COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se Paula Heimann Gegenübertragung und andere Schriften zur Psychoanalyse

Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 1942 - 1980

Mit einer neuen Einführung von Werner Bohleber, mit einem Vorwort von Pearl King und einer Einführung der Herausgeberin Margret Tönnesmann

Mit Übersetzungen aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl

Klett-Cotta

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Klett-Cotta www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »About Children and Children-No-Longer. ­Collected Papers 1942 – 80« bei Routledge, Taylor & Francis Group, and New York. First published in 1989 by Routledge 27 Church Road, Hove, East Sussex BN3 2FA. Simultaneously published in the USA and Canada by Routledge 711 Third Avenue, New York NY 10017.

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Cover: Roland Sazinger, Stuttgart Gesetzt von Kösel Media GmbH, Krugzell Print-ISBN: 978-3-608-94941-4 E-Book-ISBN: 978-3-608-10967-2 E-PDF-ISBN: 978-3-608-20334-9

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se Inhalt

Vorwort für die englische Ausgabe von Margret Tönnesmann ...... 9

Dank ...... 11

Werner Bohleber

Einführung zur deutschen Ausgabe ...... 13

Pearl King Paula Heimanns Suche nach der eigenen Identität als ­Psychoanalytikerin: ein Memoire zur Einführung ...... 30

Margret Tönnesmann

Einführung der Herausgeberin ...... 40

1. Beitrag zum Problem der ­Sublimierung und ihrer Beziehung zu Internalisierungsprozessen (1939/1942) ...... 59

2. Anmerkungen zur Theorie des Lebens- und des Todestriebs (1942/1943/1952 c) ...... 81

3. Anmerkungen zum psycho­analytischen Konzept der ­introjizierten Objekte (1948/1949) ...... 98

4. Zur Gegenübertragung (1949/1950) ...... 111

5. Beitrag zur Neubewertung des ­Ödipuskomplexes – die frühen ­Stadien (1951/1952 a) ...... 118

6. Vorläufige Anmerkungen über einige Abwehrmechanismen in paranoiden Zuständen (1951/1952 a) ...... 137

7. Die Dynamik der Übertragungs­deutungen (1955/1956) ...... 149

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8. Bemerkungen zur Sublimierung (1957/1959) ...... 165

9. Anmerkungen zur frühen ­Entwicklung (1958) ...... 184

10. Bemerkungen zur ­Gegenübertragung (1959/1960) ...... 199

11. Beitrag zur Diskussion über »Die kurativen Faktoren in der ­Psychoanalyse« (1961/1962 a) ...... 210

12. Bemerkungen zur analen Phase ...... 219

13. Kommentar zu Dr. Katans und Dr. Meltzers Vorträgen über »­Fetischismus – somatischer Wahn – Hypochondrie« (1963/1964) ...... 240

14. Bemerkungen zum Arbeitsbegriff in der Psychoanalyse ...... 247

15. Entwicklungssprünge und das ­Auftreten der Grausamkeit ...... 294

16. Kommentar zu Otto Kernbergs ­Beitrag »Strukturderivate der Objektbeziehungen« (1965/1966) ...... 308

17. Die Beurteilung von Bewerbern für die psychoanalytische ­Ausbildung (1967/1968) ...... 323

18. Postskriptum zu »Die Dynamik der Übertragungsdeutungen« (1969, 1955/1956) ...... 349

19. Einleitende und abschließende Bemerkungen der Moderatorin zur Diskussion über »Die übertragungsfreie Beziehung in der psycho­analytischen Situation« (1969/1970 a) ...... 360

20. Wesen und Funktion der Deutung (1970 b) ...... 366

21. Die Fehlleistung als Opferhandlung – Versagen oder Triumph? (1975 a) ...... 376

COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se INHALT 7

22. Weitere Gedanken zum ­Erkenntnisprozess des Analytikers (1975/1977) ...... 397

23. Über die Notwendigkeit für den Analytiker, mit seinem Patienten natürlich zu sein (1978) ...... 416

24. Über Kinder und solche, die keine mehr sind (1979/1980) ...... 430

Bibliographie ausgewählter ­Publikationen Paula Heimanns ...... 454

Literatur ...... 456

Namensregister ...... 465

Sachregister ...... 468

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COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se Vorwort für die englische Ausgabe von Margret Tönnesmann

Dieses Buch präsentiert eine Auswahl der Schriften Paula Heimanns in chronolo- gischer Reihenfolge, um dem Leser die Möglichkeit zu geben, »die Entwicklung ihrer Arbeitsphilosophie einschließlich der Veränderungen ihrer Sichtweisen« nachzuvollziehen, wie sie selbst 1978 in einem Einleitungsentwurf schrieb, als sie die Veröffentlichung vorbereitete. Das jeweils erste genannte Datum bezieht sich auf den Vortrag der Arbeit, das zweite ist das Jahr der Veröffentlichung. Zwei Bei- träge, Kapitel 9 und Kapitel 20, werden hier zum ersten Mal publiziert, fünf Bei- träge, Kapitel 8, 14, 15, 18 und 23, zum ersten Mal in englischer Sprache. Nicht alle Veröffentlichungen Paula Heimanns konnten in diese Sammlung aufgenommen werden. Wir haben uns an ihrer eigenen Auswahl, die sie 1978 vor- bereitete, orientiert, mussten aber einige der Artikel ausschließen. Allerdings haben wir eine unseres Wissens vollständige Bibliographie ihrer Schriften erstellt. Weil sie in mehreren Sprachen veröffentlicht hat, ist es möglich, dass wir Publika- tionen in fremdsprachigen Fachzeitschriften, die uns nicht zugänglich sind, über- sehen haben. Paula Heimann hat ihre Vorträge in verschiedenen Ländern gehalten, und so sind teils wörtliche Wiederholungen und Überschneidungen unvermeidlich. Wir haben solche Texte gleichwohl in diese Sammlung aufgenommen, wenn einzelne Passagen in einem neuen, für das Vortragsthema relevanten Kontext wiederkeh- ren.

COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se Dank

Ich danke Pearl King für das Memoire, mit dem sie diese Sammlung der Schriften Paula Heimanns einleitet. Kein Analytiker aus der British Psycho-Analytical Soci- ety wäre dazu besser geeignet als sie. Pearl King hat viele Jahre lang persönlich erlebt, wie Paula Heimann das Leben der Society mitgestaltete, durfte für das Archiv der Gesellschaft ausführliche Gespräche über ihren beruflichen Werde- gang mit ihr führen und hat sie als Kollegin und ehemalige Dozentin hoch geschätzt. So lernt der Leser dank dieser Erinnerungen auch den Menschen Paula Heimann kennen. Ich danke David Tuckett, dem Herausgeber der New Library of , für seine Unterstützung. Er hat mir bei der Vorbereitung des Manuskripts immer wieder Mut gemacht. Ann Hayman, Pearl King, John Padel und Eric Rayner haben mir beim Verfas- sen der »Einführung der Herausgeberin« wertvolle Hilfe geleistet. Auch ihnen gilt mein Dank. Besonders danken möchte ich meiner Kollegin und Freundin Faith Miles, die mir bei der langwierigen Sichtung und redaktionellen Bearbeitung der unveröf- fentlichten Beiträge Paula Heimanns zur Hand ging. Ihre Mitarbeit war auch des- halb so wertvoll, weil sie mehrere Jahre lang bei Paula Heimann in Supervision war. Meine Sekretärin Yvonne Jackson-Brown hat das Manuskript gut gelaunt und geduldig wieder und wieder getippt. Dafür hat sie einen besonderen Dank ver- dient. Die Großzügigkeit von Paula Heimanns Angehörigen, die ihren literarischen Nachlass verwalten, ermöglichte es uns, in diese Sammlung sieben Arbeiten auf- zunehmen, die in englischer Sprache bislang nicht zugänglich waren. Ich danke auch dem Vorstand und dem Finanzkomitee des Institute of Psycho-Analysis für die Finanzierung der Übersetzungen und der Redaktionsarbeiten. Herausgeberin und Verlag danken den folgenden Institutionen für Abdruckge- nehmigungen: The International Journal of Psycho-Analysis (Kapitel 1, 4, 5, 6, 7, 11,

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12, 13, 16, 17, 19); The Hogarth Press Ltd. and The Institute of Psycho-Analysis (Kapitel 2); The British Journal of Medical Psychology (Kapitel 3, 10); The Institute for Psycho-Analysis, Chicago (Kapitel 21); dem Journal of the American Psycho- analytic Association (Kapitel 22) und der Nouvelle Revue de Psychanalyse (Kapi- tel 24).

Margret Tönnesmann

COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se WERNER BOHLEBER Einführung zur deutschen Ausgabe

Paula Heimann: Ihre Konzepte neu betrachtet.

In ihrer Einleitung hat Margret Tönnesmann die Entwicklung von Paula Hei- manns Denken nachgezeichnet und in die damalige psychoanalytische Theorie- landschaft eingeordnet. Sie hat den Weg von Paula Heimann nach ihrer Abwen- dung von in drei großen Theoriesystemen verortet:

 In Freuds Triebtheorie,  in den Richtungen der britischen Objektbeziehungstheorien, die wie Winni- cott und Balint die Bedeutung der Umwelt für die seelische Entwicklung be­­ tonen,  in der amerikanischen Ich-Psychologie und deren Konzepten der Ich-Funk­ tionen.

Heimann hat keine eigene theoretische Synthese aus diesen drei unterschiedli- chen psychoanalytischen Denksystemen entwickelt. Das war nicht ihr Anlie- gen. Die klinische Situation war für sie die »fruchtbare Matrix« der Psychoanalyse, und in ihrem Nachdenken über die Konzepte und Theorien bezog sie sich immer wieder darauf zurück. Sie war der Überzeugung, dass wir die Stimmigkeit und Fruchtbarkeit theoretischer Annahmen durch Versuch und Irrtum erproben und immer wieder überprüfen müssen, inwieweit sie sich bewährt haben oder weiter- entwickelt werden können bzw. verworfen werden müssen. Ihre sorgfältige und genaue Wahrnehmung der klinischen Phänomene – also dessen, was in der analy- tischen Situation wirklich passiert – war für sie immer wieder die Grundlage, um ihre Konzepte und Theorien zu überdenken. Sie war sich dessen bewusst, wenn sie die beschreibende Beobachtung verließ und theoretische Elemente einführte. Diese Haltung ließ sie allzu abstrakte Theorien und metapsychologische Annah- men meiden, sie begrenzte sich auf klinisch verifizierbare Hypothesen. Denn eine »Suche nach den letzten Ursachen« für klinische Phänomene setze uns der Gefahr

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aus, deren »aktuellen Dynamismus« zu übersehen. Heute – nach vielen Debatten über den Pluralismus in der Psychoanalyse – wird verschiedentlich genau dieser Weg präferiert, um in einen fruchtbaren Dialog der Schulen zu kommen, nämlich auf der Ebene des klinischen Austausches über Konzepte zu diskutieren, die auf der mittleren Ebene zwischen der klinischen Beobachtung und den abstrakteren Metatheorien angesiedelt sind (so z. B. Wallerstein 2005; Bohleber et al. 2013; 2016). Wie Margret Tönnesmann in ihrer Einleitung schreibt, hat Paula Heimann 1978 bei der Zusammenstellung ihrer Arbeiten für die Buchveröffentlichung an vielen Stellen vermerkt, dass sie hier eigentlich neu formulieren müsste. Schon damals hatte sich die Psychoanalyse seit der Erstpublikation mancher ihrer Arbeiten wei- terentwickelt, was umso mehr für die fast 40 Jahre danach gilt. Deshalb möchte ich die Weiterentwicklung einiger der zentralen psychoanalytischen Topoi Paula Heimanns innerhalb der psychoanalytischen Community über den Zeitraum hi- naus nachzeichnen, den Margret Tönnesmann 1989 bei der Erstpublikation dieses Buches überblicken konnte. Bevor ich damit beginne, möchte ich die Bedeutung betonen, die Paula Hei- mann für den Aufbau und die weitere Entwicklung der Psychoanalyse in Deutsch- land nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Sie war die Lehranalytikerin von Alexan- der Mitscherlich und kam immer wieder zu Vorträgen und Supervisionen nach Deutschland, vor allem ans Sigmund-Freud-Institut nach . Einige ihrer Arbeiten erschienen auch in der Zeitschrift Psyche. Zu ihrem Leben, Werk und ihrer Beziehung zur deutschen Psychoanalyse verweise ich auf das ausgezeichnete Buch von Maren Holmes (2016).

