LEE MILLER – KÜNSTLERPORTRÄTS

Porträtfotografien von , Max Ernst und der künstlerischen Avantgarde von 1929 bis 1973

Dissertation

zur Erlangung des philosophischen Doktorgrades an der

Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen

vorgelegt von

Ivonne Rohmann

aus Braunlage im Harz

Göttingen 2005

1. Gutachter: Prof. Dr. Werner Schnell 2. Gutachter: Prof. Dr. Ulrich Keller

Tag der mündlichen Prüfung: 24. Januar 2006

1 Einführung...... 1 2 „The Lives of “ – Biografie...... 7 3 Typen des fotografischen Künstlerporträts im 19. Jahrhundert...... 16 4 Das fotografische Künstlerporträt im Werk Lee Millers...... 22 4.1 Künstler mit Werk: direkte Einbindung der Porträtierten in einen Kunstkontext ...... 23 4.1.1 Künstler präsentieren Kunst: ‚Dialog‘ zwischen Künstler und Kunstwerk ...... 25 4.1.1.1 Joseph Cornell mit dem Objekt Jouet surréaliste (New York, 1933) ...... 26 4.1.1.2 Eileen Agar mit der Skulptur Golden Tooth (London?, 1937)...... 37 4.1.1.3 Marino Marini mit der Skulptur eines Reiters (Venedig, 1948) ...... 41 4.1.1.4 Giacomo Manzù mit der Skulptur Kardinal (Venedig, 1948) ...... 45 4.1.1.5 Giacomo Manzù mit der Skulptur Grande ritratto di signora (Venedig, 1948)...... 48 4.1.1.6 Alberto Viani mit der Skulptur Nudo von 1944 (Venedig, 1948) ...... 49 4.1.1.7 Pablo Picasso mit der Baby-Skulptur aus Frau mit Kinderwagen (Vallauris, 1954) ...... 55 4.1.1.8 Pablo Picasso mit einer Keramikmaske (Cannes, 1956) ...... 62 4.1.1.9 Pablo Picasso mit einer Porträtfotografie (Cannes, 1956) ...... 66 4.1.1.10 Pablo Picasso mit dem Porträtkopf Jacqueline (Mougins, ca. 1963) ...... 69 4.1.2 Künstler präsentieren Kunst: der Künstler posiert mit Kunstwerk(en)...... 71 4.1.2.1 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) vor neutralem Hintergrund ...... 71 4.1.2.1.1 E.L.T. Mesens mit der Fotografie einer Collage (London, 1944)...... 72 4.1.2.1.2 Wifredo Lam mit dem Gemälde Le Sacré (New York, 1946) ...... 76 4.1.2.1.3 Jean Arp mit dem Holzflachrelief Wolkenpfeil (Schweiz, um 1947) ...... 80 4.1.2.1.4 Edoardo Paolozzi mit einer Graphik (London, um 1947/48)...... 83 4.1.2.1.5 Renato Guttuso mit Gemälden, u. a. Die Wäscherin (Venedig, 1948) ...... 86 4.1.2.1.6 Giorgio Morandi mit dem Gemälde Natura Morte (Venedig, 1948) ...... 91 4.1.2.1.7 Carlo Carrà mit Gemälden, u. a. Madre e figlio (Venedig, 1948) ...... 94 4.1.2.1.8 Isamu Noguchi mit Skulpturen, u. a. Man Ideograph (New York, 1946) ...95 4.1.2.2 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) im Kontext von Atelier und Ausstellung...... 103 4.1.2.2.1 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Marin (Paris, 1944)...... 104 4.1.2.2.2 Siegmund Stróbl mit Skulpturen (Budapest, um 1945) ...... 109 4.1.2.2.3 Kay Sage mit Gemälden, u. a. I saw three cities (Woodbury, 1946) ...... 114 4.1.2.2.4 M. Ernst und D. Tanning mit Gemälden, u. a. Un peu de calme (Huismes, um 1956) ...... 118 4.1.2.2.5 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Nu assis et nu debout (Cannes, 1956)...... 122

4.1.2.2.6 Pablo Picasso und Georges Braque mit Keramiktauben (Vallauris, 1954) ...... 125 4.1.2.2.7 Pablo Picasso mit der Skulptur Seilhüpfendes Mädchen (Vallauris, 1954) ...... 128 4.1.2.2.8 Henry Moore mit dem Modell für die Liegende Figur (Much Haddam, um 1956/57)...... 130 4.1.2.2.9 Stanley William Hayter mit Gemälden (London, um 1939)...... 133 4.1.2.2.10 Jean Oberlé mit Gemälden (Paris, 1944) ...... 136 4.1.2.2.11 Paul Delvaux mit dem Gemälde La ville rouge (Brüssel, 1944) ...... 139 4.1.2.3 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) im Wohninterieur...... 142 4.1.2.3.1 Olivier Picard mit Gemälden, u. a. Echange d’idées (Brüssel, 1944)...... 142 4.1.2.3.2 Christian Bérard mit der Skulptur eines Cheval écorché (Paris, 1944) ...150 4.1.2.3.3 Feliks Topolski mit der Skulptur eines Bischofs (London?, 1944) ...... 154 4.1.2.3.4 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Nu assis et nu debout (Cannes, 1956)...... 157 4.1.2.4 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) im Freien...... 161 4.1.2.4.1 Saul Steinberg mit der Galionsfigur Iris (Farley Farm, um 1953) ...... 161 4.1.3 Künstler präsentieren Kunst: Künstler arrangieren Kunstwerke zur Präsentation ...... 162 4.1.3.1 Giuseppe Santomaso mit Gemälden, u. a. Interno n. 3 (Venedig, 1948)...... 163 4.1.3.2 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Femme dans l’atelier (Cannes, 1956)...... 166 4.1.3.3 Henry Moore mit seiner Skulptur Mutter und Kind (Farley Farm, ca. 1953) ...... 170 4.1.4 Künstler in einer Arbeitssituation...... 172 4.1.4.1 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) – Gestellte Arbeitssituation ...... 174 4.1.4.1.1 Lesley Hurry mit Bühnenbildentwurf zu Hamlet? (London?, ca. 1943) ...174 4.1.4.1.2 Christian Bérard mit Gemälden, u. a. Model with Yellow Feet . (Paris, 1944)...... 178 4.1.4.1.3 Graham Sutherland bei den Filmaufnahmen zu Out of chaos (London, um 1943) ...... 182 4.1.4.1.4 Henry Moore bei den Filmaufnahmen zu Out of chaos (London, um 1943) ...... 189 4.1.4.1.5 Dorothea Tanning mit Gemälde Maternity (Sedona, Arizona, 1946)...... 192 4.1.4.1.6 Dorothea Tanning mit Gemälde Le mal oublié (Huismes, um 1955/56) ...... 196 4.1.4.1.7 Hans Erni mit Wandgemälde Essai d’un portrait de Darwin (Schweiz, um 1947)...... 197 4.1.4.1.8 mit Gemälden, u. a. Erster Anblick (London, 1949)...... 199

