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DreiDrei BundeslöschtageBundeslöschtage

Helmut Kohl verspielt die Reste seiner Reputation, die er eigentlich retten will. Dass in seinem Kanzleramt systematisch Daten gelöscht wurden und Akten verschwanden, macht die Parteispenden- zur Staatsaffäre. Er selbst sieht sich mehr denn je als Opfer einer Diffamierungskampagne.

ie CDU machte ihren Laden dicht. Trutzig hatte er tags zuvor in Berlin wie- benen Vertuschung. Und wie einst der

Jahrzehntelang waren die roten, drei der einmal vor glotzenden Kameras und amerikanische Präsident Richard Nixon REUTERS DMeter hohen CDU-Leuchtbuchsta- drängenden Journalisten gestanden. Dies nicht eigentlich wegen eines lachhaften ben auf dem Dach des Konrad-Adenauer- hätte sein großer Auftritt werden sollen, Einbruchs im Watergate-Hotel von Wa- Hauses an der Bundesstraße 9 so etwas wie der Augenblick seines Comeback als Kanz- shington D. C. aus dem Amt vertrieben das Wahrzeichen der Bonner Republik. ler der Einheit, als Ehrenbürger Europas wurde, sondern weil er im Weißen Haus Bonn, das konnte jeder sehen, war die CDU. und als Weltstaatsmann. Mit schwimmen- ein Netz aus Vertuschungen, Lügen und Und die CDU, mochte sie sich auch auf den Augen versicherte er: „Der alte Elefant Verleumdungen spann, um die Aufklärung Adenauer berufen, war . kann kämpfen.“ zu behindern – so droht Helmut Kohl die Am vergangenen Freitag übergab Ange- Sieben Monate lang hatte er darauf ge- Reste seiner Reputation und seine histori- la Merkel die Buchstaben dem Haus der wartet, vor dem parlamentarischen Aus- sche Rolle zu verspielen, weil unter seiner Geschichte. „Mit Wehmut“, wie sie sagte. schuss zur Regierungskorruption, der nach Verantwortung im Kanzleramt Beweis- Doch so wenig sich Helmut Kohl für mu- seiner Auffassung nichts anderes im Sinn material vernichtet wurde. seumsreif hält, so sperrig erwiesen sich hat, als ihn „politisch fertig zu machen“ Auf die Frage, ob die Regierung Kohl auch die geschichtsträchtigen Wahrzeichen und seine Glanztaten aus der Geschichte politische Entscheidungen gegen geschäft- seiner Macht. Die Ungetüme, jeder Buch- auszulöschen, die Rehabilitation zu er- liche Vorteile getroffen habe, ob der Kanz- stabe wiegt 300 Kilo, sprengen durch schie- zwingen. „Wenn es nach denen ginge“, sag- ler Helmut Kohl käuflich gewesen sei, gibt re Größe die Ausstellung übers Nachkriegs- te er verächtlich, „hätte es eine Ära Kohl es seit vergangener Woche kaum konkre- Deutschland. Sie wurden in eines der Au- nie gegeben.“ Abrechnen wollte er, die Sa- te neue Antworten, dafür aber sehr viel ßendepots gekarrt. che „austragen“, die Dinge zurechtrücken. präzisere und gewichtigere Fragen. Die So ähnlich hatte es die Partei auch mit Stattdessen endete der Tag mit einem Bonner Staatsanwaltschaft, die ihn – wie Helmut Kohl vor. Zu besonderen Gele- Eklat. Das System Kohl flog noch einmal eine von ihr jetzt herausgerückte Rede genheiten, wie dem 10. Jahrestag der Deut- auf, wieder hatte er Parteifreunde zu Kom- des CDU-Generalbevollmächtigten Uwe schen Einheit am 3. Oktober, wollten die plizen gemacht. Lüthje enthüllt – schon 1986 einmal am Christdemokraten ihn noch einmal aufpo- Der Beitrag des Altkanzlers zur Auf- Rande des Rücktritts hatte, ist ihm auch lieren und vorzeigen. Aber auch Kohl ist zu klärung erwies sich, brutalstmöglich, als jetzt wieder auf den Fersen. Damals ent- sperrig. Cover up – als Teil einer zielstrebig betrie- ging Kohl offenbar nur durch Vertuschung

22 der spiegel 27/2000 Zeuge Kohl vor dem Untersuchungsausschuss, Pressekonferenz in Berlin: „Der alte Elefant kann kämpfen“ und Falschaussagen seines Weggefährten leiter.“ – „Sie waren es.“ – „Ich war nie Person gehe, das würde er wegstecken. Lüthje einer drohenden Anklage, die ihn Amtsleiter.“ „Dass hier der Plan besteht, mich zu rui- das Amt gekostet hätte. Mit der Realität hatte Helmut Kohl schon nieren, das ist eine Sache. Das spürt ja je- M. URBAN Dass die Bonner Ermittler jetzt wieder immer seine Schwierigkeiten. Aber nie der.“ Doch das entlockt ihm nur ein la- im Berliner Untersuchungsausschuss den schien er weiter davon entfernt als an die- chendes Aufbellen. Diese Art von Berufs- Verhandlungen folgen, beunruhigt Kohl zu sem düsteren Donnerstag in Berlin, an dem risiko hat einer wie er, der sieben Jahre Re- Recht. Nach dem Bericht des Regierungs- er sich als das Opfer einer „Heimsuchung“ gierungschef in Mainz war, 16 Jahre Kanz- beauftragten über die Da- von geradezu biblischem Ausmaß präsen- ler, 25 Jahre Parteivorsitzender, 41 Jahre tenvernichtung in Kohls Kanzleramt ha- tierte, als Prügelknabe der Geschichte, ge- Abgeordneter, sozusagen verinnerlicht. ben die Ermittler reichlich neues Material. hetzt und diffamiert von einheitsfeindlichen Nein, hier geht es um mehr. Die Diffa- Aus dem CDU-Parteispendenskandal ist Sozialdemokraten, grünen Verfassungsfein- mierung ziele darauf, sagt Helmut Kohl, eine Regierungsaffäre Helmut Kohl ge- den, gesinnungsschnüfflerischen Medien- „dass ich aus der Geschichte verschwinde“. worden, was der „abwegig“, „böswillig“ meuten, verantwortungslosen Richtern und Aber sollen sie doch mal hingehen nach Pa- und „absurd“ findet. Was hat er mit der Staatsanwälten und nicht zuletzt von Ver- ris, nach Rom, nach London, nach Moskau Daten-Unterschlagung im Kanzleramt zu rätern in den eigenen Reihen. „Die Bremer und die Leute fragen, die dort Verantwor- tun?„Sie sind Amtsleiter“, warf ihm ein Stadtmusikanten“ – jene CDU-Führer von tung tragen – die würden sie schon eines Journalist vor. Kohl: „Ich bin nicht Amts- Heiner Geißler über Lothar Späth bis zu Besseren belehren. Dass der amerikanische Rita Süssmuth, die ihn 1989 Präsident Bill Clinton, dass der neue Kreml- auf dem Bremer Parteitag Chef Wladimir Putin und auch der franzö- stürzen wollten – seien in die- sische Staatspräsident Jacques Chirac ihn ser Woche fast vollständig in Berlin aufsuchten, hat Helmut Kohl in wieder aufgetaucht. In Kohls seiner historischen Rolle bestätigt. „Kamp- Augen vereinigen sich alle zu feslüstern“ ist er nun, aufgetaucht aus einem einer beispiellosen Diskri- „tiefen Tal“ und bereit zum letzten Gefecht. minierungskampagne gegen „Jetzt gehen wir ja auf den 3. Oktober ihn: „Mit Rechtsstaat hat das zu. Und jetzt fangen wieder die Leute an nichts zu tun.“ zu fragen: Wie war das eigentlich vor zehn Wenn es doch, spottet Jahren? Und alle, die vor zehn Jahren gar