Das Ich und seine Funktionen

Paula Heimann hat von Anfang ihrer klinischen Tätigkeit an dem Ich und sei- nen Funktionen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Schon in ihrer ers- ten Arbeit zur Sublimierung von 1939 beschäftigt sie sich mit der Hemmung des Ichs, seine schöpferische Tätigkeit zu entfalten. In ihrem Gebrauch des Ich-Kon- zeptes pendelt sie zwischen einem Ich, wie es Freud für die ganze Person be­­ nutzte – Hartmann hat es später mit dem Begriff des Selbst konzeptualisiert –, und dem Ich als Instanz der Struktur-Theorie. Bei der Betrachtung der Ich-Funk­ tionen steht für Heimann deren schöpferische Leistung im Mittelpunkt, sie spricht von einem angeborenen primären Drang des Ichs nach Sublimierung. Das

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schöpferische Element entspringt den Tiefen des Ichs und erweitert es. Es ist ein angeborener Faktor, der unabhängig von den Objektbeziehungen besteht, aber dessen Entfaltung von ihnen abhängig ist. Heimann rekurriert auf die amerikani- sche Ich-Psychologie von Heinz Hartmann und sein Konzept der Autonomie des Ichs und der »primären Ich-Energie«. Im Zusammenhang des schöpferischen Ichs verweist sie auch auf Ernst Kris und sein Konzept der »Regression im Dienste des Ichs«. Bei ihrer Untersuchung der Schicksale des Narzissmus ist der schöpferische Narzissmus die dritte Stufe, nach dem primären Narzissmus der undifferenzier- ten Phase und dem objektfeindlichen Narzissmus der Selbstbehauptung der ana- len Phase. Heimann hat im Rahmen einer Ich-Psychologie ihre Narzissmus­theorie über die Hartmannsche Konzeptualisierung hinaus weiterentwickelt. Sie verbin- det die Stadien des Narzissmus mit bestimmten Formen von Objektbeziehungen und von Ich-Kreativität. Damit nimmt sie etwas vorweg, was dann Heinz Kohut mit anderen Begrifflichkeiten in seiner Narzissmustheorie weiter ausformuliert hat. Exemplarisch kann ihr Narzissmus-Modell dafür stehen, wie sie Konzepte aus bestimmten psychoanalytischen Theoriesystemen aufgreift, sie aber dann in Auseinandersetzung mit der klinischen Realität eigenständig weiterentwickelt. Wir werden dies noch bei anderen Konzepten sehen können.

Das Entwicklungsmodell

Das Entwicklungsmodell der Ich-Psychologie half Heimann, ihre Absetzung von den kleinianischen Theorien auf den Begriff zu bringen. In Interpretation der Strukturtheorie Freuds spricht sie von zwei Modellen des psychischen Apparates. Im ersten Modell von »Ich und Es« ist das Es das älteste, von Geburt an existie- rende System, während das Ich nur die Oberfläche des Es darstellt und durch den Einfluss der Realität als eigene Instanz ausgebildet wird. Das Ich ist insofern »eine zweitrangige Bildung«, die ihre Kräfte vom Es entlehnt. Auf dieser frühen Ent- wicklungsstufe beruhen die psychischen Prozesse auf einem »oral-metabolischen Prinzip«. Das Ich nimmt alle äußeren Stimuli auf und behält das Nützliche, stößt aber das Nutzlose wieder aus. »Introjektion und Projektion werden zu Architek- ten der Struktur«. Heimann entwickelt – Hartmann (1952) folgend – aufgrund von Äußerungen Freuds in »Die endliche und unendliche Analyse« (1937 c) ein zweites Modell, in dem »das Ich als eine ebenso primäre Formation anerkannt wird wie das Es« (14. Kapitel). Ich und Es sind »primäre Entitäten«, »die zuerst als undif­

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ferenziertes Ich/Es existieren« (16. Kapitel). Heimann betont, dass die Eigenschaf- ten des Ichs nicht nur aus Abwehrkämpfen erworben werden oder aus Identifi­ zierungen mit seinen Objekten herstammen, sondern auch auf angeborenen Faktoren beruhen. Das Ich verfügt auch über eigene Energiequellen, was Hart- mann als »primäre Ich-Energie« bezeichnet. Er war es auch, der den Begriff »undif- ferenzierte Phase« einführte. Sie spielte bei Freud nur eine untergeordnete Rolle, avancierte aber in der Ich-Psychologie und bei Heimann zu einem zentralen Kon- zept. Aus dieser undifferenzierten Matrix entfalten sich Ich und Es, beides sind primäre Strukturen. Heimann ist bewusst, dass sie die Unterschiede der Modelle bei Freud zu scharf zeichnet, denn Freud selbst drückt sich vorsichtiger aus (1937 c, S. 86).1 Aber die Betonung der Unterschiede erlaubt Heimann, ihre eigene Abset- zung von Melanie Klein zu begründen und sich dabei gleichzeitig auf Freud zu stützen. Melanie Klein verorte ihre Theorien der frühkindlichen Objektbeziehun- gen im ersten Modell, und das Ich sei bei ihr eine sekundäre Bildung, die sich aus den unbewussten­­ Phantasien entwickelt. Das zweite Modell habe sich Klein nie zu eigen gemacht. »Sie betonte das oral-metabolische Prinzip des ersten Modells, indem sie sämtliche wichtigen Entwicklungsprozesse der Herrschaft des Oral­ primats unterstellte« (16. Kapitel). Während Klein von einem differenzierten Selbst und Objekt von Beginn des Lebens an ausgeht, existiert für Heimann zu Beginn eine symbiotische Verschmel- zung des Selbst mit der Mutter. Das rudimentäre Selbst ist eine narzisstische Organisation auf der Ebene des primären Narzissmus und von narzisstischer Omnipotenz geprägt. Das Objekt wird zunächst als Erweiterung des Selbst wahr- genommen. Erst nach und nach weicht die Undifferenziertheit. Durch die Wei- terentwicklung der Ich-Funktionen wird ein Erkennen des Selbst und des Ob­­ jektes (zunächst als orales Objekt) möglich. Heimann hält Kleins Theorie der infantilen paranoid-schizoiden und depressiven Position für unhaltbar. Beide Positionen seien ein klinisches­ Syndrom, das aber »nicht direkt auf den Säugling in der Wiege über­tragen werden kann, weil die Regression mit dem ursprüng­ lichen Zustand nicht identisch ist« (13. Kapitel). Die Psychoanalyse versteht sie als einen Entwicklungsprozess mittels Differenzierung, die im analytischen Pro-

1 »Wenn wir von ›archaischer Erbschaft‹ sprechen, denken wir gewöhnlich nur an das Es und scheinen anzunehmen, dass das Ich am Beginn des Eigenlebens noch nicht vorhanden ist. Aber wir wollen nicht übersehen, dass Es und Ich ursprünglich eins sind, und es bedeutet noch keine mystische Überschätzung der Erblichkeit, wenn wir für glaubwürdig halten, dass dem noch nicht existierenden Ich bereits festgelegt ist, welche Entwicklungsrichtungen, Tendenzen und Reaktionen es späterhin zum Vorschein bringen wird.« (1937 c, S. 86)

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zess stattfindet. Die schöpferische Kreativität des Ichs hat sowohl in der persön­ lichen Entwicklung des Einzelnen als auch in der Analyse eine leitende Funktion. ­Entwicklung ist für Heimann ein Voranschreiten aus einem Zustand der Ver- schmelzung zu größerer Differenziertheit und aggressiver Selbstbehauptung in der analen Phase und über weitere Stationen zu mehr Eigenständigkeit des reifen Individuums. Auf diesem Weg ist die Adoleszenz eine »formative Krise«. Das Ziel der Entwicklung liegt darin, zu einer reifen Identität und zu einer persönlichen seelischen Autonomie zu finden. Pathologische Prozesse konzeptualisiert Hei- mann als regressive Entdifferenzierung, in der sowohl das Objekt als auch das Selbst ihre individuelle Identität verlieren. In der pathologischsten Form der Stö- rung kehrt die ursprüngliche infantile Undifferenziertheit wieder. Mit dieser Auffassung der seelischen Entwicklung als eines fortschreitenden Differenzierungsprozesses steht Heimann ganz in der Tradition der Ich-Psycho- logie, die die Selbst- und Identitätsentwicklung als einen Weg beschreibt, der durch Loslösung aus Zuständen infantiler Abhängigkeit und durch sukzessive Trennung von den Primärobjekten zu Individuation und reifer Autonomie führt. Peter Blos lehnt sich dabei an die Konzepte von Separation und Individuation von Margaret Mahler an. Nach Edith Jacobson führt der Adoleszente einen Kampf um Freiheit und Individualität mit dem Ziel, eine Autonomie des Ich und Über- Ichs zu erreichen und sich zu einer autonomen Persönlichkeit zu entwickeln. Diese Konzeptionen einer reifen Autonomie des Ichs wurden allerdings schon von Vertretern der Ich-Psychologie selbst kritisiert. Mit dem Aufkommen der Selbst-­Psychologie, der Bindungs- und Säuglingsforschung sowie der Lebenszyk- lusforschung verfielen sie dann gänzlich der Kritik. Der ich-psychologische Leit- begriff der autonomen reifen Persönlichkeit wurde durch den Begriff eines Selbst abgelöst, das einer intersubjektiven Matrix entstammt, die sich nicht auflöst, son- dern sich durch die Entwicklungsphasen hindurch transformiert. Daraus aber zu folgern, dass das Selbst immer in intersubjektive Bedingungen eingebunden bleibt, wie dies intersubjektive Theorien tun, verdunkelt wiederum die Fähig- keit des Selbst, sich reflexiv aus diesen Bedingungen heraus zu bewegen. Das alte ich-psychologische Konzept der Autonomie des Ichs ist nicht einfach über- holt. Es ist heutzutage in anderen Konzepten enthalten, so z. B. in der Bindungs- theorie im sog. explorativen System und in der kognitiven Fähigkeit, von sich selbst zu abstrahieren und andere Perspektiven einnehmen zu können. Die Ent- wicklungsforschung spricht nicht mehr von einer autonomen Ich-Entwicklung, sondern von den beiden Entwicklungskräften von Bezogenheit (relatedness) und Selbst-Definition (Blatt & Levy 2003) und deren synergistischer Inter­

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dependenz. Was hier Selbst-Definition heißt, ist eine Fähigkeit, die dem Selbst erlaubt, ein begrenztes Maß an Autonomie zu entwickeln sowie ein gewisses Maß an Freiheit von der Einbindung in die Beziehungswelt zu erlangen. Hei- mann hatte etwas Ähnliches im Sinn, wenn sie über den Prozess der Sublimie- rung schreibt, dass der Mensch nicht nur ein soziales Wesen ist, sondern auch ein Einzelgänger, und jede schöpferische Tätigkeit der Einsamkeit bedarf (8. Ka­­ pitel).

Die Todestriebthese und die Regression des Ichs

Obwohl zunächst eine »begeisterte Anhängerin« (15. Kapitel) der Todestriebthese Freuds und Melanie Kleins, ersetzt Heimann diese durch eine dualistische Trieb- theorie von Libido und Destruktivität, wie sie sich auch in der Ich-Psychologie findet. Sie betont, dass mit dieser Theorie alle klinischen Phänomene unabhängig von der Todestriebthese einer psychologischen Erforschung zugänglich sind. Objektiv gesehen erfahre das Kind die Primärmächte von Leben und Tod durch seine Mutter. Schwere Störungen der mütterlichen Fürsorge beeinflussen die Wurzeln des Ich und alle seine Funktionen und beinträchtigen die Identitätsbil- dung. Der Wunsch, zu sterben oder tot zu sein, ist eine Folge einer regressiven Dynamik bis hin zur undifferenzierten Phase und einer weitgehenden Entdiffe- renzierung aller seelischen Prozesse. Er ist verbunden mit unbewussten Phanta- sien, die um Rache gegen das gehasste erste Liebesobjekt kreisen und von dem magischen Glauben geleitet sind, dass dann alles wieder gut werde.

Paula Heimann und die Ich-Psychologie

Ich habe einige der zentralen Konzepte von Heimann kurz dargestellt und gezeigt, wie sie sich bei der Entwicklung ihrer eigenen psychoanalytischen Konzeption an die amerikanische Ich-Psychologe anlehnte, deren Anspruch war, das Freudsche Erbe weiterzutragen und weiterzuentwickeln. Für Paula Heimann war es damit auch möglich, ihr eigenes Erbe der Freudschen Triebtheorie aus ihrer Ausbildung in mit ihrer Objektbeziehungstheorie, die der britischen Middle Group nahestand, zu verbinden. Heute würden wir von einem pluralistischen Theorie- ansatz sprechen. Um ihn näher einordnen zu können, muss ich zunächst die Ent- wicklung der amerikanischen Ich-Psychologie und ihre Öffnung gegenüber den

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Objektbeziehungstheorien kurz nachzeichnen. Die Ich-Psychologie hatte in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg über drei Jahrzehnte eine monolithisch hege- moniale Stellung inne, während sich in der Psychoanalyse in Europa schon früh, angefangen mit Melanie Kleins Psychoanalyse sowie den anderen britischen objektbeziehungstheoretischen Ansätzen und Lacans Psychoanalyse Alternativen zur Ich-Psychologie entwickelt hatten. Pluralität war den europäischen Psycho- analytikern von daher eher vertraut, auch wenn sie mit heftigen Anerkennungs- kämpfen verbunden war. In der amerikanischen Ich-Psychologie selbst wurden die britische Objektbe- ziehungspsychologie und die kleinianische Psychoanalyse lange Zeit als Bedro- hung der eigenen hegemonialen Position wahrgenommen. Untersucht wurden die intrapsychischen Konflikte des Patienten, und der Analytiker hatte in der Be­­ handlung eine außenstehende neutrale Position, die ihm eine objektive Wahr- nehmung der Konflikte des Patienten ermöglichen sollte. Potentiell störende Ge­­ genübertragungen galt es durch Selbstanalyse auszuschalten. Robert Wallerstein (2000) beschreibt in seinem Überblick über die Entwicklung der amerikanischen Ich-Psychologie, wie alarmiert man auf die frühen Arbeiten von Paula Heimann und Margaret Little über die Ubiquität der Gegenübertragung und deren poten­ tiellen Wert für ein vertieftes Verständnis des analytischen Prozesses reagierte, denn diese Sichtweise platzierte den Analytiker direkt in der analytischen Situa- tion (die er doch von außen beobachten sollte). Annie Reich (1951) hatte ihre Arbeit zur Gegenübertragung wie Heimann erstmals 1949 vorgetragen. In ihr fes- tigte sie die ich-psychologische Position, dass Gegenübertragung zwar häufig ­vorkomme, aber ein unerwünschtes Eindringen von Anteilen des Analytikers in den analytischen Prozess sei. Es gelte sie zu kontrollieren, damit sie keinen schäd­ lichen Einfluss ausüben könne. Wallerstein stellt fest, dass damit eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Gegenübertragung »für weitere 20 Jahre aus dem amerikanischen psychoanalytischen Diskurs verbannt« wurde. Erst Anfang der 1970er Jahre bekam die monolithische Position des ich-psychologischen Paradig- mas Risse. Wallerstein sieht drei miteinander zusammenhängende Linien, ent- lang deren sich die weitere Entwicklung vollzog (S. 662 f.):

1. die wachsende Anerkennung des Pluralismus, eingeläutet durch die Selbstpsy- chologie Heinz Kohuts, die sich mit ihrem abweichenden metapsychologi- schen Ansatz in der amerikanischen und internationalen Psychoanalyse be- haupten konnte, 2. die Verbreitung von ursprünglich britischen objektbeziehungstheoretischen

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Paradigmen einer Zwei-Personen-Psychologie und von interpersonalen und intersubjektiven Ansätzen, 3. innere Weiterentwicklungen der ich-psychologischen Perspektive.