4.1.4.1.9 Saul Steinberg mit dem Felsbild Long Man of Wilmington (Farley Farm, um 1953)...... 201 4.1.4.2 Künstler ‚bei der Arbeit‘ – Suggestion einer ‚tatsächlichen‘ Arbeitssituation...... 204 4.1.4.2.1 Roland Penrose mit einer Postkartencollage (Mougins, 1937) ...... 205 4.1.4.2.2 Stanley W. Hayter mit einem Camouflage-Modell (London, 1940) ...... 206 4.1.4.2.3 Yves Tanguy mit Gemälde (Woodbury, 1946) ...... 208 4.1.4.2.4 Oskar Kokoschka mit dem Triptychon Prometheus-Saga (London, 1950) ...... 211 4.1.4.2.5 Pablo Picasso beim Töpfern einer Vase (Vallauris, 1956) ...... 215 4.1.4.2.6 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Nature morte au buffet (Vauvenargues, um 1959)...... 217 4.1.4.2.7 Joan Miró mit einem Druckstock zu A Toute Epreuve (Paris, 1956) ...... 219 4.1.4.2.8 Antoni Tàpies mit Gemälden, u. a. Rideau de fer au violon (Barcelona, 1973)...... 222 4.2 Künstler ohne Werk: der porträtierte Künstler als Jedermann...... 229 4.2.1 Porträts von 1929 – 1940...... 230 4.2.2 Porträts von 1940 – 1950...... 236 4.2.3 Porträts von 1950 – 1960...... 242 4.2.4 Porträts von 1960 – 1973...... 249 4.3 Künstler ohne Werk: ‚Indirekte‘ Stilisierung der Porträtierten als Künstler ...... 252 4.3.1 Solarisiertes Porträt (Paris, um 1929)...... 252 4.3.2 Porträt Eileen Agar (Brighton, 1937) ...... 259 4.3.3 Porträt Leslie Hurry mit Teekanne (London, 1943) ...... 262 4.3.4 Porträts Max Ernst und Dorothea Tanning als ‚Gigant und Zwerg‘ (Sedona, 1946) ...... 264 4.3.5 Max Ernst als Schamane (Sedona, 1946) ...... 273 4.3.6 Porträt Max Ernst im Maisfeld (Farley Farm, um 1950) ...... 278 4.3.7 Saul Steinberg mit Gartenschlauch (Farley Farm, um 1953)...... 279 4.3.8 Lynn Chadwick im Adamskostüm (Farley Farm, 1953) ...... 280 4.3.9 Jean Dubuffet und Georges Limbour (Farley Farm, 1956) ...... 281 5 Abschließende Betrachtung...... 285 6 Literaturverzeichnis...... 291 7 Liste der von Lee Miller porträtierten Künstler...... 316 8 Literatur über Lee Miller...... 319 9 Abbildungsnachweis der Fotografien 1 bis 119 ...... 322 10 Lee Miller – biografische Notizen...... 329 1

1 Einführung

„Max Ernst, Picasso, Éluard, Breton, Cocteau oder Man Ray: Die Liste ihrer Freunde liest sich wie das Register einer Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts“1 schreibt Michael Koetzle 1992 in Vogue über die amerikanische Fotografin Lee Miller (1907 – 1977) anlässlich der ersten Ausstellung2 ihres Werks in Deutschland. Ohne Schwierigkeiten lässt sich diese Aufzählung um Namen wie Igor Strawinsky, Colette, Marlene Dietrich, Henry Moore, Dorothea Tanning, Joan Miró oder auch Jean Dubuffet erweitern – um nur einige der Musiker, Schauspieler, Schriftsteller und bildenden Künstler zu nennen, mit denen Lee Miller zum Teil eng befreundet war und deren fotografische Porträts sie im Lauf von über vier Jahrzehnten schuf.3

Das außergewöhnliche Werk Lee Millers war vor rund zwanzig Jahren noch weitgehend unbekannt. Dies kann mit der Geringschätzung, die sie selbst ihrem eigenen fotografischen Œuvre entgegengebracht haben soll, begründet werden. Für Ausstellungen, die seit den 1960er Jahren von Museen initiiert wurden, und Buchprojekte lieferte Lee Miller zwar bereitwillig Bildmaterial und Informationen über befreundete Fotografen wie George von Hoyningen-Huene (1900 – 1968) oder Man Ray (1890 – 1976): ihr eigenes Schaffen soll sie, wie Antony Penrose berichtet, aber bei diesen Gelegenheiten gewöhnlich mit den Worten „Oh, I did take a few pictures – but that was a long time ago“ auf die Produktion von ein paar belanglosen Bildern reduziert haben, die sie in verstaubten Kisten und Kartons auf dem Dachboden aufbewahrte und deren Existenz sie quasi negierte.4

Die Originalabzüge, Negative und Manuskripte Lee Millers wurden so erst nach ihrem Tod im Juli 1977 entdeckt. Das Material wurde in den folgenden Jahren sortiert und katalogisiert und bildet heute – ergänzt durch schriftliche und fotografische Arbeiten Millers aus den Archiven von Vogue – den Bestand des Lee Miller Archive. Das Archiv, das von Lee Millers Sohn Antony Penrose geleitet wird und auf Farley Farm in Chiddingly (Großbritannien, East Sussex) untergebracht ist, wo Miller und ihr Mann Roland Penrose bis zu ihrem Tod lebten,

1 Michael Koetzle, Fotografie in Uniform und Haute Couture, in: (deutsche) Vogue (1992) 10, S.150. 2 Die erste Ausstellung von Millers Fotografien in Deutschland fand unter dem Titel Lee Miller Photographs 1929–1964 vom 15. September bis zum 1. November 1992 im Rahmen des 10. Internationalen Kulturprogramms im Rahmen zur photokina 92 im Museum Ludwig in Köln statt. 3 Die porträtierten Künstler in alphabetischer Reihenfolge: vgl. Kap. 7. 4 Antony Penrose, The Lives of Lee Miller, London 1985, S. 208-209. Vgl. auch: Antony Penrose, Roland Penrose, The Friendly Surrealist, München [u. a.] 2001, S. 169. Calvocoressi (Richard Calvocoressi, Lee Miller – Begegnungen, Berlin 2002, S. 6) führt drei Gründe dafür an, dass Millers Werk weitgehend unbekannt blieb und nennt erstens Millers Desinteresse an ihrem Werk, zweitens die enge Verbundenheit Millers mit der Zeitschrift Vogue, in der ihre Aufnahmen fast ausschließlich veröffentlicht wurden, so dass sich als eigenständige Fotografin nicht etablieren konnte und drittens Millers faszinierende Persönlichkeit, die die „Aufmerksamkeit der Medien in Anspruch“ nahm und eine „echte Wertschätzung ihrer künstlerischen Gaben“ verhinderte. 2 verwahrt mit ca. 500 originalen (Schwarzweiß-)Abzügen und ca. 40.000 (Schwarzweiß-) Negativen den weltweit größten Teil ihres Œuvres.5