SPIEGEL TV Kohl, wenigstens um seine nicht da waren, sind jetzt unterwegs, um den, der da war, zu demontieren.“ Aktenlager im Kanzleramt Aber noch immer tut keiner so viel für Im Schredder verschwunden die Demontage seiner eigenen Denkmals- 23 Titel

Untersuchung gewesen. Er bringt die Menschen, die ihm vertrauten und ihm treu und ergeben im Kanzleramt ge- „Ein schwarzes Loch“ dient haben, in Verruf. SPIEGEL: Sie haben über drei Monate Sonderermittler Burkhard Hirsch über die hinweg mit 79 Mitarbeitern des Kanz- leramtes gesprochen. Stießen Sie auf Aktenvernichtung im Kanzleramt unter Helmut Kohl hinhaltenden Widerstand oder auf wil- und die Konsequenzen aus seinem Bericht lige Zusammenarbeit? Hirsch: Das war sehr unterschiedlich. SPIEGEL: Herr Hirsch, wie muss man SPIEGEL: Für die Löschung der Daten- Ich habe eine ganze Reihe Beamter sich nach Ihrem Bericht den deutschen bestände hat der damalige Kanzler- angehört, die zu einem möglichst Beamten vorstellen – als jemanden, für amtschef Friedrich Bohl die politische objektiven Ergebnis der Untersuchung den Regierungsdokumente den Wert Verantwortung übernommen. beizutragen versuchten. Aber es gab alter Zeitungen haben, die er nach Be- Hirsch: Es nützt den betroffenen Be- genauso viele Mitarbeiter, die sich lieben in den Schredder werfen kann? amten nichts, dass der Vorgesetzte hin- nicht mehr erinnern wollten. Ich bin Hirsch: Die ganz überwiegende Zahl terher sagt: „Ich übernehme die politi- sicher, dass wir nicht immer die der Beamten des Kanzleramtes haben sche Verantwortung.“ Da muss man Wahrheit hörten. Ich war erstaunt, dass loyal, fair und treu ihren Dienst ver- fragen: Wem gegenüber und womit? bei einzelnen Mitarbeitern das Ge- richtet. Aber es hat auch Beamte gege- Was ergibt sich daraus für ihn konkret? dächtnis offenbar gegen null ten- ben, die sich weit mehr mit der politi- Bleibt das ein Wort? dierte, was man von Beamten dieser schen Leitung und deren Po- Gehaltskategorie nicht er- litik identifiziert haben, als ih- wartet. nen zukommt. SPIEGEL: Mussten Sie im Lauf SPIEGEL: Sie konnten die Ma- der Ermittlungen Ihre Strate- nipulation und Vernichtung gie ändern? von Akten und Daten im Hirsch: Ich habe am Anfang Kanzleramt rekonstruieren, mit mehr Offenheit gerechnet. aber nicht, wer dafür verant- Ich entschloss mich dann sehr wortlich ist. schnell, möglichst viele Ak- Hirsch: Dieser Eindruck ist tenkenntnisse zu sammeln. falsch. Die Ermittlungen ha- Mit den Befragungen habe ich ben keinen Hinweis darauf in der Registratur angefangen, ergeben, dass die politische also bei den Leuten, die mit Leitung Anweisungen zur Da- den Akten umgehen, und ich tenlöschung oder Aktenmani- habe mich von da auf die Lei- pulation gegeben hat. Aber tungsebene hochgefragt.