Vor allem die interpersonal-intersubjektiven Paradigmen haben in den letzten Jahrzehnten eine außerordentlich starke Verbreitung innerhalb der amerikani- schen Psychoanalyse erfahren. Die Gründe dafür sind vielfältig und können hier nicht weiter erörtert werden. Sicher haben Kohuts Selbstpsychologie und die objektbeziehungstheoretischen Ansätze einer Zwei-Personen-Psychologie das Feld aufgebrochen, ebenso wie der über die Jahrzehnte steigende Einfluss der Arbeiten von Hans Loewald, der innerhalb des ich-psychologischen Rahmens eine intersubjektive Konzeption der Beziehung des Analysanden zum Analytiker als neuem Objekt entwarf. Der Analytiker wurde zum Mitspieler auf der analyti- schen Bühne. Auch Roy Schafer (1995) sieht diese Entwicklung nicht nur als eine von außen, von anderen Theorierichtungen angestoßene Entwicklung, sondern als eine Bewegung, die schon in Hartmanns Grundgedanken der Adaptation an­­ gelegt war, den er aus der biologischen Forschung seiner Zeit bezog. Anpassung habe nichts mit Konformität zu tun, sondern ist ein feldtheoretisches Konzept der Anpassung des Organismus an die Umwelt, in der er lebt. Von daher – so Scha- fer – ist der Weg nicht so weit zu den modernen Ansätzen, die das Selbst immer in der Beziehung von Selbst und Anderem verankern, so dass Veränderungen des Selbst nur durch den nonverbalen und verbalen Austausch im intersubjektiven Feld von Analytiker und Analysand stattfinden können. Das heutige Feld der Ich-Psychologie ist uneinheitlich; zwar finden wir noch eine relativ reine Ich-Psychologie in moderner Form, aber viele Autoren kombi- nieren eine intrapsychische Sicht je nach Erfordernis der analytischen Situation mit einem intersubjektiv ausgerichteten Standpunkt, der ihnen hilft, die Über­ tragungs-Gegenübertragungsmatrix besser zu erfassen.

Das Konzept der Gegenübertragung und die intersubjektive Ausrichtung der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse kämpft schon lange mit dem Problem der Intersubjektivität. Der Befund, dass sie der Beziehung von Analytiker und Patient inhärent ist, war lange Zeit verdeckt geblieben (ausführlicher dazu Bohleber 2012; 2013). Ebenso wie bei der Frage, ob eine objektive Erkenntnis der psychischen Realität durch

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den Analytiker möglich ist, hat sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten auch bei anderen zentralen psychoanalytischen Problemstellungen – sozusagen unter- halb der metapsychologischen Grundpositionen – eine Wende hin zu einer stär- ker intersubjektiven Ausrichtung vollzogen. Vor allem die konzeptuelle Diskus- sion der Gegenübertragung, der projektiven Identifizierung und des Enactment sowie der Rolle des Analytikers als klinische Autorität hat die Entwicklung vor- angetrieben. Ich werde mich im Folgenden auf die Gegenübertragung, die projek- tive Identifizierung und das Gegenübertragungsenactment begrenzen. Freud sah in der Gegenübertragung eine den analytischen Prozess störende Übertragung des Analytikers auf den Patienten, die seine Fähigkeit, zuzuhören und dem Patienten zu antworten, beeinträchtigte. Sie galt es durch ein Stück Selbstanalyse aufzulösen, um durch diese »psychoanalytische Purifizierung« (Freud 1912 e, S. 380) wieder der blanke Spiegel sein zu können und zu einer mög- lichst objektiven Erkenntnis der psychischen Realität des Patienten zu kommen. Theodore Jacobs (1999) und Joshua Holmes (2014) weisen aber darauf hin, dass Freud mit seiner Metapher vom Telefonhörer – die die unbewusste Kommunika- tion zwischen Analytiker und Patient versinnbildlicht – implizit vorwegnahm, dass die Gegenübertragung ein Weg ist, um das Unbewusste des Patienten zu ver- stehen. Freud selbst war jedoch am Thema der Gegenübertragung nicht weiter interessiert. Obwohl in der Zeit nach Freud die Auffassung der Gegenübertragung als störende Übertragung des Analytikers dominierte, gab es immer wieder An­­ sätze zur Kritik dieser Position und zur Entfaltung des positiven Beitrags, den die Gegenübertragung für die analytische Erkenntnis leisten kann, so z. B. bei Helene Deutsch, Sándor Ferenczi, Michael Balint, Donald Winnicott und anderen.2 Aber erst Paula Heimanns Arbeit von 1950 wurde zu einem Wendepunkt und zum »Markstein« (Sandler 1976) einer veränderten Auffassung der Gegenübertra- gung. Als Gegenübertragung bezeichnet Heimann alle Gefühle, die der Analytiker gegenüber seinem Patienten empfindet. Sie ist das Forschungsinstrument, mit dessen Hilfe er das Unbewusste des Patienten erforschen kann. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass das Unbewusste des Analytikers das Unbewusste des Patienten versteht. Diese Verbindung auf der tiefen Ebene kommt dann in einer unmittelbaren emotionalen Reaktion des Analytikers an die Oberfläche. Die unbewusste Wahrnehmung »ist schärfer und weitsichtiger als sein bewusstes Erfassen der Situation« (4. Kapitel). Gegenübertragung ist ein integraler Bestand- teil der analytischen Beziehung und sie ist eine »Schöpfung des Patienten« (ebd.).

2 Näheres dazu bei J. Holmes (2014) und Jacobs (1999).

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Der Analytiker übernimmt die Rolle, die der Patient auf ihn projiziert, aber er darf sich an der Szene, die der Patient reinszeniert, nicht als Mitspieler beteiligen. Er muss seine Gefühle der analytischen Aufgabe unterordnen. Dieses Verständnis der Gegenübertragung begann in den Jahren nach 1950 mehr und mehr Verbreitung zu finden, oft in Verbindung mit dem kleinianischen Konzept der projektiven Identifizierung. Die Verbreitung verlief regional unter- schiedlich, zunächst vor allem in England, einigen europäischen Ländern und in Lateinamerika (dort vor allem durch Heinrich Racker und Leon Grinberg), wäh- rend sich die ich-psychologisch ausgerichteten Analytiker in den USA dieser Auf- fassung verschlossen. Bei ihnen läuteten, wie Wallerstein (2000) und Jacobs (1999) schreiben, nach der Publikation der Arbeiten von Heimann und Little, die klar von kleinianischen Ideen beeinflusst waren, die Alarmglocken. Die von Annie Reich und anderen vertretene »klassische« Auffassung Freuds, dass Gegenüber- tragung kein Königsweg zum Unbewussten ist, sondern das Ergebnis von inneren Konflikten des Analytikers, beherrschte für zwei Jahrzehnte die ich-psychologi- sche Community in den USA. Erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nahm die Kritik an dieser theoretischen Positionierung langsam zu und mündete dann in einen »Dammbruch« (Jacobs 1999). In den 1980er und 1990er Jahren erschien eine Flut von Arbeiten in den psychoanalytischen Zeitschriften zum Thema Gegenübertragung. Jacobs vermutet, dass zukünftige Historiker der Psychoana- lyse diesen Zeitraum wohl als die Periode der Gegenübertragungsjahre kenn- zeichnen werden. Hinshelwood hat eine Statistik der Veröffentlichungen zur Gegenübertragung im PEP Archive erstellt. Vor der Publikation von Heimanns Arbeit seien nur 90 Arbeiten zu dieser Thematik erschienen, während es im Zeit- raum danach bis zum Jahr 1999 fast 3700 Arbeiten gewesen seien (Hinshelwood 1999, Anm. 2). Meine eigene Untersuchung ergab, dass die meisten dieser Arbei- ten in den 1980er und vor allem in den 1990er Jahren publiziert wurden. Ich kann hier die Entwicklung der Debatte um die Gegenübertragung nicht nachzeichnen, sondern möchte nur einige Anmerkungen dazu machen: 1. Im Verlauf der Debatte avancierte die Gegenübertragung zu dem zentralen Instrument des Analytikers, um die Übertragung zu verstehen. Dabei wurde zwi- schen »normaler Gegenübertragung« (Money-Kyrle 1956), mit der der Analytiker die Produktionen des Patienten verstehend begleitet, und den Brüchen in dieser Gegenübertragung unterschieden, die dann eine spezifische Selbstreflexion der eigenen Übertragungsreaktionen des Analytikers notwendig macht. Selbst wenn es sich dabei um ungelöste Konflikte oder Charakterprobleme des Analytikers handelt, so kann das nicht heißen, dass in diesem Fall die Gegenübertragung nur

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sein Problem ist, das er zuerst lösen müsse, sondern es gilt, die Art und Weise zu reflektieren, mit der der Patient gerade diese Reaktion im Analytiker provoziert (Kernberg 1965). Auch Heimann will hierin kein qualitativ anderes Problem sehen, sondern spricht von quantitativen Unterschieden zwischen »normaler Gegenübertragung« und etwaigen neurotischen Übertragungsproblemen des Analytikers. 2. Die zunehmend differenziertere Analyse des Wechselspiels von Übertragung und Gegenübertragung hat das klinische Feld der Psychoanalyse für interperso- nal-intersubjektive Konzeptionen geöffnet. Diese Entwicklung wurde durch die Verbindung der Gegenübertragung mit dem Konzept der projektiven Identifizie- rung weiter vorangetrieben.3 In der ursprünglichen kleinianischen Version des Konzepts werden Aspekte des Selbst des Patienten, in der Regel solche, die ihm als unerträglich erscheinen, aus Abwehrgründen in das Objekt, den Analytiker, hinein projiziert, um dann dort kontrolliert werden zu können. Der Analytiker ist mit Hilfe der Analyse seiner Gegenübertragung in der Lage, diese Aspekte des Selbst des Patienten zu erkennen. Die Ausarbeitung des seelischen Vorgangs, durch den unerträgliche Teile des Selbst projektiv in einem Anderen unterge- bracht, dort lokalisiert und kontrolliert werden, hat mitgeholfen, das Denken in zwei voneinander getrennten Subjekten aufzulockern und einer intersubjektiven Sichtweise den Weg zu bahnen. Zwar gehen viele Kleinianer davon aus, dass das, was vom Patienten projektiv im Analytiker untergebracht wird, nur mit dem pro- jizierenden Subjekt zu tun habe und dafür kein Entgegenkommen im Verhalten des Analytikers notwendig sei, aber Bion erweiterte diese Sicht der Dinge. Für ihn ist die projektive Identifizierung nicht nur ein pathologischer Prozess, der der Abwehr dient, sondern eine Interaktion, und zwar eine wichtige Form nonverba- ler Kommunikation zwischen Mutter und Kind. Er hat diese Auffassung zu sei- nem Container-Contained-Modell ausgearbeitet und für das Verständnis des ana- lytischen Prozesses fruchtbar gemacht. Die projektive Identifizierung wurde als ein Weg erkannt, durch den unverstandenes und unverdautes psychisches Mate- rial des Patienten im Analytiker einem Verstehen zugeführt und dem Patienten dann in einer annehmbaren Form zurückgegeben werden kann. Heimann lehnte nach ihrer Trennung von Melanie Klein das Konzept der pro- jektiven Identifizierung ab, weil darin mehrere unterschiedliche Prozesse mitein- ander vermengt würden. Projektion verlagere etwas aus dem Ich nach außen, aber