Lee Millers fotografisches Lebenswerk zeichnet sich durch eine große Vielfalt aus: neben Mode- und Landschaftsfotografien finden sich auch surrealistische und experimentelle Aufnahmen sowie Fotos, die Miller als US-Kriegskorrespondentin während des 2. Weltkriegs aufgenommen hat. Mit „ungefähr zwei Dritteln ihrer gesamten Produktion“ spielen aber „Porträts und Bilder von mehreren Menschen“ in ihrem Werk eine besondere Rolle.6

Die Bedeutung, die Lee Miller unter den internationalen Fotografen zweifellos zukommt, ist seit der Entdeckung ihres Œuvres und der Einrichtung des Archivs in steigendem Maße erkannt worden. Seit 1985 sind diverse Monografien und Artikel7 veröffentlicht worden, in denen entweder ein genereller Überblick über das Leben und das Werk Lee Millers gegeben wird oder in denen einzelne ihrer Fotografien oder Serien im Mittelpunkt stehen. Die Forschung zu Lee Millers fotografischem Œuvre beschränkte sich bis jetzt aber vor allem auf die Werkgruppe der Kriegsfotografien8, denen als Zeitdokument ein besonderer kulturhistorischer Wert zukommt.

Es überrascht, dass die Fotoporträts, die Lee Miller von heute als Ikonen des 20. Jahrhunderts gefeierten Künstlern aufgenommen hat, bis jetzt nicht Gegenstand weiterführender Untersuchungen geworden sind. Denn auch diesen Fotografien kommt aufgrund der Prominenz der porträtierten Künstler, Millers intensiven Kontakten zur internationalen Kunstszene und ihren engen, lebenslangen Freundschaften zu Man Ray, Pablo Picasso und Max Ernst eine herausragende Bedeutung zu: Lee Miller führt uns in perfekt komponierten Aufnahmen von hohem ästhetischen Wert nicht nur die Person und das Werk des Künstlers vor Augen, sondern dokumentiert als Insider auch dessen Lebens- und Arbeitswelt. Auch stellen Personen, die über ihren Beruf oder ihre Tätigkeit eng mit der internationalen Kunst- und Kulturszene verbunden waren, einen großen Anteil an der Gesamtzahl der Porträtierten und zählten somit zu Millers bevorzugten Modellen.

Wie viele Künstler Lee Miller fotografierte, kann man aus einer vom Lee Miller Archive9 zusammengestellten Liste ersehen, auf der die Namen, Berufe und Tätigkeitsfelder der

5 Penrose 1985a, S. 6. Weitere, kleinere Konvolute werden im The Art Institute of Chicago, das Millers surrealistische Fotografien mit der Sammlung von Julien Levy erhielt, im New Orleans Museum of Art und im Victoria and Albert Museum in London aufbewahrt. 6 Calvocoressi 2002, S. 9. 7 Vgl. Kap. 8. 8 Mary Daniel Hobson, Horror Through the Eyes of Beauty. Lee Miller’s Photographs of World War II., Ph.D. Thesis, Vassar College, 1991. Katharina Menzel-Ahr, Lee Miller. Kriegskorrespondentin für Vogue, Fotografin aus Deutschland 1945, 2005 (Zugl.: Trier, Univ., Diss. 1999, unter dem Titel Menzel: Lee Millers Fotografien aus Deutschland 1945. Kriegsberichterstattung für "Vogue"). Josh R. Rose, When reality was surreal: Lee Miller’s World War II war correspondence for Vogue, Denton, Texas, Univ., Thesis (M.A.), 2003. Sarah J. Trees, Images of post-war Germany: a discussion of the photographs of Lee Miller and Yevgeny Khaldei, St. Austin, Univ., Honours Dissertation. 9 >http://www.leemiller.co.uk<. 3 porträtierten Personen aufgeführt werden. Insgesamt zählen die Porträts von rund 305 Personen, zu denen Familienmitglieder von Miller und Penrose, Wissenschaftler, Adlige, Militärs und Politiker gehören, zum Sammlungsbestand. Bei ungefähr 153 von 305 – also rund 50 Prozent der von Lee Miller Porträtierten – handelt es sich aber um Personen, die eine künstlerische und kreative Tätigkeit als Schriftsteller, Dichter, Schauspieler, Tänzer, Choreograf, Fotograf, Komponist, Musiker oder Sänger ausübten respektive als Sammler, Händler oder Kunsthistoriker eng mit der Kunstszene verbunden waren.10 Zu dieser Gruppe von ungefähr 153 Personen gehören auch ca. 58 Maler, Graphiker, Bildhauer und Objektkünstler – also bildende Künstler im traditionellen Sinn –, die fast 38 Prozent dieses Personenkreises (ca. 58 von ca. 153) respektive fast 19 Prozent der Gesamtzahl der Porträtierten (ca. 305) stellen.11

Abgesehen davon, dass Bildhauer, Maler, Graphiker und Objektkünstler für Lee Millers Werk eine besondere Rolle spielten, gibt es einen weiteren Grund dafür, sich in dieser Untersuchung auf die Porträts von bildenden Künstlern zu konzentrieren. So lassen sich die Werke der bildenden Kunst – als Ergebnis des künstlerischen Schöpfungsprozesses – prinzipiell in einer Fotografie wiedergeben, was zum Beispiel in der Literatur, der Musik und den Bereichen der darstellenden Kunst wie dem Schauspiel und dem Tanz, bei dem der künstlerische Vorgang und das entstehende ‚Produkt‘ eine untrennbare Einheit bilden, nur bedingt möglich ist.