ich kann ziemlich genau ein- M. S. UNGER SPIEGEL: Mussten Ihnen ei- kreisen, wer zum Beispiel die Sonderermittler Hirsch: „Feindliche Übernahme“ gentlich die Mitarbeiter Rede Computerdaten tatsächlich und Antwort stehen? gelöscht hat. Das gilt auch für Verän- SPIEGEL: Vergange Woche trumpfte Hel- Hirsch: Nein. Deshalb haben wir die derungen an Akten oder das Ver- mut Kohl vor dem Untersuchungsaus- Mitarbeiter nach allen Regeln der schwinden von Originalen. Man kann schuss mit detaillierten Kenntnissen zu Kunst belehrt und dies in jedem ein- ziemlich genau lokalisieren, in wessen einzelnen Vorgängen wie der Privati- zelnen Fall dokumentiert. Bereich – es ist immer derselbe – be- sierung der Eisenbahnerwohnungen SPIEGEL: Gab es auch Beamte, die nicht stimmte Akten landeten und dann nicht während seiner Regierungszeit auf, um mit Ihnen sprechen wollten? mehr auffindbar waren. den Vorwurf der Käuflichkeit zu ent- Hirsch: Es hat zwei Fälle gegeben. Ein SPIEGEL: Auf wessen Anordnung? kräften. Spiegelt sich sein Wissen in Zeuge sagte von Anfang an: „Ich rede Hirsch: Es gibt verschiedene Ebenen, Ihren Ermittlungsergebnissen wider? nur in Gegenwart eines Anwalts“, der die Verantwortung tragen können. Es Hirsch: Nein, wenn man die Aussage andere wollte von einem bestimmten ist jedoch ungewöhnlich, dass ein nach- mit den Akten vergleicht, ist man ziem- Zeitpunkt an nur noch schriftliche Fra- geordneter Beamter auch in seinem lich verblüfft. Gerade zu diesem Vor- gen beantworten. übergeordneten Bereich Daten löscht, gang sind für das entscheidende Jahr SPIEGEL: Hat das System Kohl auch sei- ohne dass sein Vorgesetzter das weiß. 1998 im Kanzleramt lediglich vier Blatt ne Beamten infiziert? SPIEGEL: Gab es diesen Schwund quer Papier erhalten. Von Kohl findet sich Hirsch: Wenn eine Partei anfängt, sich durch die Abteilungen oder nur bei der keine Paraphe, auch keine Leitungs- mit dem Staat gleichzusetzen, also ihn Abteilung im Kanzleramt, die für die vorlage an den Chef des Amtes, ob- als ihr Eigentum betrachtet, dann setzt Privatisierungen der DDR-Betriebe zu- wohl wir wissen, dass es etwa sechs sich diese Sicht auch bei einem Teil der ständig war? Leitungsvorlagen gegeben haben muss. Beamten fort. Sie betrachten den de- Hirsch: Es gibt staatsanwaltschaftliche Nichts von dem, was Helmut Kohl so mokratisch notwendigen Wechsel als Ermittlungen und Disziplinarverfahren, kenntnisreich vorgetragen hat, ist in eine Art feindliche Übernahme des Un- da verbietet sich mir eine Konkretisie- den Akten erhalten. Sein Schweigen in ternehmens. Zu langer Machtbesitz ver- rung. Aber es gab wirklich ein relativ den zentralen Punkten und seine Wei- führt, und das Einzige, was uns vor den intensives schwarzes Loch und ein paar gerung, die anonymen Spender zu be- Folgen bewahrt, ist Transparenz und kleinere daneben. nennen, sind der Ausgangspunkt der Wechsel. Interview: Markus Dettmer

24 der spiegel 27/2000 version wie Helmut Kohl selbst, heute wie Wer war wer im Kanzleramt? Organisation zur Zeit der Aktenvernichtung gestern. Dass das System Bundeskanzler Kohl seit der vergange- Helmut Kohl nen Woche trotz seiner Proteste mehr denn je M. DARCHINGER diskreditiert ist, ist ge- Auswärtige Soziales, Agrar, Wirtschafts- und Gesellschaftliche Bundesnachrich- wiss nicht allein das Roll Beziehungen; Umwelt, Verkehr, Finanzpolitik; und politische tendienst; Koordi- Verdienst des Partei- Zentralabteilung; Entwicklungspolitik; Forschung Koordinierung Analysen; Kultur nierung der Nach- Innen und Recht äußere Sicherheit neue Länder richtendienste des spenden-Ausschusses. Bundes Vielmehr waren es die Ergebnisse einer inter- Leitung Leitung Leitung Leitung Leitung Leitung nen Untersuchung im Hans-Achim Roll Joachim Bitterlich Anton Wirmer Sighart Nehring Michael Mertes August Hanning Kanzleramt, die der 3 Gruppen 2 Gruppen 3 Gruppen 3 Gruppen 2 Gruppen 5 Referate ehemalige Bundestags- insgesamt insgesamt insgesamt insgesamt insgesamt vizepräsident Hirsch 9 Referate 7 Referate 8 Referate 10 Referate 5 Referate (FDP) geleitet hatte, die belegten, dass die Skrupellosigkeit im Umgang mit Recht und amts in Bonn weitergetragen. „Die“ – das griff auf alle Daten seiner Untergebenen. Gesetz in Kohls Regierungszentrale nicht war die politische Führungsebene, zu der Gezielte Löschungen wären also kein Pro- geringer war als im Adenauer-Haus. auch Abteilungleiter gerechnet wurden. Je- blem gewesen. „Flächendeckend, zentral und heim- ner kleine Kreis, der mit einer Scheckkar- Warum dann diese Hektik? Warum die lich“, fand Hirsch heraus, seien an drei te die Schleuse öffnen konnte, um in das ei- Löschung von zwei Dritteln des gesamten „Bundeslöschtagen“ nach der verlorenen gentliche Machtzentrum vorzudringen. Datenbestandes, wenn doch ganz gezielt Wahl 1998 die gespeicherten Daten ent- An einem Morgen dann war das Gerücht verräterische Daten hätten vernichtet wer- sorgt worden. Besonders gründlich räum- Realität. Nachdem der Computer hochge- den können? Warum wurden Banalitäten ten Unbekannte in den Büros von Kohl, fahren wurde, konnten viele im ehemali- wie Lebensläufe von ausländischen Politi- Kanzleramtsminister Friedrich Bohl sowie gen Amtssitz von Helmut Kohl nur noch kern gelöscht, wichtigere Sicherungskopi- den beiden Staatsministern die Restbestände an Daten auf dem Bild- en von Daten aber in einem Schrank ver- und auf. schirm bestaunen. Den meisten war klar, gessen? Trotz monatelanger Suche von Hirsch dass das „von oben sanktioniert ist“. Im Abteilungsbereich des Kanzerlamts, und seiner achtköpfigen Ermittlungsgrup- Vielen Fachbeamten im Regierungsbun- wo Fachreferenten an ihren Schreibtischen pe fanden sich praktisch überhaupt keine ker war das egal. Andere sahen sich wieder sitzen, wurden diese Fragen in den Tagen Akten mehr. Sogar die Posteingangsbücher in Nachtschichten vor dem Rechner sitzen, des Bonner Machtwechsels mit nachlas- sind verschwunden. Auch eine eigene elek- um Banalitäten zu rekonstruieren. Le- sender Intensität diskutiert. Wichtiger war tronische Registratur, mit der sich rekon- bensläufe von ausländischen Politikern die Umstellung auf die neue Mannschaft, struieren ließe, welche Aufträge die Haus- etwa, die für bevorstehende Staatsbesuche die mit Gerhard Schröder jetzt das Sagen spitze den Beamten erteilte und welche unerlässliche Orientierungshilfen sind. hatte. Die brisante Löschaktion wurde bald Vermerke sie zu sehen bekam, war getilgt. Wenige aber begannen mit wachsender auf einen zynischen Spruch reduziert: Die Der Vorgang begann als Gerücht. „Hast Verwunderung nachzudenken. Ihnen fiel Kohlschen Truppen wollten nicht, dass ir- du schon gehört? Die wollen die Compu- auf, das es im Kanzleramt ein ausgeklü- gendetwas den Russen in die Hände fällt. terdaten löschen!“ Diese dürren Sätze wur- geltes Kontrollsystem gab. Wer ganz oben Gleich zweimal, zuletzt exakt zum Re- den vom Flurfunk aus dem abgeschotte- über einen Computer verfügte, Friedrich gierungswechsel von Kohl zu Schröder, wur- ten Leitungsbereich des Bundeskanzler- Bohl zum Beispiel, hatte den direkten Zu- de das elektronische Gedächtnis der Amts- spitze „vollständig auf Null zurückgeführt“. Der zustän- dige Experte wurde umgan- gen. Zufall kann die Lö- schung nicht sein. Aus Si- cherheitsgründen war dieses Netz nicht an den zentralen Rechner gekoppelt. In Schmidbauers Büro traf, am Abend des Einzugs, Schröders heutiger Amtschef Frank-Walter Steinmeier eine Sekretärin des CDU- Staatsministers und Geheim- dienstkoordinators dabei an, wie sie – auf Strümpfen – Akten schredderte. Was da beim Großreine- machen in der Chefetage al- les verschwand, konnte Hirsch mit Hilfe von Com- puterexperten des Bundes- M. DARCHINGER SPEED amtes für Sicherheit in der Kohl-Mitarbeiter Schmidbauer, Bohl, Bitterlich: „Große Unruhe bei meinen Leuten“ Informationstechnik (BSI)