3 Zu Verbreitung des Konzeptes in der derzeitigen Psychoanalyse siehe Spillius & O’Shaughnessy (2012).

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führe nicht zu einer Identifizierung, dennIdentifizierung bewirke eine qualitative Veränderung im Ich.4 Außerdem müsse der Analytiker von sich aus bereit sein, etwas zu introjizieren. »Projektion in ein Objekt« beschreibe eine Phantasie und sei kein seelischer Mechanismus (13. Kapitel). Heimann kritisiert das Konzept anhand ihrer Erkenntnisse aus der Behandlung von Patienten, bei denen infantile Erfahrungen mit einer ablehnenden und übergriffigen Mutter reaktiviert wurden. Für Heimann tritt die sog. projektive Identifizierung »als Gegenübertragungsphä- nomen auf, wenn der Analytiker in seinen Wahrnehmungsfunktionen versagt, so dass er sich, statt den Übertragungscharakter rechtzeitig zu erkennen, unbewusst mit seinem Patienten identifiziert, der zu diesem Zeitpunkt in der Identifizierung mit seiner ablehnenden und intrusiven Mutter agiert und seine eigenen Erfahrun- gen mit umgekehrten Rollen reinszeniert« (16. Kapitel). Aber Heimann konnte sich mit ihrer Kritik der projektiven Identifizierung nicht durchsetzen. In den 1980er und 90er Jahren hat das Konzept der projektiven Identifizierung einen enormen Aufschwung erlebt, weil es auch Analytikern aus anderen Schul­ traditionen hilfreich erschien, um die eigenen Gegenübertragungsreaktionen bes- ser verstehen zu können. Das Konzept wurde aus der kleinianischen Theorie her- ausgebrochen und in andere theoretische Gebäude transponiert. Es war dabei vor allem sein interpersonaler Aspekt, der es für andere nützlich machte. So gehen z. B. viele moderne amerikanische Ich-Psychologen davon aus, dass es passende Eigenschaften der Person des Analytikers geben muss, damit sich die Projektion überhaupt an ihm anhaken kann. Andere, wie Thomas Ogden, gehen noch weiter und verstehen die gegenseitig stattfindende projektive Identifizierung als den Basismechanismus des intersubjektiven Zusammenspiels von Analytiker und Analysand. Dennoch gibt es in der amerikanischen Psychoanalyse auch Erklärun- gen der Gegenübertragung – wie Jacobs in seinem Übersichtsartikel bemerkt –, die an Heimanns Idee eines direkten Kanals zwischen dem Unbewussten des Pati- enten und des Analytikers festhalten, über den die projizierten men­talen Inhalte des Patienten in die Psyche des Analytikers übermittelt werden. Andere Auffas- sungen wiederum bestreiten, dass es einen direkten unbewussten Kanal geben könne, über den die Projektionen des Patienten geradlinig in der Psyche des Ana- lytikers repräsentiert werden. 3. Auch wenn das Konzept der Gegenübertragung bei Heimann ganz auf den Beitrag des Patienten ausgerichtet war, der sich dem Analytiker durch seine

4 Diese Kritik trifft die kleinianischen Versionen nicht wirklich, denn Money-Kyrle z. B. spricht von »introjektiver Identifizierung«, die der Analytiker mit dem vornimmt, was vom Patienten kommt. Auch gibt es hier Unterschiede im Verständnis dessen, was Identifizierung ist.

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Selbstanalyse erschließen kann, so bahnte es doch der Subjektivität des Analy­ tikers den Weg, als Erkenntnisinstrument einen herausragenden Stellenwert zu erlangen. Heimann betonte, dass die analytische Beziehung eine Zweierbeziehung ist und der Analytiker die Rolle übernehmen muss, die der Patient reinszeniert. 1978 ging sie noch einen Schritt weiter und sprach von der Gegenseitigkeit und der reziproken Beeinflussung von Patient und Analytiker. Aber den Schritt zu einer dezidiert intersubjektiven Auffassung tat sie nicht. Sandler (1976) machte dann unter Bezug auf Heimann diesen Schritt und führte aus, dass der Analytiker­ eine Bereitschaft zur Rollenübernahme haben muss. Indem er die Rolle über- nimmt, kann er in seiner Selbstanalyse die Objektbeziehung erkennen, die ihm der Patient »aufzwingt«. Es kann aber auch sein, das er dies erst erkennt, nachdem er seine Reaktionen in Handeln umgesetzt hat. Damit nimmt Sandler das Kon- zept des Enactments vorweg. Vor allem in den USA hat sich seit den 1990er Jahren eine intensive Diskussion um das Konzept des Enactments entwickelt, die sich mit der über die Gegenüber- tragung verband. Enactments sind Übertragungs- und Gegenübertragungsphä- nomene, die sich nicht verbal symbolisch ausdrücken, sondern als Handlungen. Nicht nur motorisches Verhalten ist damit gemeint, sondern darunter fallen auch paraverbale Phänomene, Schweigen und die Sprache selbst, wenn sie als Hand- lung verstanden werden muss. Lange Zeit wurde ein Teil dieser Phänomene in der Psychoanalyse unter dem Begriff des Agierens subsumiert. Sie hatten allerdings für eine Psychoanalyse, die sich als Redekur verstand, eine negative Bedeutung. Darin liegt auch einer der Gründe, weshalb die Psychoanalyse lange Zeit keine Handlungstheorie entwickelt hatte. In diese Lücke stieß das Konzept »enactment«, das sich als Bezeichnung für die gegenübertragungsinduzierten Handlungen des Analytikers innerhalb kürzester Zeit zu einem wesentlichen Bestandteil der Be­­ handlungstechnik entwickelt hatte. Theodore Jacobs (1986) prägte den Begriff »Gegenübertragungsenactment«. Er charakterisiert damit subtile, kaum wahrnehmbare Gegenübertragungsprobleme, die die Art des Analytikers, zuzuhören und zu intervenieren, durchdringen. Bei Jacobs stehen die problematischen Aspekte des Enactments des Analytikers im Vordergrund. Im Grunde handelt es sich für ihn um subtile »acting-outs« auf Sei- ten des Analytikers. Die Diskussion des klinischen Phänomens ging dann aber in den USA in eine etwas andere Richtung und konzentrierte sich mehr auf das Enact­ment als intersubjektives Beziehungsphänomen. Unter Gegenübertragungs­ enactment versteht man heute gemeinhin die Handlungen des Analytikers, die von den Regeln abweichen, wie etwa Frustration, Ungeduld, Ärger und Lange-

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weile. Sie können sich verbal in Formulierungen oder begleitenden Untertö- nen, aber auch nonverbal ausdrücken. Dieses Konzept des Gegenübertragungs- enactment holte die Subjektivität und Vulnerabilität des Analytikers aus dem Dunkel eines nicht adäquaten analytisch-technischen Handelns heraus und machte sie zu unvermeidlichen Bestandteilen der Behandlungstheorie, die, wenn sie erkannt und gedeutet werden können, meist eine positive Auswirkung auf die Behandlung haben. Die Gegenübertragungsenactments sind durch unbewusste Konflikte des Analytikers mitmotiviert. Stimuliert werden sie auf einer unbe- wussten Ebene durch Worte und Verhaltensweisen des Patienten, in denen sich eine unbewusste Phantasie aktualisiert. Im Sinne einer Gegenübertragung klin- ken sich die Konflikte des Analytikers sozusagen in die des Patienten ein und füh- ren zu einer Interaktion, die für beide Partner eine unbewusste Bedeutung hat. In diesem Sinne kann man das Enactment als eine beziehungsspezifische, gemein- sam kreierte Erfahrung verstehen. Sie hat den Charakter einer affektiv unmittelba- ren Begegnung, die nachträglich einem Verstehen zugeführt werden kann. Gegen- übertragungsenactments ereignen sich in jeder Analyse und sind unvermeidbar, um Fortschritte und seelische Veränderungen zu erreichen. Diese behandlungstechnischen und theoretisch-konzeptuellen Einwicklungen bewirkten, dass sich viele ich-psychologisch ausgerichtete Analytiker dem inter- subjektiven Denken öffneten. Impulse dazu kamen in jener Zeit auch noch von der aus der interpersonalen Schule Sullivans hervorgegangenen relationalen Psy- choanalyse. Gabbard (1995) kommt bei seinem Vergleich der Konzepte der projek- tiven Identifizierung und des Gegenübertragungsenactments zum Ergebnis, dass beide Konzepte trotz bestehender Unterschiede auch große Ähnlichkeiten auf- weisen. Obwohl es zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Phänomene der Gegenübertragung sind, liegt ihre hauptsächliche Gemeinsamkeit darin, dass sie als gemeinsame Schöpfung von Analytiker und Patient angesehen werden. »Der Auffassung, dass die Gegenübertragung eine gemeinsame Schöpfung darstellt, zu der beide, Analytiker und Analysand, einen Beitrag geleistet haben, pflichten mittlerweile sowohl klassische Psychoanalytiker als auch moderne Kleinianer, Objektbeziehungstheoretiker und die Vertreter des sozialen Konstruktivismus bei« (1995, S. 985).

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Ich-Spaltung, Dissoziation und Trauma

In den 1960er Jahren entwickelte Paula Heimann in Auseinandersetzung mit dem kleinianischen Spaltungsbegriff ihr eigenes Konzept der Ich-Spaltung und ansatz- weise ein darauf basierendes Verständnis von Traumatisierungen. Die Spaltung in gute und böse innere Objekte in der Frühentwicklung entspricht ihrer Meinung nach weder den Prozessen der seelischen Entwicklung noch denen der klinischen Realität. Die Introjektion guter befriedigender Erfahrungen erfolgt ihrer Meinung nach ins Ich. Sie stellen überhaupt keine Arbeitsanforderung an den psychischen Apparat, sondern werden direkt ins Ich assimiliert und stimulieren seine auto­ nomen Funktionen sowie seine kreativen Fähigkeiten. Erfahrungen negativer Valenz, vor allem mangelnde Fürsorge oder schlimme Erfahrungen, können nicht aktiv vom infantilen Ich introjiziert werden, sondern das Ich ist ihrem Eindringen passiv und wehrlos ausgeliefert. In der seelischen Struktur bilden diese Introjekte eine Substruktur. Heimann greift hier auch Begriffe aus den Studien über Hysterie von Breuer und Freud auf und spricht von »separaten psychischen Gruppen«. Die Annahme eines spezifischenSpaltungsmechanismus erscheint ihr klinisch selbst bei schweren Störungen nicht begründet. Heimann konzipiert ihren Begriff der Ich-Spaltung anhand von Freuds Ausführungen vor allem im Abriss der Psycho- analyse (1940 a) und anhand seiner Traumatheorie in ihren verschiedenen Versio- nen (1895 d; 1920 g; 1926 d). Ich-Spaltungen können mit der Verdrängung und mit verwandten Mechanismen wie der Besetzungsverschiebung erklärt werden. Sie treten auch bei Neurosen auf und sind ein Teil der ubiquitären Psychopathologie. Ihre Konzeption der Verarbeitung von Erfahrungen »negativer Valenz« beim Säugling und beim Kleinkind ist für Heimann auch das Modell zur Erklärung des Traumas. Bei der traumatischen Erfahrung wird das Ich überwältigt; es ist über- starken Reizen hilflos ausgesetzt und kann sich den intrusiven Einbrüchen nicht widersetzen, so dass es zu »passiv erlittenen Introjektionen« (16. Kapitel) kommt. Das Ich kann sie nicht integrieren. Infolge der Schädigung seiner synthetischen Funktionen entstehen Dissoziationen und Zerrissenheiten im Ich. Es bilden sich »separate psychische Gruppen«. Diese Heimannsche Konzeption kann mit modernen Traumatheorien durch- aus verbunden werden, was ich noch kurz darstellen möchte. Wenn Heimann Ich-Spaltung als Vorgang beschreibt, der infolge von »passiv erlittenen Introjekti- onen« zu »alternierenden Ich-Zuständen« oder zu »separaten psychischen Grup- pen« führt, dann hat sie damit Elemente eines modernen Begriffs der Dissozia- tion als psychische Abwehrformation bei Traumatisierungen vorweggenommen.

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Breuer und Freud nahmen beim psychischen Trauma eine Spaltung des Bewusst- seins (»double consciousness«) an, eine Dissoziation, die zu autohypnotischen abnormen Bewusstseinszuständen führt (1895 d, S. 91). Heimann hat nicht rezi- piert, dass Freud in den Studien über Hysterie den Begriff der Dissoziation, den er von Janet übernahm, benutzte, ihn aber dann durch den für ihn dynamischeren Begriff der Verdrängung ersetzt hat. Er integrierte damit stillschweigend den bewusstseinsspaltenden Aspekt der Dissoziation in sein neues Verdrängungs- konzept, aber damit verschwanden auch der Dissoziationsbegriff und die dissozi- ativen Phänomene – sieht man von Fairbairn ab – aus der psychoanalytischen Dis- kussion. Bei allen späteren Versionen des kleinianisch geprägten Spaltungsbegriffs, der in der psychoanalytischen Theoriebildung weithin dominierte, spielte das Trauma keine Rolle mehr, und die klinisch vorfindbaren veränderten Bewusst- seinszustände nach Traumatisierungen konnten nicht mehr angemessen diagnos- tiziert und erklärt werden. Erst die moderne Traumaforschung schaffte hier Ab­­ hilfe. Dissoziation gilt heute als eine spezifische Reaktion des Ichs auf ein schweres Trauma. Ihr Hauptmerkmal wird als Unterbrechung der integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses und der Identität definiert. Die Dissoziation verhindert eine Überstimulation des Bewusstseins und seine Überflutung mit unerträglichen Angst- und Schmerzgefühlen. Weil die Fähigkeit des Ichs, trauma- tische Erfahrungen affektiv und mental zu verarbeiten, zusammenbricht, zerreißt die psychische Textur des Selbst, und ein dissoziativer Selbst-Zustand tritt ein, der mit den daraus resultierenden Erinnerungen und Affekten abgekapselt wird. Wird dieser Selbst-Zustand in der Zeit nach der Traumatisierung wieder akti- viert, indem traumatische Erinnerungen intrusiv ins Bewusstsein einbrechen, so kommt es zu dissoziativ veränderten Bewusstseinszuständen. Paula Heimann hat keine Traumatheorie ausgearbeitet, sondern nur Ansätze dazu formuliert. Aber indem sie den kleinianischen Spaltungsbegriff nicht über- nahm, sondern einen eigenen Begriff der Ich-Spaltung entwickelte, blieb ihre Konzeption für moderne Traumatheorien anschlussfähig.