Um einen Überblick über die Porträts von bildenden Künstlern geben und eine eventuelle Entwicklung dieser Porträtkategorie im Werk Lee Millers skizzieren zu können, soll der zu untersuchende Zeitraum möglichst weit gespannt werden. Als Eckdaten bieten sich hierbei die Jahre 1929 und 1973 an: 1929 wurde Lee Miller in Paris Schülerin, Assistentin und Geliebte Man Rays und schuf ihre ersten Porträts von Künstlern. 1973 fotografierte sie, nach langer fotografischer Abstinenz, den katalanischen Maler Antoni Tàpies und setzte mit diesen Aufnahmen einen endgültigen Schlusspunkt unter ihre Karriere als Fotografin.12

10 Schriftsteller und Dichter (ca. 18), Schauspieler (ca. 20), Tänzer und Choreografen (ca. 8), Fotografen (ca. 5), Komponisten, Musiker oder Sänger (ca. 10), Sammler, Händler oder Kunsthistoriker (ca. 8), Journalisten und Verleger (ca. 14), Modeschöpfer (ca. 5), Designer (ca. 4), Regisseure (ca. 2) und Architekten (ca. 2) zu finden. 11 Zum Vergleich: Der amerikanische Fotograf Edward Quinn porträtierte ca. 460 Personen, darunter ca. 36 bildende Künstler (= ca. 8 Prozent), ca. 168 Schauspieler, ca. 40 Musiker, ca. 14 Schriftsteller, ca. 22 Regisseure, 1 Architekten, 1 Designer, ca. 6 Tänzer und Choreographen, ca. 3 Kunsthändler und ca. 166 berühmte Persönlichkeiten wie Politiker und Monarchen, vgl. hierzu die offizielle Homepage des Fotografen: >www.edwardquinn.com<. 12 Penrose 1985a, S. 207. 4

In der vorliegenden Arbeit13 soll untersucht werden, wie Lee Miller, die zur künstlerischen Avantgarde ihrer Zeit zählte und fast ausschließlich die Protagonisten dieser neuen Strömungen fotografierte, diese Künstler dargestellt hat. Die Fotoporträts, die Lee Miller von Malern, Bildhauern und Objektkünstlern aufgenommen hat, zeigen diese zum einen außerhalb eines künstlerischen Umfelds in ihrer gewohnten Lebenswelt als normale Menschen, sozusagen als Jedermann, der nur durch die Tatsache, dass er fotografiert wird, zu einem besonderen Individuum wird. Da die Porträtierten in diesen Fotografien aber nicht über charakteristische Accessoires wie Kunstwerke und berufstypische Werkzeuge, sondern allein über ihre Physiognomie als Künstler angesprochen werden können – es sich also nicht um Künstlerporträts im traditionellen Sinn handelt – soll diesen Aufnahmen des Künstlers als Jedermann hier nur eine untergeordnete Bedeutung zukommen.

Einen völlig anderen Blick auf die porträtierten Künstler erlauben aber die Fotografien, in denen sie mit Gemälden, Skulpturen und/oder den typischen Utensilien gezeigt werden, mit denen zum Beispiel Maler und Bildhauer ihre Werke schaffen und zu denen Pinsel, Paletten, Staffeleien oder auch Hammer und Meißel gehören. Über diese Accessoires, die seit dem 16. Jahrhundert im gemalten und seit ca. 1840 – also der Frühzeit der Fotografie – auch im fotografierten Künstlerporträt tradiert werden14, wird ein unmittelbarer künstlerischer Zusammenhang hergestellt. Diese Fotografien können wegen der besonderen Inszenierung,

13 Die vorliegende Arbeit entstand vor allem auf der Grundlage der im Lee Miller Archive aufbewahrten, schwarzweißen (Original)Negative (Abkürzung: SWN), Kontaktabzüge und modernen Abzüge (Abkürzung: SWA) von Lee Millers Künstlerporträts. Besonders aus den frühen Jahren ihrer Karriere sind – aufgrund der Geringschätzung, die sie ihrem Werk entgegengebrachte, ihres ‚bewegten‘ Lebens und ihrer vielen Reisen – kaum Vintage prints nachweisbar. Die im Rahmen dieser Arbeit angeführten Inventar-Nummern beziehen sich auf den im Lee Miller Archive (Abkürzung: LMA) verwahrten Nachlass der Fotografin. Lee Miller verwendete für ihre Künstlerporträts verschiedene Kameratypen, wobei sie aber vor allem der 6 x 6 Spiegelreflexkamera Rolleiflex den Vorzug gab. Vereinzelt finden sich Fotoserien, die mit den 35mm Kleinbildkameras Honeywell Pentax und Zeiss Contact aufgenommen wurden. Eine Aufnahme, die während Millers Aufenthalt in Ägypten (1934 bis 1937) gemacht wurde, zeigt die Fotografin mit ihrer Kamera (Abb. in: Penrose 1985a, S. 59). Diese Kamera, die Lee Miller ihr Leben lang begleitete, war das Nachfolgemodell der zweiäugigen Spiegelreflexkamera Rolleiflex, die die Fabrik photographischer Präzisionsapparate Franke & Heidecke aus Braunschweig seit 1929 herstellte. Die Rolleiflex wurde von Februar 1932 bis Januar 1935 in einer Stückzahl von ca. 38.248 produziert. Zum Standardzubehör gehörte ein Tessar f/3.8 Objektiv, welches beim Mittelformat (6 x 6 Negative) als Normalobjektiv angesehen werden kann. Verwendet wurde ein Rollfilm im Format von 6 x 6 cm, der die Möglichkeit bot, jeweils 6, 9 oder 12 Aufnahmen herzustellen (Rollei 80 Years: 1920–2000, Braunschweig 2000, S. 19. Vgl. auch: Udo Afalter, Rolleiflex – Rolleicord, Die Zweiäugigen 1928–1991. Die praktischen Ergänzungen, Gifhorn 1991, S. 24–25. Udo Afalter, Rollei 1920–1993, Gifhorn 1993). Lee Miller besaß neben der Rolleiflex in späteren Jahren noch eine Zeiss Contact (vgl. Penrose 1985a, S. 210), die sie ihrem Sohn Antony schenkte, und eine Honeywell Pentax (vgl. Penrose 1985a, S. 207), die sie selten benutzte. Die Rolleiflex war durch das Mittelformat für die Porträtfotografie gut geeignet, da die Größe der Negative Retuschen durchaus zuließ. Die Porträtfotografin Liselotte Strelow berichtet aber, dass solche Kameras bei ihren Porträtkunden keine Akzeptanz fanden, da sie von professionellen Fotografen wie Amateuren gleichermaßen benutzt wurden (Sidney Darchinger, Gesicht als Ereignis, Liselotte Strelow – Porträtfotografie 1936–1974, Bonn, Univ., Diss. 1997, S. 19). 14 Vgl. Kap. 3. 5 durch die der Porträtierte als Künstler stilisiert werden soll, als Künstlerporträts im traditionellen Sinn angesehen werden und sollen aus diesem Grund im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen.

