Werbeseite

Werbeseite .

MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Ruanda, Krabbe, SPIEGEL SPEZIAL

a Menschheitstragödie Ruanda, Teil zwei: In der zai- rischen Grenzstadt Goma nimmt das Sterben kein En- de, das mit den Massakern an den Tutsi begonnen hatte. Erst verhungerten täglich Hunderte Flücht- linge, jetzt gehen Tausende an der Cholera zugrun- de. SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann, der im Mai bereits der Welt damals größtes Flüchtlingslager Benako an der Grenze zu Tansania beschrieb, hat das Elend und die Massengräber in Goma gesehen, “das Schlimmste, was ich bisher in Afrika erlebt habe“. Und Wiedemann, 1973 bis 1978 Korrespondent in Nairobi, kennt Afrika seit über 30 Jahren (Seiten 110, 112).

a Die Beziehung galt als nachhaltig zerrüttet. Der SPIEGEL hatte die Doping-Leidenschaft der Sprinte- rin Katrin Krabbe in elf Artikeln beschrieben. Als “menschenverach- tend“ empfand Krabbe diese Ent- hüllungen und be- kam bei der Lek- türe stets “einen richtigen Hals“. Oft beklagte sie, ihr hartnäckigster publizistischer Gegner habe nicht mit ihr geredet – W. M. WEBER dabei hatten ihre Krabbe Anwälte oder Mana- ger alle Gesprächswünsche abgelehnt. Jetzt kam Krabbe doch noch mit den Redakteuren Udo Ludwig und Klaus Brinkbäumer zusammen, wenn auch nicht auf einen Nenner. Trotzdem, fand sie, “war das SPIEGEL-Gespräch (Seite 134) gar nicht so schlimm. Eigentlich hat es sogar Spaß gemacht“. Aber: Spit- zensport scheint ihr “ohne Medikamente nicht mög- lich“.

a Die Straße frei dem Fast-food- Blatt? Der SPIEGEL folgt einem Ge- genkonzept: SPIEGEL SPEZIAL, bisher 19mal, aber unregelmäßig erschie- nen, wird von Oktober an jeden ersten Dienstag im Monat herauskom- men (circa 130 Seiten; 7,50 Mark). Chefredakteur: Jochen Bölsche, 49, bislang Ressortchef Deutschland II. Ziel: Problematisierung, Vertiefung Bölsche – Anti-Fast-food.

DER SPIEGEL 30/1994 3 .

TITEL INHALT Falsche Diagnosen, mangelhafte Verfahren – die Kritik an der Psychotherapie wächst ...... 76 Interview mit Paul Watzlawick Schwarzer Medienverbund Seite 18 über Psychotherapie-Methoden ...... 88 Der Münchner Filmmo- DEUTSCHLAND gul Leo Kirch hat endgül- Panorama ...... 16 tig die Macht im Axel Medien: Kanzler-Freund Leo Kirch Springer Verlag über- baut sein schwarzes Imperium aus ...... 18 nommen. Mit den Mas- Interview mit dem neuen senblättern sowie sei- Springer-Vorstandschef Jürgen Richter nen TV-Sendern wie Sat über den Machtwechsel im Verlag ...... 20 1 oder Pro 7 macht er Bundespräsident: Hans-Joachim Noack kräftig Propaganda für über Roman Herzogs erste Auftritte ...... 24 seinen Freund, Kanzler Wahlkampf: Menscheln mit Scharping ...... 26 Helmut Kohl: Kontrolleu- Außenpolitik: Der Jurist Michael Bothe re und Kartellwächter über das Blauhelm-Urteil des sind ausgebremst, Kirch Verfassungsgerichts ...... 28 hat seinen schwarzen

Der Bundestag legalisiert M. DARCHINGER Medienverbund fest zu- die Bundeswehreinsätze ...... 29 Kirch sammengeschweißt. Europäische Union: Interview mit dem britischen Außenminister Douglas Hurd über die Konflikte in der Europapolitik ...... 30 Widerstand: Dieter Wild über Seite 26 den 20. Juli in Berlin ...... 32 Bonn vor der Schlacht Europa: Kohls Spiel mit Bangemann ...... 34 Was beeindruckt die Strafjustiz: Gisela Friedrichsen über Wähler in der Bun- den Prozeß wegen der „Ausländerhatz“ in Magdeburg ...... 36 desrepublik mehr: PDS: SPIEGEL-Gespräch mit die Kampfplakate Günter de Bruyn über ostdeutsche Gefühle ...... 38 („Linksfront“) der Forum ...... 45 CDU oder der Juristen: Anwaltszulassungen „Mensch Scharping“, gegen Bargeld ...... 48 den SPD-Geschäfts- Hauptstadt: Berlins größenwahnsinnige führer Verheugen in Umbaupläne ...... 50 Anzeigen anpreist? SPD: Ost-West-Streit in Leipzig ...... 59 In Bonn bereiten die Atomschmuggel: Interview mit den Parteizentralen ge-

Nuklearexperten Russell Seitz und genwärtig die große KNIPPERTZ / LASA Richard Wilson über die Gefahr aus Rußland .....60 Wahlschlacht vor. Verheugen, Scharping Wie die deutsche Justiz mit Atomhändlern verfährt ...... 62

WIRTSCHAFT Berlin – ein gigantisches Loch Seite 50 Trends ...... 63 Arbeitszeit: VW hat Probleme Wie eine Kolonie mit der Vier-Tage-Woche ...... 64 soll Berlin von Bau- Kommentar: Winfried Didzoleit über arbeitern in Besitz die aussichtslose Klima-Politik ...... 66 genommen werden: Treuhand: Max Strauß’ Rund um das Bran- undurchsichtige Geschäfte ...... 67 denburger Tor wird Manager: Spitzengehälter das Regierungsvier- auch in Verlustjahren ...... 68 tel gebaut, unter Mobilfunk: Kunden und Händler Tage entstehen ki- klagen über MobilCom ...... 70 lometerlange Tun- Automobile: Mercedes nel. Das Haupt- saniert die Busproduktion ...... 71 stadt-Zentrum ist Reisen: Der Greyhound D. KONNERTH / LICHTBLICK bald die größte Bau- kämpft mit Billigtarifen ums Überleben ...... 72 Friedrichstadt-Passage in Berlin stelle aller Zeiten.

GESELLSCHAFT Pornographie: Der Streit zwischen Alice Schwarzer und Helmut Newton ...... 92 Freizeit: Bierbrauen Leistungslöhne für Manager? Seite 68 als Feierabendvergnügen ...... 96 Die Einkommen der deutschen Firmenchefs richten sich mei- stens nicht nach ihrem Erfolg. Selbst in der Krise genehmigen SERIE sich viele Vorstände noch Gehaltserhöhungen. Experten für Ma- Die Jagd des FBI auf den nager-Entlohnung kritisieren die „falschen Verträge“ der Chefs. amerikanischen Mafia-Boß John Gotti ...... 98

4 DER SPIEGEL 30/1994 .

AUSLAND Panorama Ausland ...... 109 Ruanda: Flucht in die Hölle ...... 110 Erich Wiedemann über das Massensterben in Goma ...... 112 Ruanda: Sterben ohne Ende Seiten 110, 112 Nahost: Gipfel-Thema Jerusalem ...... 114 Nach dem Genozid an den Tutsi in Ruanda hat das Massenster- Interview mit Jordaniens Kronprinz Hassan ben der Hutu-Flüchtlinge in Zaire eingesetzt. Uno und Rotes über den Frieden mit Israel ...... 115 Bosnien: Moslems rüsten Kreuz sind überfordert. Rettung kann nur die Rückkehr der Ge- zur Entscheidungsschlacht ...... 116 flohenen bringen. Doch die fürchten die Rache der Sieger. USA: Clintons Kampf mit den Rechten ...... 118 Bangladesch: Verschärfte Hatz auf Schriftstellerin Taslima Nasrin ...... 119 Polen: Amerikanische „Schindler-Touristen“ reisen zu den Stätten des Holocaust ...... 121 Ukraine: SPIEGEL-Gespräch mit Präsident Leonid Kutschma über seine Reformen, Rußland und Deutschland ...... 122 Brasilien: Ende des Goldrauschs ...... 126 Tschechien: An der Spitze der Reformstaaten 130

SPORT Leichtathletik: Der SC Neubrandenburg nach dem Doping-Desaster ...... 132 SPIEGEL-Gespräch mit Katrin Krabbe Cholera-Tote in Goma über Image und Comeback ...... 134

WISSENSCHAFT Jupiter: Kometencrash war heftiger Die Jagd auf den Mafia-Boß Seite 98 als erwartet ...... 138 Interview mit den Kometenforschern John Gotti war nicht zu fassen – bis FBI-Spezialagenten Amerikas Eugene Shoemaker und Jürgen Rahe ...... 142 berüchtigtsten Verbrecher über mehrere Jahre mit versteckten Mi- Medizin: Musik und Yoga krofonen abhörten. In einer SPIEGEL-Serie enthüllt der US-Autor Ho- gegen chronisches Ohrensausen ...... 143 ward Blum Details der erfolgreichen Jagd auf den Mafia-Boß. Prisma ...... 145 Rinderwahn: Was bringen die Brüsseler Beschlüsse? ...... 146 Tierschutz: Sommerhitze tötet Masthähnchen .. 147 Yoga gegen Ohrensausen Seite 143 TECHNIK Eine Million Deut- sche werden regel- Automobile: Der neue Volvo 960 – mäßig von heftigem ein Mythos auf Hochglanz ...... 148 Zischen und Pfei- fen im Ohr geplagt. KULTUR Als Ursache gelten Zeitgeist: Hollywood macht Durchblutungsstö- die „Slacker“ zu neuen Helden rungen, eine Folge der Unterhaltungsindustrie ...... 150 von Streß. Eine neue Schauspieler: Prall und komisch – Entspannungsthera- Saison-Star Annette Paulmann ...... 154 pie, die Yoga mit Film: „Bad Girls“ von Jonathan Kaplan ...... 155

Musik verknüpft, H.YOUNG / SPL / FOCUS Autobiographien: Rudolf Augstein über bringt Linderung. Innenohr-Untersuchung die neuaufgelegten Erinnerungen der -Enkelin Friedelind ...... 156 Szene ...... 159 Humor: SPIEGEL-Gespräch mit dem Versagen macht Spaß Seite 150 Schriftsteller Robert Gernhardt über Lyrik, Lachverbote und obszöne Witze ...... 160 Hollywood entdeckt Erotik: Geistliche Liebesbriefe von die Generation X: Luise Rinser an den Theologen Karl Rahner .... 163 Neue Filme wie Bestseller ...... 164 „Threesome“ oder Pseudonyme: Fritz Rumler über „Reality Bites“ ma- den Deutschen-Forscher McCormack ...... 167 Pop: Die Showstars George Michael und chen Gammler, Prince rebellieren gegen ihre Plattenfirmen ...... 168 Schwätzer und Ver- Fernseh-Vorausschau ...... 174 sager zu Helden. Sie nennen sich sel- Briefe ...... 7 ber „Slacker“, rau- Impressum ...... 14 chen Haschisch und Personalien ...... 170

VAN REDIN pfeifen auf die Kar- Register ...... 172 Hollywood-Film „Reality Bites“ riere. Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 178

DER SPIEGEL 30/1994 5 Werbeseite

Werbeseite .

BRIEFE

Dameliches Geschiebe Es standen auf ihres Daches Zinnen (Nr. 28/1994, Sprache: „Political Cor- die neudeutschen Sprachverbes- rectness“ hält Einzug in Deutschland; serInnen. Sprachkritik: Harald Weinrich über den Man/frau war endlich ganz unter sich Jargon der „politisch Korrekten“) und fühlte sich königInnenlich! „Dies alles ist uns nun untertänig!“ Das Bestreben, Anstößiges durch So freut man/frau sich im Chor. harmlose Worte zu bezeichnen, ist so Und das war gott/göttin verdammt nicht alt wie die Menschheit. Die Germanen wenig, nannten den Bären nicht wie die Rö- wie mancher/manche beschwor. mer „ursus“, sondern „bero“, das heißt Die Sprache war endlich kategorisch der Braune, um ihn nicht zu provozie- gleichberechtigt-emanzipatorisch, ren. Und die Krieger wurden schon im für alle Zeiten hinweggerafft Mittelalter, lange vor Rühe, mit indi- die männliche Vorherr/dameschaft. rekten Bezeichnungen wie „Besoldete“ Fürwahr, ein herr/dameliches verharmlost. Geschiebe Berlin DR. MARTIN HASPELMATH von Wörtern setzte nun ein. Ein Hochgenuß, mein/meine lieber/ Wenn Heiner Geißler vom „Besetzen“ liebe der Begriffe sprach wie andere vom Herr/Frau Gesangverein! Häuserbesetzen, wenn indes Kanzler Kohls Landschaften blühn wie manch Düsseldorf KLAUS WIMMER M. SCHARNBERG / NORDLICHT Roma-Familie in Hamburg: Kränkendes Ausgrenzen aller anderen Stämme

Kolumnisten der Stil, dann hat das genau „Zigeuner“ hat etymologisch nichts mit mit dem Gegenteil der „Political Correct- „Ziehgauner“ zu tun, sondern entstand ness“ zu tun – Sprache als Strategie oder aus einer Konfusion der von Klein- Trümmerfeld der Sentimentalitäten, von asien nach Griechenland kommenden Parteifuzzis verstellt. Da hilft auch nicht, Nomaden mit der Sekte der „Atsinga- dies billig als „Dummdeutsch“ zu denun- nos“, berühmt für ihre magischen zieren. Kenntnisse; zum anderen ist das PC- Hamburg DR. RAINER JOGSCHIES Ausweichen auf „Roma und Sinti“ ein kränkendes Ausgrenzen aller anderen PC-Jünger gehen von einer falschen An- Stämme. nahme aus. Sprache ist Ausdruck des St. Bonnet de Bellac (Frankreich) Menschen, sie spiegelt das wider, was im DR. DAGMAR BROCKSIN Kopf vorgeht. Und dort muß sich zuerst Ethnologin etwas ändern. Marburg KLAUS THEREMOUTH Unverkrampft hat die Männersprache seit jeher Frauen marginalisiert, un- Wohin führt dieser Unfug? Ist dann ein sichtbar gemacht und verniedlicht. Un- Arschloch ein moralisch Alternativer? verkrampft auch die Folgen für Frau- Ein Verbrecher etwa ein Vertreter inoffi- en: soziale und politische Diskriminie- zieller Werte? Für mich steht PC für rung, alltägliche Gewalt, Haß und Un- „psychologically corrupt“. freiheit. Köln KONSTANTIN DEDREUX Frankfurt am Main MARIA TH. MARX

DER SPIEGEL 30/1994 7 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite BRIEFE Kollektiv verdrängt (Nr. 28/1994, Titel: Gefahr für die Erde? – Kometen auf Kollisions-Kurs) Ein in der Relation zum Weltall winzi- ges Ereignis ist in der Lage, uns Men- schen aufzuschrecken und daran zu erin- nern, daß wir in jeder Sekunde durch ein solches Naturereignis ausgelöscht werden können. Unsere Verhaltenswei- se und Lebensphilosophie ist aber so ausgerichtet, als wären wir für die Ewig- keit mit unserer kleinen Kugel verbun- den und der ganze Kosmos für uns reserviert. Der Menschheit würde es gut anstehen, diese größenwahnsinnige Selbstherrlichkeit aufzugeben. Kirchdorf (Bayern) HANS WILDT Als gäbe es nicht größere Probleme auf der real existierenden Erde, über die zu berichten wäre. Die Eddy Tellers dieser SPIEGEL-Titel 28/1994 Welt werden sie jedenfalls nicht lösen. „Als wäre der Kosmos für uns reserviert“ Dakar (Senegal) ALBERT FUSCHLBERGER Mensch nicht wahrhaben. So sind denn Die Titelgeschichte an sich war gut: auch die schrecklichen Erinnerungen sachlich, nüchtern und sehr informativ; aus der Kindheit der Menschheit oft kol- aber, bitte schön, nicht mit diesem Auf- lektiv verdrängt worden, haben aber bis macher. Shoemaker-Levy 9 stürzt auf heute Auswirkungen. Jupiter, nicht auf die Erde. Bielefeld ROLAND SCHNEPEL Köln INGO THOMANN Bei der Tunguska-Explosion kann es Quicklebendiger Leichnam sich unmöglich um den Einschlag eines (Nr. 28/1994, Kino: Niedergang im Meteors gehandelt haben, da in der be- Osten) troffenen sibirischen Region kein Ein- schlagskrater entstand. Viel wahrschein- Der Leichnam, den Sie betrauern, ist licher ist der Absturz eines Kometen, quicklebendig. Der Kinobesuch stieg aufgrund von 1958 entdeckten Überein- von 1992 auf 1993 um über 35 Prozent. stimmungen mit den Folgen einer Erstmals seit der Wende überstieg die Atomexplosion. Anzahl der Neueröffnungen in den fünf Soest (Nrdrh.-Westf.) MARCUS HENDRISCHK neuen Ländern mit 97 Theatern die Zahl der Schließungen mit 64 Theatern. Daß Frau Röhl seit „vielen Leben“ Die von Ihnen aufgezeichnete negative Astrologie macht, bezweifeln wir nicht. Entwicklung fand kurz nach der Wende Wir würden ihr jedoch raten, auch ein- statt. Damals war aber allen Beteilig- mal vor die Tür zu gehen und in den ten klar, daß eine Strukturanpassung Himmel zu schauen. Erstaunlicherweise an Stadt-/Land-Bedürfnisse notwendig würde sie feststellen müssen, daß die war. Konjunktionen vom Mond und den von Wiesbaden KLINGSPORN ihr angegebenen Planeten Pluto, Ura- Verband der Filmverleiher nus und Neptun alle 28 Tage stattfinden. Wir spüren zwar keine Vibrationen, aber wir wissen, daß man diesen Zeit- Meisterhafte Lobby-Arbeit raum Monat nennt. (Nr. 28/1994, Chips: Interview mit Berlin INGO NEUHÖFER LSI-Chef Horst Sandfort über die MICHAEL SCHULZE Zukunftschancen der europäischen Elektronikindustrie) Es ist ein bisher wenig akzeptierter Ge- danke – bei so netten Vorstellungen wie Bravo und großen Dank an Horst Sand- der allmählichen Evolution oder dem fort. So deutlich hat es noch keiner aus sich aus einem Urnebel harmonisch aus- der Chipbranche gesagt wie er. Die euro- dehnenden Sonnensystem –, daß in der päischen Chipfirmen Siemens, Philips Tat jeden Tag eine Katastrophe kosmi- und SGS-Thomson verstehen meister- schen Ausmaßes unseren Planeten tref- hafte Lobby-Arbeit zu leisten. Wären de- fen kann. ren Kreativität und Handlungsweise nur Berlin DR. CLAUS-HEINRICH COESTER halb so dynamisch wie der Griff in den Geldbeutel des Steuerzahlers, dann wä- Die Vernichtungsgewalt kosmischer Ge- ren wir nicht so tief gesunken. schosse, die sich ja im Aussterben der Konstanz ILSE MÜLLER Dinosaurier gezeigt hat, möchte der hyperstone electronics GmbH

10 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite .

BRIEFE Biologische Lösung (Nr. 28/1994, NS-Akten: Wie wurde Genscher Parteimitglied?) Seit Oktober 1970 habe ich versucht, von der Bundesregierung Auskunft darüber zu erlangen, warum die Bundesregierung sich seit 1967 mit zum Teil lächerlichen Ausflüchten weigerte, das „Berlin Docu- ment Center“ (BDC) in deutscher Ver- antwortung zu übernehmen. Herr Gen- scher hatte meinen Verdacht, daß dahin- ter das Interesse aller Parteien stehen könnte, peinlichen Enthüllungen vorzu- beugen, mit seinen Antworten inder Fra- gestunde des Bundestages verstärkt. Der Schluß drängt sich auf, daß die Regierun- gen der USA wie der Bundesrepublik darauf bedacht waren, das gemeinsame Problem möglicher Indiskretionen aus dem BDC über „politisch wertvolle“ Na-

zis durch die „biologische Lösung“ zu er- M. LIMBERG / XPRESS ledigen. Seit dem 1. Juli 1994 sind die Be- Verletzter Demonstrant beim Li-Peng-Besuch*: Da kommt ein Staatsgast stände des BDC endgültig im Bundesar- chiv vergruftet, denn eine Reihe von Be- NSDAP und in der Liste der Parteimit- glauben irgendwelche Superdemokra- stimmungen des Bundesarchivgesetzes, glieder aufgeführt. Es stellte sich her- ten, ihm die Leviten lesen zu können. vor allem der Persönlichkeitsschutz, er- aus, daß mein ganzer Jahrgang geschlos- Saarbrücken ERICH FRITSCH schweren den Zugang zu den Akten. Ent- sen in die Partei übergeführt worden hüllungen aus dem Giftschrank sind also war. Herrn Genscher wird es wohl eben- Den ostdeutschen Sozialdemokraten nur von einem profitablen Schwarzmarkt so ergangen sein. Es ist geradezu lach- wirft Kohl vor, den demokratischen Rest zu erwarten. haft, hier von Lücken in der Biographie der Ex-SED nicht genügend auszugren- Barendorf (Nieders.) KARL-HEINZ HANSEN zu sprechen. Biographie beinhaltet die zen. Kurze Zeit später hofiert er den Ex-MdB Bewegungen des eigenen Lebens und Schreibtisch-Massenmörder und Man- chester-Kommunisten Li Peng wie den Das Wort HJ-Pimpf hat es nie gegeben. nicht das, was andere daraus machen. Buchholz (Rhld.-Pf.) HERMANN HESS Leibhaftigen. Na klar: Die PDS schreckt Die Mitglieder der Hitlerjugend wurden Investoren ab. Li Peng dagegen sorgt für nie Pimpfe genannt, es wäre für sie eine Aufträge. Beleidigung gewesen. Als Pimpfe wur- Oldenburg (Nieders.) JONAS C. HÖPKEN den nur die 10- bis 14jährigen bezeichnet, Fahne hochhalten die im Deutschen Jungvolk organisiert (Nr. 28/1994, Staatsbesuche: Fritjof Der Beitrag erinnert mich an Petra Kelly: waren. Meyer über Li Peng und seine deutschen Im hysterischen Ton der Mahnwachen- Lennestadt (Nrdrh.-Westf.) B. MISCHOK Gastgeber) aktionistin erhebt der Autor Forderun- gen, die von einem beklemmenden Man- Auch ich, geboren am 10. November Da kommt ein Staatsgast. Nicht irgend- gel an politischem Sachverstand zeugen. 1926, wurde nach dem Krieg mit der Tat- eines Staates, sondern des bevölke- Worauf würde eine unbedingte Demo- sache konfrontiert, ich sei Mitglied der rungsstärksten der Welt. Und schon kratisierung Chinas nach westlichem Vorbild derzeit hinauslaufen? Doch wohl auf eine rapide Destabilisierung des mul- tiethnischen Staates, in dem ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt. Berlin HANNS BAECKER In Weimar wurde gründlich dafür ge- sorgt, daß der Staatsgast kein Transpa- rent zu Gesicht bekam. Acht Hundert- schaften Polizei hatten die Innenstadt weiträumig abgesperrt. Makaber, daß Meyer ausgerechnet Ministerpräsident Vogel belobigt, er habe gegenüber dem chinesischen Gast die Fahne der Demon- strationsfreiheit hochgehalten. Weimar RICKLEF MÜNNICH Wie gut, daß wenigstens am Brandenbur- ger Tor die Polizei draufdrosch. Es wäre mir doch arg gewesen, hätte der Mörder mit dem sanften Blick ein völlig falsches Bild von Deutschland bekommen. Mannheim STEPHANIE HEBEL A. PACZENSKY / ZENIT Archivraum im „Berlin Document Center“: Lächerliche Ausflüchte * Am 7. Juli vor dem Brandenburger Tor.

12 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite .

BRIEFE MNO Irregeleitete Landelogik 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 CompuServe: 74431,736 (Internet: 74431.736 @compuserve.com) (Nr. 28/1994, Luftfahrt: Neue Zweifel an der Computersteuerung des Airbus) HERAUSGEBER: Rudolf Augstein 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Avenida Sa˜o Seba- stia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) CHEFREDAKTION: Dr. Wolfgang Kaden, Hans Werner Kilz 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von Roques, Largo Bei keinem der angeführten Airbus-Un- . REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Telefax 679 7768 Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 Stockholm, fälle war bisher von technischem Versa- Wolfram Bickerich, Wilhelm Bittorf, Peter Bölke, Jochen Bölsche, . Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Stephan Burgdorff, Wer- Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 Tokio: Wulf Küster, gen die Rede. Vielmehr haben die Sy- 5-12, Minami-Azabu, 3-chome, Minato-Ku, Tokio 106, Tel. ner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. . Martin Doerry, Adel S. Elias, Rüdiger Falksohn, Nikolaus von Fe- (00813) 3442 9381, Telefax 3442 8259 Warschau: Andreas steme offensichtlich immer wie definiert Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, Tel. (004822) stenberg, Jan Fleischhauer, Uly Foerster, Klaus Franke, Gisela . gearbeitet. Das Problem ist, daß diese Friedrichsen, Angela Gatterburg, Henry Glass, Rudolf Glismann, 25 49 96, Telefax 25 49 96 Washington: Karl-Heinz Büsche- Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, mann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Building, Definition erhebliche Lücken hat und Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) 347 5222, Telefax Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. Hentschel, . dazu skandalös dürftig dokumentiert ist. Ernst Hess, Hans Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Cle- 347 3194 Wien: Dr. Martin Pollack, Schönbrunner Straße 26/2, mens Höges, Joachim Hoelzgen, Jürgen Hogrefe, Dr. Jürgen Hoh- 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax 587 4242 Rabertshausen (Hessen) CHRISTIAN KEPP meyer, Carsten Holm, Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hu- ILLUSTRATION: Renata Biendarra, Martina Blume, Barbara Bo- Flugkapitän Airbus A 340 pe, Dr. Olaf Ihlau, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, cian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Bonnie, Regine Dr. Hellmuth Karasek, Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Ker- Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Csallos, Volker busk, Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hurme, Antje Klein, Genausowenig wie kein halbwegs gut Knips, Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Ursula Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Rick, Chris Rie- Bernd Kühnl, Dr. Romain Leick, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, werts, Julia Saur, Detlev Scheerbarth, Claus-Dieter Schmidt, Man- ausgebildeter Pilot ein Linienflugzeug in Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mas- fred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer Sennewald, Diet- einem Winkel von 28 Grad starten wür- colo, Gerhard Mauz, Walter Mayr, Gerd Meißner, Fritjof Meyer, mar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, Rainer Wört- Dr. Werner Meyer-Larsen, Joachim Mohr, Mathias Müller von Blu- mann, Monika Zucht de, fällt auch keinem Piloten ein, die mencron, Rolf S. Müller, Bettina Musall, Hans-Georg Nachtweh, SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- Schubumkehr und Störklappen absicht- Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, bine Bodenhagen, Lutz Diedrichs, Dieter Gellrich, Hermann Gunar Ortlepp, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga lich im Flugzeug zu betätigen. Genau Joachim Preuß, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas das will die irregeleitete Landelogik ja Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Heiner M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Wilhelm Schimmöller, Roland Schleicher, Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöttker, Ingrid Seelig, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, verhindern. Die Kehrseite dieser Logik Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schü- Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters, Peter Zobel mann, Matthias Schulz, Hajo Schumacher, Birgit Schwarz, Ulrich ist das fehlerhafte Sperren aller Brems- Schwarz, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- hilfen am Boden wie in Warschau. Ich Stampf, Hans Gerhard Stephani, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, orama, Wahlkampf, Außenpolitik, Europa, PDS, Hauptstadt: Dr. Barbara Supp, Dr. Rainer Traub, Dieter G. Uentzelmann, Klaus Gerhard Spörl; für Medien, Forum, Juristen, SPD, Atomschmug- Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Weber, Susanne gel, Tierschutz: Clemens Höges; für Trends, Arbeitszeit, Treu- Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Wellershoff, Peter Wen- hand, Manager, Mobilfunk, Automobile (S. 71), Reisen: Rainer sierski, Carlos Widmann, Erich Wiedemann, Dr. Dieter Wild, Chri- Hupe; für Titelgeschichte, Pornographie, Freizeit, Polen, Pop, stian Wüst, Dr. Peter Zolling, Helene Zuber Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für Serie: Dr. Rolf Rietz- ler; für Europäische Union, Panorama Ausland, Ruanda, Nahost, REDAKTIONSVERTRETUNG BONN: Winfried Didzoleit, Man- Bosnien, USA, Bangladesch, Ukraine, Brasilien, Tschechien: Dr. fred Ertel, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Olaf Ihlau; für Sport: Heiner Schimmöller; für Jupiter, Medizin, Niejahr, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Prisma, Rinderwahn, Automobile (S. 148): Klaus Franke; für Gabor Steingart, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmann- Schauspieler, Film, Szene, Humor, Erotik, Bestseller: Dr. Mathias straße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 Schreiber; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Personalien, Register, Hohlspiegel, Rückspiegel: Barbara REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- Supp; für Titelbild: Rainer Wörtmann; für Gestaltung: Dietmar gang Bayer, Petra Bornhöft, Christian Habbe, Dieter Kampe, Uwe Suchalla; für Hausmitteilung: Dr. Dieter Wild (sämtlich Klußmann, Jürgen Leinemann, Claudia Pai, Hartmut Palmer, Nor- Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) bert F. Pötzl, Michael Schmidt-Klingenberg, Harald Schumann, Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Bartels, Sigrid Kurfürstenstraße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, DOKUMENTATION: Behrend, Ulrich Booms, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- Telefax 25 40 91 10; Dresden: Sebastian Borger, Dietmar Pie- per, Detlef Pypke, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, An- (0351) 567 0271, Telefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bieger, dre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, Georg Bönisch, Hans Leyendecker, Richard Rickelmann, Rudolf Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, Wallraf, Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter 93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Claus Christian Johannes, Angela Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie- Malzahn, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Odile Jonot-Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Pe- Telefax 566 7459 . Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bitt- tra Ludwig, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich ner, Annette Großbongardt, Ulrich Manz, Oberlindau 80, 60323 Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Telefax 72 17 02 . Hanno- Nath, Anneliese Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Nora Pe- ver: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. ters, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Anke (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lam- Rashatasuvan, Dr. Mechthild Ripke, Hedwig Sander, Constanze precht, Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14, Sanders, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Marianne Telefax 276 12 . Mainz: Birgit Loff, Wilfried Voigt, Weißliliengas- Schüssler, Andrea Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, se 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, Telefax 23 47 68 . Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Monika Tän- München: Dinah Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim zer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Reimann, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 . Schwerin: Bert Gamerschlag, Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 557 44 42, Tele- BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles MALGLAIVE / GAMMA / LIAISON fax 56 99 19 . Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Te- shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time Cockpit im Airbus A 320 lefax 29 77 65 Skandalös dürftig dokumentiert REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax (040) 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 30072898 Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg frage mich, wieso Airbus ohne Rücksicht 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM auf Verluste Computersysteme für Situa- Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 . Jeru- 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf tionen entwickeln will, die im richtigen salem: Dr. Stefan Simons, 1, Bet Eshel, Old Katamon, Jerusalem Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM Leben niemals auftreten. 93227, Tel. (009722) 61 09 36, Telefax 61 76 40 . Johannes- 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. burg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 Eloff Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, Friedrichsdorf (Hessen) CHRISTIAN HEEZEN Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 336 4057, Telefax 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; 29 40 57 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Mu- Kopilot der Deutschen Lufthansa . Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) handisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 . 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; Zum Glück baut der SPIEGEL keine Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 London: Bernd Dörler, 6 Hen- Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- Flugzeuge!Denn erstens istdie Minimum . 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, fax 379 8599 Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) Control Air-Speed nicht etwa die Ge- . Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 220 4624, Telefax 220 4818 Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, 226 30 35, Telefax 29 77 65 schwindigkeit des Strömungsabrisses, 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner sondern die minimale Geschwindigkeit, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 48 vom 1. Januar 1994 bei der eine mehrmotorige Maschine bei (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg Ausfall eines Triebwerks gerade noch 4256 1211, Telefax 4256 1972 . Peking: Jürgen Kremb, Qijiayu- an 7. 2. 31, Peking, Tel. (00861) 532 3541, Telefax 532 5453 . VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck, Burkhard Voges kontrollierbar ist. Zweitens werden heu- Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) 24 22 0138, Telefax GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel te in allen modernen Linienflugzeugen

DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $280.00 per annum. Computersysteme verwendet. Daß diese Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class bisher auch viele Unfälle verhindert ha- postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. ben, wäre auch mal einen Artikel wert. Bern JAN ATTESLANDER

14 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND PANORAMA

Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber und Bahn-Chef Heinz Dürr setzten vorvergangene Woche den ersten Spatenstich. Die Frankfurter Rechnungsprüfer wiesen der Bahn jetzt ei- ne Vielzahl eklatanter Fehler nach. Die auch von der Bun- desregierung favorisierte Streckenführung über Ingolstadt war zu günstig gerechnet worden. Allein beim Tunnelbau kalkulierten die Planer die Kosten um 530 Millionen Mark zu niedrig. So fehlt ein 4,8 Kilometer langer Tunnel, der un- ter dem Köschinger Forst gebaut werden soll, im Kosten- vergleich zwischen den beiden Strecken; mehrere Tunnel wurden falsch vermessen. Allein dadurch verteuert sich der Voranschlag von gut drei Milliarden Mark um rund 200 Mil- lionen Mark. Zudem wurden Investitionskosten von 3,6 Millionen Mark für Weichenheizungen, Stromversorgung und Beleuchtung auf dem Bauabschnitt zwischen Ingolstadt und München vergessen.

T. GEIGER Die Streckenführung über Augsburg wurde durch Rechen- Spatenstich für ICE-Neubaustrecke (in Nürnberg) fehler dagegen teurer als tatsächlich notwendig. 5,5 Millio- nen Mark für elektrische Anlagen beim Bahnhof in Roth Verkehr wurden doppelt veranschlagt; der Umbau des Treuchtlinger Bahnhofs taucht in der Kostenrechnung auf, obwohl er schon 1992 abgeschlossen wurde. Die Bahn listete außer- Falsch gerechnet dem 26,6 Millionen Mark für die Erneuerung eines Stell- Die Deutsche Bahn AG hat sich bei der Planung einer neu- werks in München-Pasing auf, das unabhängig von der ICE- en ICE-Trasse, die von München über Ingolstadt nach Trasse überholt werden muß. Nürnberg führen soll, um mehr als eine halbe Milliarde Die ICE-Strecke über Ingolstadt kostet, so das Fazit der Mark verkalkuliert. Die Bahn hatte sich trotz erheblicher Rechnungsprüfer, 3,89 Milliarden, die Alternativlösung Bedenken des Bundesrechnungshofes gegen eine Alterna- über Augsburg würde in Wirklichkeit nur 2,2 Milliarden tivstrecke über Augsburg entschieden (SPIEGEL 25/1994). Mark betragen.

DDR-Vergangenheit Gemeindeversammlung sei- war wenige Wochen später nem „Unmut“ über das Mitbegründer des Neuen Fo- Seites Anfänge Blockwahlverfahren durch rums im Kreis Röbel und trat „unsachliche Gesten und 1990 der CDU bei. als Querulant kurze Bemerkungen“ Luft Der mecklenburg-vorpom- gemacht hatte. Andere Stasi- Republikaner mersche Ministerpräsident Unterlagen wiederum weisen Berndt Seite (CDU) fürchtet Seite, der einer der Kandida- Griff in die um seinen Ruf. Bisher hatte ten Helmut Kohls für das er stets beteuert, zu DDR- Amt des Bundespräsidenten Staatskasse Zeiten nur Mitglied des Frei- war, als West-Skeptiker aus. Die rechtsradikalen Republi- en Deutschen Gewerk- Noch im September 1989 hat- kaner versuchen, das Partei- schaftsbundes (FDGB) ge- te er einem Konfidenten der engesetz mit organisierten wesen zu sein; anderweitig Ständigen Vertretung der Spenden zu überlisten. Um habe er sich politisch nicht Bundesrepublik in Ost-Ber- höhere Zuschüsse aus dem betätigt. Nun aber mußte lin erklärt, der Westen sei es Bonner Staatshaushalt zu be- Seite zugeben, daß er für die „nicht wert“, ausreisewillige kommen, will die Partei mit Nationale Front (NF) kandi- DDR-Bürger zu bekommen. Mitgliedern künftig Arbeits- diert hatte, für die von der Die Menschen würden „für verträge über „geringfügige SED angeführte Einheitsliste anstehende Veränderungen Beschäftigung“ abschließen.

aller Parteien und großen Or- in der DDR benötigt“. Seite Bundesschatzmeister Klaus- J. ECKEL ganisationen der DDR. Dieter Pahl hat an Partei- Pahl Im Mai 1989 hatte er freunde Musterverträge ver- sich als FDGB-Mitglied schickt, nach denen stets „Die nerisch die Bilanz, auch bei den Kommunal- Republikaner, Plittersdorfer wenn tatsächlich kein Geld wahlen für die NF auf- Str. 91, 53173 Bonn“ als Ar- fließt. Den gelegentlich fi- stellen lassen und war beitgeber genannt werden sol- nanziell klammen Republika- in seinem Heimatdorf len. Der Monatslohn von 500 nern waren schon mal staatli- Walow gewählt wor- Mark soll allerdings nicht aus- che Gelder gekürzt worden, den. Dem Staatssicher- gezahlt werden. Mit einer weil Zuwendungen laut Par- heitsdienst war der Po- „Verzichts-Erklärung“ spen- teiengesetz nicht höher aus- litiker allerdings ver- dendieArbeitnehmer den Be- fallen dürfen als die Eigen- dächtig: In Spitzel-Be- trag umgehend der Partei. einnahmen einer Partei. Pro richten taucht Seite als Der Trick: Spenden können Spendenmark, die einer Par-

Querulant auf, weil er M. MEYBORG / SIGNUM als Einnahme verbucht wer- tei zufließt, zahlt der Staat schon auf der ersten Seite den und verbessern rein rech- neuerdings 50 Pfennig dazu.

16 DER SPIEGEL 30/1994 .

Außenpolitik Claqueure für Clinton Die Berliner Außenstelle des Bundeswirtschaftsministeri- ums hilft mit, damit sich aus- ländische Staatsgäste in der P. PATRICK / GAMMA / STUDIO X Clinton (in Berlin)

Bundesrepublik wohl fühlen. Als US-Präsident Bill Clin- ton in die Hauptstadt kam und vor dem Brandenburger Tor zu einer als historisch an- gekündigten Rede anhob, durften die Mitarbeiter des Ministeriums zeitweise ihrem Arbeitsplatz fernbleiben, um die Ansprache des Präsiden- ten zu hören und das Publi- kum zu verstärken. Wer we- gen des Clinton-Besuchs Ar- beitszeit versäume, brauche hernach nicht nachzuarbei- ten, hieß es großzügig gegen- über den Claqueuren. Koalition ohne Mehrheit „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundes- tagswahl wäre?“

CDU/CSU 40 SPD 37 FDP 6 Grüne 8 DEUTSCHE PDS 5 INSGESAMT Republikaner 1 Sonstige 3

Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; Angaben in Prozent; 1500 Befragte, 18. bis 20. Juli 1994 .

DEUTSCHLAND

Medien DAS SCHWARZE IMPERIUM Eine multimediale Großmacht, konservativ und regierungstreu, hat sich Filmhändler Leo Kirch zusammengekauft. Medienkontrolleure blieben ohnmächtig, im Wahljahr stützt der Mogul den Kanzler mit Fernseh- sendern und Massenblättern. Modell Italien: Die Telekratie ist, im Gleichschritt, auf dem Vormarsch.

einen größten Triumph genießt Leo Kirch starr wie ein Denkmal. Der SMedienunternehmer, der das Dun- kel und die Diskretion liebt, sitzt im grel- len Scheinwerferlicht und trinkt stoisch seinen Kaffee. Unwirsch wehrt der medienscheue Medienunternehmer die Schwärme von Fragestellern und Kameraleuten ab. „Ich kann Sie nur hören, aber nicht se- hen“, erzählt Kirch, 67, und spielt damit auf eine alte Leberkrankheit an, die ihm vor allem morgens das Augenlicht trübt. Als Aufsichtsrat präsentierte sich Mit- Eigentümer Kirch am Mittwoch voriger Woche im Berliner Internationalen Con- gress-Centrum zum erstenmal auf der Hauptversammlung des Axel Springer Verlags. Seit diesem Tag ist der geheim- nisumwitterte Filmhändler aus Bayern, der sich im Lauf der Jahre einen giganti- schen Konzern zusammengekauft hat, der starke Mann im größten Zeitungs- haus Europas: Er hat nicht nur, offen und verdeckt, einen Großteil der Aktien an sich gebracht, sondern auch Manager seines Vertrauens an den wichtigsten Schaltstellen im Vorstand plaziert. Neun Jahre dauerte der Kampf um das Erbe des national gesinnten Verlegers Axel Cäsar Springer. Nach Ansicht sei- ner Nachfahren ist es jetzt unter die Räu- ber gefallen. Das konservative Unternehmen Springer mit rund 20 Tages- und Sonn- tagszeitungen (darunter Bild, Bild am Sonntag, Welt, Welt am Sonntag), mit zwei Dutzend Wochen- und Monatszeit- schriften (darunter Hör zu, Funk Uhr und Journal für die Frau) und einem Jah- resumsatz von 3,45 Milliarden Mark wird jetzt Maschinenraum in Kirchs giganti- scher Meinungs- und Unterhaltungsfa- brik. Noch nie hat in Deutschland, allen Medienkontrolleuren und Kartellwäch- tern zum Trotz, nach dem Krieg ein einzelner Unternehmer soviel Medien- macht in einer Hand konzentriert wie Kirch. Außer dem Springer-Verlag kontrol-

W. P. PRANGE liert er zusammen mit seinem Sohn Tho- Medienherrscher Kirch: „Konservativer Gleichklang mit dem Kanzler“ mas, 36,

18 DER SPIEGEL 30/1994 .

i den größten Teil des Film- und Fern- sehprogrammhandels in Deutschland – wer immer Spielfilme abspielen will, Der Kirch-Konzern Wichtigste Unternehmen und Beteiligungen kommt an Kirch und seinen mehr als 15 000 Konserven kaum vorbei; i durch qualifizierte Beteiligungen die Film- und 100 % 100 % 100 % 50% Fernsehstationen Sat 1, Pro 7, Kabel- Lizenzhandel kanal und Deutsches Sportfernsehen Taurus-Film Taurus- BetaFilm ISPR Internationale Sportrechte- Video Verwertungsgesellschaft 50% (siehe Grafik); (z.B. Fußball-Bundesliga) i rund die Hälfte der deutschen Film- und Fernsehproduktionen. 43% 47,5% 25% 40% 34% 24,5% 25% Hinzu kommen zahlreiche Beteiligun- Fernsehsender gen an Musik-, Serien-, Video- und Syn- Sat 1 Pro 7 45% Der Kabel- Premiere Teleclub, Telepiù, Deutsches Tele Cinco, chronproduktionen sowie Anteile an kanal (Pay TV) Schweiz Italien Sportfern- Spanien (Pay TV) (Pay TV) sehen Medienunternehmen im Ausland (siehe 20% Sohn Thomas Kirch Grafik). Zusammen mit anderen Kon- 24,9% zerngiganten wie Bertelsmann investiert 35,1% 49% Kirch auch in die Zukunftsmärkte des Print-Medien Informationszeitalters: etwa beim Teletip/Televizia, Abonnementsfernsehen (Premiere) und Axel Springer Tschechien ins Pay-per-View-Fernsehen, bei dem Verlag der Zuschauer nur für diejenigen Filme zahlt, die er tatsächlich auch sieht, oder Film- und Fern- 51 % 46,5% 100 % 100 % in das interaktive Fernsehen, bei dem sehproduktion der Endverbraucher Pornovideos, den Neue Deutsche Neue CBM Unitel Quelle-Katalog oder die Pizza Marghe- Filmgesellschaft Constantin rita über den Datenhighway ins Haus ordert. lange trommeln ließ, bis er selbst als Mi- die Spitze katapultiert hat, will das Durch das Beutestück Springer ist nisterpräsident die Macht im Lande er- Kirch-Kartell die bestehende Macht ze- Kirchs unheimliches Imperium zur mul- greifen konnte. mentieren: Für das Superwahljahr hat timedialen Großmacht gewachsen. Kon- Seither, so Glotz in der Woche, gehö- Kanzler Helmut Kohl nun den denkbar kurrenten wie RTL-Chef Helmut Tho- re die „Machtarchitektur moderner In- stärksten Verbündeten. ma warnen, Kirch sei längst zur „Gefahr formationsgesellschaften zu den drei Der Medienhändler aus München, für die Demokratie“ geworden. Und oder vier Zentral-Themen der zeitge- streng katholisch und bibelfest, ist Men- nicht nur dem sozialdemokratischen nössischen Politik“. Die Telekratie be- tor des Politikersohns Franz Georg Medienprofessor Peter Glotz fällt, wenn ginnt die Demokratie zu überlagern: An Strauß und fest integriert in die bayeri- er an Kirch denkt, natürlich der italieni- solchen Mediengiganten vorbei kann sche CSU-Machtelite. Dem wichtigsten sche Unternehmer Silvio Berlusconi, 57, niemand mehr regieren. seiner engen politischen Freunde, dem ein, der seine Zeitungen und Fernseh- Während Berlusconi mit seiner Me- Pfälzer Helmut Kohl, ist Kirch bedin- sender für ein Bündnis aus rechten Bür- dienmacht eine geschädigte Parteiland- gungslos ergeben. Kirch sei, so der gerbewegungen und Neofaschisten so schaft total verändert und sich selbst an Dortmunder Medienwissenschaftler Horst Röper, ein „Konservati- ver, der im Gleichklang mit dem Kanzler schwingt“. Sogar eine Chef-Personalie bei Springer wurde in Kohls Heimat Ludwigshafen vorbe- reitet. Dort bat der Kanzler im Herbst vorigen Jahres, verbrei- ten Branchenkenner, einen an- deren guten Freund um Rat: Dieter Schaub, 56, Verleger der mächtigen Rheinpfalz-Zei- tungsgruppe, sollte helfen, ei- nen Nachfolger für den verstor- benen Springer-Chef Günter Wille zu finden. Schaub war gefällig und emp- fahl seinen Spitzenmanager Jürgen Richter, 52 – für den Kanzler kein Nobody. Kohl selbst hingegen erklärt intern, er habe Richter früher nicht ge- kannt. Der Zeitungsprofi jedoch di- rigierte seit der Wende die größte deutsche Regionalzei- tung Freie Presse in Chemnitz,

ACTION PRESS die Kohl als ersten Ex-SED- Verlagsgründer Springer: Erbe in fremden Händen Verlag von der Treuhand di-

DER SPIEGEL 30/1994 19 .

DEUTSCHLAND

rekt in die Obhut seines Rheinpfalz- Aufsichtsrat Joachim Theye, 54, beauf- den Bereich Zeitungen. Aus dieser Ent- Freundes Schaub gelenkt hatte. tragt, den Bewerber zu mustern. Theye scheidung erwuchs ein Putsch. Der Münchner Personalberater Die- schrieb ihn diensttauglich. Kurz darauf Auf der Hauptversammlung vergange- ter Rickert schließlich führte den quirli- schloß Springer-Aufsichtsratschef und ne Woche wurde Richter, erst knapp drei gen Kostendrücker Richter in die Kirch- Testamentsvollstrecker Bernhard Serva- Monate im Haus, unerwartet zum Vor- Sphäre. Zunächst wurde Kirchs Inti- tius, 62, den Vertrag mit Richter ab – er standschef gekürt – der designierte mus, der Bremer Anwalt und Springer- wurde zunächst Vorstandsmitglied für Thronfolger Horst Keiser, 58, ein langge- dienter Springer-Manager, war das Op- fer. Kirch, ungeduldig und machtbesessen, brachte Oberaufseher Servatius zum bru- talen Bruch mit der Vergangenheit. Mit „Wächter der Politik“ seinen Stimmpaketen hätte er den über- forderten Springer-Verweser bei der Springer-Chef Jürgen Richter über Medienmacht und Leo Kirch Wahl zum Aufsichtsrat arg in Bedrängnis bringen können. „Auf sein energisches SPIEGEL: Herr Richter, über Nacht nehmen dieser Größenordnung muß Betreiben hin vereinbarten Gesellschaf- sind Sie Chef in Europas größtem sich wandeln. Die Unternehmensphi- ter und Aufsichtsräte“, so die Wirt- Zeitungshaus geworden. Warum die- losophie und politische Ausrichtung schaftswoche, „endlich klare Machtver- se Eile? aber bleiben unverändert. Wir fühlen hältnisse zu schaffen.“ Richter: Es ist sicherlich außerge- uns als Wächter der Politik. Seinen neuen Vertrag durfte Keiser wöhnlich, wie ich hier beginnen SPIEGEL: Wo sehen Sie Ihre größte erst gar nicht erfüllen –obwohl er Anfang muß, aber auch vertretbar. Es Herausforderung? Juni auf einer Manager-Tagung schon als herrschte Übereinstimmung im Auf- Richter: Die Lebenszyklen von Zeit- Nachfolger des Springer-Oldtimers und sichtsrat. Er müßte zu den Beweg- schriften sind kürzer geworden. Ver- Vorstandsvorsitzenden Günter Prinz, 64, gründen Auskunft geben. lage wie Springer müssen da schneller präsentiert wurde. SPIEGEL: Ihre schnelle Beförderung hat der Großaktionär und Medien- unternehmer Leo Kirch bestimmt, der jetzt das Sagen bei Springer hat. Richter: Nein, das muß ich energisch zurückweisen. Überall ist zwar zu le- sen, ich sei ein Kirch-Mann. Ich habe Herrn Kirch in meinem Leben aber erst drei- oder viermal gesehen, das erstemal einen Tag vor Weihnachten 1993. SPIEGEL: Da sind Zweifel ange- bracht. Auch Ihre eigene Beleg- schaft sieht Sie als Kirch-Gefolgs- mann. Richter: Es gibt keine Hotlines zwi- schen mir und Kirch. Sein Einfluß bleibt im aktienrechtlichen Rahmen. Ich bin allen Aktionären und Mitar- beitern verpflichtet. SPIEGEL: Im Springer-Aufsichtsrat

hat Kanzlerfreund Kirch für einen M. BRINCKMANN klaren Unions-Kurs der Verlagsblät- Springer-Aufsichtsrat Kirch* ter zur Bundestagswahl plädiert. reagieren. Wir haben relativ viele „Nacht-und-Nebel-Aktion“ Richter: Das habe ich auch gelesen. Instanzen und Hierarchieebenen. Unsere Leser erwarten auch einen Da müssen wir schlanker werden. Mit Keiser wurden die Alt-Springer- gewissen Standpunkt, und der ist SPIEGEL: Das klingt nach neuen Vorstände Claus Liesner (Finanzen) bürgerlich-konservativ. Daran wird Entlassungen im großen Stil. und Hans-Joachim Marx (Technik) vor- sich nichts ändern. Kirch greift nicht Richter: Nein. Aber wir müssen alle zeitig in Rente geschickt. Dabei hatte in unsere Redaktionen ein. Ressourcen im Hause aufspüren und Servatius noch Ende Januar Harmonie SPIEGEL: Der Kirch-Medienverbund nutzen, um die Herausforderung er- verordnet: „Für das Zusammenwach- hat eine ungewöhnliche Machtfülle folgreich annehmen zu können. sen, für die Heilung mancher Verletzun- erlangt. Droht ein deutscher Berlus- SPIEGEL: Der Verlag muß künftig gen“ sei Keiser „eine ganz wichtige coni? mehr Geld verdienen. Hat die defizi- Station“. Richter: Purer Unsinn. täre Welt ein Zukunft? Aus der versöhnlichen Stimmung SPIEGEL: Springer hat sich ja immer Richter: Die Welt ist ein Verlustob- wird wohl nichts. Richter fördert nun als politisches Zeitungshaus verstan- jekt, aber ohne sie kann ich mir karrierewillige Manager, die er auf sich den. Nun ist aber, durch den Coup Springer nicht vorstellen. Es wird einschwört. Höchste Priorität für den im Vorstand, Unruhe entstanden. schwierig, sie in schwarze Zahlen zu neuen Alleinherrscher, der sogar ohne Richter: Sicher gibt es eine Zäsur – führen. Ein Haus mit diesem An- Stellvertreter auskommt, ist eine Diät das belegt schon der Wechsel bei den spruch aber kann nicht alles in Mark handelnden Personen. Ein Unter- und Pfennig berechnen. * Mit Vorstandschef Jürgen Richter, Friede Sprin- ger auf der Springer-Hauptversammlung vergan- gene Woche in Berlin.

20 DER SPIEGEL 30/1994 .

Abhängigkeiten geschaffen werden, die dem Hause Springer eine neue Identität aufzwingen“. Eine öffentliche Ohrfeige für Kirch, des Kanzlers Chefclaqueure. Rund eine Milliarde Mark hat Kirch in die Machtergreifung bei Springer in- vestiert. Ein Treuhänder-Konsortium aus Banken (Oppenheim, Bremer Lan- desbank, Norddeutsche Landesbank), Versicherungen (Gerling) und Privatfi- nanziers (etwa Otto Wolff von Ameron- gen) hat ihm dabei geholfen. Mit Dro- hungen, Bluffs, Taschenspielertricks und politischer Kumpanei kam der Kohl-Freund zum Ziel. Dabei glaubte der Gründer Axel Cä- sar Springer, er habe die Zeit nach sei- nem Tod ordentlich geregelt. Die süd- deutsche Verlegerfamilie Burda sollte zusammen mit den Springer-Erben den Zeitungskoloß lenken. Doch 1985, kurz vor Springers Gang

ACTION PRESS an die Börse, brachte das Hausinstitut Sat-1-Moderatorin Schneiderbanger: Unions-Plausch am Sonntag Deutsche Bank den aggressiven Aufstei- ger Kirch ins Spiel. Die Banker waren für den verfetteten Verlagsapparat – fast neunköpfigen Aufsichtsrat hat er immer vom unternehmerischen Erfolg des 100 Direktoren bangen jetzt um ihre mehr Getreue. Münchner Filmhändlers so überzeugt, Pfründen. Das entspricht der Linie sei- Seit kurzem kontrolliert Kirch dort daß sie zur Vernunftehe zwischen Print nes Großaktionärs: Kirch liebt schlanke drei Sitze: Außer ihm und seinem engen und Elektronik rieten. Eher widerwillig Verwaltungen, die ihm den direkten, Vertrauten Theye überwacht nun auch fügte sich der bereits todkranke Sprin- persönlichen Zugriff garantieren. Wolfgang Steinriede, 60, die Springer- ger und verkaufte zehn Prozent der Ak- Die jüngste „Nacht-und-Nebel-Akti- Geschäfte. Der Vorstandschef der Ber- tien an Kirch – angeblich mit dem Zu- on“, so der Ahrensburger Springer-Be- liner Bank ist einer von Kirchs wichtig- satz, der Branchenfremde erhalte „kei- triebsratschef Erwin Kroiß, wird den sten Finanziers und steuerte Kredite für ne weitere Aktie und keinen Sitz im Konzern erneut viel Geld kosten, Ex- Pro 7 und die Produktion des Kinofilms Aufsichtsrat“. perten schätzen rund 15 Millionen „Das Geisterhaus“ der Kirch-Tochter Den neuen Teilhaber muß Springer Mark. „O Gott, o Gott, wir müssen Neue Constantin bei. tief verachtet haben. Er bezeichnete schon wieder sparen, weil hohe Abfin- Nach Kirchs Take-over im sechsköpfi- Kirch noch Anfang der achtziger Jahre dungen gezahlt werden müssen“, klagt gen Vorstand gewöhnen sich Springer- als „Kriminellen“ und fügte hinzu, in der Arbeitnehmervertreter. Sohn Nicolaus, 31, sowie die Enkelin seinem Haus könne er „keine Geschäfte Seit 1987 haben geschaßte Führungs- Ariane, 31, und Enkel Axel Sven Sprin- mit Kriminellen gebrauchen“. Dies be- kräfte mehr als 70 Millionen Mark zum ger, 28, an den Gedanken, ihren Erbteil zeugte Springer-Stratege Servatius 1989 Abschied mitbekommen. Gewinne in bar zu kassieren. Der Hauptver- in einem Prozeß wegen ehrenrühriger konnte der Verlag in den vergange- sammlung und dem festlichen Empfang und verleumderischer Behauptungen, nen zwei Jahren nur machen, weil die blieben sie vorige Woche demonstrativ den Kirch angestrengt hatte. Preise für Papier stark fielen und das Unternehmen seine hochprofitable Konzentrierte Sender Zuschauer Netto-Werbe- in Prozent; umsatz 1993 in Beteiligung am Reisekonzern TUI Deutschlands größte Fernsehmacher im Vergleich 1.Hj. 1994 Millionen Mark verkaufte. Nun soll Kirch-Mann Richter den Familie P Konzern aus dem Schlamassel führen. R 27,0 2020 Leo Kirch O Der Kabelkanal DSF „Die Gründerzeit nimmt Abschied“, be- schönigt Springer-Eminenz Servatius. Einen der „größten deutschen Medien- CLT/ 23,1 1947 Coups“ sieht dagegen die Financial Bertelsmann Times. Und RTL-Chef Thoma kom- mentiert, wie immer, drastisch: „Kirch Öffentlich- 34,2 815 übernimmt die totale Macht.“ Rechtliche Springer ist nicht mehr Springer: Der Verlag ist nur noch ein Kästchen in Kirchs Organigramm. fern, Witwe Friede Springer, 51, kämpf- Mit zehn Prozent der Anteile gab sich Auf dem Papier hält Leo Kirch zwar te sichtbar mit den Tränen. Nicolaus Kirch nie zufrieden. Nach Springers lediglich 35 Prozent der Anteile plus ei- Springer zum SPIEGEL: „Kein Kom- Tod, im Herbst 1985, kaufte er über ne Aktie. Und offiziell besitzen die Er- mentar. Das sagt doch alles.“ Strohmänner und befreundete Banken ben um die Verlegerwitwe Friede Sprin- In einem offenen Brief, Anfang März heimlich Springer-Aktien auf. Kurzzei- ger 50 Prozent plus eine Aktie. im Wochenblatt Die Zeit, beschwerten tig hatte er schon 1988, zusammen mit Doch tatsächlich bestimmt Kirch den sich die drei Erben, sie beobachteten den Burda-Brüdern Franz und Frieder, Kurs: Auf sieben Prozent der Aktien „mit wachsendem Entsetzen“, wie ent- die Mehrheit. hält er ein Vorkaufsrecht, die Zahl der gegen dem Willen des Vaters und Groß- Doch für 530 Millionen Mark kaufte Kleinaktionäre schwindet offenbar, im vaters jetzt „Allianzen geschmiedet und Friede Springer die Mehrheit von den

DER SPIEGEL 30/1994 21 .

Burdas zurück. 400Millionen Mark muß- te sie sich dafür mit Krediten finanzieren lassen – Kirch stand wieder draußen vor der Tür. Der Filmkaufmann, damals selbst hoch verschuldet, gab freilich nicht auf. Keiner konnte Kirchs Machtwillen stop- pen, selbst der langjährige Springer-Chef Peter Tamm nicht. Sein Nachfolger, Günter Wille, machte seit Mitte 1991 den Weg für Kirch frei. Von neuen Zeitschriften, wie der ge- planten deutschen Ausgabe des österrei- chischen Magazins News, hält Kirch we- nig. Noch mehr TV-Kanäle, die seine Fil- me abspielen, und die elektronische Zei- tung aus dem Computer sind ihm wichti- ger als Print-Markt-Investitionen. Den Journalisten und den Kreativen mißtraut Kirch.Wohldeshalblehnte er es ab, den langjährigen Bild-Chefredakteur Günter Prinz auch nur als Berater, ge- schweige denn als Aufsichtsrat, zu be- schäftigen. So einer wie Prinz, für viele bei Sprin-

ger ein journalistischer Übervater, istnun R. JAHNKE / ARGUS überflüssig: In Kirchs Strategie dienen Neubau des Springer-Hauses in Hamburg: „Allianzen geschmiedet und

Fernsehens, von Union und FDP 1984 auf den Weg gebracht, wurde er selbst TV-Unternehmer. Aus diesen Tagen kennen und schätzen sich Kirch und Kohl, der als rheinland-pfälzischer Mi- nisterpräsident jahrelang dem Verwal- tungsrat des ZDF vorstand. Unionsregenten in den Bundeslän- dern haben die TV-Sender aus dem Hause Kirch stets bevorzugt mit Lizen- zen bedacht. Kirchs Sat-1-Programm wurde Anfang der achtziger Jahre sogar in der Mainzer Staatskanzlei des damali- gen Ministerpräsidenten Bernhard Vo- gel (CDU) konzipiert. Auch auf andere Weise halten Uni- onspolitiker ihre Hand über Kirch: Sie haben immer wieder verhindert, daß das

M. BRINCKMANN W. P. PRANGE Medienrecht für besseren Schutz vor Verlagsveteranen Prinz, Keiser: Abschied von der Gründerzeit Konzentration sorgt. Für solche Förderung der Telekratie Zeitungen und Zeitschriften vor allem Beisheim, 70. Der Gründer der Dis- stattet Kirch, nicht erst seit Anbruch des als machtvolles Werbeinstrumentarium countkette Metro (Jahresumsatz 70Milli- Superwahljahrs 1994, großzügig Dank für die hauseigenen elektronischen Me- arden Mark), maßgeblich an den Kauf- ab. CSU-Mitglied und Sat-1-Informati- dien. ARD-Chef Jobst Plog: „Je mehr hausriesen Kaufhof und Horten beteiligt, Kirch bei Springer zu sagen hatte, desto erwarb vor über vier Jahren einen großen unverblümter wurde die Promotion von Teil des Kirch-Filmlagers und ist am Ka- Die Blätter des Hauses Bild für seine TV-Sender.“ belkanal des Münchners beteiligt. Die sollen zur Wahl Der gerissene Unternehmer Kirch, Filme des Senders Pro 7 stammen fast ex- patriarchalisch und am liebsten Mono- klusiv von Lieferant Beisheim, stellten pro Kohl berichten polist, personifiziert die Allianz von deutsche Medienkontrolleure vor kur- Großkapital, Politik und Macht. Sei- zem bei einer Prüfung überrascht fest. onsdirektor Heinz Klaus Mertes, 51, nem Räderwerk soll kein Bürger mehr Kirch, Winzersohn aus der fränkischen glänzt bei Hofe als Confe´rencier. Sei- entkommen: Von der Morgenzeitung Weinstadt Volkach, hat es mit seiner Ge- nem Idol Kohl widmet er etwa die Polit- („Bild Dir Deine Meinung“) bis zu den schäftsidee aus den fünfziger Jahren weit Talkshow „Zur Sache, Kanzler“. Dort Schlummernachrichten soll er Trends gebracht: Vor allem in den USA kaufte er darf der CDU-Chef auf Stichwort lang- und Werbung folgen, amüsiert bis zur günstig Filmpakete ein und verscherbelte weilige Parteireden halten. Beim gele- Besinnungslosigkeit. Meinungsvielfalt, sie hierzulande gegen einen ordentlichen gentlichen Abendessen im Bonner ja Dissens – dafür ist in Kirchs Medien- Aufpreis an Fernsehsender. Kanzlerbungalow vertiefen die beiden welt kaum Platz. Jahrelang belieferteer fast allein die öf- ihre Freundschaft. Die Expansion des schwarzen Imperi- fentlich-rechtlichen Anstalten ARD und Zur Fußball-Weltmeisterschaft spen- ums finanziert der Handelstycoon Otto ZDF. Mit der Expansion des Kommerz- dierte der Kanzler-Sender dem Regie-

22 DER SPIEGEL 30/1994 .

DEUTSCHLAND

Bald, so glaubt RTL-Chef Thoma, schen Sportfernsehen (DSF), am italie- steigt bei Springer noch ein anderer nischen Pay-TV Telepiu` sowie an der konservativer Kirch-Partner ein. Mit Produktionsfirma Tricom (Miniserie dem Münchner Verleger Hubert Burda „Das Phantom der Oper“). (Focus, Bunte), gibt Thoma zu beden- Richtig groß ins Geschäft käme ken, betreibe Kirch schon jetzt ein Se- Kirch, wenn sich der italienische Regie- niorenradio und eine elektronische Pro- rungschef unter dem Druck der Öffent- grammzeitschrift. lichkeit zumindest teilweise von seinen Mit der Übernahme bei Springer hat drei TV-Ketten Canale 5, Rete 4 und Kirch sein Ziel erreicht, in Deutschland Italia 1 trennen müßte. Sie kontrollie- die führende konservative Medienkraft ren fast die Hälfte des italienischen zu werden. Neue Wachstumschancen Marktes. will er nun verstärkt im Ausland suchen. Kirch, so berichtete die Zeitung La Repubblica vergangene Woche, habe in Abstimmung mit Berlusconi schon eine Für wirksame Schritte Schweizer Wirtschaftsprüfungsgesell- gegen das Kartell schaft beauftragt, die TV-Firmen zu analysieren. Die bisher getrennt geführ- scheint es schon zu spät ten drei Programme sollen unter einer Sub-Holding vereinigt werden. Die Zusammen mit dem erzkonservativen neue Zentralfirma könnte dann an die amerikanisch-australischen Medienty- Börse gehen, ein dickes Aktienpaket coon Rupert Murdoch, dem ein welt- würde sicher, nach gewohntem Muster, weites Netz von Fernsehstationen ge- für Kirch abfallen. hört, plant Pro 7 einen europäischen Kritik an der beispiellosen nationalen Abonnementsender. und internationalen Machtkonzentrati- Abhängigkeiten geschaffen“ Und natürlich ist Kirch auch mit dem on in der Hand eines einzelnen Me- italienischen Telekraten Berlusconi dik- dienunternehmers will der neue Sprin- rungschef und 80 persönlichen Gästen ke. Als der Mann aus Mailand ein euro- ger-Chef Richter nicht gelten lassen für 250 000 Mark eine Flugreise nach päisches Fernsehreich aufbauen wollte, (siehe Interview Seite 20). Richter: Chicago, first class. „Für 1500 Leute hat gründeten Kirch, Berlusconi und der „Kirchs Einfluß bleibt im aktienrechtli- das vielleicht ein Rüchlein“, wiegelte britische Verleger Robert Maxwell, der chen Rahmen.“ Regierungssprecher Dieter Vogel ab, 1991 unter nicht geklärten Umständen Medienkontrolleure wie der Berliner „für die große Masse nicht.“ Rechtzeitig nach dem Zusammenbruch seines Impe- Hans Hege dagegen fürchten, daß es zum Superwahljahr startete Mertes eine riums ums Leben kam, das Consortium für wirksame Schritte gegen das Kartell Polit-Show am Sonntagmorgen, in der Europe´en pour la Te´le´vision Commer- von Medien und Macht schon zu spät Moderatorin Elke Schneiderbanger ciale. ist – die Telekratie läßt sich, auch hier- gern mit konservativen Politikern Aus dem Euro-Satelliten-Programm zulande, kaum noch aufhalten. Es han- plauscht. wurde nichts. Doch die Kirch-Connec- dele sich, so Hege, um eine „bedenkli- Beim Sender Pro 7 wird schon bei tion nach Italien hielt. Berlusconi und che Fehlentwicklung“. Der Fernseh- Einstellungsgesprächen, berichten Mit- der Filmhändler besitzen mittlerweile wächter: „Unsere demokratische arbeiter, Wert auf Nähe zur Union ge- gemeinsam Anteile am spanischen Grundordnung lebt von der Begren- legt. Die Nachrichtenredakteure brach- Kommerz-TV Tele-Cinco, am Deut- zung von Macht.“ Y ten das Kunststück fertig, Akteure aus einem CDU- Wahlspot, geschicktes Recy- cling, als Hauptpersonen in einem redaktionellen Beitrag auftreten zu lassen – am Vorabend der Europawahl. Die tränenreiche, doppelt genutzte Story dreht sich um einen westdeutschen Rent- ner, der in Schwerin nach 46 Jahren – der Einheit sei Dank – seine Jugendliebe wiederfindet. Im Aufsichtsrat forderte Kirch – im Gleichschritt marsch – bereits vergange- nen Herbst, die Blätter des Hauses sollten zur Bundes- tagswahl pro Kohl berichten. Den Anspruch des Altverle- gers Springer, sein Unter- nehmen müsse ein „politi- sches Zeitungshaus“ sein, verkürzt Kirch zum Auftrag,

der CDU eine Plattform zu I. BREZNITZ bieten. Partner Berlusconi, Kirch: Telekratie überlagert Demokratie

DER SPIEGEL 30/1994 23 . OSTWESTBILD Präsident Herzog beim Bürgerempfang*: „Da hilft Ihnen kein Bundestag und schon gar nicht der Kanzler“

Bundespräsident Leise Lust am Piesacken SPIEGEL-Reporter Hans-Joachim Noack über Roman Herzogs erste Auftritte

u den Auffälligkeiten, die in seiner schließlich zu, was ihm nun selbst miß- ein „vernünftiges Selbstbewußtsein“ erst dreiwöchigen Amtszeit einen fällt. herausbilden? Zgewissen Aha-Effekt produzierten, Vermutlich wäre das Teˆte-a`-teˆte auch Und wo wäre das dringender nötig als gehören ein paar Pressefotos. Die Bilder kaum der Rede wert, hinge dem Präsi- im deutschen Osten, den Roman Her- entstammen jenem Augenblick, da der denten nicht ein locker hinausposaunter zog nun mit Vorrang „durchzupflügen“ neue Bundespräsident einen hohen Gast Satz an, der zu diesem Bild zu passen beabsichtigt. Nach Sachsen und Berlin verabschiedet. Er strahlt mit ihm um die scheint. „Wir haben es einigermaßen ge- absolviert er in Thüringen bereits den Wette. Der Besucher heißt Li Peng. schafft“, hatte da an Pfingsten der gerade dritten Antrittsbesuch. „Herzerfri- Darf man so einem Regierungschef gewählte Niederbayer aus dem Stegreif schend direkt“, wie ihn der Erfurter Ka- gegenübertreten, der als Diktator und zum besten gegeben, „die Verkrampfung binettschef Bernhard Vogel rühmt, Massenmörder gilt? In der Umgebung der späten Nation abzulegen.“ streut er dort mit der obligaten Lässig- des Roman Herzog registriert man sehr Zu solcher generell leichteren Art be- keit seine zentrale Botschaft. wohl, daß der Schnappschuß latenten kennt er sich, auch wenn das natürlich et- Dieses nach Jahren der Fremdbestim- Argwohn schürt. Bestätigt sehen sich al- was anderes ist, als jetzt einen chinesi- mung daniederliegende kollektive Ego le, die den Nachfolger Richard von schen Gewaltpolitiker anzugrinsen. Sei- müsse sich erneuern, indem es „aus den Weizsäckers seit eh und je für moralisch ner Aufgabe möglichst unverkrampft Städten und Landschaften wächst“, do- ziemlich unempfindsam halten. nachkommen zu wollen, habe ihm im ziert der Anhänger einer Republik der Das deutsche Staatsoberhaupt erläu- übrigen im Vergleich zu den kritischen „Provinzen und Stämme“. Alsdann tert „den Vorgang“ auf seine Weise. In Stimmen „das Zehnfache“ an positivem strebt er mit leiser Lust am Piesacken dem vorangegangenen, etwa einstündi- Echo eingetragen: „Das Wort fasziniert seiner Pointe zu: Das könne für die Be- gen Gespräch habe er „die ganze Zeit die Menschen.“ troffenen „kein Bundestag entscheiden lang entschlossen bis grimmig geguckt“ Mögen ihn Nörgler einen Populisten und schon gar nicht der Kanzler“. und gebührend das Thema Menschen- nennen – der 60jährige, vormals oberster In der Psychologie nennt man so et- rechte angepackt – „nur am Ende lief Verfassungsrichter, bleibt bei seiner Phi- was Projektion – eine Technik, auf an- die Sache blöd“: Von Fotoreportern ge- losophie, mit der er der Bevölkerung ein dere zu übertragen, was im eigenen Ich frotzelt („Lachen Sie mal“), ließ er gediegenes Normalmaß in ihrem Ge- rumort. Was kann das Parlament für fühlsleben anempfiehlt. Wie denn sonst ihn, Herzog, letztlich bewirken und was * Im Rathaus von Erfurt. sollte sich vor allem in Umbruchzeiten der Kohl? Er, der Kontur zu gewinnen

24 DER SPIEGEL 30/1994 .

DEUTSCHLAND

sucht, hat die Kraft aus sich selbst zu da nur und zeigt die fleischigen Hände die ursprünglich erregten Genossen zu- schöpfen. vor, „daß ich die nicht mißhandle.“ mindest still. Noch bewegt er sich tastend, und es ist Roman Herzogs „stille Liebe“ zu Volk Denn der „aufgeklärte Konservative“ ihm durchaus klar, daß schon einiges da- und Vaterland – und zunächst vor allem (Herzog über Herzog) fängt jetzt tat- nebenging. Während zum Beispiel der zu den einstigen DDRlern – begnügt sich sächlich an, seinen eigenen Ton zu fin- Bundeskanzler den großen Historiker mit eher linkischen Gesten. Er bereist die den. Am 20. Juli genügen ihm im Schat- mimt und die Opfer des 20. Juli ehrt, sitzt Ost-Provinzen, um die „innere Einheit“ ten des Kanzlers ein paar Randbemer- das Staatsoberhaupt gleichsam am Kat- voranzutreiben, aber häufig scheint ihn kungen, um wirkungsvoll einer beschä- zentisch. Dort bewirtet er in seinem Ber- die Angst zu überfallen, daß schon diese menden Diskussion entgegenzutreten. liner Schloß Bellevue mit Frau Christia- Wendung zuviel Pathos in sich trägt. So Anders als sein wolkiger Parteifreund ne die Hinterbliebenen der Widerständ- umstellt er sie mit Ironie – und nicht sel- Kohl reiht er ausdrücklich „auch Kom- ler. ten Selbstironie. munisten“ in den Kreis der Widerstands- Eine ziemlich schlappe Figur macht kämpfer ein. der Rechtsprofessor, als er aushäusig – Er war auf das Amt nicht erpicht wie auf Stippvisite bei Mitterrand – den ver- „Von hinten durch der Rivale Johannes Rau – aber nun, da meintlichen Aufruhr daheim gegen Li die Brust und danach man ihn „zum Bundespräsidenten ge- Peng vor der Presse bewertet. Er findet, macht“ habe, will er auch seinen An- daß sich das nicht gehört, um dann einen ins Auge“ spruch realisieren. Nicht von ungefähr Tag später den Rückzug anzutreten. fällt ihm ein, er hätte im Herbst nächsten Man hat ihn „falsch informiert“. Spürbar lastet auf ihm der Erwar- Jahres, wäre er in Pension gegangen, ein Das sind Pannen in einer „Eingewöh- tungsdruck, den er sich mit schroff klin- neues Buch über die Weimarer Verfas- nungsphase“ (Herzog), die den New- genden Halbsätzen vom Halse zu schaf- sung vorgelegt. comer in einer merkwürdigen Isolation fen versucht. „Ich verspreche nix“, ent- Das soll seine ausgeprägt politischen zeigen, doch es scheint ihn kaum aufzu- fährt es ihm hastig, doch dann deutet er Ambitionen beweisen, die um so eindeu- regen. Was ist schon dabei, fragt er lapi- seine Einflußmöglichkeiten an, die er zu tiger für das Staatsoberhaupt gelten. Hat dar, sich „zu korrigieren, nachdem die haben glaubt: Um dem Osten beizu- er sich nicht kürzlich selbst von dem Dinge anders gelaufen sind“? Auch ein springen, werde er den Politikern „mit mächtigsten Mann der Welt, seinem Präsident muß sich irren dürfen. der Methode Herzog“ zu Leibe rücken. Gast Bill Clinton, vorsichtig abgesetzt? Ein veränderter und mehr als bloß in „Von hinten durch die Brust und da- Dessen Einfall, dem wiedervereinigten Nuancen erstaunlicher Habitus beginnt nach ins Auge“ der zuständigen Stellen Deutschland ein besonderes Gewicht zu- sich abzuzeichnen. „Unterwegs zu den will der Bundespräsident in internen zuschanzen, erfüllt den Europa-Freund Menschen“, gibt sich etwa in Suhl oder Gesprächen seine Appelle und Forde- mit Unbehagen. Schmalkalden ein frohgemuter Nonkon- rungen bohren. Das hört sich etwas ra- Es könnte aber auch sein, daß er sich formist zu erkennen, der vorweg alle baukig an und soll es auch. Der in Jahr- seine Rolle ein bißchen zu rosig ausmalt, Fallhöhen herunterzuschrauben bemüht zehnten in verschiedenen Ämtern ge- und zuweilen ahnt er es wohl. Natürlich ist: Nur was sich dem Volk als plausibel härtete Rechtsgelehrte möchte sich dürfe er „nicht mehr reden wie früher“, darstellen läßt – und sei es das Einge- seufzt der „Buprä“ ständnis eigener Fehlerhaftigkeit –, wird dann ein über das an- von ihm auch angenommen werden. dere Mal auf, während Und er fährt einstweilen nicht schlecht sich in seine Züge ein damit. In Erfurt, auf einem Bürgeremp- leiser Ausdruck des fang, erfreuen sich mehr als 400 Thürin- Bedauerns schleicht. ger an dem rustikalen Bajuwaren, der Er würde sehr sich konditionsstark ins Gedränge gern . . . zum Beispiel schiebt. Obschon der Rathauskeller ei- über den Streit, der ner Sauna gleicht, schreibt er unentwegt sich um die Beziehun- Autogramme, während ihm der Schweiß gen zur PDS zwischen von der Nasenspitze in die frischen den Parteien zuspitzt. Schriftzüge tropft. Denn Herzog wäre Nein, daß Roman Herzog da, wie ihn nicht Herzog, entginge der Tübinger Rhetorik-Professor Walter ihm, welche Konstella- Jens vorher gescholten hat, zu den Ost- tion sich da unter Um- deutschen „im Stil Kaiser Wilhelms“ ständen alsbald auftut. spräche, ist nun wirklich nicht zu beob- Was geschieht, wenn achten. Im Gegenteil: In dem ihm eige- sich am Abend des 16. nen Spott sorgt er dafür, daß die „von Oktober jene „Magde- hoher Hand aufgestellten Barrieren“, je- burger Verhältnisse“

ne Kordeln, die das Rednerpodest um- DPA wiederholen, wie sie spannen, beseitigt werden. Und er hält Gastgeber Herzog, Staatsgast Li Peng: „Lachen Sie mal“ seit Wochen die Ge- auch sonst wenig auf Etikette. müter erhitzen? Das Es mache ihm eben Spaß, flüstern die nicht als der oberste Schönredner der könnte, ja das müßte die Stunde des Hiwis – eine verständliche Beteuerung, Nation mißverstanden wissen. Präsidenten sein – eine Möglichkeit, die die der Chef dann aber doch manchmal Nach einem leicht verunglückten ihn schon jetzt beschäftigt. selbst widerlegt. Denn in Wahrheit hin- Start, der ihm den Ruf eintrug, „Schach- Hat er Bammel vor einer fälschlicher- dert diesen Präsidenten eine deutliche figur Kohls“ (Wochenpost) zu sein, be- weise als Volksfront bezeichneten Ver- Sperrigkeit, wenn ihm der Bürger allzu ginnt sich peu a` peu eine Umbewertung bindung, gegen die in Bonn die Regie- nahe kommt. Weder liegt ihm das Bad in durchzusetzen. Während frömmelnde rungsparteien mobil machen? Roman der Menge, noch weiß er mit den reich- Vaterlandsverteidiger wie der führende Herzog, der seinem Selbstbild und lich angebotenen Blumensträußen um- Christdemokrat Wolfgang Schäuble er- neuerem Image zufolge Unverkrampfte, zugehen: „Ich muß aufpassen“, sagt er kennbares Stirnrunzeln zeigen, halten sieht das „nicht so dramatisch“. Y

DER SPIEGEL 30/1994 25 .

DEUTSCHLAND

„Kampfplakate eher abstoßend“ wir- Die Inventur ist überfällig. Nichtssa- Wahlkampf ken. Gemeinsam mit dem auf Erholung gend, dröge und handwerklich schlecht bedachten Scharping entschied er sich sei fast alles in der deutschen Parteien- für die sanfte Tour. Werbung, urteilen Fachleute wie Volker Gegen die CDU-Plakate, die ehern Nickel, der Sprecher des Zentralver- Socken und „Zukunft statt Linksfront“ verkünden bands der deutschen Werbewirtschaft. und die Deutschen („Auf in die Zukunft Thomas Feicht, der als Chef der Frank- – aber nicht auf roten Socken“) schrek- furter Agentur Trust für die Grünen ar- Menschen ken sollen, begnügt sich die SPD vorerst beitet, mußte erfahren: „Beim Thema mit einer um Ironie bemühten Flugblatt- Parteienwerbung kriegen Kollegen aus Vorbereitung auf die Wahlschlacht: aktion: der Kanzler Helmut Kohl ein- der Werbebranche das Gruseln.“ Die Union entdeckt ihren trächtig mit seinem Staatsgast Erich Ho- Die Profis in den Agenturen glauben necker im Jahr 1987, dazu der auf Spaß selbstbewußt an ihre Bedeutung für die alten Antikommunismus neu, die getrimmte Spruch: „Da waren wir aber Politik. Der Wettstreit der kommenden SPD kommt auf die sanfte Tour. von den Socken, Herr Kohl.“ Wochen wird „vor allem ein Medien- Unerwartet früh und anders als ge- wahlkampf“, prophezeit Coordt von plant läßt das Magdeburger Experiment it einem Koffer voller Werbema- mit einer rot-grünen Minderheitsre- terial machte sich Günter Ver- gierung, die PDS im gelegentlichen Eine reife Birne Mheugen am vorigen Mittwoch Schlepptau, die deutschen Parteien zum für Kohl war auf die Reise nach Südfrankreich. Dort langen Endspurt in den Herbst rüsten. urlaubt Rudolf Scharping samt Fa- „Der Wahlkampf hat sein Thema gefun- den Strategen zu platt milie und Freunden in einem kleinen den“, jubilierte CDU-Generalsekretär Nest südlich von Bordeaux: letzte Rast Peter Hintze. Als „Probelauf“ für Bonn Mannstein; dessen gleichnamige Agen- vor dem langen Showdown am 16. Ok- denunzierte Helmut Kohl letzten Frei- tur denkt sich die CDU-Werbung aus. tober. tag die Wahl Reinhard Höppners zum Die Werbeprofis schätzen allerdings, Polarisieren oder menscheln – diese Ministerpräsidenten; damit sei die Bun- daß bezahlte Anzeigen oder Plakate we- Alternative wälzten der Bundesge- destagswahl am 16. Oktober vollends ei- niger dem Image einer Partei dienen als schäftsführer und der SPD-Vorsit- ne „Richtungsentscheidung“. Auftritte der Matadoren, die vom Wäh- zende auf der Terrasse unter südlicher In Wahrheit wird da in aller Eile er- ler nicht als Werbung wahrgenommen Sonne. probt, wie weit die künstlich aufgeheizte werden. Deshalb läßt sich Helmut Kohl Die Partei des Kanzlers hatte sich Stimmung trägt. Die erste Serie der neuerdings zu Unterhaltungssendungen schon auf ihren guten alten Antikom- Testwahlen ist ja ohnehin vorüber, wie in die Sat-1-Sportshow „ran“ einla- munismus kapriziert: Seither wird die Grund zur Änderung der Stoßrichtung den. „Linksfront“, die den vereinten Deut- haben so ziemlich alle Parteien. Vorsichtig testen alle Parteien Wer- schen im Herbst angeblich auch in Bonn Vor allem die aus drei Parlamenten bung „mit Schmunzeleffekt“, so Kanz- droht, verteufelt. abgewählten Liberalen und auch die So- ler-Berater Peter Boenisch. „Die Rote- Der zuletzt gescholtene Verheugen zialdemokraten, nach ihren miesen 32,2 Socken-Witzeleien hätten wir früher hofft, daß das Trommelfeuer der Union Prozenten bei der Europawahl, bauen höchstens bei der Jungen Union durch- folgenlos verhallt. Er glaubt, daß ihre Konzepte drastisch um. gehen lassen.“ FOTOS: M. DARCHINGER Wahlkämpfer Hintze, CDU-Slogans: Folgenloses Trommelfeuer?

26 DER SPIEGEL 30/1994 Nie zuvor haben die ter Zeitschriften-Anzei- Parteien mit ihrer Wahl- gen, in denen der SPD- werbung so schnell auf Chef Markantes aus sei- aktuelle Ereignisse rea- nem Privatleben („Mein giert. Die CDU läßt sich erstes Auto“) erzählt mit ihrem Hauptslogan und seine politischen für die Bundestagswahl Ziele überaus gemessen Zeit; die Entscheidung ausbreitet. fällt erst Mitte August. Stärker noch als die „Noch vor zwei Jahren Sozialdemokraten orien- stand so etwas sechs Mo- tieren sich die Liberalen nate vorher fest“, meint neu. Nach der Pleite mit Coordt von Mannstein. den „Besserverdienen- „Heute haben wir gerade den“ hat die Wirtschafts- mal drei bis vier Wo- partei plötzlich ihre Tra- chen.“ dition als Hort der Bür- Ob die „Linksfront“- gerrechte wiederent- Kampagne auch in der deckt. heißen Wahlkampfphase So gehört zu den Pla- das bestimmende Thema kat-Motiven, die Gene- sein wird oder ob die bis- ralsekretär Werner Hoy- her anvisierte General- er an diesem Montag linie – Staatsmann Kohl vorstellt, der Schmäh- überlebensgroß mit sei- brief eines Rechtsradika- nen Optimismus-Parolen len an die Ausländer- von Aufschwung und beauftragte der Bun- Beschäftigung – wieder desregierung, Cornelia stärker zum Tragen Schmalz-Jacobsen. Dar- kommt, ist noch längst unter verkündet die nicht ausgemacht. FDP: „Wir wollen jede Klar ist, daß Kohl ein Stimme. Aber diese ähnliches Mammutpro- nicht.“ gramm wie bei der Euro- Hoyer will in den kom- pawahl vor sich hat: 64 menden Wochen immer Kundgebungen soll er al- mal wieder darauf hin- lein in den letzten sechs weisen, daß die Bonner Wochen vor der Wahl be- Koalition auf Druck der suchen, 28 davon in Ost- FDP zum Beispiel das deutschland. „Die Leute Strafrecht für Homose- wollen sehen, daß ichrak- xuelle liberalisiert habe. kere“, meint der Kanzler. Auch die Aufmachung Vorsichtige Christde- SPD-Wahlplakate: Werbung mit Schmunzeleffekt der Kampagne wurde ge- mokraten glauben, daß genüber der stumpfsinni- die Magdeburger Ereignisse die Leute muß, munter weiter: „Freiheit oder gen Europa-Werbung („Im Namen der nicht gar so wahnsinnig erregen. Im- Volksfront“. Freiheit“) verändert. Die Liberalen wol- merhin sei die Wendung der Dinge in Während die Unionsparteien von Op- len sich frecher und ironischer geben, Ostdeutschland gut für das Gefühlsle- timismus („blühende Landschaften“) etwa mit Wortspielen über ihr „Pro- ben der Union. „Unser Problem in den auf Attacke umschalten, machen die So- feel“. letzten vier Jahren war, daß wir kein zialdemokraten das Gegenteil: weg von Die Konkurrenz in der Werbebranche Feindbild mehr hatten“, so ein Kanz- aggressiven Plakaten, hin zu gefühlsbe- wundert sich, daß die Liberalen über- ler-Vertrauter, „aber jetzt können wir tonten Fotos. haupt so stark auf Plakate setzen: Dabei unsere Leute richtig mobilisieren.“ Ad acta gelegt wurde die mißratene gebe es riesige Streuverluste, kleine Par- In den neuen Ländern meldeten frei- Europa-Werbung – vom Anti-Mafia- teien müßten eigentlich ihre Zielgrup- lich CDU-Spitzen wie der Mecklenbur- Plakat bis zur verunglückten Bill-Clin- pen direkter ansprechen. ger Berndt Seite und der Sachsen-An- ton-Anleihe „Arbeit, Arbeit, Arbeit“. Das haben die Grünen in diesem Jahr haltiner Christoph Bergner Bedenken Verheugens Lehre, daß sich die SPD mit Erfolg gemacht. Für den Wahlmara- gegen die plumpe Beschwörung der nicht als „Partei des Elends und der thon ’94 heuerten sie erstmals eine Pro- kommunistischen Gefahr an. Er jeden- Miesmacher“ darstellen dürfe, wird nun fi-Agentur an, die nicht aus dem Dunst- falls pflege im Umgang mit der PDS, umgesetzt in versuchsweise anheimeln- kreis der Partei stammt. Das Trust- so Bergner, „eine andere Sprache“. de, auf Zuversicht bedachte Plakatbil- Team konzentrierte die Wahlwerbung Eingedenk der Sprechchöre während der mit Kurzbotschaften wie „mehr Kin- effektvoll dort, wo für die Grünen viele der friedlichen DDR-Revolution („Wir dergeld“ oder „bezahlbare Wohnun- Stimmen zu holen sind, etwa in Univer- sind das Volk“) wechselte Hintze sei- gen“. sitätsstädten. nen martialischen Slogan, der an Ade- Nicht zuletzt merkten die sozialdemo- Zudem setzte die Agentur auf Gags nauer („Keine Experimente“) und kratischen Planer, daß es höchste Zeit und Aktionen, über die geredet wird. Strauß („Freiheit statt Sozialismus“) ist, dem breiten Publikum ihren in Die Grünen produzierten eine CD erinnert, immerhin von „Volksfront“ den Charts der Demoskopen jäh abge- („Der Große Lauschangriff“) zum The- zu „Linksfront“. Dafür wütet die CSU, stürzten Spitzenkandidaten näherzu- ma Ausländerhaß, die in den Hitlisten die im ohnehin derberen Bayern keine bringen. „Mensch Scharping“ lautet die der Stadtzeitungen weit oben steht; und Rücksicht auf Ostgefühle nehmen Schlagzeile mehrseitiger, reichbebilder- sie gründeten einen Versandhandel für

DER SPIEGEL 30/1994 27 .