Literatur

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COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se PEARL KING Paula Heimanns Suche nach der eigenen Identität als ­Psychoanalytikerin: ein Memoire zur Einführung

Ich begrüße die Publikation der Gesammelten Schriften Paula Heimanns, die von Margret Tönnesmann zusammengestellt wurden. Ihre Einleitung ist Paula Hei- manns theoretischem und klinischem Verständnis ihrer Arbeit als Psychoanaly­ tikerin gewidmet. Ihre Erläuterungen über die Entwicklung der zahlreichen Bei- träge, die Paula Heimann zur Psychoanalyse geleistet hat, dienen dem Leser als hilfreiche Orientierung. Man hat mich gebeten, in diesen Erinnerungen Paula Heimanns persönlichen Hintergrund und die Ereignisse zu skizzieren, die für ihre Schriften und ihre Bei- träge zur Psychoanalyse besonders einflussreich waren. Ich stütze mich nicht nur auf meine persönliche Bekanntschaft mit Paula Heimann, die mir eine warmher- zige, Mut machende und kreative Kollegin gewesen ist, sondern auch auf Informa- tionen, die sie mir gab, als ich sie 1974 im Zusammenhang mit meiner Erforschung der Geschichte der British Psycho-Analytical Society interviewte. Paula Heimann wurde 1899 in Danzig geboren. Sie starb 1982 in London. Beide Eltern waren russischer Abstammung und hatten vier Kinder. Das dritte, ein Mädchen, starb. Danach wurde Paula geboren. Sie hatte immer das Gefühl, als Ersatz für diese Schwester empfangen worden zu sein, und vermutete, dass ihre Mutter zur Zeit ihrer Geburt sehr depressiv war. Als Kind hielt sie es für ihre Auf- gabe, die Mutter zu trösten und zu umsorgen. Die Mutter konnte die Hilfe aber auch anerkennen und war ihrer Tochter sehr dankbar. Diese familiäre Situation spielt im Kontext der späteren analytischen und außeranalytischen Erfahrungen Paula Heimanns eine wichtige Rolle. Wie zur damaligen Zeit in Deutschland üblich, absolvierte Paula Heimann ihr Studium der Medizin und Psychiatrie an mehreren verschiedenen Universitäten.

COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se Paula Heimanns Suche nach der eigenen Identität als ­Psychoanalytikerin 31

Noch während der Ausbildung heiratete sie einen Internisten, und 1925 wurde ihr einziges Kind, die Tochter Mirza, geboren. Die Familie ließ sich schließlich in Berlin nieder, wo Paula psychiatrische Patienten in Behandlung nahm. Irgend- wann fragte eine Kollegin sie, ob sie nicht vielleicht Psychoanalytikerin werden wolle. Sie bewarb sich 1928 am Berliner Psychoanalytischen Institut, wurde von Max Eitingon, dem Vorsitzenden der Deutschen Psychoanalytischen Gesell- schaft, interviewt und zur Ausbildung zugelassen. Eitingon schickte sie zu Theo- dor Reik in Analyse, der seit kurzem, aus Wien kommend, in Berlin praktizierte. Zu Paula Heimanns Lehrern zählten Fenichel, Hanns Sachs, Franz Alexander, Karen Horney und Radó. Sie stand der Arbeit etlicher Berliner Analytiker kritisch gegenüber, weil sie ihrer Ansicht nach die Rolle der Aggression und die Bedeut- samkeit des Todestriebes unterschätzten. 1932 wurde sie als assoziiertes Mitglied in die Berliner Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen. Als Hitler 1933 in Deutschland an die Macht kam, bot Ernest Jones Eitingon schriftlich an, jüdischen Psychoanalytikern, die sich bedroht fühlten, zu helfen. Er lud sie ein, nach London zu kommen. Paula wurde von Eitingon aufs wärmste empfohlen; er hatte eine Schwäche für sie, weil sie genauso wie er aus einer russischen Familie stammte. Etwa zur selben Zeit wurde Paulas Mann eine Arbeitsstelle in der Schweiz an­­ geboten; er verließ Deutschland unverzüglich, denn aufgrund seiner linkspoliti- schen Interessen war er besonders gefährdet. Während Paula noch überlegte, ob sie nach London übersiedeln sollte oder nicht (die Schweizer Regierung stellte weder ihr noch ihrer Tochter Mirza ein Visum aus, so dass sie ihrem Mann nicht nachreisen konnte), brannte der Reichstag; irgendjemand versuchte, sie mit der Behauptung, sie habe in ihrer Wohnung ein Fest veranstaltet, um den Brand zu feiern, hineinzuziehen. Die Polizei kam während einer Behandlungsstunde und verhaftete sie. Sie wurde verhört, zahlreiche ihrer Bücher wurden beschlagnahmt, doch schließlich ließ man den Verdacht fallen. Die Erfahrung machte ihr aller- dings klar, dass sie ihres Lebens in Berlin nicht mehr sicher war. Sobald sie ihr Visum bekommen hatte, brach sie zusammen mit Käthe Friedländer, ebenfalls Psychoanalytikerin, nach London auf. Ihre Tochter kam derweil bei einer römisch- katholischen Familie in Berlin unter und sollte dort bleiben, bis Paula in London eine geeignete Wohnung fand. Weil sie selbst natürlich nicht nach Deutschland zurückreisen konnte, um Mirza abzuholen, wurde das Kind schließlich von einer arischen Freundin nach London begleitet. Paula und ihre Kollegin erhielten Visa, die es ihnen ermöglichten, im East End, damals eine sehr arme Gegend, als Psy- choanalytikerinnen zu praktizieren. Sie mieteten sich in einem Guesthouse ein und begannen, nach einem geeigneten Praxisraum zu suchen. Die Arbeitserlaub-

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nis für Flüchtlinge galt lediglich für Stadtbezirke, in denen sie den Einheimischen keine Konkurrenz machten; aus diesem Grund stand »East End« auf ihren Visa. Sie fanden einen Raum und nahmen die Arbeit auf, doch ihre Patienten klagten ständig, dass sie sich beobachtet fühlten. Zuerst vermuteten sie, gleich mehrere paranoide Patienten zu haben, aber als sie ihre Aufzeichnungen miteinander ver- glichen, stellte sich heraus, dass ihre Praxisräume zu einem Bordell gehörten und dass die Aufsicht führende »Madam« das Kommen und Gehen ihrer Patienten scharf beobachtete. Schließlich bot sich ihnen die Möglichkeit, im Bezirk West Central zu praktizieren, was sich als günstiger erwies. Paula war im Juli 1933 in London eingetroffen, mitten in der Ferienzeit, so dass es eine Weile dauerte, bis sie andere Analytiker kennenlernte. Jones gab ihr eine Liste mit den Namen von Kollegen, denen sie einen Höflichkeitsbesuch abstatten sollte, darunter auch Melanie Klein. Im November 1933 wurde Paula zum außeror- dentlichen Mitglied der British Society gewählt. Sie fand die Wissenschaftlichen Sitzungen noch steifer und förmlicher als die entsprechenden Veranstaltungen in Berlin. Melanie Klein, Joan Riviere und Susan Isaacs pflegten, so erzählte sie mir, in der ersten Reihe zu sitzen. Es war klar, dass Melanie Klein damals bei den meis- ten Mitgliedern der britischen Gesellschaft hohes Ansehen genoss. Paula erzählte auch von zwei Ehepaaren, die gut zu ihr waren, als sie aus Deutschland ankam: Melitta und Walter Schmideberg – Melanie Kleins Tochter und Schwiegersohn, beide ebenfalls Psychoanalytiker und Paula noch aus der Berliner Gesellschaft be­­ kannt – sowie Helen und William Gillespie, die sie erst in London kennenlernte. Im April 1934 informierte Jones die Mitglieder darüber, dass Melanie Kleins ältester Sohn bei einer Wanderung im Gebirge tödlich verunglückt war. Paula schickte ihr ein Kondolenzschreiben und erhielt daraufhin von Walter Schmide- berg die Nachricht, dass Melanie Klein sich über ihren Besuch freuen würde. Paula hatte Melanie Klein 1932 auf dem Wiesbadener Kongress erlebt und fand ihre Betonung der Rolle der Aggression und des Todestriebs sehr ansprechend. Sie berichtete mir: »Selbstverständlich habe ich sie besucht, und sie war verzweifelt, natürlich.« Melanie Klein erzählte ihr viele Dinge über sich selbst, die nichts mit dem Todesfall zu tun hatten. Paula hatte sie gefragt, weshalb sie sich an sie – eine Fremde – gewandt habe und nicht an eine ihrer englischen Freundinnen, zum Bei- spiel Joan Riviere. Die Engländer seien ihr zu fremd, und außerdem sprächen sie nicht Deutsch, gab Melanie Klein zur Antwort. Paula Heimann berichtete, sie sei auf Kleins Bedürftigkeit eingegangen und habe sie auf ihren Wunsch hin regelmä- ßig besucht. Als Melanie Klein eines Vormittags beschloss, ausgehend von ihrer eigenen Trauererfahrung einen Artikel über die Trauer zu verfassen, bot Paula ihr

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an, ihr als Sekretärin zur Hand zu gehen. Nach und nach erholte Melanie Klein sich von ihrem Verlust. Ihr muss auch bewusst geworden sein, dass Paula, deren Ehe mittlerweile in die Brüche gegangen war, Hilfe brauchte. Sie lebte emotional isoliert, ohne enge Freunde, ihre ökonomische Lage war ausgesprochen prekär, sie musste sich als Flüchtling durchschlagen und war von ihren ehemaligen Freunden und allen Beziehungen in Deutschland abgeschnitten. Eines Tages gab Melanie Klein ihr eine Deutung: Sie wünsche sich, von ihr analysiert zu werden. Paula erwiderte, dass sie keine Analyse finanzieren könne. Melanie Klein antwortete, sie würde das Honorar reduzieren, habe aber ohnehin im Laufe des nächsten ­Jahres keinen freien Platz. Die beiden Frauen setzten ihren sozialen Umgang mit- einander fort und veranstalteten unter anderem Picknicks zusammen mit den Schmidebergs. Als Paula Melanies Tochter Melitta fragte, ob sie etwas dagegen habe, wenn sie zu ihrer Mutter in Analyse ginge, antwortete diese, sie habe schon damit gerechnet. Paula sagte, sie hoffe, dass ihre Beziehung nicht darunter leiden würde. Später berichtete sie mir, dass dies sehr wohl der Fall gewesen sei. Nach einem Besuch bei ihrem früheren Analytiker, , der nach Holland emigriert war, nahm Paula Melanie Kleins Angebot an. In den Jahren zwischen 1933 und 1939 besuchte Paula Heimann die Scientific Meetings regelmäßig, beteiligte sich allerdings selten mit eigenen Diskussionsbei- trägen. Sie war aber fleißig und lernte nicht nur Englisch. Jones hatte darauf bestanden, dass sie auch das britische Lizentiat in Medizin erwarb. 1938 wurde ihr die formale Qualifizierung von der University of erteilt. Sie erzählte mir, dass sie Jones später sehr dankbar dafür gewesen sei, sie gedrängt zu haben, damals aber habe sie sehr wenig Geld gehabt und es sei ihr sehr schwergefallen. In derselben Phase begannen Walter und Melitta Schmideberg, sich zuneh- mend kritisch über Melanie Kleins theoretische Ansichten zu äußern. Unterstützt wurden sie dabei in der British Society vor allem von Edward Glover und Barbara Low. Als sich 1938 auch eine Reihe Wiener Analytiker der Gesellschaft anschlos- sen, erstarkte der Widerstand gegen Melanie Klein beträchtlich und wuchs sich für sie zu einer realen Bedrohung aus. In ebendiesem Kontext hielt Paula Heimann 1939 vor der British Psycho-Analytical Society ihren Mitgliedsvortrag »A contri- bution to the problem of sublimation« (eine erweiterte Fassung dieser Arbeit erschien 1942 unter dem Titel »A contribution to the problem of sublimation and its relation to the processes of internalization«5 Im selben Jahr wurde sie zum Ordentlichen Mitglied der Gesellschaft gewählt und 1940 als Kontrollanalytike-