Die Diskrepanz zwischen dem revolutionären Gedankengut der Avantgarde-Künstler und dem zum Teil traditionellen Arrangement der Künstlerporträts wirft natürlich die Frage auf, wer sich für die Inszenierung verantwortlich zeichnete. Ein weiteres Ziel dieser Arbeit soll daher sein zu untersuchen, ob diese Inszenierung von der Fotografin oder vom Künstler selbst ausging und welche Aussagen anhand dieser Darstellung über dessen Selbstverständnis getroffen werden können. In diesem Zusammenhang kommt der Körperhaltung der Porträtierten, ihrer Gestik, Mimik und nicht zuletzt ihrer Bekleidung eine besondere Bedeutung zu. Lee Millers Fotografien von Künstlern sollen mit Aufnahmen verglichen werden, die andere Fotografen in einem ähnlichen zeitlichen Rahmen von den Porträtierten aufgenommen haben, um so Unterschiede oder Gemeinsamkeiten der Inszenierung aufzeigen zu können. Als entscheidende Faktoren für die Inszenierung sollen auch das Verhältnis, in dem der porträtierte Künstler und die Kunstwerke stehen, und schließlich auch die Art und Weise, in der sie in den Bildraum eingebunden werden, einer genauen Betrachtung unterzogen werden: so kann der Schwerpunkt auf der Darstellung des Künstlers, des Kunstwerks, des künstlerischen Vorgangs oder der Wirkungsstätte des Porträtierten liegen.

Fotografien begegnen uns in der heutigen Zeit überall: sie werden in elektronischen oder gedruckten Medien veröffentlicht, wobei sie meistens nur zur Illustration verwendet werden. Der Text, in den die Aufnahmen bei der Publikation eingebunden werden, trägt aber oft nicht dazu bei, den Hintergrund, vor dem die Aufnahmen entstanden sind, zu beleuchten und lässt so Spielraum für eine beliebige Interpretation der Fotos. Dies ist auch der Fall, wenn – wie in Bildbänden – keine weiteren (schriftlichen) Informationen über die Entstehung der Fotografien vorliegen. Der Betrachter der publizierten – meist undatierten – Fotografien erfährt so nichts oder nur wenig über den Fotografen, den Porträtierten, den Ort und die Situation zur Zeit der Aufnahme. Diese Angaben sind aber bei der Betrachtung von Bildern wie eben auch Fotografien unerlässlich, um diese verstehen und ihre Aussage erschließen zu können, und sollen daher bei der Bearbeitung der Künstlerporträts von Lee Miller einen zentralen Aspekt darstellen.

Bei den Porträts, die Lee Miller im Lauf ihrer Karriere von bildenden Künstlern aufgenommen hat, reicht die Zahl der jeweiligen Fotografien von nur wenigen Einzelbildern bis hin zu Serien mit mindestens 100 Aufnahmen. Einige Künstler stellten sich der Kamera Millers nur bei einer einzigen Gelegenheit, während andere von ihr über einen langen Zeitraum in unregelmäßigen Abständen fotografiert worden sind. Von Pablo Picasso gibt es ohne Zweifel die meisten Porträts (rund 1000 Aufnahmen)15, was sich durch die enge Freundschaft

15 Calvocoressi 2002, S. 9. Das Fotoarchiv Edward Quinns enthält ca. 100.000 Negative, davon ca. 15.000 Aufnahmen von Pablo Picasso. Quinn porträtierte ca. 460 Personen (Miller: ca. 305), davon sind ca. 36 (= ca. 8 Prozent) bildende Künstler (Miller: ca. 58 = ca. 19 Prozent), vgl. die Angaben auf der offiziellen Homepage des Fotografen >www.edwardquinn.com<. 6 zwischen Lee Miller und Picasso seit 1937 erklären lässt. Auch zu Max Ernst unterhielt Miller von 1929 an eine intensive freundschaftliche Beziehung, so dass der Künstler immer wieder von ihr porträtiert wurde. So musste zwangsläufig eine Auswahl aus den Porträts und Porträtserien getroffen werden. Ein entscheidendes Auswahlkriterium in diesem Prozess war, ob die Fotografien standardisierte Bildlösungen aufwiesen, die so als typisch für die Künstleraufnahmen angesehen werden können, oder ob Miller innovative Ideen bei der Darstellung von Künstlern verwirklichte. Da sich diese Arbeit auf die Porträts von bildenden Künstlern im traditionellen Sinn beschränkt, konnten von den insgesamt ca. 58 Bildhauern und Malern, Graphikern und Objektkünstlern 38 berücksichtigt werden. Von den restlichen ca. 20 Protagonisten sind keine Porträts nachweisbar, die sie direkt oder indirekt als Künstler stilisieren. In dem bis jetzt bekannten Bildmaterial, das wahrscheinlich in Zukunft nur durch einzelne Fotografien, aber leider nicht durch größere Konvolute ergänzt werden wird, sind diese Porträtierten ‚lediglich‘ in ihrer Rolle als Jedermann zu sehen. 7

2 „The Lives of Lee Miller“ – Biografie

Lee Miller sprach mit ihrer Familie und auch mit anderen Personen, die ihr nahe standen, nur selten über ihre Vergangenheit und ihre Arbeit als Fotografin, so dass kaum jemand einen Überblick über die vielen verschiedenen Abschnitte ihres außergewöhnlichen Lebens oder Schaffens gewinnen konnte. Auch Antony Penrose (*1947) musste nach dem Tod seiner Mutter, die 1977 im Alter von 70 Jahren an einer Krebserkrankung starb, feststellen, dass er über ihr früheres Leben nur sehr wenig wusste. Lee Miller, die als Korrespondentin der US-Armee aktiv in das Geschehen des 2. Weltkriegs involviert war, hatte Schwierigkeiten, nach den Erlebnissen der Kriegsjahre ins alltägliche Leben zurückzufinden; ein Phänomen, das bekanntlich auch bei Soldaten nach Kriegseinsätzen auftritt. Sie reagierte auf die veränderten persönlichen und beruflichen Umstände mit Depressionen, die sie mit Alkohol zu bekämpfen versuchte, so dass sich das Zusammenleben mit ihrem Mann Roland Penrose und besonders mit ihrem Sohn über lange Jahre äußerst konfliktreich gestaltete und sich erst kurz vor Millers Tod wieder ‚normalisierte‘.