DEUTSCHLAND

ökologisch sinnvolle Produkte. Im „Grünen Katalog“ können Interessierte Außenpolitik von August an Kannen aus Recycling- glas oder Füller aus Wildbirnbaumholz bestellen. „Wir haben noch nie so effizient Rätsel aus Karlsruhe Wahlkampf gemacht“, sagt Grünen- Vorstandssprecher Ludger Volmer über Der Jurist Michael Bothe über das Blauhelm-Urteil die Zusammenarbeit mit den Trust- Leuten. „Aber wir haben Kommunika- tionsprobleme.“ Bothe, 56, lehrt öffentliches Recht an Rahmen“ des Systems, wenn die Uno Viele Einfälle der Agentur sind der der Universität Frankfurt. Er vertrat die die Verantwortung für den Krieg abgibt. Öko-Partei zu gefällig und allzu kom- SPD als Kläger vor dem Bundesverfas- Es handelt sich dann um (erlaubte) merziell. Die Werbeprofis stöhnen ih- sungsgericht. staatliche Nothilfe, für die kein System rerseits über die umständlichen Ent- kollektiver Sicherheit gebraucht wird scheidungsprozesse der Grünen. it ihrem Urteil haben die Karls- und auch kein Uno-Mandat. Anfang des Monats gab es zwischen ruher Richter den Weg geebnet Aus dem Karlsruher Urteil läßt sich den Partnern erneut heftig Krach: Mfür eine politische Debatte über also nicht herauslesen, daß die Deut- Sämtliche Plakatentwürfe der Frankfur- den Sinn von Bundeswehreinsätzen. Die schen an einem Konflikt nach dem Mo- ter für die Bundestagswahl lehnte der Regierung ist dabei jedoch keineswegs dell des Golfkriegs teilnehmen könnten grüne Bundesvorstand ab. Eine reife so frei in ihrem Handeln, wie sie vor- – und damit bleibt die Beteiligung der Birne als Symbol für Kohl war den Par- gibt. Bundeswehr in derlei Fällen rechtlich teistrategen zu platt. Mit einer Frau in Eine wichtige verfassungsrechtliche problematisch. modischem Outfit auf einem anderen Streitfrage ist nun entschieden: Artikel Die Teilnahme der Bundeswehr an Plakat („Damenwahl. Kohl bleibt sit- 24 des Grundgesetzes, der die Mitglied- der Durchsetzung des Flugverbots über zen“) mochten sich die Vorstände auch schaft Deutschlands in einem „System Bosnien und der Seeblockade in der nicht anfreunden. Bis zur kommenden gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ Adria erfolgen hingegen eindeutig in- Woche sollen jetzt andere Künstler vorsieht, enthält eine militärische Opti- Vorschläge für neue Plakate machen. on: Er erlaubt die „Übernahme der mit Die Abstimmung zwischen Partei und der Zugehörigkeit zu einem solchen Sy- Werbern funktionierte auch bei der stem typischerweise verbundenen Auf- PDS nicht. Ausgerechnet Peter Platt- gaben“. Die Bundeswehr darf sich an ner, Mit-Erfinder der erfolgreichen Einsätzen beteiligen, „die im Rahmen Fernseh- und Kino-Spots der Gysi-Par- und nach den Regeln dieses Systems tei, verließ deshalb Ende Mai die PDS- stattfinden“. nahe Agentur Trialon. Deshalb ändert Die vom Gericht gewählten Um- sich jetzt das Konzept: Vorher gab es schreibungen sind jedoch keineswegs zwei Strategien, je eine für Ost und eindeutig. West, jetzt richten sich die Ost-Berliner Sind nur Bundeswehreinsätze im Auf- Werber, so PDS-Sprecher Hanno Har- trag der Vereinten Nationen erlaubt? nisch, an „die gesamtdeutsche Linke“. Oder auch selbständige Aktionen der Spätestens seit Anfang vergangener Nato oder der WEU? Woche ist die Stimmung in Agentur Es ist nämlich höchst umstritten, was und Partei trotz der Plattner-Panne ein System der kollektiven Sicherheit prächtig. „Hochgradig entzückt“ war ist, was die damit „typischerweise ver- Harnisch über Hintzes Rote-Socken- bundenen Aufgaben“ sind, wann ein Poster: Das sei Werbung für das heimli- Einsatz noch „im Rahmen des Systems“ che Markenzeichen der gewendeten erfolgt und welche Konsequenzen es Einheitssozialisten, finanziert von der hat, wenn die Regeln des Systems nicht CDU. Y oder nicht genau eingehalten werden.

Extensiv legt Außenminister Klaus H. WESSEL Schädliche Allianz Kinkel den Richterspruch aus. Er fol- Jurist Bothe gert, daß Deutsche auch in den Golf- „Problematische Perspektiven“ In Sachsen-Anhalt bilden SPD und Bündnis krieg hätten geschickt werden können. 90/Grüne eine Minderheitsregierung, die Damals hatte der Uno-Sicherheitsrat nerhalb von echten Uno-Mandaten. auf Tolerierung durch die PDS angewiesen zunächst nichtmilitärische Zwangsmaß- Warum aber geht das Gericht auf die ist. Glauben Sie, daß diese Strategie der nahmen gegen den irakischen Diktator Frage ein, ob auch die Nato, wie die SPD bei der Bundestagswahl im Oktober Saddam Hussein verhängt, um ihn zum Uno, als System kollektiver Sicherheit eher nützt oder eher schadet? Rückzug aus Kuweit zu zwingen. Nach unter Artikel 24 des Grundgesetzes den Regeln hätten die Vereinten Natio- fällt? Hier liegt das nächste Rätsel. CDU/CSU-WÄHLER DEUTSCHEWESTDEUTSCHE nen auch die militärische Verantwor- Wollten die Richter der Nato und der OSTDEUTSCHE SPD-WÄHLERPDS-WÄHLER INSGESAMT tung für den Krieg übernehmen können. WEU selbständige militärische Optio- Das aber taten sie nicht. nen eröffnen? Der Sicherheitsrat ermächtigte ledig- Das Gericht sieht die Nato als ein Sy- nützt eher 21 18 31 12 25 54 lich „die mit der Regierung von Kuweit stem kollektiver Sicherheit an; das ist schadet eher 67 70 56 82 62 34 zusammenarbeitenden Staaten“, dem keineswegs selbstverständlich. Denn an- angegriffenen Staat beizustehen und ders als die Vereinten Nationen gewährt Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; Angaben in Prozent; den Aggressor zu vertreiben. das Verteidigungsbündnis seinen Mit- an 100 fehlende Prozent: keine Angabe; 1500 Befragte, 18. bis 20. Juli 1994 Das mag man für sinnvoll erachten gliedern nicht Sicherheit voreinan- oder nicht, aber es ist kein Einsatz „im der („gegenseitig“), sondern gegenüber

28 DER SPIEGEL 30/1994 .

Dritten. Sie ist, anders als die Uno, ein wollte. Aber auch sie bauen eine Not- Bundesregierung zusammen mit den Defensivbündnis. bremse ein: Es gebe Situationen, wo Nato-Partnern weitere Militäreinsätze Hätte die Aussage des Gerichts über von einem „konkludenten Vertrags- beschließt? Es darf gerätselt werden. die gegenwärtigen Einsätze hinausrei- schluß“ auszugehen ist – von einer Ver- Weltweite Einsätze der Bundeswehr chende allgemeine Bedeutung, so eröff- tragsänderung ohne formelle Vereinba- sind jedenfalls nicht die Stunde der Exe- neten sich problematische Perspektiven. rung. Dann geht auch nach ihrer Mei- kutive, wie die Regierung zufrieden Dann hätte die Nato, wo immer sie nung nichts mehr ohne Parlament. Aber meint – eine deutliche Warnung aus eingreift, den verfassungsrechtlichen Se- wann ist das der Fall? Etwa wenn die Karlsruhe. Y gen. Sie könnte Ägypten gegen Angriffe aus dem Sudan zu Hilfe kommen oder auch Marokko gegen Algerien – alles ohne Mandat der Uno. Die Verteidi- gung von Ägypten und Marokko aber ist ganz sicher nicht mit dem Text des Alles gedeckt Nato-Vertrags vereinbar, der nur zum Beistand bei Angriffen gegen eines der Das Parlament legalisiert die Bundeswehreinsätze Mitglieder verpflichtet. Die SPD-Fraktion hatte als Klägerin m Kabinett herrschte gespannte genkommen für den geschwächten in Karlsruhe geltend gemacht, die Nato- Stille. Außenminister Klaus Kin- Koalitionspartner.“ und WEU-Beschlüsse, auf denen die Ikel bestand darauf, daß der Bun- Am Freitag voriger Woche im Teilnahme der Bundeswehr an den Ak- destag sofort in einer Sondersitzung Parlament durfte der hilfsbedürf- tionen beruhte, bedeuteten in der Sache eine sichere rechtsstaatliche Grund- tige Kinkel auch die Regierungs- eine Änderung der ursprünglichen Ver- lage für die Einsätze der Bundes- erklärung über das Karlsruher träge. Sie müßten auf eine neue völker- wehr im Balkan-Krieg schaffe. Das Urteil vortragen. Dann stimmte die vertragliche Grundlage gestellt werden. Bundesverfassungsgericht habe eine Koalition gemeinsam mit den Dafür sei die Zustimmung des Parla- Zustimmung des Parlaments zwin- Sozialdemokraten für die Teilnah- ments nötig. gend vorgeschrieben. me der Bundeswehr an der Über- wachung des Flugverbots über Bos- nien und an der Blockade in der Adria. Der bisherige Auftrag wurde zu- gleich erweitert. Die deutschen Schiffe dürfen jetzt bei der Durch- setzung der Seeblockade schießen. Bundeswehrsoldaten in Awacs- Flugzeugen können bei Einsätzen außerhalb des Nato-Gebietes – über Österreich und Ungarn – an Bord bleiben. Erhebliche Differenzen zwischen Regierung und Opposition bleiben dennoch. Während die Koalition nach dem Plazet aus Karlsruhe freie Hand auch für Kampfeinsätze bean- sprucht, bleibt die SPD bei ihrer bisherigen Haltung. Nicht frieden- schaffende militärische Einsätze, sondern nur friedenserhaltende Ak- tionen will sie akzeptieren.

AP Alle Kampfeinsätze seien vom Bundeswehreinsatz in der Adria Grundgesetz gedeckt, erklärte der „Keine Schranken“ Wolfgang Schäuble, als Vorsitzen- Außenminister. Nur für „Einsätze der der Unionsfraktion am vorletz- im Rahmen der Uno“ gebe In dieser Frage waren die Richter vier ten Freitag dazugeladen, hielt ener- es „keine verfassungsrechtlichen zu vier gespalten. Bei Stimmengleich- gisch dagegen. Es sei Unsinn, die Schranken“, wendet der SPD-Vor- heit kann das Gericht aber einen Verfas- Abgeordneten für viel Geld aus den sitzende Rudolf Scharping ein. sungsverstoß nicht feststellen. Entwar- Ferien zurückzuholen. Schäuble: Da den Vereinten Nationen das nung für die, die den Aufgabenbereich „Das ist den Bürgern nicht zuzumu- Gewaltmonopol zusteht, können von Nato und WEU faktisch ohne Parla- ten.“ Nato und WEU nach SPD-Auffas- mentsbeteiligung erweitern wollen? Die Blicke richteten sich auf den sung ohne Uno-Mandat keine Out- Hoffentlich nicht. Hier liegt das nächste Kanzler. Ob denn die Bundesrepu- of-area-Kampfeinsätze unterneh- Rätsel. Die eine Hälfte der Richter sieht blik bis zum Parlamentsbeschluß men. schon jetzt die Rechte des Parlaments „ein Unrechtsstaat“ sei, stichelte Doch dieser Streit ist für den verletzt. Die schleichende politische Helmut Kohl gegen den Liberalen. Außenminister ohne Bedeutung. Ausdehnung der militärischen Allianzen Dann aber entschied er gegen „Keine der derzeit 16 Friedensmis- ist für sie verfassungswidrig. Schäuble: „Jeder wußte“, so ein Ka- sionen der Uno“, so Kinkel, „ist Soweit wollten die anderen vier Rich- binettsmitglied, „das war ein Entge- ein Kampfeinsatz.“ ter nicht gehen, weil die Regierung er- klärtermaßen keinen Vertrag schließen

DER SPIEGEL 30/1994 29 .

DEUTSCHLAND

Europäische Union „Wir sind keine Unruhestifter“ Interview mit dem britischen Außenminister Douglas Hurd über die Konflikte in der Europapolitik M. JENKINS / KATZ / FOCUS Hurd (r.), SPIEGEL-Redakteure*: „Das Verhältnis zwischen uns und Deutschland ist weniger romantisch“

SPIEGEL: Ihre Regierung startete gerade SPIEGEL: Haben Sie nicht dennoch das ben mehr; deshalb kann auch nicht ex- eine Offensive des guten Willens, um versteckte Ziel, den gesamteuropäi- kommuniziert werden, wer dieses ortho- die Zerwürfnisse innerhalb der Europäi- schen Zusammenhalt zu schwächen? doxe Credo nicht teilt. schen Union zu beenden. Strebt Groß- Hurd: Es gibt auch in anderen Ländern SPIEGEL: Haben die Turbulenzen um britannien nach den jüngsten Konflikten Stimmen, die nicht in einem zentralisti- die Bestellung des Kommissionspräsi- wieder in die Mitte Europas zurück? schen Europa mit nur einem Muster, ei- denten Ihre Beziehungen zu Deutsch- Hurd: Wir haben alle geschwitzt, bis der nem Gleis und einer Geschwindigkeit land beschädigt? Vertrag von Maastricht endlich unter leben wollen. Ein solches System wäre Hurd: Nein. Die Deutschen haben sich Dach und Fach war, die Briten genauso viel zu starr. In Verteidigungsfragen ha- nach Korfu schnell und korrekt bewegt. wie die Deutschen. Nun laßt uns daraus ben wir doch bereits eine mehrgleisige Sie haben jeden Partner gefragt . . . einen Erfolg machen. Ich war immer Westeuropäische Union: Weder Irland SPIEGEL: . . . vor Korfu nicht? entschieden für eine gemeinsame Si- noch Dänemark gehören dazu. Diese Hurd: Die Art und Weise, wie die Kan- cherheitspolitik, und ich bin auch dafür, Form der Flexibilität ist unausweichlich. didatur von Dehaene ausgeheckt wurde, daß die Europäer im Kampf gegen Kri- SPIEGEL: Trauen Sie Kanzler Kohl als war illegitim. Wenn es darum geht, je- minalität, Drogen und Terrorismus eng neuem Ratspräsidenten dieses Maß an manden auszuwählen, der die Kommis- zusammenarbeiten – wie es im Vertrag Flexibilität zu? sion für fünf Jahre mit dem Einverständ- festgelegt ist. Es ist unsinnig zu behaup- Hurd: Wer dem Kanzler zuhört, merkt, nis aller Mitgliedstaaten führen soll, ten, wir Briten seien nur an einer großen wie sich sein Denken entwickelt hat. Es dann muß vorher ausführlich diskutiert Freihandelszone interessiert. gibt keinen einheitlichen Europaglau- und konsultiert werden. SPIEGEL: Genau diesen Verdacht be- SPIEGEL: Kohl war über das britische stärken Sie bei Ihren Partnern mit Ih- Veto äußerst ungehalten, und die Em- rem ständigen Neinsagen . . . Douglas Hurd pörung über den Fehlschlag wirkte noch Hurd: . . . Unfug. Die ganze Zeit, von jetzt im Europaparlament nach. Edward Heath über Margaret Thatcher ist seit 1989 britischer Außenmini- Hurd: Die Leute mögen es, wenn die bis zu John Major, haben britische Re- ster. Der Eton- und Cambridge-Schü- Dinge ruhig und geschmeidig laufen. Es gierungschefs die politische Bedeutung ler begann seine Laufbahn im diplo- ist indes bekannt, daß unsere Einwände Europas hervorgehoben. Aber wir hal- matischen Dienst. Als politischer bei einigen kleineren wie auch bei man- ten nichts von dieser fatalen Hinwen- Sekretär des damaligen Premiermi- chen größeren Mitgliedsländern auf viel dung zum Zentralismus in Brüssel, wo- nisters Edward Heath unterstützte er Sympathie stießen. nach nur derjenige ein guter Europäer den Eintritt Großbritanniens in die SPIEGEL: Aber zum Schluß standen Sie, sein kann, der alle Macht der Kommissi- Europäische Gemeinschaft zum wie schon so häufig, allein da. on gibt. Da haben wir für einen Mei- 1. Januar 1973. In der Konservati- Hurd: Nur die letzten zwei Stunden. nungsumschwung gesorgt. ven Partei gilt Hurd, 64, seitdem als Vorher hörten wir überall: Das ist nicht * Bernd Dörler, Romain Leick im Londoner überzeugter Europäer. korrekt gelaufen, man hat uns keine Foreign Office. Wahl gelassen. Dann gaben die anderen

30 DER SPIEGEL 30/1994 nach, weil es guter Brauch in der Ge- immer als Mittelsmann zu Kohl reisen. SPIEGEL: Wenn die gemeinsamen Inter- meinschaft ist, sich zu einem Konsens Das ist nun nicht mehr notwendig. essen zwischen Großbritannien und zusammenzufinden. SPIEGEL: Warum gerät Großbritannien Deutschland so ausgeprägt sind: Warum SPIEGEL: Erstmals seit der Wiederverei- trotz des freundschaftlichen Umgangs in besteht dann zwischen London und nigung liegt die EU-Präsidentschaft bei Europa immer wieder in die Rolle des Bonn nicht eine ebenso enge Partner- den Deutschen. Früher hat Bonn sich in Unruhestifters? schaft wie zwischen Paris und Bonn? seinen Führungsambitionen zurückge- Hurd: Wir sind keine Unruhestifter. Wir Hurd: Die deutsch-französische Partner- halten. Sehen Sie Anhaltspunkte, daß stellen nur manchmal die unangeneh- schaft ist wesentlich für Europa, sie geht sich das vereinte Deutschland künftig men Fragen. In jeder demokratischen auf die Gründerzeit der EG zurück. Das rücksichtsloser gebärden könnte? Organisation muß jemand diese nützli- Verhältnis zwischen uns und Deutsch- Hurd: Wir brauchen eine starke Präsi- che Rolle übernehmen. Wenn andere land ist anders. Wir veranstalten nicht dentschaft. Die Prioritäten, die Kohl sich hinter dem Rücken über dieses und so viele Gipfeltreffen, produzieren nicht setzt, sind richtig: Öffnung nach Osten, jenes beklagen, dann ist es ganz gesund, so viele Erklärungen und Reden. Freihandel, Deregulierung. Ich habe wenn einer das auch laut sagt. Dann SPIEGEL: Ist diese Beziehung auch weni- keine Befürchtungen, nur Hoffnungen. lernt man seine Lektion, und die Situati- ger sentimental? SPIEGEL: US-Präsident Clinton wünscht on entspannt sich. Hurd: Ja, sie ist weniger romantisch, sich eine stärkere Führungsrolle SPIEGEL: Großbritannien als der Wach- aber sie führt zu Resultaten. Wir haben Deutschlands in Europa, wie er in Ber- hund Europas? eine andere Technik, wollen aber das lin verkündete. Wenden sich die Ameri- Hurd: Wenn vor sechs Jahren in Westeu- deutsch-französische Verhältnis auf kei- kaner, die bislang mit Großbritannien ropa jemand prophezeit hätte, daß die nen Fall unterminieren – auch wenn wir ein vielgerühmtes Spezialverhältnis pflegten, nunmehr Deutschland zu? Hurd: Wir haben mit den USA Bezie- hungen, die einzigartig sind und in ge- wissen Bereichen – etwa nuklearen Fra- gen, Geheimdiensterkenntnissen und anderen Feldern – mit niemandem ge- teilt werden. In diesem Sinne sind sie sehr speziell. Aber wir krähen nicht wie Kinder auf dem Spielplatz: Ätsch, mei- ne Beziehung ist spezieller als deine. SPIEGEL: Sie sind nicht eifersüchtig? Hurd: Nein, das ist Kindergeschwätz. Die Bundesrepublik ist die bedeutend- ste Wirtschaftsmacht in Europa. Bis zum heutigen Tag ist sie keine bedeu- tende Macht, wenn es um Sicherheitspo- litik und Friedenseinsätze geht. Aber dies soll sich ja ändern, was ich begrüße. Wir sind gespannt, wie rasch und wir- kungsvoll Deutschland auf die neuen Herausforderungen antwortet. Die Stel- lung Großbritanniens verändert sich nicht: Wir bleiben eine mittelgroße Macht mit weltweitem Einfluß. SPIEGEL: Gibt es in Großbritannien Be- denken, daß ein wiederaufflammender Der Standard, Wien deutscher Nationalismus zur Gefahr werden könnte? Gemeinschaft sich vergrößern würde, mit dessen Ergebnissen nicht immer Hurd: Meinem Eindruck nach überhaupt daß sie Haushaltsdisziplin beachten so- glücklich sind. Es wäre sehr schmerzhaft nicht. Frau Thatcher hatte diese Ängste, wie das Subsidiaritätsprinzip einführen und schädlich für Großbritannien, wenn das war der Hauptfehler ihrer Außenpo- würde, daß sie deregulieren und sich Deutschland und Frankreich sich strei- litik nach dem Fall der Berliner Mauer. dem Freihandel verpflichten würde – ten würden. Um Himmels willen, davon Die deutsche Außenpolitik kann ruhig dann hätten die Menschen gesagt: Das haben wir genug gehabt. etwas bestimmender werden. Ich halte ist nicht das wirkliche Europa. Das wah- SPIEGEL: Würden Sie dabei nicht gern dies für eine gute Sache. re Europa bedeutet Zentralisierung, die Vermittlerrolle übernehmen? SPIEGEL: Bescheidenheit war in der Subventionen und Protektionismus. So Hurd: Das wäre eine ganz schlechte Vergangenheit ja nicht gerade ein aus- lautete damals der orthodoxe Stand- Idee. Europa sollte auf diplomatischer geprägter deutscher Charakterzug . . . punkt. Den haben wir geändert. Polygamie aufgebaut sein. Damit meine Hurd: . . . natürlich kann man übertrei- SPIEGEL: Britannien ganz allein? ich wechselnde Allianzen, je nach The- ben und zu weit gehen, aber ich persön- Hurd: Natürlich nicht. Das sind Prinzi- ma. So sind der französische Außen- lich sehe die Gefahr nicht. pien, die auch Deutschland unterstützt. minister und ich als Team nach Sara- SPIEGEL: Ist nach all den Reibereien die Die Gemeinschaft hat sich von den alt- jevo gereist. Bei anderen Krisen könn- persönliche Beziehung zwischen Kohl modischen Werten gelöst. Nun lautet te der französische Außenminister mit und Premier Major noch intakt? die neue Herausforderung – bei der die dem deutschen Kollegen unterwegs Hurd: Die beiden mögen einander. Sie Bundesrepublik eine entscheidende sein oder ich mit einem Italiener. Gäbe telefonieren sehr oft, viel häufiger als Rolle spielt –, wie Wohlstand und Stabi- es in Europa nur eine einzige Part- bekannt wird. Als Margaret Thatcher lität, die bei uns als selbstverständlich nerschaft mit der stets gleichen Paarung, noch Premierministerin war, gab es empfunden werden, nach Zentral- und wäre das eine wenig befriedigende kaum persönlichen Kontakt. Ich mußte Osteuropa getragen werden können. Situation.

DER SPIEGEL 30/1994 31 .

DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Deshalb haben Sie ja auch die französisch-deutsche Entente bei der Widerstand Dehaene-Nominierung durchkreuzt. Warum betrachten Sie Jacques Santer als die bessere Wahl? Hurd: Er ist aus einem legitimen Ent- Helmut Kohl scheidungsprozeß hervorgegangen. Nie- mand wird behaupten können, daß San- ter uns aufgedrängt wurde. Wir brau- chen keinen philosophierenden König und Georg Elser als Kommissionspräsidenten. Diese Ära ist zu Ende. Wir wollen einen Mann, der SPIEGEL-Redakteur Dieter Wild über den 20. Juli in Berlin dafür sorgt, daß die Kommission ihre Arbeit ordentlich erledigt. Sie trägt gro- ße Verantwortung, managt eine Menge räflein im Vorschulalter und Grä- dem der beiden Kohls gerecht werden Programme, und nicht alles funktioniert finnen im Greisenalter sind wohl soll, nicht nur hier und heute, sondern sehr gut. Gnicht nach des Kanzlers Ge- „vor der Geschichte“. SPIEGEL: Bevorzugen Sie Santer viel- schmack. Und wenn das Aristokraten- Daß er die Geschichte interpretiert, leicht deshalb, weil er im Vergleich zu volk auch noch etwas so schwer Verdau- ja sie determiniert – dieses Stadium hat seinem Vorgänger Delors schwächer liches wie den Widerstand gegen Adolf Helmut Kohl längst durchschritten. Er und nachgiebiger scheint? Hitler repräsentiert, dann schlägt es ist vielmehr mit der Geschichte eins Hurd: Nein. Wir wünschen einen effekti- Helmut Kohl auf die Stimme. geworden, eine Kopulation voll Lei- ven Präsidenten. Aber Santer hängt Die ist trotz gut dimensionierter denschaft und Innigkeit, die er selbst nicht dem Traum eines napoleonischen Übertragungsanlage im gar nicht so gro- „großartig“ nennen würde. Europa nach. ßen Hof des Berliner Bendler-Blocks Große Perspektiven tun sich auf, SPIEGEL: Wie Delors? brüchig und befremdlich flach. Der wenn der Kanzler in die Kristallkugel Hurd: Brüssel hat zu viele Regeln be- Kanzler spricht, zum 50. Jahrestag des von Vergangenheit und Zukunft blickt. schlossen, an die sich nicht alle gehalten Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944, Den 8. Mai 1945 erhebt er zu einem haben. Wir brauchen we- „Tag der Befreiung“, und niger Verordnungen, die die Widerständler des 20. dann aber bindend sind. Juli waren „nicht viele“ (in SPIEGEL: Heißt das, für Wahrheit: recht wenige), die Kommission ist die „aber es waren die Be- Zeit des Expansionismus sten“. vorbei? Doch üblicherweise hat Hurd: Sie sollte sich kon- eine große Leidenschaft zentrieren auf das, was sie auch ihre kleinlichen Sei- schon hat – und dies sollte ten: Der Kanzler hat die sie besser machen, anstatt Formel entdeckt, guten immer nur mehr zu verlan- und bösen Widerstand gen. voneinander zu scheiden. SPIEGEL: Die Mehrheit Und da ist zwar wichtig, der Mitgliedstaaten wird wogegen er sich richtete, auch weiterhin mehr ver- nämlich gegen Hitler, den langen. Wenn Sie als ewi- „Erzfeind der Welt“, so zi- ger Bremser erscheinen, tiert er den Generalmajor läuft Ihr Land dann nicht Henning von Tresckow, Gefahr, in eine europäi- aber man muß auch „fra- sche Nebenrolle abge- gen, wofür die an ihm Be- drängt zu werden? teiligten eingetreten sind“.

Hurd: Wir müssen vom al- AP Dann nämlich fallen die ten Denken wegkommen, Kohl bei der Gedenkfeier: „Ungemein emotionalisiert“ guten Rechten – Hochkon- daß in Europa nur eine servative, Ständestaatler, Doktrin zulässig ist. Es gibt viele Mög- natürlich über den Widerstand, aber Deutschnationale – sehr wohlig ins lichkeiten, und wir sollten sie alle be- für seine Stimmverhältnisse krächzt der Töpfchen, die bösen Linken aber landen denken. Großbritannien wird an vorder- Kanzler. Nicht etwa aus berufsbeding- unweigerlich im Kröpfchen des Verges- ster Front in der Europapolitik bleiben. ter Heiserkeit, sondern weil er „so un- sens. SPIEGEL: Und wenn sich Europa letzt- gemein emotionalisiert“ gewesen sei, Da befindet sich der Festredner schon lich doch anders entwickelt, als Ihnen erklärt später einer der Seinen. mitten im Wahlkampf. Wenn nämlich genehm ist – hin zu einer Union mit ge- Kohl scheint innere Bedrängnis zu „gesellschaftliche und politische Eliten meinsamer Währung und integrierter verspüren. Er hat die Rede okkupiert, den Extremisten die Hand reichen“, Politik? Könnte dann der Tag kommen, die dem neuen Bundespräsidenten Ro- dann ist „das Verhängnis kaum noch an dem sich Ihr Land aus der EU verab- man Herzog zu- und angestanden hät- aufzuhalten“ – soll heißen: wie derzeit schiedet? te. Zudem ist auch noch dessen in Magdeburg, aber im Oktober hof- Hurd: Ich kann mir das nicht vorstellen. sprechgewandter Vorgänger Richard fentlich nicht in Bonn. Wir werden auch weiterhin für ein Eu- von Weizsäcker unter den Stauffen- In seinem Kampf gegen „das Ver- ropa plädieren, wie wir es uns vorstellen bergs, Schwerins, Tresckows, Haef- hängnis“ darf, muß ein Kanzler auch – nicht für die Vereinigten Staaten tens. Da ringt der Staatsmann im den Widerstand einsetzen – und wie. So von Europa, an die ohnehin keiner Kanzler hart mit dem Parteipolitiker, steht Kurt Schumacher im Redemanu- glaubt. Y und heraus kommt eine Rede, die je- skript noch zutreffend als erster SPD-

32 DER SPIEGEL 30/1994 . ULLSTEIN DPA Attentäter Elser, Münchner Bürgerbräukeller nach dem Elser-Attentat 1939: „Keine Gedenktafel ehrt sein Andenken“

Vorsitzender nach 1945 neben dem er- Höllenfürsten Walter Ul- sten CDU-Vorsitzenden Andreas Her- bricht und Wilhelm Pieck. mes. Mündlich aber vergißt Kohl den Die beiden gehören für „SPD-Vorsitzenden“, so daß es nun Stauffenberg „zu den übel- heißt: „Kurt Schumacher und der erste sten Lumpen der deutschen CDU-Vorsitzende Andreas Hermes“. Geschichte“ – und so etwas Auch Julius Leber, Wilhelm Leusch- auch noch nahe dem ehema- ner, Rudolf Breitscheid und Gustav ligen Dienstzimmer des Va- Radbruch wird das Adjektiv „sozialde- ters. mokratisch“ vorenthalten. Stauffenberg hat streitba- Rosemarie Reichwein, 90, Witwe re Verbündete gegen den des Sozialdemokraten Adolf Reich- Professor Steinbach gefun- wein, findet die kanzlerkonforme Ein- den, sogar einen dem Tode engung der Diskussion über den Wi- nahen bayerischen Mini- derstand auf die Motivforschung der sterpräsidenten: Franz Jo- Widerständler „nicht ganz offen und sef Strauß beklagt sich noch ehrlich“. Aber die Sozialdemokratin 1988 in einem vier Seiten Renate Schmidt hat an Kohls Gedan- langen Brief an Berlins Re- kenführung „nichts auszusetzen“. gierenden Bürgermeister Übernehmen alle Widerstandsgruppen Eberhard Diepgen über die das Gut-Böse-Schema, bleibt vom ungestrafte „Verunglimp- deutschen Widerstand in der Konse- fung der Opfer des Natio-

quenz nicht viel übrig – weiß Frau nalsozialismus“. ULLSTEIN Schmidt das nicht? Steinbach weigerte sich Hitler vor dem Attentat: Knapp davongekommen Auf die Kanzler-Wegweisung hat vor beharrlich, sein Konzept zu allem einer der Ehrengäste gewartet: ändern. 800 000 Besucher haben die ter, der am 8. November 1939 im Franz Ludwig Schenk Graf von Stauf- Ausstellung gesehen. Aber bei Diepgen Münchner Bürgerbräukeller die Welt fenberg, CSU-Mann und Sohn des At- zeigt das Trommelfeuer am Festtag beinahe per Bombe von Hitler befreit tentäters vom 20. Juli, der seit Jahren denn doch Wirkung. In seiner Rede gibt hätte, war schließlich ein treuer KPD- seinen Untergrundkrieg um den Unter- er zu bedenken, ob die Ausstellung Wähler und zeitweiliges Mitglied im grund im Dritten Reich führt. In etli- nicht „künftig zu den Arbeiten des „Rotfrontkämpferbund“. Und an so was chen Eingaben an den Berliner Senat Deutschen Historischen Museums“ ge- findet Kohl Gefallen? hat er ein politisches Machtwort ver- hören solle. In dessen Rahmen aber wä- Elser entzog sich als Einzelkämpfer so langt, daß Kommunisten in der Berli- re der Widerstand dann überproportio- ganz und gar der Vorstellungskraft der ner Dauerausstellung „Widerstand ge- niert, die Ausstellung müßte gekappt Nazis. Daß ein solch schlichter Arbeiter gen den Nationalsozialismus“, veran- werden. Und natürlich würden die eine absolut zuverlässige Höllenmaschi- staltet von der „Gedenkstätte Deut- „Lumpen“ und Artverwandte als erste ne konstruierte, sie in 30 Nächten mit scher Widerstand“ unter dem Histori- ausquartiert. unglaublicher Umsicht in einer Säule ker Peter Steinbach, nichts verloren In die Niederungen des neuen deut- des Bürgerbräukellers unterbrachte und hätten. schen Historikerstreits steigt der Kanz- den Ort der Tat auch noch unentdeckt Steinbach hat es gewagt, gemäß sei- ler nicht hinab. Die versammelten Ari- verlassen konnte, das war unfaßbar, nem „integralen Widerstandskonzept“ stokraten schockt er mit einem Helden, konnte nur das Werk des britischen Ge- auch den Widerstand außerhalb des von dem die wenigsten je gehört haben, heimdienstes sein. Hitler-Reichs aufzunehmen, also auch den aber er, Helmut Kohl, seit einiger Die Explosion forderte 8 Tote und 63 die Mitglieder des von Moskau betreu- Zeit ganz unbemerkt in sein Herz ge- Verletzte – aber Hitler hatte das Lokal ten „Nationalkomitees Freies Deutsch- schlossen hat. Er sagt: „Wir gedenken elf Minuten zuvor verlassen. Elser, 200 land“ und des „Bundes Deutscher Of- der Tat eines einzelnen wie des Tischler- Meter vor der schweizerischen Grenze fiziere“. Ergo kleben unter den über gesellen Johann Georg Elser.“ gerade noch festgenommen, gestand. 5000 Bildern und Dokumenten der Der 1903 im Schwäbischen geborene Aber weder die Nazis noch viele Anti- Ausstellung auch ein paar Fotos der Elser, ein Hilfs- und Gelegenheitsarbei- nazis glaubten an einen Einzeltäter. Ge-

DER SPIEGEL 30/1994 33 .

DEUTSCHLAND

nau der berührt – Töpfchen hin, Kröpf- gemann werde in Brüssel bleiben, das chen her – die romantische Seite in Europa sei mit dem Kanzler verabredet. Kohl. Was Kohl zu seinem Sinneswandel Er hat die letzten Jahre etliches gele- brachte, konnte sich zunächst niemand sen über den kleinen Helden aus dem erklären. Da die Sozialdemokraten ab- Volk, der große Geschichte machte; er Gutes getan sprachegemäß nach wie vor den zweiten hat auch den Film „Georg Elser – Einer Kommissionsstuhl in Brüssel besetzen aus Deutschland“ gesehen, in dem Der Liberale Martin Bangemann sollen, geht des Kanzlers Zugeständnis Klaus Maria Brandauer Regie führt und darf Kommissar in Brüssel bleiben. zu Lasten der Union. zugleich den Elser spielt. Die Deutung, Kohl habe mit seinem „Als historisch gebildeter Mensch“, Kanzler Kohl hat seine Gründe. Angebot dem angeschlagenen Koaliti- so das Kanzleramt, ist Kohl „erschüt- onspartner Kinkel helfen wollen, dessen tert“, daß Elsers Tat bislang der gebüh- ie Kritzeleien des EU-Kommissars Partei nicht mehr im Europäischen Par- rende Platz in der Geschichte des Wi- Martin Bangemann, 59, finden lament vertreten ist, leuchtete nicht so derstands verweigert wird – „keine Stra- Dsich auf der Rückseite zahlreicher recht ein. Zwar ist die FDP für die Uni- ße, keine Gedenktafel ehrt sein Anden- Kommissionspapiere. Sie zeigen immer on nach der Bundestagswahl als Bünd- ken“. Deshalb tut es nun der Kanzler: dasselbe: ein Schiff. nispartner unentbehrlich, aber den Li- Ein einsamer Elser – ein einsamer Kohl, Die Jacht wird, nach den Entwürfen beralen bringt die Brüsseler Karriere beide vereint im Kampf gegen das Böse des deutschen Eurokraten, nächste Wo- Bangemanns wenig: „Kein Mensch auf der Welt. Das ist die Sensation oder, che in einer polnischen Werft auf Kiel wählt die FDP“, so Kohls Berater An- wie mancher beim Trauerakt findet, der gelegt. Mit dem privaten Pott, so hat es dreas Fritzenkötter, „weil Bangemann Skandal der Kohl-Rede. Bangemann seit Jahren schon vor, will Kommissar in Brüssel bleibt.“ Solches müssen die Angehörigen je- ner Offiziere des Widerstands verneh- men, die zwar Mut bewiesen, als sie ih- rem Gewissen folgten, aber dem Tyran- nen zunächst doch lammtreu ergeben waren und Kameraden um sich wußten, als sie handelten – ganz anders als Elser. Ein Musikzug der Luftwaffe spielt das Deutschlandlied kraftmeierisch wie ei- nen Triumphmarsch. Der Kanzler be- gleitet die Witwe Nina Gräfin von Stauf- fenberg, 81, noch zum Ausgang des Bendler-Blocks, dann verläßt er den Ort des Geschehens. Nachmittags, beim Trauerakt an der Hinrichtungsstätte Plötzensee, wo end- lich die Sozialdemokratin Annemarie Renger reden darf, ist er nicht mehr da- bei, abends, beim Empfang des Bundes- präsidenten im Schloß Bellevue, erst recht nicht. Dort hätte er zornrot werden können: Herzog scheut sich nicht, den schreckli-

chen Namen „Ulbricht“ auszusprechen, T. KLINK mit dem er freilich „nichts im Sinn ha- EU-Kommissar Bangemann: Hilfreiche Rolle beim Hoppla-Hopp be“. Dennoch hat er „Kommunisten ge- kannt, die an das Gute im Menschen er nach dem Ende seiner Brüsseler In Wahrheit hat der Kanzler wieder und an eine bessere Gesellschaft ge- Amtszeit die Welt umsegeln. mal deutlich gemacht, wie nachtragend glaubt haben. Warum sollte man die Aus der Tour wird vorerst nichts. Der er ist. Wer ihm Böses will, den ver- heute ausgrenzen?“ Weil der Kanzler Liberale muß noch ein paar Jahre lang folgt er bis ins letzte Glied – und wer gesprochen und den deutschen Wider- in Brüssel dienen – obwohl er fest mit ihm Gutes tut, den vergißt er nicht. stand abgehakt hat, hugh! dem Ruhestand nach Ablauf der Amts- Nicht vergessen hat Kohl die hilfrei- Aber die deutsche Nation ist mit dem periode zum Ende des Jahres gerechnet che Rolle, die Kommissar Bangemann deutschen Widerstand noch lange nicht hatte. bei der Hoppla-Hopp-Vereinigung fertig. Als der Widerständler Philipp Nicht nur der Hobby-Segler hatte auf Deutschlands gespielt hat. Ende 1989 Freiherr von Boeselager höhnt, nach die Absprache der Vorsitzenden der war Bangemann für den EG-Binnen- den Fotos von Ulbricht und Pieck könne beiden größten deutschen Parteien ver- markt zuständig und damit auch für man ja auch noch die Urne mit der traut. Ein Sozialdemokrat und ein den innerdeutschen Handel. Asche Erich Honeckers in die Berliner Christdemokrat sollten der neuen EU- Kohl rechnet ihm hoch an, daß da- Ausstellung einlassen, nimmt das Bun- Kommission für die nächsten fünf Jahre mals die DDR ohne Formalitäten, oh- despostministerium die Sache ernst. angehören, so hatten Rudolf Scharping ne Beitrittsantrag und ohne Zeitverzö- Ein Beamter vergewissert sich per Te- und Helmut Kohl im Mai beschlossen gerung am Rande der europäischen lefon in Berlin: Ob denn auch sicherge- und verkündet. Legalität ganz selbstverständlich als stellt sei, daß aus dem Saal, in dem Post- „Der ganze Laden außer dem Kanz- EG-Bestandteil aufgenommen wurde. minister Wolfgang Bötsch die neue Son- ler“ (Kohls Sprecher Dieter Vogel) war „Bangemann hat für Kohl den techni- derbriefmarke „50. Jahrestag des 20. Ju- deshalb verblüfft, als FDP-Chef Klaus schen Teil der Wiedervereinigung in li 1944“ vorstellen wolle, die Honecker- Kinkel vorige Woche die Revision der Brüssel erledigt“, erinnert sich ein Büste entfernt sei? Y Absprache verkünden ließ: Martin Ban- Kanzler-Berater.

34 DER SPIEGEL 30/1994 Der Personalpolitiker Kohl weiß sich mit Bangemann zugleich auf der siche- ren Seite bei einem drohenden Brüsse- ler Postenschacher. Nachdem die Fran- zosen mit Jacques Delors den Kommis- sionspräsidenten verlieren, treten sie im Herbst wieder mit zwei Kommissa- ren an, die beide ein gewichtiges Res- sort in Brüssel beanspruchen werden. Paris würde nur zu gern das Bange- mannsche Terrain übernehmen. Die Zuständigkeit für Forschung, Techno- logie und Industriepolitik käme der Neigung der Franzosen, intensiv in die Wirtschaft hineinzuregieren, auf das trefflichste entgegen. Für die Bonner Marktwirtschaftler ein Tort. Einem frühzeitig nominierten, in diesem Bereich erfahrenen und in Brüssel routinierten Bangemann fällt es sicherlich sehr viel leichter als einem Neuling aus der CDU, die französi- Für Bangemann soll die FDP in Bonn Verzicht üben schen Ansprüche zu zügeln. Bleibt der Liberale, das ist sicher, dann wird er um sein jetziges Ressort kämpfen und sogar versuchen, es anzureichern. Der Deutsche hat ein Auge auf die Generaldirektion 10 – die Medienabtei- lung der Kommission – geworfen. „Dann hätte er ein schickes Technolo- gie- und Medien-Ministerium, genau das Richtige für die Zukunft“, so ein Bangemann-Berater. Seine Vorliebe für einen Freidemo- kraten in Brüssel kann Kohl seinen eige- nen Parteifreunden anders erklären. Die Entscheidung für Bangemann, so läßt der Kanzler streuen, dürfe nicht iso- liert gesehen werden. Weil der Dicke in Brüssel bleiben darf, muß die FDP in Bonn Verzicht üben: In der neuen Regierung soll es für die Liberalen ein Ministerium weniger geben; die Union fordert zudem einen wichtigen Posten im Auswärtigen Amt. Dort soll, falls die CDU/FDP-Koaliti- on die Bundestagswahl übersteht, dem freidemokratischen Außenminister in Zukunft ein christdemokratischer Staatsminister zur Seite stehen. Wer die jetzige Amtsinhaberin Ursu- la Seiler-Albring ablösen soll, steht fest. Vorgesehen ist der außenpoliti- sche Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Karl Lamers. Bangemann in Brüssel hat schon an- gekündigt, daß auch der Kanzler ihn auf Dauer an seinem Segel-Törn nicht hin- dern kann. Wenn er dank Kohls Macht- spiel weitere fünf Jahre in der EU-Zen- trale festgehalten werde, hat er noch ge- nug Zeit, das Wenden und Halsen zu üben. Y

DER SPIEGEL 30/1994 35 .

DEUTSCHLAND

Strafjustiz Gewaltbereit gegen alle Gisela Friedrichsen über den Prozeß wegen der „Ausländerjagd“ in Magdeburg

deburg haben am Herrentag deutsche Jugendliche einen deutschen Behinder- ten aus der Straßenbahn geworfen. Ein 19jähriges Skinhead-Mädchen trat vor einigen Monaten eine gleichaltrige Pun- kerin aus Thüringen fast zu Tode. Die Heranwachsenden, die am ver- gangenen Freitag vom Amtsgericht Magdeburg zu demonstrativ hohen Stra- fen verurteilt wurden, gehören keiner neofaschistischen Organisation an, dar- auf hat gerade die Staatsanwaltschaft hingewiesen. Sie haben keinen politi- schen Gedanken im Sinn, allenfalls ein dumpfes Gefühl im Bauch, nicht mehr „links“ sein zu wollen nach all dem so- zialistischen Drill in der Kindheit. Fuß- ballfan, ja, „Hooligan“ eventuell, so was ähnliches sei man vielleicht. Der Chef des Landesverfassungs- schutzes Sachsen-Anhalt charakterisiert diese Jugendlichen und Heranwachsen- den so: „Ein unorganisierter Haufen, gewaltbereit in jede Richtung. Diese Hooligans übernehmen die Stinke-Paro- len rechtsradikaler Parteien als willkom- menen Anlaß zum Prügeln.“

O. JANDKE / CARO Sie sind nicht ausdrücklich gegen Angeklagte in Magdeburg: „Willkommener Anlaß zum Prügeln“ Ausländer, sondern einfach gegen alle und alles. Als Magdeburger mögen sie ollte geplant gewesen sein, Auslän- Reihe mit Hoyerswerda, Rostock, beispielsweise auch die Sachsen nicht, der zu klatschen, sollte verabredet Mölln und Solingen. und wenn ihnen Camper aus Sachsen Sworden sein, den Herrentag, wie Als dieser Tage die, nach Auffassung am Baggersee ein Fleckchen Erde strei- der Vatertag, respektive der kirchliche der Staatsanwaltschaft, drei Rädelsfüh- tig machen, setzt es böse Prügel und Feiertag Christi Himmelfahrt, in den rer des Ausländer-Halalis vor Gericht mehr. neuen Bundesländern hartnäckig weiter standen, mahnte die Mitteldeutsche Zei- heißt (Herrentag!), diesmal mit einer tung bedeutungsschwer: „Diesmal Hatz auf Andersfarbige zu krönen – schaut nicht nur Deutschland, sondern Hohe Strafen dann ist die Sache gründlich schiefge- die Welt auf Magdeburg. Wie geht man gangen. hier mit Ausländerfeindlichkeit um?“ sind in Magdeburg gegen drei junge Denn alle, die sich am Abend dieses Doch die Bildausschnitte, so wider- Männer als Heranwachsende verhängt Sauf- und Rauftages in den Kranken- lich sie wirkten, weisen Magdeburg worden, die am Himmelfahrtstag die häusern der Landeshauptstadt Magde- nicht als eine Hochburg des Rassismus „Rädelsführer“ einer ungeheuerlichen burg befanden, verletzt durch Messersti- oder des Rechtsextremismus aus. Die Jagd auf Ausländer gewesen sein sol- che, Tritte und Schläge, die einem Angst, die Ausländer in Magdeburg len. Der Prozeß wurde mit banger Sorge 24jährigen sogar den Schädel bersten plagt, plagt auch Deutsche. Sie plagt die um das Ansehen Magdeburgs und der ließen, so daß er 14 Tage im Koma lag: Stadtmenschen – Frauen, Kinder, ältere Deutschen in der Welt geführt. Doch ausschließlich Deutsche. Leute – zum Beispiel in dunklen Unter- weist das Bild von den Vorgängen, das Weil aber ein Fernsehteam des Mit- führungen und Parkhäusern. Wer mei- die junge Richterin in der mündlichen teldeutschen Rundfunks zur Stelle war, det nicht die Plätze, wo etwa pöbelnde Urteilsbegründung malte, Risse und just als der Krawall kurz nach 15.30 Uhr Skinheads herumlungern und mit Bier- Sprünge auf. Magdeburg war kein Fa- in der Magdeburger Innenstadt begann, dosen nach Passanten werfen? Wer nal wie Mölln oder Solingen oder Ro- gingen Bilder grölender, randalierender macht nicht einen Bogen um gewisse stock, auch wenn es zu abscheulichen Jugendlicher, zersplitterter Scheiben ei- Lokale oder Anlagen, wenn Horden, Szenen gekommen ist. Nicht allein nes von Türken betriebenen Lokals und die nicht im Vereinsregister eingetragen Deutsche haben angegriffen, nicht nur eines am Boden knienden, gefesselten sind, sich dort herumtreiben? Ausländer sich gewehrt. Das demon- Schwarzen um den Erdball. Von Tokio Gewalt von und zwischen Jugend- strativ hohe Urteil wegen gefährlicher über Moskau und Tel Aviv bis Washing- gruppen kann überall aufflackern und Körperverletzung überzeugt nicht. ton steht Magdeburg seitdem in einer sich gegen jedermann richten. In Mag-

36 DER SPIEGEL 30/1994 .

Zu den Initiationsriten dieser in die Abstand von 20 bis 50 Me- Freiheit losgelassenen männlichen Ju- tern. gend gehört natürlich auch die Teilnah- Als die Ausländer von me am landesweiten Besäufnis am Her- der Bildfläche im Cafe´ ver- rentag. Zu Hause fängt es an, weil es da schwinden, beginnen die billiger ist, vor dem Frühstück schon, Jugendlichen, zu denen damit man „gut drauf ist“ für den Tag, sich noch weitere Ange- dann ab zu den Kumpeln. Die drei An- trunkene gesellen, auf der geklagten, als sie am 12. Mai dieses Jah- Terrasse des Cafe´s zu ran- res nachmittags in die Stadt fuhren, wa- dalieren. Stühle fliegen, Ti- ren in bester Stimmung und Gesell- sche fallen um. Gäste su- schaft: Etwa 30 junge Männer führten chen das Weite. Ein neben sich so auf, daß sie den überschweren dem Cafe´ befindlicher Dö- Straßenbahnwagen durch Schaukeln ner-Imbiß wird ebenfalls fast zum Entgleisen brachten. beschädigt. Es entsteht In der Innenstadt stolperten sie ins Sachschaden in Höhe von Freie, und, unter dem Gebrüll des einen 20 000 Mark. oder des anderen: „Hooligan – Hooli- Was in der Folge im ein- gan“ und möglicherweise auch „Da sind zelnen geschah, das ist die Regel bei solchen Vor- sie, jetzt drauf“, stürzte ein wilder Hau- kommnissen, war nicht fen von zehn bis 15 Mann auf eine Wie- mehr völlig aufzuklären. In se, auf der mutmaßlich fünf oder sechs einer vorläufigen Sachdar- stellung der Polizeidirekti- on Magdeburg heißt es: O. JANDKE / CARO Ein Hinweis Richterin Majstrak, Staatsanwalt Baumgarten vom Verfassungsschutz Vom Standort Julius-Bre- „Mutmaßlich angestiftet“ mer-Straße/Ecke Karstadt wurde nicht beachtet sah nunmehr die zuerst eingetroffene te, mit dem dieser auf einen Hooligan Streifenwagenbesatzung, wie 5 bis 6 eingestochen haben soll. Schwarzafrikaner lagerten (wären es Ausländer aus der Marietta-Bar stürm- Bayern mit Lederhosen gewesen oder ten und auf Deutsche einschlugen, die Laut Polizeibericht fanden sich dort, australische Golfspieler oder die Heils- sich in Höhe der Gleise befanden. Bei wo es Schlägereien gab, weitere Auslän- armee, so wären vermutlich sie attak- den ausländischen Bürgern handelte der ein, zum Teil bewaffnet mit Mes- kiert worden). es sich nicht um die Schwarzafrikaner, sern, Stöcken, Steinen und Schaufeln, Und dann beginnt, was in der Jungen welche in die Marietta-Bar geflüchtet entweder um sich mit den Deutschen zu Welt das „versuchte Massaker in der Ci- waren. Die zwei Beamten nahmen die prügeln oder mit der Polizei, wenn diese ty“ heißt und in der Berliner Zeitung als Verfolgung der betreffenden Ausländer einen der Ihren in Gewahrsam genom- „stundenlange“ Verfolgung von Auslän- auf, welche versuchten, wieder in die men hatte. Dazu kamen Gaffer, die das dern durch deutsche Jugendliche darge- Marietta-Bar zu gelangen. Einem Be- Schauspiel am Herrentag genossen, und stellt wird. amten gelang es, einen Bulgaren bis in zahlreiche Betrunkene. Der Weg von der Wiese zur „Mariet- die Küche zu verfolgen und dort in Ge- Gegen 16.30 Uhr standen an einer ta-Bar“, einem Cafe´ in der Fußgänger- wahrsam zu nehmen. Der zweite Beam- Stelle circa 50 Schwarzafrikaner, Tür- zone, in das sich die Schwarzen flüchte- te versuchte auf dem Breiten Weg vor ken und Araber 60 Deutschen gegen- ten, beträgt längstens 200 Meter. Zwi- der Marietta-Bar, einen Türken festzu- über: schen den Verfolgten und den Verfol- halten, welchem er zuvor ein Döner- Einige Schwarzafrikaner zogen ihre Ho- gern bestand nach Augenzeugen ein Messer aus der Hand geschlagen hat- sen herunter und zeigten das nackte Gesäß in die Richtung der deutschen Gruppierung. Dabei gestikulierten und riefen sie: „Kommt doch herüber.“ Die Polizei ist nach dem Krawall hef- tig kritisiert worden. Der abschließende Bericht der Arbeitsgruppe im Innenmi- nisterium von Sachsen-Anhalt zur „Menschenjagd“ am Himmelfahrtstag stellt gleichwohl fest, daß es keinerlei Anlaß für dienstrechtliche oder diszipli- narische Maßnahmen gebe. Auch der neue Innenminister wird zu keinem an- deren Ergebnis kommen können. Es sind Fehler gemacht und zugege- ben worden. Zum Beispiel wurde ein Hinweis, der vom Verfassungsschutz einging, nicht beachtet. Er besagte, am Herrentag würden sich Hooligans oder Skinheads im Zentrum versammeln, um

VOIGT „Linke“ aufzumischen. Wenn bekannt

K.-P. ist, daß diese Jugendlichen gegen alle Festnahme am „Herrentag“: „Die Welt schaut auf Magdeburg“ und alles vorgehen, wenn sie in Stim- mung sind, kann sich niemand damit

DER SPIEGEL 30/1994 37 .

DEUTSCHLAND

herausreden, daß von Ausländern ja nicht die Rede gewesen sei. SPIEGEL-Gespräch Die Justiz hat in einer Gesellschaft, die schwer an den Folgen eines 40 Jahre wäh- renden Getrenntseins trägt, nicht zuletzt die Aufgabe, Paniken unabhängig und „Die Sehnsucht nach gelassen zu begegnen. Sie hat zurechtzu- rücken, zu korrigieren und nicht gefällig zu sein. Der 30Jahre alten Evelyn Majstrak aus der schöneren DDR“ Thüringen, Richterin seit 1991 und seit 1. Mai 1993 als Jugendrichterin in Magde- Günter de Bruyn über ostdeutsche Gefühle und die Rolle der PDS burg tätig, fehlte dazu die Kraft. Sie hat dem Druck –die Augen der Welt blickten schließlich nach Magdeburg – nicht wi- SPIEGEL: Herr de Bruyn, nach den jüng- de Bruyn: Für mich ein Alptraum, ein derstanden. Sie war zu oft aufgeregt, un- sten Wahlerfolgen der PDS spukt ein weiteres Experiment, das schiefgehen sicher, schwankend zwischen dem, was Gespenst durch Deutschland – die muß. Aber ob die PDS das will, weiß sie sich als Meinung zurechtlegte, und DDR. Sehen Sie Gefahr im Verzuge? man nicht. Vielleicht weiß sie es selber dem, was die Hauptverhandlung tatsäch- de Bruyn: Nein, die Aufregung ist über- nicht, innerlich gespalten wie sie ist. lich ergab. Das ist ihr, aufgrund ihrer ge- trieben. Die PDS-Wähler wollen nicht Nicht die Genossen, aber viele ihrer ringen Erfahrung, nicht vorzuwerfen. die DDR wiederhaben, sondern auf ihre Wähler würden, wie ich denke, wieder Doch es muß schon vermerkt werden, Sorgen aufmerksam machen. Nicht oh- abspringen, wenn die Partei die Einheit daß sie zusammen mit zwei Schöffen ver- ne Grund stellt die PDS nicht ihre alten in Frage stellte und sich vom modernen urteilte und begründete, als ob sie das Parteikader in den Vordergrund, son- Demokratieverständnis entfernte. Ansehen Deutschlands weltweit zu ver- dern die Reformer. SPIEGEL: Ist das Votum für die PDS ei- teidigen hätte („Sogar der neue Bundes- SPIEGEL: Selbst eine reformierte DDR ne politische Entscheidung oder mehr präsident mußte in seiner Antrittsrede ist nicht gerade ein Traum. ein Reflex auf ein Gefühl systematischer Bezug nehmen . . .“). Immer wieder war Entwertung? in der Begründung von „man“ die Rede, Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure de Bruyn: In erster Linie ist es ein Reflex nicht von Personen. Ein Verurteilter sei Petra Bornhöft und Dietmar Pieper. auf die soziale Lage, auf den Schock der „maßgeblich beteiligt“ gewesen und ha- be „andere mutmaßlich angestiftet“ – mutmaßlich. Das Gericht ging über den Strafantrag der keineswegs laschen, sondern energi- schen Staatsanwälte Frank Baumgarten und Hans-Jürgen Neufang hinaus, die Ju- gendstrafen zwischen einem Jahr fünf Monaten und zweieinhalb Jahren ohne Bewährung gefordert hatten: Drei Jahre, dreieinhalb Jahre (als Gesamtstrafe), zwei Jahre, wegen gefährlicher Körper- verletzung, keine Bewährung. „Kriegsähnliche Zustände?“ Immer wieder fragte die Richterin Zeugen die- ses von ihr eingebrachte Bild ab. Den be- teiligten Ausländern, die immerhin eine blutige Strecke hinterließen, droht kein Strafverfahren, ihnen wird Notwehr zu- gestanden. Ein Zeuge, der gleich zu Beginn auf die andere Straßenseite flüchtete, sagte al- lerdings aus, er habe beobachtet, wie Ausländer einen Deutschen verfolgten, niederschlugen und auf ihn eintraten. Und er selbst, völlig unbeteiligt, hat auch einen Messerstich ins Bein bekommen. J. H. DARCHINGER Das wurde vom Gericht übergangen. Günter de Bruyn sche bei Beeskow, einem Stechmük- Der Polizei ist vorgeworfen worden, kenparadies zwischen Kiefern und mär- sie habe die Opfer verfolgt. Doch die Po- gehörte zu den bedeutendsten Autoren kischem Sand, am zweiten Teil des lizei hat zunächst versucht, die am ge- der DDR. Nach dem Krieg schlug sich Werkes, das vier Jahrzehnte DDR be- fährlichsten Ausgerüsteten zu entwaff- der gebürtige Berliner als Landarbeiter, schreiben soll. Die Erfolge der PDS, die nen, jene mit den Döner-Messern. Lehrer und Bibliothekar durch. Seit in Sachsen-Anhalt zum möglichen „Nur durch lange staatliche Erziehung 1961 lebt er als freier Schriftsteller Mehrheitsbeschaffer einer rot-grünen in einer Strafanstalt“, sagte Frau und Essayist. Zuletzt machte er mit sei- Minderheitsregierung aufgestiegen ist, Majstrak in der Urteilsbegründung, sei ner vor zwei Jahren erschienenen Auto- relativiert der nüchterne Beobachter: bei diesen jungen Männern „eine Abkehr biographie „Zwischenbilanz – Eine Ju- „Die PDS-Wähler wollen nicht die DDR von ihren Taten zu ermöglichen“. Viel gend in Berlin“ Furore. Derzeit arbeitet wiederhaben, sondern auf ihre Sorgen Glück, das war ein tiefer Griff ins alte de Bruyn, 67, in seiner entlegenen Dat- aufmerksam machen.“ DDR-Nähkästchen. Y

38 DER SPIEGEL 30/1994 .

sen Bücher keiner gen, erleichtern das Ertragen des Unter- mehr lesen will. Die legenheitsgefühls. Gefühle des kritischen SPIEGEL: Wie äußern sich die Vorurteile Autors, dessen Wich- im Kern? tigkeit der Westen be- de Bruyn: Neulich sagte mir eine Frau stätigte, dessen Mut ohne jede Polemik: „Die Leute im We- die Leser mit Anhäng- sten sind doch ganz anders als wir“, und lichkeit honorierten, sie meinte damit: „Wir sind doch die dessen Bedeutung besseren Menschen . . .“ aber mit dem Ende der SPIEGEL: . . . die stolz sind auf die neu- Zensur sich verringer- erdings wieder viel zitierten Errungen- te oder ganz ver- schaften der DDR? schwand. de Bruyn: Nein, sie dachte wohl eher an SPIEGEL: Woher rüh- die höhere Moral der Unterlegenen, so ren die Verletzungen wie das 18. Jahrhundert den rückständi- in allen Schichten der gen, biederen Deutschen gegen den mo- ostdeutschen Gesell- dernen, lasterhaften Franzosen stellte. schaft? Auch das ist eine Methode, Unterlegen- de Bruyn: Aus der heit erträglich zu machen. Die soge- Rückständigkeit und nannten Errungenschaften, wie niedrige Abgeschlossenheit der Mieten und sichere Arbeitsplätze, deren DDR. Zu Zeiten des dunkle Kehrseiten gern vergessen wer- Ostblocks konnten den, kommen bei anderen Gelegenhei- Techniker und Fachar- ten ins Spiel. Der Arbeitslose, der frü- beiter durch den Ver- her 60 Mark Miete bezahlt hat und heu- gleich mit der Sowjet- te 500, ist gegen alle Argumente so gut

DARGELIS union und anderen wie taub – und wählt vielleicht PDS, DDR-Propaganda „Pause auf dem Feld“ Verbündeten Selbstge- weil die ihm, ohne zu sagen, wie sie das fühl entwickeln, ja finanzieren will, niedrige Mieten ver- „Dann kam die Einheit, und man hörte, Überlegenheitsgefühl. spricht. man habe nur Schrott produziert“ Die Meinung, daß die SPIEGEL: Manche Ostdeutsche schok- DDR-Deutschen die ken Westler mit der Behauptung, sie Besten im Ostblock hätten früher mehr Freiheiten gehabt. Marktwirtschaft, auf Betriebsschließun- seien, war verbreitet. Dann kam die de Bruyn: Das erschreckt auch mich, gen, auf Arbeitslosigkeit, auf weniger Einheit, und man hörte, man habe nur weil es in bezug auf politische Freiheiten Geld für gleiche Arbeit. Die Entwer- Schrott produziert. Das schmerzt und völliger Unsinn ist. Was gemeint ist, ist tungsgefühle, über die besonders Intel- aktiviert die antiwestlichen Vorurteile, das Mitreden am Arbeitsplatz, im Be- lektuelle gern reden, kommen erst in die sich aus Resten antikapitalistischer trieb, und es stimmt im konkreten Fall zweiter Linie hinzu. Propaganda und Erfahrungen mit einem sogar. SPIEGEL: Das Gefühl der Benachteili- aggressiven Handelsvertreter aus Han- SPIEGEL: Sprechen Sie damit nicht mehr gung ist berechtigt? nover zusammensetzen. Und Vorurtei- ein Gefühl der Ostdeutschen denn eine de Bruyn: Benachteiligt fühlt sich so- le, die sich bekanntlich immer bestäti- Realität an? wohl der Kali-Kumpel, der seine Arbeit verloren hat, weil die Konkurrenz aus dem Westen gesiegt hat, als auch der SED-Funktionär, der Macht und Stel- lung verloren hat. Weniger leicht zu ver- stehen ist das Benachteiligungsgefühl bei den Ostintellektuellen, die, statt sich ihrer Freiheit zu erfreuen, traurig sind. Da sitzt der Westmensch, rührend um Verständnis bemüht, dabei und kann nichts begreifen. Er will ja keine Gefüh- le verletzen, will alles richtig machen. Aber er kann es nie richtig machen . . . SPIEGEL: . . . weil er nicht in der DDR gelebt hat? de Bruyn: Nee, weil der Trauernde sich selbst und anderen etwas vormacht, weil er viele Gründe sucht und den eigentli- chen nicht sieht. Was ihn leiden läßt, ist sein Bedeutungsverlust und, daraus fol-

gend, die Minderung seines Selbstwert- ZENIT gefühls.

SPIEGEL: Was meinen Sie damit? D. GUST / de Bruyn: Die Gefühle des Spezialisten, Wohnblocks in Hoyerswerda der in der kleinen DDR in seiner Wis- senschaft einmalig war und der jetzt ei- „Suche nach einer Rest-DDR, in der man mit ner unter vielen ist. Die Gefühle des Ausländern nicht zusammenleben mußte“ Parteiautors mit riesigen Auflagen, des-

DER SPIEGEL 30/1994 39 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

de Bruyn: Vielleicht, aber um das Ge- SPIEGEL: . . . und der PDS zulaufen. sollen, nur damit solche Legende nicht fühl geht es ja, um das Gefühl der Ge- de Bruyn: Überall im ehemaligen Ost- aufkommen kann. fährdung. Wer ringsum viele Arbeits- block zeigt die Bevölkerung, die aus SPIEGEL: War die Dominanz des We- lose sieht, tut alles, um seinen Ar- der ärmlichen Sicherheit einer realso- stens im Prozeß der Vereinigung, die beitsplatz zu erhalten, und hält den zialistischen Gesellschaft kommt, eine jetzt so heftig angegriffen wird, ver- Mund. Vorliebe für Politiker, die Sicherheit meidbar? SPIEGEL: Warum fällt Ostdeutschen zu bieten scheinen. Die PDS-Erfolge de Bruyn: Nein, aber man hätte Fehler ein nüchterner Blick auf die Schatten- sind dagegen gering. vermeiden können, die antiwestliche seiten der Marktwirtschaft so schwer? SPIEGEL: Haben die Leute von Hoy- Ressentiments bestärkt haben. de Bruyn: Weil sie so plötzlich von ih- erswerda, die einen PDSler zum Bür- SPIEGEL: Zum Beispiel? nen betroffen wurden. Weil Prägungen germeister wählten, auch Sicherheit de Bruyn: Mit dem Prinzip Rückgabe aus der DDR noch nachwirken. Weil vor dem Rechtsextremismus in ihrer vor Entschädigung wurde zwar Recht keiner ihnen den nüchternen Blick vor- Stadt gesucht? wiederhergestellt, aber neues Unrecht macht, am wenigsten die Politiker im de Bruyn: Die ehemalige realsozialisti- in Kauf genommen. Wahlkampf. sche Musterstadt sucht vielleicht eine SPIEGEL: Lag es am westlichen Fetisch SPIEGEL: Wir schreiben das Jahr 4 Rest-DDR; das heißt auch jenes Land, Eigentum? nach der Einheit. Sie billigen Ihren in dem man mit Ausländern nicht zu- de Bruyn: Ich glaube, es lag an einem Landsleuten geringe Lernfähigkeit zu. sammenleben mußte, da die wenigen, rechtsstaatlichen Denken, das Michael de Bruyn: 4 Jahre wiegen vielleicht we- die es gab, in Ghettos lebten. In der Kohlhaassche Züge trägt: Recht muß nig gegen 12 plus 40 Jahre Diktatur. Ausländerfeindlichkeit und im PDS- Recht bleiben, auch wenn Unschuldige darunter leiden. SPIEGEL: Neues Unrecht, behauptet nicht allein die PDS, habe der Westen auch im Umgang mit Stasi-Mitarbeitern begangen. de Bruyn: Das mag im Einzelfall stim- men, und die Journalisten hätten nüch- terner und weniger selbstgerecht sein können. Tatsache aber ist: Im Osten wä- re an Aufarbeitung nichts in Bewegung gekommen, wenn nicht der Westen dar- auf gedrängt hätte. SPIEGEL: Die Bürgerrechtler stürmten die Stasi-Zentralen... de Bruyn: . . . aber sie hatten wenig Rückhalt in der Bevölkerung. SPIEGEL: In der Debatte schwang der Vorwurf kollektiver Feigheit und An- passung an die Diktatur mit. Folgt nun die kollektive Abwehrreaktion? de Bruyn: Ich kann meine eigene Feig- heit nicht damit entschuldigen, daß an-

SVEN SIMON dere genauso feige gewesen wären. Aktivisten der FDJ (1989) SPIEGEL: Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Rudolf Scharping erklär- „Es gibt eine Art Dolchstoßlegende: Ohne den ten, sie wüßten nicht, wie sie sich in der Westen hätte alles so schön werden können“ DDR verhalten hätten. de Bruyn: Das klingt ehrlich und ist an- biederisch. Wichtiger scheint mir, den SPIEGEL: Birgt die antiwestliche Stim- Wählen könnte sich die gleiche Sehn- Leuten zu sagen, wie sie sich hätten ver- mung auch eine antidemokratische Hal- sucht manifestieren: die nach der halten müssen. Wer ein Menschenrecht tung? DDR. Da lebten wir noch ganz unter auf Mitläufertum propagiert, trägt dazu de Bruyn: Bei einem Teil, einem gerin- uns. bei, daß politisch-moralische Maßstäbe geren Teil, fürchte ich ja. Sicher bei SPIEGEL: Erneuert sich mit dieser schwinden. manchem PDS-Wähler, bei manchem Sehnsucht auch der Glaube an die so- SPIEGEL: Welche Folgen hat das Nicht-Wähler. Aber vergessen Sie bitte zialistische Utopie? Schwinden der Maßstäbe? nicht: Die Mehrzahl der ostdeutschen de Bruyn: Der Glaube an das Paradies de Bruyn: Daß niemand mehr, was Wähler entscheidet sich für demokrati- des Kommunismus spielt wohl kaum schon mit Maßstäben schwer ist, zwi- sche Parteien. Die Scheidelinie zwi- noch eine Rolle. Die Utopie der durch schen Schuld und Unschuld zu unter- schen Demokraten und Nicht-Demo- Erfahrung nicht Belehrbaren ist mehr scheiden vermag. kraten verläuft nicht an der ehemaligen nostalgisch. Sie richtet sich auf eine SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, daß In- deutsch-deutschen Grenze, sondern schönere DDR. Schon gibt es eine Art tellektuelle wie Stefan Heym, Hanne quer durch das Land. Mit den alten Dolchstoßlegende: Wenn der Westen Hiob, Willi Sitte, Bettina Wegener oder SED-Leuten muß das vereinte Deutsch- das Volk nicht betört und mit der Ver- gar Stephan Krawczyk – die zum Teil land leben, so wie man in den Anfängen einigung überrollt hätte, hätte alles so Karriere in der DDR gemacht haben, nach 1945 mit den alten Nazis hat leben schön werden können. Wenn man das aber auch drangsaliert und unterdrückt müssen. Wir müssen auch mit denen le- hört, kann sich in einem der bösartige wurden – jetzt für die PDS Wahlkampf ben, die sich vielleicht die bequeme Be- Wunsch regen, die Bundesrepublik machen? vormundung der DDR zurückwün- hätte den bankrotten Staat noch einige de Bruyn: Die waren, soviel ich weiß, schen . . . Zeit im eigenen Saft schmoren lassen von jeher Sozialisten und sind es geblie-

42 DER SPIEGEL 30/1994 . ACTION PRESS PDS-Kandidat Stefan Heym „Bei Intellektuellen wirken antiwestlicher Trotz und Gysis Talk-Show-Talente“

ben. Sie wollten damals die DDR bes- SPIEGEL: Kann das Erstarken der PDS ser haben und sehen heute wohl die zum Auseinanderdriften der Deutschen PDS als die Partei der Reformer, nicht führen? die der alten Kader an. Aus ihrer Sicht de Bruyn: Da überschätzen Sie die Par- ist das gradlinig. tei und deren Einfluß. SPIEGEL: Gilt das auch für die weniger SPIEGEL: Haben Sie den Aufschrei in prominente DDR-Intelligenz, die sich Westdeutschland nicht wahrgenom- um die Partei wieder schart? men? de Bruyn: Da wirken wohl in erster Li- de Bruyn: Ja, die Aufregung ist beträcht- nie Gysis Talk-Show-Talente und anti- lich, aber sie wird auch wieder abneh- westlicher Trotz, ein Ausdruck von men, wenn man merkt, daß man der Selbstbehauptung dem übermächtigen PDS damit nur nützt, besonders dann, Westen gegenüber. wenn man die Partei meint, aber „die SPIEGEL: Vereinzelt haben sich DDR- Ostdeutschen“ sagt und damit die An- kritische Wissenschaftler und Künst- maßung bestätigt. ler für die SPD interessiert, die sich SPIEGEL: Sie halten den deutschen Ost- ihrerseits sperrte. Sehen Sie eine West-Gegensatz für gering, sehen nicht Brücke? Abwehr und Desinteresse? de Bruyn: Die kritische DDR-Intelli- de Bruyn: Die sehe ich und sie beunruhi- genz war stärker marxistisch geprägt gen mich, aber ich bin davon überzeugt, als die im übrigen Ostblock. Der daß die Kultur und die gemeinsamen hi- DDR-Dogmatismus hat viele ihm ver- storischen Erfahrungen, die aus den wandte Geister abgestoßen oder nie- Deutschen mal eine Nation gemacht ha- dergehalten. In allen Schattierungen ben, stärker sind als alle augenblickli- finden die sich nun in der PDS wieder. chen Komplikationen. Aber es gibt doch auch ein Engage- SPIEGEL: Der Graben zwischen den ment für die Sozialdemokraten, zum Deutschen in Ost und West wird nicht Beispiel die Wählerinitiative für Wolf- breiter? gang Thierse. de Bruyn: Nein, nur sichtbarer, und mit SPIEGEL: Heym und andere Intellektu- der Zeit wird er schmaler werden. Die elle begründen ihr Engagement auch heranwachsende Generation wird die damit, daß die Ostdeutschen ein Vorurteile ihrer Eltern und Großeltern Sprachrohr bräuchten. bald lächerlich finden. de Bruyn: Das ist eine doppelte Anma- SPIEGEL: So spricht ein gutgelaunter ßung und Selbstüberschätzung, nämlich Außenseiter. die des Intellektuellen, der meint, für de Bruyn: So spricht ein nüchterner Be- ganze Bevölkerungsgruppen oder für obachter, ein Ostdeutscher, der sich we- die Nation sprechen zu können, und der von der PDS vertreten noch von er- die einer Partei, die Fürsprecher der schreckten Westdeutschen in die PDS- Ostdeutschen zu sein behauptet, es Ecke stellen läßt. aber nur für eine Minderheit von ihnen SPIEGEL: Herr de Bruyn, wir danken Ih- ist. nen für dieses Gespräch. Y

DER SPIEGEL 30/1994 43 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND FORUM

in mehreren Bundesländern Kirche haben gezeigt, daß acht bis zehn Jahre alten Schülern un- verkrampfter als älteren der Pakt vertagt Einstieg in eine Fremdspra- Die Pläne für die Errichtung einer Katholi- che gelingt. Gewollter Ne- schen Fakultät an der Ost-Berliner Hum- beneffekt: Ausländerkinder boldt-Universität sind in letzter Minute ge- in gemischten Klassen, we- scheitert. In einer Klausursitzung des Berli- gen der Sprachbarrieren in ner Senats wurde der bereits unterschrifts- den meisten Fächern benach- reife Vertrag jetzt gekippt und das Millio- teiligt, erreichen beim Eng- nen-Projekt bis 1997 vertagt. lischunterricht ähnliche Er- Mit 13 Professorenstellen und 600 Studien- folge wie ihre deutschen Mit- plätzen sollte es die erste Katholisch-Theo- schüler. logische Fakultät an einer Uni der neuen Bundesländer werden. Papst Johannes Paul Umwelt II. hatte sich persönlich dafür stark ge-

macht, weil die bundesdeutsche Politik in KNA Pillen für der Hauptstadt nach seiner Ansicht „in dem Papst Johannes Paul II. in Deutschland Maße ärmer“ werde, „wie die städtische die Pisten Kultur nicht auch durch das Moment katho- mung des Papstes aber sollte es keine Be- Im österreichischen Tirol wer- lischer Werthaltungen belebt wird“. rufung von Professoren geben. den mit Reststoffen der Phar- Vor allem in der Berliner SPD waren die Gegner des Paktes zwischen Staat und Kir- maindustrie zerstörte Skipi- Vertragsentwürfe des protestantischen che befürchteten, daß an einer solchen Fa- sten gedüngt. Das weißgraue Wissenschaftssenators Manfred Erhardt kultät kritische Theologen keine Chancen Granulat stammt von Pilzpro- (CDU) auf Widerstand gestoßen. Nach die- gehabt hätten. Nach seinem Scheitern will teinen aus der Herstellung rei- sen Plänen wäre die Fakultät zwar aus Steu- Erhardt nun versuchen, eine jüdische nen Penicillins. Die Tiroler ergeldern finanziert worden; ohne Zustim- Hochschule in die Hauptstadt zu holen. Firma Biochemie, ein Toch- terunternehmen des schwei- zerischen Konzerns Sandoz Kinder men, Baden und Tauchen be- Sprachunterricht AG, vertreibt mit offizieller sonders unfallträchtig, eben- Zulassung die Pistenpillen. Risiko so Herumtollen und Streiten. Englisch Beschädigte Almwiesen wer- Kleinkindern drohen die den mit bis zu zwei Tonnen am Teich höchsten Risiken beim Spie- mit acht pro Hektar behandelt. Zur Unfälle im Verkehr sind oft len in der Nähe von Teichen. Hamburg will als erstes Bun- „Revitalisierung von Skipi- Ursache für schwere Gesund- desland vom kommenden sten“, sagt Biochemie-Exper- heitsschäden bei Minderjäh- Sekten Jahr an stufenweise das Fach te Stefan Naschberger, sei der rigen. So nahm Deutschland Englisch an allen Grundschu- organische Dünger „gut ein- 1992 bei im Verkehr verun- Scientologe len einführen. Schüler in den setzbar“, wenn auch „nicht glückten Kindern im Europa- Klassen 3 und 4 erhalten das ursprüngliche Grün“ Vergleich den ersten Platz in der Bank dann je zwei Wochenstunden nachwachse. Das Präparat sei Ein Schreiben der Scientolo- Englisch, in denen sie, so die in den USA, Italien und der gy-Sekte offenbart jetzt, daß Hamburger Schulsenatorin Schweiz bei Skiliftbesitzern Gefährliches Spiel Anhänger der verschwore- Rosemarie Raab (SPD), oh- stark gefragt. Ökologen im Unfälle bei Kindern nen Gemeinde auch gehobe- ne Paukerei von Grammatik Deutschen Alpenverein kriti- bis 16 Jahre ne Posten in der Wirtschaft und Rechtschreibung die sieren die Pistenbehandlung eingenommen haben. Ein Fremdsprache vor allem hö- mit Pharmaabfällen, die zu „Presseinfo“, in dem Sciento- ren und sprechen lernen sol- einer weiteren Störung der Sport logy über die Einstellung len. Erfahrungen mit ent- empfindlichen Alpenflora eines Ermittlungsverfahrens sprechenden Schulversuchen und -fauna führe. 30,5% gegen ihren Verein berichtet und zugleich die Hamburger Sektenexpertin Ursula Ca- 60,0% 5,6% berta attackiert, wurde bun- desweit verbreitet – etwa aus Freizeit und Spiel Verkehr der Zentrale der Frankfurter Commerzbank per Firmen- fax. Absender war ein lei- ein, absolut und auch im Ver- tender Optionshändler der hältnis zur Kinderzahl. Doch Bank, der nach Angaben des viel häufiger als auf der Stra- Geldinstituts seit längerem ße verletzen sich Kinder im mit der Sekte in Kontakt Alter von bis zu 16 Jahren steht. Bisher, so ein Bank- bei Spiel und Sport. Das geht sprecher, habe der Mann aus einer Untersuchung der „gute Arbeit geleistet“. Kün- Schweizerischen Beratungs- digen könne ihm die Bank al-

stelle für Unfallverhütung lein wegen seines Sektenum- B. NIMTSCH / MAGMA hervor. Danach sind Schwim- ganges nicht. Englischunterricht in Hamburger Grundschule

DER SPIEGEL 30/1994 45 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

Juristen Simple Erpressung Mit happigen Spenden können sich stasibelastete Rechtsanwälte vom Thüringer Justizministerium ihre Zulassung erkaufen.

er Brief aus dem Thüringer Justiz- F. SOMMARIVA / OSTWESTBILD ministerium traf den Erfurter Justizpolitiker Gasser DStrafverteidiger überraschend. Er Einigung beim Ablaßhandel sei, so schrieben ihm die Beamten, als Rechtsanwalt im vereinten Deutschland zuwerben. Er hatte damals abgelehnt, nicht mehr tragbar. die folgenlosen Gespräche verschwieg Denn bislang, so rügten ihn die Be- er, als er nach der Vereinigung seine amten, habe er seine Kontakte zum frü- Zulassung beantragte. heren Ministerium für Staatssicherheit Doppelt soviel wie er mußte nun einer der DDR verschwiegen. Sein Verhalten seiner Kollegen zahlen, um alte Sünden lasse ihn für den Beruf des Rechtsan- loszuwerden. Für 10 000 Mark, eben- walts „unwürdig erscheinen“, die Zulas- falls an die Hilfskasse zu überweisen, sung werde ihm nun entzogen. verziehen die Ministerialen einem Thü- Einen neuen Job muß sich der gelern- ringer Anwalt, daß er zehn Jahre lang te DDR-Jurist dennoch nicht suchen. als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die Wenn er 5000 Mark an die Hilfskasse Stasi Spitzeldienste geleistet hatte. Stan- für bedürftige Rechtsanwälte zahle, so desrechtler Kleine-Cosack: „Das ist eine die Beamten im vergangenen Monat, ganz simple Erpressung.“ dürfe er seine Lizenz behalten. Der Er- Dabei ging Thüringen bisher weit furter stimmte „widerwillig“ zu. „Durch schärfer gegen belastete Anwälte vor als 5000 Mark war ich plötzlich wieder wür- die anderen Ostländer. Das Justizmini- dig für den Anwaltsberuf“, grollt er. In allen neuen Ländern und Berlin prüfen zur Zeit die Ju- stizministerien die DDR-Ver- gangenheit von Rechtsanwäl- ten und Notaren aus dem Osten. Die Absicht: Die An- waltschaft soll von stasibelaste- ten Juristen gesäubert werden. Immer wieder aber hat der Bundesgerichtshof (BGH) ein- zelne Entscheidungen der Län- der gekippt. Vor wenigen Wo- chen verfiel das Erfurter Justiz- ministerium auf einen besonde- ren Handel, um sich langwieri- ge Prozesse zu ersparen: Wer spendet, darf arbeiten. Der Deal sei „eindeutig ge- setz- und verfassungswidrig“, sagt der Freiburger Rechtsan- walt Michael Kleine-Cosack, Experte für Standesrecht: „Entweder ist ein Jurist würdig für den Beruf des Anwaltes, oder er ist es nicht.“ Der Erfurter Verteidiger hat- te sich nur wenig zuschulden

kommen lassen. Vor 15 Jahren K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL hatte die Stasi versucht, ihn als Standesrechtler Kleine-Cosack hauptamtlichen Mitarbeiter an- „Gesetzeswidriger Deal“

48 DER SPIEGEL 30/1994 sterium berief sich dabei auf das „Ge- setz zur Prüfung von Rechtsanwaltszu- lassungen, Notarbestellungen und Beru- fungen ehrenamtlicher Richter“. Danach kann ehemaligen DDR-Juri- sten die Zulassung entzogen werden, wenn sie gegen „die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaat- lichkeit“ verstoßen haben, etwa wäh- rend der Arbeit „als hauptamtlicher oder Inoffizieller Mitarbeiter des Staats- sicherheitsdienstes“. Das Gesetz ist umstritten. Der Deut- sche Anwaltverein (DAV) hält es für „überflüssig“. DAV-Präsident Günther Schardey: „Wir waren von Anfang an gegen dieses Gesetz. Die schweren Fälle kann man über das Strafrecht regeln.“ Die Paragraphen stellen Rechtsan- wälte bei der Überprüfung ihrer DDR- Vergangenheit dem Öffentlichen Dienst gleich, obwohl sie einen freien Beruf „Ein klassischer Fall des Verkaufs von Hoheitsakten“ ausüben. Doch nur in gravierenden Aus- nahmefällen kann ein befristetes Berufs- verbot erlassen werden. Prinzipiell haben die Bewerber einen Anspruch auf Zulas- sung als Rechtsanwalt. So sieht es auch der BGH. Die Richter verlangen den Nachweis, daß der abge- lehnte Jurist jemandem konkret gescha- det oder eine Schädigung zumindest in Kauf genommen hat. Thüringens Justiz- staatssekretär Karl-Heinz Gasser (CDU) hält das für übertrieben: „Wie soll man das beweisen?“ Der BGH kassiert deshalb immer häu- figer Entscheidungen der ostdeutschen Justizbeamten, zumal die teilweise auch noch schlampig recherchieren. So hatte das Thüringer Justizministeri- um einer Anwältin die Zulassung entzo- gen, weil sie als IM angeblich 191 Berich- te an die Stasi geliefert hatte. Vor dem BGH mußten die Beamten dann einge- stehen, daß sie mit einer falschen Akte operiert hatten. Um derlei Pannen und Fehlschläge zu vermeiden, versucht das Ministerium nun offenbar, sich über den Ablaßhandel schneller und sicherer mit den belasteten Rechtsanwälten zu einigen. Die Beamten nutzten die „Hilflosig- keit und Unsicherheit der Ostjuristen aus“, schimpft Kleine-Cosack. Die Thü- ringer Praxis sei ein „klassischer Fall des Verkaufs von Hoheitsakten“. Staatssekretär Gasser hält das Ge- schäft mit der Schuld hingegen für „völlig in Ordnung“. Bei der Zulassung von An- wälten werde eben „in Anlehnung an das Strafrecht verfahren“. Gasser: „Die müs- sen doch spüren, daß das in der Vergan- genheit Unrecht war.“ Y

DER SPIEGEL 30/1994 49 DEUTSCHLAND

Megabaustelle Berlin Geplante Bauten in der Stadtmitte

N

Branden- Regierungsviertel burger Tor Reichstag

Spreebogen Tunnelbau für U5 U-Bahnhof Neuer Zentral- Reichstag bahnhof nördlich der Spree

Verlauf des Autotunnels unter der Spree

Spree

Hauptstadt Berlin spielt Babylon Die deutsche Metropole übernimmt sich. Großkotzige Umbaupläne rund um das Brandenburger Tor, riskante Tunnelprojekte, ein veraltetes Verkehrskonzept gefährden Berlins Lebensnerv. Experten warnen davor, die ganze Innenstadt in eine Megabaustelle zu verwandeln: „Das muß schiefgehen.“

ie öffentliche Mahnung galt den Wehe den Berlinern: 65 Jahre später nommen, „das werden sich die Leute ir- Bauherren der deutschen Haupt- ist die Kritik aktueller denn je. Größen- gendwann nicht mehr gefallen lassen“. Dstadt. wahn und Verschwendergeist haben die Binnen zwei Jahren wollen Bund und Berlin solle aufhören, andere Metro- Bauherren der 3,5-Millionen-Metropole Senat das gesamte Berliner Zentrum in polen wie Paris und London nachzu- gepackt. einen Bau-Moloch verwandeln, dem ahmen, forderte der geachtete Archi- Geht es nach den derzeitigen Plänen, sich die Stadt unterordnen muß. Rund tekt von den Planern der Regierung. wird eine Großbaustelle im zentralen um das Brandenburger Tor, auf einem Hinter dem ehrgeizigen Motto „Wir Bereich jede vernünftige Stadtentwick- gut vier Kilometer langen und bis zu ei- können es auch“ verberge sich doch lung blockieren, den Regierungsumzug nem Kilometer breiten Areal wächst ei- nur „kleinstädtischer Lokalpatriotis- und mit ihm die wirtschaftliche Gesun- ne Baustellenballung ohnegleichen her- mus“. dung Berlins um Jahre verzögern. an (siehe Luftbild-Grafik). Wehe den Berlinern. Gefährlicher Schon haben die meisten Bürger den Neben Betonmischwerken und ausge- noch als „die Ruhmsucht des einzelnen“ Überblick verloren. Die „Berliner no- dehnten Umschlagplätzen werden meh- sei die „Ruhmsucht einer Stadt“. madisieren durch ihre eigene Stadt“, rere tausend überwiegend auswärtige Die Warnung vor den großkotzigen ahnt der Architekturhistoriker Dieter Bauarbeiter in Containerdörfern woh- Hauptstadtplänen deutscher Techno- Hoffmann-Axthelm. Der profunde nen. Ein eigenes Gleis- und Straßennetz kraten veröffentlichte der Baukünstler Kommentator der Berliner Bauszenerie nebst Brücken und Hafenanlagen sowie Bruno Taut 1929 in der Zeitschrift Das sieht Konflikte voraus: Die Stadtmitte ein kompliziertes Geflecht von Versor- neue Berlin. werde wie eine Kolonie in Besitz ge- gungs- und Abwasserleitungen und so-

50 DER SPIEGEL 30/1994 Tunnelbau für U3 Leipziger Platz Ministergärten Potsdamer Platz

Tunnelbau für vierspurige Fernbahntrasse Zufahrtsrampe von Tiergartenstraße

Autotunnel Baustellenbereich für unter- (offene Baugrube) irdischen Gleis- und Straßenbau Helle Flächen: Vorgesehene Neubauten

FOTOS: D. KONNERTH / LICHTBLICK gar ein eigenes Klärwerk sind in Vorbe- reitung, noch bevor die eigentlichen Bauarbeiten beginnen. Von Norden nach Süden am Branden- burger Tor vorbei: Der ganze Ehrgeiz der Hauptstadtplaner konzentriert sich auf diesen historischen Streifen, die ehe- malige Schneise zwischen Ostblock und westlicher Welt durch Berlins Mitte. Aus dem Boden gestampft werden dort Regierungsviertel, Botschaftszen- trum und eine Büro- und Geschäftsburg am Potsdamer Platz. In den Boden ge- stampft werden drei kilometerlange Tun- nelprojekte und ein Eisenbahnknoten- punkt. Der neue Zentralbahnhof, an der Stel- le der S-Bahn-Station Lehrter Stadt- bahnhof, wird mit Ladenpassagen und Bürofluchten über vier Ebenen die Aus- maße eines Flughafengebäudes haben – zur Hälfte unter der Erde. Dort werden die Reisenden aus Ham- burg, Rostock und Skandinavien nach dem Willen der Deutschen Bahn AG künftig im Keller ankommen. Zum Um- steigen nach Warschau, Stuttgart oder Charlottenburg erwartet die Fahrgäste eine Rolltreppenreise wie im Kaufhaus, mit der sie knapp 30 Höhenmeter über- winden müssen (siehe Grafik Seite 58). Vom neuen Bahnhof Richtung Süden wird die Bahn in 20 Meter Tiefe und vier Baustelle am Brandenburger Tor: „Ruhmsucht einer Stadt“

DER SPIEGEL 30/1994 51 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

parallelen Röhren die ganze Berliner präsentativen Kultur- und Hotelgebäu- Kann das gutgehen? Wird der drin- Mitte von der Spree bis südlich des den rekonstruiert werden. gend notwendige Umzug der Bonner Landwehrkanals unterqueren. Mitten- Zuvor müßte allerdings noch die neue Regierung zwischen Ruinen ruinöser drin, am Potsdamer Platz, ist ein zwei- U-Bahn (U5) unter dem Platz gegraben Prestigeprojekte enden? ter mehrstöckiger Kreuzungsbahnhof werden, die den Zentralbahnhof mit Das Konzept des Alles-auf-einmal geplant, wo sich eine alte und eine dem Alexanderplatz verbinden soll. provoziert geradezu Pannen und Blok- neue U-Bahn (U2 und U3) sowie Südlich wird zur selben Zeit an einem kaden. Einer „wahrhaft diabolischen S-Bahn, Fern- und Regionalbahn un- Dutzend Gebäuden für die Vertretun- Maschinerie“ werde die deutsche Me- terirdisch kreuzen. gen der Bundesländer in den früheren tropole ausgeliefert, meint nicht allein Darüber entsteht Berlins größtes Ministergärten gearbeitet. Im Norden, Kritiker Hoffmann-Axthelm. Auf einen Dienstleistungszentrum, ein Betonge- gegenüber vom Kanzleramt, bekommt Schlag wird die ganze Region vom birge, zusammengesetzt aus einem der Ost-West-Autoverkehr noch eine Fortgang auf einer einzigen Megabau- Hertie-Kaufhaus, einer glasüberdach- Brücke über den Humboldthafen. stelle abhängig. ten „Shopping-Mall“ und den Nieder- Soweit die bisherigen Absichten der Schon von 1998 an wollen Daimler lassungen der Daimler-Benz-Tochter Weltstadtphantasten von Rhein und und Sony ihre Paläste in Betrieb neh- men. Im selben Jahr soll der Rohbau des Kanzleramtes über dem Tunnel ste- hen und der Umbau des Reichstages abgeschlossen sein. Die Fertigstellung der Staatsbauten wiederum ist Startvoraussetzung für den Umzug von Regierung und Bun- destag. Daran koppeln Dutzende Un- ternehmen und der private Bonner Lobbyapparat ihre Milliarden-Investi- tionen und damit Zehntausende von Arbeitsplätzen im ganzen Stadtgebiet. Das heißt: Nichts geht, solange die gigantischen Tunnelprojekte unter dem Regierungsviertel nicht gedeckelt sind. Und genau hier liegt der Schwachpunkt der Planung. Die drei Tunnel sind technisch hochriskant, finanziell nicht gesichert und politisch kaum durchsetz- bar. Zunächst wollen die Ingenieure die Spree in ein künstliches Betonbett um-

BÖNING / ZENIT leiten. Sodann müssen sie die gesamte

J.-P. Ausschachtung der Spree-Unterque- Stadtpark Tiergarten: 2500 Bäume fällen für einen Tunnel rung, der Katakomben des Zentral- bahnhofs sowie der Regionalstation Debis sowie Sony Europa und des Elek- Spree. Zusammengenommen sei all das, Potsdamer Platz unter Wasser erledi- trokonzerns ABB, die es gemeinsam auf „als ob wir München vom Stachus bis gen lassen. Denn der Grundwasserspie- eine knappe Million Quadratmeter Bü- zum Marienplatz und vom Sendlinger gel darf nicht zu weit absinken, sonst ro- und Ladenfläche bringen. Tor bis zur Feldherrnhalle in sechs Jah- stürzen die alten Gebäude in der Um- Angestellte und Kunden dieser Ame- ren komplett neu aufbauen würden“, gebung ein. rika-City sollen dereinst nicht nur mit sagt Wilhelm Maier, Chef des eigens ge- Darum müssen zuerst kilometerlange dem Multibahnensystem im Unterge- gründeten Baulogistik-Unternehmens. Schlitzwände aus Beton bis zu 40 Meter schoß abtransportiert werden. Sie be- Maier, der seine Erfahrungen auf den tief in die Erde gegossen werden. kommen auch einen direkten Kelleran- Großbaustellen der Opec-Länder sam- Sobald die obere Bodenschicht zwi- schluß an einen zweieinhalb Kilometer melte, organisiert die Ver- und Entsor- schen den Wänden abgetragen ist, ent- langen Autotunnel, der ebenfalls den gung für das Projekt Potsdamer Platz stehen Grundwasserseen so groß wie Tiergartenpark und die Spree in Nord- etwa ein Dutzend Fußballfelder. Auf Süd-Richtung unterqueren soll. der künstlichen Seenplatte schwimmen Schön ruhig bleibt es dann, so hoffen Das Konzept des Alles- dann die Bagger, welche die insgesamt die Planer, oben drüber im Regierungs- auf-einmal provoziert 13 Baugruben ausheben. viertel. Zwischen Brandenburger Tor In tiefster Dunkelheit, von Schein- und neuem Zentralbahnhof, im Spree- Pannen und Blockaden werfern kaum zu durchdringen, folgt in bogen, soll der Bundeskanzler abgasfrei 20 Meter Wassertiefe anschließend ein regieren. Neben dem Kanzleramt wer- „wie einen Inselfährbetrieb“. Über Jah- Bauabenteuer ohne Vorbild: Unzählige den gleich noch 1000 Parlamentsbüros re sollen täglich 24 Güterzüge mit je 20 Tauchtrupps gießen das meterdicke Be- hochgezogen. bis 25 Waggons nur für diesen südlichen tonfundament für alle darüber liegen- Schräg gegenüber wird ein Heer von Bereich der Baustelle Erdmassen weg- den Bauwerke, unter dem Zentral- Spezialisten den Reichstag nach den und Betonstoffe herbeischaffen. Ad- bahnhof sogar über eine Fläche von Bonner Wünschen umbauen. Einen diert man die Transporte der Nordzone 22 000 Quadratmetern am Stück. Steinwurf entfernt, hinter dem Bran- hinzu, wo überwiegend mit Flußschiffen Erst wenn die Kanten zwischen denburger Tor, soll gleichzeitig der Pari- gearbeitet werden soll, erreichen die be- Schlitzwänden und Boden abgedichtet ser Platz, einst Schmuckstück des preu- wegten Gütermengen Dimensionen, wie sind, kann das Wasser abgepumpt und ßischen Berlin, mit den Botschaften sie auch der Bau des Tunnels unter dem mit dem Bau der Tunnelröhren und Frankreichs und der USA und drei re- Ärmelkanal erforderte. Bahnhöfe begonnen werden.