der spiegel 27/2000 25 Titel

Leuna-Werke: Keine profitable Raffinerie, bei der „die Investoren Schlange gestanden hätten“ zumindest teilweise rekonstruieren. So menhang mit Lieferung von ABC-Spür- Hirschs Bericht liegt seit dem vergange- machten die Spezialisten eine elektroni- panzern der Firma Thyssen an Saudi-Ara- nen Mittwoch bei der Bonner Staatsan- sche Registratur Bohls („Codename: Ma- bien“) sollten nicht zurückbleiben. waltschaft, die bereits seit Ende Januar we- terial wichtig“) wieder lesbar. Dass sich jetzt zumindest teilweise be- gen Verwahrungsbruchs in der einstigen K.-B. KARWASZ Zu den getilgten Dateien gehören dem- weisen lässt, was im Kanzleramt mal so al- Regierungszentrale ermittelt. Bisher lief nach Briefe der ehemaligen Umweltminis- les da war, liegt an einer Panne. Bei der Räu- das Verfahren nur gegen Unbekannt. Das terin und heutigen CDU-Chefin Angela mung des Kanzleramts vergaßen die Vertu- wird sich jetzt ändern. Ein Dezernent aus Merkel ebenso wie ein Schreiben der eins- scher, 99 Sicherungsbänder zu löschen, auf der Politischen Abteilung, in der schon das tigen CDU-Schatzmeisterin Brigitte Bau- denen Daten aus den Rechnern immer mal Untreue-Verfahren gegen den Altkanzler meister („Akte 1/5/94 „Fuchs“-Panzer für wieder abgespeichert worden waren. We- läuft, hat die Ermittlungen übernommen. China“). Auch Unterlagen über den mitt- der ordentlich beschriftet noch zentral ab- Geprüft werden jetzt auch die Tatbe- lerweile flüchtigen Ex-Rüstungsstaatsse- gelegt, hatte sich offenbar niemand an die stände der Urkundenunterdrückung und kretär Ludwig-Holger Pfahls („Vorgang Sts brisanten Datenträger erinnert. Nach und „Datenveränderung“. Es war Kohls Regie- a. D. Pfahls wg. Ermittlungsverfahren, Ver- nach stöberte die Hirsch-Truppe sie in Tre- rung, die diesen neuen Tatbestand – das dacht Schmiergeldzahlungen im Zusam- soren, Wandschränken und Regalen auf. Löschen, Unterdrücken und Verändern

Skandal-Chronik 2. Dezember 14. Januar Der setzt einen 15-köpfigen Untersu- Der frühere hessische CDU-Chef 1999 chungsausschuss zur Klärung der Finanzaffäre ein. räumt geheime Auslandskonten ein, von denen Millio- 4. November 9. Dezember nensummen an die Landespartei zurückgeflossen seien. Das Amtsgericht Augsburg erlässt einen Haft- Die Genfer Justiz stellt im Zusammenhang mit 18. Januar befehl gegen den Ex-CDU-Schatzmeister Walther dem Erwerb der ostdeutschen Leuna-Raffinerie Helmut Kohl legt den Ehrenvorsitz seiner Partei nieder. Leisler Kiep. Er wird verdächtigt, 1991 eine Million durch den französischen Konzern Elf Aquitaine 27. Januar Mark erhalten und nicht versteuert zu haben. ein Rechtshilfegesuch. Es soll geklärt werden, ob Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) erklärt, 5. November Schmiergelder in Millionenhöhe gezahlt wurden. dass seine Partei 1983 knapp 18 Millionen Mark in die Kiep erklärt, die Million sei in seinem Beisein als 16. Dezember Schweiz transferiert hat. Weyrauch tritt tags darauf aus Parteispende vom Lobbyisten Karlheinz Schreiber Kohl gesteht, zwischen 1993 und 1998 Spenden der CDU aus. an den damaligen CDU-Steuerberater Horst Wey- bis zu zwei Millionen Mark in bar illegal angenom- 30. Januar rauch in der Schweiz bar übergeben worden. men zu haben. Die Spender will er nicht nennen. Weyrauch bestätigt das illegale Finanzsystem 21. November 17. Dezember der hessischen CDU. Helmut Kohl weist den Vorwurf von Schmier- Es wird bekannt, dass wichtige Akten 31. Januar geldzahlungen bei der Lieferung von Panzern zur Aufklärung der Leuna-Affäre fehlen. Schäuble gerät abermals in Erklärungsnot wegen eines an Saudi-Arabien zurück. 30. Dezember weiteren Treffens mit Schreiber 1995. Die ehemalige 26. November Die CDU legt einen korrigierten Schatzmeisterin der Partei, , stellt Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler bestätigt Rechenschaftsbericht für 1998 vor. den Ablauf der Spendenübergabe anders dar als er. Berichte über geheime Parteikonten. 3. Februar 29. November 2000 Der frühere Bundestagsvizepräsident Der SPIEGEL berichtet über Verbindungen von 3. Januar Burkhard Hirsch (FDP) wird als Sonder- Weyrauch zur Hessen-CDU. Der Landesverband Die Bonner Staatsanwaltschaft eröffnet ermittler zur Klärung der verschwun- verbuchte Einnahmen in Millionenhöhe, die im ein Ermittlungsverfahren gegen Kohl. denen Leuna-Akten eingesetzt. Rechenschaftsbericht als „Vermächtnisse“ 10. Januar 8. Februar deklariert wurden. Der CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble erwähnt Koch gesteht, die Öffentlichkeit belogen 30. November in einem Interview, von Schreiber 1994 eine Geld- und den Rechenschaftsbericht der CDU Helmut Kohl übernimmt die politische Verantwor- spende von 100 000 Mark erhalten zu haben, die 1998 durch einen fingierten Kredit tung für das Führen verdeckter Konten der CDU. als „sonstige Einnahme“ verbucht wurde. manipuliert zu haben.