5 Siehe 1. Kapitel.

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rin anerkannt und somit befähigt, Kandidaten zu supervidieren. Lehranalytikern wurde sie indes erst 1944; ihren ersten Ausbildungskandidaten nahm sie 1945 in Analyse. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass zwischen 1941 und 1945 die intensiven Diskussionen über Melanie Kleins Theorien und ihren Beitrag zur Psy- choanalyse, vor allem aber auch über die Frage stattfanden, ob diejenigen, die Kleins Sichtweise unterstützten, überhaupt zur Kandidatenausbildung und zum theoretischen Unterricht zugelassen werden sollten. Als die Kontroversen über Melanie Kleins Theorien ihren Höhepunkt erreich- ten, beschloss man, sie zu bitten, ihre Auffassungen in einer Reihe von Vorträgen dazulegen, die dann in schriftlicher Form von den Mitgliedern kommentiert wer- den sollten. Melanie Klein plante vier Vorträge, verfasst von ihr selbst sowie von Susan Isaacs und Paula Heimann. Paula wandte ein, dass sie zu unerfahren sei, wurde aber überstimmt. Die drei setzten sich zusammen, und Melanie Klein schickte sich an, zu diktieren, was sie vortragen sollten, doch Susan Isaacs rebel- lierte und sagte, sie könne so nicht arbeiten. Paula Heimann, die nach wie vor bei Melanie Klein in Analyse war, hatte Probleme, sich zur Wehr zu setzen, durfte aber schließlich den Entwurf mit nach Hause nehmen, um ihn zu überarbeiten. Für Paula war diese Situation sehr schwierig. Sie sagte jedoch, dass sie sich von Susan Isaacs unterstützt gefühlt habe, mit der sie einen der vier Vorträge gemein- sam verfasste. Die zehn »Wissenschaftlichen Sitzungen«, die schließlich statt­ fanden, wurden als »Freud/Klein-Kontroversen« bekannt (King & Steiner 2000 [1991]). Im Anschluss an diese Debatten und die Neuorganisation der Ausbildung – sie erfolgte nun in zwei Kursen, A und B – begann Paula Heimann, sich aktiver an der Ausbildung und am wissenschaftlichen Leben der Gesellschaft zu beteiligen. Ich weiß nicht, wann sie ihre Analyse bei Melanie Klein beendete, glaube aber, dass sie sie in unregelmäßigen Abständen immer wieder einmal aufsuchte, wenn sie Hilfe brauchte. Paula erkannte an, dass sie des analytischen Beistandes bedurfte,­­ und war dankbar für die Unterstützung, die sie während der schwierigen Vorkriegszeit in der Analyse gefunden hatte. Dass Melanie Klein ihr aber später nahelegte, nie- mandem zu sagen, dass sie noch immer bei ihr in Analyse sei, bereitete ihr großes Unbehagen. Es versetzte sie in eine Position geteilter Loyalitäten, denn sie fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Melanie Klein einerseits und ihrer eigenen Integrität und Wahrheitsliebe andererseits. Heute können wir den auf Melanie Klein ausgeübten Druck gut nachempfinden, denn wir wissen nun, dass Glover und andere den Kleinianern unter anderem vorwarfen, Kollegen in Analyse zu halten, um auf diesem Weg ihr Verhalten in der Society zu beeinflussen. Melanie

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Klein muss damals das Gefühl gehabt haben, um das Überleben ihrer Theorien und Beiträge zur Psychoanalyse zu kämpfen. Ich begegnete Paula Heimann zum ersten Mal als Kandidatin Ende der 1940er Jahre. Sie veranstaltete ein Seminar über Freuds behandlungstechnische Beiträge und hatte mich gebeten, die wesentlichen Punkte aus der Arbeit »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung« (Freud 1912 e) zusammenzufas- sen. Als ich Freuds nachdrückliche Empfehlung referierte, der Psychoanalytiker solle »sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vor- bild nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen« (S. 380 f.), erhob sie zu meiner Verblüf- fung energisch Einspruch. Sie hat ihre Sichtweise später in ihrem Vortrag »On counter-transference« dargelegt, den sie 1949 auf dem 16. Internationalen Psycho- analytischen Kongress in Zürich hielt, an dem auch ich teilnahm. Hier schreibt sie: »Meine These lautet, dass die emotionale Reaktion des Analytikers auf seinen Patienten in der analytischen Situation eines der wichtigsten Instrumente für seine Arbeit darstellt. Die Gegenübertragung des Analytikers ist ein Instrument, mit dessen Hilfe er das Unbewusste des Patienten erforschen kann.« Und weiter heißt es: »Dieser Rapport auf der tiefen Ebene tritt in Gestalt von Gefühlen an die Oberfläche, die der Analytiker in Reaktion auf seinen Patienten empfindet, in sei- ner ›Gegenübertragung‹«.6 Als ihre Schüler wurden wir von ihr ausdrücklich dazu ermuntert, eine ganze Bandbreite unserer affektiven Fähigkeiten, die wir zuvor als Tabu betrachtet hat- ten, zu nutzen. Wir konnten auf diese Informationsquelle rekurrieren, um nicht nur zu klären, welchen Gebrauch unsere Patienten von uns machten und welche Figuren aus der Vergangenheit sie auf uns projizierten, sondern auch, um die sub- tilen Verzerrungen zu erforschen, die das Zusammenspiel von Phantasie und Rea- lität, Wahn und Verzweiflung hervorbringt, wenn der Patient seine guten und schlechten Erfahrungen mit den realen Eltern zu verarbeiten versucht; auch die psychischen Ausgestaltungen dieser Erfahrungen ließen sich mithilfe dieses Inst- ruments analysieren. Heute wird Paula Heimanns Auffassung weithin anerkannt, doch als sie ihre Sicht erstmals darlegte, hielten viele Analytiker ihre Thesen für Häresie. Später erst erfuhr ich von Paula, dass Melanie Klein erzürnt über diesen Beitrag war und sie überreden wollte, ihn zurückzuziehen – mit der Begründung, dass er Willi Hoffer nicht zusage. Ernest Jones jedoch gratulierte ihr zu der Arbeit,

6 Siehe 4. Kapitel.

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und sie weigerte sich, ihren Standpunkt aufzugeben. Fortan wurde der Ansatz, den sie in diesem und weiteren Artikeln beschrieben hat, zur Inspiration für viele jüngere Analytiker, aber auch für die späteren Arbeiten mancher Kleinianer. Damals hielten wir Paula Heimann für Melanie Kleins »Kronprinzessin«. Häufig war sie es, die in den Scientific Meetings den kleinianischen Standpunkt vertrat und dem Vortragenden entweder ihren Segen, eine Abfuhr oder eine Lektion er­­ teilte – je nach seinem wissenschaftlichen Standpunkt. Freilich wurden auch ihre Beiträge von anderen hinterfragt, doch ob man ihnen zustimmte oder nicht, gaben sie stets Anlass zum Nachdenken. Während dieser Phase wurden die Ausbildungsaktivitäten der British Psycho- Analytical Society vom Sekretär des Unterrichtsausschusses koordiniert, der von den Mitgliedern gewählt wurde und einen Sitz im Vorstand hatte. Bis zum Juli 1954 stammten die Sekretäre des Unterrichtsausschusses aus der Mittelgruppe. Nun beschloss man, zwei »Joint Training Secretaries« zu ernennen, einen aus der kleinianischen und einen aus der »B«-Gruppe. Paula Heimann und Hedwig Hoffer verständigten sich darauf, das Amt gemeinsam zu übernehmen, und wurden ge­­ wählt. Paula saß nicht zum ersten Mal im Unterrichtsausschuss, sondern ge­­hörte ihm seit 1949 an. Sylvia Payne war, so glaube ich, die »Architektin« dieses Experi- ments; sie erzählte mir, dass ihr die Art und Weise, wie Paula Heimann und Hed- wig Hoffer zusammenarbeiteten, gut gefallen habe. Ich wurde 1955 gebeten, in der Ausbildung mitzuwirken, und nahm meinen ersten Lehranalysanden noch wäh- rend ihrer Amtszeit an; beide haben mich sehr unterstützt, und ich kann mich persönlich dafür verbürgen, dass sie gut kooperiert haben. Im selben Jahr, 1955, wurde ein Komitee gegründet, das die Aktivitäten zur Feier von Freuds 100. Geburtstag organisieren sollte. Es bestand aus Sylvia Payne, der Präsidentin der British Society, als Vorsitzender, sowie Paula Heimann und Hedwig Hoffer. Ich wurde zur Sekretärin ernannt. Da ich eng mit Paula koope- rierte, konnte ich beobachten, dass sie sich in einer gemischten Gruppe, in der sie keinen spezifischen Standpunkt vertreten oder unterstützen musste, wohler fühlte; es gefiel ihr besser, sich für die Society insgesamt einzusetzen, als nur in einer bestimmten Gruppierung Ansehen und Autorität zu besitzen. 1955 hielt Paula auf dem Genfer Kongress ihren Vortrag »Dynamics of transfe- rence interpretations«.7 Er fand großen Anklang; viele von uns hielten ihn für eine recht orthodoxe, hilfreiche Formulierung des kleinianischen Übertragungsver- ständnisses. Ebenfalls auf diesem Kongress trug Melanie Klein »A study on envy

7 Siehe 7. Kapitel.

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and gratitude« vor. Die Arbeit wurde 1956 allerdings nicht zusammen mit den übrigen Kongressvorträgen veröffentlicht. Im Februar 1956 präsentierte Melanie Klein eine erweiterte Fassung in der British Psycho-Analytical Society.8 Die Ori- ginalversion erschien 1986 erstmals in einer von Juliet Mitchell herausgegebenen Sammlung von Kleins Schriften. In den folgenden Monaten zeigte sich, dass Paula Heimann zu Melanie Klein und ihrer Gruppe immer mehr auf Abstand ging. Auf Melanie Kleins Bitte schied sie im November 1955 aus dem Melanie Klein Trust aus. In der Society erklärte sie anschließend offiziell, dass sie nicht länger als Mitglied der kleinianischen Gruppe betrachtet werden wolle. Ich erinnere mich, dass Sylvia Payne mir im Dezember 1955 im Anschluss an einen Malkurs, der abends in ihrer Praxis stattfand, erzählte, dass Paula keine Kleinianerin mehr sei. Der Schock, den diese Nachricht und ihr Echo in der Gesellschaft insgesamt uns jüngeren Analytikern versetzte, lässt sich nur schwer in Worte fassen. In der Vergangenheit hatten sich etliche prominente Analytiker von Melanie Kleins Gruppe getrennt, unter anderem John Rickman, Donald Winnicott und Clifford Scott (ihr erster Analysekandidat), doch keiner dieser Kollegen hatte, zumindest in unseren Augen, so loyal hinter Klein gestan- den wie Paula Heimann, und die kleinianische Gruppe war damals auch nur lose organisiert gewesen. Sie bildete einen integralen Bestandteil des A-Kurses (Anna Freuds Gruppe bildete den B-Kurs), so dass Kandidaten, die bei diesen Abtrünni- gen in Analyse waren, nicht gezwungen waren zu entscheiden, welcher Gruppe sie angehören wollten. Als Paula beschloss, sich von Melanie Klein zu trennen, hatte diese ihre Unterstützer aber bereits so stramm organisiert, dass kein Kandi- dat, der bei Paula Heimann in Analyse war, als Mitglied von der kleinianischen Gruppe akzeptiert worden wäre. Meiner Meinung nach wollte Paula selbst nicht, dass sich Kandidaten, die bei ihr in Analyse blieben, als Mitglieder der Klein- Gruppe betrachteten. Diese Kluft vertiefte sich noch, als der Unterrichtsausschuss im Februar 1956 »Mrs. Kleins Vorschlag zustimmte, dass Dr. Jaques anstelle von Dr. Heimann sechs Seminare und Dr. Segal anstelle von Dr. Heimann vier Semi- nare leiten« solle. Melanie Klein war überzeugt, dass Eliot Jaques und Hanna Segal ihre Auffassungen verlässlicher wiedergaben als Paula Heimann. Sylvia Payne hatte Paula vorgeschlagen, ihre Differenzen mit Melanie Klein schriftlich darzulegen, doch Paula sagte mir, dass sie damals allzu traumatisiert gewesen sei. Paula Heimann wurde zu einem begeisterten Mitglied der Gruppe der ungebundenen Analytiker der British Society, die sich heute als »Indepen-