54 DER SPIEGEL 30/1994 . FOTOS: D. KONNERTH / LICHTBLICK Berliner Verkehrschaos (am Sachsendamm): Autohölle aus Lärm und Abgas

Ob die technische Pioniertat ohne muß aber auch für rund 100 Kilometer sten von 500 auf jetzt 890 Millionen Komplikation und nach Terminplan Streckensanierung und vier neue Fern- Mark für die Autopiste und 1,5 Milliar- vollbracht werden kann, bezweifeln bahnhöfe reichen. Schon heute halten den für die U-Bahn. Soviel kann das selbst die Enthusiasten des Projekts. Fachleute den Kostenrahmen daher für Land Berlin nur aufbringen, wenn der „Sehr, sehr heikel“ sei vor allem das Be- unrealistisch niedrig. Senat die dringend nötige Sanierung des tonieren auf dem instabilen Baugrund Ob der nächste Bundestag die Mittel alten Straßenbahn- und U-Bahn-Netzes aus Sand und Torf, meint einer der lei- freigeben wird, ist zudem höchst zwei- streicht. tenden Ingenieure. „In dieser Berliner felhaft: Seit mehr als zwei Jahren bleibt Der Bund avisierte bislang einen Zu- Matsche weiß keiner, was passieren die Bahn die gesetzlich vorgeschriebe- schuß von maximal 650 Millionen, ein wird“, fürchtet auch ein verantwortli- ne Berechnung der Wirtschaftlichkeit Viertel der Gesamtkosten. Bei der letz- cher Funktionär der Bahn. schuldig – offenbar aus gutem Grund. ten Berlin-Bonner Finanzrunde am 29. Schlammblasen könnten die riesigen Die bisherigen Gutachten, so fand April wies Theo Waigels Staatssekretär Wannen gegen Grundwassereinbrüche der grüne Berliner Abgeordnete Mi- Manfred Overhaus weitere Forderun- anfällig machen. Tausende von Zug- chael Cramer heraus, „prognostizierten gen zurück. „Der Bund legt fest, was er pfählen müssen sie im Boden festhalten, offensichtlich ein großes Mißverhältnis will“, giftete er Volker Kähne, den Chef andernfalls würden sie wie Tanker auf zwischen Kosten und Nutzen“. Für das der Senatskanzlei, an. Berlin könne An- dem Grundwasser hochgetrieben. Gesamtkonzept der Berliner Fernbahn- Die Tunnelpläne stehen auch finan- anbindung sei die geforderte Rentabili- ziell auf schwankendem Grund. tät nicht zu beweisen, räumt auch ein Auf einer künstlichen Insgesamt zehn Milliarden Mark aus Mitarbeiter des Bahn-Vorstands ein. Seenplatte schwimmen Bundesmitteln sichert der Bundesver- Darum dringe man in Bonn darauf, kehrswegeplan der Deutschen Bahn für diese Bedingung fallenzulassen. die Bagger ihr Berliner Fernverkehrsnetz. Dies Massive Zweifel am Bahntunnel hat auch der SPD-Obmann für die Berlin- regungen geben, „Verhandlungen gibt Bauten, der Bundestagsabgeordnete es nicht“. Peter Conradi. Er favorisiert das Kon- Dennoch hält die Berliner Große Ko- zept, den alten Berliner Eisenbahnring alition stur an den Tunnelplänen fest, für den Fernverkehr auszubauen. Diese koste es, was es wolle, Geld oder Zeit. Alternative ist nicht billiger, wäre aber Dabei kommt jede Verzögerung und je- abschnittweise in Betrieb zu nehmen de Pleite den Umzugsgegnern der Bonn- und den finanziellen Möglichkeiten an- Lobby nur gelegen: Schon mahnte der zupassen. Conradi: „Nach der Wahl Umzugs-Arbeitsstab von Innenminister muß das noch mal geprüft werden.“ Manfred Kanther, die Zeitplanung ent- Die Bahner hingegen bestehen auf halte „keine Reserven“. Verzögerun- ihrer Maximalvariante. Diese sei nur gen, „die bei einem Projekt dieser Kom- „jetzt oder nie mehr“ zu verwirklichen, plexität nicht ausgeschlossen werden rechtfertigt der Berliner Bahn-Chef können“, seien nicht aufzufangen. Werner Remmert das Vabanquespiel. So riskiert der schwarz-rote Senat ei- Die Desperado-Parole „Jetzt oder nen jahrelangen Aufschub und halst den nie“ gilt auch beim Bau des Straßen- nachfolgenden Landesregierungen eine tunnels und der U-Bahn-Strecke vom unbezahlbare Hypothek auf. Bereits Zentralbahnhof nach Osten bis zum jetzt fehlt das Geld für die Sanierung der Grünen-Abgeordneter Cramer Alexanderplatz. Schon im Laufe der maroden Ost-Berliner Schulen, müssen „Mißverhältnis zwischen Kosten und Nutzen“ Planung stiegen die veranschlagten Ko- Sozial- und Kulturprojekte geschlossen

DER SPIEGEL 30/1994 55 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

werden. Drastische Kürzungen in allen Etats stehen an, von 1996 an geht jede dritte Steuermark für den Schuldendienst drauf. Die bitteren Sparmaß- nahmen wird die Berli- ner Bevölkerung ohne- hin gegen ihre Regie- rung aufbringen. Zugleich muten SPD und CDU ihren Wäh- lern ein Ärgernis zu, dessen symbolische Be- deutung sie offenbar noch gar nicht begriffen haben: Die milliarden- schwere Tunnelei wird Teile des schönsten Stadtparks der Nation, den Tiergarten, auf un- bestimmte Zeit schädi- gen. 2500 große Bäume

müssen gleich zu Beginn ARCHITEKTURBÜRO GERKAN fallen. Dem Rest des Neuer Berliner Zentralbahnhof (Entwurf): Technische Pioniertat ohne Vorbild Parks, den die Berliner lieben wie die New Yorker ihren Cen- Neubau von Schnell- und Hauptver- spektive“, so Professor Eckhard Kutter, tral Park, droht Versteppung, wenn die kehrsstraßen in Berlins neuem Flächen- Chef der Verkehrsabteilung des Deut- Riesenbaugruben doch mehr Grund- nutzungsplan durch. schen Instituts für Wirtschaftsforschung. wasser abziehen als geplant – eine Visi- Unter anderem wollen Haase und Allenfalls mit 20spurigen Magistralen on, die selbst den Auto-verrückten New Wissmann für 2,5 Milliarden Mark in quer durch die City sei der Stau aufzulö- Yorkern als boshafte Stadtplaner-Persi- Fortsetzung des West-Berliner Rings sen, spottet Kutter. Die einzig vernünf- flage vorkäme. zehn Kilometer Autobahn durch Ost- tige Strategie, Millionenstädte funkti- „Berlin spielt Babylon, das muß Berliner Stadtteile schlagen sowie eine onsfähig zu halten, bestehe darin, Alter- schiefgehen“, warnt daher der Abgeord- Autobahnstichstrecke durch den Süd- nativen zum Auto aufzubauen. nete Cramer, der unermüdlich gegen osten bis zum Außenring ziehen. Aber Berlins regierende Manta-Frak- den Planerwahn streitet. Kämen sie damit durch, müßte eine tion treibt nur den Straßenbau zügig Doch im Berliner Polit-Klima der bisher schon sechsspurige Brücke über voran. Gleichzeitig zwingt sie den Bahn- Großen Koalition konnte Opposition den Osthafen für eine neue phantasti- und Busbetrieb zu drastischen Preiser- bisher kaum aufkommen. Gemeinsam sche Brückenkonstruktion teilweise ab- höhungen – der beste Weg, Fahrgäste zu denunzierten die Schwarz-Roten Kritik vertreiben und das ohnehin hohe Defizit an ihren Plänen stets als Stimmungsma- zu vergrößern. che gegen den Hauptstadtumzug. So be- „Dauerstau Vergebens warnen Experten, die von hauptet der Berliner SPD-Chef Ditmar über weite der Verkehrsbehörde eigens als Berater Staffelt schlicht, „wer die Hauptstadt engagiert wurden. „Leistungsfähig und will“, müsse „ja sagen zum Tunnel“. Tageszeiträume“ attraktiv“ könne der öffentliche Nahver- Daß es soweit gekommen ist, verdan- kehr nur gestaltet werden, wenn „vor- ken die Republik und die Stadt vor al- gerissen werden. Ein zweistöckiger Tun- handene S- und U-Bahn-Linien“ moder- lem zwei Männern: Bundesverkehrsmi- nel soll dann Wohngebiete unterqueren nisiert werden, stellte die von den Se- nister Matthias Wissmann und Berlins und die Autoströme schließlich in die natsbehörden häufig herangezogene Verkehrssenator Herwig Haase, beide östlichen Stadtteile Lichtenberg und Gesellschaft für Informatik, Verkehrs- CDU. Gemeinsam exekutieren sie in Friedrichshain entlassen. und Umweltplanung (IVU) fest. Ein Berlin eine Autopolitik, die in allen Me- Das Planungsprinzip ist ebenso sim- „umfangreicher Neubau von Strecken tropolen der Welt längst gescheitert ist – pel wie unsinnig: Wegen der steigenden im U- und S-Bahn-Netz ist nicht erfor- den Versuch, Verkehrsengpässe durch Zahl von Autobesitzern, so prognosti- derlich“, wohl aber „insbesondere der Straßenbau zu beseitigen. ziert der „Verkehrsentwicklungsplan“, Ausbau des Tram-Systems“. So nimmt Haase mit dem Straßentun- werde sich die Zahl der Kfz-Fahrten im Doch Verkehrssenator Haase und sei- nel unter dem Tiergarten nur die Auto- Raum Berlin bis zum Jahr 2010 verdop- ne Behörde lassen die Ost-Berliner träume von Hitlers Generalbauinspek- peln. Tram verfallen. Vorrangschaltungen an tor Albert Speer wieder auf – ein Nut- Die Verkehrsplanung vorrangig an Ampeln, in anderen Städten gang und zen ist nicht nachweisbar. Einziger Er- der Motorisierung auszurichten, „das ist gäbe, wurden abgeschafft oder in unbe- folg der Wühlarbeit: Für womöglich ei- die Politik der sechziger Jahre“, die nur stimmte Zukunft verschoben. Keine ne Milliarde Mark wird der bisher ober- den wachsenden Autoverkehr bediente, Straßenbahnlinie wurde bisher zu Kno- irdische Stau unter die Erde verlegt und klagt Dieter Apel, Verkehrsexperte des tenpunkten im Westen verlängert. der Bundestag vom Lärm verschont. Deutschen Instituts für Urbanistik. Wie Im Jahr fünf nach dem Mauerfall sind Daneben setzte die Berliner CDU Apel empört sich seit langem die Zunft noch immer museumsreife Wagen (Wahlkampfparole ’90: „Wir lösen den der Stadtplaner und -ökonomen über aus der Zeit des Ersten Weltkriegs in Stau auf“) gleich 90 Kilometer Aus- und die Berliner „Windschutzscheibenper- Betrieb.

58 DER SPIEGEL 30/1994 .

DEUTSCHLAND

Erst recht müßte die S-Bahn, bis zum währenden Berlin-Debatte. Eichstädt: Mauerbau Berlins leistungsfähigstes „Das wird ein zugiger Unort.“ SPD Verkehrsmittel, dringend saniert und Das gleiche droht mit der Landung wieder vollständig in Betrieb genom- des Raumschiffs Bonn im historischen men werden. „Anders wird der wirt- Zentrum zwischen Reichstag und Alex- schaftlich notwendige Verkehr nicht zu anderplatz. Für Urbanität, in der Für’n Fünfer bewältigen sein“, versichert ein Senats- Bonner Bannmeile ohnehin unbekannt, gutachter. wird kein Platz bleiben. Der Bahn AG, selbst gefangen in ih- Die Operation laufe nach dem Muster altes Fett rem megalomanen Fernverkehrspro- „Da war der König, da wollen wir auch jekt, ist jedoch das Geld ausgegangen. hin“, lästert Hoffmann-Axthelm. Der Leipzigs Sozialdemokraten droht Auf den meisten S-Bahn-Baustellen Staat besetze „wie die Investoren und die Spaltung: Westler- herrscht Baustopp. Zwar versprach Mi- die DDR-Führung“ riesige Flächen und nister Wissmann dem Regierenden Bür- balle die Ministerien zu einer Bürostadt Arroganz vergrault die Ostler. germeister Eberhard Diepgen noch im in der Stadt zusammen. „Warum kein letzten November, „für die S-Bahn- Ministerium nach Lichtenberg oder hre Meinung behält Margot Hünsch, Grundsanierung Bundesmittel in Höhe Friedrichshain? Diese Bezirke könnten 62, selten bei sich. Im Leipziger von 8,9 Milliarden DM“ bereitzustellen, das viel besser gebrauchen“, so der IWaldstraßenviertel kennt die frühere wie ein interner Vermerk festhielt. Querdenker. „Die ganze Hauptstadtpla- Fleischverkäuferin jeden und sagt auch, Aber Wissmanns Versprechen, offen- nung muß noch mal überdacht werden.“ was sie von ihm hält. sichtlich nicht bei Finanzminister Wai- Eine letzte Chance rechnen sich Bei den Ortsvereinssitzungen im gel abgesichert, erwies sich als wertlos. Hauptstadt-Kritiker aus: daß sich das „Cafe´ Senior“ aber mag die Vorsitzende Als Senatskanzleichef Kähne die Milli- ganze Protz-Projekt rechtzeitig als unbe- der Leipziger SPD-Senioren nicht mehr arden kürzlich anmahnte, bedeutete zahlbar erweist. so recht reden. „Ich will mich nicht dau- ihm Waigels Finanz-Staatssekretär Overhaus, er könne sich an solche Zu- sagen „nicht erinnern“. Das Ergebnis solcher Ignoranz ist ab- zusehen: Berlins Nahverkehrssystem wird den wachsenden Bedarf nicht dek- ken können. Den Bewohnern der In- nenstadt droht somit eine Autohölle aus Lärm und Abgas. „Dauerstau über wei- te Tageszeiträume“ in den meisten Hauptstraßen prognostizieren die Gut- achter der IVU für den gesamten Bezirk Tiergarten. Die Giftkonzentration in der Luft, schon heute über einem Vier- tel des Straßennetzes höher als medizi- nisch vertretbar, werde weiter steigen. Dieter Frick, Professor für Stadtpla- nung an Berlins Technischer Universi- tät, warnt daher, jetzt gerate auch Ber- lin in die klassische Falle: Autoverkehr vertreibt die Innenstadtbevölkerung, Stadtflucht ins Umland erzeugt noch mehr Verkehr. Dabei besitzt Deutschlands größte Stadt bislang noch eine einzigartige Qualität: Fast im gesamten Innenstadt-

bereich liegen Arbeitsplätze, Wohnun- T. HÄRTRICH / TRANSIT gen und Läden dicht beieinander. Die Ost-Genossen Hünsch, Philipp: Der Feind kommt aus dem Westen Berliner versorgen sich nicht in einem, sondern in etwa zehn eigenständigen Der notwendige Kassensturz nach der ernd von einem Rechtsanwalt aus dem Citybereichen, die das vielgeschätzte Bundestagswahl gibt Deutschlands Westen darüber belehren lassen“, „Leben im Kiez“ möglich machen. „Baustelle der Wiedervereinigung“ (Die schimpft Hünsch, „was politisch richtig Sogar direkt um den Kurfürsten- Zeit) vielleicht noch eine zweite Chance. ist und was nicht.“ damm und den Alexanderplatz leben Tunnel und Beamtenstadt, Autobahn- Auch Joachim Philipp, 73, ärgert sich Zehntausende. „Dieses städtische Mi- schluchten und Megabahnhof, all das ist über die „arrogante Art“ vieler West- lieu ist unser wichtigstes Entwicklungs- zwar beschlossen, aber noch nicht ge- Genossen, die mit ihrer rhetorischen kapital“, konstatiert Metropolenkenner baut. „Der Rückweg in die Normalität Überlegenheit „oft zwei Drittel der Re- Frick. ist noch nicht versperrt“, glaubt Stadt- dezeit für sich“ beanspruchten. Doch dieser Binsenweisheit verwei- planer Eichstädt. Nirgendwo in der ehemaligen DDR gern sich die Macher des neuen Berlin, Nichts anderes empfahl der Mahner hat die allerorten schwachbrüstige SPD in Bonn, im Senat – und in den Kon- Bruno Taut den Stadtoberen in den (Mitgliederzahl im Osten: rund 25 000) zernzentralen. Die Betonlandschaft am zwanziger Jahren. Wechselhaftigkeit so viel West-Zulauf wie in der sächsi- Potsdamer Platz etwa wird das Gegen- und Mischung seien die Berliner Stär- schen Metropole. In Leipzig regiert teil von Urbanität erzeugen, meint der ken. Darum, so sein Fazit, „möge man schon seit Juni 1990 ein Sozialdemokrat. Stadtplaner Wulf Eichstädt, engagierter die Tendenz zum Großartigen endgültig Der Erfolg des Oberbürgermeisters Teilnehmer der jetzt schon vier Jahre aufgeben“. Y Hinrich Lehmann-Grube zog westdeut-

DER SPIEGEL 30/1994 59 .

DEUTSCHLAND

sche Parteimitglieder nach, die Karriere machen wollen. Atomschmuggel Nun aber vergraulen sie die alteinge- sessenen SPD-Gründer. Der Streit zwi- schen alten und neuen Genossen ist ex- emplarisch für zunehmende Ressenti- „Der Stoff trägt ments im Osten. Selbstbewußter for- dern ehemalige DDR-Bürger ihre Rechte, die Fronten sind klar: Der ar- rogante Feind kommt aus dem Westen. eine Tarnkappe“ Die Leipziger Import-Genossen – Verwaltungsfachleute, Rechtsanwälte Nuklearexperten Seitz und Wilson über den Plutoniumfund in Südbaden und Steuerberater – treffen sich gern in der Westler-Enklave „Mövenpick“. Po- litik machen sie mit Vorliebe im Orts- verein Mitte, wo mittlerweile ein Drit- tel der Aktiven aus dem Westen stammt. Nach Sitzungen im proletari- schen „Cafe´ Senior“ ziehen sie in stan- desgemäßere Restaurants. Dort wieder- um sitzen Alt-Leipziger wie Margot Hünsch „nur dabei wie für’n Fünfer al- tes Fett“. Den schlauen Westlern trauen die Ostler alles zu, auch Intrigen. So be- kam eine ostdeutsche Delegierte die falsche Uhrzeit für eine Konferenz ge- nannt, bei der die Stadtratskandidaten Vor lauter Ärger vom vertraulichen „Du“

zum bürgerlichen „Sie“ LERMER

aufgestellt wurden. Als sie mit halbstün- FOTOS: P. diger Verspätung eintraf, hatte ein west- Russell Seitz Richard Wilson deutscher Genosse als Nachrücker ihren Platz besetzt. Waffenplutonium Wenn Ost und West aber doch mit- einander reden, gibt es schnell Streit. In war es, was deutsche Beamte, zunächst nichtsahnend, Mitte Mai in der Garage Altbundeskanzler Helmut Schmidt etwa des Kaufmannes Adolf Jäkle im südbadischen Tengen-Wiechs fanden. Ein Zei- sehen Neu-Genossen wie der Landtags- chen höchster Gefahr, meint Richard Wilson, 68. Der amerikanische Atomphysi- abgeordnete Gunther Hatzsch, 53, ker und ehemalige Leiter der physikalischen Fakultät der Harvard University hat „eine Lichtgestalt“; die meisten Westler viele Nuklearanlagen der ehemaligen Sowjetunion inspiziert, auch militärische. hingegen lehnen den Nachrüstungs-Be- Russell Seitz, 46, ebenfalls anerkannter Nuklearexperte, beriet jahrelang die For- fürworter ab. scher der US-Atomwaffen-Fabrik von Los Alamos. Er arbeitet heute als Wissen- Als der zugewanderte Pfarrer der be- schaftler in Cambridge, Massachusetts. rühmten Thomas-Kirche, Christian Wolff, gegen den Wiederaufbau der 1968 gesprengten Universitätskirche SPIEGEL: Deutsche Atomforscher und Art Warenprobe herankommt, könnte wetterte, fielen Eingeborene wie Mar- Politiker sind nach dem Plutoniumfund sich womöglich auch den Rest verschaf- got Hünsch „vor lauter Ärger“ vom ver- von Tengen-Wiechs alarmiert. Teilen fen. traulichen „Du“ ins bürgerliche „Sie“ – Sie die Befürchtungen? SPIEGEL: Das gefundene Plutonium hat- Höchststrafe unter Genossen. Wilson: Aber ja. Wir sind hier in Ameri- te einen Reinheitsgrad von 99,7 Pro- Immerhin ist der Ortsvereinschef ka sehr besorgt, daß eine solche Menge zent. Haben Sie je von vergleichbar noch ein Ostdeutscher. Michael Müller, waffentauglichen Materials gefunden hochreinem Material gehört? 46, hat zwar gemerkt, daß die Zugerei- wurde. Wilson: Außerhalb militärischer An- sten „manchmal Unbehagen auslösen“. Seitz: Das hätte nie passieren dürfen. Es wendung gibt es solche Konzentrationen Doch schließlich gebe es „Dauerredner handelt sich hier um Plutonium, wie es von Plutonium 239 überhaupt nicht. gleichermaßen in Ost wie West“. ausschließlich für Atombomben ver- SPIEGEL: Der deutsche Kanzleramtsmi- Joachim Philipp hingegen will nach wendet wird. nister Bernd Schmidbauer hat gesagt, den Ferien recherchieren, warum sich so SPIEGEL: Ist denn eine so geringe Men- der Fund sei zwar bedrohlich, aber die viele Ost-Genossen bei der Partei nicht ge wie die gefundenen sechs Gramm Konstruktionspläne für die Bombe seien mehr blicken lassen. Sollte sich seine Plutonium wirklich bedrohlich? glücklicherweise geheim. Ahnung bestätigen, daß die Importe Seitz: Von dieser Art Plutonium wird in Seitz: Unsinn, eine Menge dieser Pläne schuld sind, erwägt Philipp die Spal- Atomfabriken jeweils wenigstens soviel sind veröffentlicht worden, die kann je- tung: „Vielleicht müssen wir den Orts- produziert, wie zum Bau einer Bombe der in Fachzeitschriften nachschlagen. verein teilen“, sagt er – in OV Mitte-Ost nötig ist. Wir reden also mindestens von Einige dieser Methoden würden sogar und OV Mitte-West. Y mehreren Kilogramm. Und wer an eine funktionieren. Mir ist egal, ob jemand

60 DER SPIEGEL 30/1994 .

tausend Konstruktionspläne sische Seite hilft bei der Auf- für die Bombe hat, Hauptsa- klärung, so ließe sich zwei- che, er hat kein Gramm Plu- felsfrei herausfinden, aus tonium. welcher Quelle der Stoff Wilson: Keiner hat sich je stammt. die Mühe gemacht, die Blau- SPIEGEL: Wie erklären Sie pausen geheimzuhalten, sich, daß so gefährliches Ma- weil es undenkbar schien, terial überhaupt aus einer daß Waffenplutonium wie militärischen Atomanlage auf dem Basar gehandelt verschwinden konnte? wird. Das Zeug ist extrem Wilson: Schon vor zwei Jah- schwierig herzustellen. Nach ren schickte mir der Direk- dem Ende des Golfkriegs tor einer russischen Bom- haben wir im Irak ganze benfabrik seinen Enkel mit zehn Gramm gefunden. Sad- einer Botschaft. Die Kon- dam Hussein hatte also gera- trolle über das nukleare In- de mal vier Gramm mehr, ventar sei in Rußland verlo-

als der badische Geschäfts- P. KOHLER / SYGMA rengegangen. Seitdem habe mann in seiner Garage hor- Russische Atomfabrik Tscheljabinsk-40: Kontrolle verloren ich mit dem Schlimmsten ge- tete. rechnet. SPIEGEL: Adolf Jäkle scheint Kontakte in Seitz: Spezialisten könnten mit solchem SPIEGEL: In einem Gutachten des Euro- den Nahen Osten gehabt zu haben. Wä- Material sehr kleine Sprengköpfe bau- päischen Instituts für Transurane heißt ren Terroristen oder die Machthaber dor- en. Wem die technische Erfahrung es, das Plutonium sei mit Red Mercury tigerStaateninder Lage,mitden bekann- fehlt, dem hilft aber auch die Qualität vermischt worden. Gibt es diesen ge- ten Plänen und Plutonium wie dem von des Spaltstoffs bei der Miniaturisierung heimnisumwitterten Stoff wirklich? Tengen-Wiechs eine Atombombe zu nicht weiter. Seitz: Die seltsame Karriere dieses an- bauen? SPIEGEL: Deutsche Experten sind sich geblichen Wunderstoffes begann vor Seitz: Mit spaltbarem Material dieser sicher, daß das Material aus russischen drei Jahrzehnten. Heute beschäftigt das Qualität könnten eine ganze Menge von Atomfabriken wie etwa Tschelja- Zeug vor allem Gauner, Schwindler und Leuten Waffen bauen. binsk-40 kommt. In Moskau wird das Spinner. Wilson: Wenn es tatsächlich einige Kilo- noch bezweifelt. Kann man die Her- SPIEGEL: Auf dem Schwarzmarkt wer- gramm von der bei Ihnen in Deutschland kunft feststellen? den 200 000 bis 400 000 Dollar pro Kilo- gefundenen Qualität auf dem Markt gibt, Wilson: Auf der ganzen Welt gibt es nur gramm gefordert. Jagen da Spekulanten ist das möglich. Mit Plutonium dieser etwa acht Produktionsstätten für Pluto- einem Phantom hinterher? Reinheit wäre es für Terroristen viel ein- nium dieser Reinheit. Jede dieser Seitz: Wir wissen, daß Moskau und Pe- facher, ein schreckliches Verbrechen an- Atomfabriken hat ihre besonderen Pro- king einst ein gemeinsames Projekt zur zurichten, als etwa mit gewöhnlichem duktionseigenheiten. Das ist fast wie ein Herstellung von Lithium betrieben ha- Reaktorplutonium. Fingerabdruck. Vorausgesetzt, die rus- ben. Der Stoff ist als Fusionsmaterial für SPIEGEL: Könnten Techniker mit dem hochreinen Plutonium eine simple Waffe Implosions-Konzept nach dem sogenannten Gun-Design bau- Geschoß im Rohr Implosions-Konzept en (siehe Grafik), oder müßten siesich an Für den Bau von Atombomben gibt es zwei das kompliziertere Implosions-Konzept Grundlösungen: das „Implosions“- und das Spaltstoff Hohlkugel halten? „Gun“ („Kanonenrohr“)-Design. Sprengstofflinse Wilson: Plutonium ist ein zu heikler Stoff Beim Implosions-Design wird der Kernspreng- (konventioneller Zündelektronik für das Gun-Design. Wie bei einem Mo- stoff aus hochangereichertem Uran oder Pluto- Sprengstoff) tor mitFehlzündungen, sokönnte esauch nium zu einer Hohlkugel geformt. Erst durch die dabei zu ungewollten Reaktionen im Zündung von konventionellem Sprengstoff wird Spaltstoff Plutonium kommen. Das Zeug der Spaltstoff so zusammengepreßt, daß es zu könnte explodieren, noch ehe die Bombe einer Kettenreaktion und damit zur atomaren Ex- richtig zusammengebaut ist. plosion kommt. SPIEGEL: Welche Geräte bräuchten Ter- Beim Gun-Design wird ein Uran-Geschoß in einem roristen zum Bombenbau? Rohr auf ein Uran-Ziel abgeschossen: Im Moment Seitz: Das meiste von den Werkzeugen, des Zusammenpralls kommt es zur Kettenreaktion, Meßinstrumenten und Materialien, die die Atombombe explodiert. Gemessen an den hohen äußere man zum Bau einer einfachen Bombe technischen Anforderungen des Implosions-Designs Verdämmung Zünder braucht, findet man an jeder großen Uni- gilt das Kanonenrohr-Konzept als simple Bomben- versität und in Hunderten von Unterneh- Technik. Ohne vorherigen Test zündeten die Amerikaner men. Kein Problem, da dranzukommen. 1945 in Hiroschima eine Uran-Bombe nach dem Gun-Prinzip. SPIEGEL: Wie groß wäre eine primitive Kanonenrohr-KonzeptKanonenrohr-Konzept Bombe, und was würde sie bei der Explo- Kanonenrohr sion anrichten? Seitz: Sie würden sie schon mit einem Lastwagen transportieren müssen. Die Sprengkraft könnte etwa jener der Hiro- schima-Bombe entsprechen. SPIEGEL: Geht es mit einem Stoff so ho- Treibladung Uran-Geschoß her Qualität, wie sie das Plutonium von Uran-Ziel Tengen-Wiechs aufweist, nicht auch klei- ner?

DER SPIEGEL 30/1994 61 .

DEUTSCHLAND

die Wasserstoffbombe unverzichtbar. Das russische Verfahren nutzte Queck- silber, also auf englisch mercury, um Li- thium herzustellen. Beim Produktions- Maßstäbe gesetzt prozeß wurde das Lithium jeweils ver- unreinigt und nahm dabei einen rosa- Wie die deutsche Justiz mit internationalen Atomhändlern verfährt rötlichen Ton an. Der Code-Name die- ser geheimen Produktionsmethode für arian Sokolovic´, 42, war ein Angeklagten kassierten hohe Be- Lithium lautete damals „Red Mercury“. Schieber von Welt. Die währungsstrafen. Es wäre möglich, daß heute unter die- MGeschäftsverbindungen des Bemerkenswert war die Urteilsbe- sem Begriff in Rußland besonders reines Stuttgarter Computer-Beraters um- gründung des Vorsitzenden Richters Plutonium hergestellt wird, etwa sol- spannten den Globus. Vorwiegend Günter Müller: Natürlich seien die ches, wie es in Deutschland gefunden verkehrte er in Häusern, die Mari- Metallteile, so der Vizepräsident wurde. tim, Intercontinental oder Imperial des Amberger Landgerichts, keine SPIEGEL: Die sechs Gramm Plutonium heißen und innen auch so aussehen. Kriegswaffen gewesen. Klar auch, von Tengen-Wiechs waren mit 38 Zwischen Champagner und Des- daß es sich nur um einen Schwindel Gramm Quecksilber vermischt. Gibt es sert wickelte der gebürtige Kroate gehandelt habe. Es gehöre jedoch ei- dafür einen Grund? heiße Geschäfte ab – wenn es sein ne „besondere Gewissenlosigkeit“ Seitz: Das Quecksilber ist so etwas wie mußte, in vier Sprachen. Seine Aus- dazu, argumentierte Müller, „in Zei- eine Verpackung für den Bombenstoff. flüge interessierten Geheimdienste ten der Auflösung politischer Ord- Es saugt, wie auch das beigemischte An- mehrerer Staaten: Wann immer sich nungen“ Plutonium anzubieten. timon, die abgestrahlten Neutronen des Sokolovic´ erhob, standen meist auch Das bayerische Urteil setzt Maß- Plutoniums wie ein Schwamm auf. Da- andere Männer diskret auf. Er woll- stäbe. Zwischen Flensburg und mit verringert sich die Radioaktivität an te, gemeinsam mit Kumpanen, den Augsburg gab es in den letzten Jah- der Oberfläche, sie ist daher mit Strah- ganz großen Coup drehen. ren ein knappes Dutzend Prozesse lenmeßgeräten schwieriger zu entdek- Auf der Autobahn- gegen Atomdealer. ken. Für Atomschmuggler macht das raststätte Langwieder Fast alle hatten nur Sinn, der Stoff trägt eine Art Tarnkap- See bei München Scheingeschäfte ver- pe. hoffte die Truppe, sucht. SPIEGEL: Halten Sie es denn für wahr- 2,642 Kilogramm an- Die Richter stießen scheinlich, daß es noch mehr Plutonium geblich zu 98 Prozent bei Verhandlungen auf dem Schwarzmarkt gibt? reines Plutonium an auf allerlei Gesetzes- Wilson: Die Frage ist doch, wie konnte den Mann bringen zu lücken. Für die illega- dieses Material aus dem Allerheiligsten, können – Stoff für die le Vermittlung von In- den Top-secret-Bereichen der russi- Bombe. Der Ver- landsgeschäften mit schen Waffenfabriken, herauskommen. kaufspreis war recht Kernbrennstoffen, er- Wo ein bißchen verschwindet, kann kommod: 18 069 310 kannte etwa Richterin auch ein bißchen mehr verschwinden.

Mark. M. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Frauke Bauer beim Und wo ein bißchen mehr verschwindet, Doch dann klickten Atomschieber Sokolovic´ Münchner Schöffen- kann auch viel verschwinden. die Handschellen, So- Ganz großer Coup gericht im Juli vorigen Seitz: Für mich ist das ein Zeichen: Das kolovic´ und zehn sei- Jahres, ist im Strafge- Kontrollsystem in Rußland ist zusam- ner Bekannten wurden von bayeri- setzbuch kein Paragraph vorgese- mengebrochen. Die haben ihr Nuklear- schen Kriminalbeamten festgenom- hen. Deshalb blieb sie weit unter material nicht mehr im Griff. men, ein Amerikaner entkam. Er dem Antrag der Staatsanwaltschaft Wilson: Wir müssen genau feststellen, wurde Anfang Juli bei Lindau ver- und sprach gegen zwei Angeklagte aus welcher Waffenfabrik das Plutoni- haftet. Der Aufkäufer namens milde Bewährungsstrafen aus. um stammt, und sicherstellen, daß sich „Keller“ hatte falsch gespielt – er In Bochum wurden nach monate- so etwas nie wiederholen kann. kam von der Polizei. langer Verhandlung im Sommer ver- SPIEGEL: Was wird die amerikanische Der Stoff taugte für die Bombe gangenen Jahres zwei polnische Nu- Regierung nach dem Fund nun tun? ohnehin nicht. In Aluminiumfolie klearschieber sogar freigesprochen. Wilson: Wir werden alle unsere Infor- waren 384 Metallkörper eingewik- Bei ihnen waren zwar geringe Men- mationen über russisches Plutonium kelt. Sie ließen zwar die Geiger- gen radioaktives Cäsium 137 und durchgehen. Wir wissen eine Menge zähler rattern, enthielten aber nur Strontium 90 gefunden worden. darüber, vielleicht mehr als die Russen je einige hundert Mikrogramm Die Richter waren ziemlich ratlos. selbst. Außerdem werden wir Moskau eines Isotopengemischs von Pluto- Es gebe keine einschlägige Strafvor- drängen, bei der Aufklärung zu helfen. nium. schrift, so die 2. Strafkammer des Die ganze Welt hat ein Recht zu erfah- Der Fund war allenfalls ein paar Landgerichts, die das Einschmug- ren, woher das Material stammt und wie hundert Mark wert. Dennoch verur- geln von Strahlenmaterial und den es nach Deutschland kam. teilte die 1. Strafkammer des Land- Schwarzhandel unter Strafe stelle. Seitz: Im amerikanischen Atomwaffen- gerichts Amberg den Drahtzieher Die Angeklagten, die einem V- labor von Los Alamos arbeitet eine Sokolovic´ zu zweieinhalb Jahren Mann des Landeskriminalamtes Ba- Gruppe von Experten, die sogenannte Haft wegen Verstoßes gegen das den-Württemberg Stoff für eine C-Gruppe. Sie hat alle Möglichkeiten, Kriegswaffenkontrollgesetz und we- Atombombe versprochen hatten, er- Spaltstoff bis zur Herkunftsquelle zu- gen unerlaubten Umgangs mit Kern- hielten für die monatelange Unter- rückzuverfolgen. Die Arbeit der Grup- brennstoffen. Ein Komplize wurde suchungshaft sogar eine Entschädi- pe ist geheim, aber ich bin sicher, sie ist zu zwei Jahren und neun Monaten gung – Beträge von 1440 und 4300 bereits mit dem Fall beschäftigt. Dann Haft verurteilt. Die meisten übrigen Mark. wird Washington wahrscheinlich ein ernstes Wörtchen mit den Russen reden müssen. Y

62 DER SPIEGEL 30/1994 .

WIRTSCHAFT TRENDS

Gerichtsvollzieher Ärzte und Krankenhäuser direkt Staat soll beliefern. Bislang wurde kein Fall bekannt, daß wegen überal- Gebühren erhöhen terter Ware oder fehlerhafter Die deutschen Gerichtsvoll- Lagerung Komplikationen auf- zieher stecken, so scheint es, traten. Trotzdem forderte Bay- selbst in Geldnöten. Am ern, die sensible Ware müsse Freitag vergangener Woche durch die Kontrolle studierter stellte sich in München eine Apotheker gehen, um die Interessengemeinschaft von „Arzneimittelsicherheit“ zu ver- 40 Geldeintreibern vor, die bessern. Fachleute staunten über vom bayerischen Justizmini- diese Begründung, weil sich das sterium eine höhere Vergü- Risiko vergrößert, wenn der tung fordert. Die Gerichts- Weg vom Hersteller zum Emp-

vollzieher nehmen eine Zwit- TH. RAUPACH / ARGUS fänger länger wird. Weder die terstellung zwischen Staats- Impfung Zulassungsbedingungen noch die dienern und Selbständigen Kontrollen werden verschärft. ein: Sie erhalten neben ihrem Apotheker Allein die Preise der Impfstoffe ändern Beamtengehalt von derzeit sich. Sie werden bis zu 30 Prozent teurer, rund 50 000 Mark im Jahr ei- rechnen die Krankenkassen. Die Versi- ne Vollstreckungsvergütung Üppiges Wahlgeschenk cherten, so die Kassen-Kalkulation, müs- Der bayerische Ministerpräsident Edmund sen „mindestens 50 Millionen Mark“ Stoiber hat den Apothekern ein 250-Mil- draufzahlen. Bundestag und Bundesrat lionen-Mark-Geschäft zugeschanzt. Bei stimmten der Änderung des Arzneimittel- Impfstoffen (Jahresumsatz: etwa 500 Mil- gesetzes zu. Nicht einmal Gesundheitsmi- lionen Mark zu Fabrikabgabepreisen) lief nister Horst Seehofer (CSU), offiziell der Handel bisher nur zur Hälfte über stets auf Sparkurs, durfte gegen das Mil- Apotheken. Weil die Haltbarkeit der Se- lionengeschenk an diese Zielgruppe mit- ren begrenzt ist, durften Impfstoffhändler ten im Wahlkampf aufmucken.

Lo´pez Unterlagen der GM-Tochter für Zeitler-Flüge Weißbier Opel mitgenommen hatte, besorgen. Für die Strecke

A. GELPKE Bonner wollten sich die US-Polizi- Köln/Bonn – München etwa, Siegel eines Gerichtsvollziehers sten Akten-Einsicht bei der so die interne LSG-Anwei- verprellen FBI Staatsanwaltschaft Darm- sung, seien für den einstündi- von knapp 5000 Mark und Mit wachsendem Unmut stadt verschaffen, die eben- anteilige Gebühren zwischen wartet das amerikanische falls gegen den spanischen 30 000 und 40 000 Mark. Von FBI auf eine Reaktion Spitzenmanager wegen des diesen Gebühren, die seit aus Bonn. Vor sechs Wo- Verdachts der Industriespio- 1975 nicht angehoben wur- chen hatte die amerikani- nage ermittelt. Auf die Ak- den, müssen sie ihre Kosten – sche Bundespolizei das Bon- ten aus Darmstadt warten Büro, Fahrten, Telefon und ner Justizministerium um die US-Fahnder immer ähnliche Ausgaben – bestrei- Rechtshilfe im Fall Lo´pez noch: In Bonn blieb das ten. Mit einer Klage wollen gebeten. Da sich für das FBI Rechtshilfe-Ersuchen bislang die Gerichtsvollzieher nun ei- der Verdacht erhärtete, daß unbearbeitet. Ein erfahrener ne Aufbesserung ihrer Auf- Ignacio Lo´pez bei seinem Beamter, so monieren Opel- wandsentschädigung erzwin- Wechsel von General Mo- Juristen, könne ein solches gen. tors (GM) zu VW geheime Ersuchen in ein paar Stun- den prüfen.

China boomt Lufthansa Geschätztes Wirtschaftswachstum von Pazifikstaaten 1994

Sonderservice für J. H. DARCHINGER Reales Wirtschaftswachstum in Prozent In der dynamischsten Wirt- Spitzenbeamte Zeitler 0102468schaftsregion der Welt, den pazifischen Anrainerstaaten, Wenn Franz-Christoph Zeit- gen Flug „jeweils 4 Dosen China legt China das höchste ler, Staatssekretär im Bun- Weißbier und je 2 Weißbier- Wachstumstempo vor. Wäh- desfinanzministerium, eine gläser für Staatssekretär Malaysia rend in Japan die fetten Jahre Lufthansa-Maschine be- Dr. Zeitler vom Bundesmini- Thailand offenbar vorbei sind, wird steigt, haben die Angestell- sterium für Finanzen“ an Chinas Wirtschaft – so ten der Fluglinie zusätzliche Bord zu nehmen. Der Son- Südkorea eine Untersuchung des Arbeit: Der Spitzenbeamte derservice für den hohen Pazifischen Rats für wirt- trinkt gern Weißbier. Da die Herrn hat höchste Priorität, Singapur schaftliche Zusammenarbeit Fluggesellschaft die bayeri- wie die LSG mit drei Ausru- Japan (PECC) – auch künftig kräftig sche Spezialität regulär nicht fezeichen anordnet: „Bitte Quelle: PECC wachsen. führt, muß die Lufthansa achten Sie unbedingt auf kor- Service Gesellschaft (LSG) rekte Beladung!!!“

DER SPIEGEL 30/1994 63 . STRAUBE FOTOS: K. VW-Rohbaumonteur Hösing: „Zwei Stunden Schlaf mehr jeden Tag, das ist Lebensqualität“

Arbeitszeit ES KNIRSCHT UND KNARZT Vier Tage arbeiten, am fünften ruhen – die Tücken der neuen Arbeitszeit im VW-Konzern zeigen sich jetzt: In manchen Bereichen ist das Personal knapp. Die Arbeit staut sich, die Betriebsräte müssen Überstunden organisieren. Der Personalausgleich funktioniert nicht wie geplant. Die Beschäftigten klagen über das Chaos.

reitagabends, wenn die Nachbarn den Grill herausholen und die ersten Vier-Tage-Variationen Neue Arbeitszeitmodelle bei VW (Grundformen) FBiere zischen, ist es für Dirk Elmen- BRAUNSCHWEIG 6000 thaler Zeit zu gehen. Der Mann holt Fünf Tage Frühschicht, vier Tage brummelnd seine Sachen und fährt ins WOLFSBURG 50000 Spätschicht à 6,5 Stunden, plus Werk. Die Hälfte der Beschäftigten sieben zusätzliche arbeitsfreie Elmenthaler arbeitet in der Gießerei arbeitet vier Tage in der Woche Tage im Jahr. des VW-Werks in Hannover, von Mon- à 7 Stunden 12 Minuten, freie tag bis Freitag, 8 Stunden pro Schicht. Tage wechseln. HANNOVER 15000 Das sind 40 Stunden in der Woche. In sei- Weitere Beschäftigte arbeiten Vier Tage à 7 Stunden 12 Minu- nem seit Januar gültigen Tarifvertrag ste- ten, Montag bis Donnerstag. hen 28,8 Stunden als wöchentliche Ar- jeweils fünf Tage à 5 Stunden beitszeit. 46 Minuten, von Montag bis Von der berühmten Formel 20Prozent Freitag. Die Frühschicht beginnt KASSEL 17000 weniger arbeiten, 20 Prozent weniger um 7.00 Uhr statt wie bisher um 5.30 Uhr. Vier Tage à 7 Stunden 12 Minu- Lohn ist in seiner Abteilung nur die Hälf- ten, Montag bis Donnerstag, in te angekommen: Er und seine Kollegen Sowie: Drei-Schicht-Betrieb an manchen Bereichen von Dienstag verdienen weniger, arbeiten aber soviel vier oder fünf Tagen mit 8stündi- bis Freitag. Beschäftigte in wie zuvor. ger Arbeitszeit und rollierenden Drei-Schicht-Produktion arbeiten Vier-Tage-Woche? Elmenthaler ver- freien Tagen. drei Wochen fünf Tage à 5 kneift sich seine Enttäuschung kaum: SALZGITTER 8000 Stunden 46 Minuten und haben „Ich stehe auf Kriegsfuß damit.“ Vier- die vierte Woche frei. Tage-Woche, das war der Überra- Vier Tage à 7 Stunden 12 Minu- schungscoup, den der Wolfsburger VW- ten, Montag bis Donnerstag, Konzern Ende vergangenen Jahres einer wenige Bereiche mit drei Schich- EMDEN 10000 staunenden Öffentlichkeit präsentierte. ten à 8 Stunden und wechselnden Vier Tage à 7 Stunden 12 Minu- Nach dem im November vereinbarten Freischichten. ten, Montag bis Donnerstag. Tarifvertrag sollen die 106 000 Beschäf- Beschäftigte

64 DER SPIEGEL 30/1994 WIRTSCHAFT tigten in den sechs deutschen Werken war Vorstand und Arbeitnehmervertre- sätzliche Freitage nutzen, schaffen wir nur noch 28,8 Stunden in der Woche tern von Anfang an klar. „Wir sind da unser Jahressoll“, sagt Personalleiter arbeiten. Die Monatsbezüge bleiben alle volles Risiko gefahren“, sagt der Friedhelm Röhrbein. gleich, der Jahreslohn wird um mehr Geschäftsführer des Gesamtbetriebsra- Im Wolfsburger Stammwerk hätten als zehn Prozent gekürzt. Im Gegenzug tes, Hans-Jürgen Uhl. von den 50 000 Beschäftigten rund behalten 30 000 Beschäftigte, die an- Nun haben die Reformer völlig un- 20 000 entlassen werden müssen. Doch dernfalls hätten entlassen werden müs- erwartete Schwierigkeiten. Ausgerech- die generelle Absenkung der Arbeitszeit sen, ihren Job. Der Vertrag gilt bis net steigende Aufträge stören die schö- erleichtert die Lage nicht in allen Berei- zum 31. Dezember 1995. nen Pläne. In Wolfsburg gehen mehr chen: Die Lackiererei hat technische Das Lob prasselte von allen Seiten. Bestellungen ein als erwartet, das Probleme und kommt deshalb mit der Die Tarifpartner bei VW hätten neue Lkw-Werk in Hannover brummt. Vier-Tage-Woche nicht aus. In der For- Wege im Kampf gegen die Arbeitslo- „Unsere Geißel ist, daß wir mehr Ar- schung und Entwicklung riß die Arbeits- sigkeit gezeigt, freuten sich Politiker beit als für vier Tage haben“, be- zeitverkürzung gewaltige Löcher, die und Gewerkschaften. Die Manager in schreibt der hannoversche Betriebsrat anderen Konzernen, die in altbekann- Günter Lenz das neuartige Problem. ter Manier Zehntausende nach Hause In der betrieblichen Wirklichkeit schickten, standen plötzlich wie die wird die Schwäche des Modells deut- Sünder da. lich. Alle Werke und Bereiche müssen Jetzt muß sich das Arbeitszeitmodell in die gleiche Zeitschablone gepreßt im rauhen Alltag bewähren. Vier Ta- werden, obwohl die Bedürfnisse höchst ge, 28,8 Stunden in der Woche – aus ungleich sind. Der Personalaustausch den einfachen Vorgaben entwickelten zwischen den Betrieben, der Lücken Geschäftsführer, IG Metaller und Be- und Überhänge ausgleichen sollte, triebsräte 140 Varianten für den VW- funktioniert nicht. Es knirscht und Konzern (siehe Grafik). knarzt bedenklich. „Es funktioniert, aber wir haben uns Im VW-Werk Emden stehen freitags auch viel Arbeit ins Haus geholt“, sagt die Bänder still, nur Wartungstrupps VW-Personalvorstand Peter Hartz. ziehen durch die leeren Hallen. Ohne den neuen Tarifvertrag würde fast je- der zweite Arbeiter seinen Job in einer Region verlieren, die ansonsten nur noch zwei Werften und ein bißchen Metallgewerbe zu bieten hat. Montagearbeiterin Hahn Doch auch die Vier-Tage-Woche reicht nicht aus, um Entlassungen zu „Wir haben vermeiden, befürchtet die IG Metall. doch woanders keine „Wir wissen nicht, was im nächsten Jahr kommt“, sagt Uwe Schmidt von Chancen mehr“ der Verwaltungsstelle in Emden. „Die Unsicherheit belastet alle.“ Menschen ächzen unter der Arbeitsbe- Im Kasseler Werk dagegen staut sich lastung. die Arbeit. Die 1100 Leute im Zentra- Das Werk Hannover braucht zusätz- len Ersatzteillager müssen ihre Ar- lich 750 Leute, 220 sind aus Braun- beitszeit auf 35 Stunden pro Woche schweig und Salzgitter gekommen, etli- aufstocken. Die Getriebefertigung che nur für ein paar Wochen. 300 Emde- kann die Aufträge nicht schnell genug ner standen einst für Kassel auf dem Pa- erfüllen. Bei den Automatikgetrieben pier, 8 erschienen dann. Röhrbein weiß Montagewerker Blaschei fehlten 9000 Stück, sagt ein Arbeiter. nicht mehr, ob er darüber lachen oder In Emden seien bereits Autos ohne die weinen soll: „Das hat nicht ganz so „Wir arbeiten Teile aus Kassel vom Band gerollt. funktioniert, wie wir uns das vorgestellt fünf Tage, um genug Die Arbeiter müssen jetzt Sonder- haben.“ schichten schieben: freitags, samstags Die Werksleiter und Meister in den Autos zu bauen“ und sonntags – bis zu 43,2 Stunden überbesetzten Werken reißen sich nicht statt der vertraglichen 28,8 kommen da gerade darum, die Kollegen, die der „Der alltägliche Ärger, das ist kein in der Woche zusammen. Wenn die Vorstand in Wolfsburg als überzählig Spaziergang.“ Der Mann, Urheber Abteilung nicht mitmache, so wurde verbucht hat, auszuwählen und wegzu- der Vier-Tage-Woche, wirkt abge- den Arbeitern aus der Wolfsburger schicken. Das Management versagt, kla- spannt. Zentrale übermittelt, würden die Ge- gen die Betriebsräte in Hannover und Hält das Modell, was VW so spekta- triebe künftig von externen Zulieferfir- Kassel. Offenbar gelingt es dem Wolfs- kulär angekündigt hat? Unternehmer men gekauft. burger Vorstand nicht, den Ausgleich zu und Wirtschaftsverbändler, denen das Im Lkw-Werk Hannover hat kein koordinieren. Vorhaben nie geheuer war, warten ge- Arbeiter die Vier-Tage-Woche je prak- „Uns zu verprügeln heißt den Fal- spannt. Ausländische Interessenten, tiziert. Per Betriebsvereinbarung haben schen zu schlagen“, beklagt sich Be- Franzosen, Spanier, Amerikaner und Geschäftsführung und Betriebsrat den triebsrat Lenz in Hannover. Die Mann- Griechen beobachten aufmerksam, was fünften Tag gleich wieder verplant. schaft versucht, die schwierigen Vorga- sich im Wolfsburger Konzern tut. Prompt bekamen die Hannoveraner ben zu erfüllen. Lenz: „Das Kunststück Am größten aber ist der Druck, der Krach mit Hartz. Er wollte keine teu- ist, das so zu organisieren, daß die Be- von innen kommt: Wenn die Menschen ren, zuschlagspflichtigen Mehrarbeiten. schäftigten noch mitmachen.“ in den Werkshallen und Büros nicht mit- Aber die Lkw-Bauer blieben stur: Viele Arbeiter haben längst den machen, dann scheitert das Modell. Das „Nur wenn wir bis zum Jahresende zu- Durchblick verloren. Vier-Tage-Wo-

DER SPIEGEL 30/1994 65 KOMMENTAR

che? „Wir arbeiten fünf Tage, um genug Fahrzeuge zu bauen“, sagt Montagear- beiter Jürgen Blaschei. Und wenn die Blanke Theorie Bänder länger laufen, können die Büros nicht einfach zumachen. WINFRIED DIDZOLEIT Die Sekretärin des Werkstattleiters, Anja Baade, kann erst seit drei Wochen freitags zu Hause bleiben. „Ich mußte er Kanzler hat’s versprochen. Zulieferteile würden wieder am Ort kommen, da zuviel Arbeit da war“, sagt Bis zum Jahr 2005, schwor er, fabriziert, die Besuche bei entfernt sie. Jetzt muß sie in der Woche länger Dwürden die selbstmörderischen wohnenden Freunden seltener. Den dableiben, um die gleiche Arbeit an vier Attacken auf die Atmosphäre des Preis für eine bessere Umwelt müß- Tagen zu schaffen. Erdballs beendet. Der Ausstoß des ten alle zahlen, entweder als Ver- Die Arbeiter in der Gießerei in Han- Treibhausgiftes Kohlendioxid soll in zicht auf liebgewonnene Gewohn- nover fertigen Motorenteile für ganz Deutschland um 25 Prozent sinken. heiten oder über teurere Produkte. VW. An mangelnder Beschäftigung lit- Die Führer der anderen Industriena- Doch das ist blanke Theorie. Die ten sie nie. Im Gegenteil: Bevor der tionen machten 1992 auf dem Um- Akteure auf der Bonner Bühne tun neue Tarifvertrag kam, mußten die Leu- weltgipfel in Rio ebenfalls ehrgeizige so, als ob das Umweltziel noch zu er- te auch samstags ins Werk. Und dann Zusagen. reichen wäre, sie nur noch über den auf einmal nur noch vier Tage? „Das Erschöpft von dem heroischen richtigen Weg streiten müßten. Da- war für uns ein Witz“, meint Gießer El- Entschluß ließen die Oberhäupter von kann keine Rede sein. Selbst mit menthaler. der größten luftverschmutzenden rigorosen Eingriffen ließen sich in Er und seine Kollegen haben ausge- Staaten einige Jahre untätig verstrei- den nächsten elf Jahren im Verkehr rechnet, daß ihnen jetzt 23 Prozent des chen. Doch endlich, in der vergange- höchstens noch die programmierten Einkommens im Jahr fehlen. Auch den nen Woche, tat sich wenigstens in Zuwächse kleiner halten. Ein Abbau Sonderurlaub, den die Männer aus der Bonn etwas. Die Parlamentskommis- der Kohlendioxid-Last ist in diesem Gießerei alle paar Jahre nehmen konn- sion „Schutz der Erdatmosphäre“ Zeitraum unmöglich. ten, gibt es nicht mehr. Alles wurde ver- zerstritt sich – zwölf Wochen vor der Regierung und Opposition haben rechnet für das neue, bahnbrechende Wahl fast unausweichlich. Deshalb die ehrgeizigen Klima-Pläne längst Modell. „Und jetzt“, klagt Elmenthaler, legte sie gleich zwei aufgegeben. Das zeigt „funktioniert das gar nicht richtig.“ Bündel von Hand- auch ein anderes Bei- „Das muß sich zurechtrütteln“, ent- lungsempfehlungen Den Preis spiel: Kanzler Kohl gegnet Uhl auf das Gemurre seiner Kol- vor, wie das Klimagift und Kandidat Schar- legen. „So einen Einschnitt wie die zumindest im Verkehr für eine bessere ping versprachen den Vier-Tage-Woche macht man doch zu reduzieren sei. Umwelt Bergleuten feierlich, nicht, und dann ist Friede, Freude, Eier- Das war eine günsti- bis weit ins nächste kuchen überall.“ ge Gelegenheit zum müßten alle zahlen Jahrtausend hinein Die Arbeitnehmervertreter sind ner- Auftritt für den Er- sollten jährlich 35 Mil- vös. „Die Leute haben zum Teil nicht denretter Klaus Lippold, Anführer lionen Tonnen Steinkohle verstromt kapiert, wie schlimm die Lage ist“, der Koalitionsmehrheit. Er legte werden. Auch bei der Braunkohle meint Uhl. Wenn offensichtlich genug „Bekenntnisse“ ab zum „Auto“, zur wollen sie keine Abstriche mehr Arbeit da ist, wozu dann noch die Vier- „Mobilität“. Revolutionäre Vor- machen. Damit ist in diesem Be- Tage-Woche, fragen sich Beschäftigte in schläge macht er auch: Fahrgemein- reich der Kohlendioxid-Ausstoß Hannover, Kassel und Wolfsburg. schaften fordert er, vollbesetzte Au- ebenfalls für mindestens eine Deka- Die Betriebsräte wissen nur zu gut, tos sollen Vorrang bekommen, ganz, de festgeschrieben. daß die Engpässe im Lkw-Werk und in ganz langsam müsse der Sprit teurer Alles geht weiter wie gehabt, ob der Kasseler Getriebefertigung nur Mo- werden, und Toyota, Ford und VW in Deutschland oder Amerika. Bill mentaufnahmen sind. „Wir brauchen möchten doch bitte, bitte bald weni- Clinton redet nicht mehr von der die Vier-Tage-Woche mehr denn je, vor ger durstige Autos bauen. Energiesteuer, von härteren Sank- allem in Hinblick auf die nächsten Jah- Die Opposition reagierte wie er- tionen sowieso nicht. Alle haben ih- re“, warnt der hannoversche Betriebsrat wartet: Alles nutzlos. Vorschriften ren Schwur vergessen und drücken Lenz. Immer wieder beschwört er die müßten her, Tempo und Spritver- sich um klare politische Entschei- mauligen Kollegen, über den eigenen brauch gesetzlich begrenzt werden. dungen. Technische Verbesserun- Arbeitsplatz hinauszuschauen: riesige Ohne dirigistische Eingriffe ist der gen beim Spritverbrauch oder in der Überkapazitäten, die den Autobauern CO2-Ausstoß nicht zu verringern, das Energieverwendung mildern den bevorstünden, Rationalisierung, die im- ist richtig. Härtere Regeln (zum Bei- Leidensdruck nur vorübergehend. mer mehr Arbeitsplätze fresse. Wohin spiel ein Grenzwert fürden Kohlendi- Der Erdball wird wärmer, um ein dann mit den Menschen? oxid-Ausstoß pro Kilometer) gehö- bis eineinhalb Grad in den nächsten „Wir haben doch woanders keine ren genauso dazu wie eine Energie- 40 bis 50 Jahren. Sofortiges Um- Chancen mehr, ich mache mir da nichts steuer oder Geschwindigkeitsbegren- steuern könnte wenigstens weiteren vor“, sagt die Wolfsburger Montagear- zungen für Laster und Flitzer. Schaden begrenzen, denn Erder- beiterin Helga Hahn. „Wichtig ist, daß Eine solche Politik würde nicht wärmung bedeutet Tod durch Hun- der Arbeitsplatz erhalten bleibt.“ Und mehr versuchen, den dramatisch zu- ger und andere Katastrophen. Die Rohbaumonteur Hartwig Erb meint: nehmenden Transport von Personen Industriestaaten, relativ günstig ge- „Lieber mit weniger auskommen, als zu- und Sachen umweltverträglich zu ma- legen, glauben, noch glimpflicher sehen, wie andere entlassen werden – chen, sie würde die Verkehrslawine davonzukommen als – beispielswei- das ist doch der Weg, zu dem wir uns bremsen. Ein Großteil der Fahrten se – Bangladesch. Warum also um- mit entschlossen haben.“ unterbliebe, weil sie zu teuer wären. steuern? Wie war es denn früher, fragt Mon- teurin Hahn: morgens unausgeschlafen zur Frühschicht und von der Spätschicht

66 DER SPIEGEL 30/1994 .

WIRTSCHAFT

kaputt nach Hause, schnell noch die Das Millionenspiel von Sangerhausen Waschmaschine gefüllt, die Küche auf- ist zu Ende und das Gastspiel von Max geräumt – so, beschreibt die alleinerzie- Josef Strauß auch. Der Politiker-Sohn hende Mutter, sah vor der Vier-Tage- begnügte sich dabei nicht mit der Rolle Woche das Leben aus. eines normalen Rechtsberaters. „Es Jetzt hat sie Zeit für die Kinder, kann hieß immer, der ist für das Politische zu- selbst für die beiden kochen, was sie frü- ständig“, sagt der Samag-Betriebsrats- her nie geschafft hat. Hahn nahm das vorsitzende Uwe Schlennstedt, „tatsäch- Ehrenamt in der Suchtkranken-Hilfe lich hat er hier viel mehr gemacht.“ wieder auf, drei Abende in der Woche – Im Gegensatz zu Strauß zog sich Mer- seit die Frühschicht nicht mehr um halb zel bald enttäuscht zurück. Der Arzt sechs anfängt, guckt sie abends nicht hatte am 26. Juni 1991 „aus steuerlichen mehr ständig auf die Uhr. Gründen“ beim Kauf der Samag mitge- „Zwei Stunden Schlaf mehr jeden macht. An diesem Tag besiegelte Strauß Morgen, das ist Lebensqualität“, das Geschäft mit dem Berliner Notar schwärmt Arbeiter Frank-Michael Hö- Hellmut Sieglerschmidt. Er zeichnete sing. „Ich bin seitdem ein anderer für die Londoner Briefkastenfirma Port- Mensch.“ Nicht mehr die Freitagshetze land Corporation PLC (Stammkapital: beim Einkaufen, lobt der eine, der an- 100 Pfund, damals rund 300 Mark). dere baut an den freien Tagen sein Mayer hatte die Firma erst fünf Monate

Haus, mancher sinniert über einen zwei- DPA zuvor gegründet. ten Job. Samag-Berater Strauß Der Treuhand schien offenbar jeder Die vier Kinder des Rohbauarbeiters Trips nach Rußland und Nigeria Käufer recht. Die Bonität der Portland Erb kennen ihren Vater eigentlich erst seit April. „Ich kann mit ihnen gemein- die Begegnung von sam essen, Schularbeiten machen, zum Mayer und Strauß. Baden gehen“, berichtet Erb entzückt. Mittlerweile will der „Und ich bin nicht mehr so gestreßt.“ Sohn des verstorbenen Im Werk Hannover melden sich nur CSU-Politikers Franz knapp 60 Prozent der Arbeiter zur Josef Strauß von sei- Mehrarbeit. Die Betriebsräte, die nem Partner nichts im Moment so dringend Leute benöti- mehr wissen. gen, wissen nicht, ob sie sich darüber Seit sechs Wochen freuen sollen: Viele Arbeiter lassen den sitzt der Italiener fünften Tag gern sausen – Grillen ist nun in Untersu- schöner. Y chungshaft (SPIEGEL 24/1994). Für die Sam- ag, die mit knapp tau- Treuhand send Mitarbeitern Um- welttechnik und Anla- gen für Zuckerfabri- ken baut, wurde die Spezi hinter Gesamtvollstreckung beantragt. Der einst gefeierte Gittern Investor mit dem Rau- Samag-Chef Mayer*: „Ich bin der größte Pirat“ schebart hatte die Die Staatsanwaltschaft ermittelt Samag vor drei Jahren völlig entschuldet wurde jedenfalls recht fahrlässig ge- übernommen. Was er seither trieb, ver- prüft. „Aus der Darstellung im Ge- gegen einen Investor. Welche Rolle sucht nun die Staatsanwaltschaft zu er- spräch und aus der zwar komplizierten, spielte dabei Max Josef Strauß? gründen. Sie ermittelt nicht nur wegen aber doch überzeugenden Konstruktion Untreue und Betrugs, sondern auch vermute ich eine Bonität, wie sie von Ih- ie drei Männer trafen sich an ei- wegen Geldwäsche. Wirtschaftsprüfer nen erwünscht wird“, stellte der von nem herrlichen Sommerabend in stellten „ungeklärte Zahlungseingänge“ der Treuhand beauftragte Stuttgarter DMünchen. Zu bereden hatten der in Höhe von 69,1 Millionen Mark fest. Rechtsanwalt Karl Deffner fest. Das ge- Südtiroler Kaufmann Kurt Mayer, der Das Geld floß ebenso ungeklärt wie- nügte. Münchner Arzt Dawid Merzel und Max der ab, und noch viel mehr dazu: Der Merzel beteiligte sich mit 0,67 Pro- Josef Strauß nur ein Thema: Pläne für Schaden für die Treuhand, das Land zent an der Samag, das kostete ihn 20 ein Millionengeschäft im Osten. Sachsen-Anhalt und die Banken dürfte Pfennig. Für den vorläufigen Kaufpreis Drei Wochen später feierte das Trio 150 Millionen Mark übersteigen. von 30 Mark wechselte die Firma den im Interhotel von Halle mit Champa- Die Treuhand hatte Altkredite in Hö- Eigentümer. Die vertraglich festgelegte gner. „Gelbes Mineralwasser“, scherzte he von 28,9 Millionen Mark abgelöst Nachbewertung der Firma ergab einen Mayer. Im Schnellverfahren hatte und 14,8 Millionen Liquiditätszuschüsse noch zu zahlenden Kaufpreis von fast 14 Strauß die traditionsreiche Maschinen- gegeben. Das Land zahlte 42 Millionen Millionen. fabrik Sangerhausen GmbH (Samag) in Mark Investitionszulage und bürgte Kaum war Mayer Chef des Unterneh- Sachsen-Anhalt von der Treuhand be- für 10 Millionen. Außerdem gewährten mens, trat auch Strauß immer häufiger kommen – als Anwalt seines Kumpels die Banken Kredite von 50 Millionen dort auf. Bei den Weihnachtsfeiern 1992 Mayer. Mark. Und schließlich ist auch noch und 1993 debattierte er leutselig mit den „Die beiden waren gleich ein Herz der Kaufpreis (13,7 Millionen Mark) und eine Seele“, erinnert sich Merzel an fällig. * Bei seiner Verhaftung am 8. Juni.

DER SPIEGEL 30/1994 67 WIRTSCHAFT

Beschäftigten. Sein Spezi Mayer hatte Ähnliche Trips hatte Strauß früher nach 13 Studien über die Bezahlung von Ma- aufwendige Präsente aus Südtirol ein- Rußland und Nigeria gemacht. Rund nagern zusammen und flüchteten vor fliegen lassen. zweieinhalb Jahre wurde er von der den dröhnenden Lautsprecherparolen in Mit ganzer Kraft setzte sich Strauß Samag als Berater bezahlt. einen Konferenzraum mit ruhiger Lage auch in der Belegschaftsversammlung „Ich bin der größte Pirat“, hatte Di- zum Innenhof. am 30. Juni 1992 für Mayer ein. Die in plom-Kaufmann Mayer schon zu Beginn Doch die Proteste hatten nichts mit ihren Augen roten Socken im Betriebs- des Samag-Abenteuers in München ge- den Studien der Professoren zu tun. rat sollten gefeuert werden. Die Stim- tönt, „aber ein honorabler. Seid vorsich- Grundschullehrer aus Ost und West de- mung in Halle 103 war explosiv. Mayer tig.“ Das war die Zeit, als er noch in der monstrierten gegen ungleiche Bezah- rief die Polizei, und die komplimentierte feinen Königshof-Suite in München lo- lung bei gleicher Leistung. Gegen die zwei Gewerkschafter aus dem Saal. gierte und große Trinkgelder verteilte. Ungereimtheiten bei der Bezahlung von „Strauß ging vor dem Podium immer Neuerdings haben die Beamten große Managern geht niemand auf die Straße. auf und ab und hatte ein Gesetzbuch in Zweifel an der Identität des Strauß-Spe- Die Spezialisten für Spitzenverdienste der Hand, wohl das Betriebsverfas- zis hinter Gittern. „Name, Herkunft, trafen sich vergangenen Monat erstmals sungsgesetz“, erinnert sich Betriebsrat Staatsangehörigkeit, Geburtsdatum, al- in Berlin zu einem „Workshop“ über Eberhard Heideck. Als die drei haupt- les wird überprüft“, sagt Bittmann. Y „Manager-Bezüge, Strategie und Fir- amtlichen Betriebsräte Jürgen Geißler, men-Erfolg“. Wie Donaldisten mit akri- Monika Walther und Alfred Aschen- bischer Liebe ihren Dagobert Duck ana- brenner ihren Kündigungsschutz verlo- Manager lysieren, so ist der verschworene Zirkel ren hatten, stand Strauß am nächsten der Gehaltsforscher der rätselhaften Morgen gegen 6.30 Uhr vor dem Werk- Geldschwemme bei den Führungskräf- tor. „Guten Morgen, Frau Walther“, ten auf der Spur. begrüßte er die Frau, „ich habe hier Ihre Falsche Ihre langjährigen und weltweiten Un- fristlose Kündigung.“ tersuchungen haben immer wieder das- Der Betriebsrat hatte sich schon da- selbe Ergebnis hervorgebracht: Die Be- mals kritisch zum Samag-Kurs geäußert. Verträge züge der obersten Manager-Riege hän- Doch viele Honoratioren aus Stadt und gen von allen möglichen Größen ab, nur Land hofierten den Investor und seinen Ist ein Spitzenmann soviel wert, nicht von der Leistung der leitenden prominenten Helfer. wie er verdient? Beim Gehalt geht Herren. Gewinn oder Verlust, nach So wurde die Grundsteinlegung für marktwirtschaftlicher Lehre der Aus- das neue Sozialgebäude der Samag als es keineswegs nur um Leistung. weis unternehmerischer Tüchtigkeit, be- großes lokales Ereignis gefeiert, Sanger- einflussen die Entwicklung der Mana- hausens Bürgermeister Klaus Czudaj uf dem Bebel-Platz vor der Ost- ger-Vergütung fast gar nicht. war dabei. Bei dieser Gelegenheit, so Berliner Humboldt-Universität Bei einem um zehn Prozent höheren der Betriebsrat, stellte Mayer Strauß Asammelten sich 40 000 Demon- Gewinn steigt im weltweiten Durch- erstmals öffentlich als „Aufsichtsrats- stranten und protestierten gegen „die schnitt das Einkommen der Vorstände vorsitzenden“ vor. Strauß bestreitet das. himmelschreiende Ungerechtigkeit“ bei allenfalls um ein Prozent. Umgekehrt „An diesem Tag“, sagt Betriebsrats- den Gehältern mit Transparenten wie: hat auch eine entsprechende Ver- chef Schlennstedt, „haben wir zum er- „Ich kann gar nicht so schlecht arbeiten, schlechterung des Unternehmensergeb- stenmal erfahren, daß es einen Auf- wie ich bezahlt werde.“ nisses einen ebenso minimalen Effekt sichtsrat gibt.“ Zu einer Sitzung dieses Drinnen im Senatssaal packten drei für die obersten Gehaltsempfänger. Gremiums, dem auch Arbeitnehmerver- Dutzend Wissenschaftler aus den USA, Deutsche Wirtschaftsführer spüren treter angehören müssen, sei es aber nie Japan und Europa eilig ihre Stapel mit Erfolg und Mißerfolg sogar noch deut- gekommen. So konnte sich Strauß bei der Verneh- mung durch die Staatsanwaltschaft ele- Leistungslohn? gant distanzieren. Immer wieder habe er Geschäftsentwicklung und von Mayer gefordert, der Aufsichtsrat Managergehälter deutscher Konzerne; solle stärker in die Geschäftspolitik ein- Angaben in Millionen Mark Bezüge des gebunden werden, behauptet er. Nie ha- Jahresergebnis Vorstands be er vollständige Informationen be- 1992 1993 Entwicklung1992 1993 Entwicklung kommen. Bayer 1563 1372 13,2 10,4 „Einen Persilschein für Strauß stellen wir nicht aus“, sagt Oberstaatsanwalt Daimler-Benz 1451 615 14,5 14,3 Folker Bittmann, „aber es gibt bisher Hoechst 1182 756 12,0 10,9 auch keinen strafrechtlichen Anfangs- Ruhrgas 796 729 8,1 8,4 verdacht.“ Erst Ende Mai, gut zwei Wochen be- BMW 726 516 13,6 11,5 vor der erste Betrugsversuch Mayers bei Commerzbank 687 586 11,2 13,4 der Bayerischen Landesbank (Kredit Preussag 440 193 8,9 9,1 über 45 Millionen für ein fingiertes Ita- Thyssen 350 –994 11,9 10,3 lien-Geschäft) bekannt wurde, zog sich Strauß aus der Samag zurück. Er wolle Linde 255 178 5,3 5,6 seine Tätigkeit im Aufsichtsrat nicht Volkswagen 147 –1940 10,2 12,9 weiter ausüben, teilte er Mayer schrift- Continental 133 65 9,6 7,2 lich mit. Tatsächlich waren seine Rechnungen Mannesmann 63 –513 6,7 6,4 ein halbes Jahr lang nicht mehr bezahlt Porsche –66 –239 4,1 3,6 worden, zuletzt 15 000 Mark für eine IBM Deutschland –443 –582 6,1 5,9 Reise im Auftrag der Samag nach Chile.

