auch der Untergang der Buch- und Lesekultur. USTINOV: Welch ein Unsinn! Wahr- scheinlich haben Väter und Lehrer schon im alten Ägypten gejammert: „Mein Sohn liest keine Hieroglyphen mehr. Er guckt Steine an, aber er liest sie nicht.“ Wir sind in der gleichen Lage, nur in einer anderen Epoche. Sehen Sie, wir könnten die Welt der

M. ZUCHT / DER SPIEGEL Kinder, die heute geboren werden, doch gar nicht mehr verstehen. SPIEGEL: Ist der Humor in chaotischen Zeiten eine Lebenshilfe? USTINOV: Ja, ein großartiges Ventil. Der Humor verhütet, dass wir zu vie- le seelische Schadstoffe ansammeln. Im Mittelalter lehrte der Klerus: Jesus war sehr ernst, er hat viele Tränen ver- gossen. Was für eine dumme Idee, natürlich hat er auch gelacht! Das La- chen ist so wichtig für das Wohlbefin- den wie das Hinterteil zum Sitzen. SPIEGEL: Tragik wird häufig höher ein- geschätzt als Komik. Zu Recht? USTINOV: Eindeutig zu Unrecht. Aber am schönsten für mich ist die Synthe- se – Tragikomik. Auf diese Kunst ver- stehen sich die Russen besonders gut, und darum werden meine Stücke dort am besten gespielt. Millenniums-Tourist Ustinov in Thailand (Selbstporträt) 321 DEZEMBER 1999 einfacher, wenn man einen Grund ren indigniert: „That’s Ustinov, isn’t SPIEGEL: Sie vergessen den Balkan. dafür hat.“ it? Well, why is he speaking French?“ USTINOV: Nein, er wird uns noch sehr SPIEGEL: Er meinte: Wir sind gerne SPIEGEL: Das sind drollige Sticheleien lange schmerzlich beschäftigen. Aber lustig, aber bitte auf hohem Niveau. unter Nachbarn. Aber sind Sie, als ich bin sicher: Dort werden verlorene USTINOV: Die Engländer könnten das Kosmopolit und Unicef-Weltreisender, Schlachten geschlagen, die sind ste- überhaupt nicht verstehen. Sie sind nicht manchmal deprimiert über die ckengeblieben in der Geschichte. Die- viel ungenierter und lechzen nach unausrottbaren ethnischen Konflikte? se Gruppen verhalten sich wie Hooli- dem Lachen wie der Jagdhund nach USTINOV: Natürlich, aber ich denke, gans, deren Verein verloren hat und dem Hasen. Manchmal fragen mich es gibt wirklich einen Fortschritt. Se- die dann die Stadt zerstören. alte Gentlemen lauernd: „Haben die hen Sie, noch in meiner Schulzeit in SPIEGEL: Welche Politiker haben am Deutschen einen Humor?“ Dabei zei- England wurde uns allen eingebläut: meisten für eine friedlichere Welt gen sie schon mit einer missmutigen „Gott mit uns, aber nicht mit den an- getan? Kopfbewegung, welche Anwort USTINOV: Mit Sicherheit Gorba- sie erwarten. Ich sage trotzdem tschow, der vielleicht bedeu- herzhaft: Ja. Übrigens, die Deut- tendste Mann dieses Jahrhun- schen haben noch eine Eigen- derts. Ich erinnere mich an eine schaft, die ein Künstler sehr an- Konferenz mit ihm im Kreml. Da genehm findet: Sie applaudieren lief auch der alte Außenminister ungeheuer viel – ganz im Ge- Gromyko herum, mit einem dün- gensatz zu den Briten. Die klat- nen Lächeln auf dem Kalten- schen nur am Ende, sie wollen Kriegs-Gesicht. Und man ahnte, wohl keine Zeit verlieren mit was er dachte: Ich versteh die Applaus. Welt nicht mehr, auf einmal trin- SPIEGEL: Sie pflegen ihre klassi- ken wir Brüderschaft mit dem schen Spleens … Klassenfeind. Er war ein schreck- USTINOV: … die ja häufig sehr lich negativer Zeitgenosse. amüsant sind. Meine franzö- SPIEGEL: Sie sind ein ebenso un- sische Frau lacht immer wieder erschütterlicher Optimist? über eine Geschichte, die ich mal USTINOV: Ja, der Pessimismus in Chichester erlebt habe. Nach führt doch zu nichts. Man kann einer Probe zu meinem Stück gewiss nicht die Hände der „Beethovens Zehnte“ ging ich ganzen Welt schütteln, aber man zum Mittagessen ins Restaurant muss auf der richtigen Seite ste- „Comme ça“, ein sehr gutes hen. Alles fließt, alles ändert französisches Etablissement. Ich sich, und als neugieriger Mensch saß allein in einer Ecke, bis zwei bin ich traurig, dass ich nur noch ältere Herren im würdigen Bla- wenige dieser Veränderungen zer mit ihren Damen eintrafen. miterleben kann. SPIEGEL: Seit wann erwärmen SPIEGEL: Wären Sie lieber in ei- sich die Insulaner für die Haute ner anderen Epoche geboren? Cuisine? USTINOV: Nein, ich würde mich USTINOV: Wahrscheinlich hatten sehr fürchten, im 12. Jahrhun- sich alle britischen Feinschme- dert Zahnweh zu haben.

cker zusammengerottet. Die PRESS GRABKA / ACTION T. SPIEGEL: Haben Sie ein Motto Gruppe hatte mich nicht be- Ustinov bei Unicef-Gala in Berlin (1996) für das neue christliche Millen- merkt und unterhielt sich ziem- nium? lich ungeniert über das seltsame deren.“ Dieser skrupellose Chauvi- USTINOV: Mein Vater hat immer ge- Savoir-vivre der Franzosen. Schließ- nismus ist auf dem Rückzug. Es war predigt: Primum vivere, deinde phi- lich konnte ich nicht mehr an mich doch auch beeindruckend, wie die losophari – erst das Leben, dann halten, bestellte demonstrativ die Menschen im Ostblock den Kommu- die Philosophie. Daran will ich im- Rechnung: „L’addition, s’il vous plaît“ nismus losgeworden sind, gewaltlos mer denken, wenn ich Silvester mei- und machte mit viel „O, là, là“ und wie zum Beispiel in Leipzig. Da hat, nen großen Zeh im Warmwasser be- „Merci, Monsieur“ ein bisschen Kon- glaube ich, zum ersten Mal eine Mas- trachte. versation. Stille im kulinarischen se mit der Intelligenz eines Individu- SPIEGEL: Sir Peter, wir danken Ihnen Quartett. Dann näselte einer der Her- ums gehandelt. für dieses Gespräch. 322