26 der spiegel 27/2000 Kohl wird alsZeuge DieSitzung vernommen. 29. Juni vernichtungen imKanzleramt. überdieAkten-suchungsausschuss undDaten- berichtet Hirsch Sonderermittler demUnter- 28. Juni ermittelt.hinterziehung Verdachts aufBeihilfezurUntreue undSteuer- Hürland-Büning(CDU) wirdAgnes wegen des Gegen diefrühere Verteidigungs-Staatssekretärin 19. Juni reiche Erinnerungslücken. hat vor demUntersuchungsausschuss umfang- BüroleiterinDie langjährige Kohls, Weber, Juliane 8. Juni gesammelt, umdenSchadenwiedergutzumachen. Helmut Kohl hat6,3MillionenMark anSpenden 9. März und Parteichef zurück. Schäuble trittalsFraktionsvorsitzender 16. Februar von 41,35 MillionenMark. verlangt von derCDU eineRückzahlung Bundestagspräsident 15. Februar DPA vor demUntersuchungsausschuss rundweg, nicht gegeben –juristisches Neuland also. einensolchenFallAber hatesbishernoch gigen Vorschriften undGesetze“ verstoße. von Computerdaten „gegen alleeinschlä- ber, dassauchdiesystematische Löschung Bundesarchivs inKoblenz, HartmutWe- lig genug: Zwar urteilt derPräsident des Verfügung zustellen. DennderFall istkniff- tokolle derZeugenvernehmungen eiligzur Staatsanwaltschaft zugesagt, auchdiePro- gesetzbuch hatte. eingefügt von Computerspeichern –1986 insStraf- Spürpanzer „Fuchs“ (inSaudi-Arabien): endet mit einem Eklat: Erräumtendet ein,Aus- mit einemEklat: Kohl bestritt indervergangenen Woche Schröders Kanzleramt hatderBonner schuss-Mitglieder zuvor zu schuss-Mitglieder getroffen haben. DieSpender-Namen verschweigt erweiterhin.

M.-S. UNGER „Vorgang Pfahls wg. Verdacht“ gesagt. Stattdessen schon einerge- hatsich dem Kanzleramt hatEntsprechendes aus- der von Hirschbefragten 79Zeugen aus nete, gibteswohl nicht. Keiner tatsächlich weitem übersteigende Löschorgie anord- sogar Kohl dieSaarlandschen-Ausmaße bei präsidenten Peter Müller. te sichdieRegierung desneuenMinister- fällig. Eindeutigrechtswidrig, empör- Mark gung von zwei Tonnen Papier waren 904,80 vernichtung GmbH“ ein.Für dieBeseiti- Akten- undDaten- der Firma „Reißwolf - Im Umweltministerium gingeineRechnung geschreddert undDaten gelöscht worden. schäfte übernahm, waren ebenfallsAkten Herrschaft imSaarland dieRegierungsge- im vergangenen Jahrnach14Jahren SPD- ler“ schonmalharscherbeurteilt: Alssie nend aufihre Tische. klopften beisovielKampfesmut anerken- len Möglichkeiten wehren.“ DieKollegen die Wand zunageln, werde ichmichmital- on auf.Bohl:„Wenn manversucht, michan machten, bliesersichinderUnionsfrakti- sein, dasseinzelne Mitarbeiter Fehler begegnete ermitunsicherem Lächeln. der ZeitungmitdemOriginal abglichen, Blicken derMitreisenden, diedasBildaus Foto, zusehenwar. Denforschenden denen seinName, oftmals nebenseinem zwischen Wänden ausTageszeitungen, in der 1.KlassedesICE 898duckte ersich nen Dienstagmorgen sichtlichunwohl. In ehemalige Kanzleramtschef amvergange- Doch dieFolgen behagten ihmwenig. nahm erdie„politische Verantwortung“. nicht veranlasst haben.Großmütig über- Auch Bohlwilldenumfassenden Datenkill Sicherheit keine Anweisung gegeben“. riös“ überprüfen. „mit Erhabejedenfalls nicht.“ mal„se- Dasmüssemanallesnoch was Hirschermittelt ich hat:„Das glaube Eine förmliche Weisung, dassBohloder In Wahrheit hatdieCDUsolche„Feh- Es könne dochschließlichimmermal Auf demWeg nachBerlin sichder fühlte der spiegel 27/2000

FRONTAL / ZDF (ob.); KLEIN (unt.) tagswahl –regte sich imAmtWiderstand. tember 1998 –drei Tage nachderBundes- nach derersten Löschaktion am30.Sep- mehr alsunwahrscheinlich. Dennschon derAktion machtdas Schon derAblauf sen Akten ungefragt verschwinden lässt? ben wird“. vielen Pharisäern undHeuchlern betrie- nur „eine groß angelegte Aktion,dievon ihn Kritik anseinemeinstigen Chefistfür dem Lübecker Weihnachtsmarkt auf.Die dal längstschwer angeschlagen war, auf dessen Ansehendurch denSpendenskan- nen November mitseinemEx-Kanzler, als ters inLübeck.Stolz trat erimvergange- dasAmtdesBürgermeis-– erfolglos –für aus derRegierungszentrale kandidierte er durch. Nach demerzwungenen Abschied sein dürfte, isteinKohl-Mann durch und digten beiderStaatsanwaltschaft inBonn den seien. Koalitionsverhandlungen entwickelt“ wor- gehabt haben,„die etwa vorsorglich für gen undpolitischenKonzepten“ imSinn Löschung von persönlichenAufzeichnun- Kanzleramts. aucherwillnur„die Aber ehemalige ChefderZentralabteilung des sich nehmenwill:Hans-Achim Roll, der funden, derdieganze Verantwortung auf Juristisches Neuland Juristisches Lobbyisten Holzer(o.),Kiep,Schreiber Ein treuer DienerseinesHerrn, derdes- Roll, derdemnächsteinerBeschul- 27 W. BAST Altkanzler Kohl, Staatschefs Clinton, Putin, Chirac in Berlin: „Wie war das eigentlich vor zehn Jahren?“