68 DER SPIEGEL 30/1994 .

lich weniger auf dem eigenen Geld wird im Unterneh- Konto als ihre ausländischen men versteckt – oder es Kollegen: Ihre Einkommen mehrt die Bezüge des Vor- reagieren im Schnitt nur mit stands. einem halben Prozent auf Nur wenn die Eigentümer Ergebnisveränderungen von starken Einfluß nehmen zehn Prozent. können, ist die Selbstbedie- „Hanebüchen und anti- nung für Führungskräfte quiert“, so der Berliner nicht so einfach. So stellte Workshop-Organisator Joa- der amerikanische Gehalts- chim Schwalbach, sind etwa forscher Takao Kato in Ber- die Bestimmungen des deut- lin eine Untersuchung vor, schen Aktiengesetzes über nach der in Japan die Mana- die Vorstandsvergütungen. ger von Firmen aus einem Gehaltskürzungen sind in der Konzernverbund 20 bis 30 oberen Etage laut Paragraph Prozent weniger verdienen 87 nur erlaubt, wenn die als die Kollegen in unabhän- Fortzahlung des hohen Ge- gigen Unternehmen. halts „eine schwere Unbillig- In Deutschland ist die Be- keit für die Gesellschaft sein zahlung der Manager noch würde“. immer ein Tabu-Thema. Die Bei über einem Viertel von tatsächliche Höhe der Ein- 879 westdeutschen Großun- künfte einzelner Vorstands- ternehmen, die der Berliner mitglieder wird zum Beispiel Gehalts-Professor untersuch- schamhaft verschwiegen. te, stiegen die Vorstandsbe- Die Unternehmen müssen züge sogar noch, als die Fir- nur die Gesamtbezüge ver- menergebnisse absackten, et- öffentlichen. Die Topverdie- wa beim Filmhersteller Ko- ner, so läßt sich dennoch er- dak, der Quandt-Holding kennen, sitzen in der Me- Ceag oder der Hamburger dienbranche, mit Spitzenge-

Elbschloss-Brauerei. Über A. RAPOPORT / ONYX / FOCUS hältern von fast vier Millio- einen mehrjährigen Zeit- Disney-Manager Eisner nen Mark. raum, so ergaben Schwal- Jahreseinkommen von 203 Millionen Dollar In den USA hatte die De- bachs Studien für 1987 bis batte über Lohn und Lei- 1990, bezahlen nur 15 Prozent der Un- In Wahrheit sind die deutschen Wirt- stung der Manager dagegen schon Fol- ternehmen ihre Vorstände konsequent schaftsführer noch besser versorgt. gen. So müssen die Firmen jetzt mehr nach Leistung. Zu den lobenswerten Denn selbst ihre Tantiemen sind noch Informationen über die Gehälter der Ausnahmen zählen etwa Deutsche und einmal zur Hälfte vertraglich abgesi- Bosse veröffentlichen. Die Chef-Ver- Dresdner Bank, Siemens und BASF. chert, weiß Christian Näser von der dienste können nur noch bis zu einer Auch 1993, in der schwersten Rezessi- Kienbaum-Vergütungsberatung. Million Dollar von der Steuer abge- on der Nachkriegszeit, mochten viele Die deutschen Manager wettern zwar setzt werden. Manager nicht zurückstecken. Ruhrgas, gern gegen das starre deutsche Tarifsy- Die stärkere Erfolgsabhängigkeit der Commerzbank, Preussag, Linde und stem für ihre Untergebenen. Doch das amerikanischen Manager-Gehälter ist Volkswagen zum Beispiel gaben für ihre Lohnsystem der Chefs ist so unflexibel allerdings auch nicht ohne schädliche Vorstände mehr aus als im Vorjahr, ob- und konservativ wie kaum ein anderes Nebenwirkungen. Die verbreitete Me- wohl das Firmenergebnis gesunken war thode, die Firmenchefs über Aktien- (siehe Grafik). Optionen an einer Wertsteigerung des Bei VW stiegen die Gesamtausgaben Die Manager-Gehälter Unternehmens teilhaben zu lassen, für die obersten Manager, obwohl Vor- sind ein führt zu mitunter gigantischen Ein- standschef Ferdinand Pie¨ch eine Ge- künften. So kam der Walt-Disney-Sa- haltskürzung von 20 Prozent verkündet deutsches Tabu-Thema nierer Michael D. Eisner vergangenes hatte. Doch mit Jose´ Ignacio Lo´pez hat- Jahr auf das höchste Manager-Gehalt te der Konzern einen kostbaren Mana- auf der Welt. „Da herrscht die alte aller Zeiten: 203 Millionen Dollar. ger mehr zu bezahlen. Das stolze Gehalt Denke“, sagt Näser, „der Vorstand ist Kann so ein Manager wirklich soviel des Spaniers von weit über zwei Millio- per se arbeitswillig und gut.“ leisten, wie er verdient? Auf die Frage nen Mark schlägt als Lo´pez-Effekt bei Die Manager, rechnen die Ver- weiß auch die Creme der Profit-Profes- den Vorstandsbezügen zu Buche. dienst-Forscher in zahllosen Studien soren keine Antwort. „Die absolute „Die deutschen Manager haben die vor, verfolgen weit mehr ihre eigenen Höhe eines Manager-Gehalts ist wis- falschen Verträge“, meint Kevin J. Interessen als die der Aktionäre. So senschaftlich gesehen eine triviale Fra- Murphy. Der Harvard-Professor gilt als gibt es einen sehr deutlichen Zusam- ge“, sagt Gehalts-Papst Murphy, ent- Papst der internationalen Manager-Ge- menhang zwischen steigenden Mana- scheidend sei ein sinnvolles Anreizsy- haltsforschung. Der festgeschriebene ger-Gehältern und wachsenden Umsät- stem zur Leistung. Anteil der Vergütung ist bei deutschen zen. So ganz trivial kann die Höhe des Vorständen viel zu hoch. Im Schnitt sind Das heißt: Die Vorstände entfalten Gehalts für den Professor wohl doch ihnen 70 Prozent ihrer Bezüge garan- zum Beispiel mit der Eroberung zu- nicht sein. Denn aus dem Dienst an tiert, ganz gleich wie es dem Unterneh- sätzlicher Märkte oder dem Zukauf der Wissenschaft vom Manager-Gehalt men geht. In den USA ist das Verhältnis von Firmen ihren Machtbereich, ohne wechselt Murphy jetzt in eine weitaus genau umgekehrt: 70 Prozent des Mana- die Eigentümer über Gewinnausschüt- besser dotierte Manager-Position bei ger-Gehalts sind erfolgsabhängig. tungen daran teilhaben zu lassen. Das der Beratungsfirma Towers Perrin. Y

DER SPIEGEL 30/1994 69 .

WIRTSCHAFT

Mobilfunk Fehlerhafte Eingabe Harte Kritik an der Telefonfirma MobilCom: Kunden beschweren sich über falsche Rechnungen, Händler feilschen um Provisionen.

ildiray Dede staunte nicht schlecht über die Post, die sie im Mai in ih- Yrem Briefkasten fand. Mit einem „Hallo aus Schleswig“ forderte die Tele- fonfirma MobilCom 547,40 Mark. We- nige Tage später war das Geld bereits

vom Konto der Münchner Geschäfts- R. JANKE / ARGUS frau abgebucht. Kundenservice bei MobilCom: Unzulänglichkeiten und Pannen Die überraschende Rechnung war die Folge eines kurzen Kontakts mit dem vice-Providern. Diese Telefonfirmen schen Landesbank hatte sich der ehema- Schleswiger Unternehmen. Dort hatte ohne eigenes Netz vermitteln Anschlüs- lige Geschäftsführer der Autovermie- Frau Dede am 14. Februar eine Telefon- se für die Mobilfunknetze von D1 und tung Sixt 1991 in das brodelnde Ge- karte für ein Funktelefon beantragt. D2. Sie übernehmen bei den Netzbetrei- schäft mit dem Mobilfunk gestürzt. Sei- Doch MobilCom lehnte ab. Dede: „Es bern Mannesmann und Telekom Ge- nen Erfolg verdankt Schmid, 42, vor al- hieß, wir seien nicht kreditwürdig.“ sprächszeit zu Sonderkonditionen, die lem der Masche, nicht nur den An- Die Abgewiesene gab sich damit zu- sie mit entsprechendem Aufschlag ver- schluß, sondern auch gleich das passen- frieden, bei einer anderen Telefonfirma kaufen. de Gerät mit zu vermieten. wurde sie als Kundin akzeptiert. Damit Mit mehr als 80 000 Kunden in beiden Mit Discount-Angeboten, bei denen schien der Fall erledigt. Netzen und einem Umsatz von 123 Mil- die Gerätemiete in der normalen Um so erstaunter war sie über die lionen Mark (1993) zählt MobilCom zur Grundgebühr von 78 Mark enthalten ist, Rechnung, die sie im Mai erhielt. Im- Spitzengruppe unter den privaten Tele- lockte Schmid Zigtausende von privaten merhin verlangte MobilCom die Grund- fonanbietern in Deutschland. „Als ein- Telefonkunden zur MobilCom. Durch gebühr von monatlich 68 Mark für die ziges Unternehmen der Branche“, so Leasingverträge sind sie drei bis fünf Zeit von Dezember 1993 bis Mai 1994 – Firmengründer Gerhard Schmid, schrei- Jahre an die Firma gebunden. Doch vie- und das, obwohl Frau Dede erst im Fe- be MobilCom schwarze Zahlen. Mit le Kunden, weiß der ehemalige Mobil- bruar eine Nummer beantragt hatte. Unterstützung der schleswig-holsteini- Com-Manager Thorsten Schranz, „Fehlerhafte Eingabe“, entschul- „haben schon nach kurzer Zeit die Nase digte die Firma später die Panne. voll“. So einfach läßt sich die Sache Karte bitte! Der Ärger beginnt oft gleich nach nicht aus der Welt schaffen. Etli- Entwicklung der D-Netz-Teilnehmer bei privaten Vertragsabschluß. Auf das Telefon, das che Kunden der privaten Telefon- Dienstanbietern und den beiden Netzbetreibern angeblich innerhalb weniger Tage gelie- firma aus Schleswig-Holstein kla- in Tausend fert werden soll, warten die Kunden bis- gen über falsche Abrechnungen, weilen viele Wochen. 753 unberechtigte Abbuchungen, lan- 800 PRIVATE Verlieren sie die Geduld und wollen ge Lieferfristen und ganz einfach DIENST- ihren Vertrag kündigen, bekommen sie ANBIETER miesen Service. „80 Prozent mei- 700 sofort eine happige Rechnung. Sie sol- ner MobilCom-Kunden“, sagt len die gesamten Leasingraten auf einen der Wiesbadener Telefonhändler Schlag bezahlen. Je nach Gerät kann 600 Martin Scheffler, „sind ent- NETZBETREIBER sich die MobilCom-Forderung dann auf täuscht.“ (Telekom, 472 bis zu 11 000 Mark belaufen. Sauer sind auch viele Händler 500 Mannesmann) Da alle Kunden eine Abbuchungsge- und Vertriebspartner der Schles- nehmigung für ihr Girokonto unter- wiger Firma. Sie warten oft mona- 400 schreiben müssen, kann Schmid zu- telang auf ihre Provision (etwa 500 nächst einmal nach Belieben walten. So Mark pro Kunde). Einige wollen 300 kommt es immer wieder vor, daß Mobil- nun gegen MobilCom gerichtlich Com Rechnungen doppelt abbucht, zu vorgehen. „Wir prüfen“, bestätigt 200 hohe Gebühren eintreibt oder Zusatz- Jürgen Bergmann von der Reck- dienste wie den „Gold Service“ oder ei- linghäuser Telecompany, „ob wir 100 ne „Mailbox“ berechnet, obwohl die Konkursantrag gegen MobilCom 1993 1994 Kunden solche Leistungen gar nicht be- stellen.“ stellt haben. Schmid bestreitet das: 0 Das Schleswiger Unternehmen Quelle: VAM Mai Juli Sep. Nov. Jan. Mrz. April „Unsere Reklamationsquote liegt im gehört zu den sogenannten Ser- Branchendurchschnitt.“

70 DER SPIEGEL 30/1994 .

Schuld an dem ganzen Ärger ist nach „Eine solche Häufigkeit ist mit Schlam- ner von Schmid geltend machen. Sie hat- Ansicht von Hanno Kirner, Chef der perei kaum noch zu erklären.“ ten im Frühjahr 1993 zusammen mit Handelsfirma Phoneline, die „absolut Für den umstrittenen MobilCom- Schmid die Vertriebsfirma MFD gegrün- chaotische Buchhaltung“ in Schleswig. Chef sind das „völlig haltlose Behaup- det und fühlen sich nun von ihm „hinter- „In jeder Würstchenbude ist heute mehr tungen“. Die Provisionen für Innova hältig ausgebootet“. Ordnung“, sagt der Berliner, der mehr- und einige andere Händler habe er Härter als der Streit um Schadenser- mals in Schleswig war, um sich ihm zu- „eingefroren, weil die mit unsauberen satz könnte den Schleswiger Mittelständ- stehende Provisionen abzuholen. Methoden arbeiten“. Gegen deren ler ein anderer Schachzug der früheren „Teenies mit Geha-Füller“, so Kirner, „Amoklauf“ habe er bereits „entspre- MFD-Partner treffen. In dieser Woche hätten dann „mit krakeliger Schrift die chende gerichtliche Schritte veranlaßt“, will ihr Kölner Anwalt Heinz Adolfs bei Provisionen ausgerechnet“. kontert Schmid. der Staatsanwaltschaft in Flensburg eine Mit Unzulänglichkeiten und Pannen Das wird ein harter Schlagabtausch. Strafanzeige gegen Schmid einreichen – allein ist der schlechte Service bei Mo- Auch die bayerischen Innova-Manager wegen Betrugs und Untreue. bilCom nach Meinung von Jürgen Pfitz- wollen vor Gericht ziehen und ausste- Die Konkurrenz verfolgt nicht ohne ner nicht zu erklären. Der Marketing- hende Provisionen sowie Schadenser- Wohlgefallen den wachsenden Druck chef der bayerischen Vertriebsfirma In- satz einklagen. „Alles in allem“, schätzt gegen den Außenseiter. Wettbewerb nova 2000, die früher eng mit Schmid Innova-Prokurist Vjeran Bronic, „dürf- solle den Kunden dienen, sagt Joachim zusammengearbeitet hat, vermutet, te sich unsere Forderung auf zwei bis Dreyer vom Branchenprimus Debitel. „daß hier System dahintersteckt“, denn drei Millionen Mark addieren.“ Firmen, die dagegen verstießen, so immer fielen die falschen Rechnungen Forderungen in ähnlicher Größenord- Dreyer, „haben auf dem Markt nichts zuungunsten des Kunden aus. Pfitzner: nung wollen auch drei ehemalige Part- zu suchen“. Y

Automobile Mark Schulden bleibt ihr jetzt nichts mehr übrig, als nach einem Käufer zu suchen. Bei Mercedes war das Mißmanage- Für jeden ment kaum geringer. Den Entwick- lern war oft nur das Beste gut genug fürihre Busse. Entsprechend aufwen- ein Haus dig war dann die Produktion und ent- sprechend hoch der Preis. Die Kund- Mercedes startet den letzten schaft, Reiseunternehmer, Städte Versuch, die verlustreiche und Gemeinden, aber müssen zuneh- mend sparen. Mercedes kann seine Busproduktion profitabel zu Busse nur noch mit einem Rabatt von machen. fast 40 Prozent verkaufen. Die Mercedes-Vorstände konnten zwei Jahrzehnte zusehen, wie in orst Zimmer ist ein Freund von Mannheim die Milliarden versicker-

Zahlen. Er rechnet gern und T. KLINK ten, weil sie mit ihren Pkw-Verkäufen Hlang, doch das Ergebnis erfreut Mercedes-Manager Gottschalk lange Zeit viel Geld verdienten. Au- den Mercedes-Vorstand selten. Es versickerten Milliarden ßerdem residieren im Buswerk die Den über 5000 Mercedes-Beschäf- mächtigen Betriebsratsvorsitzenden tigten, die im Werk Mannheim Bus- in eine eigene GmbH ausgliedern, zu des Konzerns. Solange es vermeidbar se montieren, präsentierte Zimmer der schon bald der Ulmer Busherstel- schien,mochte sich keinVorstand mit nun neueste Erkenntnisse: In den ler Kässbohrer gehören soll. Der ihnen anlegen. vergangenen 20 Jahren, so der Ma- Konkurrent, der um seine Existenz Jetzt kann Mercedes sich die Dau- nager auf einer Belegschaftsver- ringt, steht zum Verkauf. Und Bernd ersubvention nicht mehr leisten. sammlung, habe die Omnibuspro- Gottschalk, Nutzfahrzeug-Chef bei Nach der Übernahme von Kässboh- duktion Verluste „in der fast unvor- Mercedes, will zugreifen. Nur so, rer müssen mehrere tausend Arbeits- stellbaren Größenordnung von 3,1 glaubt Gottschalk, kann er das eigene plätze gestrichen werden. Nutzfahr- Milliarden Mark“ erwirtschaftet, da- Busgeschäft wieder flottmachen. zeug-Chef Gottschalk ist zuversicht- von allein in den letzten zehn Jahren Auf dem Papier passen die beiden lich, damit endlich ein profitables Un- „2,44 Milliarden“. Damit jeder sich bestens zusammen. Kässbohrer ist ternehmen zu schaffen. Doch mit ih- unter diesen „katastrophalen Ergeb- der größte Hersteller von Reise- und ren Prognosen über das Busgeschäft niszahlen“ etwas vorstellen kann, Überlandbussen inEuropa, und Mer- lagen die Mercedes-Manager bislang hat Zimmer sie umgerechnet: „Wir cedes ist Marktführer bei den Stadt- stets daneben. hätten dafür jedem Mitarbeiter ein bussen. Nur leider ergänzt Kässboh- Vorstand Horst Zimmer mußte der Wohnhaus im Wert von 500 000 rer Mercedes auch auf einem anderen Belegschaft eingestehen, daß Merce- Mark bezahlen können.“ Gebiet ganz hervorragend: Das Ul- des in diesem Jahr „das geplante Er- Jetzt wagt der Vorstand den wohl mer Unternehmen häuft ebenfalls gebnis von 150 Millionen Verlust bei letzten Versuch, die Mannheimer emsig Verluste an. weitem nicht erreicht“. Die neueste Geldvernichtungsmaschine in einen Die Kässbohrer-Sippe hat das Un- Planung, so Zimmer, geht nun von ei- rentablen Betrieb zu verwandeln. ternehmen an den Rand desRuins ge- nem Verlust von 180bis200Millionen Mercedes will seine Busproduktion führt. Mit mehr als 600 Millionen Mark aus. Y

DER SPIEGEL 30/1994 71 .

WIRTSCHAFT

Reisen Für 68 Dollar von Küste zu Küste Trotz Schleuderpreisen findet der Greyhound immer weniger Freunde

ach 1500 Meilen, nach zwei Tagen „Mein Boß bringt mich um, wenn er und zweiNächtenaufdemHighway von dem Zwischenstopp erfährt“, sagt Nsieht Randolph Carnevale müde Cooper, der seit 25 Jahren Grey- aus. Seine Augen sind glasig und rot ge- hounds steuert und ungezählte Millio- rändert. Er könnte eine Rasur gebrau- nen von Meilen hinter sich gelassen chen, seine angegrauten borstigen Haare hat. „Aber es freut die Leute.“ könnten auch mal wieder gewaschen wer- Greyhound-Chef Frank Schmieder den. wäre froh, wenn alle seine 2700 Fahrer Doch Randolph, ein Mann Mitte Vier- ihre Passagiere so zuvorkommend be- zig, ist prächtig gelaunt. Er schwärmt, als handelten wie Walter Cooper. Die ein- hätte er die Entdeckung seines Lebens zige US-Busgesellschaft, die in allen gemacht: „Billiger hätten wir gar nicht US-Staaten – mit Ausnahme von Ha- reisen können.“ waii und Alaska – praktisch jedes Dorf Zum erstenmal ist der Amerikaner in der gesamten USA verbindet, ist eher Moderner Greyhound: Der Bus ist das einem Überlandbus unterwegs, einem für ihr lustlos-unfreundliches Personal der legendären Greyhounds. Seine Frau bekannt. Dabei existiert in den USA eine Eisen- April stimmt ihm eifrig nickend zu. Vor allem aber sähe Schmieder bahn nur auf wenigen Strecken. „Busfahren ist vernünftig“, erklärt sie gern, wenn alle seine Busse so voll wä- Der Amerikaner hat ein Auto, das ernst. „Wir können die Hotelkosten spa- ren wie heute der bis auf den letzten Benzin ist billig, und die Fluggesell- ren.“ Platz besetzte Wagen Nr. 2460 auf schaften bieten immer wieder Tickets zu Bis vor kurzem hätten April und Ran- dem Weg nach Dallas. Der Grey- Sensationspreisen an. In diesem Jahr dolph allerdings nie daran gedacht, die hound, Amerikas bekannteste Busli- werden nur noch rund 15 Millionen 3000-Meilen-Strecke von Virginia nach niengesellschaft, findet immer weniger Menschen per Greyhound reisen. Kalifornien per Bus zurückzulegen. Sie Freunde. Allein in den letzten fünf Jahren ist wären für diese Tour quer über den Kon- Ende der fünfziger Jahre reisten je- das Geschäft um rund 30 Prozent auf tinent selbstverständlich ins Flugzeug ge- des Jahr noch 50 Millionen Menschen 650 Millionen Dollar zurückgegangen. stiegen, allenfalls ins Auto. per Greyhound zur Oma, zur Freundin Und Gewinne macht der Greyhound, Aber ihr Fahrradladen in Kalifornien oder einfach in die Ferien. Doch für der 1990 schon vor der Pleite stand und läuft nicht mehr gut, und die Carnevales Joe Sixpack, den Otto Normalverbrau- Vergleich anmelden mußte, seit ein paar müssen sparen. An der Ostküste wollen cher Amerikas, gibt es heute kaum Jahren nicht mehr. Die Kampfpreise der sie es jetzt mit einer Truthahnzucht ver- noch einen Grund, sich nach dem Fluggesellschaften haben ihn gerade ge- suchen. Fahrplan des Greyhound zu richten. zwungen, ein Ticket für eine Fahrt von Ihre Möbel chauffieren sieinmehreren Fuhren im gemieteten Kleinlaster selbst nach Osten. Zurück geht es dann für 159 Dollar pro Person im Greyhound. „Nachts wäre es gut, wenn man wenig- stens eine Decke hätte“, meint Ran- dolph. Der aluminiumglänzende Greyhound, 47 Sitze, der morgens um halb neun die Stadt Memphis in Tennessee verlassen hat und abends um sechs im texanischen Dallas ankommen soll, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Walter T. Cooper, der gutgelaunte Fahrer, gibt sich alle Mü- he, seinen Passagieren die Reise über die eintönige Interstate-Fernstraße durch endlose Maisfelder und Wälder so ange- nehm wie möglich zu machen. Stets drückt er etwas mehr aufs Gas, als die Polizei erlaubt. So kann er beim „Road Runner“, einem Straßenrestau- rant nahe Sulphur Springs, sogar eine

Rast einlegen, die nicht im Fahrplan vor- BETTMANN ARCHIVE gesehen ist. Greyhound 1937: Typisch für Amerika wie Popcorn und Coca-Cola

72 DER SPIEGEL 30/1994 .

Bei den meisten US-Bürgern gilt der neulich wieder zu spüren. In Orlando Greyhound – zu Unrecht – als schmutzi- (Florida) war er mit Sonnenbrille und ges, nach Desinfektionsmitteln riechen- Baseballkappe in einen Greyhound ge- des Überbleibsel aus einer fernen Zeit. stiegen, um unerkannt den Service zu Verstärkt wird das schlechte Bild, weil testen. die oft heruntergekommenen Busbahn- Zur großen Freude des Chefs war der höfe in den meisten Städten gerade dort Bus sogar pünktlich. Doch plötzlich liegen, wo die Kriminalität am größten stoppten zwei finster dreinblickende ist. Sheriffs den Bus auf offener Straße, um An der verstaubten Busstation des in aller Ruhe Fahrgäste und Gepäck- Städtchens Forrest City in Arkansas stücke nach Waffen und Drogen zu prahlt ein Werbeplakat mit einem durchsuchen. Die Ankunft wurde um ei- schnittig fotografierten Greyhound und ne halbe Stunde verzögert. „Bei einer dem Spruch: „Amerikas Traummaschi- Fluggesellschaft hätten die das nie ge- ne“. Das Bild ist uralt. Die südliche wagt“, sagt Schmieder. Sonne hat es arg gebleicht, die Realität Fahrgäste wie Gladys Faley lassen sieht anders aus. sich vom schlechten Image der Busse Greyhound-Fahren gilt beim ameri- nicht irritieren. Die ältere Dame mit kanischen Mittelstand als suspekt. Der den rotgefärbten Haaren kann sich Rei- FOTOS: T. GLASGOW Verkehrsmittel der Armen geworden

Küste zu Küste zum Schleuderpreis von 68 Dollar anzubieten. Einst stand der Greyhound für ein mo- dernes Amerika. Als die Vereinigten Staaten ins automobile Zeitalter aufbra- chen, wurde die Firma von dem schwedi- schen Einwanderer Carl Eric Wickman gegründet. Er fuhr zunächst von 1914 an in Minnesota für 15 Cent Bergarbeiter an ihren Arbeitsplatz. Aus Wickmans kleinem Berufsverkehr wurde ein wichtiges Verkehrsmittel. Der Greyhound erstreckte sein Netz über die Passagiere April, Randolph Carnevale: „Es wäre gut, wenn man eine Decke hätte“ gesamten USA und wurde zum Synonym für Reisen und Fernweh. Bus ist Verkehrsmittel der Armen ge- sen ohne den Geruch von Dieselabga- Hollywood griff auf den Bus zurück, worden. Um das miserable Image zu he- sen gar nicht vorstellen. „Ich fahre nur wenn ein zeitgemäßes Symbol für die ben, würde Frank Schmieder den Grey- Bus“, erklärt Gladys kategorisch. Sehnsucht nach der weiten Welt ge- hound am liebsten zu einer Art Flug- Sie schätzt die menschlichen Begeg- braucht wurde. Greyhound war so ty- zeug auf Rädern machen. Er denkt zum nungen im Bus. Pensionierte Professo- pisch für Amerika wie Popcorn, und der Beispiel darüber nach, täglich zwischen ren und Anwälte habe sie schon ken- rennende Hund wurde ein allseits be- Washington und New York einen Bus nengelernt, auch Börsenmakler hätte kanntes Markenzeichen wie Coca-Cola, für Geschäftsreisende einzusetzen. „Mit sie schon getroffen, „nur leider, leider Kodak oder Exxon. Frühstück, Zeitungen und CNN. Das noch keinen Arzt“. Doch die schönen Zeiten sind vorbei. wäre doch toll.“ Richard Keller kann die Begeiste- Mühsam versucht Frank Schmieder, der Im Geschäftsbericht der Aktiengesell- rung seiner Mitreisenden nicht teilen. 1991 das Steuer in der Firmenzentrale schaft, der aus Kostengründen in einfa- Er schaut mürrisch drein, als der Bus von Dallas übernahm, das Unternehmen chem Schwarzweiß gehalten werden kurz vor Dallas in einem dichten Auto- wieder in Schwung zu bringen. mußte, ist ein Busfahrer mit Dienstmüt- stau der Rush-hour steckenbleibt. Der Im ländlichen Westen, wo in den bei- ze so geschickt abgelichtet, als schaue junge Mann mit dem kurzen blonden den dünnbesiedelten Dakotas, in Ne- ein Pilot aus der Kanzel einer Boeing Haar und dem löchrigen T-Shirt verrät braska, Wyoming oder Montana die Ent- 737. Ständig vergleicht der eifrige Grey- auf den ersten Blick, daß er den Bus fernungen besonders groß sind und kaum hound-Chef seine Busgesellschaft mit für seine über tausend Meilen von Co- noch ein Mensch ohne eigenes Auto ist, den Fluglinien. lumbus in Ohio nach Austin in Texas muß Schmieder ständig alte Greyhound- „Keine Airline hat ein so dichtes nur bestieg, weil er kein Geld für ein Routen aus dem Fahrplan streichen. Die Streckennetz wie wir“, sagt Schmieder. Flugticket hat. Zahl der Busse hat er mittlerweile auf Oder er rechnet penibel vor, wie billig Keller hofft, in Austin mit Hilfe sei- 1500 reduziert. 1988 hatte die Firma noch der Greyhound rollt. „Bei uns kostet ei- nes Onkels endlich einen Job zu finden. 4000 der großen dreiachsigen Überland- ne Meile 4,58 Cent. Im Flugzeug kostet Und dann ist für ihn der Grey- brummer, die sieeinst sogar in einer eige- sie 7,2 Cent.“ hound Vergangenheit: „Sobald ich gu- nen Fabrik baute. Auch das Personal Doch wie weit Himmel und Erde aus- tes Geld verdiene, werde ich nur noch wurde drastisch verringert. einander liegen, bekam Schmieder erst fliegen.“ Y

DER SPIEGEL 30/1994 73 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . J. M. GIBOUX / LIAISON / GAMMA / STUDIO X Verhaltenstherapie für Angstpatienten, Gruppentherapie gegen sexuelle Störungen, Bewegungstherapie in psychiatrischer DAS DASEIN WIRD SEZIERT Die Kritik an der Psychotherapie wächst: Neue Untersuchungen belegen mangelnde oder fehlende Wirksamkeit der meisten Methoden. Vor dem dritten Weltkongreß der Branche, der in dieser Woche in Hamburg beginnt, fordern Experten die Umwandlung der Seelen-Zunft in ein effizientes Dienstleistungsgewerbe.

er Bonner Lehrer Horst, 36, rea- gen Therapeuten zu finden, ist Glückssa- linguistische Programmieren“, welches giert auf Streß in der Schule mit che; wer Heilung sucht, irrt in einem die kranke Psyche mit einem Computer- Dschweren Darmkoliken. „Psycho- Dschungel von Hilfsangeboten herum. programm vergleicht, das umgeschrie- somatisch“, sagen die Ärzte. Die Dok- Seit Sigmund Freud Anfang des Jahrhun- ben werden muß, und indianische toren empfehlen ihm eine psychothera- derts die Psychoanalyse begründete, ha- Schwitzhüttenseminare im Wendland, peutische Behandlung. Welche sinnvoll ben sich rund 700Analyse- und Therapie- die Körper und verwirrte Seele wieder in sein könnte, ist Horst unklar. formen entwickelt, seriöse und, vor al- Einklang miteinander bringen sollen. Schließlich gerät er an einen Thera- lem, fragwürdige. Gaukler versprechen Erleichterung peuten, der ihm tiefenpsychologische Rund 9000 ausgebildete Therapeuten durch Handauflegen (Reiki) oder Duft- Gruppensitzungen anbietet. Da wird allein in den alten Bundesländern und schnüffeln, durch Feuerlaufen, dubiose viel über Kindheit, Eltern, Geschwister, Tausende von selbsternannten Heilern Sex-Therapien oder schlichtes Yoga. Frauengeschichten geredet – über bieten ihre Dienste an. Über 7000 Plätze Und Therapeut darf sich, weil die Berufs- Horsts Darmkoliken und seinen Berufs- für stationäre psychotherapeutische Be- bezeichnung bislang nicht geschützt ist, streß nie. handlung gibt es in der Bundesrepublik – jeder nennen. Weil er die Behandlung abbrechen mehr als in der gesamten restlichen Welt Ins Gerede gekommen sind auch Fort- will, setzt ihn der Therapeut unter zusammen. entwicklungen der klassischen Psycho- Druck: Wenn er die Gruppe einfach Der Berg der Psychopharmaka – vom analyse, die seelische Leiden ausschließ- verlasse, müsse er einen Ersatzteilneh- Ruhigsteller Valium bis zum Stimulans lich auf Ereignisse in der Vergangenheit, mer stellen oder weiterbezahlen. Horst Captagon –, die im vergangenen Jahr für meist der frühen Kindheit, zurückführt. läßt sich einschüchtern und steigt erst rund 1,6 Milliarden Mark verschrieben In den USA laufen derzeit Prozesse ge- nach zwei Jahren aus. „Vertane Zeit“, wurden, reicht aus, um die Bevölkerung gen Analytiker, deren Patienten nach sagt er. Seine Koliken verschwinden einer Großstadt auf Monate ins dauer- bohrenden Suggestivfragen Verwandte nach einer Hypnosebehandlung, die er grinsende Koma zu schicken. des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt hat- bei einem Heilpraktiker macht. In den Regalen des Psychosuper- ten – die Helfer hatten den Hilfesuchen- Horsts Fall ist typisch für Menschen markts werden wissenschaftlich klingen- den offenbar die angeblichen Delikte ein- mit psychischen Problemen: Den richti- de Methoden angeboten wie das „neuro- geredet.

76 DER SPIEGEL 30/1994 .

TITEL N. IGNATIEV / NETWORK / FOCUS Klinik: „Wer die Psychologie liebt, hat oft Anlaß, sich der Psychotherapie zu schämen“ M. KOENE / TRANSGLOBE

Auch Therapieformen, deren Kosten über, daß siederen Wirkungsmöglichkei- te Bundesbürger wird einmal im Leben von Krankenkassen übernommen wer- ten extrem gering einschätzen: „An die psychisch krank, jeder vierte beklagt, re- den und deren Anwender eine Ausbil- tiefsten Schichten menschlicher Gefühle präsentativen Studien zufolge, Störun- dung durchlaufen haben müssen, garan- wie Leidenschaft, sexuelle Triebe, Rache gen, die behandlungsbedürftig sind. tieren noch lange keinen Erfolg. Mal oder Eifersucht reicht Psychotherapie Dazu kommen noch Hunderttausende stimmt die Diagnose nicht, mal wird das kaum heran.“ von Menschen, die sich mit nichtklini- falsche Verfahren angewandt, mal taugt Daß das Leistungsvermögen von The- schen Beeinträchtigungen wie Bezie- der Therapeut nichts – und selbst, wenn rapeuten und Analytikern so vage einge- hungsstörungen, Unsicherheitsgefühlen, alles stimmt, kann der Heiler noch daran schätzt wird, liegt auch daran, daß sich aber auch so diffusen Symptomen wie scheitern, daß der Patient nicht thera- der Gegenstand dieser Zunft bis heute „Unausgeglichenheit“ oder „Sinnleere“ pierbar ist. wissenschaftlicher Erkundung weitge- in therapeutische Beratung begeben. Manche Psychotherapeuten, wie der hend entzieht: die menschliche Seele. Nur: Was leistet Psychotherapie? Wie Amerikaner James Hillman, stehen ihrer Läßt sich überhaupt behandeln, was so ist die Arbeit von Therapeuten zu mes- Profession mittlerweile so kritisch gegen- schwer dingfest zu machen ist? Wo genau sen? Was unterscheidet die Gaukler von verlaufen die Grenzen zwi- den Heilern? Und wer muß überhaupt schen Gesunden und Kran- zum Therapeuten? ken, zwischen schweren Die Grenzen zwischen jenen, die Hei- Psychosen und Schüchtern- lung eines klar definierbaren Leidens be- heit, zwischen Depression nötigen, und jenen, die Lebenssinn und und Traurigkeit, zwischen Glück suchen oder mitStreß und Frust im psychosomatischen Magen- Alltag nicht klarkommen, sind fließend. schmerzen und Bauchweh? Es gibt Menschen, die regelmäßig un- Wo ist der therapeuti- ter depressiven Schüben leiden, sie aber sche Hebel anzusetzen, ohne fremde Hilfe bewältigen. Und es wenn kein Beinbruch vor- gibt Menschen, die schon beim kleinsten liegt, sondern ein Nerven- Karriereknick oder Beziehungsknatsch zusammenbruch oder ein professionelle Hilfe suchen. Anderer- gebrochenes Herz? Wie seits verhindern auch 33 Jahre Behand- kann der Heilungsverlauf lung, wiesieder New Yorker Stadtneuro- einer Psychotherapie ohne tiker Woody Allen erfuhr, nicht, daß je- naturwissenschaftlich be- mand mit der Adoptivtochter seiner Frau gründbare Verfahren be- eine Affäre beginnt. wertet werden? Zweifel an der eigenen Leistungsfähig- Sicher ist lediglich, daß keit werden auch über dem Weltkongreß vor allem in hochindustria- der Psychotherapeuten liegen, der am

H. BRÖDLER lisierten Staaten viele Men- Mittwoch dieser Woche in Hamburg be- Behandlungscouch von Sigmund Freud schen unter seelischen Pro- ginnt. Auf der nach 1985 und 1990 dritten Alleinige Regentschaft über die Psyche blemen leiden. Jeder zwei- Veranstaltung zur „Evolution der Psy-

DER SPIEGEL 30/1994 77 Werbeseite

Werbeseite .

chotherapie“, von be- Die einzigen Thera- geisterten Kritikern pien, denen Grawe schon mal als „Wood- und sein Team nachge- stock“ der Seelenkun- wiesene Erfolge zubil- de bezeichnet, wollen ligen, sind die Verhal- die über 5000 Teilneh- tens- und Gesprächs- mer und ihr Fachpubli- therapien und – mit kum demonstrieren, Abstrichen – die Ge- welchen gesellschaftli- stalttherapie und die chen Stellenwert die klassische Psychoana- Zunft hat – alle Aus- lyse (siehe Grafik). wüchse eingeschlossen. Die Analyse sei vor al- Neben Podiumsver- lem wegen ihrer meist anstaltungen und langen Dauer proble- Workshops werden kli- matisch und könne bei nische Demonstratio- längst nicht allen Stö- nen angeboten, zum rungen, auf die sie an- Beispiel die Arbeit mit gewendet wird, Wirk- einem stark depressi- samkeit nachweisen. ven Klienten – „live“, Was Grawe meint,

wie das Programmheft P. FUSCO / MAGNUM / FOCUS hat die Kölner Studen- stolz verkündet. Auch Feuerläufer: Gute Geschäfte mit kranken Seelen tin Elisabeth erlebt. Traumdeutung nach C. Mit 22 Jahren beschloß G. Jung (ebenfalls live) steht auf dem „Zwischen Nachfrage und Kompe- sie, eine Therapie zu machen. Die Grün- Veranstaltungsplan, des weiteren Vi- tenz klafft eine Lücke, die inzwischen so de: Sie war depressiv, antriebsschwach, deovorführungen zur Behandlung vor- groß ist, daß selbst Mitglieder der The- an der Uni überfordert, und sie hatte zeitiger Ejakulationen. rapeuten-Zunft ihre Kritik nicht mehr Schlafstörungen. Nach drei Jahren Psy- Trotz aller Show: Der österreichische nur in Insider-Zirkeln äußern“, kom- choanalyse mit zwei Einzelsitzungen pro Therapeut und Philosoph Paul Watzla- mentiert Grawe. Woche (Stundenpreis: 120 Mark), fühlte wick, einer der Stars des Kongresses, er- Wie ein Rundumschlag wirken die Er- sie sich nicht im geringsten besser. „Wie hofft sich ein Ende des jahrzehntealten gebnisse der Untersuchung, die alther- kommt das?“ fragte sie ihren Analytiker. Streits zwischen Psychoanalytikern und gebrachte Methoden genausowenig Der sah sie stirnrunzelnd an und meinte: Psychotherapeuten. Entscheidend sei schont wie neueste Trends: Grawe „Bei manchen Patienten dauert es eben nicht mehr der „alte Unsinn der dogma- spricht Logotherapie, Primärtherapie, etwas länger.“ Rebirthing, Neurolinguistischem Pro- Nachdem Elisabeth vier Jahre lang in grammieren und der Therapie nach dem Behandlung war, wollte ihre Kranken- „Sie sind ein Freud-Schüler C. G. Jung mangels kasse die Kosten nicht mehr überneh- hoffnungsloser Fall“, Wirksamkeitsbeweises schlichtweg jede men. Die Studentin bezahlte ihren Ana- wissenschaftliche Fundiertheit ab. lytikerein weiteresJahr, dannerklärte sie sagte der Therapeut Auch modischen Methoden wie ihm, siewolle die Therapie beenden –aus Kunst-, Musik- und Tanztherapie sowie finanziellen Gründen, aber auch, weil tischen Schulen“, sondern nur die Frage, dem Psychodrama stellt die Berner Stu- sich ihr Zustand in fünf Jahren kaum ge- welche Technik Erfolge bringe (siehe In- die ein mehr als mangelhaftes Zeugnis bessert hatte. „Sie sind ein hoffnungslo- terview Seite 88). aus. ser Fall“, sagte ihr Therapeut. „Sie sind Nicht nur Watzlawick fordert eine längst überfällige Kursänderung. Über- all wächst das Unbehagen an gelernten Die wichtigsten Psychotherapien und selbsternannten Seelenheilern. „Wer die Psychologie liebt, hat oft An- VERHALTENSTHERAPIE PSYCHOANALYSE laß, sich der Psychotherapie zu schä- Bei dieser Methode, auch Auf der Basis der von Freud entwickelten Ur- men.“ Mit diesem Satz beginnt ein Buch, als „kognitiv-behaviorale Form der Psychotherapie haben sich mittler- das seit kurzem in Fachkreisen für Auf- Therapie“ bezeichnet, hängt weile viele Analyseverfahren entwickelt. Ge- regung sorgt. „Psychotherapie im Wan- der Erfolg vom Handeln des meinsam ist allen die Suche nach den ver- del“ heißt das Werk des Berner Universi- Patienten ab. In praktischen meintlich wahren Gründen der psychischen tätsprofessors Klaus Grawe, und die Un- Übungen werden die für den Störung – durch lange Gespräche, die mei- terzeile verrät, wohin Grawe die Bran- Klienten problematischen Si- stens tief in die Lebensgeschichte des Patien- che lenken möchte: „Von der Konfessi- tuationen (Ängste, Zwänge, ten hineingehen. on zur Profession“*. Die knapp 900 Seiten starke Studie, Eß- und Beziehungsstörun- die Grawe mit rund einem Dutzend Mit- gen) nachgestellt. Durch GESTALTTHERAPIE einfache Handlungsschritte arbeiter in 13jähriger akribischer Arbeit Wird häufig bei psychosomatischen Störungen zusammengetragen hat, ist die bislang sollen die Probleme gelöst werden. angewandt. Gefördert werden soll der sponta- größte wissenschaftliche Untersuchung ne Ausdruck von Gefühlen, meistens durch über die Erfolgsaussichten der wichtig- Übungen und/oder Rollenspiele. sten Therapiemethoden – mit verheeren- GESPRÄCHSTHERAPIE den Resultaten für etliche von ihnen. In Gruppen- oder Einzelsitzungen soll der Patient dazu angeregt werden, die Ursachen seiner Probleme selbst zu erkennen. Gilt als besonders gut geeignet bei neurotischen * Klaus Grawe, Ruth Donati, Friedericke Bernau- Störungen und in Verbindung mit verhaltenstherapeutischen Verfahren. er: „Psychotherapie im Wandel“. Hogrefe Verlag, Göttingen; 888 Seiten; 98 Mark.

DER SPIEGEL 30/1994 79 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

TITEL

verkorkst, Ihr Leben ist verkorkst, und Scharlatane hereinfallen, hat wohl blockiert“) – ein jeder quatscht wie Hans wenn Sie Ihre Therapie bei mir abbre- auch mit der epidemisch um sich grei- Meiser. chen, werden Siesich binnen eines Jahres fenden Psychologisierung der Gesell- Der nachmittägliche Exhibitionisten- umbringen.“ Mit dieser Prognose, die schaft zu tun. Längst hat die Psycholo- treff des RTL-Seelenmasters spiegelt wi- Elisabeth wie eine Verwünschung vor- gie – die „Wissenschaft von den Er- der, wie unter dem Deckmantel vorgeb- kam, entließ er sie. scheinungen und Zuständen des be- licher Erkenntnisse scham- und hem- Die junge Frau brachte sich nicht um, wußten und unbewußten Seelenlebens“ mungslos mit menschlichen Problemen sondern begab sich nach einer Pause inei- (Duden) – den Alltag durchdrungen. hantiert wird: Ein paar spektakuläre ne Gestalttherapie. Dort erreichte sie in Denn mit jeder neuen Methode, mit Ängste, ein paar dekorative Neurosen, eineinhalb Jahren, was die Psychoanaly- jeder frisch diagnostizierten Neurose ein bißchen Werbung, ein medienhungri- se nicht vermocht hatte: Sie wurde An- wächst für den so bombardierten Otto ger Psychologe als Experte – fertig ist die triebsschwäche und Depressionen los Normalmenschen das Gefühl der eige- kurzweilige Gefühlsobduktion für die und schloß ihr Studium ohne Probleme nen Unzulänglichkeit. Was jahrtausen- Einschaltquote. ab. Heute glaubt sie, daß ihr erster Thera- Kein Gewerbeaufsichtsamt, keine peut vor allem eins wollte: ihr Geld. Selbstkontrolle, keine Landesmedienan- Bei vielen Vertretern der Zunft ist Der Terror der stalt schreitet ein – obgleich sie es nach kaum noch auszumachen, ob es ihnen Normalität läßt keine objektiven Kriterien eigentlich müßten. mehr ums Helfen oder ums Honorar Was Meiser und Co. betreiben, istAuf- geht. Seit sich herausgestellt hat, daß mit Abweichungen zu klärung im schlechtesten Sinne: Nach je- kranken Seelen gute Geschäfte zu ma- der Sendung melden sich Hunderte von chen sind, hat eine Inflation von Metho- delang wie selbstverständlich zum Da- vermeintlich Gestörten, nicht nur beim den eingesetzt, lassen sich Hinz und Kunz sein gehörte, ob gelegentliche Angst Sender: „Ich muß nur ins Fernsehpro- von ungezählten privaten „Instituten“ zu oder schlechte Laune, wird nun auf gramm schauen“, sagt ein Berliner Psy- „Therapeuten“ ausbilden, tauchen auf der Couch und anderswo problemati- chotherapeut, „dann weiß ich schon, wer der Szene abenteuerliche Gestalten auf. siert, analysiert und schließlich seziert. im Wartezimmer sitzt.“ Ein Amerikaner namens Frank Farelly Wie ein riesiger Treppenhaus- Der Terror der sogenannten Normali- gelangte vor einigen Jahren zu Bargeld Klatsch hat sich das Gerede über tät istallumfassendund läßt keine Abwei- und einigem Ruhm, als er mit seiner Glück und Unglück, Depression und chungen zu. Ein vorgeschriebener Ideal- „Provokativen Therapie“ den Versuch Beziehungsstörungen, Körperverges- zustand namens Glück wird zur Pflicht. startete, gesunden Menschenverstand als senheit und seelische Abgründe auf die Wenn es um die Psyche geht, sind die teure Heilmethode zu verkaufen. westliche Welt gelegt. Keine Zeitung westlichen Industriegesellschaften, die Farelly ging so vor: Eine 35jährige ohne Psychoberatung, keine TV-Serie freiesten Gesellschaften seit Menschen- Frau, jugendliche Ausstrahlung, attrak- ohne Seelenkrise, kaum ein Gespräch gedenken, diereinsten Gleichschaltungs- tiv, klagt über Probleme mit Männern unter Freunden ohne ein paar ver- regime: Schüchtern, sensibel, faul, pessi- und Partnerbeziehungen und sucht die meintliche Fachbrocken („Du bist total mistisch, beziehungsgestört, verschlos- Schuld bei sich selbst. Dar- sen, ehrgeizig, oberflächlich, grüblerisch auf der Therapeut: „Das ist – diese und noch ein paar tausend Facet- ja auch kein Wunder, bei so ten menschlichen Daseins mehr gehören einer schlampigen, altern- therapiert. den Matrone, wie Sie es Die Forderung, sich und seine Umge- sind.“ bung perfekt zubeherrschen, ein funktio- Die negative Ansprache, nierendes, stromlinienförmiges „interak- die den Blick des Patienten tives Individuum“ mit Seele nach Maß zu auf die wahre Situation len- sein, diskreditiert jede Abweichung als ken sollte, bewährte sich ei- Schwäche. Die Glücksansprüche wach- nige Zeit vor allem in den sen, die Bereitschaft Frustrationen zu er- schicken Kreisen von New tragen, sinkt. Viele Menschen schieben York und Los Angeles, bis die Verantwortung für Problembewälti- die Patientenbeschimpfung gung und Sinnfindung jedem anderen, mangels Originalität und nur nicht sich selbst zu. Wirksamkeit wieder außer Der eigentliche Fortschritt, die Be- Mode kam. wußtwerdung und Behandlung von seeli- In anderen Therapien schen Problemen ist verkommen zu einer geht es bisweilen richtig ge- massenhaften Übertherapeutisierung fährlich zu. So starb vor ei- vor allem der wohlhabenderen Schich- nigen Monaten ein 31jähri- ten. Professionelle Heiler übernehmen in ger Schweizer bei einer Ur- der kühlen Single-Gesellschaft die einst schrei-Therapie – er war von Verwandten oder Freunden versehe- über längere Zeit mit dem ne Funktion des Trösters. In den USA Gesicht nach unten gegen werben Therapeuten denn auch mit dem eine Matratze gedrückt Slogan „rent-a-friend“, miete einen worden. In Berlin erstickte Freund. ein Patient, nachdem er in Oft jahrelang dauernde Therapien einen Teppich eingerollt schaffen Ersatzwelten und produzieren worden war – zur Herstel- erst dadurch wirkliche Probleme in der lung eines primären Ge- Konfrontation mit der Realität. fühls „intrauterinen Einge- Dabei wollte selbst Sigmund Freud, engtseins“. Vater aller Analyse, seinen Patienten le-

Daß Menschen mit Pro- ACTION PRESS diglich erklären, daß ihr individuelles blemen auf Gaukler und Sex-Therapie: Glück wird zur Pflicht Elend ein kleiner Teil des allgemeinen

82 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite .

TITEL

Unglücks der Menschheit sei. Die Psyche galt als Neuentdeckung, als Freud 1899 seine „Traumdeutung“ veröffentlichte. Die bürgerliche Gesellschaft war ge- schockt: Der vernunftbegabte Mensch sollte plötzlich von Trieben bestimmt sein, die vergraben seien in einem unbe- kannten Reich namens Unbewußtes. Um psychische Störungen zu beheben, so be- hauptete der Wiener Seelendoktor, gelte es, seelische Verknotungen, die in der Kindheit entstanden sind, aufzuspüren und zu entwirren. Damit hatte Freud ein Gedankenge- bäude errichtet, das den Psychoanalyti- kern für vier Jahrzehnte die alleinige Re- gentschaft über die Psyche sichern sollte. Zwar waren sie schon bald aufgesplittert in viele verfeindete Schulen, doch alle wurzelten sie bei Urvater Freud. Abtrünnige vom Freudschen Grund-

gedanken vermehrten sich erst, nachdem M. WÖLP / VISUM die Psycho-Zunft in den dreißiger Jahren Reiki-Therapie: Heilung durch Handauflegen? fast geschlossen vor den Nazis ins Aus- land geflohen war. Vor allem in den USA hen worden war. Statt dessen bot sie in ei- „Wie es jetzt aussieht“, sagt Weldon, trafen die Psycho-Doktoren auf eine ner immer individualistischeren Gesell- „hat der Partner, der durch die Gehirn- pragmatische Gesellschaft, in der bald je- schaft jedem seinen eigenen Trip ins Ich. wäsche eines Therapeuten seinen Ge- de Form der Seelenzergliederung blühte. Alle Schuld der Therapie? So einfach liebten verlor, keine Chance, ihn zu- In den sechziger Jahren begann dann ist die Sache nicht. Der Psychomarkt rea- rückzukriegen.“ Andere Berufsgruppen der Re-Import der Ware Psychotherapie. giert in erster Linie auf Bedürfnisse und seien durch Gesetze dazu gezwungen, Freud war neben Marx zum Heiligen der Probleme, die in den Überfluß- und Lei- verantwortlich zu handeln, „das muß Studentenbewegung geworden. In Kom- stungsgesellschaften massenhaft fabri- auch für Therapeuten gelten“. munen, bei endlosen Diskussionen über ziert werden. Was die Patientin fordert, deckt sich verfahrene Beziehungskisten, galt die Wie irrwitzig der Glücksanspruch der mit den Vorstellungen von Psychothera- Psychologie als Befreiungswissenschaft: Ego-Gesellschaft einerseits und die Mög- pie-Forschern wie Grawe. Sie machen Der Weg ins Ich sollte zur Emanzipation lichkeiten der Psychotherapie anderer- sich daran, die Branche nach objektiven seits auseinanderklaf- Kriterien auf ihre Wirksamkeit hin zu fen, ergibt sich aus der überprüfen. Erfolgsbilanz der Bran- Das wird nicht nur Schwindelmetho- che. Sie ist – abgesehen den treffen, sondern vor allem die Psy- von ein paar bemer- choanalyse. Die ist zwar noch immer die kenswerten Resultaten bekannteste Methode zur Behandlung in bestimmten Berei- psychischer Probleme, doch sie entzieht chen – mehr als beschei- sich jeder Erfolgskontrolle. den. Auf fast allen Lehrstühlen für Psycho- Doch bis heute gilt somatik und Psychotherapie sitzen in die Psychotherapie als Deutschland ausgerechnet Analytiker – nahezu unangreifbar. und damit Vertreter jener Profession, Mißerfolge werden im die, wie der Rheinische Merkur schrieb, Fachkauderwelsch ent- „nicht nur aus Patientensicht falsch am schuldigt oder als Folge Platze sind“. von Patientenwiderstän- Dieses strikt elitäre System ist quasi den abgetan. Zwar er- autark und kann seine Machtstrukturen wägen Verbraucher- durch die Ausbildung des eigenen Nach-

U. HILTPOLD INTER-TOPICS schutzverbände die Ein- wuchses ständig festigen. Der wiederum Therapie-Kritiker Grawe, Weldon: Schlag gegen die Zunft führung strenger Quali- hat – zur Wahrung von Pfründen oder tätskontrollen durch un- aus ideologischen Motiven – kaum In- führen und die Fesseln der repressiven abhängige Gutachter. Doch diese Grup- teresse an einer Weiterentwicklung sei- Gesellschaft sprengen. pen haben gegen die festgefügte Lobby ner Theorie. Statt dessen doktert die Der Siegeszug der Seelenärzte in Eu- des hermetisch abgegrenzten Berufs- quasi-religiöse Vereinigung der Analyti- ropa hatte begonnen. Dabei erschloß ih- stands der ärztlichen Therapeuten wenig ker weiter mit dem Instrumentarium des nen die Psychosomatik auch das weite Möglichkeiten. 19. Jahrhunderts an den Zeitkrankhei- Feld körperlicher Leiden. Sogar in der Initiativen wie in England, wo sich un- ten von heute herum. Psychiatrie, bisher alleiniges Terrain der ter Führung der Schriftstellerin Fay Wel- Der Analytiker Johannes Cremerius Mediziner, trafen psychoanalytische don geschädigte Patienten zusammenge- kritisiert als einer von wenigen seiner Ideen auf Widerhall. schlossen haben, gibt es hierzulande noch Schule die Folgen: Die Mehrzahl der Vor allem aber triumphierte die Psy- nicht. Die Autorin nahm ihre eigene The- jungen Analytiker seien „Normopa- chologie im Alltag. Bald hatte sie sich rapie, welche die Trennung von ihrem then“, Menschen, die so angepaßt sind, des politischen Beiwerks entledigt, mit Freund ausgelöst hatte, zum Anlaß, den daß sie die für diesen Beruf nötigen dem sie von der 68er Bewegung verse- Gesetzgeber zum Handeln aufzufordern. Eigenschaften wie Empfindsamkeit,

84 DER SPIEGEL 30/1994 .

Wachheit und auch eigene Erfahrung mit nehmigten Behandlungsverfahren und Einen Mißstand der psychischen Ver- menschlichem Leiden nicht haben. läßt neben Medizinern und Psychoana- sorgung wird das neue Gesetz nicht behe- „Die Psychoanalyse hat in Deutsch- lytikern auch Diplompsychologen mit ben können: Die in ihm festgeschriebene land über Jahrzehnte eine Ausgrenzungs- einer Zusatzausbildung zu. Die konnten Beteiligung von 25 Prozent, die der Pa- politik gegenüber anderen Psychothera- bisher nur Patienten, die nach Überwei- tient selber tragen muß, macht die Psy- pie-Schulen betrieben“, meint Winfried sung eines Arztes zu ihnen gekommen chotherapie noch stärker zum Heilungs- Rief, Lehrbeauftragter an der Universi- waren, bei der Kasse abrechnen. monopol für wohlhabende Schichten. So- tät Salzburg. Obwohl Erfolge längst be- Gegen diese Bedrohung alter Besitz- zial Schwächere, bei denen konkrete Hil- wiesen seien, stritten die Analytiker noch stände kämpfen Ärzte und klassische fe–schon vorbeugend–angebrachtwäre, immer die Wirksamkeit von Gesprächs- Analytiker, seit der erste Entwurf des werden weiter ausgeschlossen. oder Verhaltenstherapien ab. Gesetzes vorliegt. Die Mediziner behar- Echte Hilfe nur für Reiche? Oder Die Grawe-Studie hingegen beschei- ren nach wie vor auf einer Kontrolle schwer Gestörte, für die eine Therapie nigt vor allem verhaltenstherapeutischen therapeutischer Behandlungen der Psy- fast zu spät kommt? Sind die Symptome Ansätzen die besten Resultate. Das sind: chologen. Die Analytiker, die für ihre schon die Krankheit? Die Psychothera- i Reizkonfrontationen: Bei Ängsten jahrelange Ausbildung oft 100 000 und pie als medizinische Technik ähnlich ei- und Zwängen werden Patienten ihren ner Blinddarmoperation zu behandeln, Problemen gezielt ausgesetzt; wer bei- das verbietet sich angesichts der unzurei- spielsweise unter Platzangst leidet, Werden Billig-Therapien chenden Erkenntnisse über die Seele. wird von Therapeuten Schritt für den Psychomarkt Auch die Grawe-Studie kommt, bei al- Schritt auf immer größere Plätze ge- lem Bemühen um Objektivität, an dieser führt, bis er die Situation allein durch- überschwemmen? Problematik nicht vorbei. steht. Glück auf Rezept, aus dem Katalog? i Kognitive Therapie: Bei Depressionen mehr Mark hinlegen mußten, befürchten Nicht alles, was von der Psychotherapie und Ängsten werden dem Patienten Einkommensrückgänge um 30bis 50Pro- verlangt wird, kann sie erfüllen. Nicht al- andere Betrachtungsweisen seiner Si- zent und malen eifrig am Schreckenssze- les, was als „wissenschaftlich nicht wirk- tuation vermittelt – das Glas ist halb nario von „Billig-Therapien“, die den sam“ kategorisiert und belächelt wird, ist voll statt halb leer –, um ihm Einsicht Psychomarkt überschwemmen würden. sinnlos. Vielen nützt es schon, wenn sie und Kompetenz zur Selbsthilfe zu ge- Das Gegenteil sei richtig, entgegnen nur ein bißchen näher zu sich selbst kom- ben. die Befürworter, Konkurrenz belebe das men oder jemanden finden, der ihnen zu- i Training sozialer Fähigkeiten: Störun- Geschäft, nicht das billigste, sondern das hört – noch immer ist der Mensch das gen des zwischenmenschlichen Ver- beste Angebot werde sich durchsetzen. wichtigste Element in der Seelenkunde. haltens werden durch Gruppenthera- Weil die Krankenkassen künftig weniger Denn einzig der Patient kann sagen, ob pie und Rollenspiele behandelt. Geld für Therapien bewilligen, wachse eine Therapie geholfen hat, wirkungslos i Sexualtherapie: Potenz- und Orgas- der Erfolgszwang der Therapeuten. Be- oder schädlich war. Er allein muß ent- musstörungen sollen durch Partnerge- handlungen, die nichts taugen, sortiere scheiden, was das Leben für ihn ist: Eine spräche und Körperübungen geheilt der Markt dann aus. Bislang, so der Salz- „Kette der Demütigungen“ (Botho werden. burger Rief, hätten viele Patienten Strauß)? Ein immer und immer wieder Sie alle zeichnen sich durch kurze Be- schlichtund einfachkeineChance,diebe- von einer Bergspitze herabrollender handlungszeiten, hohe Effizienz (für etli- ste Behandlung zu bekommen. Künftig Felsbrocken (Camus)? Eine „See voll che Störungsbereiche circa 75 Prozent gebe es mehr und offenere Alternativen. Plagen“ (Shakespeare)? Erfolgsquote)und aktive Beteiligung von Das fordert einen für Patienten trans- Oder vielleicht doch nur ein Platz, wie Patienten bei nachvollziehbaren Hand- parenten Markt. Jene Therapeuten, ihn Woody Allen in seinem Buch „Ne- lungsschritten aus. „denen dieeigene Sinnfindung und finan- benwirkungen“ beschrieben hat: „Clo- Die Kritiker desalten Systems träumen zielle Absicherung mehr am Herzen liegt quet haßte die Wirklichkeit, aber er sah von einer „Allgemeinen Psychotherapie“ als das Wohl der Patienten“ (Grawe), ha- ein, daß es die einzige Gegend war, wo (Grawe), die seelische Heilungen wie ei- ben es dann wohl schwerer. man ein gutes Steak bekommen konnte.“ ne Dienstleistung mit klar definierten Qualitätskriterien anbietet, welche ob- jektiv und daher kontrollierbar sind. Zu diesem „Service“ gehören eine Art Checkliste für Diagnosen und ihnen zu- geordnete Therapien. Noch verhindern allerdings dogmati- sche Abgrenzungen zwischen den einzel- nen Methoden den Schritt vom Plan zur Praxis. Wer mit Angststörungen bei ei- nem Analytiker landet, weil ihn sein Hausarzt dorthin verschrieben hat, wird auf Gedeih und Verderb per Analyse be- handelt – oft jahrelang vergebens. „Nicht Wissen, sondern Glauben bestimmt heu- te noch das Handeln vieler Therapeu- ten“, resümiert Grawe. Doch das bereits seit Jahren für 1996 geplante Psychotherapeutengesetz, das Anfang Juni fürs erste im Bundesrat ge- scheitert ist, könnte viele zum – wenn auch unfreiwilligen – Einlenken bewe-

gen. Es bricht die Monopolstellung von J. SEMLER / VISUM Ärzten bei den von Krankenkassen ge- Yoga-Übung: Der Psychomarkt reagiert auf die Probleme der Überflußgesellschaft

DER SPIEGEL 30/1994 85 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite ..

TITEL „Es gibt keine Wahrheit“ Interview mit Paul Watzlawick über Psychotherapie, Zen-Buddhismus und die Sehnsucht nach Glück

SPIEGEL: Herr Watzlawick, werden SPIEGEL: Das hat Folgen für die Länge Das können viele Leute nicht akzeptie- sich auf dem Hamburger Weltkongreß der Therapie. ren. Ganz besonders im akademischen für Psychotherapie wieder mal die Psy- Watzlawick: Wir haben an unserem Milieu ist das so. cho-Ideologen streiten? Kurztherapie-Projekt hier in Palo Alto SPIEGEL: Hat denn die Psychoanalyse Watzlawick: Dieser Kongreß wird nicht ein Maximum von 10 Sitzungen. Na- ihre Berechtigung vollkommen verlo- dem Fehler verfallen, darzulegen, daß türlich kann man über diese Anzahl ren? es nur einen richtigen Ansatz zur Psy- hinausgehen, aber es ist mir vollkom- Watzlawick: Das Problem mit der Ana- chotherapie gibt – und daher alle ande- men klar: Was ich in 10 Sitzungen lyse ist: Wir können vom Menschen im- ren falsch sind. Das ist der alte Unsinn nicht erreichen kann, ist auch in 100 mer nur Annahmen haben, aber nie der dogmatischen Schulen. Endlose Sitzungen nicht zu erreichen. endgültige Wahrheiten. Die Philoso- Debatten und Zehntausende Seiten in SPIEGEL: Damit verärgern Sie alle phen sagen schon seit Jahrhunderten, Büchern werden damit vergeudet. Vertreter der klassischen Psychoanaly- daß wir unsere Wirklichkeit selbst kon- SPIEGEL: Die Abgrenzungen zwischen se, die oft jahrelang mit Klienten ar- struieren. Epiktet zum Beispiel stellte den Psychotherapie-Schulen sind ge- beiten. fest: „Es sind nicht die Dinge, die uns nauso starr wie eh und je. Da hat sich Watzlawick: Die sind sowieso verär- beunruhigen, sondern die Meinungen, wenig geändert. gert, denn wir leugnen ja deren die wir von den Dingen haben.“ Und Watzlawick: Darum ist dieser Kongreß Grundlagen. Wir müssen heute begrei- über Meinungen gibt es keine endgülti- ja so wichtig. Die Teilnehmer werden fen, daß die Aufgabe der Wissenschaft gen Wahrheiten. hoffentlich zu der Einsicht kommen, darin besteht, nützliche Verfahren für SPIEGEL: Wie ist denn für Sie das Sy- daß nicht die endgültige Wahrheit ent- spezifische Zwecke auszuarbeiten, die stem Mensch beeinflußbar? scheidend ist, sondern nur die Frage, dann in zehn Jahren – hoffentlich – Watzlawick: Wir behaupten nicht, wir wessen Technik Erfolge bringt. Was durch noch praktischere, bessere, er- wüßten, warum ein Mensch leidet, und wirkt, was funktioniert, womit kann folgreiche Ansätze abgelöst werden. wir versuchen auch nicht, einen anderen ich menschliches Leiden vermindern? SPIEGEL: Was sind für Sie die erfolg- versprechendsten Verfahren? Watzlawick: Das sind für mich die sy- stemisch-konstruktivistischen Metho- den, die ich selber favorisiere. Sie ba- sieren auf der Systemlehre, nach wel- cher der Patient kein unabhängiges In- dividuum ist, sondern ein System von Beziehungen. Wenn ich mit einem Ehepaar arbeite, ist für mich die Be- ziehung der beiden untereinander der „Patient“. Ich suche nicht nach Grün- den in der Vergangenheit, sondern un- tersuche die Situation im Hier und Jetzt. Für mich ist der akute Leidens- druck der Patienten maßgebend. SPIEGEL: Das ist eine Abkehr von Techniken, die Sie früher verwandt ha- ben. Watzlawick: Absolut, um 180 Grad. Im Gegensatz zum Beispiel zum Jungschen Analyseverfahren, dessen Ansatz sich auf die Vergangenheit konzentriert, und zwar nicht nur auf die persönliche Vergangenheit, sondern weiter in das

kollektive Unbewußte der Menschheit B. GUMPERT hinein, stehe ich heute an dem Punkt, wo ich mich frage: Was ist jetzt und Paul Watzlawick herausgeber einer Theorie über die hier das Problem? Ich leugne nicht, „Menschliche Kommunikation“ und daß diese Probleme ihre Ursachen in arbeitet seit 33 Jahren als Forscher mit seiner „Anleitung zum Unglücklich- der Vergangenheit haben. Aber ich und Psychotherapeut am Mental Re- sein“, einem Sachbuch, das sich al- frage, ob es notwendig ist, die Ursache search Institute in Palo Alto/Kalifor- lein in Deutschland über eine Million in der Vergangenheit zu begreifen, die nien. Der gebürtige Österreicher stu- Male verkaufte, wurde er weltweit be- Entwicklung dieser Problematik zu ver- dierte Philosophie und Sprachen und kannt. Watzlawick ist einer der Star- stehen und dann durch Einsicht in die ließ sich am C.-G.-Jung-Institut in Zü- Referenten beim Weltkongreß für Psy- Ursachen einen therapeutischen Wan- rich ausbilden. Watzlawick, 73, veröf- chotherapie, der diese Woche in Ham- del herbeizuführen. Davon bin ich voll- fentlichte bislang 15 Bücher. Als Mit- burg beginnt. kommen abgekommen.

88 DER SPIEGEL 30/1994 .

Menschen aus ihm zu machen. Für mich mie den Menschen determiniere. Und tun. Aber ich glaube, es trifft schon ist der Leidensdruck bestimmend. daß der ganze psychotherapeutische zu, was George Orwell sagte: „Men- Wenn jemand Flugangst hat, dann ist Ansatz nichts weiter als ein Aberglau- schen mit leeren Bäuchen verzweifeln das für mich der Ausgangspunkt. Wie es be sei. nicht am Universum – ja, sie denken dazu gekommen ist, ist im systemischen SPIEGEL: Droht damit auch ein neuer nicht einmal daran.“ Ansatz unwichtig. Boom der Psychopharmaka wie in den SPIEGEL: Das hieße konsequenterwei- SPIEGEL: Gilt das auch für Schlafstörun- fünfziger Jahren? se, man müßte die Menschen nur or- gen, Depressionen, Ängste? Watzlawick: Ja. Wie sagte der Philo- dentlich beschäftigen oder Not leiden Watzlawick: Natürlich. Für alle soge- soph Santayana: „Es gibt nichts Neues lassen, damit sie nicht auf dumme Ge- nannten Symptome. Gerade bei der De- unter der Sonne, außer das Vergesse- danken kommen. pression spielen Interaktionen ja eine ne.“ Für mich sind all die weltbeglük- Watzlawick: Nein, das wäre nicht Sinn große Rolle. Gutgemeinte Ratschläge kenden Methoden und Theorien eine der Sache. Ich erinnere mich an das, wie „Reiß dich doch zusammen. Es ist große Gefahr. Karl Popper schreibt, was eine Patientin, die eine sehr kon- doch nicht so schlimm. Schau, die Sonne die Aufgabe der Politik sei, das Leiden fliktreiche Beziehung zu ihrer Mutter scheint“ bewirken sehr oft eine Ver- zu vermindern. Das Finden des Glücks hatte, nach neun Sitzungen sagte: „So schlimmerung der Depression. Wir da- habe dem einzelnen überlassen zu blei- wie ich die Lage sah, war es ein Pro- gegen versuchen zu verstehen: Was wur- blem. Jetzt sehe ich sie anders, und es de bisher zur Lösung des Problems un- ist kein Problem mehr.“ Die Lage hat- ternommen. Oft bewirken diese Versu- te sich nicht geändert, die Mutter war che nichts, sondern erhalten das Pro- dieselbe geblieben, aber die Perspekti- blem. ve der Tochter hatte sich geändert. SPIEGEL: Sie bieten auf dem Hamburger Das reichte für sie aus. Diesen Per- Kongreß einen Workshop an mit dem spektivenwechsel streben wir in der Titel: „,Einsicht‘ erzeugt Blindheit. – Therapie an. Wenn die Lösung zum Problem wird“. SPIEGEL: Stürzen Sie sich gelegentlich Was bedeutet dieses Motto? auch in Arbeit, um sich von Proble- Watzlawick: Die klassischen Therapie- men abzulenken? schulen bauen auf dem Prinzip Einsicht Watzlawick: Ja, und hinterher, wenn auf. Der sogenannte Patient muß Ein- die Arbeit erfolgreich abgeschlossen sicht in die Bedeutung der Vergangen- ist, ist die Leere da. Dieses Gefühl heit erlangen. Und das dauert lange. kenne ich auch. Im Zen-Buddhismus Denn diese Methode ist beliebig ausleg- zum Beispiel geht es weniger darum, bar: Wenn der Zustand des Patienten immer neuen Zielen hinterherzujagen, sich bessert, beweist das die positive sondern den gegenwärtigen Augenblick Wirkung der Einsicht, wenn er sich bewußt zu erleben. nicht bessert, dann bedeutet es, daß SPIEGEL: Das ist aber ganz schön man eben noch nicht intensiv genug in schwierig. der Vergangenheit geforscht hat. Die Watzlawick: Das ist sogar überaus Theorie wird somit paradoxerweise so- schwierig. Und deshalb wird es auch wohl durch Erfolg als auch durch Mißer- das Thema meines letzten Buches sein,

folg bewiesen. G. LUDWIG / VISUM eines Romans über die Entdeckung SPIEGEL: Gibt es zu viele falsche Thera- Entspannungstraining in der Gruppe der Gegenwart. pie-Formen? SPIEGEL: Das klingt, als hätten Sie sie Watzlawick: Es geht nicht um richtig „Menschen mit leeren schon entdeckt. oder falsch, sondern um wirksam oder Bäuchen verzweifeln nicht Watzlawick: Nein, noch nicht ganz. unwirksam. Sonst wäre ich ein Weiser. Das bin ich SPIEGEL: Wird denn wirksam genug the- am Universum“ aber noch nicht. rapiert? SPIEGEL: Haben Sie denn schon mit Watzlawick: Das kann ich nicht beurtei- ben. Oscar Wilde läßt eine seiner Per- dem Buch begonnen? len. Ich kann nur sagen, daß man nun, sonen im Stück „Lady Windermeres Watzlawick: Nein, aber ich habe be- ähnlich wie in den USA, auch in Europa Fächer“ sagen: „Es gibt im Leben zwei reits den ganzen Titel. Jetzt muß ich beginnt vollkommen abzurücken von Tragödien. Die eine ist die Nichterfül- nur noch die Geschichte dazu finden dem absoluten Glauben in die endgülti- lung eines Herzenswunsches. Die an- und mein Talent als Romanschriftstel- ge Wahrheit des psychoanalytischen dere ist seine Erfüllung. Von den bei- ler entdecken. Ansatzes. Statt dessen schwingt das den ist die zweite bei weitem die tragi- SPIEGEL: Sind Sie eigentlich schon mal Pendel jetzt zum anderen Extrem, näm- schere.“ selbst an einem kritischen Punkt in Ih- lich zu der Annahme, daß sich alles bio- SPIEGEL: Hat die Sehnsucht der Men- rem Leben gewesen? chemisch erklären läßt. Da gibt es Leu- schen nach Glück zugenommen? Watzlawick: Es gibt faszinierende Stu- te, die leuchtenden Auges behaupten, Watzlawick: Das würde ich nicht sa- dien über das Erlebnis der Todesnähe. daß man in drei bis fünf Jahren nicht nur gen, obwohl die Wohlstandsgesell- Bei so einem Erlebnis tritt genau das die biochemischen Ursachen sämtlicher schaft Probleme produziert, die man in Gegenteil dessen ein, was man sich seelischen Störungen erforscht haben Zeiten der Not nicht hat. Die Selbst- naiverweise so vorstellt: Es ist keine wird, sondern auch die biochemischen mordraten sind in den Industrienatio- Panik, kein furchtbarer Schrecken, Grundlagen der Liebe und der Kreativi- nen höher als in der Dritten Welt. sondern ein Gefühl des Friedens und tät. Ich hoffe, daß ich bis dahin nicht Während Sarajevo unter Beschuß lag, der Stimmigkeit, das man vorher nie mehr auf der Welt bin. war für die Leute das Überleben wich- erlebt hat. Und dann begeht man den SPIEGEL: Die Genforschung läuft ja in tig. Jetzt, mit der relativen Ruhe dort, Fehler, dieses Gefühl ununterbrochen dieselbe Richtung. steigt die Selbstmordrate enorm an. Si- wieder neu erleben zu wollen. Aber Watzlawick: Das Schlimme ist die dog- cher hat das auch was mit dem Verlust dieses Gefühl läßt sich nicht absichtlich matische Behauptung, daß die Bioche- von Angehörigen und Freunden zu herbeiführen. Y

DER SPIEGEL 30/1994 89 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

GESELLSCHAFT

Pornographie Alice in Newton-Land Alice Schwarzers Kampf gegen „sexuelle Unkorrektheit“ in Helmut Newtons Fotos / Von Silvia Bovenschen

lice Schwarzer hat gegen die Foto- rial aus seinem Œuvre bestückt. Aus ju- haben. Sie hofft, wenn nicht auf dieses grafien Newtons schweres Ge- ristischer Sicht wird es also nicht so sehr Urteil, so doch auf künftige höchstrich- Aschütz aufgefahren: Sie seien um die Frage gehen, welche Bilder ge- terliche, die den erwünschten Frontver- „nicht nur sexistisch und rassistisch“, macht werden dürfen, sondern um die lauf festschreiben, indem sie Grenz- sondern auch „faschistisch“. Dieser Frage, was mit gemachten Bildern ge- überschreitung ächten. dreispännige Vorwurf ist moralpolitisch macht werden darf. Das Niveau der Einlassungen von nicht zu überbieten. Steigerungsfähig ist Tatsächlich aber lauert hinter dieser Newton und Schwarzer scheint für sich der Streit nur noch auf dem Felde des Copyright-Fehde der alte Streit um das selbst zu sprechen – mit dem Hinweis schlechten Geschmacks: Mit seiner ,richtige‘, um das statthafte Bild. Mag darauf könnte es sein trostloses Bewen- Bildproduktion, sagt Alice Schwarzer, es dem Kläger auch um das Recht am den haben. Aber da ist noch der Kampf sei der Emigrant Newton als „Mann und teuren Bild zu tun sein, die Beklagte, um die Grenze, den Schwarzer will, und Jude“ vom Lager der Opfer in das Lager Alice Schwarzer, hat grundsätzlich ein da ist noch das Phänomen des großen der Täter übergetreten. anderes Interesse. Sie arbeitet an der Erfolgs der geschmähten Bilder. Was Und was sagt Helmut Newton? Herstellung jener Grenze, die die kor- will Newton, oder besser: Was wollen Newton sagt, in mieser misogyner Tra- rekte von der unkorrekten Bildsprache seine Bilder? dition, er kenne das „Fräulein Schwar- trennen soll. Schon zum Zweck der Sie wollen den weiblichen Mode-Kör- zer“ nicht, er wisse aber, daß sie „nicht Wiederbelebung ihrer Anti-Porno- per gestreckt, hochgewachsen, musku- sehr hübsch“ aussehe, und er sagt, daß Kampagne könnte sie das Risiko einer lös, stark, kraftvoll. Ein bißchen so, wie er zugeben müsse, daß man im Aus- Klage ins politische Kalkül genommen einmal der heroische männliche Körper druck seiner „big nudes“, in ihrer Größe und Stärke, etwas Faschistisches sehen könne, daß er diesen Begriff in diesem Zusammenhang aber nur ästhetisch ver- stehe. Die Klage, die der Schirmer/Mosel- Verlag mit Billigung Helmut Newtons gegen den Emma-Verlag anstrengt, zielt auf den Nachweis einer „vorsätzlichen Urheberrechtsverletzung“. Die Emma- Herausgeberin Alice Schwarzer hatte in ihrer Zeitschrift eine Schmähschrift ge- gen Helmut Newton reich mit Bildmate-

* Vor Newton-Werk. A. MANN A. HERZAU / SIGNUM Kontrahenten Schwarzer, Newton*: Steigerungsfähig ist der Streit nur noch auf dem Felde des schlechten Geschmacks

92 DER SPIEGEL 30/1994 bildnerisch konstruiert wurde, so, wie druck wird nicht gemildert durch die un- nach Belieben konstruierbar, einen die Alten den kriegerischen Jüngling übersehbaren Anleihen, die Newton bei Musterkörper, unendlich multiplizier- dachten und so, wie es heute der Kör- den großen Erotomanen der Bildge- bar. Dergleichen liegt im Trend und per-Mode fürs Weibliche entspricht. Mit schichte aufnimmt. dergleichen geschieht, wie ein Blick Hilfe von handverlesenen Modellen, die Erinnerungen an erotische Motive in auf die homoerotische Modefotografie ihrerseits vermutlich am Modell ihres den Werken von Marcel Duchamp, Ed- Bruce Webers zeigt, auch mit dem Körpers effektiv gearbeitet haben, und ward Kienholz, Hans Bellmer, Richard Bild des männlichen Körpers. Man mit allen Mitteln der Aufnahmetechnik Lindner oder Pierre Molinier – um nur mag darin eine Parallele sehen zu dem, entsteht in immer neuen Serien dieser einige zu nennen – drängen sich ebenso was der Kulturphilosoph Baudrillard Körpereffekt. auf wie stereotype Bildeindrücke des meint, wenn er den Übergang vom Selbst in den Porträts prominenter Kinos: Erotik-Szenen in Hotelzimmern metaphorisierten zum geklonten Kör- Frauen wird deren individuelle Körper- und am Swimmingpool. Aber das, was per diagnostiziert. lichkeit von der Ökonomie dieser Kör- Der Körper ist für sich genommen perästhetik absorbiert, erscheint das, leer, er bietet solchen Veranstaltungen was sie jeweils von anderen unterschei- Erotische Träume keinen Widerstand; er kann beliebig det, nur mehr als ein Moment von Aus- aus der mit beliebigen Bedeutungen aufgela- stattung und Inszenierung. Alice den werden. Es ist die nackte Wahr- Schwarzer wirft Newton vor, er glorifi- Tiefkühltruhe heit – was immer der altfeministische ziere ein Herrenmenschentum, das die Fundamentalismus predigt –, daß die Frauen zu Untermenschen degradiere. einmal als Ausdruck sexueller Obsessi- Berufung auf den wahren, puren Kör- Dieser Vorwurf ist allerdings nicht sehr on galt, wie zum Beispiel die Verschie- per in die Leere greift. Eine diffuse plausibel; denn der „Herrenmensch“, bung des sexuellen Begehrens auf die Ahnung von der Problematik könnte wenn das überhaupt eine angemessene Objekte, die Fetischisierung des Details Alice Schwarzer dazu bewogen haben, Vokabel ist, wird von Newton weiblich (Stiefel, Stöckelschuhe, Fesseln), ist in sich mit dem beifälligen Hinweis auf konstruiert. Newtons Genrefotografie eher Beiwerk, das Abbild-Verbot des Alten Testa- Der Gestus des Herrischen prägt bei Zierat und Zitat. ments einer ihr wohl eher fremden Newton überwiegend die Frauengestal- Newtons erotische Träume kommen Tradition anzuvertrauen, derzufolge ten. Das nötigt Schwarzer zu einem we- nicht aus der Hölle des Unbewußten, sie das Bild des wahren, nach göttlichem nig überzeugenden Interpretationsma- kommen, das sieht Schwarzer richtig, Vorbild geschaffenen Körpers das Kör- növer: Gerade die Unterwerfung und aus der Tiefkühltruhe der Routine; sie perbild Gottes wäre. Dieses absolute Demütigung der starken Frau sei für eröffnen nicht den Blick in tiefe Ab- Bild aber entzieht sich jeder Darstell- den herrschsüchtigen Mann ein ganz be- gründe, sie sind rätselfrei das, was ihre barkeit. Die Anrufung des theologi- sonderer Triumph. Aber selbst liegend Oberfläche zeigt: recycelte Erotik. Und schen Motivs bleibt für den weiteren und mit Fesseln versehen, eignet den gerade das macht sie interessant. Ging Gang der Argumentation ohne Konse- Newton-Frauen etwas Martialisches, es den Vorläufern noch um die Meta- quenz. Vor der Ausrufung des totalen gleichen sie meist eher obsiegenden morphosen des ,natürlichen‘ Körpers, Bildersturms schreckt Schwarzer doch Kampfmaschinen als unterworfenen um die Bebilderung seiner Deformation noch zurück, wohl in der unbehagli- Sexobjekten. und Deformierbarkeit, so formulieren chen Einsicht, daß auch Emma im me- Die Newtonschen Frauen-Körper die Bilder Newtons eine Absage an den dialen Bilderdienst steht, daß es gera- sind geklonte Körper. Diese verfügende Mythos vom ,natürlichen‘ Körper. de ihr ständig um die Herstellung und Ästhetik der Austauschbarkeit macht Sie erzählen nicht länger von dem Verwertung – wenn nicht sogar um die seine modische Fotografie für die Aus- Körper, der (wie immer bedrängt und Dogmatisierung – des „richtigen“ stellung austauschbarer Moden verfüg- verbogen und leidend und leidenerzeu- (weiblichen) Bildes geht. bar, aber sie erzeugt auch den Eindruck gend) doch stets bleibt, was er ist. Son- Newtons Fotografie hingegen zielt der Sterilität, der Glätte. Dieser Ein- dern sie markieren ein Körpermuster, nicht auf die Festlegung einer wahren

Nackte Frauen als Heldinnen oder als Opfer – diese Streitfrage ist der eigentliche Hinter- grund des Urheberrechtsprozesses von Helmut Newton gegen Alice Schwarzer. Die Emma-Herausgeberin hatte im ver- gangenen November ohne Genehmigung 19 Newton-Fotos in ihrer Zeitschrift ab- gedruckt, um zu beweisen, daß die Bilder „sexistisch“, „faschistisch“ und „rassi- stisch“ seien. Die Frankfurter Literatur- wissenschaftlerin Silvia Bovenschen, 48, Verfasserin des Buches „Die imaginierte Weiblichkeit“, untersucht Newtons „Spekulation auf die Effekte der Sünd- haftigkeit“. Schwarzer dagegen gehe es vor allem darum, die Debatte um Porno- graphie in der Kunst neu zu entzünden. Das Urteil im Copyright-Prozeß wird am Mittwoch dieser Woche vom Landgericht München verkündet. Newton-Artikel in Emma 11/1993

DER SPIEGEL 30/1994 93 .

GESELLSCHAFT

Bedeutung des Kör- pers. Sie verdeutlicht vielmehr dessen Ver- fügbarkeit für alle möglichen Bedeutun- gen. Seine Körper-Bil- der machen den Kör- per, das Medium der Mode, selber zur Mo- de. Aber nicht diese Beliebigkeit, die zu Nachdenklichkeit An- laß gäbe, erzeugt die Beunruhigung bei sei- ner Kritikerin – son- dern die Tatsache, daß Newton zunehmend das Aufgebot seiner seriellen, sexuell indif- ferenten Figurinen (ergänzt durch „wirkli- che“ Puppen) klischee- freudig und medien- wirksam mit dem alt- bekannten eindeutigen Verruchtheitsplunder bestückt: Da sind no- torisch die spitzen ho- hen Absätze, die Sti-

letti, die – nach VG-BILDKUNST Schwarzers Befund – Bellmer-Objekt: Anleihen bei Kunst-Erotomanen den Zweck haben, die Frauen schwach zu machen und am schal abschreibt. Die Scham, so be- Weglaufen zu hindern, die aber doch hauptete Nietzsche einmal, sei überall eher den Eindruck geben, als kämen dort, wo es ein Mysterium gäbe. Bei auch sie direkt aus der Rüstungskam- Newton gibt es kein Mysterium, sosehr mer einer Domina, zusammen mit den es auch beschworen wird. anderen S/M-Requisiten: den Ketten, Aber es gibt die Spekulation darauf, Riemen und Peitschen, der schwarzen daß die Grenzwächter der Correctness Spitze, den schenkelhohen Stiefeln, ebenso reflexhaft wie die Anhänger den Gittern, der Pickelhaube. der Ideologie von der sexuellen Befrei- Und da dieses „Venus im Pelz-Revi- ung auf seine schamlosen Lockrufe der val“ offensichtlich noch nicht ganz aus- Schamlosigkeit reagieren werden, reichte, um jemanden dazu zu bringen wenn auch mit gegensätzlichen Bewer- „Tabu“ zu rufen, setzte Newton in den tungen. letzten Jahren immer noch eins drauf: Im Grunde können schon jetzt, un- geifernde Hunde und szenische Arran- abhängig davon, wie im Prozeß ent- schieden wird, alle zufrieden sein: Die Anti-Porno-Kampagne hat ihre Öffent- Bei Newton lichkeit, und Newton die seine. gibt es Für die Protagonisten der Kampagne ist der Tatbestand der Pornographie keine Mysterien erfüllt, wenn sich eine bildnerische Verschränkung von Sexualität und Ge- gements, die die Assoziation zum Nazi- walt nachweisen läßt. Diese Verschrän- Terror zumindest zulassen. kung ist in Newtons Bildern zweifellos Er suche die Sünde, hat Newton ein- zu finden, allerdings nicht nur dort. mal gesagt. Diese Spekulation auf die Die Heimsuchungen des Sadomaso- Effekte der Sündhaftigkeit ist, wo an chismus durchgeistern die erotischen Sünde und Scham längst nicht mehr ge- Phantasien seit alters – und nicht nur glaubt wird, schamlos. Newton profi- die der Männer. tiert davon, daß die Scham nur noch im Wenn das, wofür der Name Newton Zusammenhang mit dem Zustand sexu- steht, auf der verbotenen Seite der eller Verklemmung gedacht wird. Korrektheitsgrenze landet, wenn es Newtons Bilder sind aber nicht so sehr dem korrekten Blick nicht länger zuge- schamlos dort, wo sie Schamlosigkeit mutet werden dürfte, dann wird es of- ausstellen, sondern vornehmlich dort, fen um die Zumutung gehen, einen wo diese Ausstellung die Berechtigung Teil der Bildbestände unserer Museen von Scham, die Möglichkeit eines letz- und Archive unter Verschluß zu brin- ten Moments der Unverfügbarkeit, pau- gen. Y

94 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite Freizeit Kein Bock auf Bud Ihr Evangelium ist das deutsche Reinheitsgebot: Amerikas Hobbybrauer haben sich zu einer Volksbewegung entwickelt.

ie Botschaft, die der kleine Mann mit dem schwarzen Vollbart seit 20 DJahren unermüdlich propagiert, prangt auch auf seiner Schürze: „Relax, Don’t Worry, Have a Homebrew“ – „Entspann dich, trink ein Selbstgebrau- tes“. Charlie Papazian, 45, gilt in den USA als Guru der Heimbrauer. Er residiert im eigenen Bürokomplex in Boulder, einem früheren Goldgräbernest am Fuße der Rocky Mountains. Um ihn herum wuseln 20 Mitarbeiter, doch Papazian selbst kul- tiviert die seinem Ruhm angemessene Bierruhe. Und dies, obwohl er fast pau- senlos Anrufe entgegennehmen muß, ne- benher noch die nächste Ausgabe seiner Hobbybrauer-Zeitschrift Zymurgy (monatliche Auflage: 50 000 Exemplare) redigieren und obendrein noch eine Vor- tragsreise durch Japan vorbereiten soll. 1972 hatte er als dilettantischer Hop- fenpanscher sein erstes eigenes Home- brew für ein studentisches Trinkgelage angesetzt. Ihm und seinen Kommilitonen schmeckte das Bier der US-Braugiganten Anheuser-Busch („Budweiser“), Miller, Stroh und Coors zu wäßrig und fade.Da- mals mußte Papazian noch Schutzbrille und Regenmantel anlegen: „Den Gä- rungsprozeß hatte ich noch nicht richtig unter Kontrolle –und sowar ein klebriges Duschbad fällig, wenn Flaschen entkorkt oder Fässer angestochen wurden.“ Aus dem kleinen Haufen Hobbybrau- er, der sich Ende der siebziger Jahre zu- sammenschloß, ist eine beachtliche Be- wegung geworden: Papazians 1978 ge- gründete American Homebrewers Asso- ciation (AHA) zählt heute 18 000 Mit- glieder. Rund eine Million amerikanischer „Homebrewer“ hantieren inzwischen re- gelmäßig am heimischen Herd mit Hop- fen und Malz und produzieren ihren eige- nen Gerstensaft. Sie müssen nicht mehr improvisieren, sondern können fertige Brau-Sets mit Malz- und Hopfen-Extrak- ten verwenden, die das zweistündige An- setzen und Aufkochen des Gebräus er- leichtern. In einigen US-Staaten stehen die Homebrewer heute allerdings immer .