Dass wir heute viel über die Person Lee Millers wissen, verdanken wir dem Interesse und dem Engagement von Antony Penrose. Penrose recherchierte und dokumentierte das ungewöhnliche Leben seiner Mutter mit großer Sorgfalt und großem Erfolg und veröffentlichte die Ergebnisse in verschiedenen Publikationen, die eine überaus reiche Informationsgrundlage bieten. Diese Ausführungen von Antony Penrose, der auch als Fotograf und Dokumentarfilmer tätig ist, lassen seinen Anspruch auf Objektivität erkennen und sollen aus diesem Grund als Basis für die biografischen Angaben in dieser Arbeit herangezogen werden.16

Natürlich muss berücksichtigt werden, dass die vielen Jahre, die zum Teil zwischen dem Erscheinen der Publikationen und den Ereignissen in Millers Leben lagen, die Erinnerungen der Beteiligten verklärt haben könnten. Die Frage nach der Subjektivität respektive Objektivität der Aufzeichnungen ist ein Kriterium, das der Leser bei der Auswertung einer (Auto)Biographie in jedem Fall berücksichtigen sollte, da die dargestellten Erinnerungen in direkter oder indirekter Weise von den persönlichen Eindrücken, Gedanken und Meinungen des Verfassers oder der Zeitzeugen geprägt sein können.17

Lee Millers Leben war mit dem Leben vieler anderer Menschen verflochten, die ihre Sicht auf die Ereignisse zum Teil in (Auto)Biografien festgehalten haben. Durch eine Gegenüberstellung der von Antony Penrose gesammelten Informationen mit den schriftlich fixierten Erinnerungen anderer am Geschehen beteiligter Personen soll eine

16 Zur Biografie Millers siehe: Penrose 1985a. Chronologie in: Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 169–174. 17 Vgl. hierzu: Walter Hubatsch, Biographie und Autobiographie: das Problem von Quelle und Darstellung, Moskau 1970. Richard Kämmerlings, Das Ich und seine Gesamtausgabe. Zum Problem der Autobiographie, in: Kursbuch, (2002), 148, S. 99–109. 8

Vergleichsmöglichkeit geschaffen werden, die in bestimmten Grenzen eine Überprüfung der Angaben und somit eine Aussage über deren Glaubwürdigkeit zulässt.

Lee Millers Leidenschaft für Europa begann im Mai 1925, als sie sich im Alter von 18 Jahren das erste Mal für die Überfahrt nach Frankreich einschiffte. Die am 23. April 1907 in Pooghkeepsie, einer kleinen Stadt in der Nähe von New York (USA), geborene Elizabeth, genannt Lee, hatte aufgrund ihrer ungestümen Art häufig die Schule wechseln müssen. Ihre Eltern hofften deshalb, dass ein Aufenthalt in Paris, wo Lee die klassische Kunst und die Kultur Europas kennen lernen sollte, die Ausbildung ihrer Tochter abrunden würde.

In Paris, dem Zentrum der künstlerischen Welt18, interessierte sich Lee Miller besonders für die modernen, zeitgenössischen Kunstströmungen – wie zum Beispiel den Surrealismus – und beschloss in dieser von Kunst geprägten Atmosphäre, selbst Künstlerin zu werden. Mit der finanziellen Unterstützung ihrer Eltern besuchte sie die neueröffnete L’Ecole Medgyes pour la Technique du Théâtre, die vom ungarischen Theaterdesigner Ladislas Medgyes (1892 – ?) und dem Architekten Erno Goldfinger (1902 – 1987) geleitet wurde. Ihre Studien bei Medgyes waren aber wegen der zahlreichen Zerstreuungen, die ihr das Leben in Paris bot, mehr oder weniger erfolgreich. Lee Millers erster Aufenthalt in Paris endete – auf Druck ihres Vaters – im Januar 1926.

Miller tauschte ihr Leben in Paris gegen das in New York ein, ohne aber ihr Berufsziel aus den Augen zu verlieren. An der Art Students League belegte sie Kurse für Bühnendesign und -beleuchtung, verfolgte ihr Studium aber nicht mit der notwendigen Intensität, sondern genoss die zahlreichen Möglichkeiten, die eine Großstadt wie New York zu bieten hatte. Sie ließ sich ‚vom Leben treiben‘ und versuchte sich auch als Tänzerin, trat sogar in einigen Bühnenshows auf. Durch einen Zufall traf sie in dieser Zeit den Verleger Condé Nast. Dieser rettete ihr das Leben, als sie in New York beim Überqueren der Straße vor ein herannahendes Auto geriet. Millers äußere Erscheinung muss den Verleger von Vogue und anderen Magazinen beeindruckt haben, da er ihr das Angebot machte, für ihn als Modell zu arbeiten. Schon im März 1927 erschien Millers Gesicht auf der Titelseite von Vogue, doch statt einer Fotografie illustrierte noch eine Zeichnung von Georges Lepape das Cover.19

Lee Miller war als Fotomodell sehr erfolgreich und arbeitete in New York mit so berühmten Fotografen wie Edward Steichen (1879 – 1973) und Arnold Genthe (1869 – 1942) zusammen. Doch sie hatte nur ein Ziel vor Augen: ihre Rückkehr nach Paris. Mit einem Empfehlungsschreiben von Steichen für Man Ray und der Unterstützung von Condé Nast, der sie an die französischen Vogue-Studios und den dort tätigen George Hoyningen-Huene (St. Petersburg, Russland, 1900 – Los Angeles, USA, 1968), einen der führenden Modefotografen der 1920er und 1930er Jahre, vermittelte, kam Miller im Mai 1929 in Frankreich an. Im Auftrag eines amerikanischen Modeschöpfers reiste sie zunächst nach Florenz, um dort an Gemälden die Mode der Renaissance zu studieren und Details der

18 Vgl. hierzu: Paris-Paris 1937–1957, Ausst. Kat., Centre National d’Art et culture Georges Pompidou, Paris, 28.5.–2.11.1981. 19 Abb. in: Penrose 1985a, S. 16. 9

Kostüme zu zeichnen. Millers Vater Theodore, ein Ingenieur, war ein begeisterter Hobbyfotograf, der auch seine Tochter schon früh mit den Grundlagen der Fotografie vertraut gemacht hatte. So verwundert es nicht, dass Miller, die die Spitzen und Schleifen eigentlich zeichnen sollte, stattdessen unter schwierigsten Bedingungen mit einer kleinen Kodak- Faltkamera mit Stativ experimentierte und ihrem Auftraggeber Fotos statt Zeichnungen schickte.