Den Beamten waren nach Dienstschluss Und während beim ersten Mal noch so in der Ära Kohl dienten, „ausführliche Ge- ungefragt von ihnen gespeicherte Doku- getilgt wurde, dass eine nachträgliche Re- spräche zu führen“, wie es in Schröders mente getilgt worden. konstruktion der Dateien mit der „Salva- Machtzentrale heißt. Bei Kohls damaligem Abteilungsleiter ge“-Funktion möglich war, wurde am 6. Im bereits eingeleiteten Bonner Ermitt- Außenpolitik Joachim Bitterlich erschie- und am 22. Oktober mit dem „Purge“-Mo- lungsverfahren müssten Zeugen mögli- nen ziemlich irritiert zwei Beamte. Was dus gekillt. Damit waren die Dateien un- cherweise unter Eid aussagen. „Mal sehen, denn das solle, man müsse doch schließlich rettbar verloren – das Werk von Fachleuten. ob sich dann jemand plötzlich wieder er- noch weiter hier arbeiten. „Das kann doch Wer letztlich die notwendigen Löschbe- innert“, sagt einer, der zur neuen Mann- nicht wahr sein, das muss ein Missver- fehle eingab und auf den Knopf drückte, schaft gehört. ständnis sein“, habe er, so Bitterlich, ihnen hat Hirsch bis heute nicht feststellen kön- Vorerst zeigte sich Kohl vom Ermitt- geantwortet. Die Beamten befürchteten, nen. Kohl will von Bohl nicht einmal von lungsbericht und von den möglichen Kon- dass wichtige Vorarbeiten für Regierungs- der Krisenrunde informiert worden sein. sequenzen unbeeindruckt. Im Ausschuss konferenzen und die bevorste- gab er sich einsilbig und ge- hende EU-Ratspräsidentschaft dächtnisarm, sobald es um Ak- der Deutschen einfach im Orkus ten, Kassen und Spenden ging. verschwänden. Bitterlich: „Es „Fehler“ hat er gemacht, das ja, war große Unruhe bei meinen wie oft muss er das denn noch Leuten.“ wiederholen? Aber alle Vorwür- Bitterlich, einer der engsten fe, seine Regierung sei „käuf- Kohl-Vertrauten, will zu Roll ge- lich“ gewesen, nannte er „ab- gangen sein und protestiert ha- surd“ und völlig „abwegig“. ben: „Ich war betroffen und be- Theoretisch sollte es vor Un- sorgt.“ Roll, erinnert sich Bitter- tersuchungsausschüssen zugehen lich, habe ihn beruhigt, es gehe wie bei Gericht. Die Abgeordne- nur um politische Konzepte. ten verfügen über die machtvol- Auch im Büro Bohl, so erzählt len Instrumente der Strafprozess- Bitterlich, sei er vorstellig gewor- ordnung. Sie können Zeugen den. Daraufhin trat beim Kanz- vereidigen, Akten beschlagnah- leramtschef, im Konferenzzim- men lassen und sogar wie Staats- mer für die so genannte kleine SPIEGEL-Titel 49/1999, 52/1999: Politische Entscheidungen … anwälte Beugehaft gegen Aussa- Lage, eine hochkarätige Runde geunwillige beantragen. Die Ver- zusammen – alle Abteilungsleiter. Schließ- Auch von den „erheblichen Diskussionen“ handlungen dürfen, wie bei Gericht, vom lich hatte auch schon der Personalrat inter- (Hirsch) im Amt will der damalige Kanzler Fernsehen nicht übertragen werden. veniert. nichts mitbekommen haben. In der Praxis aber sind die Mitglieder des Was wirklich besprochen wurde, hat Glauben muss man das nicht, wenn auch Ausschusses als Politiker natürlich nie neu- auch Hirsch nicht ermitteln können, ob- an der Legende kunstvoll gebastelt wird. tral. Das moniert Kohl zu Recht – wenn er wohl er nicht nur Bitterlich, sondern auch So sagte der damalige Leiter des Kanzler- auch zeitlebens ein Meister des von ihm be- dessen einstige Kollegen befragte. Ein büros bei Hirsch aus, der Befehl, die Com- klagten Missstands war. Vermerk oder gar ein Gesprächsprotokoll puter im direkten Umfeld Kohls zu putzen, Dem CDU-Obmann Andreas Schmidt lässt sich nicht finden. Fest steht nur, dass sei nicht vom Kanzler ausgegangen, son- erscheint es deshalb selbstverständlich, es anschließend noch schlimmer wurde. dern von Roll. Nur war der nicht einmal dass die Unionsvertreter sich nicht einmal Roll war natürlich dabei. Und der, so bi- sein Vorgesetzter. um den Anschein bemühen, irgendetwas lanziert Hirsch, sei „offenbar entschlos- Mit den Ermittlungen Hirschs ist das hei- aufklären zu wollen. Schmidt hat eine ein- sen“ gewesen, „alles löschen zu lassen, was kle Thema längst noch nicht abgeschlossen. deutige Berufsauffassung: „Es geht darum, nicht ausdrücklich als unbedingt zu erhal- Schröders Kanzleramtschef Steinmeier Schaden von der Union abzuwenden.“ ten gekennzeichnet worden war“. behält sich vor, mit Mitarbeitern, die schon Deshalb fanden sie es auch ganz selbstver-