GESELLSCHAFT

noch im Ruch der Schwarzbrennerei. Immerhin scheinen die Zwar wurde vor 15 Jahren das Home- Braugiganten die Amateure brewing in den meisten US-Bundesstaa- mit ihrem Faible für exklusive ten legalisiert, doch in fünf Staaten Spezialbiere als Trendsetter (Georgia, Texas, New Jersey, Utah, für neue Geschmacksrichtun- Alabama) ist das Selbstbrauen immer gen zu schätzen. Biersorten, noch verboten. die vor 15 Jahren nur von Ihr Gebräu, argumentieren die Heim- Heimbrauern angesetzt wur- brauer, schmecke nicht nur besser, son- den – etwa ein leichtes Ale dern sei außerdem, höchst ökologisch, oder Weizenbier –, gibt es in- nur mit den natürlichen Zutaten Malz, zwischen bei einigen großen Hefe, Hopfen und Wasser gebraut – US-Brauereien im Angebot. Vorbild ist das deutsche Reinheitsgebot. Bock auf Bockbier haben Dennoch üben sie den Schulterschluß nun immer mehr Amerikaner, mit der Brauerei-Industrie: Bei den also produziert Coors in Colo- rado zum Beginn der Ski-Sai- son ein leichtes „Winterfest“- In Deutschland sind Bier mit 4,5 Prozent Alkohol- die Selbstbrauer-Sets gehalt. Auch europäische Bierfach- meist Ladenhüter leute schauen schon mal bei den amerikanischen Heim- Treffen der Bier-Enthusiasten sind die brauern vorbei. So interessier- großen US-Brauereien als gern gedulde- te sich bei solcher Gelegenheit

te Sponsoren oder als aufmerksame Be- Prinz Luitpold von Bayern ASSOCIATION OF BREWERS obachter präsent. So ist es auch beim nicht nur für die Produktion Heimbrauer Papazian: „Klebriges Duschbad“ alljährlich von Papazian in Denver orga- der Hobbykollegen, sondern nisierten Oktoberfest mit über 20 000 gab Nachhilfe im Fach Biergeschichte: „Regenbogen“-Getränkemarkt-Chefin Besuchern, wo 1000 verschiedene Bier- Er klärte seine verblüfften amerikani- Claudia Schulten. sorten verkostet werden. schen Zuhörer darüber auf, daß es Die Ausrüstung kostet fast 50 Mark, Eine ernsthafte Konkurrenz für die „ohne die Brauereien meiner Vorfahren und nach zwei Wochen Gärzeit bleiben großen Biermarken sind die Heimbrau- und deren finanzielle Unterstützung für dem Brauer gerade mal acht Liter ei- er nicht. Die US-Großbrauereien An- den katholischen Klerus während des ner undefinierbaren Flüssigkeit – „da heuser-Busch (102 Millionen Hektoliter Dreißigjährigen Krieges heute vielleicht kaufen sich echte Bierliebhaber natür- jährlicher Ausstoß) in St. Louis und Mil- keine Katholiken mehr geben würde“. lich lieber ein Faß ,Köpi‘ – das kostet ler (60 Millionen Hektoliter, bekannte- In Deutschland ist die Nachfrage nach nur 39 Mark, doch dafür hat man dann ste Marke: Miller Lite) in Milwaukee dem Bier aus der Badewanne eher ge- auch zehn Liter erstklassigen Stoff“. sind die größten der Welt. Verglichen ring. Zwar bieten auch heimische Ge- Mit Interesse beobachten aber euro- damit wirkt die 4,7-Millionen-Hektoli- tränkemärkte seit einiger Zeit Fertigsets päische Brauer bei ihren Amerika-Rei- ter-Produktion der deutschen Groß- für Lagerbier, Bitter oder Ale an. Doch sen den immer noch anhaltenden brauerei Beck’s (Bremen) eher mickrig. die meist aus England importierten Sets Boom der sogenannten Microbreweries Jeder US-Hobbybrauer produziert jähr- erwiesen sich als Ladenhüter: „Im letz- in den USA. Diese Mini-Brauereien, lich ohnehin nur rund 200 Liter eigenes ten Jahr habe ich davon genau acht die nur lokale Märkte bedienen oder Bier. Stück verkauft“, klagt die Hamburger als Gaststätten-Brauereien operieren, so etwa „Rock Bottom Brewery“ in Denver, „Boston Beer“ in Boston, „Emperor Jones“ in San Francisco oder die „Walnut Brewery“ in Boul- der, gelten mittlerweile auch unter den Schönen und Reichen als schick. Diese rund 5000 Klein-Brauereien zwischen Alaska und Texas, die sich erst während der letzten zehn Jahre etablierten und oft Zuwachsraten von über 50 Prozent verzeichnen, werden meist von Hobbybrauern betrieben, die ihre Künste kommerziell verwerten wollen. Den Slogan, daß Durst durch Bier erst schön werde, kennt auch der Hob- bybrauer Papazian. Doch der lässig- verspielte Hopfen-Guru hat auf seinen Reisen in die Tropen, auf denen er und seine Klubfreunde ihr Selbstgebrautes in gutgekühlten Fäßchen mitschlepp- ten, noch etliche andere Vorzüge des Lebenselixiers kennengelernt: „Mit ei- nem guten Homebrew kann man auch

C. KELLER / GRÖNINGER Moskitos und Kakerlaken verjagen und Brau-Set-Verkauf in deutschem Getränkemarkt: Bier aus der Badewanne Schlangenbisse behandeln.“ Y

DER SPIEGEL 30/1994 97 .

SERIE

»DAS MESSER FÜR EUREN TOD« Wie das FBI den Mafia-Boß John Gotti überführte: 1. DER LAUSCHANGRIFF Von Howard Blum S. FARLEY / NEW YORK NEWSDAY FBI-Fahnder Mouw: Was an ihm nagte . . .

us seinem Apartmentfenster, fünf Beobachtung war eine ermüdende Gotti saß an diesem Nachmittag, kei- Stockwerke über der Spielhalle So- Arbeit. Behar hatte seine Schicht um ne zwei Kilometer südlich von Scott Be- Aho Billiards, hatte Scott Behar ei- 15.47 Uhr angetreten. Es war der 17. Ja- hars Beobachtungsposten entfernt, in ne hervorragende Sicht. Sein Metall- nuar 1990, kurz vor Einbruch der Däm- einem holzgetäfelten Gerichtssaal und Klappstuhl stand direkt am Fenster, merung. Schon jetzt war das Fernglas las höchst konzentriert in einer Taschen- und wenn er die senkrechten weißen keine große Hilfe mehr. Dafür stand auf buchausgabe von Friedrich Nietzsches Lamellen nur einen Spalt weit öffnete, einem Stativ eine Videokamera bereit, „Also sprach Zarathustra“. Der Chef hatte er in Manhattans Little Italy die die dank eines Spezialobjektivs und ei- der Mafia-Familie schien so versunken ganze Mulberry Street im Blickfeld. nes Restlichtverstärkers auf bis zu 800 in das Werk des deutschen Philosophen, Durch das Fernglas konnte Behar Meter Entfernung „im Dunkeln sehen“ als ob ihn die Verhandlung nicht sonder- das Treiben auf dem koreanischen konnte. Behar wartete. Markt an der Ecke beobachten und Kurz vor 17 Uhr kamen die ersten. Ih- jenseits davon das Straßencafe´, in dem re großen Limousinen, meist Cadillacs Der „Teflon-Pate“ jeden Tag dasselbe verliebte junge Paar und Lincolns, parkten zu beiden Seiten Händchen hielt. Sein Interesse aber der Mulberry Street. Behar wußte, daß war nicht zu fassen. An diesem Mann galt der stählernen Eingangstür zu ei- an diesem Abend ein ganz besonderes „bleibt einfach nichts hängen“, regten nem fast drei Blocks entfernten Wohn- Treffen im Club anstand: Fünf neue sich die US-Medien auf. Immer wieder gebäude mit Ziegelsteinfassade. Mitglieder sollten in die Gambino-Fami- schien John Gotti, Amerikas berüchtigt- Behar gehörte seit neun Monaten ei- lie aufgenommen werden. Sie sollten als ster Mafioso, den Elite-Fahndern der ner Sonderkommission des Federal Bu- „Gesellschafter“ in eine kriminelle Or- Bundespolizei einen Schritt voraus, reau of Investigation (FBI) an, des ganisation eintreten, die jährlich Hun- und wenn er dann mal vor Gericht amerikanischen Bundeskriminalamtes. derte Millionen Dollar umsetzte – im stand, paukten ihn gerissene Anwälte Er nahm pflichtgemäß die Personen ins Speditionsgewerbe und bei der Müllab- heraus. Die Aufgabe, den New Yorker Visier, die im Erdgeschoß des Hauses fuhr, mit Betonwerken, Baufirmen und Boß der Bosse eines Verbrechens zu Mulberry Street Nr. 247 ein und aus Fabriken, mit Kreditwucher, Drogen- überführen, schien für den FBI-Mann gingen. Dort waren die Räume des Ra- handel und Pornographie. Bruce Mouw und die Mitglieder seiner venite Social Club. Das herunterge- Jeder der fünf „Geweihten“ war für Sonderkommission unlösbar. Mit ei- kommen wirkende Domizil war das den Rest seines Lebens ein gemachter nem Fahndungsinstrument, mit dem Hauptquartier der Gambinos, der Mann. Die einzige Gegenleistung, die auch Christ- und Sozialdemokraten in reichsten und mächtigsten Mafia-Fami- von ihm und seinesgleichen erwartet Deutschland die Organisierte Krimina- lie Amerikas. wurde, war die Bereitschaft, jeden Be- lität bekämpfen möchten, kamen fehl auszuführen, den John Gotti, das Mouw und seine Männer nach mehrjäh- © 1994, Droemersche Verlagsanstalt, München. Oberhaupt der Familie, erteilte.

98 DER SPIEGEL 30/1994 . . . war die Frage, wie dieser Mörder immer wieder über die Polizei triumphieren konnte: Gangster-Chef Gotti A. LEIBOVITZ / CONTACT / FOCUS lich interessierte. Dabei drohte ihm, sich wünschten, sie hätten die Wette an- von DeLisi, vollendet frisiertes Silber- falls er wegen schwerer Körperverlet- genommen. haar, die goldgeränderte Brille mit den zung verurteilt werden sollte, eine Stra- Die Ankläger hatten Beweise dafür zweigeteilten Gläsern weit vorgescho- fe von 25 Jahren Haft. vorgelegt, daß Gotti die Erschießung ei- ben, vertieft in seine Nietzsche-Lektü- „Ich wette drei zu eins, daß diese An- nes unbequemen Gewerkschaftsfunktio- re. klage platzt“, hatte Gotti am ersten Ver- närs angeordnet hatte. Doch der Boß Als der Richter die Verhandlung ver- handlungstag den sich im Gerichtssaal der Gambino-Familie zeigte keinerlei tagte, hatte FBI-Agent Behar auf sei- drängenden Reportern zugerufen. Nun, Bewegung. Der berühmteste Gangster nem Posten schon eine Menge Material da der Prozeß knapp drei Wochen lief, Amerikas trat im Gerichtssaal wie ein abgespult. Um 18.24 Uhr zeigte die Ka- gab es unter den Reportern viele, die Gentleman auf: 2000-Dollar-Maßanzug mera, wie er in seinem Protokoll fest- hielt, „Joe Butch“ Corrao beim Betre- ten des Ravenite Club, einen elegant riger Arbeit dann doch noch zum Erfolg: lie Amerikas, die mehrjährige High-Tech- gekleideten, schlanken, grauhaarigen mit einem großen Lauschangriff. FBI-Ab- Hatz des FBI und die brisanten Aspekte Mafia-Häuptling. Ihm folgte einer, der hörspezialisten verwanzten nicht nur die des Justizverfahrens schildert der US- sich im letzten Moment linkisch nach Räume in Clubs und Wohnungen, in de- Amerikaner Howard Blum in einem span- vorne drängte, um die Eingangstür auf- nen sich Gotti und seine Capos trafen. nenden Tatsachen-Thriller. Blum, 45, zureißen: George Helbig, ein Bär von Mit hochempfindlichen, in einer Pkw- Bestseller-Autor und viele Jahre Enthül- einem Mann. Selbst auf die Entfernung Flotte installierten Richtmikrofonen ge- lungsreporter der New York Times, hat wirkte er noch groß und fett und böse. lang es den Gotti-Jägern auch, Mitglie- bei seinen Recherchen ausführlich mit Die beiden hielten sich nicht lange im der der Mafia-Familie auf offener Straße den FBI-Ermittlern gesprochen, ebenso Club auf. Nach nur sechs Minuten ver- zu belauschen und in geduldiger Klein- mit einigen der Mafia-Capos. Ihm stan- ließen sie das Haus. Wieder war es Hel- arbeit den lange gesuchten „Maulwurf“, den sämtliche Abhörbänder und Überwa- big, der die Tür aufhielt, doch dieses einen Verräter in ihren eigenen Reihen, chungsprotokolle zur Verfügung. Aus sei- Mal kam Salvatore Gravano mit her- zu enttarnen. Im Dezember 1990 lande- nem Buch „Gangland – die Jagd auf den aus, ein Unterboß der Gambino-Fami- te Gotti hinter Gittern, seine Gang wurde Paten John Gotti“ veröffentlicht der SPIE- lie. zerschlagen, Stellvertreter Salvatore GEL vorab Auszüge in einer dreiteiligen Gravano war trotz seiner hochhacki- Gravano diente dem Gericht als Kron- Serie. Den endgültigen Schlußpunkt der gen Stiefel nur knapp 1,70 Meter groß, zeuge. Der Teflon-Effekt war dahin. Im Jagd setzte vor knapp drei Monaten der hatte aber seinen Körper so lange mit Juni 1992 wurde der Pate zu lebenslan- Supreme Court: Am 2. Mai verwarfen Anabolika im Wert von wöchentlich ger Haft verurteilt. Seinen Aufstieg zum Amerikas höchste Richter den Revisions- 3000 Dollar vollgepumpt, daß er nun Oberhaupt der mächtigsten Mafia-Fami- antrag der Gotti-Anwälte. muskulöse 80 Kilo wog und Unterarme dick wie Magnumflaschen hatte. Die

DER SPIEGEL 30/1994 99 .

Leute im Viertel nannten ihn „Sammy Bull“. Als die drei Männer die Mulberry Street hinaufgingen, tastete Behar nach seinem Handfunkgerät. „Hier Co-op“, meldete er sich über einen verschlüssel- ten Kanal. „Nummer 3 ist herausgekom- men und geht mit zwei Begleitern Rich- tung Prince Street.“ Empfängerin dieser Botschaft war ei- ne FBI-Agentin, die in einem Pontiac ein Stück weiter südlich auf der Lafa- yette Street parkte. „Verstanden“, be- stätigte sie und ließ den Motor an. Der Pontiac bog nach links in die Spring Street und dann noch einmal nach links in die Mulberry Street ein. In der rech- ten Hand hielt sie ein schwarzes Plastik- gehäuse, versehen mit einem 25 Zenti- meter langen Antennendraht. Die Akti- on lief an. Wenn das von FBI-Technikern ent- wickelte Verfahren zum Belauschen von Gesprächen außerhalb des Ravenite Club funktionierte, dann war auf inter- essante Ergebnisse zu hoffen. Denn auf der Straße rechnete keiner der Gangster mit elektronischer Überwachung. Und so war Bruce Mouw, der Chef der FBI- Sonderkommission Gambino, geradezu elektrisiert, als ihn Behar telefonisch über die Aktivierung des Lauschsystems am Straßenrand informierte.

Behar las von seiner langen Liste die FBI Namen aller Mafia-Mitglieder ab, die an FBI-Organigramm der Gambino-Familie: Der Pate und seine Capos diesem Abend den Ravenite Club betre- ten hatten. Mouw hörte geduldig zu. der Gesellschaft verholfen, in dem so- shingtoner Zentrale hatte man sich Der Chef der Sonderkommission, die wohl Räuber als auch Gendarmen ihren schon ironisch über Mouws „panische FBI-intern als C-16 figurierte, hatte seit Platz haben. Was an ihm nagte und sei- Phantasie“ geäußert: „Vielleicht sollte Jahren ein einziges ehrgeiziges Ziel: Er nem Engagement immer neue Nahrung der Mann einmal Ferien machen.“ wollte John Gotti zur Strecke bringen. lieferte, war die Frage, wie Gotti es ge- So behielt Mouw schließlich für sich, An der Wand gegenüber seinem schafft hatte, so total über seine polizeili- was im Laufe der Zeit an Hinweisen und Schreibtisch hing ein Organigramm, das chen Gegenspieler zu triumphieren. Verdachtsmomenten anfiel. Ihm war ein der FBI-Mann im Verlauf von zehn Jah- Gotti war den Hütern des Gesetzes im- Muster aufgefallen, das sich mit faszi- ren zusammengesetzt hatte. Es waren mer einen Schritt voraus. Seine Unan- nierender Regelmäßigkeit wiederholte: Fotografien – Schnappschüsse und Poli- tastbarkeit lieferte den Stoff für Legen- Jedesmal, wenn etwas auf das Wirken zeifotos aus Überwachungsaktionen – den, die Boulevardblätter nannten ihn eines Maulwurfs hindeutete, tauchten von Mitgliedern der Gambino-Familie. den „Teflon-Paten“. Im Verlauf der letz- zwei Gambino-Handlanger vorüberge- ten drei Jahre hatten hend aus ihrer Schattenwelt auf: Capo Anklagebehörden der Corrao und der Gorilla Helbig erschie- Stadt und des Bundes nen im Ravenite Club. Über mobile Richtmikrofone waren diesen Paten vor Ge- Wie heute abend. die FBI-Agenten bei den Gesprächen richt gebracht, doch am Ende beider Prozesse afiosi bei Gesprächen auf offener der Mafiosi stets live dabei hatten Gotti und sei- Straße zu belauschen war ein be- ne gerissenen Anwälte Msonders schwieriges Unterfangen. wie Olympiasieger ihre Mit herkömmlichen Mitteln war da Die Bilder waren zu einer hierarchi- Fäuste geballt und in die Fernsehkame- kaum etwas zu machen. Das war dem schen Pyramide arrangiert. Von der ras gereckt. FBI-Spezialisten John Kravec, der die Spitze blickte mit finsterem Gesicht Der C-16-Chef war überzeugt, daß Aufgabe lösen mußte, rasch klar gewor- John Gotti herab, erfaßt vom wenig kein Mensch so clever sein oder so viel den. Zwar ließen sich Lauschmikrofone schmeichelhaften Blitzlicht eines Poli- Glück haben konnte. Gotti konnte sich in Parkuhren, Straßenlampen und zeifotografen. offenbar Informationen verschaffen, die Ampelmasten verstecken, aber die Was Mouw dazu trieb, sich fast es ihm erlaubten, sich immer wieder Schwachpunkte waren offensichtlich. zwanghaft der Jagd auf diesen Mann zu herauszuwinden. Gotti mußte, dieser Die Mikrofone mußten leistungsstark widmen, war nicht in erster Linie die Verdacht hatte sich bei Mouw verdich- genug sein, um Gespräche unabhängig Stellung Gottis als Boß aller Bosse, auch tet, über einen hochgestellten Maulwurf von der Gehrichtung der zu Belauschen- nicht die Publizität, die dieser Mörder innerhalb des Polizeiapparats verfügen. den aufnehmen zu können. Die Installa- immer wieder erhielt. Ein bewegtes Le- Dieser Verdacht war reichlich vage, tion war problematisch: Die Mikros ben hatte Mouw zu einem Verständnis und in der Kriminalabteilung der Wa- mußten in einer belebten Großstadtstra-

100 DER SPIEGEL 30/1994 .

SERIE

dardeinheit aus Funk- und Tonbandgerät. Diese Anord- nung ermöglichte es, daß die FBI-Agenten in dem drei Stra- ßenblocks entfernten Ausguck über der Spielhalle Soho Bil- liards live mithören konnten, während das Tonbandgerät in einem an strategisch wichtiger Stelle geparkten Wagen das belauschte Ereignis festhielt. WasdasGebot der Minimie- rung anging: Die Automikro- fone sollten nur dann per Funkfernsteuerung aktiviert werden, wenn die Beobachter über dem Billardsalon melde- ten, daß die Zielpersonen sich auf einen Spaziergang bega- ben. Die Aktivierung durch Fernsteuerung erwies sich je- doch als zu problematisch. In einer Stadt wie New York, in der so viel durch den Äther

H. BLUM schwirrt, war die Übertragung Gotti (r.) auf FBI-Observationsfoto: Lauschangriff im Rauschen großstädtischer Funksignale eines Signals selbst über eine relativ kurze Strecke immer ße angebracht werden. Ein batteriebe- macht werden; esmuß möglich sein, siein Glückssache. Das C-16-Team entschloß triebenes Funkgerät mußte zudem jedem Augenblick an- oder abzuschal- sich daher, die in den Wagen angebrach- schon sehr leistungsstark sein, wenn die ten, denn belauscht werden dürfen nur ten Mikrofone durch vorbeigehende Mikro-Botschaften nicht im Rauschen die dem Richter benannten Zielpersonen oder vorbeifahrende Agenten scharf der unzähligen großstädtischen Funksi- und nicht irgendwelche Passanten. Da- schalten zu lassen, mit einer unauffällig gnale untergehen sollten. mit nicht genug. Das Gesetz schreibt vor, benutzten simplen Fernbedienung. Ein Natürlich gab es auch die Möglich- daß die Aufnahmegeräte abgeschaltet Witzbold unter den Technikern hatte keit, über Draht zu gehen, die Mikrofo- werden müssen, wenn die Belauschten dem Projekt einen anzüglich sinnvollen ne an ein bestehendes elektrisches Lei- sich einem Thema zuwenden, das mit Namen gegeben: „Deep Street“*. tungssystem anzuschließen, an die Stra- dem laufenden Ermittlungsverfahren Am Abend des 17. Januar 1990 um ßenbeleuchtung oder die Telefonlei- nichts zu tun hat – wobei hier allerdings 18.30 Uhr war es soweit. Deep Street tung, und darauf dann das eigene Signal die Kriminalisten einen großzügigen Er- wurde als Waffe in dem Kampf des FBI sozusagen als blinden Passagier aufzu- messensspielraum haben. gegen John Gotti eingeführt. Alles ver- setzen. Guter Empfang war dann wahr- Die Lösung, die Kravec schließlich lief nach Plan. Von dem FBI-Apartment scheinlich, aber diese Lösung erforderte fand und mit Hilfe des FBI-eigenen Tech- im vierten Stock aus hielt die Videoka- wiederum verhältnis- nischen Forschungs- mera den Hergang imBild fest: Gravano, Gotti-Kumpan Helbig mäßig auffällige Ver- zentrums realisierte, der zweite Mann in der Familienhierar- „Bruder mit der Sense“ drahtungsarbeiten in war ein mobiles Ein- chie, stand auf dem Gehsteig und blickte der stark frequentier- satzkommando elek- zu Corrao auf. Corrao bestritt die Unter- ten Straße. Eine zu- tronischer Art: eine redung fast alleine. Von Zeit zu Zeit warf sätzliche Schwierigkeit Fahrzeugflotte mit Helbig ein paar Worte ein. Hinter ihnen, bestand darin, daß die Lauschvorrichtungen. nur einen oder zwei Meter entfernt, war eingesetzten Mikrofo- Mehrere Autos aus ein silberfarbener Buick Riviera geparkt. ne einerseits empfind- dem Beschlagnahme- Die Kamera blieb auf diese Dreier- lich genug sein muß- fundus der US-Dro- gruppe fixiert, während sich der ocker- ten, um auch geflüster- genbehörde wurden farbene Pontiac mit der FBI-Agentin nä- te Worte aufzufangen, mit hochempfindlichen herte. Als die Pontiac-Fahrerin den andererseits aber muß- Richtmikrofonen aus- Buick Riviera passierte, richtete sie ihr ten Autohupen und Si- gerüstet, die etwa die kleines schwarzes Kästchen auf den Kof- renen von Krankenwa- Größe und Form von ferraum des geparkten Wagens und gen oder Feuerwehr- Bleistiften hatten. Un- drückte auf den Knopf: Die am Buick an- autos ausgeblendet tergebracht wurden gebrachten Mikrofone gingen in Horch- werden. die Mikros in Radkä- stellung, das Tonbandgerät im Koffer- Außerdem: Nach sten, Stoßstangen und raum begann zu laufen, aus einem Laut- amerikanischem Recht Radkappen. sprecher im Ausguck war ein Hörspiel zu gilt in allen Fällen Von jedem Mikro- hören – aber was für eins. elektronischer Über- fon aus führten zwei Aus dem Lautsprecher brummte es in wachung das Gebot dünne, gut getarnte einem fort, die Lauscher konnten nichts der Minimierung. Mi- Kabel ins Fahrzeugin- krofone dürfen nicht nere. Dort mündeten * Anspielung auf „Deep Throat“, den Decknamen des Informanten in der Watergate-Affäre von dauerhaft oder auf sie in eine batterie- 1972, und zugleich Titel eines bekannten Porno-

gut Glück „scharf“ ge- FBI betriebene FBI-Stan- films mit Linda Lovelace.

DER SPIEGEL 30/1994 101 .

seine Ermittler das Band anderntags ab- hörten, war ihnen klar, daß nur ein hochgestellter Beamter dies verraten haben konnte. Der Maulwurf hatte wie- der zugeschlagen. An keiner Stelle des Bandes fand sich irgendein Hinweis auf den Namen des Verräters, seinen Tätigkeitsbereich, sei- nen Rang oder auf sein Motiv für die Zusammenarbeit mit Gotti. „Vielleicht werden wir ihn nie identifizieren. Aber zumindest wissen wir jetzt, daß er exi- stiert, daß wir ihn uns nicht nur einbil- den“, sagte Mouw. Niemandem trauen, hieß folglich die Devise, die Mouw an sein Team ausgab. Nicht einmal der Sonderkommission Organisierte Kriminalität sollte mitge- M. GARNIER Gotti im New Yorker Nachtklub Re´gine’s: Verabredung mit der großen Blonden

verstehen, nur hin und wieder ein ver- für Trockenübungen“, bellte Gotti. einzeltes Wort. Ein FBI-Mann glaubte, „Dies ist keine Spielerei. Ich bin nicht in etwas von „Wanze“ gehört zu haben, der Stimmung für Kindereien. Hier geht ein anderer meinte, Corrao habe etwas es nicht um Clans oder Gangs oder sol- von einem „Wälzer“ gesagt – Deep chen Quatsch. Dies ist eine Cosa Nostra – Street brachte keine Erkenntnisse, son- und das soll sie bleiben bis an mein Le- dern gab Rätsel auf. bensende.“ Die Techniker fanden rasch heraus, Als Gotti sich endlich beruhigt hatte, was es mit der Panne auf sich hatte: Die wandte er sich an Gravano und sagte, es Gangster hatten es mit den Parkvor- sei jetzt höchste Zeit, zur Tagesordnung schriften nicht sehr genau genommen. überzugehen. „Also dann“, sagte Gotti Einige Wagen ragten schräg auf den fordernd, „woistder Sensenmann, dieser Gehsteig und bildeten so einen Metall- verdammte Saftsack?“ keil zwischen dem Buick Riviera und Eilends wurden George Helbig und den drei Zielpersonen. Joe Butch Corrao vor ihren Boß bugsiert. Deep Street funktionierte an diesem „Was gibt’s Neues, Bruder mit der Sen- Abend – noch – nicht. Dafür gelang se?“ fragte Gotti in parodistischem Sing- Mouws Leuten an diesem Abend eine sang und setzte eine seiner einstudierten Tonaufzeichnung von vorzüglicher Qua- Grimassen auf. „Gute Nachrichten?“ lität an anderer Stelle – im Ravenite George Helbig, der Sensenmann, wirkte Magazin-Titelfigur Gotti* Club selbst. Dort hatte FBI-Spezialist wie ein aufgeregter Schuljunge, der es Image wie ein Politiker John Kravec Wanzen gesetzt. kaum erwarten konnte, dem Lehrer zu zeigen, was er wußte: „Ich habe schlechte teilt werden, daß die beiden Wanzen bwohl John Gotti wieder einmal ei- Nachrichten für Sie!“ aufgeflogen waren; zu groß war die Ge- nen aus seiner Sicht gelungenen Was der Sensenmann sagte, wurde von fahr, daß auch diese Information zur OGerichtstag hinter sich hatte, ver- einem Mini-Mikro eingefangen, das Kra- Kenntnis des Maulwurfs gelangen und schlechterte sich seine Laune zuse- vec im Gehäuse eines Videorecorders von ihm zu Gotti zurückfließen würde. hends, als er an diesem Abend in den versteckt hatte. Es war über eine Phase Ravenite Club kam. Seinen Zorn erreg- des Netzkabels an die Leitungen der New lle, die in der Gambino-Familie Yorker Telefongesell- Rang und Namen hatten, waren zu schaft angeschlossen, Ader Zeremonie im Ravenite Club die hinter dem Gebäude versammelt. Die fünf Neuen, Johnny „Wenn ihr je die Cosa Nostra verratet, des Ravenite Club vor- Rizzo, Richie, Fat Dom, Tommy Cac- wird eure Seele zu Asche beiführten. ciopoli und Fat Tony Pronto, standen Es sei, so Helbigs stramm. „Würdest du jemanden um- verbrennen wie dieses Heiligenbild“ Stimme, eine polizeili- bringen, wenn ich es dir sage?“ fragte che Abhöraktion im Gotti. Gange: Die Sonder- „Ja“, sagte Johnny Rizzo. te sein Consigliere Frank Locascio, ein kommission des Staates New York zur „Ja“, antworteten auch die anderen. ältlicher, unsicher wirkender Mann, der Bekämpfung der Organisierten Krimina- Die Kandidaten standen vor einem aus seinem Unbehagen über seine Rolle lität habe auf Sammy Bull Gravano zwei langen Tisch, auf dem ein Revolver und beim bevorstehenden Ritual keinen Wanzen angesetzt, eine in einem Contai- ein Messer mit spitz zulaufender Klinge Hehl machte. „Ist es in Ordnung, wenn ner an der 64. Straße in Brooklyn, in dem lagen. Beide Waffen bildeten ein Kreuz, ich sie frage: ,Gibt esirgendwelche Grün- das Büro seiner Baufirma untergebracht und auf diesem lag ein Heiligenbild. de, die dagegen sprechen, daß ihr bei uns war, die andere bei Tali’s, einer Bar in „Das ist die Kanone für euer Leben, eintretet?‘?“ fragte Locascio seinen Boß. Brooklyn, in der er sich jeden Dienstag- und das ist das Messer für euren Tod“, Locascios Lampenfieber ärgerte Got- abend mit seinem Mitarbeiterstab traf. ti. Es war unprofessionell, schlimmer: Es Die Information stimmte, und sie war * US-Magazin Time vom 29. September 1986 mit verriet Schwäche. „Ich habe keine Zeit streng geheim. Als Soko-Chef Mouw und Andy-Warhol-Zeichnung.

102 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite .

sagte Locascio. Jeder der fünf wiederhol- te die Worte des Consigliere. „Gebt mir euren Abzugsfinger“, sagte Locascio. Er ritzte jeden Finger mit der Messerspitze an. Dann wischte er das Messer an dem Heiligenbild ab. Ein Streichholz wurde angezündet und an das Heiligenbild gehalten. Während es ver- brannte, sprach Locascio die rituelle Mahnung: „Wenn ihr je die Cosa Nostra verratet, wird eure Seele zu Asche ver- brennen wie dieser Heilige.“ Die Anwesenden stimmten in einen Sprechgesang ein: „Du bist jetzt neu ge- boren. Du bist ein neuer Mensch.“ Von dem Heiligenbild war nur noch Asche übrig. Die fünf Geweihten traten einzeln auf ihren Paten zu und gaben ihm einen

feierlichen Kuß, zuerst auf die eine, dann B. SILVERMAN auf die andere Wange. Gotti schloß sie al- Staatsanwältin Giacalone (Zeichnung)*: Hilflos gegen die gerissenen Verteidiger le in die Arme. Ein Mitglied des C-16-Teams fügte ei- „Her damit“, befahl er. Sie verstand weiter an die Leitung. Die Gambino-Fa- nige Zeit später der umfangreichen amtli- nicht gleich, aber dann deutete er auf milie zählte ungefähr 3000 Mann, jeder chen Chronik der Ereignisse dieser lan- das Armband und auf das Collier. Sie von ihnen schaffte für John Gotti an. Es gen Nacht vom 17. auf den 18. Januar beeilte sich, den Schmuck abzulegen. summierte sich. 1990 eine Fußnote hinzu. Von einem Einmal im Monat, sonntags, wurde ziemlich zuverlässigen Spitzel im Gefolge ohn Gotti war auf dem Höhepunkt das große Geld eingesammelt; diese John Gottis erfuhr das Team, daß der seiner Macht. Die Gambino-Familie Aufgabe fiel dem älteren Bruder des Boß nach Ende der Einweihungszeremo- Jhatte er fest im Griff, bei den ande- Don zu. Pete kassierte bei Sammy Bull, nie in seinem schwarzen Mercedes zur ren Familien genoß er Respekt – und in der für die Bauaktivitäten der Familie – Diskothek Re´gine’s an der Park Avenue der Öffentlichkeit galt er als interessan- Bauunternehmen und Gewerkschaften gefahren war. Dort hatte er sich mit einer te Figur. Die Presse hatte längst den – zuständig war; bei Jimmy Brown, der großen, schmollmundigen Blondine ver- Versuch aufgegeben, die Gangstereska- in der Stadt die private Müllabfuhr und abredet, die gerade unter großem Pres- paden der Gambino-Familie zu erfor- ihre Gewerkschaften kontrollierte; bei serummel von einem der prominentesten schen. Sie war auf eine journalistische Sonny Ciccone, der für die Docks und New Yorker geschieden worden war. Goldader gestoßen. die Hafenarbeitergewerkschaft verant- Die beiden trafen sich seit einigen Mo- Hier war ein echter, lebender Don, wortlich war; bei Tommy Gambino, der naten regelmäßig jeden Mittwoch. Ge- der mindestens so aufregend war wie je- die Familie im Konfektionsdistrikt ver- der Roman-Pate. Was trat; bei Tony Pep, der im Öl- und Gas- machte es schon aus, geschäft tätig war. daß Gotti wegen Mor- Pete besuchte auch, wenn sich nen- Alle Capos zahlten in bar und des und Drogenhandels nenswerte Summen angesammelt hat- übergaben das Geld einmal im Monat in angeklagt worden war? ten, kleinere Einnahmequellen. Er kas- Er war aus allen Ver- sierte bei Joe Butch, der eine Menge Schuhkartons oder Plastiktüten fahren als freier Mann Geld im Kreditwuchergewerbe in Um- hervorgegangen. Aus lauf hatte, und bei Tony C., der das einem kleinen Gano- Glücksspielgeschäft der Familie in Con- wöhnlich beschlossen sie die Nacht im ven aus Queens war ein Don für die necticut überwachte. Alle zahlten in bar Luxusapartment des Bekannten eines Aufmacherseite geworden. und übergaben das Geld in Schuhkar- Bekannten am Beekman Place, und so Nachdem Gotti, gemalt von Andy tons oder Plastiktüten. Die Capos durf- war es auch diesmal. Das Apartment Warhol, auf der Titelseite von Time er- ten 20 Prozent für sich behalten, der stand mittwochs immer leer, der Schlüs- schienen war, wandelte sich in vielen Rest ging an den Chef. sel war beim Pförtner hinterlegt. Im Köpfen der Berüchtigte zum Berühm- Die Wirtschaftsfachleute des FBI Deckenspiegel des Schlafzimmers konn- ten. Wenn Gotti und sein Troß bei Re´- schätzten, daß Gotti jedes Jahr etwa ten die beiden die Lichter der nahen gine’s erschienen, mußten seine Leib- 10 Millionen Dollar in bar erhielt, viel- Queensboro Bridge sehen. wächter die Groupies und Autogramm- leicht auch 20 Millionen. Selbst Gotti Diesmal wollte die frisch geschiedene jäger in Schach halten. Gotti genoß es, wußte nicht so genau, wieviel Geld jede Blondine vorher reden. Gewiß sei sie im Rampenlicht zu stehen. Er polierte Woche hereinkam. Im Gegensatz zu für die Geschenke dankbar, sagte sie, sein Image so sorgfältig wie ein Politi- Tommy Gambino, der gleichzeitig Capo für das Goldarmband, das Diamantcol- ker, und auch in finanzieller Hinsicht und hochkarätiger Geschäftsmann war, lier. Doch das sei ihr nicht genug; eine wurde das Leben immer angenehmer. verdiente Gotti seinen Lebensunterhalt Nacht in der Woche sei zuwenig. Entwe- Das Geld strömte nur so, er brauchte als Vollzeit-Mafioso; er hatte keine le- der sei er bereit, seine Frau zu verlassen nicht einmal danach zu fragen. Die galen Einkünfte – außer den 75 000 Dol- und zu ihr zu ziehen – oder es sei aus Leutnants und ihre Soldaten lieferten lar jährlich, die er für Jobs als Verkäufer zwischen ihnen. die Hälfte ihrer Einnahmen bei ihren von Installationszubehör und als leiten- Gotti stand auf und verließ ohne ein Capos ab, die Capos leiteten das Geld – der Angestellter in der Reißverschluß- weiteres Wort das Apartment. Einige eigentlich Kleingeld im Vergleich zu den firma eines Freundes bezog, ohne dafür Minuten später klopfte es an der Tür. Es Gewinnen aus den großen Geschäften – einen Finger zu krümmen. war nicht Gotti, der zurückkehrte, es Gotti gab das Geld mit vollen Händen war Gottis Chauffeur Iggy Alogna. * Im Gotti-Prozeß von 1987. aus, weil er nichts auf eigenen Namen

104 DER SPIEGEL 30/1994 .

SERIE

anlegen konnte. Er verlor an einem einzi- Frau Giacalone hörte in stummer Wut An diesem Punkt raffte sich der Rich- gen Football-Wochenende 200 000 Dol- zu. ter zu einer Unterbrechung auf. „Ent- lar, weil er auf alle Spiele Wetten abge- Dann trat James Cardinali auf, schuldigung, bitte“, sagte er höflich, schlossen hatte. Er lud seine Gorillas mit „Jamesy“ im Milieu genannt. Er war he- „vielleicht können Sie Ihren Ton mäßi- ihren Amüsiermädchen zum Essen und roinabhängig und wegen Mordes verur- gen.“ – „Ja, Sir, tut mir leid, Sir . . . Ich anschließend ins Re´gine’s ein; er kaufte teilt, doch er verstand es, in ruhigem, bitte das Gericht um Entschuldigung“, Juwelen für seine Freundinnen und ein nachdenklichem Ton zu sprechen. Seine sagte Cutler so, als sei er zerknirscht. Restaurant in Manhattan. Aussage schien zu belegen, daß Gotti Als Cardinali den Zeugenstand verließ, Gotti legte sich ein Rennboot zu, daser tatsächlich in die drei ihm zur Last ge- war von seiner Selbstsicherheit nicht auf den Namen „Unschuldig“ taufte; er legten Morde verwickelt war. mehr viel übrig; Frau Giacalone hörte, hatte eine Eigentumswohnung mit Meer- Doch Anwalt Cutler ging drohend auf wie es vom Tisch der Verteidiger her- blick in Montauk auf Long Island und ei- den Zeugen zu und zwang ihn, sich an überzischte: „Die Ratte ist tot.“ ne in Fort Lauderdale; sie liefen auf Na- ein Telefonat zu erinnern, das er aus Matthew Traynor war der letzte von men von Verwandten. Er fuhr in schwar- dem Gefängnis heraus mit Cutler ge- der Verteidigung aufgebotene Zeuge, zen Mercedes-Limousinen. Seine Pro- ein Bankräuber und zesse kosteten horrende Summen. Drogenhändler. Im Es ärgerte ihn schon mal, wenn er bei- Verlauf seiner Aussa- spielsweise 300 000 Dollar Verteidiger- ge wurde klar, daß die honorare zahlen mußte, aber er zahlte. groben Ausfälle der Keiner wußte besser als er, was er an sei- Gotti-Anwälte gegen nen Anwälten hatte. Er engagierte die Frau Giacalone von gerissensten, rücksichtslosesten Typen. Anfang an Teil einer FBI-Agent George Gabriel von der Soko Eskalationsstrategie C-16 hatte vor drei Jahren im Gerichts- waren. saal miterlebt, wie sie die Staatsanwältin Frau Giacalone hat- Diane Giacalone fertigmachten. te einmal in Erwägung Die Staatsanwältin hatte einen reumü- gezogen, Traynor als tigen Mafioso nach dem anderen in den Zeugen der Anklage Zeugenstand gerufen, und anfangs sah es aufzubieten. Nachdem so aus, als wenn sich die Schlinge aus be- sie ihn bei einer Reihe lastenden Aussagen immer enger um den von Lügen ertappt hat- Hals Gottis legte. Dann aber kam der te, mußte sie ihn fal- Auftritt von Bruce Cutler, dem Anwalt lenlassen und ihm da- Gottis. Mit eingezogenen Schultern und mit auch die Chance geballten Fäusten baute er sich vor dem auf eine Strafminde- Zeugenstand auf. rung nehmen. Als Als ersten nahm er einen in die Man- Traynor in den Zeu- gel, den die Staatsanwältin als Zeugen genstand trat, brannte dafür präsentierte, daß Gotti zehn Jahre er darauf, sich an der zuvor in einer Bar in Staten Island an der Anklägerin zu rächen. Ermordung eines Mannes mitgewirkt Cutler ließ Traynor hatte; eshabe sich, so hatte der Zeuge un- freie Bahn. ter Eid erklärt, um einen innerfamiliären Der Zeuge präsen- Racheakt gehandelt. Cutler wußte, was tierte sich als ein zu tun war. Er wedelte mit dem Vorstra- Enttäuschter, als ein fenregister des Zeugen und quetschte aus Mensch, der in seinem ihm das Eingeständnis heraus, daß er sein Leben mehr Unrecht halbes Leben hinter Gittern verbracht erlitten als anderen zu- hatte. gefügt hatte. Er schil- „Siesind also mit mir der Ansicht, mein derte, wie er von Herr, daß Sie eine Gefahr darstellen und Diane Giacalone aus- immer dargestellt haben – oder nicht?“ – genutzt und gedemü-

„Nein“, sagte der Zeuge. „Waren Sie ei- AP tigt worden sei. Sie ha- ne Gefahr für die Gesellschaft, als Sie in Gotti-Anwalt Cutler be ihm Drogen einge- Juwelengeschäfte eindrangen und mit ge- Das Kreuzverhör war kurz, bösartig und wirksam flößt und ihn „völlig ladener Waffe Leute bedrohten?“–„Ja“, eingelullt“, um ihn ko- räumte der Zeuge ein. führt hatte. Es war in einer von Jamesys operativ zu machen. Er habe Frau Giaca- Der Mann schlotterte, als er den Zeu- depressiven Phasen gewesen, als ihm lone einmal anvertraut, daß er Lust habe, genstand verlassen durfte. Auch an Frau Skrupel über den mit der Anklage ver- sich „einen runterholen zu lassen“, er sei Giacalones nächsten Zeugen ließ Cutler einbarten Kuhhandel – Strafermäßigung schließlich auch nur ein Mensch. Wie kein gutes Haar. Sein Kreuzverhör war gegen Aussage – gekommen waren. aber habe Frau Giacalone reagiert? Sie kurz, bösartig und wirksam. „Crazy Sal- „Du hast dich mit Frau Giacalone habe „ihre Höschen aus der untersten ly“ Polisi war ein Straßenräuber, der sich ausgesöhnt, nicht?! – „Ja.“ – „Weil sie Schublade“ geholt. „Sie hat sie mir gege- lange mit Gottis Jungs herumgetrieben nicht mehr derselbe Mensch ist, richtig? ben und gesagt, ich sollte mich erleich- und sich im Gefängnis an einer Schlägerei Weil sie, anders gesagt, kein Flittchen tern: ,Behelfen Sie sich damit‘.“ Ja, er beteiligt hatte. Cutler hatte den Ex-Sträf- mehr ist in deinen Augen?“ – „Richtig.“ fühle sich mißbraucht; Frau Giacalone ling bald so weit, daß er stotternd einge- – „Sie ist also in deinen Augen nicht wollte „mich dazu bringen, Mister Gotti stand, John Gotti werde von den Bewoh- mehr ein Mädchen für eine billige Num- und die anderen hineinzureiten“. nern der Gegend, wo sich seine Jungs mer?“ – „Richtig.“ – „Sie ist keine Lüg- Frau Giacalones Hände umklammer- tummelten, „geliebt und hoch geachtet“. nerin mehr, richtig?“ – „Richtig.“ ten den Tisch. Sie war starr und sprachlos

DER SPIEGEL 30/1994 105 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite SERIE

und wirkte wie gelähmt. Das Urteil spra- chen die Geschworenen eine Woche spä- ter. An einem Freitag, dem 13. März 1987, wurden John Gotti und seine Mit- angeklagten in allen Punkten freigespro- chen. Wenn es je eine Phase in John Gottis Leben gab, die seinen pubertären Phan- tasien vom harten Burschen entsprach, so war es die unglaubliche Zeit nach die- sem Sieg vor Gericht. Daß die Leute in Queens, wo er damals residierte, ihn auch noch als eine Art Volkshelden fei- erten, genoß er in vollen Zügen – und honorierte es im Sommer mit einem Straßenfest zum 211. Geburtstag der USA. Am Nachmittag des heißen Festtages hatten seine Leute mindestens ein Dut- zend schwere grüne Kipper in der 101. Avenue in Stellung gebracht. Sechs Häuserblocks waren abgesperrt; eine verkehrsfreie Fußgängerzone führte jetzt zum Eingang des Bergin Hunt and Fish Club, wo Gotti hofhielt. Als gegen 18 Uhr Kinder aus der Gegend die Stra- ße zu bevölkern begannen, wurden Würstchen gegrillt und Rouletteräder gedreht. Eine riesige amerikanische Fahne hing in feierlicher Pracht quer über der Fassade des Bergin. Als es dunkel wurde und die fröhliche Menge dicht gedrängt die Avenue füllte, begann das Feuer- werk, eine lange und aufwendige Vor- führung mit Goldregen, Tropfkerzen und leuchtenden Kometen. Es war eine illegale Feier. Niemand hatte die Stadtverwaltung um Erlaubnis gebeten, die verkehrsreiche Durch- gangsstraße abzusperren. Es gab keine Sondergenehmigungen für die Imbißbu- den und die Glücksspiele, es gab keine Erlaubnis für das Feuerwerk. Die Feuer- wehr war nicht einmal vorgewarnt wor- den. Die Polizei unternahm nichts. Die Beamten blieben außerhalb der von den Kippern gebildeten Barrieren. Von einem improvisierten Beobach- tungsposten auf einer Hochbahnbrücke hatte einer von Mouws Leuten, der FBI- Agent Andy Kurins, einen trefflichen Blick auf das Spektakel; er kochte vor Wut. Hunderte, Tausende jubelten dem Paten zu. „John-nii! John-nii!“ skandier- ten sie im Chor. Die Weigerung der städ- tischen Polizei, dem Gesetz Genüge zu tun, machte Kurins fassungslos. Stand John Gotti über dem geltenden Recht, konnte er nach eigenen Gesetzen leben?

Im nächsten Heft

Der junge Gotti macht im Gambino-Clan Karriere – Komplott gegen Clan-Chef Ca- stellano: Mord im Glanz der Weihnachts- lichterketten – „Bumsen auf dem Tisch des Paten“ – FBI-Lauscher hören sich satt

108 DER SPIEGEL 30/1994 .

AUSLAND PANORAMA

Frankreich Großbritannien Sozialisten Pflegen droht Bankrott statt erben Frankreichs Sozialistische In Großbritannien, einst das Partei (PS) ist derart in Geld- klassische Land der vererb- nöte geraten, daß sie ihr Pari- ten Vermögen, ist das Er- ser Hauptquartier, einen ben womöglich „ein Ding Stadtpalast in der Rue de der Vergangenheit“. Diesen Solfe´rino, verkaufen muß. Schluß zieht das Londoner Hauptgrund für das Finanz- Marktforschungsunterneh- loch in Höhe von rund 45 men Mintel International – Millionen Francs (rund 13 und nennt als Grund die Ko-

Millionen Mark) war die G. MATOSO / CONTACT PRESS IMAGES / FOCUS sten für die medizinische Be- Schlappe bei den Parlaments- Hauptquartier der französischen Sozialisten in Paris treuung und Pflege der eng- wahlen im März vorigen Jah- lischen Eltern- und Großel- res: Die Zahl der sozialisti- 27 000 Ex-Sympathisanten Rußland terngenerationen. Die müß- schen Abgeordneten (die von haben innerhalb nur eines ten das traditionelle engli- ihren Diäten durchschnittlich Jahres die PS verlassen; sie Panik in sche Erbe – den Erlös aus 10 000 Francs pro Monat an zählt nur noch 103 000 Mit- Hausverkäufen – überwie- die Parteikasse abführen) glieder. Trotz des Debakels Sibirien gend für die eigene Absiche- war damals von 260 auf 53 bei den Europawahlen – die Eine geplante Stabsübung rung verwenden. Allein zurückgegangen. Mit dem PS war auf 14,5 Prozent ab- russischer und amerikani- 1992, so Mintel, wurden im Schwund der Abgeordneten gesackt – arbeitet Ex-Partei- scher Militärs im südsibiri- ist auch der Staatszuschuß chef Michel Rocard mit ei- schen Gebiet Orenburg gerät nach dem französischen Par- nem Dutzend Getreuen an unter Beschuß konservativer teienfinanzierungsgesetz dra- einem Comeback – allerdings Provinzpolitiker: „Russische matisch geschrumpft – von nicht mehr in dem alten Pa- Soldaten können bei Ameri- 200 Millionen Francs auf nur lais (Schätzwert: 88 Millio- kanern nichts Gutes ler- noch 90 Millionen in diesem nen Mark), sondern in einem nen“, mußte sich Sergej Ju- Jahr. Hinzu kommt der Ver- eigenen Büro in der Rue de schenkow, Vorsitzender des lust von Beitragszahlern: Varenne. parlamentarischen Vertei- digungsausschusses, vorige Woche bei einem Ortstermin Privater Reichtum der Scheichs wächst von den Regionalgewaltigen sagen lassen. Obwohl nur 250 US-Soldaten an dem Bankguthaben „rein symbolischen Ereignis“ nahöstlicher Ölländer (Verteidigungsminister Gra- Petro-Dollar sind nach wie tschow) teilnehmen, ist die in Milliarden Dollar vor eines der wichtigsten Bevölkerung durch Gerüchte Netto- Stand Ende 1993 Schmiermittel, die das west- in Panik versetzt worden: Brutto- gut- anlagen haben* liche Bankensystem in Gang Das Manöver werde die Re- halten. Ende letzten Jahres, Saudi-Arabien 59,90 44,03 gion verpesten, und mit Hilfe so hat das Magazin Middle „psychotronischer Geräte“ Ver. Arab. Emirate 33,16 24,59 East Economic Digest be- würden die Amerikaner die Bahrein 16,47 1,82 rechnet, betrug der Wert der Dörfler um den Übungsplatz Kuweit 14,17 5,47 Bruttoanlagen nahöstlicher Tozk in Zombies verwan- Iran 5,56 –2,99 Ölstaaten knapp 140 Milliar- deln. Der Argwohn hat R. DIETRICH Katar 3,47 1,49 den Dollar. Die Verbindlich- schlimme und hausgemachte Londoner Rentnerpaar Oman 2,47 0,90 keiten, etwa Kredite für den Gründe: Seit Sowjetmar- Irak 1,91 –2,75 Ausbau der Infrastruktur, schall Schukow dort 1954 ei- Königreich 40 000 Häuser Libyen 1,61 1,33 machten die Hälfte dieser ne Atombombe testen ließ, verkauft, nur um die Pflege- Summe aus. Irak und Iran, verödet das Gebiet, das eine kosten der Besitzer abzudek- insgesamt *nach Abzug von die Verfemten des Nahen der höchsten Krebsraten ken. Die Aushöhlung des Verbindlichkeiten Ostens, sind bei den Banken Rußlands aufweist. Wenn die Wohlfahrtsstaats bremst die verschuldet. Weit höher als 300,00 von Präsident Jelzin bereits Weitergabe der Vermögen die staatlichen Anlageposten einmal verschobene Übung zusätzlich. Ein neues Gesetz, sind die Privatgelder, die ara- mit den neuen Waffenbrü- der sogenannte Community 138,69 bische Scheichs bei den dern dennoch stattfinde, Care Act, sieht vor, bei Bri- Banken deponiert haben. Sie könne das „unvorhersehbare ten, die ein Kapitalvermögen 73,90 belaufen sich auf rund 300 Folgen“ haben, warnt der von mehr als 8000 Pfund Milliarden Dollar und das, so Verwaltungschef von Oren- (20 000 Mark) besitzen, gar meldet die Londoner Zeit- burg, Jelagin. Der Grund für keine Pflegekosten zu über- schrift, „bei weiterhin stei- das amerikanisch-russische nehmen. Nutznießer sind die Privat- Brutto- Netto- gender Tendenz“. Manöver ist die Vorberei- privaten Versicherungen, die vermögen anlagen gut- haben* tung gemeinsamer Uno-Ein- ihr Prämienaufkommen seit sätze. 1989 verdoppelt haben.

DER SPIEGEL 30/1994 109 Getötete Ruanda-Flüchtlinge nach Artilleriebeschuß an der zairischen Grenze: Der Exodus hat biblische Ausmaße

Ruanda DIE HÖLLE AUF ERDEN Über tausend Tote pro Tag in einer Flüchtlingstragödie, wie sie die Welt so grauenvoll bislang nicht sah: Eine Cholera-Epidemie wütet unter den 1,7 Millionen Ruandern, die sich vor dem Bürgerkrieg nach Zaire retteten. Die Hilfsorganisationen sind verzweifelt. Jetzt rüsten die Amerikaner zum humanitären Großeinsatz.

ine Hungersnot“, sagt ein ruandi- hunderts. Nach dem Massaker an den Ar- ren eine Kuh oder eine Ziege mit; Re- sches Sprichwort, „geht vorüber, ein meniern durch die osmanischen Türken gierungsfunktionäre reihen sich in kli- Ebegangenes Unrecht nie.“ und dem Holocaust der Nazis an den Ju- matisierten Limousinen in den Treck Das Unrecht kosteteeine halbe Million den ist der Völkermord an den Tutsi ein ein. Der Exodus hat „biblische Ausma- Ruander das Leben. Aufgeputschte Bür- weiterer Fall, auf den die Uno-Definition ße“ erreicht (so das Uno-Flüchtlings- ger der Hutu-Mehrheit (90 Prozent von für Genozid zutrifft: eine geplante „Tat hilfswerk). Es herrscht Massenhysterie: Ruandas 7,4 Millionen Einwohnern) hat- mit dem Ziel, eine nationale, ethnische, Nichts wie raus aus Ruanda! ten nach dem Unfalltod des Präsidenten rassische oder religiöse Gruppe zuzerstö- Aus dem Gebiet von der Größe Bel- Habyarimana am 6. April eine Men- ren“. giens waren Ende vergangener Woche schenjagd auf die Tutsi-Minderheit ge- Jetzt fürchten Millionen Ruander, daß nach Uno-Angaben 2,3 Millionen Men- startet. Die wurde verdächtigt, den siefürdieUntat büßen müssen. Die Hutu schen in die Nachbarstaaten geflohen. Staatschef umgebracht zu haben. Hutu- flüchten vor der Tutsi-dominierten Ru- Weitere Hunderttausende bewegen sich Milizen der Regierungspartei und Mit- andischen Patriotischen Front (RPF), die in Richtung Grenze. Der Auszug aus läufer schlachteten 500 000 Tutsi und ein immer weitere Landesteile erobert. Ruanda stellt in einem Punkt die großen paar tausend Hutu-Oppositionelle ab. In endlosen Strömen zur Grenze Massenfluchten unserer Zeit (siehe Gra- Die Orgie der Gewalt in Ruanda zählt schleppen Frauen Bündel auf dem Kopf fik Seite 111)) in den Schatten. Nie zu- zu den größten Verbrechen dieses Jahr- und Babys auf dem Rücken; Bauern füh- vor verließen so viele Menschen in so

110 DER SPIEGEL 30/1994 .

AUSLAND

den RPF-Rebellen gesucht, ehe sie nach heitsrat mußte seinen Platz für einen Zaire weiterzogen. Repräsentanten des neuen Regimes räu- Die Ruander in und um Goma bilden men. Das kontrolliert nun bis auf die heute die größte Ansammlung von Schutzzone der Franzosen das ganze Flüchtlingen der Welt. 1,7 Millionen Land. „Jetzt“, triumphiert RPF-Vize- Menschen haben sich in den Straßen der chef Patrick Mazimhaka, „sind die an- Stadt und auf den kahlen Hügeln rund- deren die Rebellen.“ um niedergelassen. Die ausgemergelten Die Befreiungsfront bildete vergange- Ruander sterben zu Tausenden. Wasser ne Woche in der Hauptstadt Kigali eine und Nahrungsmittel sind nicht einmal in allen überstürzt errich- teten Auffanglagern zu haben. Große Flüchtlingsströme seit 1945 Bei den verheerenden hygieni- schen Verhältnissen ist eine Cho- Angaben in Millionen lera-Epidemie ausgebrochen und fordert seit Ende vergangener Deutsche 12,0 Woche täglich über tausend Op- aus den Ostgebieten fer. und Osteuropa Seit aus der Massenflucht ein 1944 bis 1950 Massensterben wurde, kommt endlich eine internationale Hilfs-

aktion in Gang. Uno-Generalse- J. PIEKALKIEWICZ kretär Butros Butros Ghali, der Flüchtlingstreck 1945 einmal beklagt hatte, daß die Welt eher bereit sei, Weißen in Palästinenser 1948 und 1967 1,0 Not zu helfen als Afrikanern, ap- pellierte an alle Staaten, knapp Inder und Pakistaner 1947 14,0 450 Millionen Dollar für Hilfsein- (Teilung des Subkontinents) sätze aufzubringen. US-Präsident Bill Clinton Bengalen 1971 9,7 („Wir sollten da die Führung aus Ost-Pakistan übernehmen“) stellte 250 Millio- Vietnamesen nen Dollar für ruandische Flücht- 3,0 linge bereit. Einsatzpläne des 1975 bis 1994 Pentagon sehen noch für diese Woche die Entsendung von tau-

L. DELAHAYE / MAGNUM / FOCUS send in Europa stationierten Sol- erreicht daten nach Afrika vor, um Hilfs- lieferungen zu organisieren und kurzer Zeit ihr Land: Mitte Juli waren zu schützen. Am Freitag landete G. KLIJN es 1,5 Millionen innerhalb von acht Ta- ein Vorauskommando in Zaire. Boat-people 1981 gen. „Wir brauchen ein humanitäres Die meisten Flüchtlinge gehen nach Gegenstück zur Golfkriegs-Koali- Afghanen Zaire, obwohl sie dort die „Hölle auf tion bei der Operation Wüsten- 1980 bis 1994 Erden“ erwartet (so eine Sprecherin der sturm“, forderte der Flüchtlings- Hilfsorganisation „Ärzte ohne Gren- experte Lionel Rosenblatt vor zen“). Soldaten und Banden von Ju- dem US-Kongreß, nachdem er gendlichen rauben den Menschen ihre Goma besucht hatte. Doch dort 6,0 Habseligkeiten. Es kommt zu Schläge- sind die Landemöglichkeiten für reien und Schießereien. KOHN/EPD Flugzeuge begrenzt: Es gibt nur Afghanische Flüchtlinge Am vorletzten Sonntag trafen zwei eine Piste. in Pakistan 1989 Granaten die am Grenzübergang zur Von Uganda aus sind Lkw- zairischen Stadt Goma wartenden Ru- Konvois mit Lebensmitteln unter- Bosnier, Kroaten, 1991 bis 1994 4,0 ander und lösten eine Panik aus, bei der wegs. Das erste Bundeswehrflug- Serben über hundert Flüchtlinge starben. Stun- zeug brachte Hilfsgüter nach Go- aus Ex-Jugoslawien denlang kümmerte sich niemand um das ma – eine von einem Dutzend Irakische Kurden 1991 1,8 Blutbad vor der Stadt. Verstörte Kinder Maschinen am Tag. Nötig wäre irrten auf der Suche nach Angehörigen nach Meinung von Experten eine Ruander April bis Juli 2,3 durch das Chaos. Leichenfledderer zo- Art Berliner Luftbrücke mit 40 1994 gen Toten und Verwundeten Schuhe Landungen von viermotorigen und Hemden aus. Erst am folgenden „Herkules“-Transportmaschinen Tag transportierten französische Solda- täglich, um die Flüchtlinge in dem Ge- provisorische Regierung und berief de- ten die Leichen ab. biet zu versorgen. monstrativ Hutu-Politiker auf die Posten Die Franzosen versorgen von Goma Deren Zahl wuchs am Wochenende des Präsidenten und des Premiermini- aus ihre 2500 Soldaten, die mit Zustim- noch immer, obwohl der Bürgerkrieg in sters. Das ist kein Tutsi-Regime, will sie mung der Uno in Ruanda eingegriffen Ruanda praktisch beendet ist. Frank- der Bevölkerungsmehrheit signalisieren. und im Südwesten des Landes eine reich, einst wichtigster Helfer der Ha- Doch Hutu weisen auf den neuen Vize- Schutzzone errichtet haben (siehe Karte byarimana-Regierung, erkannte den präsidenten und Verteidigungsminister: Seite 112). Hier hatten Hunderttausen- „Sieg der RPF“ (Außenminister Juppe´) Paul Kagame, 37, Tutsi, bislang Militär- de Hutus Zuflucht vor den vorrücken- an. Ruandas Vertreter im Uno-Sicher- chef der RPF. Er ist der starke Mann in

DER SPIEGEL 30/1994 111 .

AUSLAND

einem Land ohne Volk – die Tutsi wur- den umgebracht, die Hutu sind geflo- Ruanda hen. Kagames RPF droht den Franzosen: Sie werde in die Sicherheitszone vorsto- ßen, falls die dorthin geflohenen Extre- Wird der Genozid von mistenführer der Hutu nicht ausgeliefert würden. Die Mörder müßten vor Ge- richt. Daraufhin hetzten die Propagan- disten des gefallenen Regimes: „Die der Cholera vollendet? RPF will alle Hutu umbringen.“ SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann über das Massensterben in Goma

UGANDA nflug auf Goma am Kiwusee. Aus wird, vermag der Tod eines alten Man- Ruanda hundert Metern Höhe kann man nes keine Aufmerksamkeit zu erregen. ZAIRE Adeutlich die Leichen erkennen, die Wenn alles gutginge, hieß es Ende 1,7 Millionen Flüchtlinge im seichten Wasser dümpeln. In Goma vorletzter Woche beim „Internationalen hat das große Sterben begonnen. Weil Komitee vom Roten Kreuz“ (IKRK) in TANSANIA die Flüchtlinge nicht wissen, wo sie ihre Nairobi (Kenia), dann werde es viel- Toten lassen sollen, werfen sie sie ein- leicht bei ein paar tausend Toten blei- 400000 Flüchtlinge Goma Byumba fach ins Wasser. ben. Inzwischen ist klar: Nichts geht Goma war eine Idylle, eine Insel von gut. Der Treck aus Ruanda reißt nicht Gisenye RUANDARUANDA K a g Beschaulichkeit am Rande der zentral- ab. In der Woche danach kamen noch Kiwusee e Kigali r a afrikanischen Chaosrepublik Zaire. So- mal Hunderttausende. Kibuye gar Präsident Mobutu Sese Seko kam Ein mobiler Rundfunksender der ge- Gitarama gelegentlich hierher zum Urlaubma- schlagenen Hutu-Regierung, der irgend- chen. Die Massenflucht der Hutu aus wo in der französischen Schutzzone im Gikongoro Benako Cyangugu dem Nachbarstaat Ruanda hat aus der Süden von Ruanda vermutet wird, heizt Ngara Kleinstadt in wenig mehr als einer Wo- die Situation mit Panikmeldungen auf: Bu- Butare Kirundo che eine Millionenstadt gemacht. Lauft weg, laßt alles stehen, die Tutsi kavu Muyinga Der Horror ist überall. Vor dem werden euch und eure Kinder umbrin- Französische Ngozi Flughafen dreschen Männer in Unifor- gen! Die Resonanz ist überwältigend. Sicherheitszone BURUNDI men mit Stöcken auf unsäglich skelet- Ein Drittel der Ruander sind schon im 200000 Flüchtlinge tierte Kinder ein, die wohl gehofft hat- Ausland. Uvira ten, hier, wo so viele weiße Männer Keine Frage: Die vorrückenden Re- 100 Kilometer sind, irgend etwas Eßbares aufzutrei- bellen haben eine Blutspur auf ihrem Tanganjikasee ben. Weg hinterlassen. Aber ihre Untaten Hundert Meter weiter liegt ein ver- sind nicht im entferntesten zu verglei- Während die Franzosen die Men- krüppelter alter Mann in seinem Blut. chen mit dem monströsen Massenmord schen in ihrer Schutzzone in Flugblät- Es heißt, ein Lkw sei ihm über die Bei- der Hutu an den Tutsi. tern zum Bleiben auffordern, drohen ne gefahren. Aber niemand hilft. Der Die Luftbrücke, die das IKRK und Hutu-Funktionäre: „Wer nicht weggeht, Mann wird verbluten, wenn niemand die Uno von Nairobi nach Goma ge- entlarvt sich als RPF-Sympathisant und seine Wunden verbindet. Doch an ei- schlagen haben, deckt höchstens ein wird hingerichtet. Der Kampf geht wei- nem Ort, wo so massenhaft gestorben Fünftel des Nahrungsmittelbedarfs. Die ter.“ Einheiten der besiegten ruandischen Armee konnten nachts mit voller Aus- rüstung nach Zaire ziehen. Präsident Mobutu läßt die alten Freunde aus Kiga- li nicht verkommen. In seinem Land sammeln sich ruandische Militärs und Politiker der Hutu-Führungsclique, um einen Gegenschlag vorzubereiten. „Die RPF“, drohen sie, „brauchte vier Jahre, um Ruanda einzunehmen. Wir werden es in einem Monat zurückerobern.“ Die neue Regierung in Kigali hat in- des alle Flüchtlinge aufgefordert heim- zukehren. „Nie wieder soll ein Ruander flüchten müssen“, gelobt der stellvertre- tende Ministerpräsident Alexis Kanya- rengwe. Die Uno will bei der Rückkehr der Ruander helfen, nicht zuletzt weil die Flüchtlinge die ohnehin armen und instabilen Nachbarstaaten zusätzlich be-

lasten. Auch Clintons Sonderbeauftrag- SABA-REA ter für Ruanda, Brian Atwood, fürchtet

totales Chaos in der Region: „Hier tickt FURRER / eine Zeitbombe.“ Beschlagnahmte Waffen: Die Propaganda hat das Schuldbewußtsein narkotisiert

112 DER SPIEGEL 30/1994 .

Hilfsmaschinerie arbeitet nicht mal Die Kranken sind schlecht. Aber diesen Massen ist sie nicht von den Gesun- nicht gewachsen. den zu trennen, des- Immerhin hat die deutsche Luftwaf- halb breitet sich die fen-Boeing „August Euler“ 60 Tonnen Seuche mit rasender Milchpulver nach Goma geflogen. Das Geschwindigkeit aus. war ein guter Anfang. Aber die Hilfsor- Man muß fürchten, ganisationen produzieren nur 160 000 daß die Cholera den Liter gefiltertes Trinkwasser am Tag – täglichen Genozid bei einem Bedarf von über 15 Millionen vollendet, den die Litern. Und was macht man mit Milch- Massaker in Ruanda pulver, wenn man kein Wasser hat? eingeleitet haben. Es fehlt an allem, was die Menschen Überall zwischen zum Überleben brauchen – an Nah- den Sterbenden kleine rungsmitteln, an Trinkwasser, an Medi- Kinder, die ihre Eltern kamenten, an Toiletten. Der Boden in verloren haben, Kin- und um Goma ist aus festem Lavage- der neben den Leichen stein. Hier kann man weder Brunnen ihrer Mütter, Kinder noch Latrinen graben. im Koma. Raphael, Die Frauen holen das Trinkwasser in ein Elfjähriger aus Ki- großen gelben Kanistern aus dem Kiwu- buye, hat seine vier- see, in dem zahllose Leichen schwim- jährige Schwester und men. Das Wasser ist trübe, stinkig und seinen dreijährigen schlammig. Aber zum Abkochen fehlt Bruder bis hierher mit- Leichentransport in Goma Brennholz. Die wenigen Bäume sind geschleppt. Sein Vater Ein infernalischer Gestank über der ganzen Gegend schon fast alle verfeuert. wurde von Hutu-Sol- Über der ganzen Gegend liegt ein in- daten als angeblicher Kollaborateur ent- stens zehnmal so viele, die schutzlos un- fernalischer Gestank von Leichen und hauptet, seine Mutter ist auf der Flucht ter freiem Himmel vegetieren, ist kein Fäkalien. Die französischen Soldaten, irgendwo tot liegengeblieben. Platz mehr. meist Fremdenlegionäre, die rings um Unterwegs haben sie von den Süßkar- Mit den zivilen Flüchtlingen sind auch den Flughafen patrouillieren, tragen toffeln gelebt, die sie aus dem Acker mindestens 20 000 Soldaten der Hutu- zierliche weiße Atemmasken. Man sieht hinter ihrer Hütte ausgebuddelt hatten. Armee über die Grenze geflüchtet. An es ihren verzerrten Gesichtern an, daß Jetzt sind ihre Vorräte erschöpft. Das der Grenzstation türmen sich Berge von die Masken nicht viel nützen. Es gibt kleine Bündel mit ihren letzten Habse- Gewehren und scharfgeschliffenen Pan- kein Gewebe, das dieser Gestank nicht ligkeiten wurde ihnen gestohlen. gas, die die Zairer ihnen abgenommen durchdringen würde. Raphael hat einen rasselnden Husten, haben. Keine Frage, viele von denen, Die Menschen verhungern, trocknen er ist krank. Die drei Kinder hocken an- die hier leiden und sterben, haben drü- aus, bleiben vor Entkräftung liegen. Ein einandergeschmiegt auf einem müll- ben in Ruanda aus Leibeskräften mit- Toter pro Minute, hat Catherine Le- übersäten Acker an der Straße nach Ki- massakriert. fe`vre von den „Ärzten ohne Grenzen“ buma und warten auf ein Wunder oder Die Jüngeren machen zum Teil auch am Dienstag geschätzt. Am Mittwoch auf den Tod. gar keinen Hehl daraus, einfach weil die sind es mindestens schon doppelt so vie- Vielen anderen geht es ebenso. Das dauernde Haßpropaganda der Regie- le. kleine Kinderdorf von Goma, in dem rung gegen die Tutsi ihr Schuldbewußt- Am Donnerstag erreicht die Apoka- vorher 50 Waisen wohnten, beherbergt sein narkotisiert hat. Wie beim zehnjäh- lypse ihr nächstes Stadium: Cholera. jetzt 2000 elternlose Kinder. Für minde- rigen Gae´tan Caynganu aus einem Ort bei Gitarama. Ja, er und zwei Freunde haben ein Tutsi-Baby mit Pangas zer- hackt, das gibt er zu. Jedoch, so sagt er, es sei ein sehr kleines Baby gewesen. „Die können noch gar nichts spüren.“ Und sie haben ja auch nur getan, was die Erwachsenen ihnen gesagt hatten. Die zairische Armee versucht, mit brachialer Gewalt Druck abzubauen, in- dem sie Flüchtlinge mit Peitschen und Knüppeln aus der Stadt jagt. Jetzt wälzt sich ein Treck von einer Viertelmillion Menschen auf einen Nationalpark zu, 50 Kilometer von Goma, wo es wenigstens frisches Wasser gibt. Die Gebiete außerhalb Gomas, die die zairische Regierung zu Lagern er- klärt hat, sind von den Hilfsorganisatio- nen kaum zu erreichen. „Die Straßen sind so verstopft mit Flüchtlingen, daß wir mit unseren Lastwagen nicht durch- kommen“, sagt Panos Moumtzis vom Uno-Flüchtlingswerk.

L. DELAHAYE / MAGNUM / FOCUS An die 100 000 entkräftete Menschen Flüchtlingskind, tote Mutter: Hoffen auf ein Wunder oder auf den Tod umlagern immer noch die Straße zum

DER SPIEGEL 30/1994 113 .

AUSLAND

Die Flüchtlinge sind hier rechtlos. Die Soldaten neh- Nahost men ihnen alles ab, was sie für wertvoll halten. Sogar Halbtote kann man noch ausplündern. Kampf um Auch die ausländischen Helfer bekommen die Kleptokratenallüren der Davids Stadt Landesherren zu spüren. Die Paßkontrolle berech- Schwierigstes Thema beim Frie- net bei der Einreise 150 Dollar Visagebühren. densgipfel zwischen Israels Pre- Oberstleutnant Klaus Hoy- mier Rabin und Jordaniens König er, Kapitän der „August Euler“, konnte erst einen Hussein: das Tabu Jerusalem. Tag später als geplant nach Goma starten, weil die lickt Jordaniens König Hussein aus dortige Flughafenkomman- seinem Palast in Amman nach We- dantur zunächst die irrsin- Bsten, kann er in klaren Nächten nige Landegebühr von den Widerschein Jerusalems ausma- 15 000 Dollar von ihm ver- chen: Die Lichter der historischen Me- langt hatte. tropole lassen den Himmel über der Jor- Was tun? dansenke goldrot erglühen – nur 70 Ki- Panos Moumtzis vom lometer entfernt, doch seit 27 Jahren für Flüchtlingshilfswerk sagt: den Monarchen unerreichbar. „Hier hilft nur eins: eine Jetzt aber rückt die Möglichkeit nä- schnelle militärische Ope- her, daß der Regent, der die Altstadt Massengrab in Goma: Abgekippt wie Müll ration, die Infrastruktur und das Westjordanland 1967 an Israel schafft, die Verteilung von verlor, Jerusalem wieder besuchen Flughafen und das Gelände beiderseits Lebensmitteln sichert und Ordnung in kann. „Der König“, sagt ein Vertrauter der Rollbahn – weil sie glauben, daß sie das Chaos bringt.“ Husseins, „will schon bald in der Al-Ak- dort der Rettung etwas näher sind. Für Die schnelle Eingreiftruppe der Fran- sa-Moschee beten – vielleicht noch in viele war es eine tödliche Hoffnung. Die zosen in Bukavu, zwei Autostunden ent- diesem Jahr.“ Zufahrtsstraße ist gesäumt von langen fernt, hat alles, was hier dringend benö- Hussein käme freilich nicht als sieg- Reihen von Leichen, die in Bastmatten tigt wird: Lastwagen, schweres Pionier- reicher Souverän, sondern als Friedens- gewickelt sind. Mindestens ein Drittel gerät, Ingenieure. Und vor allem Solda- partner des lange bekämpften Juden- der Toten sind Kinder. ten, die darauf gedrillt sind, unter er- staates: Anfang dieser Woche werden Am Rande des Sportplatzes kurz vor schwerten Bedingungen Ordnung zu Israels Premier Jizchak Rabin und Jor- der Stadt sind mit schwerem Straßen- schaffen. Doch die Soldaten beschrän- daniens König in Washington den jahr- baugerät Massengräber angelegt wor- ken sich darauf, die Leichen zu vergra- zehntelangen Kriegszustand zwischen den. Weil die nicht reichten, werden ben. Y ihren Ländern beenden. draußen vor der Stadt Gräben von 10 mal 20 Metern ausgehoben. Manchmal warten zwei, drei Laster voll Leichen vor den Gruben auf Entla- dung. Weil es zu viele geworden sind, kommen die meisten Toten jetzt so, wie sie an der Straße aufgelesen werden, ins Grab. Sie werden abgekippt wie Müll: Der Laster fährt rückwärts an die Grube heran. Dann schieben Arbeiter die To- ten mit Schüppen und Besen von der Ladefläche direkt in die Grube. Die Arbeiter fassen die Leichen nicht an, weil sie Angst haben, sich zu infizie- ren. Wenn die Grube voll ist, wird sie von einem Caterpillar zugeschoben. Das geht alles sehr schnell und routinemä- ßig. Kevin Noone von einer irischen Hilfsorganisation hat einen Mann, den sie gerade in die Grube werfen wollten, im letzten Moment vor dem Erstik- kungstod gerettet: „Halt, den hier nicht, da ist noch Leben drin.“ Für die Militärs der Garnison von Go- ma, die seit Monaten keinen Sold mehr bekommen haben, weil die Regierung in

Kinshasa pleite ist, hat der Exodus aus POLY-PRESS dem Nachbarland auch etwas Gutes. Islamisches Heiligtum Felsendom: „Hoffnung auf gemeinsame Verantwortung“

114 DER SPIEGEL 30/1994 .

US-Präsident Bill Clinton will die Gelegenheit nutzen, um sich – zehn Monate nach dem historischen Hand- schlag zwischen Premier Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat – einmal mehr „Die Zeit ist reif“ als nahöstlicher Friedensstifter darzu- stellen. Doch nicht nur für Clinton ist Kronprinz Hassan über den Frieden mit Israel der prestigeträchtige Gipfel mit Gala- Dinner im Weißen Haus wichtig, auch Hassan Ibn Talal, 47, jüngster Bru- takt. Damaskus hat uns wissen las- die neuen Friedenspartner Hussein und der von König Hussein, ist Stell- sen, daß es unsere Bemühungen um Rabin brauchen präsentable Erfolge. vertreter des jordanischen Monar- die Rückgewinnung unseres von Is- Israels Premier muß der Öffentlich- chen. rael besetzten Territoriums und die keit beweisen, daß seine Friedenspoli- Festschreibung unseres Rechts auf tik in Nahost endlich greifbare Verän- SPIEGEL: Vergangene Woche betrat mehr Wasser von Jordan und Jar- derungen schafft. Denn die Verhand- mit Außenminister Peres nach 46 muk unterstützt. lungen mit Syrien stagnieren, obwohl Jahren Kriegszustand erstmals offi- SPIEGEL: Syrien wird also hinneh- US-Außenminister Warren Christopher ziell ein israelisches Regierungsmit- men, daß Jordanien einen Friedens- vergangene Woche wieder einmal zwi- glied jordanischen Boden, und schon vertrag mit Israel unterzeichnet? schen Damaskus und Jerusalem pen- diese Woche treffen sich König Hus- Hassan: Syrien hat nicht nur uns, delte. sein und Jerusalems Premier Rabin sondern auch dem amerikanischen Zudem hat die Praxis der israelisch- zu einem Friedensgipfel in Washing- Außenminister versichert, daß es palästinensischen Koexistenz nach blu- ton. Warum plötzlich dieses Annä- selbst an einem Frieden mit Israel in- tigen Ausschreitungen im Gazastreifen herungstempo? teressiert ist. an Vorbildcharakter eingebüßt: Schuß- Hassan: Wir überstür- SPIEGEL: Aber doch wechsel zwischen Israels Sicherheits- zen nichts, sondern be- nur an einem umfas- kräften und der Palästinenser-Polizei wegen uns im Rahmen senden Friedensver- sowie mörderische Terroranschläge is- der Meilensteine des trag und nicht an sepa- lamischer Fundamentalisten untergra- arabisch-israelischen raten Friedensabkom- ben zunehmend den Rückhalt für Ra- Friedensprozesses. men, von der Verlet- bins dünne Regierungsmehrheit. SPIEGEL: Treibt Sie zung der arabischen König Hussein, 58, der während des nicht doch eher ameri- Boykottbestimmungen Golfkrieges durch seine Irak-freundli- kanischer Druck und gegen Israel ganz zu die Gefahr, daß sich schweigen. Israel und die PLO Hassan: Auch wir be- Jerusalem hinter Ihrem Rücken stehen auf einem Ge- wird kein einigen – auf Kosten samtfrieden. Überre- zweites Berlin Jordaniens? gionale Fragen – etwa Hassan: Die USA P. GRANSER / ASPECT das Problem der aus üben keinen Druck auf Kronprinz Hassan ihrer Heimat geflüch- che Haltung das Wohlwollen der USA uns aus. Sie leisten teten oder vertriebe- verloren hatte, wird durch das Treffen durch ihre Vermittlungsarbeit einen nen Palästinenser – lassen sich nur in Washington als Partner der Welt- wesentlichen Beitrag zur Überwin- in einem internationalen Rahmen macht geadelt. Zudem will Clinton den dung der Hürden, die Jordanien lösen. Andererseits können Proble- Auftritt des Königs beim Friedensgip- und Israel noch zu bewältigen ha- me, die nur Israel und einen seiner fel üppig entlohnen – militärische Hilfe ben. Anrainer betreffen, durchaus bilate- und 1,5 Milliarden Mark Schuldenerlaß SPIEGEL: Macht Ihnen nicht Israels ral gelöst werden. Genau das ma- wurden in Aussicht gestellt. Doppelstrategie zu schaffen? Erst chen die Palästinenser. Und den Is- Die Begegnung, von US-Außenmini- stellt Jerusalem Ihnen eine enge rael-Boykott gibt es de facto kaum ster Christopher zum „Meilenstein für wirtschaftliche Zusammenarbeit in noch. Nein, die Zeit ist reif, wir Nahost“ erhoben, könnte nicht nur Aussicht, dann jedoch einigt sich können uns dem Zeitgeist nicht ent- Probleme der Grenzziehung, Wasser- dieselbe Regierung zu Lasten Jor- ziehen. rechte oder Flüchtlingsfragen lösen, daniens mit PLO-Chef Jassir Arafat SPIEGEL: Wann bekommen die Jor- über die Expertenkommissionen beider auf eine enge Kooperation mit den danier die Vorteile der mit Israel Länder seit vergangener Woche bera- Autonomiegebieten. begonnenen Friedensverhandlungen ten. Obendrein ist Premier Rabin erst- Hassan: Unstimmigkeiten bestehen, zu spüren? mals bereit, mit König Hussein über die müssen auch ausgeräumt wer- Hassan: Schon bald. Die Stimmung ein Tabuthema zu reden, das wegen den. Wir handeln jedoch nicht, weil von Krieg und Feindschaft hat sich seiner religiös-historischen Sprengkraft uns irgendeine Seite in Zugzwang bereits jetzt verflüchtigt. Wir sind bislang in allen Nahost-Verhandlungen gebracht hätte. Jordanien macht dabei, ein ganzes Paket praktischer ausgeklammert blieb – die Zukunft Je- seine eigene Politik. Erleichterungen zu schnüren: von rusalems. SPIEGEL: Ihr arabischer Nachbar Verbesserungen im grenzüberschrei- Mit markiger Propaganda hatte Syrien steht den Israelis bei den tenden Verkehr – in Kürze wird die PLO-Chef Arafat seine Ansprüche auf Friedensverhandlungen nun prak- jordanisch-israelische Grenze zwi- Ost-Jerusalem als Hauptstadt eines Pa- tisch allein gegenüber und könnte schen Akaba und Eilat geöffnet – lästinenserstaates angemeldet: „Wir ge- Sie des egoistischen „Separatfrie- bis zu aufwendigen Gemeinschafts- hen von Gaza nach Hebron und dann dens“ bezichtigen. projekten wie einem Verbindungs- nach Jerusalem, Jerusalem, Jerusalem, Hassan: Jordanien steht mit der sy- kanal zwischen Totem und Rotem um dort zu beten“, tönte er bei seinem rischen Führung in ständigem Kon- Meer zur Nutzung von Wasserkraft. Einzug in die autonomen Gebiete. Und vor Glaubensbrüdern in Südafrika

DER SPIEGEL 30/1994 115 .

AUSLAND

forderte er gar den „Heiligen Krieg“ zur genesen, auf solch ein Angebot einläßt, dungen. Sie haben den dritten Kriegs- Befreiung Jerusalems. zumal Arafat Ende vergangener Woche winter vor Augen und sind sich im kla- „Der Kampf hat begonnen“, titelte ankündigte, den König nach Jerusalem ren darüber, was auf die ausgemergelte das Tel Aviver Massenblatt Maariv. begleiten zu wollen. Immerhin ließ Hus- Zivilbevölkerung ein weiteres Mal zu- Selbst die Tauben in Rabins Regierung sein durchblicken, daß Jordaniens For- kommen könnte. Die Militärführung in verurteilten Arafats Aufruf als „gefähr- derungen keine unbotmäßigen „Besitz- Sarajevo kennt zudem ihre Trümpfe: liche Provokation“. Die Stadt Davids ansprüche“ seien, sondern lediglich Erstmals seit zweieinhalb Jahren ge- gilt nicht nur religiösen Juden seit Jahr- Ausdruck „religiöser Verantwortung“. lingt es ihren Truppen, Land zurückzu- tausenden als Hort ihres Glaubens; Je- Und der König sagte auch, wie er sich gewinnen. rusalem beflügelte auch die ideologische die Zukunft Jerusalems vorstellen könn- In nächtlichen Attacken fügen die Phantasie der zionistischen Pioniere. te. „Wir hegen die Hoffnung“, so der hochmotivierten Kämpfer den ermat- Seit der Eroberung Ost-Jerusalems im Haschemit, „daß der Tag kommen wird, teten serbischen Freischärler- und Sechstagekrieg 1967 und der prompten da diese gemeinsame Verantwortung Tschetnikverbänden an der über 1000 Annexion ist die Stadt Mittelpunkt im Davidstern, Kreuz und Halbmond um- Kilometer langen Frontlinie bei Sabo- existentiellen Selbstverständnis Israels. faßt.“ Y tageattacken empfindliche Verluste zu. Der Status von Jerusalem eint frie- Wie einst die Aggressoren, ignorieren densbewegte Linke mit rechten Ultras – die Moslems heute die Befriedungs- beide halten fest an der „auf ewig unge- Bosnien appelle der hilflosen Uno-Blauhelme. teilten Hauptstadt Israels“. Auf Unter- Die müssen wegen der eigenen unzu- stellungen der Opposition, die Stadt länglichen Bewaffnung und wegen ih- werde aufgeteilt, reagierte Rabin res begrenzten Mandats einer erneuten empört: „In der Frage von Einheit und Mann gegen Verschärfung des Bosnien-Konflikts ta- Souveränität gibt es in der Bevölkerung tenlos zusehen. keine Spaltung – das zu sagen wäre eine „Das kann noch 20 Jahre Krieg be- maßlose Lüge.“ Und Außenminister Pe- Mann deuten“, prophezeit der britische Uno- res sekundierte: „Jerusalem wird kein Kommandeur Andrew Ridgeway. zweites Berlin.“ Nach der Ablehnung des jüngsten „Wer soll die Hitzköpfe nun zur Ver- Gleichwohl suchen Rabin und Peres Genfer Friedensplans durch die nunft bringen?“ Die neue Taktik im Jordaniens Herrscher mit kleinen Zuge- Balkankrieg heißt Partisanenkampf: ständnissen zu ködern: Der König, als Serben suchen die Moslems die Mann gegen Mann. haschemitischer Herrscher Hüter der militärische Entscheidung. Im fernen Genf klammert sich unter- islamischen Heiligtümer Jerusalems, dessen die internationale Staatenge- dürfte bei einem Besuch als religiöser Sachwalter von Felsendom und Al-Ak- s ist Halbzeit“, sagen die Verteidi- sa-Moschee auftreten, müßte aber auf ger, „in der zweiten Spielhälfte ge- „Landkorrekturen, um alle politischen Forderungen verzichten. Ewinnen wir.“ Die Männer vertrauen den Lebensraum Noch ist unsicher, ob sich der Mon- ihrem Chef Rasim Delic´. Und wie ein arch, angeblich von einem Krebsleiden Fußballtrainer verkündet der General: der Serben zu wahren“ „Wir haben die bessere Kondition und Ausdauer. meinschaft – angeführt von den USA Jetzt legen wir los.“ und Rußland sowie mit Unterstützung Spiel oder Krieg? Bei Deutschlands, Frankreichs und Groß- Radio Sarajevo gingen britanniens – an ein Stück Papier. Es während der Fußball-WM wird bald genauso Makulatur sein wie Sportberichte und Meldun- frühere Friedensentwürfe: Nach dem gen vom Schlachtfeld in- Vance-Owen-Plan vom Winter 1992, einander über. Gab es der Bosnien in einen Flickenteppich Neues von der Front, war aus zehn autonomen Kantonen teilen der Sender über Amateur- wollte, und der deutsch-französischen funk live dabei. Spielten Initiative vom vorigen Herbst, die ei- sich in den USA aufregen- ne lockere Drei-Völker-Konföderation de Ballszenen ab, schalte- vorsah, ist auch der neueste Vorschlag ten die Redakteure auf nur ein Dokument der Hilflosigkeit – Sport um. vom selbsternannten bosnischen Ser- General Delic´ ließ seine benparlament am vergangenen Diens- Soldaten in den Schützen- tag verklausuliert zu Grabe getra- gräben mit beiderlei gen. Kampfberichten aufmun- Serben-Vormann Radovan Karadzˇic´ tern. Der bosnische Ober- fordert „Landkorrekturen“ am Genfer befehlshaber scheint zu Vorschlag, sonst wird er nicht zustim- wissen, daß es bald mit den men. Der Plan sah vor, das bosnische Scharmützeln der vergan- Territorium in etwa gleich große Hälf- genen Wochen vorbei sein ten – 49 Prozent für die Serben, 51 für wird. Der Krieg tritt in eine Moslems und Kroaten – zu tranchieren neue, womöglich entschei- (siehe Grafik). dende Phase. Außerdem verlangt Karadzˇic´ einen Die Serben versuchen direkten Zugang zum Adriatischen

AP zwar ein Spiel auf Zeit, Meer und unzählige Konzessionen, US-Außenminister Christopher, König Hussein doch die Moslems drängen „um den Lebensraum des serbischen Mit Schuldenerlaß geködert auf militärische Entschei- Volkes zu wahren“.