8 Siehe Klein 2000 (1957). [A. d. Ü.]

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dents«, »Unabhängige«, bezeichnen – was meines Wissens sogar auf Paulas Vor- schlag zurückgeht. Bis zu ihrem Tod spielte sie eine wichtige Rolle in der Society. Die Kluft zwischen ihr und Melanie Klein schloss sich aber nie wieder, und ich denke, dass die Psychoanalyse insgesamt darunter gelitten hat. Als Paula mit mir über diese Zeit sprach, sagte sie, Melanie Klein sei aus zahlrei- chen Gründen über ihre Arbeit »On countertransference« so wütend gewesen, unter anderem wohl auch deshalb, weil sie ihr den Vortrag nicht vorab zu lesen gegeben habe. Es war ihre erste Freiheitsbekundung, eine erste Behauptung der eigenen Kreativität. Sie selbst datierte den Beginn ihrer Abspaltung von Melanie Klein auf das Jahr 1949. Zum endgültigen Bruch kam es nach dem Genfer Kongress 1955, als Paula klar wurde, dass sie Melanie Kleins Theorie des angeborenen Neides von Grund auf ablehnte, auch wenn sie Freuds Todestriebkonzept nach wie vor anerkannte. Ich denke, sie konnte diesen letzten Schritt vollziehen, weil sie die Erfahrung gemacht hatte, dass viele Kollegen sie um ihrer selbst willen schätzten und nicht deshalb, weil sie einer bestimmten Gruppe angehörte. Als sie mir einige Dinge schilderte, die in ihrer Analyse bei Melanie Klein schiefgelaufen waren, sagte sie auch, sie könne sich nicht erinnern, dass Melanie Klein die Übertragungsverbindung ge­­ deutet habe, die zwischen ihr selbst, der Analytikerin, die nach dem Tod ihres Sohnes depressiv war, und der Mutter Paula Heimanns, die nach dem Verlust von Paulas älterer Schwester depressiv war, bestand. Paula erkannte später, dass ihre Bemühungen, sich um Melanie Klein zu kümmern, ihre Fürsorglichkeit gegen- über ihrer eigenen Mutter wiederholten, die diese Fähigkeit an ihr so bewundert hatte. Vielleicht können wir rückblickend auch Melanie Kleins Bedürfnis erken- nen, jemanden zu finden, der ihr die eigene Tochter, Melitta, ersetzte, die ebenfalls Psychoanalytikerin war und sich ihr schon 1935 zutiefst entfremdet hatte. Melanie Klein suchte jemanden, der sie nicht enttäuschen, sondern sie unterstützen und ihre Theorien wertschätzen würde. Paula war sich der Tatsache durchaus bewusst, dass sie ihrer Mutter als Ersatz für die gestorbene älteste Tochter gedient hatte. Nach ihrer Trennung von den Kleinianern war Paula Heimann als Lehranalyti- kerin und Supervisorin überaus gefragt. In der Ausbildung spielte sie weiterhin eine wichtige Rolle. Sie veröffentlichte 25 Artikel, kurze Mitteilungen und kriti- sche Rezensionen und wurde zu Vorträgen u. a. nach Deutschland, Frankreich, Italien, Nord- und Südamerika eingeladen. Einige dieser Arbeiten wurden bislang trotz wiederholter Anfragen gar nicht oder nicht auf Englisch publiziert, so dass sich mit der vorliegenden Sammlung ein langgehegter Wunsch erfüllt. Während ich diesen Text schrieb, ist mir einmal mehr klar geworden, mit welch

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großem Mut Paula Heimann für ihr Recht gekämpft hat, die Psychoanalyse auf ihre Weise zu verstehen, und wie mutig sie nach ihrer eigenen Identität als Psy- choanalytikerin und als Mensch suchte. Ich weiß, dass sie sich von vielen ihrer Kollegen bei dieser schwierigen Aufgabe unterstützt fühlte, und glaube, dass sich umgekehrt zahlreiche Psychoanalytiker durch ihr Vorbild ermutigt sahen, auf dem Fundament der klassischen Beiträge Freuds ihr eigenes Verständnis der Psy- choanalyse und ihre eigene psychoanalytische Identität zu entwickeln.

Pearl H. M. King (Präsidentin der British Psycho-Analytical Society 1982 – 1984) Januar 1989

COT11682 Klett-Cotta, Heimann, Gegenübertragung zur Psychoanalyse CS6­ Transpect se MARGRET TÖNNESMANN Einführung der Herausgeberin

Diese Sammlung von Paula Heimanns Aufsätzen und Vorträgen dokumentiert die berufliche Entwicklung einer Psychoanalytikerin, die in ihrer täglichen Praxis nicht nur ihre Behandlungstechnik, sondern auch die theoretischen Grundannah- men, an denen sich ihre Arbeit mit Patienten orientierte, konsequent prüfte und abermals prüfte. Paula Heimann absolvierte ihre klassisch-freudianische Ausbildung in Berlin und wurde 1933 Psychoanalytikerin. Noch bevor sie Gelegenheit bekam, das, was sie gelernt hatte, in der eigenständigen Arbeit mit Patienten zu stabilisieren und zu vertiefen, musste sie Hals über Kopf nach England emigrieren, um ihr Leben zu retten. In London traf sie zu ihrer Überraschung auf eine Situation, die sich erheb- lich von den Berliner Verhältnissen unterschied. In der British Psycho-Analytical Society wurde, angeregt durch die Arbeiten Melanie Kleins, lebhaft und kritisch über die frühkindliche Entwicklung diskutiert. Für Paula Heimann waren diese Debatten ganz und gar neu. In ihrem Entwurf der Einleitung zu diesem Buch schrieb sie 1978, dass man sich in Berlin auf die Libido und ihre Schicksale kon­ zentriert habe, während sich in London alles um die Schicksale des Todestriebs drehte. Paula Heimann begann sich schon bald für Melanie Kleins Arbeit zu interessie- ren und machte eine zweite Analyse bei ihr. Im Laufe der Zeit wurde sie zu einer ihrer engsten Mitarbeiterinnen. Ihre eigenen frühen Aufsätze sind eindeutige Dar- legungen Kleinscher Konzepte, mit deren Hilfe sie Themen wie Sublimierung und Kreativität (1939/1942)9, innere Objekte (1948/1949) und die Frühstadien des Ödipuskomplexes untersucht. Weitere Arbeiten, »Certain functions of introjec- tion and projection in early infancy« (1942/1952 d) und der gemeinsam mit Susan Isaacs verfasste Aufsatz «Regression« (1942/1952 e), wurden nicht in dieses Buch aufgenommen, weil Paula Heimann selbst 1978 dagegen entschied. Bei den beiden

9 Um der chronologischen Klarheit willen werden in dieser Einführung wie auch im Textteil bei Vorträgen jeweils das Vortrags- und das Publikationsjahr angegeben.

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genannten Arbeiten handelt es sich um Beiträge zu den »Kontroversen Dis­ kussionen«,10 die Paula Heimann als Präsentationen der Gedanken Melanie Kleins betrachtete. Wir haben jedoch die Arbeit »Anmerkungen zur Theorie des Lebens- und des Todestriebs« (1942/1952 c) in die Sammlung aufgenommen, die zwar ebenfalls im Zusammenhang mit den »Kontroversen Diskussionen« entstand, aber für die Publikation überarbeitet und erweitert wurde. Die schon erwähnten Entwurfsnotizen aus dem Jahr 1978 weisen darauf hin, dass sie diesen Beitrag als eigene Arbeit betrachtete und sich mit ihr iden­tifizieren konnte. Für den Leser ist der Text auch deshalb wichtig, weil Paula Heimann später in »Entwicklungs- sprünge und das Auftreten der Grausamkeit« (1964/1969 a) eine Revision ihrer Ansichten erläuterte. Drei frühe Arbeiten zur Technik (1949/1959; 1952 b; 1955/1956), noch innerhalb des kleinianischen theoretischen Bezugsrahmens ver- fasst, wurden ebenfalls in dieses Buch aufgenommen.

Die Abgrenzung gegen Melanie Klein

1949 hielt Paula Heimann auf dem 16. Internationalen Psychoanalytischen Kon- gress den Vortrag »On Countertransference« (1949/1950).11 Angeregt worden war er unter anderem durch eine Diskussion mit Ausbildungskandidaten über die Frage, was Freud gemeint hatte, als er die Arbeit des Analytikers mit der eines Chi- rurgen verglich. Wie schon gesagt, ist die kleinianische Technik für die Überle- gungen in diesem Vortrag maßgebend. Paula Heimann beschreibt die Gegenüber- tragung als Resultat der projektiven Identifizierung des Patienten, benutzt diesen Begriff allerdings nicht, sondern sagt, dass die Gegenübertragung die »Schöpfung des Patienten« sei. Wir könnten auch fragen, ob der Vortrag vielleicht einen frü- hen Versuch zu erkennen gibt, die klassische Berliner Ausbildung mit der kleinia- nischen Lehre zu vereinbaren, der sie 1949 ganz offensichtlich verpflichtet war. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ihr erster Lehranalytiker, Theodor Reik, 1948 in seiner Studie über die Aufgaben des Analytikers in der analytischen Situation die Formulierung »Hören mit dem dritten Ohr« geprägt hatte.12 Wäh-

10 Vgl. King & Steiner 2000 (1991). [A. d. Ü.] 11 Siehe 4. Kapitel. [A. d. Ü.] 12 Paula Heimann hat ein Buch Theodor Reiks, das sich in ihrem Nachlass fand, mit einer kur- zen Notiz versehen. Sie schreibt, er habe die Gabe besessen, das Unbewusste für sie lebendig werden zu lassen. Mit der negativen Übertragung aber habe er weniger gut umgehen können. Und weiter schreibt sie: »Er nannte mich ›sein Siegerpferd‹; das muss man sich vorstellen!«

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rend Paula Heimanns frühe Beiträge belegen, dass sie sich konsequent an der klei- nianischen Objektbeziehungstheorie orientierte (und die Konflikte betonte, die von Geburt an aus den nach außen abgelenkten Todestriebimpulsen resultieren), bezeichnete sie es von Anfang an mit Nachdruck als Aufgabe der psychoanalyti- schen Behandlung, die Eigenständigkeit des (als Selbst aufgefassten) Ichs, sein Erstarken, seine Erweiterungen und die Verbesserung seiner Wahrnehmungs- funktionen zu unterstützen. In ihrem klinisch orientierten Mitgliedsvortrag (1939/1942)13 diskutiert sie Sublimierung und Kreativität und vertritt die Ansicht, dass die unbewussten Phantasien über feindselige, gegen das innere Objekt gerichtete Impulse das Ich des Patienten daran hindern, seine kreativen Strebungen, die sie als »Trieb zu schöpferischer (prokreativer) Tätigkeit« bezeichnet, zu verwirklichen. Die Wie- derherstellung dieser beschädigten und ihrerseits destruktiven inneren Objekte ermöglicht es dem Ich, sie zu assimilieren, und setzt auf diese Weise die Ich- Fähigkeiten frei. Im Jahr 1955 stand Paula Heimann, wie sie 1978 in ihrem Einleitungsentwurf schrieb, der Kleinschen Theorie und Technik bereits seit einiger Zeit kritisch ge- genüber. Die Meinungsverschiedenheiten blieben jedoch intern und waren ledig- lich den Mitgliedern der kleinianischen Gruppe bekannt. In ihrem wichtigen, wohlbekannten Vortrag »Die Dynamik der Übertragungs- deutungen« (1955/1956)14, den sie auf dem 19. Internationalen Psychoanalytischen Kongress hielt, argumentierte sie weiterhin im kleinianischen Bezugsrahmen (feindselige Impulse werden von Geburt an gegen Objekte gerichtet); trotzdem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass ihr technisches Vorgehen sowie ihr Ver- ständnis der Ziele der psychoanalytischen Behandlung sich veränderten. Sie sah es als Aufgabe des Analytikers an, zum Ergänzungs-Ich des Patienten zu werden, das jene Ich-Funktionen, vor allem die Wahrnehmung, vorübergehend erfüllen kann, die durch die unbewussten feindseligen, gegen das innere Objekt zielenden Impulse des Patienten beeinträchtigt werden. In den Übertragungskommunikati- onen wird die eigene innere Welt für den Patienten unmittelbar gegenwärtig und lebendig. Die letzten Absätze des Vortrags aber verweisen schon eindeutig auf Paula Heimanns Richtungswechsel. Sie beschreibt analytische Situationen, in denen der Patient nicht in der Übertragung empfindet und spricht, sondern unter starker emotionaler Beteiligung Erinnerungen schildert, welche zeigen, dass er

13 Siehe 1. Kapitel. [A. d. Ü.] 14 Siehe 7. Kapitel. [A. d. Ü.]

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die ursprünglichen Objekte, die er aufgrund seiner eigenen feindseligen Impulse verloren hatte, wieder wertschätzen kann. Sie schreibt: »[S]ie sind für ihn lebendig und gegenwärtig, werden als wesentlicher Teil seiner selbst und seines Lebens empfunden, auch wenn sie möglicherweise schon tot sind. […] Traurigkeit und Reue enthalten einen Funken Glück.« Der Analytiker sollte solche Äußerungen des Patienten, so Paula Heimann, nicht als Übertragung deuten; sie empfiehlt ihm vielmehr, in diesen Situationen Zuhörer und Zuschauer zu bleiben, ein Begleiter, dessen Gegenwart der Patient akzeptiert und den er an seinen Erfahrungen teil­ haben lässt. (In der modernen Terminologie formuliert, signalisieren Situationen wie diese, dass der Analytiker, wenn überhaupt, nur solche Deutungen anbieten sollte, die den emotionalen Zustand des Patienten spiegeln.) Paula Heimann be­­ trachtete es ausdrücklich als Ziel der gesamten Übertragungsarbeit, den Patienten zu befähigen, »das verlorene ursprüngliche Objekt wiederzufinden«. Dies ist der erste gedruckte Hinweis darauf, dass sie zu gegebener Zeit Karl Abrahams (1982 [1916]) Annahme einer frühen prä-ambivalenten Entwicklungsstufe wiederauf- greifen wird, gegen die Melanie Klein das Postulat der von Geburt an auftauchen- den Konflikte des Lebens- und des Todestriebs vertreten hatte. 1969 ergänzte Paula Heimann die französische Publikation ebendieses Vortrags durch ein Postskriptum, um zu erläutern, in welchen Aspekten sich ihre Ansich- ten im Laufe der seit der Erstveröffentlichung vergangenen zehn Jahre aufgrund ihrer klinischen Erfahrungen verändert hatten.15 Ebenfalls auf dem Kongress des Jahres 1955 stellte Melanie Klein ihr Konzept des angeborenen Neides vor, den sie als einen auf das Objekt bezogenen und als Teil des abgelenkten Todestriebs aktiven Impuls beschrieb; 1957 veröffentlichte sie die Arbeit in Envy and Gratitude. Nach dem Kongress trennte sich Paula Heimann offiziell von der kleinianischen Gruppe. Sie wurde von Sylvia Payne eingeladen, sich den Analytikern der British Psycho-Analytical Society anzuschließen, die wir heute unter der Bezeichnung »Independent Group« kennen. Paula Heimanns Kri- tik am Konzept des primären Neides wurde und wird von vielen nicht-kleiniani- schen Analytikern geteilt: Der Neid ist ein kompliziertes Gefühl, das eine schon fortgeschrittene Entwicklungsstufe voraussetzt. Anzunehmen, dass er von Ge­­ burt an aktiv sei und Einfluss ausübe, bedeutet, so Paula Heimann (1961/1962 a),16 ihn als Trieb zu kategorisieren und das Neidkonzept an die Stelle von Freuds Triebkonzept zu setzen. Ihre Kritik an dem kleinianischen Verständnis ging aber