28 der spiegel 27/2000 T. IMO / (li.); M. S. UNGER (re.) T. ständlich, dass Schmidt, wenn die Verneh- schon deshalb nicht geben, „weil ich keine Die Ausschussmitglieder hatten dazu mung wichtiger Zeugen anstand, in das Akten dazu veranlasst“ habe. noch keine Fragen. SPD-Obmann Frank Büro des Altkanzlers pilgerte, mal allein, Er habe damals auch bewusst ver- Hofmann konfrontierte Kohl stattdessen mal mit seinen Kollegen. Schmidt: „Ich bin schwiegen, dass er dem US-Außenminister mit einem brisanten Fund der Bonner freier Abgeordneter. Und ich lasse mir von James Baker diese Lieferungen verspro- Staatsanwaltschaft. keinem das Recht nehmen, Kollegen aus chen habe – ein geschickter Schachzug, der Die hatte, während einer Durchsuchung meiner Fraktion zu sprechen.“ Es seien die SPD demnächst in Befragungsnöte brin- beim einstigen Generalbevollmächtigten schließlich nur Daten über parteipolitische gen wird. Denn die Sozialdemokraten woll- der CDU-Bundesschatzmeisterei, das Ma- Vorgänge gelöscht worden, wiegelte er in ten Kohl damit konfrontieren, dass das The- nuskript einer Festrede sichergestellt, in der ZDF-Sendung „Berlin Mitte“ am vori- ma Spürpanzer für Saudi-Arabien weder der Lüthje seinen Freund Horst Weyrauch gen Donnerstag ab. in Bakers Memoiren noch in den amtlichen feierte – lange bevor die zweite Spenden- Daraufhin knurrte Hirsch, der ebenfalls Gesprächsprotokollen auftaucht, die Kohl affäre im November des vergangenen Jah- zur Sendung geladen war: Zwei Drittel al- anfertigen ließ. res begann. ler Computerdaten im Amt sei- Zum 65. Geburtstag des Hü- en getilgt worden. „Wenn das al- ters der schwarzen Kassen rief les parteipolitische Daten waren, Lüthje am 10. September 1997 dann war das Kanzleramt eine in einer trauten Runde die Flick- Parteizentrale und hat seine ei- Affäre in Erinnerung. Auch die gentliche Aufgabe verfehlt und Staatsanwälte erinnerten sich das Land nicht regiert.“ bei der Lektüre des beschlag- Helmut Kohl hätte auf diesen nahmten Manuskripts sofort. Einwand mit Hohnlachen rea- Schließlich hatten sie 1986 des- giert. Hatte er nicht den Abge- halb gegen Kohl schon einmal ordneten im Ausschuss pathe- ermittelt, wegen des Verdachts tisch unterbreitet, dass ein der Falschaussage. Viel fehlte Staatsmann von seinem Format damals nicht für eine Anklage. gar keine Zeit fände, sich ums Kohl war vom damaligen Grü- Geldzählen zu kümmern, Spen- nen-Abgeordneten und heutigen den ordentlich anzumelden oder SPD-Innenminister Rechenschaftsberichte zu lesen? angezeigt worden, weil er be- „Ich muss gelegentlich darauf … gegen geschäftliche Vorteile?: SPIEGEL-Titel 3/2000, 5/2000 stritten hatte, vom Flick-Konzern aufmerksam machen“, gibt er zwei Zahlungen über insgesamt im Ausschuss zu Protokoll, „ich war Bun- Den Vorwurf, beim Verkauf der Leuna- 55000 Mark erhalten zu haben. Der Flick- deskanzler der Bundesrepublik Deutsch- Werke sei Schmiergeld geflossen, weist Buchhalter hatte das fein säuberlich notiert. land und hatte noch zwei, drei andere Be- Kohl empört zurück. Leuna sei keine pro- Damals, referierte Lüthje, sei es, „um es schäftigungen außer dem Lesen von einem fitable Raffinerie gewesen, bei der die „In- sehr vorsichtig auszudrücken“, darum ge- Bericht“ (siehe Seite 31). vestoren Schlange gestanden hätten“. gangen, dem Kanzler und CDU-Chef in ei- Man solle doch nicht annehmen, so der Außer dem französischen Konzern Elf ner „für ihn außerordentlich kritischen Si- Altkanzler später höhnisch, dass er nicht Aquitaine habe sich keiner dafür interes- tuation den Rücken freizuhalten“. Der wisse, wie man mit einem Untersuchungs- siert, und es habe große Mühe gekostet, die Kanzler habe ihn – „in endlich erwachtem ausschuss umgeht. Dessen Mitgliedern hat- Franzosen bei der Stange zu halten. Die Bewusstsein für die eigene höchst kritische te er triumphierend erzählt: Unterlagen französische Regierung und der damalige Situation“ – gefragt, „ob er nicht sicher- über den Spürpanzer Fuchs, dessen Liefe- Präsident François Mitterrand hätten ihn heitshalber zurücktreten solle, ehe denn rung an Saudi-Arabien Kohl im Februar dabei unterstützt. Deshalb seien die jetzt in das Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen 1991 gegen Widerstände des Auswärtigen Umlauf gesetzten Gerüchte, die CDU habe Ermittlungen ihn dazu zwingen würde“. Amtes und des Bonner Verteidigungsmi- Geld von den Franzosen bekommen, „be- Deutlicher wurde Lüthje nur in Andeu- nisteriums durchgesetzt hatte, könne es sonders gemein und geschmacklos“. tungen:

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Nur wir beide – und natürlich Helmut Er weiß sehr wohl, dass bei einer ab- Am Tag nach seiner Vernehmung schien Kohl – wissen, was dazu notwendig war. schließenden Beurteilung seines Verhal- der Altkanzler wieder populär. Im Plenum Das würden andere auch gerne wissen tens die Chuzpe, mit der er jahrzehntelang des Bundestags verlangte es plötzlich man- wollen – auf Bonner Parkett bin ich da- Bares akquirierte, von Bedeutung sein chen, ihm die Hand zu drücken. Vor allem nach gelegentlich gefragt worden. Und wird. Dass er in Sachen Parteispenden ein in der Fraktion hatte es seit einigen Wochen auch die scheinheilige Empfehlung, doch notorischer Wiederholungstäter ist, will er ein zunehmendes Bedürfnis nach Versöh- unbedingt und bald meine Memoiren zu nicht auch noch zugeben müssen. nung mit Kohl gegeben. Der Bundestag sei schreiben, ist nichts als die hinterhältige Die CDU, mit der Helmut Kohl sich „schließlich keine Quarantänestation“, kom- Verkleidung der Frage nach dem, was wieder im Reinen wähnt, beobachtet mentiert sein Kumpel und früherer Bank- denn damals eigentlich gelaufen ist. Das sein Auftrumpfen mit gemischten Ge- nachbar die geforderte Isolie- wissen nur drei – und dabei wird es blei- fühlen. Den Kopf einziehen und eine rung des Altkanzlers. Die Spendenaffäre ben. Und irgendwann wird es habe ihn „ungeheuer belastet“: denn auch für dieses Geheim- „Er war zeitweilig der einsamste nis um die Parteienfinanzie- Mensch in Deutschland.“ rung der achtziger Jahre – wie Auch die neue Parteiführung es das schon für so viele ande- wollte wieder am historischen re Geheimnisse dieses kriti- Glanz des früheren Ehrenvor- schen Politikfeldes gegeben sitzenden teilhaben. Doch nun hat – eine biologische Lösung warf Helmut Kohl die CDU geben. zurück auf die Talsohle der Es ging, das liegt nahe, um ge- Parteispendenaffäre. zielte Falschaussagen zu Gunsten Schon die Beschimpfung des Kohls. Weyrauch und Lüthje FDP-Aufklärers Hirsch durch ließen sich von den Staatsanwäl- CDU-Parteifreunde hatte die