116 DER SPIEGEL 30/1994 . AP REUTER Serbenführer Karadzˇic´, Moslemgeneral Delic´: „Wer soll die Hitzköpfe zur Vernunft bringen?“

Darunter fällt für den Kriegstreiber Die militärische Verlockung für eine Diktat der „Yankees“ zu unterwerfen. auch die Ausweitung des sogenannten Entscheidungsschlacht ist groß: Wird Belohnt wird der Kriegsherr durch die Posavina-Korridors entlang der Save- der Korridor geschlossen, dann be- Unentschlossenheit der internationalen Tiefebene – eine für die serbischen kommt Bosnien in der Posavina einen Friedensvermittler. Sie hatten allen Verbände lebenswichtige Ost-West- direkten Land- und Nachschubweg Parteien vor drei Wochen ein Ultima- Bresche. nach Ostkroatien. Da es zwischen tum gestellt: Den Moslems wurde bei Durch sie verläuft der einzige Nach- Kroaten und Moslems hier im vergan- einer Ablehnung damit gedroht, die in- schubweg vom Mutterland zu den Er- genen Jahr nicht zu blutigen Bruder- ternationale Wirtschaftsblockade gegen oberungen in Westbosnien und in der kämpfen kam wie in anderen gemischt- Belgrad sofort zu lockern. Und die kroatischen Krajina. Serben-Widersa- ethnischen Regionen, etwa bei Mostar, Serben sollten durch die Ankündigung cher Delic´ würde den stellenweise nur vertraut die Führung in Sarajevo der geschreckt werden, der Westen werde noch vier Kilometer breiten Korridor Kriegsstrategie ihrer Generäle. das Waffenembargo gegenüber Saraje- lieber heute als morgen durchtrennen: Slobodan Milosˇevic´, 52, Präsident vo umgehend aufheben. „Das ist die Achillesferse, da schnei- und uneingeschränkter Herrscher Ser- Geschehen ist bisher nichts. Bos- den wir durch.“ biens, begriff die verfahrene Situation. niens Führung nörgelt bereits, zu dick Für diesen Stoß sind die letzten Vor- Seinen Zögling Karadzˇic´ versuchte er sei die Beute, die der serbische Ag- bereitungen getroffen. An der Save in den vergangenen Wochen mehrmals gressor behalten dürfe. ziehen die Kroaten aus der Zagreber dazu zu bringen, Zeit zu schinden und Ministerpräsident Haris Silajdzˇic´ ver- Republik ihre fähigsten Kämpfer zu- die Initiative der großen Zwei doch zu- langt 58 Prozent des Territoriums für sammen, darunter nicht wenige mosle- mindest formal anzunehmen – um sie seine Landsleute zurück. In einer mische Flüchtlinge. In Nordbosnien später wieder zu brechen. Doch Kara- Fernsehansprache wurde der Moslem konzentriert Armeechef Delic´ seine dzˇic´ überhörte die Warnungen des Ser- noch deutlicher: „Bosnien ist unteil- Männer entlang der letzten Bergkette benzars oder tat zumindest so. bar“ – eine indirekte Aufforderung an vor der Tiefebene. Jetzt sitzen die Ser- Belgrads Paladin dröhnte unterdes- die Militärs, zum großen Gegenschlag ben in der Falle. sen, er denke nicht daran, sich einem zu rüsten. Y

Bevölkerungsverteilung in Bosnien vor Kriegsausbruch Derzeitiger Frontverlauf in Bosnien Jüngster Genfer Teilungsplan Save KROATIEN Save KROATIEN Save KROATIEN

Posavina Ko rrido Banja Banja r

SERBIEN Luka SERBIEN Luka SERBIEN

KROATIEN KROATIEN KROATIEN Sarajevo Sarajevo Sarajevo Gebiete mit Mostar mehr- mehr Mostar heitlich als 2/3 Kampf- gebiete serbischer, MONTE- Serben MONTE- MONTE- von Serben, moslemischer, Dubrovnik NEGRO Dubrovnik NEGRO Moslems/Kroaten Dubrovnik NEGRO kroatischer Moslems/Kroaten unter zweijähriger Bevölkerung gehaltene Gebiete Uno-Kontrolle

DER SPIEGEL 30/1994 117 .

AUSLAND

USA Tausend Wunden Sexaffären, Kokainmißbrauch, Mordbefehle – von radikalen Gegnern muß sich Clinton Aber- witziges vorwerfen lassen.

er Film beginnt in Zeitlupe. Eine L. DOWNING / NEWSWEEK K. BUTLER / LGI Ehrenformation der Navy mar- Clinton-Feinde Nichols, Limbaugh: Kampf um Macht und Moneten Dschiert im dunkelblauen Parade- wichs über die Pennsylvania Avenue, Anti-Clinton-Kampagne, die derzeit das Licht zu setzen und damit ihre schon am Straßenrand eine bunte Masse fähn- Land überzieht. 80 Minuten lang wird jetzt nicht schlechten Aussichten auf ei- chenschwenkender Menschen. dem US-Präsidenten so ungefähr alles nen Machtwechsel in der Volksvertre- Ganz langsam eingeblendet, löst sich vorgeworfen, worauf sich eine kriminel- tung weiter zu verbessern. Bill Clinton aus dem Hintergrund und le Karriere gründen läßt: Lug und Be- In die Medienschlacht um sein Anse- schreitet wie in Trance, die Miene tri- trug, Drogenmißbrauch und Geldwä- hen zieht Bill Clinton mit einem seit ei- umphierend, über einen roten Teppich. sche, Erpressung und sogar mehrfacher nem Jahr nicht mehr durchlittenen Die unscharfe Nahaufnahme verzerrt Mord. Eine erste Fassung dieser Clin- Meinungstief: Nach einer vorige Woche das Gesicht mit den allergieverquolle- ton-Saga erreichte sechsstellige Ver- veröffentlichten Umfrage sind gerade nen Augen zu einer Fratze krankhaften kaufsziffern. noch 42 Prozent der Amerikaner mit Siegesrausches – suggestiver Beleg für „Wie kein anderer Präsident“ zuvor ihrem Präsidenten zufrieden. Und trotz den Kommentar aus dem Off: werde er diffamiert und attackiert, ent- der erfolgreichen Europareise ist die „Am 20. Januar 1993 wurde William rüstete sich Clinton kürzlich vor offenen Zustimmung zu seiner Außenpolitik Jefferson Clinton der 42. Präsident der Mikrofonen. Zu Anfang einer Woche, von 54 auf 33 Prozent abgestürzt. Vereinigten Staaten. Damals wußten die bereits eine Entscheidung über seine „Der Präsident stirbt den Tod der die Amerikaner noch nichts über Clin- Präsidentschaft einleiten könnte, liegen tausend Wunden“, fürchtet der Politik- tons kriminelle Vergangenheit.“ bei Clinton und Co. die Nerven bloß. wissenschaftler Ross Baker. Zwar seien An diesem Dienstag auch andere Präsidenten „gleichzeitig beginnen im Kongreß verteufelt und verehrt“ worden, meint die öffentlichen Anhö- die kalifornische Professorin Susan rungen über Vorgänge Estrich. Clintons Pech aber sei die sug- um den Tod des Präsi- gestive Kraft der elektronischen Me- dentenfreundes und dien, die seine Feinde bevorzugt nut- -mitarbeiters Vincent zen. Foster, der sich vor ei- Landauf, landab schießen sich Hun- nem Jahr das Leben derte von Radiomoderatoren auf den nahm – unter myste- Präsidenten ein. Talk-Show-Star Rush riösen Begleitumstän- Limbaugh hat meist nur ein Thema: die den, behaupten Clin- angeblichen Skandale der Clintons. ton-Gegner. Eindeuti- Daß die Rattenfänger so erfolgreich ger Freitod, lautete da- mit oft grotesken Anschuldigungen gegen der Befund des Stimmungsmache betreiben können, unabhängigen Unter- liegt jedoch auch an Clinton selbst. An- suchungsrichters, der ders als am Teflon-Präsidenten Ronald mit den Ermittlungen Reagan, an dem selbst die illegalen beauftragt war. Waffenverkäufe des Iran-Contra-Skan- Vor den Fernsehka- dals abglitten, bleibt an Bill Clinton je- meras wird nun erneut der Anwurf kleben. Bislang, so urteilen

LEVY / LIAISON / STUDIO X die Grundstücksaffäre selbst Meinungsforscher der Demokra- Skandaltitel über Clinton: Die Mehrheit bleibt skeptisch um einen Freizeit- ten, vermochte der nur von einer Min- wohnpark namens derheit gewählte Präsident das Miß- Während seiner zwölf Amtsjahre in Whitewater ausgebreitet. Sie hatte be- trauen der Mehrheit nicht zu überwin- Arkansas habe der Gouverneur Clinton reits zu Jahresanfang wochenlang die den. den Bundesstaat unter seine „absolute Regierung gelähmt. Doch niemand Auf 30 Millionen schätzen Meinungs- Kontrolle“ gebracht, fährt der Sprecher konnte den Clintons bislang juristisch forscher den harten Kern der Amerika- fort: „Als Präsident will er das gleiche relevantes Fehlverhalten nachweisen. ner, die Bill Clinton aus tiefstem Her- nun mit der ganzen Nation tun.“ Die oppositionellen Republikaner se- zen hassen. Weit mehr noch zweifeln Die „Clinton Chronicles“, für 40 Dol- hen das anders. Vor den im Herbst an- am Charakter des Präsidenten. lar (plus Versandkosten) angeboten, stehenden Zwischenwahlen zum Kon- Deswegen haben zwielichtige Figuren sind wohl der Höhepunkt einer wüsten greß suchen sie Clinton in ein schlechtes wie Larry Nichols leichtes Spiel. Ni-

118 DER SPIEGEL 30/1994 chols, früher ein Behördenangestellter Clinton sei ein „Tyrann, ein Mon- jährlich umgesetzt. Der Hinweis auf die im Bundesstaat Arkansas, wird derzeit ster“, geifert auch der Anti-Abtrei- angebliche Gefahr Clinton macht Spen- in der rechten Szene als Starzeuge ge- bungs-Agitator Randall Terry. Selbst dengelder locker und treibt den Repu- gen Clinton herumgereicht. Er ist der zur Beisetzung der Präsidenten-Mutter blikanern neue Wähler zu. „Wir schau- erste, der öffentlich über die Sexaffä- waren im bitterkalten Januar Demon- en 20 Jahre voraus, nicht 2“, triumphiert ren seines ehemaligen Arbeitgebers be- stranten über Hunderte von Kilometern Ralph Reed, Geschäftsführer der Chri- richtet hat. angereist, um Clinton als „Babyschläch- stian Coalition. Heute verkündet er ungestraft in ter“ zu entlarven. Die neue Galionsfigur der christlichen Talk-Shows, der Präsident sei „kokain- Vor allem der religiösen Rechten war Fundamentalisten, Iran-Contra-Oberst- abhängig“. Überdies habe Clinton – nach dem Ende des Kalten Krieges und leutnant Oliver North, schickte nach sei- neben anderen – den ehemaligen Si- der Implosion des Sowjetreiches der ei- ner Wahl zum republikanischen Senats- cherheitschef seiner Wahlkampforgani- nigende Angstgegner abhanden gekom- kandidaten für Virginia den „Clintons sation erschießen lassen. Nichols’ Haß men. Der derzeitige Pappkamerad im und ihren Busenfreunden“ bereits eine ist erklärbar: In einem häßlichen Sor- Kampf um Macht und Moneten heißt unverblümte Kampfansage: „Dies ist gerechtsverfahren hatte sich seine Ex- Bill Clinton. unsere Regierung. Ihr habt sie gestoh- Frau erfolgreich von der Anwältin Hil- Hunderte von Millionen Dollar wer- len, und wir werden sie euch wieder lary Clinton vertreten lassen. den im Netzwerk der religiösen Rechten wegnehmen.“ Y

Bangladesch zierten durch feministische Rheto- rik. Und ihr Roman „Lajja“ (Schan- de), zu dessen Schlüsselszenen eine Vergewaltigung hinduistischer Frau- Zorn der Mullahs en durch Moslems gehört, wurde verboten. Fanatiker verschärfen die Hatz auf Taslima Nasrin Sie fürchte den Zorn der Mullahs nicht, sagte sie im SPIEGEL und er- klärte den Koran für „überflüssig“. ir können kein normales Le- gegen anzuschreiben.“ Vier Tage Sie forderte „eine Welt ohne Religi- ben mehr führen“, sagt Fai- nach dem Gespräch erließ die Regie- on“ und Unterdrückung. Wzul Kabir, der Bruder der rung von Premierministerin Khaleda „Ich bin einsam. Meiner Freiheit von islamischen Fundamentalisten in Zia Haftbefehl gegen die streitbare beraubt durch die Schranken der Bangladesch zum Tode verurteilten Dichterin, weil die in einer indischen Gesellschaft“, schreibt Nasrin in ei- Schriftstellerin Taslima Nasrin. „Wir Tageszeitung angeblich die Revision nem ihrer Essays. „Gefangene kön- wagen uns kaum vor die Tür, denn des Koran gefordert hatte. Taslima nen Gefängnismauern überspringen wir fürchten, daß wir nicht mehr zu- Nasrin, 32, ging in den Untergrund. und fliehen. Ich aber, die ich die ge- rückkommen werden.“ Seit Faizul, „Wir wissen nicht, ob sie noch lebt sellschaftlichen Schranken über- 42, Klage gegen jene erhoben hat, und unter welchen Umständen“, springe, kann nirgendwo hin.“ Nach die für den Mord an seiner Schwe- sagt ihr Bruder Faizul. „Eine Kon- sieben Wochen Isolation muß ihr ster ein Kopfgeld aussetzten, gelten taktaufnahme wäre zu gefährlich.“ diese philosophische Betrachtung die Rachegelüste fanatisierter Mos- Jahrelang hat Nasrin die Entrech- wie ein Lagebericht vorkommen. In lems auch ihm: Faizul und seine Fa- tung der Frau durch religiösen Dog- einem flehentlichen Appell, der An- milie wurden Geiseln einer falsch matismus bekämpft. Ihre Gedichte fang Juli Amnesty International in verstandenen Gottesfurcht. erregten Anstoß wegen ihrer sexuel- London erreichte, heißt es: „Bitte Seit Wochen ziehen von religiösen len Freizügigkeit, ihre Essays provo- retten Sie mich.“ Eiferern aufgehetzte Demonstran- Als Retter erboten sich am ver- ten durch die Städte von Bangla- gangenen Montag die Außenmini- desch. Mit Bambusstöcken und Ma- ster der Europäischen Union: Als cheten bewaffnet, fordern sie den Reaktion auf eine Kampagne der Tod Nasrins. Bärtige skandieren Schriftsteller Salman Rushdie, Mar- „Hängt sie auf!“ und präsentieren tin Walser und Günter Graß ließen fertig geknüpfte Galgenstricke. Die sie durch den derzeitigen EU-Mini- Schlangenbeschwörer drohten, sterratspräsidenten Klaus Kinkel 10 000 Giftschlangen freizusetzen, Aufnahmebereitschaft signalisieren sollte die „fatwa“ – das Todesurteil – – falls Nasrin ihr Land zu verlassen nicht vollstreckt werden. Um ihrer wünscht. Die Regierung Zia besteht Forderung Nachdruck zu verleihen, jedoch auf ihrem Erscheinen vor Ge- brachten sie ihre Pythons und Ko- richt. Und die Fundamentalisten set- bras mit zur Kundgebung. zen zur Großoffensive an: Bei einem Die Treibhatz hat zumindest eins für kommenden Freitag geplanten bewirkt – sie hat die Frau zum landesweiten Sternmarsch wollen sie Schweigen gebracht, die noch An- den Kopf der Gotteslästerin fordern, fang Juni in einem SPIEGEL-Inter- „damit Teufel wie sie nie mehr in die view (24/1994) erklärte: „Hier wird Versuchung kommen, sich an der soviel Unrecht im Namen Allahs be- Verfemte Nasrin Religion des Propheten zu versündi- gangen. Ich kann nicht aufhören, da- „Ich kann nirgendwo hin“ gen“.

DER SPIEGEL 30/1994 119 Werbeseite

Werbeseite .

AUSLAND

Polen Erst die Pflicht Studienfahrt ins KZ: Ein US-Tourismusunternehmer führt „Schindler-Touristen“ zu den Stätten des Holocaust.

ls junges Mädchen hatte Halina Rosenkranz, 41, einen häufig wie- Aderkehrenden Traum. Sie steht mit ihren Eltern und tausend anderen Menschen auf einem riesigen Appell- platz. Da kommt der Mann, auf den sie

seit Stunden gewartet hat: Er trägt ei- G. MENN / FOCUS nen dunklen Schnurrbart und führt ei- US-Reisende in Auschwitz-Birkenau: „Das Böse in der Luft fühlen“ nen großen Schäferhund an der Leine. Ein Mensch, der Tiere liebt, denkt Ha- für die Vermarktung eignet. „Die exklu- sucht. Von „Ergriffenheit“ ist die Rede, lina, kann nicht grausam sein – deshalb sive Tour“ führt vom ehemaligen jüdi- von „Spurensuche“ und immer wieder geht sie furchtlos auf den Mann zu, um schen Viertel in Krakau und vom Kon- diffus von „Gefühlen“. „Den Ort des ihn zu fragen, warum er ihre Großel- zentrationslager Auschwitz-Birkenau Grauens“, sagt Dorraine Roseman im tern, ihre Tanten und Onkel ermordet durch „Oskar Schindlers Polen“ in elf Stammlager Auschwitz, „habe ich mir habe. Städte Galiziens – zu den „Wurzeln jüdi- ganz anders vorgestellt.“ Grauenhafter Jetzt steht die New Yorker Psycholo- scher Kultur“. Versprochen wird ein irgendwie, vielleicht wie im Film, jeden- gin wirklich vor dem Haupttor von Besuch im Dokumenten-Archiv von falls „nicht so sauber und ordentlich her- Auschwitz II, Birkenau – dem Ort, an Auschwitz, um die Namen der eigenen gerichtet“. dem ihr früher so oft in ermordeten Familienmitglieder einzuse- Eher unvermittelt, in Momenten, die Alpträumen begegnet ist. hen. das Programm nicht eingeplant hat, „Erkennst du das Tor wieder?“ fragt „Ich bin hier“, sagt die zierliche Dor- packt die an Kitsch gewöhnten Ameri- Halina ihre Mutter und richtet ihre Vi- raine Roseman, 58, „weil es nicht aus- kaner der echte Horror. deokamera auf die Deportationsgleise. reicht, Bücher zu lesen und Filme zu se- Von den Krematorien des Lagers Bir- „Ja, sicher“, sagt Sylvia Prypstein, 66, hen. Ich will unsere Geschichte fühlen.“ kenau stehen nur noch Ruinen. Die Be- „aber 1943 war hier kein Gras, da tram- Jason Schneider, 19, jüdischer Student sucher gehen über eine Wiese, so groß pelten wir im Matsch herum.“ aus New Orleans, ist gekommen, „weil wie ein Fußballfeld. Mückenschwärme Auf dem Unterarm der alten Dame jeder junge Mensch Auschwitz gesehen hängen über der Sumpflandschaft. Nach ist eine bläulich schimmernde fünfstelli- haben muß“. Die Krankenschwester vier Stunden Auschwitz und drei Stun- ge Zahl tätowiert. Die Überlebende mit Marlynn von Bergen, 67, selbst keine Jü- den Birkenau sind Körper und Seele er- der Nummer 39 931 betritt nach einem din, inspirierte das Kino-Erlebnis beim schöpft. Die weißen Splitter, die dicht halben Jahrhundert das Vernichtungsla- Besuch von „Schindlers Liste“ zur Reise. an dicht zwischen den Grasbüscheln lie- ger, in dem sie 18 Monate interniert Sie buchte, um „an Ort und Stelle nach- gen, fallen keinem aus der Gruppe auf. war. Sie kommt als Touristin mit dem zuempfinden, wie die Opfer gefühlt ha- Reiseleiter Feiler geht in die Hocke und amerikanischen Reiseunternehmer Stu- ben“. hebt einen Splitter auf. „Das sind Kno- art Feiler und dessen „Schindler-Tour“. Das gelingt kaum den Opfern selber. chenreste“, sagt er. Mehrere Familienangehörige Feilers, Und Sylvia Prypstein ist keineswegs si- Die drei Worte klingen nach, als ob er 52, sind von den Nazi-Schergen umge- cher, ob sie sich noch mal so fühlen will laut gerufen hätte. Sekundenlang sagt bracht worden. Er will sowohl gewöhn- wie während ihrer Internierung im Block keiner etwas. Die Unternehmerin Rose- liche US-Touristen als auch jüdische B I mit Blick auf die Krematorien. man faßt sich als erste: „Was für Kno- Überlebende und deren Nachfahren an Die Baracke, in der die 15jährige mit chenreste?“ Feiler: „In den Verbren- die Orte des Schreckens führen – und ihrer Schwester schlief, wurde wie die nungsöfen fiel so viel Asche an, daß die vermischt dabei clever Kino-Wirklich- meisten Lagergebäude abgerissen. Jetzt Nazis nicht wußten wohin damit und sie keit aus Steven Spielbergs Film steht die Frau vor irgendeiner anderen einfach auf die Wiesen und in die Teiche „Schindlers Liste“ und historische Fak- dreistöckigen Pritsche und tastet die höl- schütteten.“ Schweigen. „Sollte man die ten. zerne Oberfläche ab, aus der ein paar Knochen nicht beerdigen?“ fragt Halina Gemeinsam mit einem polnischen Nägel ragen. Reiseleiter Feiler besinnt Rosenkranz. Das findet der Tourismus- Reiseunternehmen entwarf Feiler eine sich auf seine Entertainer-Qualitäten. experte nicht. „Hier könnt ihr das Böse neuntägige „Exkursion an die Stätten Keines seiner Schäfchen soll in Depres- in der Luft fühlen.“ jüdischen Lebens“. Auschwitz zum An- sionen fallen: „Ist das deine Koje?“ fragt Adam Roussell, 19, ein schwarzer fassen – eine Gratwanderung zwischen er. „Hast du damals deinen Namen in das Student, fühlt „Eifersucht“. Den Erbauung und KZ-Tourismus. Holz geritzt?“ schwarzen Amerikanern, sagt er, fehl- Schon Feilers Werbung zeigt, wie we- Keiner der KZ-Touristen, Opfer oder ten die Gedenkstätten. „Die Sklaven- nig sich das Thema des Massenmordes nicht, kann genau erklären, was er hier schiffe sind für immer untergegangen“,

DER SPIEGEL 30/1994 121 .

AUSLAND

er meint das nicht so bedauernd, wie es sich anhört. Aber eine Gesellschaft, die SPIEGEL-Gespräch ihre Katharsis im Reality-TV findet, braucht starke Reize, Sklavenschiffe beispielsweise oder KZ, um Schuld und Verantwortung zu empfinden, wirklich „Das hier ist wirklich oder virtuell. Spurensuche. In Kazimierz, dem ehe- maligen jüdischen Viertel von Krakau, lebten vor dem Überfall der Nazis ein Irrenhaus“ 60 000 Juden. Heute sind davon noch 186 übrig. Die ehemals großbürgerli- Ukraine-Präsident Leonid Kutschma über Reformen, Russen und Deutsche chen Häuser verfallen. Wer jüdisches Leben sucht, findet hier kaum etwas. Die Alte Synagoge wurde nach dem Krieg in ein Museum umgewandelt. Ausgestellt sind Schaumstoff-Torsi in der traditionellen Tracht eines jüdisch- orthodoxen Ehepaares. „Die Kleidung deiner Großeltern“, erklärt Sylvia Prypstein ihrer Tochter. „Menschen, die ich eigentlich kennen sollte“, sagt Halina, Menschen, die aber im Lager Bełzec umgebracht wurden. Auch Holocaust-Touristen werden müde. Aber Vietnam-Veteran Feiler treibt seine Truppe an: „Erst die Pflicht, folks, dann das Vergnügen.“ Das findet abends im Cafe´ Ariel ne- ben der Synagoge statt. Der Laden ist gerammelt voll. Unternehmer Feiler zeigt sich plötzlich empfindlich. „Die machen hier aus allem Geld. Jüdisch ist schick“, sagt er, „jetzt, da es kaum noch Juden gibt.“ Gruppenführer Feiler drängt zur Ei- le. „Come on jews, selection“, ruft er über die Straße. Nach einigen Tagen haben sich die Reisenden an seinen

Humor gewöhnt. „Wenn das Entsetzen A. KLYMENKO fast unerträglich wird“, sagt Sylvia Kutschma (r.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Sonst werfen die mich raus“ Prypstein, „hilft mir sein Sarkasmus so- gar.“ SPIEGEL: Leonid Danilowitsch, warum Kutschma: Ich bin nicht der Präsident ir- Der Veranstalter kalkuliert, wieviel haben Sie die Präsidentschaftswahlen ge- gendeiner Region, sondern des ganzen Trauerarbeit er seinen Kunden zumu- wonnen? Landes. Die Kluft betrifft nicht die Geo- ten kann. In Galizien soll aus dem Hor- Kutschma: Die Leute hatten diebisherige graphie, sondern die politische Position. rortrip eine Bildungsreise werden. Politik satt. Einen Staat auf nationalisti- Ich möchte wirklich nichts zu tun haben Aber Schmerz ist nicht planbar. In scher Grundlage aufzubauen, diese Idee mit Leuten, die nur ihre eigene Ideologie der Synagoge von Łan´cut, wo Bilder, ist tot. Beinahe 90 Prozent der Menschen gelten lassen. Wir haben erlebt, wohin so Reliefs und Talmud-Überlieferungen leben an der Armutsgrenze. Sie haben etwas führt. plastisch machen, was alles zerstört keine Hoffnung, sie sehen kein Licht am SPIEGEL: Sie gehörten einmal zur sowje- worden ist, fängt Student Jason Schnei- Ende des Tunnels. tischen Elite. Wann haben Sie denn er- der zu weinen an. Hier findet er, was er SPIEGEL: Im Wahlkampf entstand der kannt, daß das sowjetische System sich „roots“ nennt, seine Wurzeln, hier fühlt Eindruck, Sie würden die Ukraine in die überlebt hat? er Verbundenheit mit seinen Urgroß- Arme von Mütterchen Rußland zurück- Kutschma: Bei meiner ersten Auslands- eltern, die um die Jahrhundertwende führen wollen. reise nach Italien . . . nach Kalifornien ausgewandert sind. Kutschma: Auf so etwas habe ich nicht SPIEGEL: . . . dort sahen Sie, daß sich Jason will wiederkommen. einmal angespielt. Ich habe nur von einer auch anders leben läßt. Für Sylvia Prypstein hingegen, die je- Partnerschaft mit Rußland gesprochen, Kutschma: Was heißt übrigens Elite? Für der Friedhof und jede zerstörte Synago- so wie auch Deutschland sie haben möch- mich bedeutete das, Tag und Nacht zu ar- ge an ihr eigenes Leiden und an die Er- te. Rußland ist schließlich ein großer beiten, auch am Samstag und Sonntag, mordung ihrer Familie erinnern, war Markt, unser Nachbar, unser traditionel- und nach einer Woche schon aus dem Ur- diese Tour „die erste und letzte Rück- ler Rohstofflieferant. laub wieder zurückgerufen zu werden. kehr in dieses Land“. Ihrer Tochter zu- SPIEGEL: Betrachtet man die Wahlergeb- SPIEGEL: Ihrem Potential nach hat die liebe hat sie die Qual der Wiederbegeg- nisse, sind Sie nicht der Präsident der Ukraine das Gewicht einer europäischen nung auf sich genommen. Die unheil- Westukraine. In Lwiw, Lemberg, haben Großmacht, wenn sie es denn richtig vollen Bilder ihres Lebens trägt sie stets sich die Wähler zu 90 Prozent für Ihren nutzt. mit sich herum. „Um mich zu erin- Konkurrenten Krawtschuk ausgespro- nern“, sagt sie, „muß ich nicht nach Po- chen. Was werden Sietun, um diese Kluft * Mit Redakteuren Fritjof Meyer und Martina Hel- len reisen.“ Y zwischen West und Ost zu überwinden? merich.

122 DER SPIEGEL 30/1994 .

gen in den Klub der sieben großen Indu- Kutschma: Ja, ich habe Raketen für den Leonid Danilowitsch striestaaten. Ich möchte da nicht am Kosmos hergestellt, aber heute stehe ich Rande stehenbleiben. mit beiden Beinen auf der Erde. Die Kutschma SPIEGEL: Die G-7-Staaten haben der Atomwaffen brauchen wir nicht mehr. Ukraine vier Milliarden Dollar angebo- Aber esgibt ja auch die zivile Raumfahrt. schwor nach seinem Wahlsieg am vorigen ten, die Sie abrufen können, wenn Sie Die Raketen aus meiner Fabrik Jusch- Dienstag auf die Bibel als neuer Staatsprä- eine vernünftige Reformpolitik betrei- masch sind anerkanntermaßen die besten sident der Ukraine, eines Industriestaats ben. Was ist Ihr Programm? der Welt. größer als Frankreich. Die Wirtschaft des Kutschma: Jeder dritte Betrieb bei uns SPIEGEL: Landes ist ruiniert – Vorgänger Leonid Heute stellt Juschmasch auch muß stillgelegt oder umfunktioniert Krawtschuk, ein ehemaliger KP-Ideologe, Trolleybusse her. hatte jegliche Reformen verhindert. Zudem werden, das ist klar. Aber gleichzeitig Kutschma: Als ich dort Direktor war, ha- hatte er seinen Premier Kutschma, der Prei- müssen Mittel für die soziale Absiche- be ich mich neun Monate damit beschäf- se freigab und das inflationäre Gelddrucken rung der freigestellten Arbeiter zur Ver- tigt, so ein Ding zu entwickeln. Das war untersagte, nach elf Monaten Amtszeit im fügung stehen – man kann die Leute bitter – mit unserer Spitzentechnologie September zum Rücktritt gebracht. Während doch nicht auf die Straße werfen, sonst Krawtschuk als Nationalist agierte, um sich werfen die mich raus. „Als Direktor entwickelte den Wählern im moskaufeindlichen Westen SPIEGEL: Wie halten Sie es mit dem Pri- des Landes zu empfehlen, stützte sich Kut- vateigentum an den Produktionsmit- ich neun Monate schma, 56, auf die weithin von Russen be- teln? lang einen Trolleybus“ wohnte Ostukraine. Sein Ruf, das Land wie- Kutschma: Ohne das bewegt sich nichts der in eine Union mit dem Energielieferan- nach vorn. ten Rußland zurückführen zu wollen, gründe- SPIEGEL: Auch in der Landwirtschaft? sozusagen Kochtöpfe zu fertigen. Aber te sich auch auf seine Karriere. Die war mit Kutschma: Haus und Garten sollen pri- das Volk braucht was zu essen. der Weltmachtrolle der Sowjetunion eng ver- vates Eigentum sein, Ackerland auf 99 SPIEGEL: Die Umstellung auf zivile Pro- bunden: Der Bauernsohn aus dem Dorf Jahre zur Pacht vergeben werden. Wir duktion will nicht gelingen? Tschaikino nordöstlich von Kiew brachte es müssen auf die Mentalität der Bauern Kutschma: In der Rüstung arbeiteten die unter dem Schirm der KPdSU zum promo- Rücksicht nehmen, vorsichtig vorgehen besten Köpfe und die geschicktesten vierten Ingenieur. Zehn Jahre lang arbeitete und Erfahrungen sammeln. Hände. Sie verlassen uns jetzt. Bei 37 er im Raumfahrtzentrum Baikonur, dann im SPIEGEL: Und in der Industrie? Prozent Haushaltsdefizit können wir die größten Raketenkonzern der UdSSR, der Kutschma: Privatisierung meinetwegen militärische Produktion nicht mehr finan- Dnjepropetrowsker „Südlichen Maschinen- bis zu 100 Prozent. Auch ausländische zieren. Wenn wir aber die Betriebe fabrik“ (russisch: Juschmasch). Dort stieg er Firmen können sich bis zu 100 Prozent schließen, gehen die Belegschaften auf zum Parteisekretär, 1986 zum Generaldi- beteiligen, das habe ich gerade den Sie- die Straße und revoltieren. rektor auf. Für den Bau der Atomraketen mens-Leuten gesagt: Ich möchte sie hier SPIEGEL: West-Investitionen sollen die SS-18 und SS-20 erhielt er im Nato-Nachrü- nicht nur als Verkäufer sehen, sondern Lücke schließen. Die billigere Arbeits- stungsjahr 1979 den Leninpreis. Vor vier als Warenproduzenten. Wenn ich in ei- kraft in der Ukraine ist Ihre Chance. Jahren ging Kutschma in die Politik. Um die nem halben Jahr durchs Land fahre, will Kutschma: Ich bin bereit, alle Türen zu Ukraine aus der Isolation zu führen, setzte ich auch Fabriken sehen, die ausschließ- öffnen, alle Gesetze, die hinderlich sind, er seine Hoffnungen auch auf deutschen lich ausländischen Investoren gehören. zu ändern. Wenn wir weiter Zeit verlie- Beistand. Bislang wurde er enttäuscht. SPIEGEL: Gilt die Privatisierung auch ren, gehen wir den Weg Jugoslawiens. für Rüstungsbetriebe? Wir haben Atomkraftwerke und haufen- Kutschma: Eine so große Rüstungspro- weise Waffen herumliegen. Wenn ichmir Kutschma: Der Eintritt der Ukraine in duktion, wie wir sie haben, brauchen das durchdenke, wird mir ganz übel. Die den Weltmarkt hatte zur Folge, daß wir gar nicht. Sie macht ein Drittel unse- ganze Ukraine ist ein Pulverfaß. Rußland seine Energiepreise für uns um rer Industrie aus. SPIEGEL: InderUkrainegibtesabernicht das Vieltausendfache erhöhte, um meh- SPIEGEL: Das sagt der erfolgreichste solche ethnischen Konflikte wie im ehe- rere tausendmal! Die von uns produzier- Raketenproduzent der Welt. maligen Jugoslawien. ten Waren aber sind nicht kon- kurrenzfähig genug, um gleich- zuziehen. SPIEGEL: Sie plädieren jetzt für einen einheitlichen Wirtschafts- raum mit Rußland? Kutschma: Vor allem möchten wir einen gemeinsamen Markt mitDeutschlandhaben,dasgeht leider nicht. SPIEGEL: Noch nicht. Die Ukraine ist ein reiches Land mit Rohstoffen, Industrie und einer mächtigen Landwirtschaft. Kutschma: Wir brauchen aber Know-how und Technologie, und das können wir nur aus dem Westen kriegen. Ich befürworte eine Partnerschaft mit Rußland, Kasachstan und Belorußland, aber bitte nicht auf Kosten unse-

rer Beziehungen zu Deutsch- TRANSIT land. Rußland drängt mit Ellbo- Kutschma-Raketenfabrik „Juschmasch“: „Das Volk braucht was zu essen“

DER SPIEGEL 30/1994 123 .

AUSLAND

Kutschma: Trotzdem benutzte mein Ge- chenschaft leisten zu müssen. Damals Ich sage dennoch: Bitte kommen Sie, in- genspieler Leonid Krawtschuk das Argu- wurde ich ausgetrickst. vestieren Sie in die Industrie, die Metall- ment eines angeblichen ukrainisch-russi- SPIEGEL: In den ersten Tagen nach Ih- urgie, die Konsumgüterproduktion. Tun schen Gegensatzes, wofür er eigentlich rem Wahlsieg erweckten Sie den Ein- Sie etwas für die Stabilität in Europa. zur Rechenschaft gezogen werden müß- druck, das Präsidentenamt sei Ihnen SPIEGEL: Leonid Danilowitsch, Sie ha- te. Er unterstellte mir, die Ukraine nach eher Last als Lust. Fängt es jetzt an, ben die Deutschen schon ein bißchen Rußland zurückführen zu wollen. Seine Spaß zu machen? kennengelernt, als Kind erlebten Sie die Parole lautete: Wer Krawtschuk wählt, Kutschma: Nein, Spaß wird es mir nie deutsche Besatzung. wählt den Frieden, Kutschma aber be- bereiten. Kutschma: Sie waren sehr freundlich, als deutet Krieg. Dabei hat doch er das Land SPIEGEL: Sie sind aber nicht der Mann, sie kamen, und schenkten uns Bonbons. in eine Krise geführt, die einen Krieg der sich am liebsten auf seine Datscha Beim Rückzug verbrannten sie unser nicht mehr ausschließt. zurückzieht und Gitarre spielt. Dorf, und wir mußten in die Wälder SPIEGEL: Das klingt sehr düster. Kutschma: Das Präsidentenamt ist hier flüchten. Kutschma: Bald kommt der Herbst, die nicht so bequem wie bei Ihnen oder in SPIEGEL: Die Bundesrepublik haben Sie Ernte steht schlecht, die Taschen sind Frankreich. Auf meinem Weg sind viele dreimal besucht. leer. Wir schulden den Russen für Gas Minen mit Zeitzünder versteckt, die Kutschma: Als Generaldirektor von über eine Milliarde Dollar. noch hochgehen können. Krawtschuk Juschmasch habe ich sogar vier Wochen SPIEGEL: Wie geht es weiter? hat viele Geschenke für die Wähler ge- lang einen Managementkurs in West- Kutschma: Es darf nicht zur Revolution macht, die erst bezahlt werden müssen, deutschland absolviert. kommen. Es gibt nur die Alternative: zum Beispiel viel zu hohe staatliche An- SPIEGEL: Welche Eindrücke haben Sie Entweder schaffen wir es mit Hilfe kaufpreise für Getreide. Dabei werden von den Deutschen gewonnen? Kutschma: Die allerbesten. Wir konnten einander gut verstehen. Unsere Men- schen sind genauso wie die Ihren, siekön- nen genauso gut arbeiten. Es war das Sy- stem, das uns behindert hat, und jetzt ist es noch schlimmer geworden. Uns fehlen vor allem Wirtschafts- und Verwaltungs- kader. Die tüchtigen Leute gingen meist „Rußland dreht an zwei Hähnen für Öl und für Gas – auf oder zu“

nach Moskau, wo ohnehin alles entschie- den wurde. SPIEGEL: Was meinen Sie, wann Ihr Land die Stellung erreicht haben wird, die ihm zukommt? Kutschma: Wenn einige große Firmen aus dem Westen auf unseren Markt kom-

A. KLYMENKO men, dann habe ich die Zuversicht: Der Kutschma-Vorgänger Krawtschuk (M.): „Kutschma bedeutet Krieg“ Prozeß ist im Gange, wie Michail Gorba- tschow das auszudrücken pflegte. des Westens, oder wir stürzen wie ein wir womöglich die schlechteste Ernte SPIEGEL: Jetzt erwartet Gorbatschow mit Kartenhaus zusammen, und mehrere haben, die es je gab. einem Präsidenten Kutschma die Wie- Regionen trennen sich von unserem SPIEGEL: Muß die Ukraine wieder Ge- dervereinigung der slawischen Bruder- Staat. Ich kenne die Stimmung im treide importieren? völker unter neuen Bedingungen. Donbass, wo die Bergleute seit einem Kutschma: Uns könnten zwei Millionen Kutschma: Hier irrt Gorbatschow, die Vierteljahr keinen Lohn bekommen Tonnen fehlen, und die Dollar dafür Ukraine bleibt unabhängig. Aber Tatsa- haben. erst recht. Das hier ist wirklich ein Ir- che ist: Noch heute dreht Rußland an SPIEGEL: Geraten Sie mit Ihrer Reform- renhaus. zwei Hähnen, einem für Öl und einem für politik nicht in Widerspruch zum Parla- SPIEGEL: Wie wollen Sie die Reformen Gas. Es dreht auf oder zu und setzt so 52 ment? Der Führer der stärksten Frakti- im Verwaltungsapparat durchsetzen? Millionen Menschen inder Ukraine unter on, der Kommunisten, plädiert für eine Die lokalen Funktionäre möchten oft Druck. Unsere Schulden Rußland gegen- staatlich gelenkte Wirtschaft. die westlichen Kapitalisten nur melken. über sind auf 5,5 Milliarden Dollar aufge- Kutschma: Auch die Kommunisten be- Ein Beispiel: Ein deutscher Investor laufen. wegen sich zur Mitte des politischen sucht ein Grundstück für eine Tabakfa- SPIEGEL: Rußland behandelt Sie noch Spektrums hin. Auch sie wissen, ein Zu- brik in Kiew, aber die Stadtverwaltung immer als den kleineren Bruder? rück ist nicht mehr möglich. Meine Pro- findet keines. Staatliche Handelsorgani- Kutschma: Dazu erzähle ich Ihnen eine bleme mit den Linken sind nicht größer sationen bezahlen ihre Rechnungen Geschichte: Ein Russe und ein Usbeke als mit den Nationalradikalen, die in der nicht oder lassen der Fabrik das Gas ab- trafen sich einmal in der Wüste und woll- Ukraine nur Platz für Ukrainer sehen. stellen. Dem Investor wird Schutzgeld ten ihren Wasservorrat teilen. Wie unter Wir müssen den zivilisierten Weg auf abgefordert, Beamte wollen bestochen Brüdern, schlug der Russe vor. Der Us- dem Boden der Verfassung gehen. Ich werden. beke fiel auf die Knie und barmte, bitte werde allerdings nicht zulassen, daß es Kutschma: Die Macht liegt heute eben nein, bitte zu gleichen Teilen. mir ergeht wie damals als Ministerpräsi- bei den lokalen Behörden wegen des SPIEGEL: Leonid Danilowitsch, wir dan- dent: jeden Tag vor dem Parlament Re- Gesetzes über lokale Selbstverwaltung. ken Ihnen für dieses Gespräch. Y

124 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite . BILDERBERG FOTOS: M. ENDE / Goldwäscher am Rio Peixoto: „Es ist nichts mehr zu holen“

verlassen. Er trat eine Odyssee an, die nem vergessenen Winkel des Riesenlan- Brasilien ihn kreuz und quer durch Brasilien des. führte – immer auf den Spuren des Doch die Fofocas sind selten gewor- Goldes. den. Zuletzt fand Luis pro Monat gerade „Damals konnte man bis zu drei Kilo noch Goldkörner im Wert von 50 Dollar, Leer und arm im Monat schürfen“, erzählt er und weniger als ein brasilianischer Mindest- kippt das dritte Glas Zuckerrohr- lohn. „Das Fest ist aus“, klagt er. „Es ist Der Goldrausch ist vorbei, die schnaps. „Ich habe so viel verdient, nichts mehr zu holen.“ An der namenlo- Schatzgräber haben aufgegeben. daß ich Feste für hundert Personen sen Bar mitten in der Wildnis von Mato schmiß.“ Luis ließ sich Gold in die Grosso wartet er auf einen Lastwagen, Sie hinterlassen eine verwü- Schneidezähne einlegen, ging mit schö- der ihn zur Bundesstraße mitnimmt. stete und verseuchte Landschaft. nen Frauen aus und fuhr einen Gelän- Überall in Brasilien geht die Epoche dewagen – der Traum aller Garimpei- der Goldsucher zu Ende: Auf dem Flug- ros, wie die Goldsucher in Brasilien ge- hafen der Garimpeiro-Stadt Boa Vista, wischen Tümpeln und Kratern, wo nannt werden, schien in Erfüllung ge- wo einst mehr Maschinen starteten als in die Schlammpiste endet und die gangen zu sein. Rio, werden heute nur noch wenige Li- ZGoldsucher mit einem Floß aus zu- Wurde das Gold knapp, zog Luis nienflüge abgefertigt. Die gigantische sammengebundenen Ölfässern über das weiter. Garimpeiros sind Nomaden. Goldgrube an der Serra Pelada, wo Brackwasser setzen, lehnt Luis am Tre- Selten hält es sie länger als einige Mo- 85 000 Menschen wie Ameisen im Dreck sen und schwärmt von besseren Zeiten. nate am selben Ort, immer folgen sie wühlten, hat sich mit Wasser gefüllt. Nur Vor 18 Jahren hatte der 52jährige Mu- der „fofoca“ – dem letzten Gerücht einige hundert Verzweifelte suchen wei- latte seine Heimat im armen Nordosten über neue Vorkommen irgendwo in ei- ter. Auf dem Rio Madeira, wo die Wage-

Prostituierte, Goldgräbersiedlung Peixoto: „Hier war Himmel und Hölle zugleich“

126 DER SPIEGEL 30/1994 .

mutigsten, von Leinen über die Schlammpisten mit den neue- gehalten, nach dem sten Automodellen aus Sa˜o Paulo, die Metall tauchten, ver- sie mit Goldklumpen bezahlt hatten. rotten die Schwimm- „Hier war Himmel und Hölle zu- bagger. gleich“, erinnert sich Delc¸o Ferreira Hunderttausende Barbosa, genannt „Der Panther“. von verarmten Garim- „Über Nacht konnte man ein Vermögen peiros versuchen un- machen oder es verlieren.“ terdessen, in den Der Panther war vor zwölf Jahren Slums der Städte seß- dem Goldrausch nach Peixoto gefolgt. haft zu werden. Dabei In seiner Heimat, dem südlichen Bun- sind Brasiliens Gold- desstaat Santa Catarina, hatte er Medi- schätze längst nicht er- zin studiert, aber als Garimpeiro ließ schöpft. Aber das Me- sich mehr verdienen. Mit dem ersten tall läßt sich nicht selbstgeschürften Gold eröffnete er ein mehr in Handarbeit Geschäft für Goldgräberausrüstung. Bei auswaschen. Um die ihm deckten sich die Abenteurer mit tiefer liegenden Adern Schüsseln, Schaufeln und Maschinen ein auszubeuten, sind teu- – oder sie kauften Dum-Dum-Geschos- re Maschinen nötig. se für ihre Revolver, um sich gegen Die industrielle Revo- Überfälle zu verteidigen. lution in den Minen Der Panther stieg zum größten Ein- machte viele Garim- zelhändler der Region auf, hundert An-

peiros zu Lohnarbei- S. SALGADO / MAGNUM / FOCUS gestellte arbeiteten in seinen drei Läden tern. Goldrausch 1986 (an der Serra Pelada) und schufteten in seinen Goldgruben. Früher war der Nor- Alles mit Nuggets bezahlt „Ich hatte drei Autos und flog zum Ur- den von Mato Grosso laub nach Rio“, sagt er wehmütig. ein Staat im Staat, wo allein das Gold Glücksritter, die in Baracken hausten. Der Rausch währte bis zu jenem regierte, das tonnenweise ausgewaschen In der Trockenzeit wühlten mehr als schwarzen März vor vier Jahren, als der wurde. Mit billigem Land und wohlfei- 100 000 am Fluß nach Gold. Neuan- damalige Präsident Fernando Collor alle len Versprechungen hatte die Regierung kömmlinge schlugen einfach ein paar Bankguthaben einfrieren ließ und den in den siebziger Jahren Kolonisten ange- Pfosten in den Lehm und deckten die Kurs des Cruzeiro mit einer Währungs- lockt, um die nahezu unerschlossene Unterkunft mit schwarzen Plastikplanen reform hochtrieb, um die Inflation zu Region zu besiedeln. ab. Viele begannen direkt vor ihrer Ba- bekämpfen. Weil der Kurs des Dollar, Über die legendäre Bundesstraße BR racke zu graben: Die ungepflasterten durch Spekulationen überhöht, mit dem 163 strömten Tausende von Habenicht- Straßen stießen so entlang den Gold- Währungsschnitt rapide fiel und der sen nach Norden, die als Kleinbauern adern in die Wildnis vor. Goldpreis über Nacht um 70 Prozent ein neues Leben beginnen wollten. En- Die Garimpeiros, zumeist alleinste- sackte, schrumpften auch die Barschaf- de der siebziger Jahre wurden Garim- hende Männer, zogen Tausende von ten der Garimpeiros. In Peixoto de Aze- peiros in der Gegend fündig. Viele Sied- Prostituierten an. Schießereien und vedo stürmten aufgebrachte Goldsucher ler verließen ihre Äcker und jagten dem Messerstechereien forderten jeden Tag den Markt und plünderten Geschäfte. Gold nach. Am Rio Peixoto, 800 Kilo- Dutzende Opfer. Peixoto de Azevedo Inzwischen haben die meisten Garim- meter nördlich von Mato Grossos galt als gewalttätigste Stadt Brasiliens. peiros aufgegeben, die Stadt ist auf Hauptstadt Cuiaba´, entstand eine der Gold war die einzige Währung: Pro- 25 000 Einwohner geschrumpft. An vie- größten Goldgräbersiedlungen Brasi- stituierte und Flugtickets, Werkzeug len Bretterbuden hängen verwitterte liens: Peixoto de Azevedo. und Kleidung wurden mit Nuggets be- Verkaufsschilder, ganze Häuserblocks Binnen Monaten gesellten sich zu den zahlt; Geschäfte zeichneten ihre Preise sind verlassen. In einer Bar tanzen vier 2000 Bewohnern des Ortes 70 000 in Gramm aus. Taxifahrer holperten einsame Prostituierte miteinander. Die

Im Streit erschossener Garimpeiro, verarmter Goldsucher: „Das Fest ist aus“

DER SPIEGEL 30/1994 127 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

AUSLAND

Luft ist geschwängert vom Gestank der offenen Abwassergräben am Straßen- rand. Kinder mit aufgeblähten Bäuchen spielen in den Pfützen, die Gesichter von Moskitos zerstochen. Peixoto hält nur noch einen Rekord: Es ist die Malaria- Hauptstadt Brasiliens. Die Goldgräber haben Hunderte von Kratern hinterlassen, in denen das Re- genwasser steht – ideale Brutstätten für Moskitos. Einige Goldsucher überlebten bis zu 70 Malaria-Attacken. Im Garimpeiro-Krankenhaus, einem heruntergekommenen Bretterbau am Stadtrand, dämmern 30 kranke Goldsu- cher vor sich hin; mehr Betten gibt es nicht. „Täglich warten bis zu 120 Patien- ten vor der Tür, aber wir haben weder Platz noch Geld, um sie zu versorgen“, berichtet der Arzt Susomo Nikawa. Um die Mücken abzuwehren, kauen die Goldsucher Knoblauch. Medikamen- te können sie sich nicht leisten, ihr Gold haben die meisten sofort für Schnaps und

Frauen umgetauscht. Kaum jemand hat FAHN / SCHAPOWALOW eine Familie, die ihm beistehen könnte. McDonald’s in Prag: Renoviert, gebaut, neu eröffnet „Garimpeiros wollen keine Bindungen eingehen“, sagt Luciano Schneider, der Warschauer Pakt übernommen“, sagt Priester von Peixoto. „Selbst das Gold Tschechien Jan Stankovsky, Experte des Österrei- gilt vielen als Teufelszeug, sie geben es chischen Instituts für Wirtschaftsfor- schnell wieder aus.“ schung in Wien. Für 1994 sagen die Ex- Nur wenige versuchen sich als Land- perten ein Wirtschaftswachstum von wirte und Rinderzüchter. Doch die Erde Enges Netz mindestens zwei Prozent voraus. Nur Po- gibt wenig her: Wo die Garimpeiros ab- len liegt hier mit geschätzten vier Prozent ziehen, hinterlassen sie verwüstete Na- Marktwirtschaftler Va´clav Klaus vorn. tur. Der Urwald ist weitgehend abge- bringt sein Land an die Doch auf allen anderen Gebieten ist holzt, viele Flüsse sind vom Quecksilber Tschechien Klassenprimus. Die Inflation verseucht. Die schlechten Straßen er- Spitze der Reformstaaten. Die im Lande des Schriftsteller-Präsidenten schweren den Transport zu den Märkten. Linke scheint chancenlos. Va´clav Havel beträgt neun Prozent. Die Die meisten Garimpeiros ziehen daher Notenbank verfügt über ein beruhigen- weiter in die Großstädte des Nordens und des Devisenpolster von fünf Milliarden Nordostens – so wie Luis. Sorgfältig ver- er Autoverkäufer in Prˇı´bram fin- Dollar, ein restriktiver Sparkurs machte knotet er seine wenigen Habseligkeiten det nur lobende Worte für den Re- die tschechische Krone zur härtesten in einer Plastiktüte und schwingt sich auf Dgierungschef. „Ohne Va´clav Klaus Währung Ostmitteleuropas. die Pritsche eines Lastwagens. Lachend könnte sich heute keiner so einen Wa- Premier Va´clav Klaus, 53, betont denn winkt er den Zurückbleibenden einen gen leisten“, sagt Lubosˇ Stra´nsky´ und auch gegenüber westlichen Politikern letzten Gruß zu. wendet sich einem jungen Mann mit Ak- gern, daß sein Land für den Beitritt zur Er ist so arm wie vor 18 Jahren, als er tenkoffer und der Figur eines Bodybuil- EU wirtschaftlich schon jetzt besser gerü- aufbrach, um sein Glück zu machen. Y ders zu, der sich nach der Lieferfrist für stet sei als so mancher westeuropäische den schnittigen Honda Civic erkundigt. Mitgliedsstaat. 700 Kilometer Der Preis von 619 000 Kronen schreckt Begünstigt wurde das tschechische Rio den Jungunternehmer keineswegs. Ein Wirtschaftswunder durch vergleichswei- N eg mazonas Durchschnittsverdiener müßte dafür se vorteilhafte Ausgangsbedingungen: ro A Belém acht Jahre arbeiten. Das Industriepotential war zwar veraltet, a „Da sehen Sie den Aufschwung“, sagt doch dem der übrigen Oststaaten überle- ra ic Se i n rra e ô X Stra´nsky´ und deutet stolz auf die gen, hinzu kam eine niedrige Auslands- d z i P a s n a ó e M j g

m l Prazˇska´ ulice. Wo noch vor zwei Jahren verschuldung. Die hatte allerdings eher a a

a p ú

ns a d Tra T a postkommunistische Tristesse herrsch- politische als wirtschaftliche Gründe, te, pulsiert jetzt ein belebtes Fußgänger- meint Jan Stankovsky: „Im Gegensatz zu

ia zentrum mit frisch renovierten Fassaden den Genossen in Polen und Ungarn ha- a u g und bunten Schaufenstern. ben die tschechischen Kommunisten nie Mato Peixoto a r Nicht nur in Prag, wohin ausländische versucht, sich die Gunst der Bevölkerung Grosso A Investoren und Touristen viel Geld mit Hilfe von Auslandskrediten zuerkau- pumpen, sondern auch in kleineren fen, die in Konsumgüter flossen.“ BR163 Städten ist der Boom der tschechischen Immerhin hatten sich die Tschechen, Wirtschaft deutlich zu sehen: Überall anders als Polen und Ungarn, nach 1945 Cuiabá wird renoviert, neu gebaut, werden zunächst freiwillig für den Kommunis- neue Firmen eröffnet. mus entschieden. Während in anderen „Tschechien hat eindeutig die Füh- Reformstaaten die Linke wieder an der

BOLIVIEN BRASILIEN rung der Reformstaaten im einstigen Macht ist, werden in Tschechien Sozial-

130 DER SPIEGEL 30/1994 .

durchgepäppelt wer- viel zu eng“, kritisiert Jirˇı´ Lobkowicz, den. Unternehmer und Sproß eines der er- Falbr führt die gün- sten Adelshäuser des Landes, der einen stige Arbeitslosenbi- Teil seiner Besitzungen vom Staat zu- lanz eher auf die „Ex- rückbekam. Ein Dorn im Auge sind Un- plosion des Dienstlei- ternehmern auch die staatlich regulier- stungssektors“ zurück. ten Löhne und Mieten. Im Unterschied zu Po- Va´clav Klaus, im Westen als bedin- len oder Ungarn, wo gungsloser Marktwirtschaftler bekannt, schon vor der Wende wird deshalb im eigenen Land heftig von Teile der Wirtschaft rechts kritisiert. Er lasse die stählerne privatisiert waren, gab Härte einer Margaret Thatcher vermis- es in der Tschechoslo- sen, keckern die Unternehmer. wakei bis zur „samte- Kritik an Va´clav Klaus und dem nen Revolution“ kei- tschechischen Weg üben zudem die Vi- nen privaten Sektor. segra´d-Partner Polen, Slowakei und Un- Das schuf einen unge- garn. Sie befürchten, daß die wirtschaft- heuren Nachholbedarf lich starken Tschechen im Alleingang des Dienstleistungs- nach Westeuropa stürmen. sektors, der freigesetz- „Das Abkommen von Visegra´d hat te Arbeitskräfte auf- keinen Sinn mehr“, sperrt sich Wirt- sog. schaftsminister Karel Dyba gegen alle Ein Viertel der ar- beitenden Bevölke- rung ist heute in ande- ren Berufen tätig als vor dem Abdanken der Kommunisten. Auto- verkäufer Stra´nsky´ et- wa diente noch un- längst als Hauptmann in der tschechischen Armee. „Dort gab es für mich keine Per- spektive“, erklärt er. Geht alles gut, will Stra´nsky´ sich in ein paar Jahren selbstän- dig machen. Der An-

FRIEDRICHSMEIER / SCHAPOWALOW teil des privaten Sek- J. GUYAUX Touristenstrom auf Prager Karlsbrücke tors am Bruttoinlands- Tschechischer Premier Klaus Für die EU gerüstet produkt liegt schon Im Alleingang nach Westen heute bei 60 Prozent. demokraten und Kommunisten kaum „Wir waren selber überrascht, wie ri- Träume von einer engeren politischen Chancen eingeräumt. sikofreudig die Tschechen sind“, sagt Zusammenarbeit Tschechiens mit den Trotz schmerzhafter Umbrüche, die Milan Hora´lek, Leiter eines For- östlichen Nachbarn, „wir brauchen kei- vor allem unqualifizierte Arbeiter und schungsinstituts im Arbeits- und Sozial- nen Armeleute-Klub.“ Schon heute Rentner treffen, geriet die rechte Regie- ministerium in Prag. Die meisten warte- orientiert sich der Außenhandel nach rungskoalition unter Va´clav Klaus nicht ten gar nicht erst auf staatliche Hilfe, Westen. Mit Deutschland macht er 30 ins Schlingern. Sie kann sich nach allen sondern verließen sich auf eigene Initia- Prozent des Gesamtvolumens aus, mit Umfragen nach wie vor auf eine solide tive und Findigkeit. den EU-Staaten insgesamt 60 Prozent. Mehrheit von 50 bis 60 Prozent stützen. Auch die alten Lenin-Jünger. Von Für Ungarn bleiben nur noch magere 3, „Wenn die Regierungsparteien keine den ersten 8000 Geheimdienstlern, die für Polen 6 Prozent. gravierenden Fehler machen, schließe abserviert wurden, meldeten sich gerade Va´clav Klaus läßt keinen Zweifel dar- ich einen Linksruck wie in Polen oder 46 bei den Arbeitsämtern. Die übrigen an, daß seine Regierung nicht gewillt ist, Ungarn aus“, sagt Richard Falbr, Chef fanden rasch auf eigene Faust Jobs, im die Vorreiterrolle der Reformer abzuge- des Dachverbandes der tschechischen Banksektor oder auch als Unternehmer. ben. Die postkommunistischen Länder Gewerkschaften Cˇ MKOS. Zufrieden „Das ist natürlich in mancher Hinsicht ordnet der Premier in drei Gruppen ein: konstatiert Falbr, daß die Rhetorik der bedenklich“, räumt Hora´lek ein, „ande- Eine sitzt noch im Wartesaal des Spitals Regierung radikaler ist als die Praxis: rerseits sind wir froh – wenigstens be- und glaubt, sie könne die nötige - „Klaus redet von Marktwirtschaft ohne kämpfen sie nicht die Demokratie.“ tion vermeiden und die Probleme mit Adjektiva, aber in der Praxis nimmt er Stolz verweist Hora´lek darauf, daß Quacksalberei kurieren. Die zweite liegt sehr wohl Rücksicht auf die Bedürfnisse die Bedingungen für Arbeitslose in im Operationssaal und macht gerade ei- und Ängste der Menschen.“ Tschechien härter sind als anderswo in nen schwierigen Eingriff durch. Die Ein Beweis: Die niedrige Arbeitslo- Europa. Tschechische Arbeitslose ha- dritte Gruppe aber hat diesen schon hin- sigkeit, mit rund 3,5 Prozent eine ben nur sechs Monate Stütze von be- ter sich und sammelt im Rehabilitations- Traumziffer – Polen: 15,7, Ungarn: stenfalls 60 Prozent des letzten Einkom- zentrum neue Kräfte. 12,3, Slowakei: 14,4 – konnte nicht zu- mens. Klar doch, wo Klaus sein Tschechien letzt dadurch erreicht werden, daß die Manchem riecht das immer noch nach sieht. „Wir sitzen im Fitneßzen- maroden Industriegiganten nach wie vor Wohlfahrtsstaat. „Das soziale Netz ist trum.“ Y

DER SPIEGEL 30/1994 131 . L. FISCHMANN / GRÖNINGER SC-Neubrandenburg-Geschäftsführer Jank, Dreispringer Mai: „Der Leistungssport ist zusammengebrochen, der Klub steht

Leichtathletik KATRINS SCHERBEN Östliches Know-how und westliches Geld sollten den SC Neubrandenburg zu einem Modellklub für das vereinte Deutschland machen und der Weltmeisterin Katrin Krabbe weitere Siege garantieren. Doping stoppte die Läuferin, der Verein geriet an den Rand des Ruins. Er hat sich vom Imageschaden immer noch nicht erholt.

ber seine markigen Sprüche von Vom Ambiente aus der Zeit des noch mit sich herum. Die übriggebliebe- früher kann sich Heiner Jank heute Ruhms sind nur die obligatorischen nen Athleten und Trainer sehen sich „in Ünur noch amüsieren. Ein Jahr nach Gummibäume in den grob zusammen- Sippenhaft genommen“, wie Kugelstoß- dem Fall der Mauer hatte der Geschäfts- geleimten Resopal-Blumenkästen ge- coach Dieter Kollark klagt. Jugendli- führer des SC Neubrandenburg den Ein- blieben. Der Niedergang, analysiert che, die zu einem Länderkampf nach gangsflur des Klubhauses geschmückt: Jank, 40, nüchtern, sei noch schneller Mecklenburg gefahren seien, berichtet Von „Weltklasse-Athleten“ und „Top- über seinen Klub gekommen als der Jank, hätten laut gerufen: „Wir fahren Trainern“ kündeten die Parolen, gerade Aufstieg. jetzt in die Doping-Hochburg.“ so, als seien die Transparente noch für Blond war der vor allem und eilte auf Geschäftsführer Jank stellt sich vor ei- eine von Erich Honeckers Mai-Paraden 1,15 Meter langen Beinen über die Tar- nem Plakat des Klubsponsors, das eine bestimmt. Neubrandenburg, stand da tanbahn. „Königin Katrin“, jauchzte Läufergruppe unter einer Freiluftdusche auf rotem Untergrund, sei der „erfolg- Bild nach Krabbes Weltmeistertitel 1991 zeigt, in Positur. „Der SC Neubranden- reichste Frauenclub der Welt“. über 100 Meter, die blonde Sprinterin burg“, klagt er dann mit Sinn für Sym- Jank fühlte sich damals zum schwül- war via Fernsehen in jeder deutschen bolik, „steht heute im Regen.“ stigen Eigenlob durchaus berechtigt. Wohnstube zu Hause. Doch wenig spä- Noch zur Wendezeit galt der Klub Hatten nicht gerade seine Sportlerinnen ter lästerte die taz über Krabbe als als Modell für das neue Deutschland. aus Mecklenburg bei der Europamei- „Deutschlands schnellste Apotheke“. Östliches Know-how zur Produktion sterschaft 1990 in Split sieben Goldme- Katrin Krabbe, kurz nacheinander in sportlicher Höchstleistung und westli- daillen geholt – und damit mehr als der zwei Dopingfälle verwickelt und ge- cher Kapitaleinsatz durch den US-Kon- gesamte westdeutsche Leichtathletik- sperrt, darf bis August 1995 nicht mehr zern Nike, so glaubten die Klubmanager Verband? Fernsehteams fielen gleich im laufen. Sie widmet sich ihrem Sportge- damals, könne harmonisch zu „einer Dutzend in Neubrandenburg ein, um schäft oder tingelt als Show-Gast durch Art Eliteverein“ zusammengefügt wer- Katrin Krabbe, die Darling-Deutsche die Provinz. Insgeheim hat sie sogar den. für Ost und West, vor die Kameras zu ganz mit ihrer Sportkarriere abgeschlos- Die Träume hielten gerade mal ein bekommen. Reporter aus der ganzen sen (siehe Gespräch Seite 134). Nur der Jahr. Als die beiden Vorzeigeathletin- Welt suchten vor Ort nach dem Erfolgs- Klub leidet weiter. nen Katrin Krabbe und Grit Breuer erst geheimnis des Mecklenburger Laufwun- Wie ein Menetekel trägt der SC Neu- der Urinpanscherei und später der Ein- ders. brandenburg die Dopinglast immer nahme des Kälbermastmittels Clenbute-

132 DER SPIEGEL 30/1994 .

SPORT

als sie sich bei schweißtreibenden Übun- Doch schon bald verwischte sich für gen mit alten Hanteln im Kraftraum rost- Kollark und Kumbernuss, die früher braune Hände geholt hatten, stand das „stolz auf unsere DDR“ gewesen waren, Steuergeschenk fest: Bonn spendierte 46 das einseitige Bild vom guten Osten und Millionen Mark für eine neue Sportanla- bösen Westen. „Richtig sauer“ ist die ge. Heute, weiß Jank, würde „eine solche ehemalige Sportstudentin inzwischen auf Halle mit Sicherheit nicht mehr geneh- Katrin Krabbe, ihre alte Klassenfreundin migt“. aus der Kinder- und Jugendsportschule. Dieter Kollark hält das neue Protz- Nach dem zweiten Dopingfall war Astrid stück, das bis 1995 fertiggestellt sein soll, Kumbernuss erst „geschockt“, später nur für „eigentlich sinnlos“. Dem Kugelstoß- noch „maßlos enttäuscht“. trainer erscheinen solche Millionen-In- Wie andere Trainer und Sportler des vestitionen als Ungereimtheiten des neu- SC Neubrandenburg fühlte sie sich von en Systems, das er nicht versteht. Weil Katrin Krabbe und ihrem Trainer Tho- der Staat für teure Sportbauten und Com- mas Springstein hintergangen, habe nun puter reichlich Geld ausgebe, „doch für selbst „unter den Dopingvorwürfen zu die Menschen nichts mehr übrig“ habe, leide auch der Spitzensport, klagt der Trainer in einer Tonlage, die vielen Ent- „Die Stimmung täuschten aus Ostdeutschland eigen ist. ist radikal Kollark, der sich vom Maurer zum Spitzentrainer hocharbeitete, hat mal umgeschlagen“ bessere Zeiten erlebt. 76Mitarbeiter, da- von allein 23 hauptberufliche Leichtath- leiden“. Niemand glaube, klagt Kollark, letik-Trainer, hatte einst der SC Neu- daß „allein dem Springstein eine Siche-

H. MÜLLER brandenburg. Als seine Lebensgefährtin rung durchgebrannt ist“. im Regen“ Astrid Kumbernuss 1990 Kugelstoß-Eu- Lange stand auch die Mecklenburger ropameisterin wurde, bekam Kollark Bevölkerung in einer Art östlicher Soli- rol verdächtigt wurden, ist der Verein, vom Deutschen Leichtathletik-Verband dargemeinschaft hinter Krabbe. In der wie Jank im Mecklenburger Idiom (DLV) prompt eine Zeitanstellung als PDS-Hochburg Neubrandenburg hatte klagt, „fast aufgeplatscht“. Bundestrainer. Springstein leichtes Spiel, die Stimmung Nike kürzte sein Engagement dra- Der strenge Trainer, der seine frühe- zu schüren. Er verbreitete die Mär, bös- stisch, andere Sponsoren sprangen ab. ren Unterrichtsformenselbst für „ein biß- willige Kräfte aus dem Westen stünden Ein internationales Leichtathletik-Mee- chen stalinistisch“ hält, konnte sich zwar hinter den Dopingprozessen und wollten ting wurde kurzfristig abgesetzt, Trainer noch damit abfinden, daß er zunehmend den Menschen „mit unserer Katrin“ auch und Sportler waren schließlich kaum Probleme mit Athleten bekam, die nicht noch die letzten Reste des DDR-Stolzes noch zu bezahlen. Die Modellwerkstatt mehr wie gewohnt spuren wollten. Als nehmen. des Sports hatte noch vor ihrer Fertig- sich indes „die einst perfekten Laborbe- Nach dem zweiten Dopingfall aber sei, stellung ausgedient. dingungen“ des SC Neubrandenburg mit so erinnert sich Jank, „die Stimmung ra- Wenn Jank heute aus dem Fenster Ärzten, Physiotherapeuten und Wissen- dikal umgeschlagen“. Der Verein trenn- seines Büros schaut, wird er stets an die schaftlern zunehmend verschlechterten te sich deshalb von Springstein und setzte Begeisterung vor vier Jahren erinnert. und er gleichzeitig die Chance bekam, zu- sogar gerichtlich durch, daß Katrin Krab- Wie Mahnsäulen ragen dort die Funda- sammen mit Astrid Kumbernuss ein be vorerst nicht mehr für den Klub star- mente des Rohbaus der neuen Leicht- Sportgeschäft zu eröffnen, gab Kollark ten darf. Aber selbst ein Kinderfest und athletikhalle aus dem Boden. Stolz fährt seinen Posten als Bundestrainer auf. Briefkastenaktionen lockten die verär- Jank mit dem Finger über gerten Zuschauer nicht das Modell der Sportare- ins Stadion zurück. na, das auf seinem Auch der Athleten- Schreibtisch steht. Und stamm bröckelte weiter. während er auf die Zur Europameisterschaft 100-Meter-Laufbahn, die fahren höchstens noch 200-Meter-Rundbahn, fünf Sportler aus Neu- Krafträume und Mehr- brandenburg nach Hel- zweckhalle zeigt, erzählt sinki, allein Astrid Kum- er mit Leidenschaft die bernuss hat dabei Medail- Geschichte von den ver- lenchancen. Notgedrun- dutzten Bundestagsabge- gen setzt der einstige Mo- ordneten. dellklub statt auf Spitzen- In den Tagen, als Ka- leistungen heute auf den trin Krabbe noch in den Breitensport. Herzen aller Deutschen Immer nur Doping und Platz hatte, war eine De- damit verbunden die ewi- legation des Sportaus- gen Lügen – an diesem schusses nach Neubran- Thema, sagt Dreispringer denburg gereist. Ungläu- Volker Mai, 28, sei der bighatten diePolitiker ih- Hochleistungssport in re Köpfe geschüttelt, als seinem Verein letztlich sie den umgebauten Kuh- „zusammengebrochen“.

stall, in dem Krabbe trai- W. WITTERS Natürlich, sagt der ehe- nierte, besichtigten. Und Weltmeisterin Krabbe (1991): Insgeheim abgeschlossen malige Junioren-Weltre-

DER SPIEGEL 30/1994 133 .

SPORT

kordler, habe „jeder im Verein gewußt, mit dem Niedergang des SCNeubranden- jemals wieder an Ihre alten Leistungen daß Katrin nicht ohne Doping unter elf burgauchdie „alten Ideale“endgültig un- anknüpfen? Sekunden laufen kann“. Und „natürlich“ tergegangen sind – Solidarität, Gemein- Krabbe: Ich glaube nicht, daß ich den hätten auch die Mädchen „alles bewußt schaftsgefühl, Nähe, kurz ein „tiefgrün- Höhepunkt meiner Karriere bereits hin- genommen und von ihrem Trainer immer diges Miteinander“. Überall nur Resi- ter mir habe. Mein Fernziel sind die nur die besten Möglichkeiten gefordert“. gnation in Neubrandenburg – dagegen Olympischen Spiele 1996 in Atlanta. Natürlich. Und außerdem: „Steckt nicht kämpft Geschäftsführer Jank mit Pathos Körperlich in Hochform zu kommen ist injedem Ossi der Glaube, daß esohne gar an: „Wir wollen weiterleben.“ nicht das Problem. Die Frage ist, ob ich nicht geht?“ Noch aber leiden alle: Thomas Spring- das Comeback mental packe. Doch was bedeuten die Fragen schon, stein istseitzweiJahrenarbeitslos,Katrin SPIEGEL: Was meinen Sie damit? wo es doch eigentlich um viel Bedeuten- Krabbe wird nie mehr vor großer Kulisse Krabbe: Wenn eine Katrin Krabbe wie- deres geht? Volker Mai, der letzte Partei- laufen, und die neue Sportanlage in Neu- der auf der Bahn steht, werden Fernse- sekretär des SC Neubrandenburg, jetzt brandenburg sucht einen neuen Namens- hen und Presse in Hundertschaften an- Student der Mikrobiologie an der Uni- patron – an eine „Katrin-Krabbe-Halle“, rücken. Der große Name ist wieder da, versity of Georgia, aber „irgendwie im- wie das 46-Millionen-Projekt ursprüng- dahinter steht eine Leistung – und die mer noch Kommunist“, bedauert, daß lich heißen sollte, ist nicht mehr gedacht. wird wieder erwartet. Davor habe ich große Angst. SPIEGEL: Das Publikum pflegt Doping- SPIEGEL-Gespräch sünder mit Pfiffen zu empfangen. Krabbe: Nur wenige werden pfeifen, die Mehrzahl wird sich freuen, daß ich zu- rück bin. Früher hatte ich öfter als heute „Alle vermissen mich“ das Gefühl, daß die Leute abwehrend reagierten und dachten: Die Krabbe Ex-Weltmeisterin Katrin Krabbe über Doping, Image und Comeback kriegt die fette Kohle, und dabei schuf- ten wir doch genauso. Heute sind die SPIEGEL: Frau Krabbe, wie schnell lau- Krabbe: Natürlich nicht – früher war Menschen traurig und wünschen mir, fen Sie denn jetzt die 100 Meter? das Training auf eine bestimmte Mei- daß ich bald wieder laufe. Sie bringen Krabbe: Meine WM-Strecke trainiere sterschaft ausgerichtet. Jetzt bin ich bis mir Blumen in das Sportgeschäft, das ich gar nicht. Ich drehe einfach Runden August 1995 gesperrt. Deshalb trainie- ich in Neubrandenburg führe. Sie sehen im Stadion hinter meiner Wohnung; re ich locker, meist für mich allein. im Fernsehen Leichtathletik, und ihnen manchmal laufe ich auch nur durch den Einmal in der Woche trifft sich unsere fehlt etwas – Katrin Krabbe. Wald. alte Gruppe – Grit Breuer, Manuela SPIEGEL: Da zimmern Sie sich doch wie- SPIEGEL: Wann haben Sie denn das letz- Derr, unser Trainer Thomas Spring- der ein Weltbild nach Wunsch. Die temal trainiert? stein und ich – zum Fußballspie- Wahrheit ist: Ihr Klub, der SC Neubran- Krabbe: Vor ein paar Tagen. len. denburg, stand vor dem Ruin, die Leute SPIEGEL: Mit der gleichen Ernsthaftig- SPIEGEL: Das hört sich nicht nach ei- bleiben aus Verärgerung über die unein- keit wie früher? nem großen Comeback an. Können Sie sichtige Dopingsünderin Krabbe weg, und Ihre ehemaligen Teamkollegen sind sauer. Krabbe: Was wäre denn mit dem Klub passiert, wenn unsere Sprintgrup- pe zu einem Verein in den alten Ländern gegangen wäre? Angebote gab es genug. Hinter dem Na- men Krabbe konnte man sehr viel verstecken: Pro- bleme im Verein, in der deutschen Leichtathle- tik, beim Zusammen- wachsen von Ost und West. Jetzt scheint es of- fenbar opportun, einen Sündenbock zu haben – aber das bespreche ich mit meinem Verein im persönlichen Gespräch selbst. SPIEGEL: Leichtathletik- experten behaupten, daß Ihre Comeback-Ambi- tionen nur ein PR-Gag seien, um Ihren Markt- wert zu stabilisieren.

* Klaus Brinkbäumer, Udo

W. M. WEBER Ludwig am Münchner Flugha- Sprinterin Krabbe, SPIEGEL-Redakteure*: Spitzensport ohne Medikamente ist unmöglich fen.

134 DER SPIEGEL 30/1994 .

ein bißchen erleichtern. Ich habe das nicht als schlimm angesehen. SPIEGEL: Mit dieser Einstellung ist es ei- nem auch egal, daß Clenbuterol ein Käl- bermastmittel ist? Krabbe: Wir haben damals in Zinnowitz ein Aufbautraining mit sehr vielen lan- gen Läufen gemacht; und dann haben wir etwas Neues ausprobiert: Läufe im Sand, ein echtes Schweineprogramm. Da hat Springi . . . SPIEGEL: . . . Ihr Trainer Spring- stein . . . Krabbe: . . . gesagt: Ich gebe euch die- ses Mittel, damit ihr viel Sauerstoff in die Lungen bekommt und besser atmen könnt. Mit diesem Asthmapräparat sei das Training leichter und angenehmer. Er hat ausdrücklich gesagt, das Mittel T. HÄNTZSCHEL / NORDLICHT Dopingverdächtigte Läuferinnen*: „Angst vor der Reaktion der Zuschauer“

Krabbe: Wer weiß, was ich bei den gan- Schmerztablette genommen. Nach dem zen Dopingprozessen mitgemacht habe Training in großer Hitze nehme ich zwei, und daß ich gerade eine Fehlgeburt hin- drei Magnesiumtabletten, damit ich, ter mir habe, kann leicht den Glauben wenn ich nachher in der Badewanne sit- an mein Comeback verlieren. ze, keine Krämpfe bekomme. SPIEGEL: Die Überlegungen setzen eher SPIEGEL: Sie verniedlichen eines der bri- am anderen Ende an: Niemand glaubt, santesten Probleme des Sports. Das daß Sie ohne Doping schneller als 11,3 Leichtathletikpublikum fühlt sich durch Sekunden laufen können. die ewigen Dopinglügen von der Leicht- Krabbe: Ich kann’s. Aber der Beweis athletik bereits abgestoßen. wird mir schwerfallen. Laufe ich schnell, Krabbe: Vielen Leuten ist egal, ob ge- werden einige fragen: Was nimmt sie dopt wird oder nicht – sie wollen gute nun wieder? Laufe ich langsam, wird es Leistungen sehen. Stellen Sie sich vor: In heißen: Ohne Doping schafft sie’s nicht. einem Stadion laufen die Gedopten und SPIEGEL: Die Leistung kann Ihnen doch im anderen die Ungedopten. Was glau- egal sein. Wie einst Ben Johnson steht ben Sie, wo mehr Zuschauer sein wer- Ihnen das große Geld auch so ins Haus. den? Krabbe: Nicht für alles Geld der Welt SPIEGEL: Sie fordern die Freigabe aller werde ich mich mit läppischen 11,3 Se- Mittel? kunden von Sportfest zu Sportfest rei- Krabbe: Da verstehen Sie mich absolut verkehrt. Ich plädiere nicht für eine Frei- gabe. Aber die Tatsache, daß die Athle- „Was nicht auf ten verschiedener Länder unterschied- der Liste steht, kann lich oft getestet werden, ist ungerecht. Die Verbände tun nichts, um einheitli- ich einnehmen“ che Regeln zu schaffen: Wir sind wegen

der Einnahme von Clenbuterol gesperrt, DPA chen lassen. Schon ein zweiter Platz bei während bei den Olympischen Spielen Dopingtrainer Springstein der Deutschen Meisterschaft wäre mir 1992 in Albertville solche Präparate be- „Ihn wegzustoßen kommt nicht in Frage“ zuwenig. nutzt wurden. Der moderne Sport ist SPIEGEL: Da würden Sie lieber wieder nicht fair. stünde nicht auf der Dopingliste. Daß in zu ein paar Mittelchen greifen? SPIEGEL: Noch ungerechter wäre es, den Tabletten ein Wirkstoff war, der ein Krabbe: Die Dinge, die als verbotene wenn fehlende Kontrollen alle Sportler paar Jahre zuvor im westfälischen Käl- Substanzen auf der Liste stehen, sind für zum Mitdopen zwingen würden. bermastskandal eine Rolle gespielt hat- mich Doping. Was nicht auf der Liste Krabbe: Ohne Kontrollen geht es nicht, te, konnten wir aus dem Osten nicht steht, kann ich einnehmen. davon bin ich auch überzeugt. Manche wissen. SPIEGEL: Ganz ohne Medikamente läuft sind so ehrgeizig, daß sie alles ohne Sinn SPIEGEL: Was läßt Sie glauben, daß Ih- eine Katrin Krabbe nicht? und Verstand reinschmeißen. Ohne nen soviel Unbedarftheit immer noch Krabbe: Spitzensport ist ohne Medika- Kontrollen lägen Tote auf der Laufbahn, abgenommen wird? mente nicht möglich. Wenn wir bei- und das ist auch nicht Zweck der Sache. Krabbe: Wir haben das Zeug ja nicht spielsweise viel Sprinttraining gemacht Ich fürchte, es gibt keine Lösung. einfach in uns reingeschaufelt. Wir ha- haben, habe ich immer eine Knochen- SPIEGEL: In der Grauzone tasten sich die ben nachgefragt und nie mehr Tabletten hautreizung bekommen. Deshalb habe Athleten so weit wie möglich vor. Auch eingenommen, als auf dem Beipackzet- ich schon vor dem Training eine Sie haben Präparate eingenommen, um tel stand. Springstein hat betont, daß er Ihre Leistung zu steigern. sich beim Arzt informiert hat. Wir ha- Krabbe: Wenn man total groggy ist und ben ihm vertraut. * Manuela Derr, Katrin Krabbe und Grit Breuer nach der Entscheidung des DLV-Rechtsausschus- eigentlich Regeneration braucht, dann SPIEGEL: Dann hat sich herausgestellt, ses am 31. März 1993. nimmt man eben Dinge, die einem das daß Clenbuterol in den USA ein gängi-

DER SPIEGEL 30/1994 135 .

SPORT

ges Dopingmittel war. Aber selbst das SPIEGEL: Ihre Rolle ist immer noch: SPIEGEL: Für eine Frau, die früher für hat Ihr Vertrauen nicht zerstört. Katrin Krabbe – die verfolgte Un- die Weltfirma Nike geworben hat, ist Krabbe: Grit Breuer und ich haben am schuld. das ein gewaltiger Abstieg. Anfang eine Stinkwut auf ihn gehabt. Krabbe: Donike war zu fanatisch, vom Krabbe: Daß meine großen Sponsoren Wir haben in der Wohnung gesessen Jagdfieber besessen. Er ist doch Kon- wegen der Dopingvorwürfe abgesprun- und total geheult. Wir dachten: Jetzt ist trolleur, Ankläger und Richter in ei- gen sind, habe ich verstanden – ohne alles zu Ende. Weil es unser zweiter Do- nem. Vor dem Trainingslager in Zinno- Leistung gibt’s kein Geld. Acht-, neun- pingfall war, hatte ich Angst vor der Re- witz sind wir fünfmal untersucht wor- mal im Jahr trete ich bei kleineren Ver- aktion der Leute. Das Verhältnis zu den, und immer war alles in Ordnung. anstaltungen auf. Das macht mir sogar Springstein hat sich mit der Zeit norma- Und plötzlich, bei der sechsten Probe, mehr Spaß als große Galas. lisiert, denn wir haben eingesehen, daß stand das Präparat, das wir eingenom- SPIEGEL: Immerhin galten Sie einmal wir auch zu gutgläubig waren. men haben, auf der Liste. als erstes gesamtdeutsches Idol. SPIEGEL: Ein Trainerwechsel hätte Ein- SPIEGEL: Deshalb wollen Sie jetzt Krabbe: Die Deutschen suchen immer sicht signalisiert. den Deutschen Leichtathletik-Verband jemanden, den sie in den Himmel loben Krabbe: Ich bin mit Springstein Welt- (DLV) auf Schadensersatz verklagen? können. Ich war nun einmal etwas ganz und Europameisterin geworden. Er war Krabbe: Wir werden die Klage in den Besonderes, ein unverbrauchter Mensch der ideale Trainer für mich. Ihn wegzu- nächsten zehn Tagen beim Landgericht aus der DDR, der sich in der westlichen München einreichen. Wir müs- Welt mit den Medien überhaupt nicht sen nur noch die Höhe entgan- auskannte. gener Startgagen und Werbe- SPIEGEL: Diese Unbedarftheit hat doch verträge berechnen, um unse- nicht dazu geführt, daß Sie zweimal des ren Anspruch geltend zu ma- Dopings bezichtigt wurden. chen. Primär geht es uns um Krabbe: Das nicht gerade. Aber daß den unser Startrecht. Um das zu Deutschen Erfolgreiche immer verdäch- bekommen, betreten wir juri- tig sind, hat mir gerade erst Showmaster stisches Neuland, weil wir Blacky Fuchsberger bestätigt. Wenn ich gleichzeitig den Weltverband Amerikanerin wäre, wäre ich nie ge- und den DLV verklagen wer- sperrt und 1992 möglicherweise Olym- den. piasiegerin geworden – was mir hier pas- SPIEGEL: Die Erfolgsaussich- siert ist, wäre mir in keinem anderen ten sind dürftig, die Prozesse Land passiert. Ich mache mir jetzt schon werden endlos dauern. Warum warten Sie nicht einfach das Ende Ihrer Sperre ab? „Wichtig ist, daß Krabbe: Es kann doch nicht ich jetzt viel sein, daß wir zunächst vom DLV für ein Jahr und später intensiver lebe“ ohne Verhandlung vom inter- nationalen Verband für das Sorgen um Franziska van Almsick. Was gleiche Vergehen noch einmal bei mir mit 20 Jahren losging, fing bei zwei Jahre gesperrt werden. ihr schon mit 14 an. Wir wollen unser sofortiges SPIEGEL: Bisher scheint sie erstaunlich Startrecht, damit wir selbst gut mit dem Rummel fertig zu werden. entscheiden können, ob wir Krabbe: Sie hat doch keine Wahl. Nie- schon morgen wieder laufen mand kann sich vorstellen, wie das ist, werden. wenn ich lesen muß, daß mir jemand an

DPA SPIEGEL: Wenn es je dazu die Brust gefaßt hat, weil die angeblich Showgast Krabbe kommen sollte – gibt es dann knabenhaft sei. Die Medien haben doch „Ich suche den Kontakt zur Basis“ einen neuen Kult um Ihre Per- mit Menschen und nicht mit irgendeiner son? Glauben Sie wirklich an Sache zu tun. Da ist jemand, der fühlt, stoßen, um meine Sperre zu verkürzen, eine triumphale Rückkehr der „Grace der denkt und der auch Schmerzen hat. kommt für mich aus menschlichen Kelly der Tartanbahn“, wie Sie zu Was Zeitungen mit mir gemacht haben, Gründen nicht in Frage. Sollte ich wie- Glanzzeiten verherrlicht wurden? war menschenunwürdig. der ernsthaft trainieren, kann ich immer Krabbe: Ich habe mich daran gewöhnt, SPIEGEL: Nur Sie selbst haben keine noch über einen Wechsel nachdenken. nicht nur als Spitzensportlerin gesehen Fehler gemacht? SPIEGEL: Springstein gilt als Doping- zu werden, sondern längst als Person Krabbe: Ich habe einen Riesenfehler ge- fachmann, der auch noch einen Keil des öffentlichen Lebens. Dieser Rum- macht, als ich die Mittel ohne Rezept zwischen Ost und West getrieben hat, mel ist bescheuert und übertrieben. An- einnahm. Doch das ist für mich alles indem er behauptete, Sie als letztes Ost- fangs habe ich es genossen. Doch inzwi- Vergangenheit. Wichtiger ist für mich idol seien von Wessis absichtlich plattge- schen habe ich gemerkt, daß ich Glanz das Gefühl, daß ich jetzt viel intensiver macht worden. und Glamour nicht brauche. lebe und einfache Dinge achte. Krabbe: Diesen Eindruck mußten wir SPIEGEL: Viele Sportstars werden ir- SPIEGEL: Das klingt, als hätten Sie mit doch bekommen. Angeblich werden gendwann abhängig vom Ruhm und dem Sport abgeschlossen. Dopingkontrollen ausgelost – aber wir glauben selbst an ihre Einzigartigkeit. Krabbe: Was im Moment in den Stadien waren jede Woche dran, während bei Krabbe: Ich bin doch keine Göttin. Ich passiert, interessiert mich nicht mehr so anderen Athleten ein halbes Jahr lang suche den Kontakt zur Basis. Wenn ich stark. Wer in zwei Wochen meine Nach- kein Kontrolleur auftauchte. Ich bin mir eingeladen werde, fahre ich gerne nach folgerin als Europameisterin wird, ist sicher, daß sich der Kölner Analytiker Paderborn zur Landesgartenschau oder mir eigentlich egal. Manfred Donike heftig auf die Schulter auch zur Eröffnung eines Fitneßstudios SPIEGEL: Frau Krabbe, wir danken Ih- geklopft hat, als er uns erwischte. nach Chemnitz. nen für dieses Gespräch. Y

136 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite .

WISSENSCHAFT

Astronomie STURZFLUG DER EISKLÖTZE Glutpilze, größer als der Erdball, rissen gigantische Löcher in die Gashülle Jupiters, als die Trümmer des Kometen S-L 9 auf dem Planeten einschlugen – weit heftiger, als die Astronomen erwartet hatten. Der dramatische Crash bietet den Forschern neue Einblicke in die Rätselwelt des Gasplaneten.

ls der kräftige Eiswind ein wenig erklärte Dave Laney vom South African die Wissenschaftler anhand von Auf- abflaute, stapfte Nguyen Trong Astronomical Observatory in Suther- nahmen des Hubble-Weltraumteleskops AHien hinaus in die Finsternis der land. von der Trümmerkette vorausberechnet Südpolarnacht. Bei 27 Grad unter Null Noch Tage vor dem ersten Knall blieb hatten. Die Fehlkalkulation erklärt, wischte der Astronom der University of offen, was die Splitter des Schweifsterns weshalb die Gelehrten von den heftigen Chicago die Schneeverwehungen von auf Jupiter anrichten würden. So war Wirkungen des tagelangen Sperrfeuers der Teleskopöffnung. Die Aufnahmen, spekuliert worden, daß die Kometen- derart überrascht wurden. die Hien dann mit einer Infrarotkamera bruchstücke im Laufe ihres zweijährigen Inzwischen läßt sich ziemlich genau schoß, entschädigten ihn für die Strapa- Kollisionsfluges gen Jupiter in Staubpar- rekonstruieren, was beim Aufprall der zen: „Mein Gott, was für ein heller tikel und faustgroße Brocken zerbröselt Kometensplitter in der turbulenten Gas- Fleck!“ sein könnten; solche Kometenkrümel hülle des Riesenplaneten wirklich vor Ob zum Südpol oder auf abgelegene wären lediglich als harmlose Stern- sich ging. Mit 200 000 Stundenkilome- Berggipfel, ob nach Hawaii oder in die schnuppen herabgeregnet. tern tauchten die mehrere Kilometer australische Wüste – kein Weg war den Doch die kosmischen Geschosse wa- großen Brocken in die Gashülle von Ju- Astronomen letzte Woche zu weit, um ren, im Gegenteil, noch massiver, als piter ein. Aufgrund ihrer extrem hohen mitzuerleben, wie die Bruchstücke des Kometen Shoemaker-Levy 9 auf den Gasplaneten Jupiter krachten. „Dafür werden Leute Wissenschaftler, um so etwas zu erleben“, schwärmte ein über- müdeter Richard West, der Projektlei- ter der Europäischen Südsternwarte (ESO) in Garching bei München. Das Ausmaß des Himmelsdramas, das sich in 770 Millionen Kilometer Ent- fernung abspielte, hat selbst die Gelehr- ten überrascht: Jedesmal, wenn einer der eisigen Kometentrümmer in die Ju- piteratmosphäre stürzte, wuchs wenig später ein gewaltiger, bis zu 16 000 Grad heißer Feuerball empor, zumeist größer als der gesamte Planet Erde. Auf dem chilenischen Berg La Silla, wo die europäische Südsternwarte ihre Spiegelteleskope aufgestellt hat, vermu- teten die Forscher deshalb zunächst, sie hätten Jupiters Vulkanmond Io auf den Fotoplatten festgehalten – so hell strahl- te der Pulverrauch, der von dem er- sten eingeschlagenen Kometenfragment stammte. „Das Bild war dramatisch, ei- ne Stunde lang haben wir nicht ge- glaubt, was wir gesehen haben“, berich- tet ESO-Astronom Ulli Käufl. Unerwartet war zudem, daß sich die Explosionswolken erst nach einer knap- pen halben Stunde verzogen. „Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet, wir hielten nur nach kurzen Lichtblitzen Ausschau, die rasch wieder verpuffen“,

* Von Kometenfragment H am Montag letzter Wo- AP che. Einschlag auf Jupiter*: Mit 200 000 Stundenkilometern auf eine Mauer aus Gas

138 DER SPIEGEL 30/1994 Geschwindigkeit zerschellten sie gleich- Zurück blieben dunkle Löcher in Jupi- Forscher berichteten, organische Sub- sam an einer Mauer aus Gas. ters Gashülle, die aussehen wie Brand- stanzen hochgewirbelt. Brütet der Planet „Es istsoähnlich, wiewenn jemand aus flecken auf einer Tischdecke. „An den womöglich Moleküle aus, die dereinst als großer Höhe auf eine Wasseroberfläche Einschlagstellen wurde die Wolken- Rohstoff für die Entstehung von Leben fällt“, erläutert Gerhard Neukum, Di- schicht regelrecht weggeblasen“, sagt dienen könnten? rektor des Berliner Instituts für Planeten- Neukum. Die Narben inder Planetenhül- Ein Mysterium sind auch die unabläs- erkundung der Deutschen Forschungs- le könnten nun erstmals den Blick in tie- sig wütenden Wirbelstürme und Zyklone anstalt für Luft- und Raumfahrt, „dann fere Schichten der Atmosphäre freige- mit Windgeschwindigkeiten bis zu 500 wird für ihn die Flüssigkeit zur Beton- ben, die durch die Crashs gleichfalls kräf- Stundenkilometern, neben denen irdi- wand.“ tig umgerührt wurden. sche Unwetter wielaue Lüftchen erschei- Schon nach etwa fünf Sekunden endete nen. Das berühmteste Orkangebilde ist für die Eiskolosse jeweils der Sturzflug. der „Große Rote Fleck“, ein Mahlstrom, Jeder Klotz hatte erst wenige hundert Ki- Niemand weiß, der seit Jahrhunderten auf der Südhalb- lometer durch die Jupiteratmosphäre zu- was Jupiter in seinem kugel tobt. rückgelegt und geradeden Rand derdich- „Wir wissen wirklich nicht, wie der ten Wolkenschicht aus Ammoniak, Eis- Bauch verbirgt Große Rote Fleck geformt wurde“, sagt kristallen und Helium erreicht, alser, von der US-Astronom Hal Weaver vom den dichten Gasen auf ein Drittel seiner Die Kometentrümmer sind also, im Space Telescope Institute. Weil sich aber ursprünglichen Größe zusammenge- Augenblick ihres Untergangs, zu einer die Einschlagstellen von Shoemaker- preßt und verformt wie ein Stück Knet- Art Meßsonden geworden. Die Spektral- Levy 9 als so stabil erwiesen hätten, fol- gummi, mit einer gewaltigen Explosion analysen von den Feuerkugeln und von gert Weaver, „könnten frühere Einschlä- auseinanderflog. den Einschlaglöchern, so hoffen die For- ge von Kometen etwas mit diesem Orkan Wie bei der Zündung einer Wasser- scher, werden Aufschluß über die chemi- zu tun haben“. stoffbombe entstand dabei ein Feuerpilz, sche Zusammensetzung der tieferen Das tagelange Bombardement könnte der im Umkreis von Tausenden von Kilo- Schichten der Jupiteratmosphäre liefern. auch Hinweise liefern, ob der Jupiter ei- metern die Wolken in der Atmosphäre Denn bislang ist der größte Planet im nen festen Kern besitzt. Auf der unwirtli- blitzartig aufheizte. Dieser heiße Nebel Sonnensystem, trotz mehrfacher Erkun- chen Planetenoberfläche aus metalli- stieg sodann empor und koppelte sich als dungen durch Raumsonden, den Him- schem Wasserstoff würden dreimillio- wabernde Feuerkugel vom Planeten ab – melskundlern eine Rätselwelt geblieben. nenmalstärkere Drücke herrschen alsauf eswaren dieseglühenden Schwaden, wel- Niemand weiß, wasJupiter inseinem auf- der Erdoberfläche. Nicht auszuschließen che die Astronomen letzte Woche so be- geblähten Bauch verbirgt. So wurden ist aber, daß der Planet ähnlich wie die geisterten. durch die Kometeneinschläge, wie ESO- Sonne ausschließlich aus Gas besteht, ei-

Sperrfeuer auf Jupiter Vermutlicher Aufbau Mit 60 Kilometern in der Sekunde dringen die Kometen- splitter in die Jupiter-Atmosphäre ein. Gasmassen pressen des Gasplaneten den Eisbrocken zusammen, er zerschellt an einer Mauer aus Gas–die aufgestaute Spannung entlädt sich in einem Feuerball.

Feuerball

Wolkendecke 30 000° 0 Eisen- Silikatkern 10 000 Wasserstoffgas metallischer 20 000 800 Wasserstoff Wolkendecke 30 000 600 Ammoniak- Kristalle 40 000 flüssiger 11 000° Ammonium- Wasserstoff 400 hydrosulfid-Kristalle 50 000 Eiskristalle 200 Atmosphäre 1980° 60 000 Wassertröpfchen 70 000 0 flüssiger Wasserstoff Erde –123° (im Größenvergleich) TemperaturKilometer Kilometer

DER SPIEGEL 30/1994 139 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

WISSENSCHAFT

ne Riesenkugel aus heißer Wasserstoff- kern zurückgeworfen werden – nach Raumsonde Galileo, deren Kameraex- und Helium-Luft. dem Prinzip des Echolots. periment Neukum leitet, war in der La- Zwar zerplatzten die Kometentrüm- Die Auswertung der Meßergebnisse ge, die Einschläge der Kometentrüm- mer, etliche zehntausend Kilometer wird Monate dauern. „Wir ertrinken mer direkt zu beobachten. vom Zentrum des Jupiter entfernt, in jetzt in einer Flut von außergewöhnli- Weil sich aber die wie ein Regen- der äußersten Schale des Himmelskör- chen Daten“, freut sich Planetenfor- schirm zusammengeklappte Hauptan- pers. Doch während sie in einem Glut- scher Neukum. tenne von Galileo nicht richtig entfaltet pilz verendeten, schickten sie ihre Auf die besten Bilder vom Crash im hat, dauert die Übertragung nur eines Schockwellen in alle Richtungen; diese All wartet er allerdings noch: Allein die einzigen Bildes zur Erde über eine Wo- Stoßwellen müßten von einem Metall- von seitwärts auf Jupiter zufliegende che. „Neuer Ring für den Riesen“ Die Kometenforscher Shoemaker und Rahe über die Folgen der Einschläge auf Jupiter SABA SIMON / M.H. Astronomen Rahe, Shoemaker: „Jupiter als Baseballspieler, der mit seinem Schläger die Erde vor Kometen schützt“

SPIEGEL: Herr Shoemaker, Herr Rahe, nicht bis zu einer Ausdehnung von Tau- SPIEGEL: Was haben die Planetenfor- auf dem Jupiter hat es weit heftiger ge- senden von Kilometern. scher durch die Einschläge über das kracht als erwartet. Waren auch Sie SPIEGEL: Hätte die Menschheit auch nur rätselhafte Wettergeschehen auf Jupiter davon überrascht? einen einzigen dieser Einschläge über- erfahren? Rahe: Wir hatten immer gehofft, daß lebt, wenn es auf der Erde passiert wäre? Shoemaker: Dieses dunkle Material, die Einschläge so spektakulär würden, Shoemaker: Wenn alle Bruchstücke des das in Wolken aufgestiegen ist, wird aber keiner hat wirklich daran ge- Kometen die Erde getroffen hätten, sich vermutlich in den oberen Schichten glaubt. Man dachte, die professionel- müßte man davon ausgehen, daß etwa je- verteilen. Das könnte über die Wind- len Astronomen werden schon was se- der dritte davon auf dem Festland der verhältnisse Auskunft geben. hen, aber daß sogar Amateur-Astrono- Kontinente niedergegangen wäre. Das SPIEGEL: Das Trümmer-Bombarde- men die Einschläge erkennen konnten bedeutet: Es wäre so viel Staub in die At- ment spielte sich in den äußeren – das hätten wir nie gedacht. mosphäre geschleudert worden, daß die Schichten des Planeten ab. Kann man SPIEGEL: Hatten Sie die Größe der Temperaturen extrem stark gesunken daraus trotzdem Neues über den inne- Kometenfragmente unterschätzt, oder wären, waseine globale Katastrophe aus- ren Aufbau des Planeten Jupiter ler- liefert Jupiter den Zündstoff für soviel gelöst hätte. nen? Feuerzauber? Shoemaker: Wie tief die einzelnen Rahe: Da kommt einiges zusam- Fragmente in die Atmosphäre einschlu- men. Einmal kannte man die Größe Geschosse aus dem All gen, bevor sie explodierten, wissen wir der Fragmente nicht, weil man sie nicht. Ich schätze, daß die größeren nicht direkt sehen oder messen ortet Eugene Shoemaker, 66, schon Objekte 60 bis 100 Kilometer tief ein- konnte. Sie sind von einer Staubwol- seit zwei Jahrzehnten. Im März 1993 gedrungen sind. Die Frage ist, ob sie ke umgeben, die das Sonnenlicht entdeckte er, gemeinsam mit seiner Materie von unten, aus den tieferen reflektiert. Zweitens waren die physi- Ehefrau Carolyn und seinem Freund Schichten der Atmosphäre nach oben kalischen und chemischen Eigenschaf- David Levy, die Kometenfragmente gebracht haben. Es gibt Wasserdampf- ten der Fragmente unbekannt. Und von Shoemaker-Levy 9. Mit Kometen wolken da unten. Aber bislang hat man schließlich weiß man auch über die At- und Asteroiden beschäftigt sich diesen Wasserdampf in den Spektren mosphäre von Jupiter nicht so genau auch der deutsche Astronom Jürgen überraschenderweise nicht nachweisen Bescheid. Rahe, 53. Bei der Nasa leitet er eine können. Shoemaker: Es gab viele Leute, die Abteilung zur Erforschung des Son- SPIEGEL: Nun gehen von den Explosio- hatten ausgerechnet, daß es so etwas nensystems. nen auch Schockwellen aus, vergleich- wie einen Feuerball geben würde, aber bar den seismischen Wellen bei Erdbe-

142 DER SPIEGEL 30/1994 .

ben. Geben sie Hinweise darauf, ob Ju- felsfrei herauszufinden. Nur soviel ist piter einen festen Kern hat? Das ist ja ei- Medizin gewiß: Das Übel sitzt, jedenfalls mei- ne heftig umstrittene Frage. stens, im Innenohr. Dort wandeln zarte Shoemaker: Bislang sind keine Schall- Haarzellen die mechanischen Schwin- wellen beobachtet worden. gungen des Schalls in elektrische Ner- SPIEGEL: An den Einschlagstellen haben Mann im Ohr venreize um. sich schwarze Flecken in der Jupiter-At- Die Sinnesleistung des empfindlichen mosphäre gebildet. Könnte auf diese Mit Musik, Yoga und Psychotech- Innenohres ist durch viele verschie- Weise auch der Große Rote Fleck ent- niken wird lästiges Klingeln dene Faktoren störbar, vor allem durch standen sein, der einen seit Jahrhunder- Blutmangel. Durchblutungsnot wie- ten auf dem Planeten tobenden Wirbel- im Innenohr („Tinnitus“) erfolg- derum stellt sich aus Dutzenden von sturm anzeigt? reich behandelt. Gründen ein: Arterienverkalkung, Zuk- Shoemaker: Das ist möglich, aber nicht kerkrankheit, Stoffwechselleiden, Ab- sehr wahrscheinlich. Es gibt mehr Ener- nutzung der Halswirbelsäule, Allergien, gie in dem Roten Fleck, als durch alle s fehlte wenig, und ich endete selbst Medikamentenunverträglichkeit, um diese Einschläge produziert wurde. Sol- mein Leben“, bekennt der verzwei- nur die wichtigsten zu nennen – und che Stürme, wie man sie im Roten Fleck Efelte Komponist Ludwig van Beet- Streß. sieht, entstehen ganz spontan durch Tur- hoven in seinem Heiligenstädter Testa- Hinter der Universalvokabel Streß bulenzen, die in der Atmosphäre schon ment. Denn: „Wisse, daß mir der edel- verbergen sich vielfältige biologische vorhanden sind. ste Teil, mein Gehör, sehr abgenommen Mechanismen. Sie stören einerseits pri- SPIEGEL: Könnten die Einschläge zu hat.“ Schwerhörig, am Ende taub, dazu mär die Durchblutung, auch des Innen- ähnlichen Erscheinungen führen? geplagt von lästigen Ohrgeräuschen, ohres, und behindern andererseits die Shoemaker: Aufgrund von theoreti- dem „Tinnitus“, stapfte der große Mann seelische Bewältigung der Beschwer- schen Überlegungen ist zu erwarten, daß mürrisch seinem Tod entgegen. den. Wer hohe Anforderungen an sich Objekte, die größer sind als ein Kilome- Tinnitus gilt als die ärgste aller Oh- selbst stellt, wer „viel um die Ohren ter, langlebige Wirbelstürme erzeugen. renplagen. Er ist das direkte Gegenteil hat“, wird eher von Tinnitus geplagt als SPIEGEL: Stimmt es, daß Jupiter sozusa- der geruhsamen Stille, in der die Gesun- jemand, der weder vom Aufstiegswillen gen wie ein gigantischer Staubsauger den den tauben Menschen geborgen gepusht ist noch von Kirche und Kon- wirkt und viele Asteroiden und Kome- wähnen. Tinnitus, das bedeutet unauf- ventionen gegängelt wird. ten von der Erde fernhält? hörliches Klingeln, Pfeifen, Surren, Alles in allem leiden in Deutschland Shoemaker: Jupiter arbeitet nicht wie Hämmern, Rauschen, Zischen oder mindestens eine Million Menschen an ein Staubsauger, sondern mehr wie ein Knarren im Ohr, manchmal auch ver- chronischem Tinnitus. Rechnet man al- Baseballspieler, der mit seinem Schläger zerrte Melodien. le, die nur mal hin und wieder lästiges uns und die Erde davor schützt, daß Die lästigen Geräusche kommen nicht Ohrgeräusch wahrnehmen, dazu, sind mehr Objekte einschlagen. Ohne Jupiter von außen. Sie werden nicht von Schall- es rund zehn Millionen. Besonders häu- würde die Anzahl der Himmelsklötze, wellen übertragen und sind deshalb für fig betroffen sind die Lärmgeschädigten. die aus der Oort-Kometenwolke kom- die Umgebung unhörbar. „Stimmen aus Wer den Verkehrsgeräuschen schutz- men, über 200mal größer sein. dem Nichts“, nennen Tinnitus-Patienten los ausgeliefert ist, sich mit lautstarker SPIEGEL: Halten Sie, was ja vorgeschla- die Plage, produziert von einem unsicht- Discomusik volldröhnt, wer den Walk- gen wurde, den Einsatz von Atomrake- baren „Mann im Ohr“. Vergeblich hat man aufdreht, bis die Ohren fast abfal- ten gegen Kometen für sinnvoll? sich die medizinische Wissenschaft bis- len, wer als Soldat oder Jäger das Rahe: Die Nasa kümmert sich nur um her bemüht, die Ursache der Plage zwei- „Knalltrauma“ liebt oder als genervter die Bahnen dieser Objekte; es ist ge- plant, in den nächsten 20 Jahren die Mehrzahl dieser Himmelskörper zu ka- talogisieren. SPIEGEL: Welche Erkenntnisse über den Gasplaneten Jupiter könnten sich in den nächsten Wochen und Monaten noch aufgrund der Einschläge ergeben? Shoemaker: Da ist immer noch der Staub des Kometenschweifs, der im Weltall bleibt. Wir untersuchen, ob sich etwas ändert im Ring über Jupiter. SPIEGEL: Wird der Ring größer? Shoemaker: Der Staub des Kometen- schweifs könnte sich in einem sehr brei- ten Ring festsetzen, den können wir dann möglicherweise sehen. SPIEGEL: Das wäre dann ein zweiter Ju- piter-Ring. Shoemaker: Richtig. Aber erst müssen wir die jetzt gewonnenen Daten auswer- ten – eine Menge harter Arbeit. SPIEGEL: Es gibt Leute, die klagen über Schlafstörungen wegen der Kometenein- schläge auf dem Jupiter – alles Humbug? Rahe: Sicher. Das Feuerwerk auf Jupiter

hat keinerlei Auswirkungen auf die Er- J. SCHWARTZ de. Y Ohrenarzt Esser: Klingeln, Pfeifen und Stimmen aus dem Nichts

DER SPIEGEL 30/1994 143 WISSENSCHAFT

Schulmann lärmenden Kindern das Abc noch zu Hause bleiben und den berufli- beizubringen versucht, der ist besonders chen und familiären Rückzug einleiten, gefährdet. sollen von der Düsseldorfer Tripelthera- Nur akuter Tinnitus ist heilbar. Die pie umgesteuert werden. Angenehme Betroffenen müssen in den ersten Stun- Musik tut das ihre dazu. An der richti- den oder Tagen mit durchblutungsför- gen Mischung wird noch gearbeitet. Im dernden Medikamenten behandelt wer- Prinzip, sagt Esser, lernen die Patien- den, bei gleichzeitiger Streßdämpfung. ten, Atmung und Musik zu synchroni- Sind die Beschwerden erst einmal chro- sieren. Das führt zu einer „musikgesteu- nisch, so gibt es bisher keine Heilung erten Relaxation“. und selten Linderung. Das soll nun an- Entspannung ist auch das Ziel der Yo- ders werden. 1,4 Millionen Mark spen- gaübungen. Der indischen Lehre be- diert das Bonner Ministerium für For- scheinigen die Düsseldorfer eine große schung und Technologie zwei Düssel- „psychophysiologische Potenz“, die im dorfer Wissenschaftlern, die mit einer europäischen Kulturkreis viel zu wenig Kombinationstherapie der Krankheit benutzt werde. Yogaübungen, deutet zumindest die Qual nehmen wollen. Esser den Erfolg, senken den Spiegel Die Psychologin Birgit Kröner-Her- des Streßhormons Adrenalin im Blut, wig und der Medizinakustiker Günter machen es dünnflüssiger und bessern so Esser, beide Professoren an der Univer- die Durchblutung des Innenohres. sität Düsseldorf, verknüpfen Musik, Zunehmenden Streß in allen Lebens- Yoga und Gruppengespräche zu ei- bereichen hält Esser („Ich bin seit 30 nem psychologischen „Bewältigungs- Jahren im Fach“) für die wahre Ursache

Lästiger Lärm 130 Düsenflugzeug Anatomie des Ohres 120 Preßlufthammer Innenohr 110 Kreissäge Schläfenbein Mittelohr 100 Autohupe Schnecke 90 U-Bahn im Tunnel ab 85 Dezibel Hörnerv Gefährdung 80 Motorrad des Gehörs 70 Straßenverkehr Ovales Fenster 60 Zimmerlautstärke 50 leise Radiomusik äußerer Trommelfell Gehörgang 40 leises Gespräch Kanal für die Kopfschlagader 30 Flüstern Ohrtrompete 20 Uhrenticken 10 Summen einer Mücke Der Tinnitus entsteht im Innenohr 0 LAUTSTÄRKE IN DEZIBEL

training“. Nach durchschnittlich zehn der Tinnitusplage. Nach seiner Über- Sitzungen sind die Kranken ihre irritie- zeugung hat sich die Zahl der Erkrank- renden Ohrgeräusche nicht los, aber sie ten in drei Jahrzehnten verdoppelt. Im- können, wie Frau Kröner-Herwig versi- mer häufiger, beobachtet Birgit Kröner- chert, „viel besser damit umgehen“. Es Herwig, sind auch Jugendliche betrof- gelingt ihnen, „bestimmte Wahrneh- fen. Die beiden Forscher haben in einer mungen in den dunkleren Teil des Be- „explorativen Studie“ bisher 40 Patien- wußtseins zu schieben“. ten mit ihrer sanften Kombitherapie be- Denn das Ausmaß des Leidens wird handelt, meist erfolgreich. bei Tinnitus nicht durch Lautheit und Das kann man von anderen Heilwei- die Dissonanz der Ohrgeräusche be- sen, die gegen Tinnitus propagiert wer- stimmt. Viel entscheidender ist die psy- den, nicht behaupten. Im Angebot der chologische Verarbeitung. Um das Medizin sind neben allerlei Pillen und „entgleiste unbewußte Nervensystem Tröpfchen die beliebten (Soft-)Laser- der Patienten“ (Kröner-Herwig) wieder strahlen und Sauerstoff unter Über- einigermaßen ins Lot zu bringen – und druck („hyperbar“). Beides gibt es ku- so die streßbedingte Durchblutungsnot renweise gegen Bargeld; dem Tinnitus des Innenohres zu lindern –, muß der macht es keine Flügel. Kranke lernen, sich zu entspannen und Das Düsseldorfer Programm der seine Aufmerksamkeit zu lenken – weg „Selbstkontrolle und des Gruppentrai- von den hilf- und hoffnungslosen Über- nings“ ist, wie die Bonner Geldgeber zeugungen, dem Grübelzwang und der rühmen, effizient und „relativ kosten- „Katastrophisierung des Tinnitus“. günstig“. „Ab September“, verspricht Patienten, die sich, gequält von ihrem Kröner-Herwig, „werden neue Patien- Mann im Ohr, geschlagen fühlen, nur ten rekrutiert.“ Y

144 DER SPIEGEL 30/1994 .

WISSENSCHAFT PRISMA

Rüstung hung zum Rauchen aufwei- sen: Lungenkrebs, Herzlei- Flugriesen den, Arteriosklerose, Lun- genemphysem und Schlag- ohne Pisten anfall. „Die tatsächlichen Fast ein Jahrzehnt hatte die Gesundheitskosten“, erklärt U.S. Air Force die Vorzüge Thomas Novotny, Leiter der ihres neuen Frachtflugzeugs Studie, „sind für die Volks- vom Typ C-17 („Globema- wirtschaft nochmals deutlich ster 3“) gepriesen. Vollbe- höher.“ Er schätzt sie, unter packt mit 72 Tonnen Pan- Anrechnung von Krank- zern, Hubschraubern und an- heitstagen und vorzeitigen derem Waffengerät war die Todesfällen, auf insgesamt C-17 (Reichweite ohne Luft- rund 100 Milliarden Dollar betankung: 4445 Kilometer) pro Jahr.

vor allem darauf ausgelegt, R. PERRY / SYGMA militärische Nutzlasten direkt Frachtflugzeug „Globemaster 3“ Grasmilben in potentielle Kriegsgebiete zu fliegen. Sie sollte auf un- ausländischen Pisten nutzen, Dollar – das ist doppelt so- Quälgeister aus befestigten Pisten landen die von der Air Force als viel, wie bislang angenom- können, die für andere US- mögliche Nachschublande- men wurde: Zu diesem Er- dem Garten Großtransporter zu kurz plätze ausgewiesen werden. gebnis kommt jetzt eine Stu- Das anhaltend warme und oder zu uneben waren. Doch Schon nach 100 Starts und die der Centers for Disease trockene Sommerwetter hat was von der Air Force als Landungen, so ergab die Prü- Control and Prevention in in vielen Regionen Deutsch- Hauptargument für den Kauf fung, wäre die Mehrzahl der Atlanta, die auf der Befra- von 120 C-17-Jets (Gesamt- in Feindesland liegenden Pi- gung von 35 000 Personen preis: 43 Milliarden Dollar) sten vollständig ruiniert. und der Auswertung ihrer vorgebracht wurde, ist seit Medizinrechnungen beruht. vorletzter Woche hinfällig: Gesundheit Danach werden in den USA Bei einer Prüfung des kost- rund 7 Prozent aller Krank- spieligsten Frachtjet-Projekts Raucher teurer heitskosten durch Rauchen der amerikanischen Rü- verursacht, in der Alters- stungsgeschichte stellte der als vermutet gruppe der über 65jährigen US-Rechnungshof fest, daß Krankheiten, die durch Rau- sind es sogar 60 Prozent. Be- die C-17 nur bedingt einsatz- chen verursacht werden, be- rücksichtigt wurden bei der fähig ist; der schwergewichti- lasten das US-Gesundheits- Untersuchungen nur fünf ge Transporter kann nicht system mit jährlichen Kosten Krankheiten, die eine unbe- einmal jede zweite der 10 000 in Höhe von 50 Milliarden strittene ursächliche Bezie- Grasmilbe

lands zu einer Invasion von Erdklima eine Erwärmung um Grasmilben geführt. Die pa- 1,1 Grad Celsius verrin- rasitären Spinnentiere, winzi- gert die Spiegelung des ge Achtfüßler von kugeligem Mond als Sonnenlichts um ein Pro- Körperbau, krallen sich in zent. Computerberech- die menschliche Haut und lö- Thermometer nungen der Forscher erga- sen dort heftig juckende Am schwachen Schimmer ben, daß die von der Erde Stichreaktionen aus – rötli- des Sonnenlichts, das reflektierte Mondbelich- che Pusteln, die um den die Erdatmosphäre zum tung ebenso genaue Rück- Rumpf gruppiert sind und an Mond reflektiert, wollen schlüsse auf die globale der Spitze kleine Bläschen amerikanische Wissen- Temperatur zuläßt wie die aufweisen. Wie das Fachblatt schaftler den Treibhausef- aufwendige und teure Sa- Ärztliche Praxis berichtet, fekt messen. Zweimal im tellitenbeobachtung, die dringen die Quälgeister neu- Monat, wenn der Erdtra- zudem nur Ausschnitte erdings massenhaft auch in bant nur als schmale Si- der Erdatmosphäre er- Wohnhäuser vor, lassen sich chel zu sehen ist, erkun- faßt. Aussagen über den dort aber nur mit Mühe den die US-Forscher Do- Treibhauseffekt dürfte aufspüren. Hausbesitzern, nald Huffman von der auch dieses 1925 von dem die von Grasmilben-Pusteln

University of Arizona so- J. SANDFORD / SCIENCEfranzösischen PHOTO LIBRARY / FOCUS Astrono- („Erntekrätze“) gepeinigt wie Steven Koonin und Mondsichel men Andre´ Danjon ent- werden, rät die Ärztliche Pra- Gordon MacDonald, die deckte Phänomen aller- xis, eine mindestens einen an der University of California in San Die- dings erst bei Langzeitbeobachtungen lie- Meter breite gras- und un- go arbeiten, mit Teleskop und Spezialka- fern. Immerhin können die US-Forscher krautfreie Schutzzone um das meras die Intensität des Erdscheins auf auf die Meßdaten zurückgreifen, die Dan- Bauwerk zu legen sowie dem dämmrigen Rund des Trabanten. Die jon, seine Schüler und Nachfolger bis in die Zierpflanzen wie Phlox, Reflexionskraft der Erdatmosphäre, be- fünfziger Jahre aufzeichneten. Über deren Mohn oder Primeln zu ent- dingt durch Wolkendunst und Schnee, Arbeit befand Koonin: „Sie waren verflixt fernen, in denen sich die hängt von der globalen Temperatur ab; schlaue Kerle.“ Grasmilben am liebsten tum- meln.

DER SPIEGEL 30/1994 145 .

WISSENSCHAFT

nahmen eine mögliche Rinderwahn Ausbreitung der Vieh- seuche verhindern läßt. Als „schwammige Entscheidung“ bezeich- Deutscher net etwa der Münchner Seuchenmediziner Os- kar-Rüger Kaaden die Pfeil nun vereinbarte Export- regelung, bei der „fach- Mit Ausfuhrbeschränkungen für liche Erwägungen sicher nur eine untergeordnete britisches Rindfleisch will Brüssel Rolle gespielt“ hätten. die Viehseuche BSE eindäm- „Jeder, der etwas von Anatomie versteht“, so men. Experten melden Zweifel an. begründet Kaaden seine Kritik am Brüsseler Re- utiefst zufrieden“ sei er, verkündete geltext, wisse beispiels- Bundesgesundheitsminister Horst weise, daß „es absolut ZSeehoferam DienstagletzterWoche kein Fleisch gibt, das – als ob das Ende der scheinbar endlosen frei von Nerven- und Geschichte vom Rinderwahn unmittel- Lymphgewebe ist“ – bar bevorstehe. Deutschlands Verbrau- diese Gewebeteile gel- cher, soSeehofer, seien nun „vor der Seu- ten als Hauptträger che BSE geschützt“. des BSE-Erregers. Nur Anlaß fürdiefrohe Botschaft des Mini- Englands Beef-Lobby, sters an die deutschen Schlachter, Züch- die sich in Brüssel offen- ter und Verzehrer von Rindfleisch waren sichtlich in diesem die neuen Handelsbeschränkungen für Stern Punkt habe durchsetzen britisches Rindfleisch. Nach den Rege- können, beharre auf lungen, die der Veterinärausschuß der nerhalb von Tagen in deutsches Recht dem Glaubenssatz, von schierem Mus- Europäischen Union in Brüssel am umgesetzt“ werden. Sie befreit den kelfleisch gehe keine Ansteckungsge- Abend zuvor verabschiedet hatte, wer- Bonner Minister aus einer ungemütli- fahr aus. den den britischen Farmern zwei Bedin- chen Zwangslage, in die er sich vor Mo- Ähnlich löchrig erscheint auch die gungen auferlegt: naten hineinmanövriert hatte. Vereinbarung, wonach Frischfleisch i Entbeintes schieres Muskelfleisch vom Noch immer ist weitgehend unge- mit Knochen nur aus mindestens sechs Rind dürfen sie nur noch exportieren, klärt, ob der BSE-Erreger – der theore- Jahre BSE-freien Beständen exportiert wenn die anhängenden Gewebeteile, tisch zahllose Nahrungsmittel, aber auch werden darf. Zu den mysteriösen viele medizinische Merkmalen des Rinderwahns gehört oder kosmetische Prä- der Umstand, daß durchschnittlich je- parate verunreinigen weils nur ein bis zwei Tiere in einer kann – auch den Herde an der Seuche erkranken. menschlichen Organis- Gleichwohl ist inzwischen etwa jedes mus zu infizieren ver- tausendste britische Schlachtrind, wie mag. Seehofer forder- inzwischen auch englische Experten zu- te daher ein umfassen- geben, mit dem Wahnsinnserreger infi- des Exportverbot für ziert. Der infektiöse Krankheitskeim britisches Rindfleisch. schlummert, so die Schätzung der Epi- Des Ministers Alp- demiologen, durchschnittlich zwischen traum: Würde die Be- vier und acht Jahren in den Rindvie- deutung der BSE-Pro- chern, bevor die BSE-typischen Krank- blematik, ähnlich wie heitssymptome ausbrechen. bei Aids, zu spät er- So wurden allein vorletzte Woche in kannt, könnte eine Ka- Großbritannien 331 neue BSE-Fälle tastrophe unvorstell- auf 46 Farmen bekannt, die seit dem baren Ausmaßes Eu- Beginn der statistischen Erfassung im

B. BOSTELMANN / ARGUM ropa heimsuchen. Soll- Jahre 1988 als frei vom Rinderwahn- Seuchenmediziner Kaaden te die EU sich wei- sinn gegolten hatten. „Schwammige Entscheidung“ gern, gemeinsam ge- Zwar räumen auch mißtrauische gen die in Großbritan- Fachleute ein, daß die nun vereinbarte einschließlich der Nervenfasern und nien grassierende tödliche Rinderseuche Sechsjahresfrist den Verbraucherschutz Lymphknoten, entfernt worden sind. einzuschreiten, werde er allein handeln, verbessert. Doch ob die Brüsseler Ver- i Frischfleisch mit Knochen darf aus hatte Seehofer gedroht. Für diesen Fall einbarung wirklich einen „dauerhaften Großbritannien nur ausgeführt wer- kündigte die Brüsseler Kommission eine Schutz vor der Seuche“ (Seehofer) bie- den, wenn es von Tieren aus Herden Klage vor dem Europäischen Gerichts- tet, kann niemand garantieren: Noch stammt, bei denen in den vergange- hof an. machen die britischen Tierkadaverbe- nen sechs Jahren kein BSE-Fall fest- Seit dem Beschluß von vergangener seitiger an ihren Verbrennungsöfen gestellt wurde. Woche glaubt Seehofer, auf sein Solo Überstunden, um die verseuchten Rin- Die „höchst erfreuliche“ Brüsseler verzichten zu können. Fachleute be- derleichen aus der Welt zu schaf- Vereinbarung soll, laut Seehofer, „in- zweifeln, daß sich mit den neuen Maß- fen.

146 DER SPIEGEL 30/1994 .

Europas Rindfleischkonsumenten auf Anregung des Deutschen Bauern- die hanseatischen Konsumentenhelfer sind vom Gekungel um die Rinder aus verbandes (DBV) die Aktionsgemein- 300 Metzger an. britischen Ställen, von denen etwa 5000 schaft Fleisch gegründet. Die Fleischfachhändler sollten versi- (derzeit noch mit Schlachtverbot beleg- „Im Herbst wollen wir sichtbar sein“, chern, daß ihr Rindfleisch nachweislich te) Tiere auch auf deutschen Weiden so umschreibt DBV-Generalsekretär und nachprüfbar nicht von Tieren aus grasen, tief verunsichert – sie steigen um Helmut Born den Vereinszweck: Fleisch britischer Zucht stammt und, zweitens, aufs Federvieh. Die Bundesbürger wer- aus deutschen Rinderställen soll dann daß den Rindern zu Lebzeiten kein tier- den in diesem Jahr, schätzt das Bonner beim Metzger mit einem zweifarbigen mehlhaltiges Futter verabreicht wurde – Ernährungsministerium, pro Kopf nur Pfeil gekennzeichnet werden und der durch Tiermehl, hergestellt aus Schafs- noch rund zwölf Kilogramm Rind- und feilgebotenen Ware eine deutsche Ge- kadavern, kam der BSE-Erreger seiner- Kalbfleisch verzehren, knapp ein Kilo- burt attestieren. zeit aufs Hornvieh. gramm weniger als 1993. Wie schwierig ein solches Marketing- Ergebnis der Aktion: Nur 38 der an- In der Absicht, die Aussteiger zurück- konzept zu verwirklichen ist, läßt sich geschriebenen 300 Fleischer schickten zulocken, hat vorletzte Woche eine den Erfahrungen der Hamburger Ver- die „Unbedenklichkeits-Erklärung“ mit buntgescheckte Notgemeinschaft, dar- braucherzentrale entnehmen. Beim einem nachprüfbaren Herkunftsnach- unter Schlachter und Futtermittelfabri- Versuch, eine „Adressenliste für den weis zurück. Unter den Absendern war kanten, Tierärzte und Rinderzüchter, Fleischeinkauf“ zu erstellen, schrieben kein einziger Supermarkt. Y

Tierschutz schaftsministerium, mag die Gelas- senheit des Bauern-Lobbyisten Linn nicht teilen. „Die Mastbedingun- gen“, fordert sie, müßten dringend Rasende Herzen „verbessert werden“. In einem nor- malen Stall drängen sich gut 25 000 Die Sommerhitze tötet Zehntausende von Masthähnchen Hähnchen auf dem Boden, ihre Be- wegungsfreiheit ist kaum größer als auf dem Grillspieß einer Imbißbude. as Leben eines Masthähnchens bald der Sauerstoff knapp, das Per Erlaß hat Dayens Ministerium ist kurz und freudlos. In nur Hähnchenherz beginnt zu rasen – den niedersächsischen Bauern zwar Dfünf Wochen verwandelt sich und setzt schließlich aus. schon vor eineinhalb Jahren aufge- ein putziges Küken in einen verita- Klaus-Peter Linn, Fachreferent geben, nicht mehr als 30 Kilo Le- blen Schlachthahn; bei etwa 1,5 Kilo beim Zentralverband der Deutschen bendgeflügel pro Quadratmeter zu Gewicht ist dann Schluß – mit der Geflügelwirtschaft in Bonn, hält halten, das sind etwa 20 Tiere. Im Mast wie mit dem Leben. Mitleid für Unfug: Die meisten toten Sommer sollen es noch mal zwei Zur Zeit geht es noch schneller: Hähnchen seien ohnehin „bald Hähnchen weniger sein. Zudem Das Hoch „Charly“ bescherte in den schlachtreif“ gewesen. schreibt das Ministerium Mindest- vergangenen Wochen zahlreichen Zudem würden die Hitzeopfer standards für die Stallbelüftung vor. Hähnchen und Puten ein vorzeitiges nutzbringend verwertet. Die Tier- Aber kaum ein Mäster folgt der Ende, den Mastbetrieben brachte körperbeseitigungsanstalten zerklei- Order, zahlreiche Bauern haben da- „Charly“ eine Debatte über artge- nern die Hühnerleichen zu Tier- gegen Klage erhoben. In Deutsch- rechte Haltung. mehl. Das Zeug wird größtenteils land sei die „Besatzdichte“, so der Allein in Niedersachsen, wo fast nach Polen exportiert. Fachausdruck, mit derzeit 22 bis 25 jeder zweite deutsche Hahn produ- Maria Dayen, Tierschutzreferen- Tieren pro Quadratmeter geringer ziert wird, verendeten seit Anfang tin im niedersächsischen Landwirt- als beispielsweise in Holland oder des Monats gut Dänemark. Der Er- 175 000 Tiere. Bin- laß, klagen Lobby- nen weniger Tage isten, werde „das mußten dieTierkör- Ende der Hähn- perbeseitigungsan- chenmast in Nieder- stalten 325 Tonnen sachsen“ bedeuten. Geflügel zusätzlich Außerdem, so entsorgen. Bauernfunktionär Die Hähnchen Linn, falle bei 328 sterben am Hitze- Millionen jährlich streß. Wie alle Vö- produzierter Hähn- gel können Hühner chen die Zahl der nicht schwitzen. verendeten Tiere Um überschüssige kaum ins Gewicht. Körperwärme los- Die Relation sei zuwerden, stellen vergleichbar mit sie das Gefieder auf den Hitzetoten un- und hecheln ähnlich ter den Menschen. wie Hunde. Bei „Darüber“, meint

schlechter Belüf- K. GREISER Linn, „regt sich ja tung wird im Stall Hähnchenmast in Norddeutschland: Wie auf dem Grillspieß auch niemand auf.“

DER SPIEGEL 30/1994 147 .

TECHNIK

In Wahrheit hat der große Volvo kein Jahren und wurde von den Kritikern – Automobile stärkeres Blech als vergleichbare andere zumindest stilistisch betrachtet – als ge- Autos und auch kein besseres Crashver- linde Enttäuschung bewertet. halten als ein vergleichbares Konkur- Im längst angebrochenen Zeitalter renzmodell bei einem vergleichbaren der Aerodynamik hatten Volvos De- Zähes Leben Unfall. Für viele Freunde der Marke signer nicht Odins Speer, sondern eher blieb der Volvo-Kauf gleichwohl uner- den Hammer des Donnergottes Thor Volvo, die Automarke mit Panzer- schütterlich eine Frage der Weltan- zum Vorbild genommen. Zum Vor- Image, hat einen Mythos schauung. schein kam, als Nachfolger des von Daher sehen die Volvo-Manager gute manchen treuen Kunden kumpelhaft wiederbelebt – den Luxus-Typ 960. Chancen, mit der im September liefer- „Trecker“ genannten 264er-Typen, ein baren neuesten Version ihres üppig aus- kantiges Kastenauto, das seine strö- ie schweren Limousinen des staffierten Spitzentyps „960“ künftig mungsungünstigen Formen trutzig ge- schwedischen Herstellers Volvo auch in der Luxusklasse erfolgreich zu gen den Zeitgeist stemmte. Dverkörpern das Gegenteil nordi- konkurrieren. Die Firma (Jahresum- Die Volvo-Ingenieure wollten sich scher Jugendfrische – alte Knochen. satz: 11,6 Milliarden Mark, Jahrespro- vernünftigerweise auf den „Überlebens- Aber ihr Ruf ist bombig! duktion: 290 700 Autos) offeriert zu mythos“ ihres Gefährts allein nicht ver- Volvo zog sich eine einzigartige Preisen zwischen 51 800 und 61 300 lassen. Sie änderten 1987 die Frontpar- Klientel von Leuten heran, die großen- Mark eine 4,87 Meter lange Limousine tie und ließen drei Jahre später eine wei- teils von der – meist unerfüllt bleiben- und einen (von vielen Käufern bevor- tere kosmetische Operation folgen. den – Ahnung ausgeht, eines Tages un- zugten) 4,86 Meter langen Kombi. Aber die Kritiker hörten nicht auf zu weigerlich in einen fürchterlichen Zu- Zusätzlich zu dem gewohnten Drei- mäkeln. Auto Bild gefiel weder das Inte- sammenstoß verwickelt zu werden. Die- Liter-Triebwerk (204 PS) bietet Volvo rieur („Omas antike Ohren-Möbel“) noch das Temperament („Selten Drang zu sportlicher Fahrwei- se“); in flott angepack- ten Kurven notierten die Tester gar „Schlag- seite wie ein Tretboot in Seenot“. „Wir wollen aggres- siver werden“, ver- kündete Vizepräsident Nilsson. Zweifelnde Premierengäste, die vergebens nach augen- fälligen neuen Details am 960er suchten, for- derte er auf, „nochmals genauer hinzusehen“, dann würden sie schon

FIRMENFOTO VOLVO drauf kommen. Mehr Neuer Volvo 960: Trutzig gegen den Zeitgeist gestemmt als 1400 neue Teile ließ Nilsson einbauen. se Käufer leitet ein zählebiger Wunder- einen weiteren Sechszylinder (170 PS) Dabei widmeten sich die Ingenieure glaube, der große Volvo habe dickeres an, für den die Ingenieure „Laufruhe“ vornehmlich dem Fahrwerk, insbeson- Blech („Sicherheit aus Schwedenstahl“) und hohe Durchzugskraft als besonders dere der 1990 eingeführten „Mehrlen- – und biete seinen Insassen daher im wichtige Tugenden anstrebten. „Unsere ker-Hinterachse“. Ihr applizierten sie Falle eines Aufpralls auch bessere Über- Kunden“, erläuterte Volvo-Vizepräsi- anstelle der bisher verwendeten schwe- lebenschancen. Manche geben ihrem dent Jan-Olof Nilsson bei der Premie- ren Schraubenfedern eine querliegende ausgeprägten Schutzbedürfnis auch re, „wollen Power ohne Krach.“ Blattfeder aus Kunststoff, verstärkt mit durch Aufkleber Ausdruck, die den ver- Da die Schweden für ihren neuen Fiberglas. Das bringt eine hochwillkom- meintlich leichtsinnigen Lenkern ande- Typ nur den kargen Gegenwert von 200 mene Minderung des Wagengewichts rer Fabrikate vermitteln: „Ich fühl’ mich Millionen Mark aufgewendet haben, um elf Kilogramm. wohl in meinem Schwedenpanzer – und liegt der Verdacht nahe, daß vieles Kein Zufall war, daß Volvo die Vor- du in deiner Dünnblech-Kiste?“ beim alten blieb. Tatsächlich läßt sich stellung des neuen 960er-Modells nach Im nachhinein erwies es sich als unnö- der Volvo 960 nur bei genauem Hinse- Amerika verlegte. Der US-Markt ist tig, daß die Firma die Karambolage- hen vom Vorgänger unterscheiden, ob- schon seit Jahren Volvos erfolgreichster Furcht potentieller Käufer vor Jahren wohl die Schweden beteuern, ihre Styli- Verkaufsplatz. Im vergangenen Jahr noch mit gezielter Werbung zu schüren sten hätten allerlei unternommen, um kauften die Amerikaner 72 200 Volvos. suchte. Ihre Anzeige mit einem Hamlet- Karosseriepartien zu glätten und abzu- Spötter meinen, dieser Erfolg habe Darsteller samt Totenkopf und Schlag- runden. womöglich zu tun mit einer besonderen zeile „Sein oder Nichtsein“ wurde für Urvater des „960“, mit dessen Hilfe Mentalität der Amerikaner. Sie gelten das Bundesgebiet als „verbotene Wer- Volvo bei den Deutschen einen Anteil unter allen zivilisierten Menschen als bung mit der Angst“ untersagt. Schon am gesamten Pkw-Markt von einem die wohl leichtgläubigsten Zeitgenos- viel früher hatte sich eine Art Mythos Prozent (bisher 0,78 Prozent) zu erlan- sen. Keiner glaubt fester als sie, daß ein fest etabliert, dem folgerichtig auch die gen hofft, ist der 1982 vorgestellte Vol- Volvo ein dickeres Blechfell und ängstlichen DDR-Oberen erlagen: Sie vo 760. Er war damals Volvos erste daher mehr Sicherheit für Leib und Le- erhoben den Volvo zur Staatskarosse. grundlegende Neukonstruktion seit 30 ben biete. Y

148 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR

Film VERSAGER BEISSEN ZURÜCK Sie sind jung, wirr und geschwätzig, sie kleiden sich wie Hippies, und sie feiern das Scheitern: Die „Slacker“ sind die neuen Helden der Unterhaltungsindustrie. Ein kleiner Untergrundfilm hat den Namen geprägt; nun macht Hollywood aus der Lebenshaltung ein großes Geschäft. INTER-TOPICS Slacker-Darsteller im Hollywood-Film „Reality Bites“*: Keiner braucht sie, keiner versteht sie

s war ein Tag voller Lärm und waren an der Macht, die sie mit keinem alle Schalter der Macht fest umklam- Spaß, als die Jugend endlich die teilen wollten. mert? Es ist, mit ein paar Jahrzehnten EMacht ergriff; sie drehte die Ver- Der Regisseur Richard Linklater ist Verspätung, so gekommen, wie „Wild stärker bis zum Anschlag auf und rollte dieser Geschichte im Kino begegnet; er in the Streets“ es beschrieb – nur das mit zur Feier riesige Joints, und durch die hat neulich diesen alten Film entdeckt, den Lagern hat sich erledigt: Die Alten Säle des Weißen Hauses schwebten die „Wild in the Streets“ aus dem Jahr 1968, sterben ohnehin bald aus. Und von den vereinigten Schwaden von Amerika. und dessen Story hat wieder einmal sei- Jungen, scheint es, droht kaum Gefahr. Der neue Präsident war keine 25 Jah- nen Verdacht bestätigt, daß die Grenze, Dieser Leinwandheld beispielsweise, re alt; er sah aus wie ein Hippie, trug die welche angeblich die Imagination von der, in seinem schlaffen T-Shirt und mit Haare lang, und vom vielen LSD glänz- der Wirklichkeit trennt und die Bilder den fetten, schlechtgekämmten Haaren, ten seine Augen glasig. Er hatte in einer von den Tatsachen, löchrig und brüchig den Hippies von damals ziemlich ähn- Band gesungen und mit Drogen ein paar geworden ist und manchmal kaum noch lich sieht, wird niemals seine Welt ver- Dollars verdient, und von der Politik zu erkennen. ändern. Er weiß ja nicht einmal, was die verstand er nicht mehr als jene, die ihn Hat der Mann, der heute die USA re- Welt eigentlich sei; er hat davon gehört, schließlich wählten. giert, etwa kein Marihuana probiert? daß es unendlich viele Parallel-Univer- Er hatte den jungen Menschen vorge- Hat er sich nicht zum Rock’n’Roll-Prä- sen gebe, lauter Doppelgänger der rechnet, daß sie, rein numerisch, in der sidenten erklärt und zum Repräsentan- Wirklichkeit, und dieser Gedanke lähmt Mehrheit waren; er hatte sich zum Kün- ten der Nachkriegsgeneration? Halten sein ganzes Handeln. der seiner Generation erklärt. Und als nicht jene, die damals 25 waren, heute Heute morgen etwa, als er sich ent- er dann sein Amt antrat, schickte er al- schied, in ein Taxi zu steigen, ist sein Al- le, die älter als 35 waren, ins Lager und * Darunter Winona Ryder (2. v. l.) und Ethan ter ego in der parallelen Welt einfach ließ sie nicht mehr hinaus. Die Hippies Hawke (3. v. l.). stehengeblieben, hat ein Mädchen ange-

150 DER SPIEGEL 30/1994 .

blinzelt, sich verliebt und mit ihr einen Bilder auf der Lein- wundervollen Tag verbracht, und der wand billig wirkten, Junge kann daraus nur schließen, daß dann lief der Film nur jede Entscheidung die falsche sei und je- synchron mit seinen de Aktion zum Scheitern führe. Helden und deren Le- Linklater, 33, spielte diese Rolle sel- bensgefühl. ber, in „Slacker“, seinem ersten Film, Es dauerte ein paar der eigentlich nur einen Tag im Leben Jahre, bis die Welt für der Jugend von Austin/Texas beschrei- so was endlich reif ben wollte – und der dann einer ganzen war. Ein großer Ver- Generation den Namen gab. „Slacker“ leih brachte „Slacker“ heißt Nichtsnutz oder faule Sau, und je- 1991 in die amerikani- ne, die damit bezeichnet wurden, nah- schen Kinos, wo er fast men das Schimpfwort als Ehrentitel, so eineinhalb Millionen wie die Punks einst aus dem Wort für Dollar einspielte (nach ein Stück Menschenmüll ihren Kampf- Deutschland hingegen namen machten. kam er nur mit einer Ein Slacker ist der Musiker, dessen einzigen Kopie, Kritik Band „Die totalen Versager“ heißt. Ein und Publikum übersa- Slacker ist der nervöse Knabe, der aus hen ihn; in diesem dem Hosenbund die Pistole holt und in Herbst wird er noch die Häuser fremder Leute steigt; doch einmal laufen). wenn der Hausherr ihn ertappt und sagt, Linklater aber wur- daß hier nichts zu holen sei, dann steckt de, gemeinsam mit er die Waffe wieder zurück und bittet dem Schriftsteller schüchtern um eine Tasse Kaffee. Douglas Coupland Ein Slacker ist die junge Frau, die („Generation X“), zu Madonnas Abstrich, im Einweckglas ge- Talk-Shows eingela- sammelt, auf der Straße verkaufen will. den, galt plötzlich als Slacker sind die Mädchen, die nachmit- Künder seiner Genera- tags stundenlang in den Buchhandlun- tion und durfte den Äl- gen stöbern und abends ihr Fahrrad vor teren erläutern, wes- halb die Jugend Ame- rikas so schlaff und so Eine Generation, die geschwätzig sei. Er be- nichts zu verlieren kam für seinen näch- sten Film „Dazed and und wenig zu erwarten hat Confused“ ein sieben- stelliges Budget. Und der Bar abstellen. Slacker sind Jungs, die großen Firmen der die ihre Videokameras erschießen oder Filmindustrie machten ihre Schreibmaschinen im Fluß versen- ihm das ehrlichste ken und dazu Beschwörungsformeln Kompliment: Sie be- murmeln. Slacker heißen alle, die mit klauten ihn. Reden, Zweifeln, Träumen so beschäf- In „Singles“ (1992)

tigt sind, daß keine Zeit mehr bleibt und beispielsweise war KATZ / LIAISON / STUDIO X keine Kraft fürs Geldverdienen und die Matt Dillon leicht ver- Regisseur Linklater Karrieren – die ihnen sowieso nicht of- stört und redete so rät- Den Vätern die Lebenslüge von Jugend und Eigensinn rauben fenstünden. selhaft daher, als habe Ein Slacker war auch Richard Linkla- er „Slacker“ mindestens viermal gese- gen für ein paar Twens in Houston/Te- ter in den achtziger Jahren, als er das hen. In „Single White Female“ (1992) xas, und zum Erwachsenwerden fehlt College ohne Abschluß verließ und auf kam es zum Showdown zwischen Slacker- die Notwendigkeit: Die guten Jobs sind einer Ölbohrinsel im Golf von Mexiko Girl und Yuppie-Frau. In „True Roman- von 50jährigen besetzt, die guten Ideen anheuerte; was er dort verdiente, war ce“ (1993) kriegte Christian Slater gele- bekannt, die guten Platten längst aufge- nicht viel und reichte doch für ein paar gentlich Besuch von seinem Doppelgän- nommen. entspannte Jahre. Er ging ins Kino, ger aus einer anderen Welt. In „Threeso- Sie suchen vergebens nach den Ar- dreimal täglich; er schrieb Storys, Sze- me“ (der jetzt anläuft) ist der Held so ver- beitsplätzen, die ihrer Ausbildung ange- nen, Dialoge für Filme, die er niemals wirrt, daß er nicht einmal weiß, ob er lie- messen wären. Sie suchen vergebens das drehte; er übte mit der Kamera. Für die ber Jungs oder Mädchen mag oder wo- Verständnis ihrer Eltern, die nicht fas- Filmhochschule blieb ihm da keine Zeit. möglich überhaupt keinen Sex. sen können, daß ihre Kinder sich klei- Im Sommer 1989 trieb er 23 000 Dol- Und nun kommt „Reality Bites“ in die den und benehmen wie Doppelgänger lar auf und scherte sich einen Dreck dar- Kinos, und dieser Film sieht so aus, als ihrer selbst vor 25 Jahren. Vor allem um, daß die Filme aus Hollywood im hätten sie „Slacker“ noch einmal gedreht aber suchen sie nach dem Sinn des Le- Schnitt das Tausendfache kosten. Seine – in einem parallelen Universum namens bens, der damals, in ihrer Kindheit, als Schauspieler waren Laien, die hatten Hollywood. sie noch an Fernsehserien glaubten, so Lust, sich selbst zu porträtieren, und „Voll das Leben“ heißt, mit deutschem klar und einfach schien: „Ich verstehe verlangten keine Gage dafür. Sein Titel, die Komödie, die doch vor allem nicht, warum nach einer halben Stunde Drehbuch handelte von ziemlich passi- vonder Leere handeltund davon, daß das nicht wieder alles normal wird wie bei ven Leuten und war schon deshalb frei wahre Leben anderswo sei; die Jugend ist den Bradys in ,Drei Jungen und drei von teuren Actionszenen. Und wenn die mit dem Collegeabschluß zu Ende gegan- Mädchen‘“ – „Weil Mister Brady an

DER SPIEGEL 30/1994 151 Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR

Aids gestorben ist.“ Keiner braucht sie, keiner versteht sie, keiner interessiert sich für sie – außer der Un- terhaltungsindustrie, die jetzt die Slacker als Zielgruppe entdeckt. Wer Geld ausgibt für Platten von Beck und Nirvana, der kauft sich für „Reality Bites“ ei- ne Kinokarte: So geht die simple Rechnung. Sie haben die weibli- che Hauptrolle mit Wi- nona Ryder besetzt, die schmal und zierlich ist und doch groß und glaubwürdig genug, um ein wenig Leben selbst solchen Sätzen einzuhauchen, die sich anhören wie der Wer- beratschlag für die Ge- neration X. Den männlichen Helden spielt Ethan Hawke, der schüchter- Linklater-Entdeckung „Wild in the Streets“: Vereinigte Schwaden von Amerika ne Knabe aus dem „Club der toten Dichter“, der inzwi- „Reality Bites“ hat, als erzählerisches der dreht, mit schlichten Mitteln und schen einen Ziegenbart trägt und lange Gerüst, die alte Dreiecksgeschichte vom ohne Budget, den Film im Film, den bil- strähnige Haare; doch im Blick hat er Mädchen, das zwischen zwei Männern ligeren Doppelgänger, das ungeschönte noch immer diese attraktive Mischung steht; dazwischen aber bleiben viel Platz Porträt ihrer Generation. aus Trotz und Trauer und Verletzlich- und Zeit für jene modischen Kostüme In diesen Momenten sieht der Film so keit. Er wird, als Teenager-Idol, schon und Kulissen, die sich aus den späten aus, als hätten die Produzenten doch ge- bald River Phoenix beerben. Sechzigern die bunten Farben borgen ahnt, daß die Helden von „Reality Sein Gegenspieler ist Ben Stiller (der und aus den späten Siebzigern die ag- Bites“, diese skeptischen jungen Men- den Film auch inszeniert hat); ein später gressive Attitüde für jene zeitgemäßen schen, für einen Film wie „Reality Yuppie mit kurzen Haaren, knappen Dialoge, die das Versagen fetischieren Bites“ keinen Cent ausgeben würden. Sakkos und mobilem Telefon; er liebt und hinter jedem Erfolg Verrat vermu- Falls sie mehr über sich selbst erfah- Winona Ryder, und er kriegt sie nicht: ten. ren wollen, und der Blick in den Spiegel weil Typen wie er, Fossile der Achtzi- Und manchmal, quasi als Entschuldi- ger, gefälligst mit ihren Autos und Fern- gung, wird die glatte Oberfläche durch- bedienungen spielen sollen, statt schöne löchert von Videoaufnahmen, die un- Warum ist die Jugend junge Frauen zu verderben. scharf und verwackelt sind: Winona Ry- so schlaff und so geschwätzig?

und auf den Kontoauszug reicht ihnen nicht, dann gucken sie sich „Slacker“ an oder Linklaters wundervollen „Dazed and Confused“, der die Wurzeln für die Verlorenheit und die Melancholie der Slacker-Generation in den späten Sieb- zigern vermutet, als vom Erbe der Hip- pie- und Studentenrevolte nicht viel mehr übrig war als pompöser Rock’n’ Roll – und in den Köpfen ein Nebel aus Haschisch (ein deutscher Verleih hat sich noch nicht gefunden). Falls sie aber ihren Träumen und Hirngespinsten begegnen wollen, dann kaufen sie sich Karten für einen Film von Quentin Tarantino, für „Reservoir Dogs“ oder „True Romance“; denn der porträtiert jene Generation, die nichts zu verlieren und wenig zu erwarten hat,

WINNFILM nicht nur in ihren Wohnzimmern und an Linklater-Film „Slacker“: Madonnas Abstrich im Einweckglas den Arbeitsplätzen; er beschwört ihre

DER SPIEGEL 30/1994 153 .

KULTUR

Dämonen und Gespenster, ihre Ge- Zum Glamour-Star fehlen der Schau- waltprojektionen und Lustphantasien; Schauspieler spielerin die üblichen Allüren: Klar, fast er macht die Wunden sichtbar und derb ist ihr Gesicht, kräftig die Stimme treibt den Wahnsinn auf die Spitze. und deftig die Figur. Annette Paul- Richard Linklater versucht derweil, mann, 29, seit knapp sieben Jahren die seiner Rolle als Oberslacker zu ent- Kunst junge Skurrile in Jürgen Flimms Thalia- kommen. Er dreht in Wien, mit Ethan Ensemble, hat es dennoch zum Liebling Hawke und Julie Delpy in den Haupt- des Publikums gebracht. rollen, eine Liebesgeschichte. Und er statt Kuchen Nun steht sie, als schnapsselige Mut- besteht darauf, daß der Film vor allem ter Peachum umjubelt, in Bert Brechts von der Liebe handelt und nicht von Von Publikum und Presse gefeiert: „Dreigroschenoper“ auf der Bühne. Mit einer bestimmten Generation. Die Schauspielerin Annette entwaffnender K.o.-Komik spielt sie Womöglich handelt es sich also um sich ins Zentrum der Aufführung, als ein Mißverständnis, wenn einer fragt, Paulmann avanciert zum Star des wolle sie alles Schwankende der Insze- was all die Filme über Slacker und Ge- Hamburger Thalia Theaters. nierung ein für allemal ins Eindeutige neration X den echten Slackern zu sa- retten. gen haben. Womöglich sprechen die Nach der Premiere waren sich die Kri- Gammler und Spinner bei Linklater ie junge Schauspielerin sitzt auf ei- tiker einig. Die grelle, unentschiedene und ihre Doppelgänger aus dem Main- ner Hamburger Cafe´-Terrasse und Inszenierung von Katharina Thalbach stream-Kino in erster Linie nicht zu ih- Dblinzelt in die stechende Mittags- bekam ein bedenkenschweres Naja, An- resgleichen, sondern zu jenen, die sonne. Am Nebentisch erhebt sich eine nette Paulmann als pralle Kinds-Mutter Macht und Einfluß haben und die gu- Frau, kommt näher und stellt die Seins- Peachum das obligate Sonderlob. ten Jobs und die sich trotzdem noch frage: „Bist du nicht Annette Paul- Der Rheinische Merkur fand ihre Lei- für junge Leute halten: zum Rock’n’ mann?“ Die Künstlerin zeigt alle Anzei- stung schlicht „umwerfend komisch“. Roll-Präsidenten und dessen Generati- chen schüchterner Verwirrung und be- Die Süddeutsche Zeitung urteilte, wenn onsgenossen, zu jenen 50jährigen, die jaht verschämt. Ihre Verehrerin setzt auch wortreicher, ebenso begeistert: vor einem Vierteljahrhundert rebellier- nach: „Du, ich finde das ganz toll, was Annette Paulmann habe in dieser Pro- ten und protestierten und die heute du da am Thalia machst.“ duktion eindeutig „die Hosen an, die glauben, sie stünden noch immer in Kokett-bescheiden ringt die Aktrice Fäden in der Hand“. Als „wohl jüngste dieser Tradition. die Hände, schlägt in gespielter Qual die komische Alte der Aufführungsge- Richard Linklater und Matt Dillon, Augen nieder und schafft es dabei noch, schichte“ entwickele sie „eine Vitalität, Ethan Hawke und Winona Ryder ho- glaubwürdig zu stammeln: „Das passiert deren hüftwackelnder Körperwitz nur len sich die Insignien des Widerstands mir jetzt zum erstenmal.“ noch durch die choreographische Präzi- ausgerechnet bei denen, die sion“ überboten werde. Die ihre schärfsten Gegner sind; taz sieht die Paulmann gar in sie rauben ihren Vätern der „hochkomischen Mei- nicht nur die langen Haare, sterklasse“ agieren. die dicken Joints und den Handfest ist die Paulmann Sound von kreischenden Gi- und direkt. Sie mag „keine tarren. Sie rauben ihnen die Meinungsschwätzer“, im Le- Lebenslüge, die Illusion von ben nicht und erst recht Jugend und Eigensinn. Sie nicht auf der Probenbühne. eignen sich die Zeichen, die Ihre Figuren siedeln nicht Haltungen und den Lebens- im Artifiziellen, haben Bo- stil der sechziger und siebzi- denhaftung und sind doch ger Jahre an und werfen die nicht plump. Und immer Helden jener Zeit erbar- mungslos zurück auf das, * Links: in der „Dreigroschenoper“ was sie heute sind: alt und mit Guntbert Warns. satt und selbstgefällig. Sie geben sich als Wieder- gänger ihrer Eltern und neh- men denen damit jede Chan- ce, sich an der eigenen Ge- schichte zu trösten und zu wärmen. Und wenn sie das Scheitern feiern, das Versa- gen verklären, dann stem- peln sie auch die Veteranen der Revolte als Versager ab. Es ist, als kehre die Vergan- genheit zurück und wende sich gegen jene, die in der Gegenwart zu herrschen glauben. Die Realität beißt, das Ki- no beißt noch heftiger. Und die Rebellion frißt ihre Vä-

ter. M. HENKE C. KELLER / GRÖNINGER Claudius Seidl Thalia-Schauspielerin Annette Paulmann*: „Hüftwackelnder Körperwitz“

154 DER SPIEGEL 30/1994 .

spielt sie ironisch mit, daß sie eben nur spielt. In Ertinghausen, einem Dorf im Sol- ling, rund 30 Kilometer von Göttingen entfernt, durchlebte Annette Paulmann eine kunstferne, aber „glückliche“ Ju- gend. Die Eltern betreiben dort, „am Ende einer Sackgasse“, einen idylli- schen Gasthof und eine kleine Land- wirtschaft. „Das Heimwehkind“, wie sich die Schauspielerin noch heute nennt, hat „sich nie gewünscht, zum Theater zu ge- hen“. Gelegentlich übernahm sie zwar Rollen in der Theater-AG der Schule, aber hauptsächlich, „weil sich da die Freaks versammelten, die Jungs mit den langen Haaren“ zum Beispiel. Annette Paulmann wollte Konditorin oder Ho- telkauffrau werden. Der Dienst am Kuchen wurde ver-

worfen, „weil der Vater auf dem Abitur FOTO BLITZ / STILLS / STUDIO X bestand“. Ein Freund überredete die „Bad Girls“-Star MacDowell: Galopp in Männerklischees Unschlüssige, doch mal die Aufnahme- prüfung an der Hamburger Schauspiel- chen im Freischütz-Musical „The Black Posen und dem Stolz, die einen Mann schule zu machen. „Da saß dann ein Rider“. Für diese Rolle kürte sie das zum Manne machen. In seinen hellsich- Mädchen im hochgeschlossenen Blüm- Fachblatt Theater heute 1990 zur „Nach- tigsten Augenblicken verrät er mehr chenkleid und im Lodenmantel der wuchskünstlerin des Jahres“. über Grandezza und Größenwahn die- Mutter auf dem Flur“, erinnert sich die Die jungen Kollegen, mit denen sie ser Männlichkeit, als John Wayne je Paulmann an die letzten Minuten vor ih- ihre Karriere begonnen hatte, haben das eingestanden hätte. rem ersten Auftritt. Thalia inzwischen fast alle verlassen Wer Frauen in das Territorium zwi- Die Kandidatin hatte sich die Elisa- oder scheffeln Gage in Vorabendserien. schen Monument Valley und Rio Bravo beth aus Schillers „Maria Stuart“ vorge- Und doch hat sie ihren Vertrag gerade schickt, muß sie darum gut bewaffnen: nommen. Bei den Worten „Ihr Haupt um ein weiteres Jahr verlängert. Denn mit eigenen Erfahrungen und mit einer soll fallen“, mit denen die englische Kö- andernorts, sagt sie, „haben die alle eigenen Geschichte. Er muß sie ihren nigin das Schicksal ihrer schottischen schon Schauspielerinnen in meiner Posi- eigenen Anspruch auf den Western-My- Rivalin besiegelt, führte sie eine schau- tion“. thos abstecken lassen, statt sie in die erliche Pantomime auf: Sie riß den ima- Und welche Position mag das sein? klassische Drehbuchvorlage der wort- ginären Kopf der Schottin mit theatrali- „Daß ich gut spiele“, lautet die Ant- kargen Revolverhelden und Outlaws zu scher Geste vom Rumpf und schleuder- wort, und das ist ihr Ernst. Y zwängen. te ihn zu Boden. Die Prüfer erkannten Das gelang der Regisseurin Maggie prompt die komische Kapazität der Be- Greenwald im vergangenen Jahr mit ih- werberin aus der Provinz und nahmen Film rer „Ballad of Little Jo“, einem leisen, sie an. kleinen Alltagswestern über eine ver- Den Mitschülern, die „alle schon so- stoßene Bürgerstochter, die sich jahr- viel über Theater wußten“, blieb das zehntelang, als Mann getarnt, im Landei Paulmann fremd. Sie galt schnell Wilder Ritt Grenzland als Aushilfskraft und Ran- als „die Dicke, die Komische“. Auch die cherin durchschlägt. Die „Ballad of Selbsterfahrungs-Kurse mit ihren Psy- „Bad Girls“. Spielfilm von Jonathan Little Jo“ kam nie in die deutschen Ki- choexerzitien verliefen nicht ungetrübt: Kaplan. USA 1994. nos. „Ich war so verklemmt, und die ständi- In „Bad Girls“, der jetzt in Deutsch- gen Improvisationsübungen waren nicht land startet, machen sich vier Bordell- mein Ding.“ Annette Paulmann, die rei Wochen haben sie in einem damen auf die Flucht. Eine von ihnen, eher für „Fechten und Judo“ schwärm- Cowboy-Camp trainiert. Dann die strenge, herbe Cody (Madeleine te, „wollte wieder gehen“. Dkonnten die Damen Lassos wer- Stowe), hat einen Freier erschossen, die Als Retter nahte Robert Wilson. Der fen, Kautabak in handliche Batzen anderen haben sie vor dem Galgen be- amerikanische Bildertüftler suchte 1986 schnippeln, im Galopp einen Revolver wahrt. Jetzt wollen sie weg, in eine bes- für seine Hamburger Inszenierung von abfeuern und bewaffnet über staubigen sere Zukunft ohne Hurenfron. Doch Heiner Müllers „Hamletmaschine“ stra- Präriegrund robben. Was zu beweisen schon nach ihrem ersten wilden Ritt aus pazierfähige Schauspielschüler – und war: Frauen sind ebenso wildwesttaug- der Stadt geht dem Film der Atem aus. verpflichtete die frustrierte Elevin. Jür- lich wie Männer. Jonathan Kaplan rettet sich in Genre- gen Flimm holte sie 1987, noch vor ih- Der Regisseur Jonathan Kaplan Szenen: Lagerfeuer, Bankraub, Ge- rem Examen, mit einem festen Vertrag glaubt offenbar, aus dieser Erkenntnis fängnisausbruch, Showdown. Cody und ans Thalia. lasse sich ein Western drechseln. Wie die anderen – Drew Barrymore, Mary Wilson verdankt die Paulmann auch „Bad Girls“ beweist, irrt er sich. Stuart Masterson und Andie Mac- ihre bislang spektakulärsten Erfolge: zu- Der Western sperrt sich hartnäckiger Dowell – kämpfen von Anfang an auf letzt die verstört-trotzige Titelheldin in als alle anderen Genres dagegen, seine verlorenem Posten. Sie können nicht 80 „Alice“, seiner Lewis-Carroll-Adapti- angestammten Helden durch wilde Wei- Jahre Filmgeschichte besiegen. on, und – seit vier Jahren ein Thalia- ber zu ersetzen, denn er handelt von Der Western gewinnt. Amerikas my- Hit – das handfest-versponnene Käth- nichts anderem als den Pflichten, den thische Weite bleibt in Männerhand. Y

DER SPIEGEL 30/1994 155 KULTUR

Autobiographien von hinten Rudolf Augstein über die neuaufgelegten Erinnerungen der Wagner-Enkelin Friedelind

ayreuth dräut, zum 83. Male, und zeichnungen nicht ausdrücklich, aber er „Onkel Wolf“ tituliert, hielt nichts von ei- wieder sind die Plätze im erfolg- war schwul. ner solchen Dynastie, ihn konnte man Breichsten Theaterbetrieb aller Zei- Der von ihr mehr als geliebte Vater nicht heiraten. „Mei Mudder mecht scho, ten zu knapp. Siegfried scheint Hitler zwiespältig ver- aber der Onkel Wolf mecht halt net“, Natürlich hat dieses traditionsreiche traut zuhaben. Er schrieb an seine Freun- kommentierte Schulmädchen Friede- Familienunternehmen – die Festspiele din Rosa Eidam: „Sollte die deutsche Sa- lind. Zum Reichskanzler aufgestiegen, wurden bis heute nur von Wagners und che wirklich erliegen, dann glaube ich an spendierte Hitler allein im Jahr 1933 dem deren Frauen geleitet – auch eine Schat- Jehova, den Gott der Rache und des Has- Wagner-Unternehmen 364 000 Mark. Er tenseite. Sie wurde 1944 von der Enke- ses.“ Und: „Meine Frau kämpft wie eine besorgte auch den künstlerischen Leiter lin Friedelind Wagner in New York auf- Löwin für Hitler! Großartig.“ , den von Göring protegier- geschrieben und dieses Jahr neu aufge- Als Siegfried 1930 starb, übernahm ten Generalintendanten der Preußischen legt*. Friedelind war keine ganz unpro- Winifred die Leitung der Festspiele. Die Staatstheater. Tietjen wurde Winifreds blematische Person. Mir schien sie oft stattliche Frau in der Blüte ihrer Jahre Liebhaber. genug mittelpunktsüchtig, geradezu ge- brauchte nun dreierlei: einen Liebhaber, In diesem Dreieck bewegte sich von schwätzig zu sein. einen Intendanten und Geld. War Sieg- nun an Friedelind, allgemein „Mausi“ ge- Bis heute gilt Friedelind, die 73jährig fried Wagner kein Judenhasser gewesen, heißen. Winifred und Tietjen hatten eine in Herdecke starb, als das schwarze so fühlte sie sich als Führerbraut. gemeinsame Sorge, nämlichdie, der Füh- Schaf der Familie. Ich erinnere mich Winifred habe die Achse Berlin–Bay- rer und Reichskanzler könnte sich in die noch an eine Begegnung mit dieser reuth dynastisch festigen wollen, sagte Belange Bayreuths einmischen. Schließ- Wagner-Enkelin. Ich hatte für eine Hitlers Halbschwester Angela Raubal lich hatte er schon das Nürnberger Festspiel-Aufführung keine Karten und einmal. Hitler, von der Familie liebevoll Opernhaus umbauen lassen. sollte daher in der Fami- Jener Architekt, der lienloge Platz nehmen. auf Hitlers Wunsch die „Los, komm mit rein“, Nürnberger Oper umge- sagte ich zu Friedelind. baut hatte, Paul Schult- „Das darf ich nicht“, ent- ze-Naumburg, fiel beim gegnete sie zu meiner Führer zeitweise in Un- Überraschung. „Das Be- gnade, angeblich irgend- treten dieser Weihestätte welcher Intrigen halber. ist mir verboten.“ Auch Er blieb aber begeister- Haus „“ durf- ter Nazi und schrieb ein te sie nicht betreten. Buch, in dem ein Kapitel Sie war das zweite den „nordischen Brü- Kind und die erste Toch- sten“ gewidmet war. Te- ter von Siegfried und Wi- nor: In Deutschland wird nifred Wagner. Den Va- eine Frau, deren Brust- ter vergötterte sie ins fast warzen nicht das wahre Olympische, von der nordische Rosa aufwei- Mutter fühlte sie sich sen, keine Zukunft mehr verfolgt. Winifred war in haben. Die dazugestell- England geboren. Nach- ten Fotografien arischer dem ihre Eltern gestor- und nichtarischer Brüste ben waren, wurde sie waren sehr populär. von dem deutschnationa- Als er nach Erschei- len Ehepaar Klindworth nen dieses Buches mit adoptiert. 18 Jahre alt, seiner streng nordischen, heiratete sie den Sohn vierten Ehefrau in Bay- Richard Wagners, den reuth zum Tee war, wur- damals 46jährigen Sieg- de er von Wieland und fried. Das Paar bekam Wolfi (dem heutigen vier Kinder, dann zog Festspielleiter Wolfgang) Siegfried sich in sein frü- gnadenlos verulkt, in- heres Junggesellenleben dem die beiden zum Ent- zurück. Friedelind er- zücken der anderen Gä- wähnt es in ihren Auf- ste Satz auf Satz über die Brustwarzen zitierten. Der Geist Hitlers * Friedelind Wagner: „Nacht über Bayreuth“. Dittrich Verlag, schwebte in Friedelinds Köln; 368 Seiten; 42,80 Mark. , Hitler: „Das ist etwas von eigener Art“ Kindertagen nicht nur

156 DER SPIEGEL 30/1994 .

über Bayreuth, auch über der Fa- den Parteigrößen zu schmei- milie. cheln. Onkel Wolf, das wußte Als Mausis Schwester Verena, sie, würde sie schon verste- „Nickel“ geheißen, vor Ablauf hen. der Festspiele nach Dresden zur Eigentlich hätten im Jahre Schule sollte, will Friedelind Hit- 1938 keine Festspiele stattfinden ler selbst als Fürsprecher einge- sollen. Doch waren die Steuern, spannt haben. Von Mausi instru- laut Friedelind, so hoch, daß iert, soll Onkel Wolf sich vor „Mutter die Ausgaben nur noch Winifred aufgebaut und sie im bestreiten konnte, wenn sie je- Volksrednerton angeherrscht des Jahr Spiele veranstaltete“. haben: „Ein für allemal möchte Der Gedanke, daß Winifreds ich hiermit klarstellen, daß es für Freundschaft mit Hitler die Ver- jedes Mitglied der Familie Wag- staatlichung der Festspiele ver- ner heilige Pflicht ist, während hindert hatte, war der Tochter der Festspiele in Bayreuth zuge- nicht fremd. Ihr Bruder Wolf- gen zu sein. Es kommt also über- gang hingegen findet es „seltsam haupt nicht in Frage, daß Nickerl und paradox“, daß seine Mutter, in die Schule zurückgeht.“ „die als geborene Engländerin Seiner gutturalen Sprechweise demokratisch dachte und in kei- folgend, nannte er die Wagner- ner Weise autoritätsgläubig war, Tochter nur „Nickerl“, nie Nik- einem Diktator aufsaß“. Und: kel. Mutter Winifred schluckte, „Winifred Wagner und Adolf

schließlich sagte sie, „eine Terz ULLSTEIN Hitler – das ist etwas von eigener über ihrem natürlichen Ton“: Familie Art.“ „Natürlich, wenn Sie das so auf- Friedelind will damals schon fassen, gewiß.“ Nickel bekam ih- erwogen haben, notfalls illegal re Ferien und Mausi ihre Schelte. die deutsche Grenze zu über- Sieliebte es, den Sündenbock ab- schreiten, sei es in die Tschecho- zugeben. slowakei oder in die Schweiz. Als Als Eduard VIII., späterer geborene Provokateurin hatte Herzog von Windsor, 1936 den sie aus London eine Platte mit englischen Thron bestieg, wollte falschem Label mitgebracht, auf Hitler ihm ernsthaft eine „Lo- der die „Internationale“ zu hö- hengrin“-Aufführung in Covent ren war. Winifred erzählte es Garden zum Geschenk machen. Hitler, der aber war noch voller Alle in Bayreuth rangen die Hän- Eindrücke seines Besuches bei de, nur Winifred machte sich er- Mussolini in Italien und reagierte geben an die ungeliebte Aufga- nicht darauf. be. Es kam aber nicht zur Auf- Hitler erschien in diesem Jahr

führung, weil der König wissen SÜDD. VERLAG wieder einmal zu den Festspie- ließ, nichts langweile ihn mehr Wagner-Enkelinnen, „Onkel Wolf“ in „Wahnfried“* len. Wie immer ließ er an die Be- alsOpern. Soplatzte das Projekt. Wagner-Nachfahren: „Glücklich, ihn zu sehen“ sucher kleine Karten verteilen, Dem neuen englischen König daß er sich Demonstrationen im Georg VI. wurde daraufhin kein „Lohen- mer die Mutter die schlechtere Figur war. Theater verbitte. Seine Loge betrat er grin“ mehr angedient. Nahm die Abneigung der Mutter gegen erst, wenn die Lichter im Festspielhaus Statt dessen kam der berühmte engli- den Dirigenten Wilhelm Furtwängler zu erloschen waren (wie Ludwig II.). sche Dirigent Sir Thomas Beecham nach – der in Bayreuth auf seine berühmten Wie abartig Hitler war, geht aus den Bayreuth, und Friedelind mußte oder turnerischen Übungen verzichtet haben nächtlichen Aufzeichnungen der „Tisch- durfte ihn in den Aufführungspausen un- soll, weil er ja ohnehin vom Publikum gespräche“ vom 28. Februar 1942 her- terhalten. Sicherlich erwartete ihre Mut- nicht gesehen wurde –, gefiel er Friede- vor, als er sich an einen Bayreuth-Be- ter von ihr, daß sie den Nazismus im ro- lind immer mehr. such in den zwanziger Jahren erinnerte: sigsten Licht aufscheinen ließe. Befohlen Friedelind gibt nicht vor, damals schon „Daß dieser Jude Schorr den Wotan ge- aber hat sie es ihr nicht. Sir Thomas hätte gegen die Nazis gewesen zu sein. Sie sungen hat, das hat mich so geärgert! ohnehin nicht zugehört, er wußte, was er schönt ihre eigene Rolle aber doch, denn Für mich war das Rassenschande!“ Er von Hitler zu halten hatte. sie war im BDM und wie ihre Geschwi- scheint seinen Hokuspokus wirklich ge- Friedelind war nun 18 Jahre alt und ster ein Günstling des Regimes. Von Hit- glaubt zu haben. Tietjens Assistentin. Diese Phase scheint lers Unrechtsregime will sie im idylli- Sosehr Winifred damals flehen moch- wohl ihre glücklichste Zeit in Bayreuth schen kleinen Bayreuth nichts gemerkt te – Hitler in den „Tischgesprächen“: gewesen zu sein. Sie hielt Tietjen zu- haben. „Frau Wagner war ganz unglücklich, hat nächst für einen ausgezeichneten Regis- Man glaubt Friedelind aber, wenn sie zwölfmal geschrieben, fünfundzwanzig- seur, auf Dauer aber konnte er den Ver- beteuert, der Antisemitismus habe sich in mal telefoniert“ –, Onkel Wolf ließ sich gleich mit Vater Siegfried nicht bestehen. Bayreuth erst spät und allmählich entfal- auf dem Grünen Hügel jahrelang nicht Die Tochter stellte schließlich fest, daß tet. So fand Mutter Winifred nichts da- mehr blicken. Tietjen „vom Geiste der Werke“ abwei- bei, jüdische Geschäfte aufzusuchen und Winifred trug ihm nichts nach. Selbst che. Sie fühlte sich als Erbin ihres Vaters ihre jüdische Schneiderin zu behalten. 1975 sagte sie vor Syberbergs Kamera: und suchte dessen Bedeutung als Kom- Als Führerbraut hatte sie es nicht nötig, „Wenn er zur Tür hereinkäme, ich wäre ponist hochzuspielen. genauso fröhlich und glücklich, ihn zu Mutter und Tochter standen nach wie * Verena („Nickel“, l.), Friedelind („Mausi“, r.) sehen, als wie immer.“ vor auf schlechtem Fuß, wobei nicht im- Wagner. reiste noch 1945 zu Hitler, um ihn von

DER SPIEGEL 30/1994 157 KULTUR

der Notwendigkeit einer Neuausgabe des Wagner-Werkes zu überzeugen. Vergebens bemühte sich Winifred während des Krieges, ihre ungezogene Tochter Friedelind noch einmal nach Berlin zu schaffen, damit sie dort zu- sammen im Hotel Bristol gesehen wür- den. Friedelind fiel auf diese gefährliche Posse nicht herein, denn sie hatte sich inzwischen mit Toscanini angefreundet und war ihm nach Argentinien gefolgt. Von dort aus emigrierte sie in die USA. Erst 1953 kehrte sie nach Bayreuth zu- rück. In ihrem Exil hatte sie gehofft, hun- dert Aufführungen des „Tristan“ produ- zieren zu können. Kritischer Kommen- tar ihres Bruders Wolfgang, nachzule- sen in der rechtzeitig zu den diesjährigen Festspielen erscheinenden Autobiogra- phie des Bayreuther Hausvaters: „Wie so oft, früher und auch später noch, zeigte sich hierbei leider einmal wieder ihr Unvermögen, zwischen einer Utopie und den realen Möglichkeiten exakt zu unterscheiden.“* scheint auch sonst nicht viel von den Lebenserinnerungen seiner Schwester zu halten. „Sie irrt“, sagt er wie Hans Sachs über Beckmes- ser, „wie dort, so hier. Seien es im Buch beschriebene Sachverhalte oder auch später zum Beispiel öffentlich über mich gemachte unflätige Äußerungen.“ Wie mein Kollege Joachim Kaiser von der Süddeutschen Zeitung bin auch ich der Meinung, daß Wagners Werke auf- geführt werden können, ohne dessen Antisemitismus anklingen zu lassen. In Richard Wagners Schriften natürlich ist dieser nicht zu übersehen. „Es ist viel Hitler in Wagner“, meinte 1991 bei- spielsweise der Journalist Bernhard Wördehoff. Friedelind gab ihre Schwärmerei für den Vater nicht auf. Zur britischen Erst- aufführung seiner Oper „Der Friedens- engel“ lud sie ihre Familie 1975 nach London ein. Fotos der glücklich wieder- vereinten Mutter und Tochter gingen um die Welt. Mit Wieland stand Friedelind sich besser als mit Wolfgang. Aber die bei- den Brüder hatten sich auf dem Grünen Hügel in die Hand versprochen, dort niemals mehr eine Frau an die Werke ihres Großvaters heranzulassen. Daß es den beiden gelungen ist, „Neu-Bay- reuth“ zu schaffen, so erklärt es Wolf- gang Wagner in seinen Aufzeichnungen, „beruhte auf der Einsicht der Notwen- digkeit, die gesamte Wagnersche Hin- terlassenschaft und Bayreuth keines- wegs wie lästigen Ballast abzuschütteln, sondern im weitesten und gründlichsten Sinne zu bewältigen“. Und: „Wir sind nicht gescheitert, wir hatten Erfolg.“ Y

* Wolfgang Wagner: „Lebens-Akte“. Albrecht Knaus Verlag, München; 512 Seiten; 58 Mark.