15 Siehe 18. Kapitel. [A. d. Ü.] 16 Siehe 11. Kapitel. [A. d. Ü.]

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noch wesentlich weiter; sie beschränkte sich nicht auf die Frage, ob man den Neid als einen angeborenen Aspekt des Todestriebs rekonzeptualisieren könne. 1957 hielt Paula Heimann auf dem 20. Internationalen Psychoanalytischen Kon- gress einen zweiten Vortrag über Sublimierung und Kreativität, »Bemerkungen zur Sublimierung« (1957/1959).17 Hier stellte sie bereits die meisten Aspekte ih­­ rer Neuorientierung vor, an der sie bis ans Ende ihres Berufslebens festhalten sollte. Ich habe schon erwähnt, dass sie in ihrer ersten Arbeit zur Sublimierung (1939/1942) das von Hemmungen und Einschränkungen befreite Ich als eigentli- ches Ziel der Arbeit mit den Übertragungsmanifestationen der vorwiegend feind- seligen inneren Objektbeziehungen betonte, die beschädigt und ihrerseits schädi- gend in den unbewussten Phantasiekonfigurationen auftauchen. Im Einklang mit dem kleinianischen Denken benutzte sie damals das Strukturmodell des Ichs (Freud 1923b), das heißt: Das Ich entwickelt sich sekundär aus dem Es; es bildet dessen Oberfläche und wird durch die Einwirkungen äußerer wie auch innerer Stimuli verändert. Die Kleinianer nahmen damals an, dass sich unbewusste (Es-) Phantasien im Laufe der Zeit zu Ich-Mechanismen entwickeln. In ihrer zweiten Arbeit über die Sublimierung, dem Vortrag von 1957, revidierte Paula Heimann die Verwendung von Freuds »erstem« – wie sie es nannte – Ich-Modell und führte sein »zweites« Ich-Modell aus seiner späten Schrift »Die endliche und die unend­ liche Analyse« (Freud 1937 c) ein. Hier korrigierte er ein Missverständnis bezüg- lich der vermeintlichen »Schwäche des Ichs« und erklärte, wie Paula Heimann (1965/1966)18 in einem eigenen, weiteren Beitrag noch einmal hervorhob, dass sowohl das Ich als auch das Es primäre Entitäten seien, die anfangs als ein undiffe- renziertes Ich/Es existieren. Nicht nur das Es, sondern auch das Ich besitzt ange- borene Eigenschaften, die, so Paula Heimann, ihrer eigenen Entwicklungslinie folgen. Sie übernahm aus Freuds Schrift auch seine revidierte Klassifizierung der Triebe; das heißt, die somatischen, im Es lokalisierten Triebe müssen von den pri- mären Mächten des Lebens und des Todes unterschieden werden, die nicht auf eine einzige psychische »Provinz« begrenzt sind. Dies ermöglichte es ihr, Kon- flikte in sämtlichen Bereichen des psychischen Lebens zu postulieren und ebenso wie Hartmann anzunehmen, dass das Ich über seine eigene Energie verfügt; sie war aber nicht genötigt, Hartmanns Konzept einer konfliktfreien Sphäre im Ich zu übernehmen. Wenn man versucht, Paula Heimanns Umorientierung zu beurteilen, könnte

17 Siehe 8. Kapitel. [A. d. Ü.] 18 Siehe 16. Kapitel. [A. d. Ü.]

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man zu dem Ergebnis kommen, dass sie den Bogen zurück zu ihrer ersten, klas- sisch-freudianischen Ausbildung geschlagen habe. Doch obwohl sie in ihren Pub- likationen fortan besonderen Wert legt auf die Erforschung des Ichs in seinen Aktivitäten, aber auch als »Ich« (das sie später, 1975, als das »Selbst« bezeichnete)19 in seinen theoretischen und technischen Aspekten – das dynamische Geschehen und die interpersonalen Kommunikationen des Patienten und des Analytikers in der psychoanalytischen Situation –, bleibt sie der frühen Objektbeziehungstheo- rie und der Triebtheorie verpflichtet. Ihre Beiträge sind Versuche, diese drei As­­ pekte der psychischen Struktur und des dynamischen psychischen Geschehens in ihren konzeptuell separaten, aber miteinander verknüpften Entwicklungslinien zu verbinden und sie auf den Gegenstand ihres jeweiligen Beitrags anzuwenden. Diese Entwicklung ihrer Vorgehensweise gibt in der Tat eine »veränderte Arbeitsphilosophie« zu erkennen, wie sie es formulierte, als sie 1978 die Einlei- tung zu ihren »Gesammelten Schriften« entwarf. Doch nicht nur ihre Arbeitsphi- losophie, auch ihr Schreibstil hatte sich verändert. Eine Bemerkung über die Deu- tung mag dies illustrieren: Sie sagte, dass eine Deutung einen kreativen Gedanken, eine neue Dimension beisteuern müsse, die das Denken des Patienten weiter- bringe und seine eigene kreative Fähigkeit, mit dem Analytiker partnerschaftlich zusammenzuarbeiten, anrege. Paula Heimanns Arbeiten sind gleichfalls kreative Beiträge, die psychoanalytische Konzepte voranbringen und gleichzeitig gedank- liche Weiterentwicklungen und Neueinschätzungen anregen. In einem Brief an den Verleger schrieb sie 1978, er solle wissen, dass ihre Arbeiten »unkonventio- nell« und deshalb mancherorts unbeliebt seien. In ihrem Vortrag »Bemerkungen zur Sublimierung« (1957/1959)20 postulierte sie ein primäres Verlangen des Ichs, im weitesten Sinn schöpferisch zu sein; Aus- druck findet dieses Verlangen in der sublimierenden Ich-Aktivität. Paula Hei- mann führte die Sublimierung auf zwei Quellen zurück. Die eine hängt mit der Objektliebe und mit den Konflikten in Objektbeziehungen zusammen und dient deren Bemeisterung. Dies ist die Sublimierung als Triebschicksal und als Abwehr. Dazu zählt der Drang, beschädigte Objekte wiederherzustellen und die verlore- nen ursprünglichen Objekte wiederzufinden. Die andere, gleichermaßen wich- tige Quelle ist ein spontaner, dem Ich (Selbst) angeborener Prozess, der danach strebt, sich im Sublimierungsvorgang und seinem Objekt zu objektivieren. Paula

19 Vgl. 21. Kapitel, in dem P. Heimann »das Konzept ›Selbst‹« als »sehr hilfreich« bezeichnet, »weil es dem unmittelbaren Erleben näher und zudem umfassender ist als die Begriffe ­›Subjekt‹ oder ›Ich‹«. 20 Siehe 8. Kapitel. [A. d. Ü.]

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Heimann erwähnt Marion Milner (1957), die einen ähnlichen schöpferischen Pro- zess beschrieben hatte, während andere Autoren jener Zeit, die sich mit Kreativi- tät und Sublimierung beschäftigten, vor allem die Rolle betonten, die der Wieder- gutmachungsdrang für die Sublimierung spielt. Sie untersucht in ihrem Vortrag die mannigfachen Konflikte,Ängste und Schmerzen, aber auch die Freude und Befriedigung, die das Ich in einem im weitesten Sinn schöpferischen Prozess er­­ lebt, und verweist auf die »Regression im Dienste des Ichs« (Kris 1952), die Künst- ler bei ihrer Arbeit gewöhnlich durchlaufen und erleben. In diesem Zusammen- hang deutet sie bereits auf ihr revidiertes Konzept der frühen Entwicklung voraus, das sie in ihrer Arbeit »Bemerkungen zur frühen Entwicklung« (1958)21 detaillier- ter darlegte; auch ihr neues Verständnis des Narzissmus, ausführlich erläutert in »Bemerkungen zur analen Phase« (1961/1962 b [siehe 12. Kapitel]), deutet sich indi- rekt schon an. In einer Randnotiz zu einem Sonderdruck der 1959 veröffentlichten deutschen Übersetzung schrieb sie 1978: »Narzissmus wird nicht erwähnt, nur umschrieben, warum?« In diesen drei Arbeiten (1957/1959, 1958, 1961/1962) legte Paula Heimann ihre revidierten Annahmen dar; sie enthalten auch eine Kritik an den damaligen klei- nianischen Konzepten. Paula Heimann hat ihre Sichtweisen nie in einem umfas- senden Artikel systematisch beschrieben, einzelne Aspekte aber vor allem in ihren Diskussionsbeiträgen auf den Internationalen Psychoanalytischen Kongressen (1961, 1963 und 1965) im Zusammenhang mit den jeweiligen Diskussionsthemen erläutert. 1965 scheint sie jedoch in der Psychosomatischen Universitätsklinik ein Seminar über einige der kleinianischen Konzepte angeboten zu haben. In ihrem Nachlass fand sich ein sehr schlecht getipptes und stellenweise unverständliches Typoskript, dem entweder eine Tonbandaufzeichnung oder vielleicht auch stenographische Notizen einer Sekretärin zugrunde liegen. Ich werde einen Teil dieses Materials heranziehen, wenn ich im Folgenden einige ihrer markanten Neubewertungen kleinianischer Konzepte erläutere.

Frühe Entwicklung

Paula Heimann revidierte ihre Sicht der ersten Lebensmonate und begriff sie als eine undifferenzierte Entwicklungsphase der maximalen Hilflosigkeit des Säug- lings, in der die mütterliche Fürsorge in der objektiven Erfahrung Mächte des

21 Siehe 9. Kapitel. [A. d. Ü.]

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Lebens und des Todes repräsentiert, während das »Selbst« subjektiv in körperli- chen Sensationen erlebt wird, die die Matrix der frühesten psychischen Erfahrun- gen bilden und Erinnerungsspuren – von ihr als »somatische Erinnerungen« be­­ zeichnet – zurücklassen. Im subjektiven Erleben ist dieser Zustand objektlos, eine Verschmelzung mit der mütterlichen Umwelt; alles Gute wird dem Ich zuge- schrieben, alles Unlustvolle, Schmerzhafte einem Nicht-Ich – ganz so, wie Freud es in seinen Entwicklungsübersichten dargestellt hatte. Dies ist die ursprüngliche, kurzlebige Form der vom Lustprinzip gesteuerten Omnipotenz, die den psychi- schen Apparat befähigt, herbei zu halluzinieren, was immer gewünscht wird. Paula Heimann kehrte zum Konzept des primären Narzissmus zurück, erkannte aber auch die große Bedeutung der Versorgung und Förderung durch die Umwelt an. In Winnicotts Sprache ausgedrückt: Die Stillmutter hält das Ich des Babys. In Paula Heimanns freudianischer Sprache: Die Mutter hält die Mächte des Lebens und des Todes. Paula Heimann erläutert auch, dass Freud selbst im Jahre 1911 das Konzept des vom Lustprinzip beherrschten primär-narzisstischen Zustands eine »Fiktion« nannte, weil kein Säugling ohne die Mutterpflege auch nur kurze Zeit überleben könnte. 1965 arbeitete sie ihre Auffassung der frühesten Entwicklung weiter aus, indem sie beschrieb, dass die ersten Abwehrmechanismen gegen somatische Unlustempfindungen entweder primitive Formen der Abwehr sind oder aber auf einer Verschiebung der Besetzung vom Sitz der Unlust auf den Sitz der Lust beruhen, die mit positiven oder negativen Halluzinationen einhergeht. Wenn sich diese primitiven Abwehrmaßnahmen aber erschöpft haben, erleidet der Säugling in seinem objektlosen Zustand ein somatisches Trauma, das er als Vernichtung oder als Sterben erlebt. (Winnicott spricht von »undenkbarer« Angst.) Zustände höchster Lust hinterlassen genauso wie somatische Traumata somatische Erinnerungen, die im späteren Leben als Gefühl der Glückseligkeit, der Wiedergeburt oder als das Gefühl, tot zu sein, reaktiviert werden können (Heimann 1975 a).22 In ihrem Vortrag »Bemerkungen zur analen Phase« (1961/1962 b)23 untersuchte Paula Heimann noch einmal die Triebentwicklung und betonte die verschiedenen Entwicklungsphasen mit ihren je spezifischen Konflikten und Traumata, die die Entwicklung der Objektbeziehungen, aber auch die des Ichs und seine narzissti- sche Orientierung beeinflussen. In diesem Zusammenhang übt sie Kritik an jeder einseitigen Betonung der frühen Oralität. Im selben Beitrag formuliert sie auch

22 Siehe 21. Kapitel. [A. d. Ü.] 23 Siehe 12. Kapitel. [A. d. Ü.]

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