Die Erfahrungen, die sie auf dem Gebiet der Fotografie während dieser Zeit gesammelt hat, scheinen ihre Berufswahl beeinflusst zu haben: statt wie geplant bei Man Ray, einem der gefragtesten Pariser Fotografen, als Modell vorzusprechen, stellte sie sich ihm als Schülerin vor. Trotz seiner anfänglichen Ablehnung beharrte sie auf ihrem Wunsch und wurde im Sommer 1929 Assistentin20 und Geliebte Man Rays. Man Ray gehörte der surrealistischen Bewegung an, so dass Miller durch ihn mit der avantgardistischen Kunst und Künstlern wie Max Ernst in Kontakt kam, mit dem sie seit 1929 bis zu seinem Tod eine enge Freundschaft verband. Lee Miller stand den Surrealisten um André Breton (1896 – 1966) sehr nahe, ohne aber jemals ein aktives Mitglied der Bewegung gewesen zu sein.

Neben ihrer Ausbildung und Mitarbeit in Man Rays Studio war Miller noch als Fotomodell für Vogue tätig und wurde von George Hoyningen-Huene fotografiert. Antony Penrose sieht diese Modellsitzungen als privilegierte Tutorien an, bei denen Lee Gelegenheit hatte, Erfahrungen vor und hinter der Kamera zu sammeln und viel von Hoyningen-Huenes Technik zu lernen.21 Auch dessen Schüler Horst P. Horst22 berichtet, dass er in seiner Rolle als Modell viel über Fotografie erfahren habe.23 Hoyningen-Huene, der ein enger Freund Lee Millers wurde, soll diese spezielle Form der Ausbildung immer gefördert haben.

Nachdem Lee Miller seit Sommer 1929 rund neun Monate mit Man Ray in dessen Fotoatelier zusammengearbeitet und mit ihm unter anderem die Technik der sogenannten Solarisation24 wiederentdeckt hatte, mietete sie sich zu Beginn des Jahres 1930 ein Studio im Pariser Viertel Montparnasse (12 rue Victor Considérante). Ihre Kooperation mit Man Ray dauerte aber an: so entstand 1931 in enger Zusammenarbeit der beiden Fotografen eine Werbebroschüre für die Compagnie Parisienne de Distribution d’Electricité. In dieser Zeit übernahm Miller – neben Aufträgen, die Man Ray aus unterschiedlichen Gründen nicht selbst

20 Lee Miller war nach Berenice Abbott (Springfield, Ohio, 17.7.1898–9.12.1991) (Assistenzzeit bei Man Ray 1923–1926), Jacques-André Boiffard (Epernon, 1902 – Paris, 1947) (Assistenzzeit 1924-1929) und Bill Brandt (Hamburg, 1904 – London, 1983) (dreimonatige Assistenzzeit 1929) die vierte und letzte Assistentin Man Rays, vgl. Atelier Man Ray: Berenice Abbott, Jacques-André Boiffard, Bill Brandt, Lee Miller 1920–1935, Ausst. Kat., Centre Georges Pompidou, Musée national d’Art moderne, 2.12.1982–23.1.1983, Paris 1982. 21 Penrose 1985a, S. 29. 22 Paul Bohrmann, Weißenfels, Saale, 1906 – Palm Beach Gardens, Florida, USA, 19.11.1999. 23 William A. Ewing, The photographic art of Hoyningen-Huene, London 1998, S. 179: „What better way to learn photography than in the role of model, with plenty of time to scrutinize the workings of the man behind the camera?” 24 Vgl. Kap. 4.3.1. 10 ausführen wollte – auch eigene künstlerische und kommerzielle Arbeiten wie Modefotografien für Vogue.

Gegen den Widerstand von Man Ray und ihrer surrealistischen Freunde, die Jean Cocteau sehr kritisch gegenüberstanden, übernahm Lee Miller in dessen experimentellen Film Le Sang d’un poète25 die Rolle einer klassischen Skulptur. Weitere Filmangebote lehnte sie mit der Begründung, dass sie nicht schauspielern könne, ab. Lee Miller blieb aber dem Film – wenn auch nicht als Schauspielerin, sondern als Fotografin – im Lauf ihrer Karriere weiterhin verbunden. So hielt sie sich 1931 nicht nur für Modeaufnahmen für die britische Vogue mehrfach in London auf, sondern fotografierte auch am Set des Films Stamboul, einer Produktion der britischen Paramount.

Im Sommer dieses Jahres kaufte der Kunsthändler Julien Levy eine größere Zahl von Millers Fotografien an. Die Aufnahmen präsentierte er in seiner New Yorker Galerie in verschiedenen Ausstellungen: von Februar bis März 1932 zusammen mit den Werken von 19 europäischen Fotografen wie Umbo und Laszlo Moholy-Nagy unter dem Titel Modern European Photographers und vom 30. Dezember 1932 bis zum 25. Januar 1933 in Millers einziger Einzelausstellung zu ihren Lebzeiten. Zusätzlich sind Lee Millers Fotografien im April 1932 im Rahmen der Ausstellung International Photographers im Brooklyn Museum sowie im Sommer 1932 in der Exposition nationale et internationale de la photographie in Brüssel zu sehen. Die Präsentationen in den USA fanden zwar positive Erwähnung in der Presse, doch ließen sich surrealistische Fotografien – anders als surrealistische Skulpturen und Gemälde – zu dieser Zeit nur schwer verkaufen, da die Fotografie nicht als ein künstlerisches Medium angesehen wurde.26 Millers Aufnahmen wurden so Teil von Levys privater Sammlung, die heute im Art Institute of Chicago aufbewahrt wird.

Noch im Oktober 1932 verließ Miller Paris, um wieder in New York zu leben, wofür Antony Penrose private Gründe anführt: Lee lebte nach dem von den Surrealisten propagierten Prinzip der freien Liebe und hatte neben ihrer Beziehung zu Man Ray weitere Affären, unter anderem mit dem reichen ägyptischen Geschäftsmann Aziz Eloui Bey. Man Ray verfolgte sie daraufhin mit seiner Eifersucht, da er zwar wie alle Surrealisten prinzipiell für die Idee der freien Liebe eintrat, aber eben nur so weit, als sie die männliche und nicht die weibliche Selbstverwirklichung betraf. Die Situation verschärfte sich durch den Freitod von Nimet, der Ehefrau Aziz Eloui Beys, von der er sich wegen Miller getrennt hatte. Diese Umstände sollen Lee dazu bewogen haben, ihr Studio in Paris zu schließen und in ihre Heimat zurück zu kehren.