158 DER SPIEGEL 30/1994 .

KULTUR SZENE

Theater Musicals Ödipus in Krach um Dunaway Brandenburg In seinem Reich geht, eigentlich, die Son- Walter Jens, Deutschlands ne nicht unter; nun fällt auf den britischen letztes Bollwerk gegen den Musical-Mogul Andrew Lloyd Webber Untergang des Abendlandes, („Cats“) doch ein Schatten. „Sunset Bou- hat eine verhängnisvolle Af- levard“, Webbers Musical-Version des färe – die Liebe zum Theater. Billy-Wilder-Films, sollte diesen Monat in Er hat, in diversen Bearbei- Los Angeles starmäßig neu besetzt wer- tungen, vollakademischen den; Nachfolgerin von Glenn Close in der Staub in die Klassiker „Anti-

Hauptrolle der alten Diva: Faye Duna- G. TROTT / KATZ PICTURES J. SMEAL / INTER-TOPICS gone“ oder „Lysistrata“ ge- way, 53. Doch der Vorhang blieb zu, denn Lloyd Webber Dunaway blasen und das Publikum da- Faye Dunaway wurde brüsk gefeuert. In mit meist in tiefen Theater- einem langen Brief zum kurzen Abschied, ne englische Art, isn’t it? Faye Dunaway, schlaf gewiegt. Nun hat sich den eine Londoner Zeitung letzte Woche die Lloyd Webbers Verfahren als „kaprizi- der rastlose Polyhistor wie- druckte, erklärte Lloyd Webber der Ge- ös“ empfand, wird vermutlich leer ausge- der an einem alten Griechen schaßten, „warum Du gehen mußtest“. hen – anders als Patti LuPone, ihre Schwe- vergriffen, an „König Ödi- Weil nämlich ihre sängerischen Qualitäten ster im Leid: Die sollte jetzt am Broadway pus“. Für eine Serie von Frei- nicht ausreichten und die Dunaway-Pre- die „Sunset Boulevard“-Diva singen, licht-Aufführungen des So- miere somit zu einer „großen Verlegen- räumte aber, für eine Million Dollar, den phokles-Stückes im Potsda- heit“ geworden wäre. Nicht gerade die fei- Platz für Glenn Close. mer Schloßpark ersann der Professor eine verschmockte Rahmenhandlung und nann- Kino Zensur-Verschluß. Die Fami- Centre Pompidou“ (Bürger- te den dramatischen Doppel- lienchronik aus der Provinz, meister Zilk) schmücken, ei- schlag „Friedrich der Große Die Geduld der die ihren Bogen von den vier- nem mächtigen Museums- und Oedipus Rex – Eine Be- ziger Jahren bis in die siebzi- komplex, in dem auch die gegnung in Sanssouci“. Da kleinen Leute ger spannt, feiert die Geduld Schätze des Herrn Leopold thront dann, im Gespräch Etwa 200 Millionen Zuschau- und den unverwüstlichen (Schwerpunkt: Schiele) auf- mit seinem Hof-Philosophen er hat der vorletzte Film von Überlebensmut der armen bewahrt werden sollen. Au- Voltaire, der preußische Zhang Yimou, „Die Ge- kleinen Leute. Doch die gran- ßerdem sind eine große Ver- Friedrich vorm Neuen Palais schichte der Qiuju“, in der diosen Fortschritte der natio- anstaltungshalle und ein und schwadroniert: „Ich bin Volksrepublik China gefun- nalen Geschichte finden im- „Leseturm“ geplant, über ein Held, Sie aber sind den, und sein jüngster, davon mer auf ihre Kosten statt; das dessen Höhe sich die Stadt- groß.“ Unversehens er- ist der Regisseur überzeugt, Paar, das imMittelpunkt steht väter und -mütter indessen scheint im Planwagen eine wird noch „weitaus erfolgrei- (Gong Li und Ge You), be- cher“ (SPIEGEL 20/1994). zahlt mit dem Tod seiner bei- Aber wann? Zhangs „Le- den Kinder. Die Art, wie ben!“, im Mai bei den Fest- Zhang das erzählt, hat nicht spielen in Cannes uraufge- nur vitaleFülle und Tränenpa- führt, kommt diese Woche in thos, sondern auch einen deutsche Kinos, ist aber in scharfen, riskanten Humor: China noch immer unter das befreiende Lachen, das der Staat seinem Volk noch nicht gönnen mag.

Kulturpolitik Kunst-Boom an der Donau

Tu felix Austria: In Deutsch- B. UHLIG land darbt die Kultur, Öster- Jens-Werk „Friedrich der Große und Oedipus Rex“ reich spendiert Millionen. Für 314 Millionen Mark, so noch nicht geeinigt haben. mit Allongeperücken mas- hat es jetzt nach einigem Ge- Alle aber haben begriffen, kierte Schauspieltruppe und zänk das Parlament beschlos- daß Kulturknauserei auch deklamiert Jensens „Oedi- sen, erwirbt die Republik die dem städtischen Geldbeutel pus“-Bearbeitung. Mit dabei: erlesene Sammlung moder- schadet und daß „zwischen der Alte Fritz als Seher Tei- ner Kunst und kostbarer Mö- holder Kunst und bösem Pro- resias. Dieser Mummen- bel, die der österreichische fit nicht unbedingt ein Wi- schanz kommt auf dem Stelz- Augenarzt Rudolf Leopold derspruch bestehen muß“ fuß höchster Bildung daher, zusammengetragen hat. Wei- (Kulturstadträtin Ursula Pa- doch der Sinn bleibt dunkel. tere Großtaten stehen bevor. sterk): 80 Prozent der Wien- Die stärksten Eindrücke hin-

VERLEIH KINOWELT So will sich die Stadt Wien Touristen reisen vor allem terlassen Myriaden branden- Yimou-Film „Leben!“ mit einem „österreichischen zum Kulturgenuß an. burgischer Stechmücken.

DER SPIEGEL 30/1994 159 . Z. NAGY Humorist Gernhardt in der Toskana*: „Gehet hin in alle Welt und rettet die Bruchsteinmauern“

SPIEGEL-Gespräch „Knüppel auf den Hasen“ Der Schriftsteller Robert Gernhardt über Lachverbote, obszöne Witze und Toskana-Deutsche

SPIEGEL: Herr Gernhardt, die Deut- sich unwiderstehlich in die Leserhirne zwei Leuchtfeuer im Lyrik-Mainstream schen schätzen Sie vor allem als gewitz- bohrten. Etwa Rilke mit seinem „Wer des allgemeinen mürrischen Parlandos. ten Nonsens-Literaten. Leiden Sie unter jetzt kein Haus hat, baut sich keines Seit die Dichter die alten Suggestions- der Narrenkappe? mehr.“ techniken Reim, Rhythmus und Me- Gernhardt: Sofern sie nicht mit einer SPIEGEL: Deutsche Gegenwartslyriker trum kampflos der Werbung überlassen Blödelmütze verwechselt wird, kann ich sind wohl nicht solche Bohrwürmer? haben, sind ihre Tonfälle immer aus- mit ihr leben. Ob mir auch noch andere Gernhardt: Außer Ernst Jandl und F.W. tauschbarer geworden. Kopfbedeckungen zustehen, zum Bei- Bernstein scheint das niemandem zu ge- SPIEGEL: Originalität vermissen Kriti- spiel der Dichterlorbeer, kann anhand lingen. Jandls „Ottos Mops kotzt“ und ker bisweilen auch beim Erzähler Gern- meines neuen Gedichtbandes „Weiche Bernsteins „Die schärfsten Kritiker der hardt, zum Beispiel beim Prosa-Band Ziele“ überprüft werden. Elche waren früher selber welche“ sind „Lug und Trug“. SPIEGEL: Dieser Kopfputz ist Ihnen ja Gernhardt: Den fanden einige Rezen- bisher versagt geblieben, kein Wunder senten nicht komisch. „Nichts zu la- angesichts solcher Gossenverse: „Der Robert Gernhardt chen“, monierte einer, als ob ich Etiket- Kragenbär, der holt sich munter, einen tenschwindel betrieben hätte. Dabei nach dem andern runter.“ amüsiert die Deutschen seit 30 Jah- lautete der Untertitel nicht „Lustige Ge- Gernhardt: Immerhin ist dieser Zweizei- ren mit Nonsens in Wort und Bild, schichten“, sondern „Exemplarische Er- ler ein gutes Beispiel für die Macht des mit den „Blusen des Böhmen“ oder zählungen“. Vielleicht sollte ich meine Wortes. Er stammt aus den Sechzigern, „Ein gutes Schwein bleibt nicht al- Bücher in Zukunft zusätzlich mit „E“- wurde vertont, in zoologischen Fachauf- lein“. Der gebürtige Balte, 56, star- und „U“-Aufklebern versehen. sätzen zitiert und auf Uni- und Toilet- tete seine Komikkarriere, nach ei- SPIEGEL: Aber in welches Ressort gehö- tenwände gekritzelt. Ich bin ihm un- nem Kunststudium, beim Satireblatt ren Sie wirklich? längst wieder begegnet. Pardon, gehörte zu den Mitbegrün- Gernhardt: Ich möchte von Fall zu Fall SPIEGEL: Fühlen Sie sich auf dem Klo- dern der hintersinnigen Blödelge- entscheiden, ob ich meine Feder in den sett gut aufgehoben? meinschaft „Neue Frankfurter Schu- Dienst der Kunst oder eines Unterhal- Gernhardt: Besser als in Büchern, die le“ und war einer der ersten deut- tungsgenres stelle. Die Genres bedienen keiner liest. Ich habe immer Dichter schen Freizeitsiedler in der Toskana. ja nicht nur geistige Erwartungen, sie verehrt, denen Zeilen gelungen sind, die Gernhardt schrieb Drehbücher für befriedigen geradezu körperliche Be- Otto-Filme, war aber auch mit seriö- dürfnisse. Es ist sicher kein Zufall, daß sen Erzählbänden wie „Kippfigur“ die fünf Genres unseres Kulturkreises * Vor dem Friedhof seines Feriendorfs Montalo. Das Gespräch führten die Redakteure Joachim bei der Literaturkritik erfolgreich. mit den fünf Entleerungsmöglichkeiten Kronsbein und Peter Stolle. des Körpers korrespondieren.

160 DER SPIEGEL 30/1994 .

KULTUR

SPIEGEL: Diese Entwässerungstheorie Gernhardt: Der Kas- ner auf bornierte müssen Sie erläutern. per, nicht der Komi- Deutsche stoßen. Das Gernhardt: Beim Melodram fließen Trä- ker. Der wird im ist natürlich viel zu nen. In der Komödie bepißt man sich Herbst für RTL auf schlicht. Schade, daß vor Lachen. Der Krimi erzeugt Angst- den Bildschirm zu- er den Stoff so ver- schweiß. Der Horror provoziert Erbre- rückkehren und mit schenkt hat. chen. Und der Porno zielt auf die be- einer bisher nie ge- SPIEGEL: Auch die kannten Absonderungen. sehenen Spielart ge- Komiker neigen schon SPIEGEL: Ihre Kundschaft neigt dem- nerationsübergreifen- zu freiwilliger Selbst- nach zu erhöhtem Harndrang. der Komik aufwarten. kontrolle. Gernhardt: Mir macht es Spaß, solche „Otto – die Serie“ ist Gernhardt: So freiwil- Erwartungshaltungen zu unterlaufen. nämlich zugleich eine lig ist die gar nicht. Bei Lesungen spüre ich aber manchmal Hommage an die al- Mittlerweile weiß ja je- die Versuchung, dem Affen Zucker zu ten Edgar-Wallace- de Gruppierung und geben und nur noch todsichere Sachen Filme. Wir fädeln jede Figur des öffentli- zu servieren. Waalkes in diese chen Lebens, wie man SPIEGEL: Ihren Lieblingswitz? deutschen Filme ein. von Witzen verschont Gernhardt: Ich trage doch auf Lesungen Da sitzt er dann als bleibt: Indem man sa- keine Witze vor! Ich erzähle sie auch Baby Otto dem Gru- tirische Kritik in eine nicht in kleinem Kreise. Nicht einmal selstar Elisabeth Flik- Verletzung der Men- meinen Lieblingswitz: Die Pensionswir- kenschildt gegenüber schenwürde ummünzt

tin zum Gast, während sie den Morgen- oder begrüßt als R. GERNHARDT und ins Feld führt, der kaffee eingießt: „Sieht nach Regen Showmaster Otto den Ausrottung der Juden aus.“ Antwortet er: „Aber wenn man „Grünen Bogenschützen“ im Aktuellen seien nicht zufällig die Judenwitze vor- ganz genau hinguckt, sieht man doch, Mord-Studio. ausgegangen. Heute wird jede mißliebi- daß es Kaffee sein soll.“ Mal im Ernst: SPIEGEL: Da werden Lachsalven durch ge Karikatur gleich als „schlimmster Kursierende Witze überlasse ich grund- Altenheime brausen. Ist das der Humor Stürmer-Stil“ gebrandmarkt. Darunter sätzlich darstellenden Komikern. zur Jahrtausendwende? tun sie es nicht, die WächterInnen über SPIEGEL: Etwa Ihrem Freund Otto Gernhardt: Ich glaube, ja. An irgendwas Gutdenken und Richtigfühlen. Waalkes, dem gescheiterten Film-Hans- muß der Mensch ja glauben. SPIEGEL: Sind Sie selbst schon mal at- wurst, für den Sie Drehbücher schrei- SPIEGEL: An welche anderen Komiker tackiert worden? ben? glaubt denn der Kritiker Gernhardt Gernhardt: Und ob. Selbst so ein harm- Gernhardt: „Otto – der Liebesfilm“ war noch? loser Nonsens-Vers wie „Der Chines’ ein gutgearbeitetes Genre-Produkt, das Gernhardt: An all die jüngeren Kräfte, spielt leicht ins Gelbe, von Chinas Ha- in einigen Blättern, darunter im SPIE- die ihm während der zehnjährigen Tä- sen gilt dasselbe“ bekam den Knüppel GEL, unverhältnismäßig schlecht ge- tigkeit als Titanic-Kolumnist aufgefallen übergebraten. Diesen Zeilen entnah- macht wurde. Mich haben diese Reak- sind, also an Leute wie Max Goldt, Si- men empörte Leser, ich würde „Men- tionen deswegen betrübt, weil sie Was- mone Borowiak oder Bernd Pfarr. Un- schen und Nagetiere“ auf eine Stufe ser auf die Mühlen des Produzenten ter den älteren Herrschaften natürlich stellen. Deutsche Leser natürlich, nicht Horst Wendlandt waren. Wir Autoren an Loriot und Gerhard Polt, obwohl ich chinesische. Es handelte sich mal wieder hatten ihm die Garantien abgetrotzt, an gegen dessen Tourismussatire „Man um einen Fall von Stellvertreterentrü- Regie, Drehzeit und Ausstattung nicht spricht deutsh“ einiges einzuwenden stung. zu sparen. Er tat es widerwillig und pro- hatte. SPIEGEL: Warum sollen Minderheiten phezeite, daß es kein Zeitungsschreiber SPIEGEL: Was hat den Film ruiniert? denn keine Lobby haben? merken würde. Er behielt recht. Gernhardt: Polts Furcht vor Beifall von Gernhardt: Dann müßten Satiriker auch SPIEGEL: Es lag doch nicht an der Insze- der falschen Seite. Um dem Vorwurf eine haben. Denn die sind ja auch eine nierung. Der antiautoritäre Kasper Otto der Ausländerfeindlichkeit zu entgehen, Minorität. Ich finde es wirklich beäng- hat sich überlebt. läßt er im Film lauter engelhafte Italie- stigend, daß all die angeblich emanzipa- TOBIS FILMVERLEIH VISION FILM Komiker Waalkes in „Otto – der Liebesfilm“, Polt in „Man spricht deutsh“: „Vergreister Kasper, verschenkter Stoff“

DER SPIEGEL 30/1994 161 .

torischen Bewegungen unterdrückt und vor- genauso auf Lachver- getäuschten Ernst für bote dringen wie Dik- ihre Zwecke instru- tatoren oder Funda- mentalisiert. Ich erin- mentalisten. Hinter je- nere mich an einen ku- der Humorzensur lau- riosen Ausflug mit ihr ert dieser finale Blick. nach Agadir in den SPIEGEL: Der gemeine späten Sechzigern. Ei- Volkshumor nimmt ja ne Illustrierte hatte en überhaupt keine Rück- de´tail berichtet, im sicht und ist häufig un- dortigen Club Medi- geniert obszön. terrane´e herrsche ein Gernhardt: Nichts ge- ungeheuerliches sexu- gen den obszönen elles Lotterleben – je- Witz! Überall lese ich, de mit jedem. Wir soll- der sei aggressiv, frau- ten recherchieren, und enfeindlich und men- ich hatte mich vorsorg- schenverachtend. Und lich mit einer Famili- was ist das hier? Vor enpackung Präservati- Jahren hörte ich in ei- ve eingedeckt. ner Kneipe vier fidele SPIEGEL: Kam die Rentner das folgen- Kondomerie zum Ein- de Liedchen singen: satz? „Und ist der Schwanz Gernhardt: Leider geknickt, dann wird nein. Das Doppelzim- nicht mehr gefickt, mer mußte ich, gegen dann saufen wir die Ei- alle Versprechungen, er aus und schmeißen mit einem Mann tei- den Sack zum Fenster len. Die Klientel be- raus.“ stand zum großen Teil SPIEGEL: Sie finden aus reiferen Ehepaa-

diese zahnlosen Lach- R. GERNHARDT ren – nichts lief. Für säcke lustig? Alice war der Höhe- Gernhardt: Ich finde sie vorbildlich. Sie punkt ein Zufallstreffen mit Udo Jür- demonstrieren, daß die Zote auch posi- gens auf einer Hollywood-Schaukel. Als tiv eingesetzt werden kann. Für eine hö- ich nach Frankfurt zurückkehrte, hörte here Heiterkeit, die sich nicht gegen an- ich, daß in irgendwelchen Gewerk- dere richtet, sondern sich über die eige- schaftsheimen im Vortaunus die Sex- ne Hinfälligkeit lustig macht. Eine Hal- Post aber nun wirklich abgehe. Und so- tung, die natürlich nicht nur Männersa- fort war ich wieder bereit, das zu glau- che ist. Wenn jemand wie die feministi- ben. Ohne Paradiesvorstellung ist das sche Linguistin Senta Trömel-Plötz be- Leben offenbar nicht auszuhalten. hauptet, der weibliche Humor sei per se SPIEGEL: Ein Paradies ohne Sex ist in integrativ und sauber, so belegen Witz- Ihrem Werk undenkbar. forschungen in Altersheimen gottlob Gernhardt: Mein Thema ist eher der das Gegenteil. Soll ich mal vortragen? Sex, der nicht zustande kommt oder SPIEGEL: Danke, wir zehren noch von dem Herrengedeck. Früher, in Ihrem berüchtigten Frankfurter Humoristen- Der Traum vom Sex Zirkel, haben Sie aber keine Frauen ge- im Paradies duldet. Waren die Mädels nicht trink- fest? gehört zum Leben Gernhardt: Daran wäre eine Zusam- menarbeit nicht gescheitert. Es fehlte schiefgeht. Um mich selber zu zitieren: an Komikerinnen. Wenn F. K. Waech- „Scheiß der Hund drauf, das Gelingen ter, F. W. Bernstein und ich uns zusam- läßt sich einfach nicht besingen.“ Alle mensetzten, um für Pardon unsere Non- gelungenen Beischläfe sind einander sens-Seite „Welt im Spiegel“ zu füllen, im Endeffekt ähnlich, wenn nicht dann griffen wir in der Regel zur Feder gleich, während jeder mißlungene ein und nicht zur Flasche. Aber es stimmt: Fall für sich, also auch für den Erzäh- Unter den Pardon-Beiträgern waren ler ist. Frauen so rar wie im Vorstand der SPIEGEL: Sie verirren sich dabei aber Deutschen Bank. Moment, ich muß gern ins Zotenrandgebiet. Pubertäre mich korrigieren, eine Frau gab es in Rückstände? der Pardon-Redaktion, Alice Schwar- Gernhardt: Ich hatte eine sehr schwere zer. Kindheit. Ich kam praktisch ohne Zäh- SPIEGEL: Konnte man ihr wirklich ne zur Welt und war die ersten Jahre Scherz-Artikel abringen? so gut wie infantil. Einiges davon habe Gernhardt: Sie ist der seltene Fall einer ich bewahren und an kommende Ge- Person, die ihren natürlichen Humor nerationen weitergeben können.

162 DER SPIEGEL 30/1994 .

KULTUR

SPIEGEL: Wir wissen das zu schätzen, So beginnen Liebesdramen, wenig- aber was lernt das deutsche Kind von Ih- Erotik stens in der Erinnerung von Luise Rinser. nen? „Ich böses Mädchen dachte: Was würde Gernhardt: Vor allem Traditionspflege er jetzt tun, legte ich meine Hand auf die und Bibelfestigkeit. In meiner Jugend seine? Aber ich tat’s natürlich nicht.“ hörte ich Zweizeiler wie „Paulus schrieb Wuschel Wenig später indes bat sie um „irgend et- an die Korinther: Was nicht davor ist, ist was, das Sie viel bei sich tragen“, als dahinter.“ 30 Jahre später dichtete ich „Segenszeichen“. Ein paar Tage darauf „Paulus schrieb an die Apatschen: Ihr an Fisch waren sie per Du. sollt nicht nach der Predigt klatschen“ Daß Luise Rinser, gefühlsstarke Tu- oder „Paulus schrieb den Irokesen: Luise Rinser gibt nicht auf. Nun gendboldin und beharrlichste Ich-Sage- Euch schreib ich nichts, lernt erst mal le- hat sie auch noch ihre Liebesbriefe rin der deutschen Nachkriegsliteratur, al- sen“. Weitere 15 Jahre später ließ ein len Lebewesen innig zugetan ist („Den deutscher Studienrat seine Klasse in die- an Karl Rahner hervorgekramt. Wolf umarmen“), weiß eine treue Leser- sem Sinne weiterdichten, wobei die gemeinde zu schätzen. Bekannt ist auch, ebenso schönen wie zeitgemäßen Zeilen Schonung ist nirgendwo. daß die Rinser, inzwischen 83, in ihrem entstanden: „Paulus schrieb an die Na- Und überall bin Ich. Leben neben drei Ehegatten so manchen vajo: Man ißt Oblate nicht mit Majo.“ Luise Rinser (1962) Mann betört oder wenigstens angehim- SPIEGEL: Sie haben sich auch als Dra- igh-noon, punkt zwölf Uhr, war es melt hat („Führer . . . Heil Dir“). Doch matiker versucht, mit dem Schauspiel in Innsbruck am 27. Februar 1962, wen siedamals in Innsbruck eroberte, hat „Die Toscana-Therapie“. Was ist so H als das Schicksal zuschlug. „Du die sonst zielbewußt offenherzige Katho- heilsam an diesem Landstrich? kamst mit dem (alten?) Regenmantel als likin, die sich gern als „Revolutionärin Gernhardt: Die Leute, die hierherkom- Päckchen unterm Arm und mit der und Nonne“ sieht, nicht ausposaunt. men, suchen Ruhe und Schönheit – im ,Hebammen‘-Mappe. Ich stand auf. Nun aber kommt er, der Tusch: Karl Stück und in der Realität. So hab’ ich es ,Wohin gehen wir?‘ fragtest Du. Ich: Rahner höchstselbst war es, einer der ein- auch erlebt, als ich 1972 mit Freunden ,Zum Essen.‘ Und wir gingen in den flußreichsten Denker römischen Glau- ein heruntergekommenes Bauernhaus Grauen Bären, der gar nicht grau war, bens in diesem Jahrhundert. Mehr als gekauft und restauriert habe. Damals und wir aßen . . . und redeten in der 1800mal tippte der Jesuitenpater und war die Toskana schön billig, heute ist Halle weiter.“ Konzilfachmann (1904 bis 1984), damals es hier schön laut, schön heiß, schön un- übersichtlich. SPIEGEL: Trotzdem wächst die deutsche Toskana-Fraktion. Was sind das für Nestflüchter? Gernhardt: Keine hedonistischen SPD- Politiker – jedenfalls nicht in meiner Ge- gend. Hier überwiegen italophile Ein- zelgänger, die sich ziemlich gezielt aus dem Wege gehen. Auch mich überkom- men in der Toskana häufig Anfälle von Deutschenfeindlichkeit. SPIEGEL: Was mißfällt Ihnen an den zu- gewanderten Landsleuten? Gernhardt: Daß ich ihnen so ähnlich bin: In meiner Furcht, mit dem gewöhnli- chen deutschen Touristen verwechselt zu werden, in meiner Einsicht, daß ich um so deutscher werde, je weiter ich mich in die Fremde bewege. Um mich ein letztes Mal zu zitieren: „Italiener sein, verflucht! Ich habe es oft und oft versucht – es geht nicht.“ SPIEGEL: Die Deutschen, ein Volk auf der Flucht? Gernhardt: Es scheint so, doch je reifer ich werde, desto milder sehe ich mich und die anderen Deutschen, die in ganz Europa, oft unter Opfern, alte Häuser konservieren, ob auf Ibiza, in Burgund oder hier in der Toskana. Entweder ist das genetisch bedingt, oder wir alle fol- gen einem göttlichen Auftrag an uns Deutsche: „Gehet hin in alle Welt und rettet die Bruchsteinmauern!“ Ich je- denfalls habe noch nie einen Italiener im Vogelsberg erlebt, der dort in seiner Freizeit verrottete Bauernhäuser restau- riert. ULLSTEIN

SPIEGEL: Herr Gernhardt, wir danken FOTOS: Ihnen für dieses Gespräch. Y Seelenpartner Rinser, Rahner (1968): „Iß nicht zuviel, sonst bist Du fett“

DER SPIEGEL 30/1994 163 KULTUR

Professor in Innsbruck, in den folgen- Überhaupt: „Ach Fisch, ist das alles den 22 Jahren Botschaften an sein schwer, sobald man denkt.“ „Wuschel“, mitunter drei am Tag. Und Schweres mag das Wuschel eben nicht auch die Rinser versorgte ihren „Fisch“ so recht. Soll doch sein „Aristokrat unter handschriftlich mit Seelenfutter. den Intellektuellen“ beantworten, „wie Davon kann nun jeder zehren. An die man in sexbetonten Ländern (Latein- 480 Seiten amourös-religiöser Herzens- amerika) Priester bekommen soll, ohne ergießungen erscheinen dieser Tage im ihnen die Ehe zu erlauben“, ob er an den Münchner Kösel Verlag – freilich nur Teufelglaubteund wieman sichwohlMa- aus Rinsers Feder*. Denn Rahners Er- ria beim Orgasmus vorzustellen habe. ben, die Jesuiten, haben den Abdruck selbst kleinster Passagen seiner Briefe verboten. Zu verstörend wohl wäre es, den kühnen Gottesstreiter schriftlich BESTSELLER weinend und auf Knien vor dem „Mäd- chen“ von 51 Jahren zu erblicken oder BELLETRISTIK von seiner Sehnsucht zu erfahren, er wolle in seines „Wuschels Gegenwart“ Grisham: Der Klient (2) wandeln und dereinst im Himmel eine 1 Hoffmann und Campe; 44 Mark Wohnung mit ihm teilen. Auf Erden hinderte die beiden am Vollzug des „schlechthin Verbotenen“ 2 Gaarder: Sofies Welt (1) nicht nur sein Zölibat. Vollblutfrau Rin- Hanser; 39,80 Mark ser („Ich bin ein Mensch des Un-Maßes, mein Fisch!“) muß ihrem in Leiden- Høeg: Fräulein Smillas (3) schaft entbrannten Kleriker mühsam 3 Gespür für Schnee beibringen, daß schon ein anderer auf Hanser; 45 Mark ihr weites Herz „exklusiven“ Anspruch erhebe – ausgerechnet ein bayerischer Crichton: Enthüllung (4) Benediktinerabt, der natürlich ebenso- 4 Droemer; 44 Mark wenig zur Sache kommen darf. Mitleidig, aber eisern hält das Wu- Mayle: Hotel Pastis (5) schel vom italienischen Domizil aus sei- 5 Droemer; 39,80 Mark ne beiden Verhinderten auf Distanz, er- teilt mütterlichen Rat („Iß nicht zuviel, Grisham: Die Akte (6) sonst bist Du fett und ich mag Dich nim- 6 Hoffmann und Campe; mer“) und schmachtet: „Laß mich nicht 44 Mark allein.“ Wenn dann wieder mal aus dem „zarten Wasserfall“ Rahnerscher Wer- Pilcher: Wilder Thymian (7) bungsworte ein bitterer Sturzbach ge- 7 Wunderlich; 42 Mark worden ist, mimt sie in sicherer Entfer- nung die Gekränkte: „Seltsam egoi- Gordon: Der Schamane stisch“ sei er doch bisweilen, der Fisch – (9) 8 Droemer; 44 Mark „es erschreckt mich, daß Du mich mit solcher Leidenschaft liebst“. Gegen fleischliche Anfechtungen 9 Brown: Ruhe in Fetzen (8) weiß sie sich immun (höchstens „früher Rowohlt; 34 Mark waren ,die Männer‘ meine Versu- chung“), aber selten vergißt sie zu er- Mollin: Laras Tochter (13) wähnen, wenn ein „schöner Mann“ um 10 C. Bertelsmann; 49,80 Mark sie herumstreicht. Heitert das den eifer- süchtigen Fisch nicht auf, wird sie pasto- Pilcher: (11) ral: „Es ist gewollt, daß Du den Becher 11 Die Muschelsucher menschlichen Schmerzes trinken sollst.“ Wunderlich; 45 Mark Rahner, der „theologische Astronaut“, sei in Liebesfragen „halt nicht einge- Pirinc¸ci: Francis – Felidae II (12) übt“. Fazit: „Man muß einander ver- 12 Goldmann; 38 Mark trauen, Fisch, und in unserer Beziehung bist ja Du der Größere und Wichtigere.“ Zimmer Bradley: (10) „Führung“ solle er ihr geben, ja „ein 13 Die Wälder von Albion Führer“ sein, bittet die Poetin nur allzu W. Krüger; 49,80 Mark bald. Beglückt, daß Rahner sie und ihr „Weibergehirn“ „geistig aufgerissen“ Atwood: Die Räuberbraut (14) habe, schmeichelt sie ihrem „Kirchenva- 14 S. Fischer; 48 Mark ter“ mit Tatsachen: „Neben Dir komm’ ich mir immer recht arg dumm vor.“ 15 Childress: Verrückt (15) * Luise Rinser: „Gratwanderung. Briefe der in Alabama Freundschaft an Karl Rahner“. Hrsg. von Bogdan Goldmann; 42 Mark Snela. Kösel Verlag, München; 472 Seiten; 58 Mark.

164 DER SPIEGEL 30/1994 Verwertbar wären Rahners Tips be- Fan „um der geistigen Klarheit willen“ stimmt – schließlich hat eine Handleserin zu ihrem Werk, muß sie einfach bei- attestiert, Frau Rinser besitze die „Pluto- pflichten. „Nicht wahr, ich bin keine hy- Linie“, wie all jene, „die jetzt etwas sehr sterische Betschwester, ich habe einen Wichtiges zu sagen haben zur Gestaltung handfesten bayerischen kritischen Ver- des nächsten Zeitalters“. stand!!“ Liest sie zu diesem hohen Zweck nicht Dem mutet sie selbst Heidegger zu gerade „die sehr packende Misereor-Zei- („der Alte weiß nicht mal, was für eine tung“ schwant ihr zwar: „Noch bin ichall- begeisterte späte Schülerin er hat“), ob- zusehr ,ich‘.“ Doch bekennt sich dann ein gleich sie feststellt, daß der Freiburger Seinslehrer leider „das Christentum überhaupt nicht versteht“. „Wäre er Christ, wäre er groß“ – so ein Pech. Da muß das Wuschel wohl doch selber den- ken. Kostprobe: „Alles ist wahr, was ist, SACHBÜCHER und man weiß alles, d. h. man weiß nichts, und das ist dasselbe.“ N. E. Thing Enterprises: (1) Gern ließe sie sich für derlei Profun- 1 Das magische Auge des „eine große Theologin des 20. Jahr- Ars Edition; 29,80 Mark hunderts“ nennen. Versuchsweise be- N. E. Thing Enterprises: (2) ginnt sie schon mal gespannt zu zittern, 2 Das magische Auge II wenn ein Anruf aus Rom kommt („es Ars Edition; 29,80 Mark könnte ja der Papst sein“), und als Paul VI. dann nicht ganz nach ihren Wün- 3 Ogger: Das Kartell (3) schen regiert, erwägt sie Kühnes: „Soll der Kassierer ich als neue Catherina von Siena zu ihm Droemer; 38 Mark gehen, auf den Knien vor ihm liegen Ogger: Nieten in (4) und ihn um Raison anflehen???“ 4 Nadelstreifen Das dürfte schon am engen Termin- Droemer; 38 Mark plan des Vatikans gescheitert sein. De- sto dringlicher erwartet die verhinderte Carnegie: Sorge dich (5) 5 nicht, lebe! Märtyrerin von ihrem Fisch PR-Schüt- Scherz; 44 Mark Hartwig: Scientology – (6) „Ich bin 6 Ich klage an keine hysterische Pattloch; 34 Mark Betschwester“ Wickert: Und Gott (7) 7 schuf Paris Hoffmann und Campe; 42 Mark zenhilfe. „Eines Tages mußt Du doch über die Theologie in Luise Rinser’s 8 Schmidt: Das Jahr (8) Werken schreiben.“ Und als Rahner der der Entscheidung „leidigen Frage“ diskret ausweicht, Rowohlt Berlin; 34 Mark schmollt sie: Ohne sein Wuschel wäre Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (9) der Glaubensmann doch „nie bis zum 9 Integral; 19 Mark schrecklich glühenden Kern des Lebens Durrani: Mein Herr (10) durchgestoßen“. Undankbarer Fisch. 10 und Gebieter „Indem Du Liebe plus Schmerz ken- Hoffmann und Campe; 44 Mark nenlerntest, bist Du ganz groß gewor- den.“ Habe da nicht auch sie ein Fünk- 11 Zachert/Zachert: (12) chen Anerkennung verdient, gerade Wir treffen uns wieder in jetzt, wo kritische Unholde sie piesak- meinem Paradies ken? „Man wirft mir ,Verlogenheit‘ vor, Lübbe; 29,80 Mark so scheint es. Und das ist absurd. Wenn Tipler: Die Physik der (11) ein Schriftsteller integer ist, wenn sich 12 Unsterblichkeit so Leben und Schreiben deckt, dann Piper; 49,80 Mark doch bei mir. Oder irre ich mich?“ Wickert: Das Wetter Wer weiß – jedenfalls wurden Rah- 13 Transit; 24 Mark ners Briefe immer spärlicher. Vielleicht dämmerte ihm ja, was das weise Wu- Sasson: Ich, Prinzessin (14) schel längst so unübertrefflich formu- 14 Sultana, und meine Töchter liert hatte: „Leben ist schwer.“ Mürbe C. Bertelsmann; 38 Mark geworden, rang er sich 1971, zu ihrem Filipovic´: Ich bin ein (13) 60. Geburtstag, doch noch eine kleine 15 Mädchen aus Sarajevo Rinser-Eloge ab: „Von der Größe und Lübbe; 29,80 Mark dem Elend des christlichen Schriftstel- lers“. Darin sagte er, was er aus den Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Werken seiner Freundin gelernt hatte: Fachmagazin Buchreport „daß wir immer auch Geschwätz sind.“ Y

DER SPIEGEL 30/1994 165

KULTUR

das Land seit Jahren leidet, vermag er Pseudonyme nicht stringent zu erklären. Er beobachtet scharf, gewiß. So in der Einschätzung von angehenden Dich- tern, die vorgeben, „der Faszination der Rätselvolk Deutsche Sprache zu erliegen, damit sie morgens nicht aus dem Haus müssen“. Das kor- SPIEGEL-Autor Fritz Rumler über den Ethnologen R. W. B. McCormack reliere mit der Literaturkritik, denn manchmal scheine es, „als solle das ,Besprechen‘ von Büchern den Autoren amen sind Schall- und Rauch-Zei- Ins Ausland fahre der Deutsche, „um Heilung bringen“. chen. Ein gebürtiger Rudolf Leder auch mal andere Vorurteile kennenzu- Die Dürre korreliert, in Wahrheit, Nnannte sich als Dichter Stephan lernen“. Jeder sechste Arbeitsplatz hän- mit einem Mangel, nämlich der sexuel- Hermlin; aus dem Kärntner-Mädel Ger- ge an der Produktion von Automobilen, len Unauffälligkeit der Regierenden. trude Wirschinger wurde die führende „wobei Heilgymnasten und Sargtischler Was wäre Shakespeare ohne die Wei- Geisterseherin Penny McLean; quälend noch nicht eingerechnet sind“. Die Ver- bergeschichten seiner Potentaten? Was ungewiß bleibt, ob Shakespeare so hieß kehrswege hießen zutreffend „Ver- Schiller ohne seine lüsternen Fürsten? oder bloß unter diesem Namen seine kehrsadern; in ihnen fließt Blut“. Deutsche Dichter müssen heute, statt Stücke schrieb. Mit Staunen hingegen neigt sich über andere, über sich selber schreiben, Wer aber ist, eigentlich, Richard W. McCormack vor der „handwerklichen und so liest sich das dann auch. B. McCormack? Er gibt an, sowohl Te- Tradition“ der Deutschen. „Ihre Sexual- Hier klafft also für den Kundigen ei- xaner als auch Ethnologe zu sein und so- organe“, schreibt er, „sprechen sie als ne Lücke. Erstaunlicherweise hatte wohl in Heidelberg als auch in Harvard Geschlechtswerkzeuge an.“ In Ämtern McCormack diesen blinden Fleck in ei- studiert zu haben; nun halte er einen dürften Bleistifte „nur noch mit Kataly- nem früheren Buch mit Wollust bevöl- Lehrstuhl für Ethnolin- kert; es hieß „Tief in guistik an der Simon Bayern“, war die Suggs University. Dies „Ethnographie“ eines alles wäre Marginal- „kompakten Volks- quark, legte der Profes- stammes“ und behan- sor nicht ein Buch von delte sogar sexuelle In- Bedeutung vor, eines terna wie die postkoita- über die Deutschen. le Nachfrage; Beispiel: „Unter Deutschen“ „Mariwiawari?“** nennt er, folgerichtig, Anerkennend ora- seine Feldstudie, im kelte damals ein großes Untertitel reißerisch: norddeutsches Nach- „Portrait eines rätsel- richtenmagazin: „Das haften Volkes“*. In die- Werk wird Folgen ha- ser dunklen Stunde, wo ben.“ Eine derselben zusammenbricht, was ist gewiß die geogra- zusammengehört, muß phische Ausweitung ein Forscherblick, der der McCormackschen von außen auf dieses Feldforschungen auf „zerrissene Mischvolk“ „ganz Germany“ (McCormack) fällt, (McCormack); eine an- höchste Aufmerksam- dere war wesentlich keit erregen. heikler. Es ist, dies warnend Denn versteckte An- voraus, der gnadenlose spielungen des Blattes Blick des Wissenschaft- auf die wahre Identität lers, der vom Wendland des Wissenschaftlers über den Unterharz bis zu den Metropo- satoren“ benutzt werden. Winzer verrie- (er sei, unter anderem, Bayer und Sati- len schweift, sexuelles wie kulturelles ten dem ältesten Sohn „mitunter erst auf riker von Geblüt und zudem Professor Brauchtum sichtet und vor noch Schlim- dem Sterbebett, daß Wein auch aus für Amerikanistik an einer großen süd- merem nicht zurückweicht: dem „Natio- Trauben hergestellt werden kann“. deutschen Universität) ließen wilde nalcharakter“ der Deutschen. Zu ähnlichem, zur Politik. Seit dem Spekulationen sprießen; und McCor- Geldverdienen, schreibt McCormack, Fall der Mauer, schreibt McCormack, mack fürchtete, mit dem Ami-Pseud- zähle zu den tribalen „Besessenheitsphä- hätten die Deutschen wieder etwas Ge- onym sein zweites Gesicht zu verlieren. nomenen“; als am höchsten eingeschätz- meinsames, „einen Nationalcharakter“; Es freut ihn nämlich, unerkannt te Bildung gelte die „Vermögensbil- er manifestiere sich in einem „tiefen durch Münchner Buchhandlungen zu dung“. Seit einer Generation gebe es Desinteresse aneinander“. Im Westen schweifen und zu sehen, daß seine For- mehr Angestellte als Arbeiter, „seit etwa führe man nun das „Lächeln der Chine- scherfrüchte nicht in der Abteilung fünf Jahren mehr Autoren als Leser“; die sen“ darauf zurück, daß sie, die Chine- Humor ausliegen, sondern im edlen „neue Meidungsbeziehung zwischen sen, „die Mauer noch haben“. Rahmen kulturhistorischer Standard- Mensch und Buch“ harre noch professio- Dem Wissenschaftler war „von An- werke. Das christliche Angebot, ihm neller Deutung. fang an klar, daß eine beträchtliche ana- dennoch die schreckliche Maske eines lytische Kraftanstrengung nötig sein Texaners abzureißen, beantwortet er * Richard W. B. McCormack: „Unter Deutschen. Portrait eines rätselhaften Volkes“. Eichborn Ver- würde, um den Beforschten gerecht zu mit stammestypischer Drohgebärde lag, Frankfurt; 220 Seiten; 36 Mark. werden“; weitgehend gelingt ihm dies. und tribalem Abwehrzauber: „Mei ** Deutsch: Marie, wie war ich? Die literarische Dürre jedoch, unter der Ruh’ will i ham.“ Y

DER SPIEGEL 30/1994 167 .

KULTUR

der japanische Vielfraß Sony CBS über- Pop nommen hatte. Der Zwist produzierte 1992 eine spek- takuläre Geste. Michael gab im Septem- ber des Jahres einen Scheck über Vor- Regelrecht auszahlungen in Höhe von umgerechnet 1,6 Millionen Mark an Sony Music zu- rück. Paul Russell, der damalige briti- abgewürgt sche Sony-Music-Chef, blieb ob der Ak- tion nichts als Staunen: „Dergleichen ist Die Showstars George Michael und in der Plattenbranche noch nie vorge- Prince rebellieren gegen ihre kommen.“ Als Michael einen Monat später am Plattenfirmen – mit möglicherwei- Londoner High Court Klage auf Lösung se weitreichenden Folgen. des Vertrags erhob, ließ er sich auf ein hohes finanzielles Risiko ein – der Rechtsstreit kostete ihn bis heute im- cht Monate lang stritten sich die merhin gut drei Millionen Pfund (circa Anwälte vor einem Londoner Ge- 7,2 Millionen Mark). Aricht. Dann, Ende Juni, schmetter- Zunächst fühlt sich der Künstler bei te der ehrenwerte Richter Ihrer Maje- der Verteilung der Profite aus den Plat- stät, Jonathan Parker, die Forderungen tenverkäufen übers Ohr gehauen, wie des Klägers ab. Der Verlierer schäum- Mark Cran, sein Anwalt, erklärte. Sony te wie ein Klassenkämpfer: „Niemand kann gezwungen werden, in einem Zustand wirtschaftlicher Sklaverei zu leben.“ Offenbar doch: Denn der Popstar George Michael, 31, ist nach dem Urteil der briti- schen Justiz bis zum Jahr 2003 an den Multi Sony gefesselt – und dies, obwohl der in den achtziger Jahren als Teenager- Idol verehrte Musiker nicht länger als Software für den ja- panischen Hardware-Giganten herhalten will: „So schnell wie möglich“ werde er in Berufung gehen, erklärte Michael trotzig nach der Urteilsverkündung. Rechtsexperten schätzen die Chancen einer Berufung eher skeptisch ein. Und doch gilt der Rechtsstreit zwischen dem allzeit stoppelbärtigen Sänger und dem Großkonzern längst als Musterprozeß zur Klärung des Verhältnisses zwischen Künstler und Unterhaltungsin-

dustrie. Hätte George Michael DPA vor Gericht Erfolg, dürfte et- Popstar Michael (l.)*: „Zustand der Sklaverei“ wa auch US-Popstar Prince, seit einiger Zeit in Hader mit seiner soll das Siebenfache dessen an Gewin- Plattenfirma Warner, auf vorzeitige Be- nen eingestrichen haben, was dem Sän- freiung aus seinen Verpflichtungen hof- ger im Lauf der Jahre überwiesen wor- fen. Dem krisengeschüttelten Planeten den war. stünde nun auch noch ein Sängerkrieg Eigentlicher Anlaß für die Klage, er- ins Haus. klärte Anwalt Cran, sei jedoch die Zu- Zunächst hatte George Michael zu- rückhaltung der Sony-Werbeleute bei sammen mit seinem Partner Andrew der Vermarktung von Popstar Michaels Ridgeley – beide betrieben zusammen Album ausgerechnet mit dem Titel die erfolgreiche Popband „Wham!“ – „Listen Without Prejudice“ gewesen. 1984 einen Vertrag mit CBS geschlos- Details erläuterte der empörte Barde sen. Die Vereinbarung wurde 1988 – im Zeugenstand des High Court: „Sony „Wham!“ hatte sich inzwischen, Wow, Music hat mein Album regelrecht abge- aufgelöst – mit Michael als einzigem würgt.“ Die Entscheidung, das Album Partner fortgesetzt. Kurz danach be- gann der Ärger, zu einem Zeitpunkt, als * Beim Betreten des Londoner High Court.

168 DER SPIEGEL 30/1994 .

tung des Vertrags- werks durchaus ab- schätzen können. Eine andere Ent- scheidung des Londo- ner Richters hätte möglicherweise ein Muster abgegeben, nach dem auch andere Künstler ihre beste- henden Verträge mit Plattenfirmen hätten lösen können. Genau dieser Punkt war es auch, der den US-Popstar Prince – oder besser „das Sym- bol, das Prince war“ (so das Branchen- Fachblatt Musik Wo- che) – besonders inter- essierte. Denn daß sich der exzentrische Musi- ker aus Minneapolis mit seinem langfristi- gen Vertrag beim Unterhaltungskonzern Warner nicht mehr sehr glücklich fühlt, ist offensichtlich: Um Platten zu veröffentli-

D. HOGAN / REX FEATURES chen, die von seinem Popstar Prince*: Groteskes Versteckspiel Warner-Kontrakt un- berührt sind, ersetzte untergehen zulassen, habe, vermutet Mi- der Popstar den eigenen Namen kurzent- chael, Don Lenner getroffen, der Präsi- schlossen durch ein verschlungenes Si- dent der zum Sony-Konzern gehörenden gnet. Das sieht aus wie eine phantasievol- Plattenfirma Columbia Records. Der le Kombination aus männlichem und Boß habe dem Sänger eine Lehre erteilen weiblichem Geschlechtssymbol. wollen, weil sich der als äußerst eigensin- Doch möglicherweise hat das groteske nig geltende Michael geweigert habe, in Versteckspiel mit dem eigenen Namen Videos zu seinen Songs aufzutreten. demnächst ein Ende: Sein neues Album Doch nach 74 Verhandlungstagen mit dem Titel „Come“, das Mitte August mochte sich Richter Parker nicht der Ar- erscheinen soll, kündigt die Plattenfirma gumentation des Künstlers anschließen – inzwischen wieder unter dem altbekann- er erklärte die Vereinbarung zwischen ten Markennamen Prince an. Allerdings dem Sänger und Sony Music für uneinge- soll dann noch später im Herbst einweite- schränkt bindend: „Der Vertrag ist ver- res Werk („The Gold Album“) folgen, nünftig und gerecht.“ Die Urteilsbegrün- für dessen Urheber wieder nur das merk- dung umfaßt 273 Seiten und stellt würdige Signet fungiert. dem Sänger ein gutes Zeugnis aus: Der Nach bisheriger Rechtsprechung gibt britische Musiker (letzter Erfolgstitel: es sowohl für George Michael als auch für Prince nur eine Möglichkeit, von ihren Verpflichtungen erlöst zu werden: Ein Suche nach anderer Platten-Multi kauft sie aus ihren Erlösung von den Verträgen frei. Michael wird angeblich bereits von den Konzernen Virgin und Platten-Multis Warner hofiert. Nur diesen beiden wird die Kapitalkraft nachgesagt, um die auf „Faith“) sei intelligent, wortgewandt 146 Millionen Mark geschätzte Ablöse- und erfrischend ehrlich. summe zu bezahlen. Parkers Begründung beweist durch- Michael selbst, ganz in der Opferrolle, aus Branchenkenntnis und Logik: Der versucht inzwischen, Neider zu be- gerichtlicherseits für schlau befundene schwichtigen: „Ich weiß, daß ich mit mei- Michael sei zur Zeit des Abschlusses nem Kampf auf wenig Sympathie stoße, längst kein Neuling mehr im Musikge- weil ich so reich bin.“ Und dann fügt der schäft gewesen – er habe die Bedeu- selbsternannte Spartakus der Popmusik hinzu: „Ich mag einfach nicht glauben, * Mit jenem Signet auf dem Trikot, das seinen daß man auf seine Rechte verzichten soll- Namen ersetzen soll. te, nur weil man wohlhabend ist.“ Y

DER SPIEGEL 30/1994 169 . PERSONALIEN

elmut Markwort, 57, menschlichen Grundausstat- HChefredakteur von Fo- tung gehörende Eigenschaft cus, verärgerte den Pariser vermissen“; er verhalte sich Elyse´e-Palast. Das Münch- „seit 1977 auffällig“, urteilte ner Blatt druckte vergangene Welnhofer und fügte hinzu: Woche in „geradezu sinnent- Er habe seine Wortwahl stellender“ (ein Elyse´e-Spre- „bewußt“ nach der „Fach- cher) Bearbeitung ein Ge- sprache“ getroffen. Die Me- spräch nach, das Staatspräsi- thode, einen gefährlichen dent Franc¸ois Mitterrand im Kritiker zum Deppen zu er- Vorgriff auf den französi- klären, erinnerte die Süd- schen Nationalfeiertag, den deutsche Zeitung „fatal an 14. Juli, mit vier Journalisten Praktiken untergegangener der Zeitschrift L’Express ge- Regime“. Welnhofer habe, führt hatte. Das Pariser Ma- rügte die SPD-Opposition, gazin veröffentlichte den unter dem Schutz der Immu- Text anläßlich der deutschen nität sein Amt als Ausschuß- Beteiligung an der Truppen- vorsitzender mißbraucht, um parade auf den Champs-Ely- einen der CSU lästigen Be- se´es, bei der auch Bundes- amten „fertigzumachen“. kanzler Helmut Kohl anwe- send war, zweisprachig auf ob Hawke, 64, ehemaliger deutsch und französisch. Die BPremierminister Austra- Münchner Nachdrucker liens, hat sich gerächt. Jahre- („Im Focus-Interview spricht lang galten der Labor-Regie- Franc¸ois Mitterrand über die The Face-Ausriß rungschef Hawke und sein Höhen und Tiefen im Finanzminister Paul Keating deutsch-französischen Ver- inona Ryder, 22, ameri- tion X: Winona vor einem lee- als dicke Freunde; dann aber hältnis“) veränderten die be- Wkanische Schauspielerin, ren Kühlschrank; Winona mit gierte Keating nach dem reits am 30. Juni an Mitter- inszeniert sich als Nachfolge- verschmiertem Lidschatten in Ministerpräsidenten-Job und rand gerichteten Express- rin des toten Nirvana-Sän- der Badewanne; Winona, die bekam ihn auch im Jahr Fragen nachträglich derart, gers Kurt Cobain. In der bri- mit schwarz umflorten Augen 1991; die Männerfreund- daß der Eindruck entstand, tischen Zeitschrift The Face den Todesschuß des Sängers schaft war vorbei. Jetzt der Präsident habe Focus ein warb sie für ihren neuen Film nachstellt, allerdings ohne schlug Hawke zurück. In sei- brandaktuelles Interview „Reality Bites“ (siehe Seite Waffe. Anfang April hatte nen Memoiren, die er im nach dem Kohl-Besuch ge- 150) und posierte für die Fo- sich der Amerikaner Cobain August auf den Markt währt. Der Palast-Sprecher: tografin Ellen von Unwerth einen Schrotgewehrschuß in bringt, erscheint der Nach- „Absolut unzulässig“. als Todesengel der Genera- den Rachen gejagt. Auch er folger als karrieregeiler Au- galt als Symbolfigur der Ge- stralien-Feind: Er wolle un- neration X. Auch er insze- bedingt Premierminister nierte das Sterben als Foto- werden, habe Keating ihm Pose, wählte dann allerdings anvertraut, sonst verlasse er den echten Tod. Und es gibt das Land; Australien sei Menschen, die diesen Ab- „der Arsch der Welt“. Kea- schied vom Leben als beste ting will so etwas nie gesagt Werbekampagne aller Zeiten haben, doch der Liberale Se- sehen. nator Robert Hill erinnert sich an ähnliche Ausfällig- eter Welnhofer, 45, CSU- keiten: Der schönste Blick PAbgeordneter und Vorsit- auf die Hafenstadt Darwin zender eines Untersuchungs- beispielsweise, habe Keating ausschusses im Bayerischen gelästert, sei „aus 12 000 Me- Landtag, überbot letzte Wo- ter Höhe auf dem Flug nach che alle Dreistigkeit, mit der Paris“. Noch wohnt Keating

AP CSU-Politiker bislang die so- in Canberra. Werbeplakat genannten Amigo-Affären im Freistaat Bayern herun- ichard Daley, 52, Bürgermeister von Chicago, nahm emp- tergespielt hatten. Vor dem Rfindsame Bürger seiner Stadt in Schutz. Erbittert hatten Landtagsplenum stempelte Italo-Amerikaner auf eine Bierreklame der G. Heileman Bre- der Ex-Richter aus Regens- wing Company reagiert: Zum Start einer Kampagne über Bier- burg einen unbequemen Be- freunde aus alter Zeit hatten die Brauer den Gangster und Al- lastungszeugen kaum ver- koholschieber Al Capone ihr „Old Style“-Bräu preisen lassen. hohlen zum Psychopathen Schlagzeile: „Al überredete alle seine Freunde, Old Style zu ab: Der Ministerialrat Wil- probieren.“ Daley legte der Firma nahe, sich andere Werbe- helm Schlötterer, ein Finanz- helden auszusuchen, und das hat sie getan. Statt dessen er- beamter, der jahrelang gegen schien der Italo-Amerikaner Enrico Fermi auf den Plakaten: die Sonderbehandlung pro-

der Physiker, dem die Menschheit den ersten Kernreaktor ver- minenter Steuersünder ange- S. FREELANCE / GAMMA / STUDIO X dankt. kämpft hatte, lasse „eine zur Hawke

170 DER SPIEGEL 30/1994 .

oachim Siegerist, 47, JrechtsradikalerAbgeordne- ter mit eigenem Dolmetscher Martialisches im lettischen Parlament, hat seine politische Heimat verlo- Marketing ren. Die von ihm unterstützte Lettische Bewegung der Na- tionalen Unabhängigkeit hat den ehemaligen Bild-Journa- listen ausgeschlossen, noch bevor er als Vorsitzender der „Deutschen Konservativen“ wegen Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rassen- haß von einem Hamburger Gericht zu 18 Monaten Ge- fängnis ohne Bewährung ver- urteilt worden war. Jetzt wirbt er in Deutschland für sein neues Wehner-Buch mit dem Hinweis, er sei „der aussichts- reichste Präsidentschaftskan-

B. MCBROOM / MOVIE STILLS ARCHIVES didat“ für die Wahlen im Ok- tober 1995 in Lettland. Sein Problem: Wird er im Beru- fungsverfahren erneut verur- teilt, wird er bis dahin wohl noch einsitzen.

ranz Vranitzky, 56, öster- Freichischer Bundeskanzler und Vorsitzender der SPÖ, von seinen Anhängern liebe-

L. FÖGER voll „Vranz“ genannt, soll Schauspieler Schwarzenegger, Panzer die Parteikasse klingeln las- sen. Die SPÖ-Bundesge- Arnold Schwarzenegger, 46, in schäftsstelle verschickt dieser Österreich geborener Bodybuilder, Tage einen Katalog, in dem der es in den USA als Schauspieler eine sommerliche „Vranitz- und Produzent von Action-Filmen zu Ruhm gebracht hat, rüstet auf. In nostalgischer Erinnerung an frühere Tage erwarb Schwarzenegger vom österreichischen Bundesheer jenen Kampfpanzer vom Typ M 47, auf dem der spätere „Terminator“ in den sechziger Jahren beim Panzerbatail- lon 4 in Graz-Wetzelsdorf zum Pan- zerfahrer ausgebildet worden war. Der 46 Tonnen schwere Stahlkoloß, den die U.S. Army 1955 dem öster- reichischen Bundesheer leihweise überlassen hatte, sollte verschrot-

tet werden. Die US-Regierung hatte SPÖ-KATALOG gegen die Übergabe nichts einzu- Vranitzky-Sweatshirt wenden. Nachdem Schwarzenegger eine Rechnung von rund 33 000 ky-Kollektion“ angepriesen Mark bezahlt hatte, ließ das Bundes- wird, vom flotten Jogging-An- heer das veraltete Kriegsgerät, ord- zug bis hin zum Tennisball mit nungsgemäß „demilitarisiert“, wie- der Aufschrift „Vranz“. Für der so weit instand setzen, daß es rund 60 Mark können Kanz- über den Ozean transportiert wer- ler-Verehrer einen Sweater den kann. Schwarzenegger will sei- mit dem Bild des Regierungs- nen Panzer als martialischen Blick- chefs erwerben und dafür Re- fang vor seinem Restaurant „Planet klame laufen, daß er am 9. Hollywood“ im kalifornischen Costa Oktober die Nationalratswahl Mesa postieren. gewinnt. SPÖ-Werbespruch: „Die lockere Eleganz mit Vranz.“

DER SPIEGEL 30/1994 171 .. REGISTER

Gestorben kraut“, spottete einer seiner Freunde. Julian Schwinger starb am vorvergan- Paul Delvaux, 96. Nur mit einem einzi- genen Samstag an Bauchspeicheldrü- gen Gemälde reagierte der belgische senkrebs in Los Angeles. Surrealist auf aktuelle Ereignisse: Im Kriegsjahr 1941 entstand, während der Jean Borotra, 95. Für einen Platz in hi- deutschen Besetzung Brüssels, „Die un- storischen Tennis-Lexika hätten seine individuellen Erfolge – etwa zwei Ein- zelsiege in Wimbledon – allemal ge- reicht. Eine Weltberühmtheit wurde der Franzose aus dem Pyrenäendorf Arbonne jedoch, weil er einer jener „Vier Musketiere“ war, die von 1927 bis 1932 sechsmal in Folge den Davis Cup gewannen. Gemeinsam mit Rene´ Lacoste, Jacques Brugnon und Henri Cochet schrieb Borotra, der auf dem Court eine dunkle Baskenmütze trug, Tennis-Geschichte. Sein Spiel war of- fensiv und kämpferisch: Nicht Boris

SPELTDOORN / SYGMA Becker hat das Hechten nach schein- bar aussichtslosen Passierbällen erfun- ruhige Stadt“. Das Werk zeigt, auf ei- den, sondern ein halbes Jahrhundert ner weiten, mit antiker Architektur zuvor Borotra. 1940 wurde Kriegsteil- möblierten Piazza, zahlreiche erschrok- nehmer Borotra Bildungs- und Sport- ken durcheinanderstürzende Nackte. So dramatisch wie hier mochte der ma- lende Poet sonst nicht fabulieren. Jahr- zehntelang variierte er eine statische, zuweilen süßlich illuminierte Traum- welt jenseits aller Historie. Ihre ewigen Helden sind mädchenhafte, mondsüch- tig-müde wirkende, weibliche Akt-Fi- guren, bebrillte Gelehrte im Frack und mit Melone, Knochenmänner, Eisen- bahnen, bühnenbildhafte Salons, Stra- ßen oder Bahnsteige. Lauter Symbole des Wartens, der unerfüllten Liebe, der Einsamkeit und des sanften Hin- sterbens. Der Sohn einer wohlhaben- den Anwaltsfamilie, der zurückgezogen auf dem Land wohnte und 17 Jahre dieselbe Dame Modell sitzen ließ, mal- SÜDD. VERLAG te sein letztes Gemälde 1983. Danach konnte der allmählich Erblindende nur minister der Vichy-Regierung im Kabi- noch zeichnen. Paul Delvaux starb nett Philippe Pe´tains. Noch mit über vergangenen Mittwoch in dem belgi- 80 Jahren spielte er bei Seniorenturnie- schen Küstenort Veurne. ren mit. Jean Borotra starb am vorver- gangenen Sonntag in Arbonne. Julian Schwinger, 76. Wenn es um Eleganz und Raffinesse ging, wurde er Urteil zum Eiferer. Schließlich war er Archi- tekt einer Theorie, die als eine der Wolfgang Werle´, 39, und Manfred schönsten und jedenfalls als die ge- Lauber, 41, im Mai 1993 in München naueste aller physikalischen Theorien wegen Mordes an dem Volksschauspie- gilt: die Quantenelektrodynamik ler Walter Sedlmayr zu lebenslangen (QED ). 1965 erhielt er dafür gemein- Freiheitsstrafen verurteilt, hatten mit sam mit Richard Feynman und Shini- ihrer Revision keinen Erfolg. Der 1. chiro Tomonaga den Nobelpreis. Mit Strafsenat des Bundesgerichtshofs wi- 16 hatte Schwinger alles gelesen, was dersprach den Rügen in allen Punkten. es über die damals ganz neue Quan- Die Verteidiger kündigten Verfas- tenmechanik zu lesen gab. Mit 17 sungsbeschwerde an: Äußerungen der schrieb er seinen ersten Artikel, in Verlobten Laubers gegenüber V-Män- Physical Review, der Hauspostille der nern hätten vom verurteilenden Ge- Physiker-Elite. Mit 21 war er Doktor richt nicht verwertet werden dürfen. der Physik. In der Öffentlichkeit blieb Das Aussageverweigerungsrecht der er im Schatten des quirligen Miterfin- Frau, von dem sie in der Hauptver- ders der QED: „Feynman war der handlung Gebrauch machte, sei gezielt Champagner, Schwinger das Sauer- umgangen worden.

172 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite .

25. bis 31. Juli FERNSEHEN

MONTAG schen KP, das in der McCar- Rund um die Uhr – Alle Sender thy-Ära Freunde verriet. Be- achtlich ist der kalte Realis- Wiederholung mus in Kazans Bildern (USA „Fliege“, „Meiser“, „Chri- 1954): Antennen stehen wie sten“, „Der Alte“, „Tatort“, tote Äste auf den Dächern, „Lassie“, „Peter Strohm“, die Hafengewässer sind öl- „Der Bergdoktor“ . . . So verseucht. Marlon Brando viele Wiederholungen gab’s hatte viel schauspielerischen selten im Fernsehen wie in Freiraum und lieferte keinen diesem Sommer. Bild zählte heldischen Rebellen ab, son- in der vergangenen Woche dern einen zutiefst verbitter- 189 Reprisen und beschimpf- ten Jungen. te die Sommerloch-Glotze als „Mottenkiste“. Die taz ge- wann dem Wiederkäuen des MITTWOCH Altbekannten therapeutisch 19.25 – 21.00 Uhr ZDF

positive Züge ab: „In der KÖVESDI Wiederholung findet das „Liebhaber“-Darsteller Leung, March Hochzeitsfieber Fernsehen zu sich selbst.“ . . . schüttelt an diesem Mitt- Soweit kommt es noch: Das rite Duras. Ein 15jähriges beieinander. Das Arte-Ma- woch das Fernsehen. Der Medium gesundet, der Zu- englisches Mädchen (Jane gazin zeigt Reportagen aus Paarungstrieb beherrscht die schauer muß leiden. March) im Seidenkleid, ei- Rußland, wo Kursteilnehmer Kanäle. In dieser US-Film- nen Männerhut auf dem anhand des Monopoly-Spiels komödie von 1988 (Regie: 20.15 – 20.59 Uhr ARD Kopf, macht sich im Indo- den Kapitalismus beige- Paul Lynch) bricht ein Chaos china der zwanziger Jahre bracht bekommen, sowie aus aus, als sich Jeff (Scott Va- Die Goldene 1 einen fast doppelt so alten, Belgien. Dort fährt ein Stunt- lentine) und Margo (Michele Die Soziallotterie als Glitzer- reichen Chinesen zum man auf rasendem Motorrad Greene) das Jawort geben. show. Keine Wiederholung, Liebhaber (Hongkong-Star mit dem Tod um die Wette. aber mit Max Schautzer. Tony Leung) und erlebt die 20.10 – 22.00 Uhr Vox tragische Spannung zwischen 23.45 – 1.35 Uhr Sat 1 Das verflixte erste Mal 20.40 – 22.10 Uhr Arte wachsender Leidenschaft und gesellschaftlichen Tabus. Die Faust im Nacken . . . widerfährt dem noch un- Blutige Hochzeit Die Erfolgsautorin Duras, Erst ist der Hafenarbeiter erfahrenen Friseur Gavin Claude Chabrols bösartige deren Drehbuchentwurf Terry Malloy (Marlon Bran- (Jesse Birdsall) im vorge- Satire (1973) über ein gatten- beim Regisseur keine Aner- do) ein Mitläufer, der sich in rückten Alter von 31. Nicht mörderisches Liebespaar kennung fand, bemäkelte die kriminellen Dienste des während der Hochzeitsnacht, (Ste´phane Audran, Michel den Film: Er treffe nicht die korrupten Gewerkschafts- sondern auf einer wilden Par- Piccoli) in der französischen Wirklichkeit. Doch Annaud bosses (Lee J. Cobb) ein- ty mit der reichen Joan. Nach Provinz ist zwar erst im März gelang eine perfekte Rekon- spannen läßt. Nach dem etlichen Eskapaden wartet dieses Jahres bei Arte gelau- struktion des kolonialen In- Mord an seinem Bruder wan- dann aber auf Gavin die fest- fen, dennoch ist „Blutige dochina. delt er sich dann zum muti- betonierte Zweierbeziehung. Hochzeit“ ein noch immer gen Widerstandskämpfer, genießbarer TV-Happen. der die Arbeiter hinter sich 20.15 – 21.44 Uhr ARD DIENSTAG bringt. Besonders die Ver- Die Kinder der Braut 21.00 – 21.45 Uhr ARD 16.00 – 17.00 Uhr Sat 1 führung des jungen Malloy hat einiges mit der Lebensge- . . . sind fast so alt wie der Report Raumschiff Enterprise – schichte des Regisseurs Elia Bräutigam (Patrick Duffy) Themen: Das zweite Gesicht Das nächste Jahrhundert Kazan zu tun, eines ehemali- und haben Probleme, sich in der PDS – die Zusammenar- 130mal glitten der eierköpfi- gen Mitglieds der amerikani- solche postmoderne Realität beit mit Extremisten / Die ge Captain Picard (Patrick Anti-PDS-SPD-Koalition in Stewart) samt seiner Crew Sachsen-Anhalt – Kirchen durchs All und retteten die und Wirtschaft leisten Wider- Menschheit. Nun verglüht stand / Altenbetreuung nach die Kultsendung am Serien- Rot-Kreuz-Art – Beispiel himmel. Als das zweiteilige Glückstadt / Ötzi: Wer bietet Finale (zweiter Teil: Mitt- mehr – die Vermarktung des woch) vor neun Wochen in Gletschermanns. den USA ausgestrahlt wurde, erreichte es mit 11,8 Prozent 22.15 – 0.05 Uhr ZDF den zweiten Platz der wö- chentlichen US-TV-Charts. Der Liebhaber An diesem trüben Fernseh- 20.40 – 21.45 Uhr Arte montag der erste Lichtblick: Das ZDF zeigt als Fernseh- Transit premiere Jean-Jacques An- Börse, Roulette, Hasard auf

nauds Verfilmung (1992) ei- Motorrädern – Spielen und U. RÖHNERT nes Bestsellers von Margue- tödlicher Ernst liegen dicht „Faust im Nacken“-Star Brando (M.) mit Eva Marie Saint

174 DER SPIEGEL 30/1994 .

zu schicken. TV-Zuschauer 20.15 – 20.59 Uhr ARD 0.40 – 2.10 Uhr ARD werden sich nicht über die MEDIEN kühne Dame im Hochzeits- Mann über Bord Alle Vöglein sind schon da schleier wundern, denn die Robert Maxwell war einer Wer glaubt, daß es beim Or- Rassismus: Arabella Braut spielt Rue McClana- der größten Medientycoons. nithologen Pierre (Claude Kiesbauer, 25, Talkmei- han, die Darstellerin der Ihm gehörten Hunderte Ver- Chabrol) piept, täuscht sich: sterin auf Pro 7, sei die Blanche aus den „Golden lage, zahlreiche Firmen und Er ist ein raffinierter Simu- „erste TV-Schwarze, die Girls“. Deren chronische Beteiligungen in England, lant, der sich mit der Aus- sich so vermarkten läßt“, Postadoleszenz nervt ja schon den USA und Deutschland. sicht auf ein reiches Erbe bei schimpfte ihr ebenfalls seit langem fröhliche Senio- Doch schon bevor der Multi- Hilfsschwester Franc¸oise schwarzer Fernsehkolle- rinnen. millionär im November 1991 (Valerie Allain) als Pflegefall ge Cherno Jobatey vom vor den Kanarischen Inseln einschleicht. Pierre Zucca ZDF-Morgenmagazin. Der 20.15 – 22.15 Uhr Sat 1 Mann vom Zweiten hielt Berichte in der Boule- Schrei nach Hilfe vardpresse, in denen von Von der Unicef unterstütztes rassistischen Drohbrie- Melodram über die Rettung von bosnischen Waisenkin- dern. Mit De´sire´e Nosbusch als einfühlsamer Helferin nach einem Drehbuch von Sandro Petraglia („Allein ge- gen die Mafia“), gedreht 1993 in Kroatien. Elendschnelle Verwertung des Elends.

20.40 – 0.15 Uhr Arte Lohengrin Vor vier Jahren hatte diese In-

ACTION PRESS szenierung der romantischen TELEBUNK Kiesbauer Wagner-Oper von Werner „Alle Vöglein sind schon da“-Darsteller Chabrol Herzog inBayreuth Premiere, fen gegen Kiesbauer be- heute ist sie im Fernsehen zu unter mysteriösen Umstän- führte in dieser bissigen Ko- richtet worden war, für ei- sehen. Grafen, Edeldamen den von seiner Jacht stürzte mödie (Frankreich 1988) Re- ne gezielte Kampagne und Ritter wandeln sowohlge- und ertrank, war sein Imperi- gie. Der Figaro lobte Cha- von Pro 7. Der Kirch-Sen- wandet durch die Szene, als um ins Wanken gekommen. brols schauspielerische Lei- der bestreitet eine PR-Ak- schwante ihnen, sie seien auf Er hinterließ ungesicherte stung: „Wenn man ihn von tion. Bisher habe die einer Modenschau. Doch nie Bankkredite in Höhe von drei vorne betrachtet, vermittelt Moderatorin allenfalls sollt ihr euch beklagen über Milliarden Mark, geplünder- er den Eindruck eines gutmü- 25 schlimme Zuschriften die Sänger Cheryl Studer te Pensionsfonds und viele tigen Opas, der seine Familie („Niggerin“) erhalten, ins- (Elsa), Paul Frey (Lohen- ungelöste Geheimnisse. Die- besucht. Vom Profil her ver- gesamt sei das Echo posi- grin), Gabriele Schnaut, Eike se Reportage schildert Max- wandelt sich seine Nase in tiv. Wilm Schulte und Ekkehard wells Lebensgeschichte und den Schnabel eines Raubvo- Wlaschiha. Dirigent: Peter beleuchtet insbesondere sei- gels.“ Satellitenzuwachs: „Hot Schneider. ne Verbindungen mit der frü- Bird“heißt der Erdtrabant, heren UdSSR: Ein KGB- mit dem das europäische Oberst spekuliert über den FREITAG Verbleib der Milliarden und Telekommunikationsun- DONNERSTAG 20.10 – 21.50 Uhr Vox Zusammenhänge mit Max- ternehmen Eutelsat ge- 20.10 – 22.05 Uhr Vox gen den TV-Satelliten wells Tod. Crusoe Astra antreten will. Damit Der tolle Mr. Flim-Flam Caleb Deschanel, Kamera- „Hot Bird“, der voraus- Regisseur Irvin Kershner er- 20.15 – 22.10 Uhr Pro 7 mann von „Willkommen, Mr. sichtlich Ende des Jahres füllte sich mit dieser US- Chance“, versucht mit diesem den Sendebetrieb aufneh- Gauner-Komödie (1966) den T.V. – Total verrückt Film (Großbritannien 1988) men wird, wirklich ein hei- Traum von der verlorenen Was der Produzent Vic De- keine museale Rekonstrukti- ßer Vogel wird, sollen at- Vagabundenherrlichkeit. Ein Salvo (Danny DeVito) als on des berühmten Daniel-De- traktive Programmeexklu- alter Trickbetrüger (George vorgeblichen Mega-Knüller foe-Romans. Sein Crusoe siv von ihm herab gesen- C. Scott) und ein junger De- zu bieten hat, ist drittklassig. (AidanQuinn)isteinarrogan- det werden: der deutsch- serteur (Michael Sarrazin) Doch er lernt die hübsche ter Sklavenhändler des 19. französische Kulturkanal schlagen sich mit allerlei Francine (Rhea Perlman, im Jahrhunderts, der schiff- Arte, der neue CLT-Sen- Schwindel durchs Leben. Die Privatleben Mrs. DeVito) bruchhalber den Schwarzen der RTL Club, Viva TV, Frankfurter Rundschau ur- kennen, die als TV-Quoten- schätzenlernt. Kritiker be- das Schmuse-Sound-Pro- teilte: „In den besten Mo- Expertin die Namen von hun- merkten, Deschanel habe ei- gramm Sun TV sowie wei- menten dieser Komödie wer- dert Familien kennt, die per nen Werbefilm ohne Pro- tere Projekte, die keinen den Besinnlichkeit und ein Einschaltknopf Vics Schrott dukt gemacht. Die Süddeut- Platz auf Astra gefunden Hauch unaufdringlicher Me- zum Hit machen können. De- sche Zeitung aber erkannte haben. lancholie spürbar.“ Sonst Vito führte in dieser Komödie doch eine Reklamebotschaft: gibt’s viel Klamauk. von 1984 auch Regie. „Urlaub im Club Robinson.“

DER SPIEGEL 30/1994 175 . FERNSEHEN

20.15 – 22.20 Uhr Sat 1 schen Prachtvilla, um deren SONNTAG Verhalten zu erkunden. Ei- Die Glücksjäger 11.00 – 12.00 Uhr Sat 1 DIENSTAG ner der Primaten läuft als 23.10 – 23.40 Uhr Sat 1 Der eine ist taub und nimmt Butler herum, was sich ab- Super!!! also nicht wahr, wenn ihm Mit dem Zauberwort „Inter- SPIEGEL TV rupt ändert, als die schöne REPORTAGE Revolverkugeln um die Oh- Zoologiestudentin Jane aktivität“ gehen immer mehr ren pfeifen, der andere ist (Elisabeth Shue) auf der Sender auf Jugendfang. Sat 1 Bonny und Clyde der Wel- blind und kann also die Ursa- Bildfläche erscheint: Das hat seit Anfang Juli „Su- tenmeere – Ex-Playboy- che einer wilden Knallerei heimtückische Viech über- per!!!“ von einer halben auf Modell Lisa Distefano nicht erkennen – gemeinsam nimmt die Macht. Richard eine ganze Stunde ausgewei- und Öko-Terrorist Paul sind sie ein paradoxes Ideal- Franklin inszenierte seinen tet. Dirigierten bisher die Watson im Kampf gegen gespann, um Überfälle, Film (England 1986) nach al- Kandidaten mit ihrer Tele- den norwegischen Wal- Fluchten und Verfolgungs- len Regeln des Suspense. fon-Tastatur nur eine Kame- fang. jagden im Kampf mit einem ra durchs Studio, so können Supergangster durchzuste- sie jetzt mit einem Video ge- 22.10 – 23.55 Uhr ARD MITTWOCH hen. In dem Film (USA gen den Moderator spielen. 22.00 – 22.50 Uhr Vox 1989, Regie: Arthur Hiller), Der Prinzipal – Einer bewähren sich der kleine gegen alle SPIEGEL TV THEMA 20.15 – 22.10 Uhr RTL 2 Gene Wilder (der Taube) James Belushi stand auch Die neue Jungfräulichkeit und der lange Richard Pryor nach dem Tod seines Bruders Zwei ausgekochte Gauner – keinen Sex mehr vor der (der Blinde) als brillantes John Belushi („Blues Bro- Gelungene Fortsetzung des Ehe? Gäste: Svenja, 17, Klamauk-Duo. Was sie mit thers“) jahrelang im Schatten Betrogene-Betrüger-Films Jungfrau; Stefan Raab, Vi- Slapstick-Rasanz liefern, ist des genialen Komikers. Un- „Der Clou“, in dem Paul va-Moderator; Eric Gra- mehr als ein unverschämter ter der Regie von „Young Newman und Robert Red- wert-May, Soziologe; Ruth Behindertenwitz, denn in Guns“-Regisseur Christo- ford im Chicago der dreißiger Heil, Family Life Mission. entscheidenden Augenblik- pher Cain bekam er 1987 in Jahre Gangsterbosse hinein- ken erweisen sich ihre Handi- FREITAG kaps als Vorteile, die den 21.50 – 22.20 Uhr Vox Sieg bringen: Ein Hörender und Sehender hätte die Sache SPIEGEL TV nicht überlebt. INTERVIEW Vor neun Jahren wurde 0.00 – 2.10 Uhr Vox Bob Geldof weltweit be- rühmt durch das größte Erotische Geschichten aus Konzert aller Zeiten: „Live 1001 Nacht Aid“. Geldof sprach in Pier Paolo Pasolinis filmi- London und in seinem sches Plädoyer gegen den Landhaus in Kent über modernen Konsumismus in beruflichen Erfolg, die der Sexualität. In diesem Ehe und seine drei Töch- letzten Teil (Italien 1974) sei- ter. ner „Trilogie des Lebens“ geht es um die exakte Schil- SAMSTAG

derung eines exotischen Kul- CINEFOTO U. REIMER 22.00 – 23.40 Uhr Vox turkreises, in dem die anar- „Zwei ausgekochte Gauner“-Darsteller Davis, Gleason chistische, befreiende Kraft SPIEGEL TV SPECIAL der Erotik sichtbar wird. diesem Kinostück seine erste legten. Diesmal spielen Langfassung der SPIEGEL Hauptrolle. Spannend er- Jackie Gleason und Mac Da- TV REPORTAGE vom 12. zählt der Action-Film die vis zwei Kleinganoven, die Juli mit intimen Einblik- SAMSTAG brutalen Zustände und den ihren Erzrivalen (Oliver ken in das Leben des harten Alltag der Lehrer an Reed) durch einen Box- 12.30 – 12.55 Uhr RTL britischen Thronfolgers einer Slum-High-School, in schwindel in die Falle tappen Prince Charles. Alle lieben Julia der die Schüler die Macht ha- lassen. ben. RTL präsentiert eine selbst- SONNTAG gemachte Sitcom-Serie. Drei 22.00 – 0.05 Uhr Kabelkanal 21.50 – 22.30 Uhr RTL frische Mädels (Julia Mark- 22.15 – 24.00 Uhr Pro 7 graf, Gisela Gard, Alexandra Der Tod ritt dienstags SPIEGEL TV MAGAZIN Alexis) stoßen im Studenten- Action Jackson Er spielt den Prügelknaben Stahlschiene am Bein, heim auf drei frische Jungs Der Film hält, was der Titel des Dorfes, Giuliano Gem- Nachsorge unmöglich – (Jimmy Boeven, Nicolas Kö- verspricht: Massenkarambo- ma. Weil seine Herkunft un- das Schicksal eines von nig, Benjamin Sadler). Frisch lagen, menschliche Fackeln, klar ist, muß er die Kloake Bundeswehr-Ärzten ver- Vogel oder stirb. Autojagden. Dazu witzige reinigen. Doch dann nimmt lassenen Somaliers / Dialoge. Diese „Tour de er mit Hilfe eines brutalen Scheinhinrichtung auf der 22.00 – 23.50 Uhr RTL Force“ (tip) inszenierte 1987 Fremden (Lee van Cleef) Wache – Neues vom Ber- der erfahrene Stuntman schrecklich Rache. Ein routi- nauer Polizeiskandal / Link, der Butler Craig Baxley. Was macht es, nierter, in deutsch-italieni- Test-Objekt US-Bürger – Ein englischer Anthropologe daß es in diesem Film keine scher Koproduktion 1967 die Drogen- und Bakte- (Terence Stamp) haust mit nacherzählbare Handlung entstandener Italo-Western, rienexperimente der CIA. drei Affen in einer viktoriani- gibt? Regie führte Tonino Valerii.

176 DER SPIEGEL 30/1994 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Die Südwest Presse über den Tour-de- Zitate France-Teilnehmer Miguel Indura´in: „Einen Tag vor seinem 30. Geburtstag Der Informationsdienst text intern kom- baute der 28 Jahre alte Baske seine Füh- mentiert einen Kommentar von Rudolf rung . . . weiter aus.“ Augstein zur Fußballweltmeisterschaft (SPIEGEL 29/1994). Y Apropos Triumph: Die deutsche Viertel- final-Niederlage war ein deutsches Trau- ma, aber ein Triumph des Journalismus: Augstein, Rudolf, kommentierte. Zwar nicht ohne Fachwissen, aber dafür ohne Aus dem Reutlinger General-Anzeiger Fachausdrücke: „Das nächste Mal den Andi Köpke ins Tor stellen. Der hält die Y verschwiemeltsten Bälle.“ „Verschwie- Aus der Hamburger Morgenpost: „Zehn melt“ sagt nun wirklich keiner. Millionen Mark will die Hamburger Stadtentwicklungsbehörde (STEB) ab 1995 jährlich gegen die Armutsbekämp- Der Rheinische Merkur nimmt Bezug auf fung in der Hansestadt einsetzen.“ die beiden Artikel von Wolf Biermann in SPIEGEL-Nr. 24/1994 und 27/1994, in Y denen er zunächst Marcel Reich-Ranicki verteidigt und danach in einem Reue- brief an Jürgen Fuchs sein Plädoyer wi- derrufen hat.

Daß beide Artikel in ein und derselben Zeitschrift, im SPIEGEL, erschienen sind, erleichtert es natürlich, die Über- sicht über das Argumentarium zu behal- ten, und bietet denen, deren manische Aus einer Anzeige der FirmaNordmende Wortmeldung noch aussteht, mannigfa- che Anstöße zum Schreiben weiterer Ar- Y tikel über Reich-Ranicki . . . Noch unge- schrieben ist die These, laut der Reich- Ranicki gar nicht Reich-Ranicki, son- dern Heinz Konsalik heißt, was erklären würde, warum Reich-Ranicki noch nie Aus dem Programm der Nordrheini- ein Buch von Heinz Konsalik verrissen schen Akademie für ärztliche Fort- und hat; Konsalik, der eigentlich Reich-Ra- Weiterbildung nicki ist, nimmt für den Namenstausch die Tantiemen an Konsaliks Bestsellern Y und überläßt dafür Konsalik den Ruhm, als Reich-Ranicki der maßgebende deut- sche Literaturkritiker zu sein.

Aus der Westdeutschen Allgemeinen Der SPIEGEL berichtete ...... in Nr. 7/1994 DER FALL SPRENGT Y DIE GRENZEN über den Verdacht gegen Aus der Versicherungswirtschaft: „Die 24 Mitglieder zweier Großfamilien aus Bienen – ein Umweltrisiko? Das Ste- Worms, die ihre Kinder im Alter zwischen chen der Bienen kann nicht gesteuert sechs Monaten und neun Jahren gequält werden. Stechen ist die typische Tierge- und vergewaltigt haben sollen. fahr bei Bienen schlechthin.“ Gegen die ersten Beschuldigten, zwei Y Ehepaare sowie drei Verwandte im Alter zwischen 32 und 58 Jahren, hat dieStaats- anwaltschaft Mainz jetzt Anklage erho- ben. Sie sollen sieben ihrer Kinder insge- samt 80mal sexuell mißbraucht haben. In den meisten Fällen, so die Staatsanwalt- schaft, lägen neben glaubwürdigen Aus- sagen der Kinder und aussagepsychologi- schen Gutachten „eindeutige medizini- sche Befunde“ vor, die den Mißbrauch belegen. Weitere Anklagen, so die Aus einer Anzeige in der Zeit Staatsanwaltschaft, würden folgen.

178 DER SPIEGEL 30/1994