ten vernehmen und redeten Kohl / FAZ B. KLEMM neue Vorsitzende als nicht wortreich raus. Auch sie hätten Kohl, Bürochefin Weber*: Ausgeklügeltes Kontrollsystem glücklich empfunden. Die Über- bei früheren Überprüfungen kei- bringer von schlechten Bot- ne Hinweise auf solche Zahlun- Terminkalender Februar 2000 Ausschuss-Zeugen schaften für das erfahrene Un- gen gefunden. Die Belege exis- Juliane Weber 1234567 heil verantwortlich zu machen tierten leider nicht mehr. Einen Auszüge 8 9 10 11 12 13 14 sei keine sonderlich überzeu- 17.00 Uhr 15 16 17 18 19 20 21 Antrag der Staatsanwaltschaft, MdB Andreas Schmidt, gende Position, meinte Merkel. 22 23 24 25 26 27 28 Staatsanwaltschaft die Lüthjes und Weyrauchs Ret- Dietmar Schlee, 29 Kohl selbst fühlt sich nach sei- tungsversuch misstraute, die Augsburg nem Rundumschlag gegen den März 2000 CDU-Zentrale in Bonn nach den 17.30 Uhr 1234567 Rest der Welt – wiewohl ihm die MdB Schmidt u. angeblich schon beseitigten Be- 8 9 10 11 12 13 14 Weyrauch gewünschte tagelange Einver- legen durchsuchen zu lassen, Kollegen/ U-Ausschuss 15 16 17 18 19 20 21 nahme, zu der er bereit war, ver- lehnten die Gerichte ab. Das Ver- 17.00 Uhr 22 23 24 25 26 27 28 Terlinden, May, weigert wurde – wieder obenauf. fahren wurde eingestellt. A. Schmidt, MdB + 29 30 31 Weyrauch Bereits im Januar, auf dem U-Ausschussleute Durch die Aussagen in Bonn April 2000 Höhepunkt der Affäre, hatte er habe man Kohl „herausholen 10.00 Uhr 1234567 Geißler, Rühe, auf den Überdruss der Öffent- U-Ausschuss Hans 8 9 10 11 12 13 14 Terlinden und freihalten“ können, sagte Terlinden anschl. Nach lichkeit an der Affäre gesetzt. Lüthje stolz in seiner Rede: 15 16 17 18 19 20 21 Mit der Zeit, so beschied er sei- Sitzung mit RA Plöger 22 23 24 25 26 27 28 „Ohne Inkaufnahme eigener 16.00 Uhr 29 30 ne Vertrauten, „haben die Leu- wirklich existenzieller Gefähr- RA Reichenbach, te das Thema satt“. dungen war das nicht möglich.“ Telefonat Mai 2000 Die Macht des Sitzfleisches 1234567 Die historischen Folgen refe- 17.00 Uhr 8 9 10 11 12 13 14 schien sich tatsächlich langsam MdB’s – U-Ausschuss rierte der Festredner voller In- 15 16 17 18 19 20 21 Hehn, Wallmann durchzusetzen. Hielt zu Jahres- brunst: „Aber darüber dürfen 17.00 Uhr 22 23 24 25 26 27 28 beginn laut ZDF-Politbarome- Sie und ich an einem Tag wie U-Ausschuss 29 30 31 ter etwa die Hälfte der Deut- Besprechung mit MdB’s dem heutigen sehr wohl einen Juni 2000 schen den Spendenskandal der Augenblick nachdenken und 17.00 Uhr 1234567 CDU für das wichtigste Pro- sinnieren, was denn je aus der MdB Schlee 8 9 10 11 12 13 14 Hollweg und andere blem im Land, war es zu Ostern deutschen Einheit 1989/90 ge- 17.00 Uhr 15 16 17 18 19 20 21 nur noch ein knappes Viertel. worden wäre, wenn nicht Hel- MdB Schmidt, 22 23 24 25 26 27 28 Weber, Roik, Aber über 70 Prozent finden U-Ausschuss 29 30 von Brauchitsch mut Kohl sie so, wie er es tat, in jetzt wieder, Kohl solle sein die Hand genommen und um- Mandat zurückgeben. gesetzt hätte. Dass er es konnte, hat er aus- neue Diskussion bloß nicht durch eigene Den focht das vorige Woche nicht wei- schließlich uns zu verdanken.“ Stellungnahmen anheizen, lautet die Pa- ter an. Ziemlich froh gelaunt begab er sich Kohl, danach befragt, wiegelte ab. „Ich role, die die Parteiführung nun ausgege- auf eine Runde durch drei Berliner Fern- habe in keiner Weise Herrn Lüthje zu ei- ben hat. Die CDU werde auch künftig sehstudios. ner falschen Aussage gedrängt!“ Zum Er- seine Verdienste herausstellen, die vor al- Dann fuhr er in sein Bundestagsbüro staunen der Abgeordneten verweigerte er lem mit Bonn verbunden seien, sagte die Unter den Linden und schaute entspannt aber – unter Hinweis auf sein Schweige- Vorsitzende am vorigen dem Fußball-Europameisterschaftsspiel Ita- recht wegen des Ermittlungsverfahrens in Freitag. lien gegen die Niederlande zu. Die Italie- Bonn – jede Aussage zur Flick-Affäre, ob- Doch ihr und dem Fraktionsvorsitzen- ner müssen ihm gefallen haben – sie mau- wohl mögliche strafrechtliche Verfehlun- den schwant, dass sie damit erten sich zum Sieg. Tina Hildebrandt gen Kohls längst verjährt sind. nur schwer durchkommen werden. Eine Wolfgang Krach, Jürgen Leinemann, Georg Mascolo, Christoph Mestmacher, „schwierige Kiste“ sei das Ganze, heißt es Hartmut Palmer, Hajo Schumacher * An Kohls 65. Geburtstag am 3. April 1995. im Umfeld beider. „Da stinkt was.“

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