Mit der Unterstützung reicher Freunde eröffnete sie – trotz der verheerenden Auswirkungen, die die Weltwirtschaftskrise vom Oktober 1929 noch immer nach sich zog – gleich nach ihrer

25 Le Sang d’un poète (deutscher Titel Das Blut eines Dichters, Dreharbeiten von April bis September 1930), Regie: Jean Cocteau, Produktion: Vicomte de Noailles, Musik: Georges Auric, Darsteller: Barbette, Feral Benga, Pauline Carton, Jean Desbordes, Fernand Dichamps, Lucien Jager, Lee Miller, Odette Talazac, Errique Rivero. 26 Penrose 1985a, S. 46. 11

Ankunft in New York ein eigenes Fotostudio27. Als Assistenten für die Arbeit in der Dunkelkammer engagierte sie ihren jüngeren Bruder Erik, der zuvor für den Mode- und Werbefotografen Toni von Horne gearbeitet hatte. In dieser Zeit gehörte nicht nur die „soziale und kulturelle Elite New Yorks“ zu ihren Porträtkunden, es entstanden auch Werbe- und Modeaufnahmen28 sowie freie Arbeiten wie die Fotoserie des Objektkünstlers Joseph Cornell29. Millers Fotografien wurden 1933/34 auch in der Exhibition of New York Beauty und in einer Ausstellung der Royal Photographic Society in London präsentiert.

Noch im Januar 1934, als Miller die Akteure der von John Houseman produzierten ‚surrealistischen Oper‘ Four Saints in Three Acts von Virgil Thomson porträtierte30, und im Mai des Jahres, als Vanity Fair sie zu den sieben besten lebenden Fotografen kürte, war nicht abzusehen, dass sie ihr Fotoatelier schon in Kürze aufgeben würde. Der Grund dafür war Aziz Eloui Bey, den Miller in New York wiedersah und den sie im Juli 1934 zur großen Überraschung ihrer Freunde und Familie heiratete. Im Herbst 1934, als sich Miller und ihr Mann in Kairo niederließen, schloss Erik Miller das New Yorker Studio.

In Ägypten fotografierte Lee Miller zunächst nur selten, entdeckte dann aber während zahlreicher Expeditionen in die Wüste die ägyptische Landschaft als ein Motiv für ihre Aufnahmen. Miller empfand ihr Leben in der sozialen Oberschicht als langweilig und ereignislos, so dass sie im Frühsommer 1937 für längere Zeit nach Paris reiste. Dort traf sie mit ihren Freunden zusammen und lernte durch Vermittlung von Max Ernst noch am Tag ihrer Ankunft den britischen Surrealisten Roland Penrose (1900 – 1984) kennen. Penrose – Künstler, Mitbegründer der englischen Surrealistengruppe sowie Organisator der International Surrealist Exhibition 1936 in London – lud Miller im Juli 1937 nach Cornwall ein, um dort in Gesellschaft anderer Künstler eine unbeschwerte Zeit zu verbringen. Zu der illustren Surrealistenschar gehörten neben Miller und Penrose auch Man Ray und seine Freundin Adrienne Fidelin, Paul Éluard (Eugène Grindel, 1895 – 1952) und Nusch (Maria Benz, 1906 – 1946), Herbert Read (1893 – 1968), E.L.T. Mesens, Eileen Agar und Joseph Bard sowie Max Ernst und Leonora Carrington.31 Ihr ausgelassenes Leben setzten einige Mitglieder der Gruppe, zu der sich auch Pablo Picasso und Dora Maar gesellten, im August 1937 im südfranzösischen Mougins fort. Während dieser Treffen nahm Miller nicht nur zahlreiche Fotografien ihrer alten und neuen Freunde auf, sie inspirierte auch Picasso, den sie in Mougins kennen lernte und dem sie Zeit ihres Lebens eng verbunden blieb, zu mehreren Porträtgemälden.32

27 Das Studio Millers befand sich in der 8 East 48th Street. 28 Zum Beispiel für die Kosmetikfirma Elisabeth Arden und die Magazine Vogue, Harper’s Bazaar und Vanity Fair, vgl. Penrose 1985a, S. 48ff. 29 Vgl. Kap. 4.1.1.1. 30 Penrose 1985a, S. 50. Vgl. zum Beispiel das SWN LMA, Inv. Nr. 116-8. 31 Penrose 1981b, S. 107. Penrose 2001, S. 78–79. 32 Abb. in: Ausst. Kat. Chemnitz 2002/03, S. 204–205, Abb. 4 bis 7 [nicht bei Zervos]. 12

Im Sommer 1938 und im Frühjahr 1939 unternahmen Miller und Penrose ausgedehnte Reisen auf dem Balkan und in Ägypten. Im Juni 193933 hatte sich Lee Miller endgültig für ein Leben an der Seite von Roland Penrose in London entschieden. Noch im gleichen Jahr bot sie ihre Mitarbeit der Zeitschrift Vogue an. Trotz anfänglicher Ablehnung – Miller war seit 1934 nicht mehr als professionelle Fotografin tätig gewesen – insistierte sie auf ihrem Vorhaben. Im Januar 1940 erhielt sie die Chance, bei der britischen Modezeitschrift Vogue, auch Brogue genannt, auf einer durch Kriegseinsatz freigewordenen Stelle für £ 8 pro Woche mitzuarbeiten, eine Summe, die nur knapp über dem Lohn eines Fabrikarbeiters (ca. £ 7) lag.34 Ihre Auftragsarbeit in dieser Zeit beschränkte sich auf Gesellschaftsporträts, Werbe- und Modefotografien, eine Aufgabe, die sie aber nicht zufrieden stellte. Einen Ausgleich suchte und fand Miller in freien Arbeiten, zu denen auch die Fotografien gehören, die 1941 in Großbritannien und den USA in ihrem Fotoband Grim Glory: pictures of Britain under fire35 veröffentlicht wurden. Diese Aufnahmen, denen eine sehr ‚poetische‘, ‚surreale‘ Ästhetik zu Eigen ist, zeigen die Gewalt und die Zerstörung, denen London durch die Angriffe deutscher Bomber im 2. Weltkrieg – während des sogenannten ‚Blitz‘ – ausgesetzt war.36

Der drohende Krieg veranlasste Miller und Penrose im September 1939 zu einer Reise auf den europäischen Kontinent, um noch einmal Max Ernst und Leonora Carrington in Saint-Martin d’Ardèche37 und Picasso und Dora Maar in Antibes zu sehen. Bei Ausbruch des Krieges, der Miller und Penrose schließlich zur Rückkehr nach Großbritannien zwang, forderten die amerikanischen Behörden Lee mehrfach auf, England zu verlassen. Sie teilten ihr mit, dass sie für ihre Sicherheit ansonsten keine Garantie mehr übernehmen könnten, was Miller aber in keiner Weise beeindruckte.38 Nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 und der Stationierung amerikanischer Streitkräfte in Großbritannien ließ sich Lee Miller auf Anregung von David Scherman, Fotojournalist des Magazins Life und US-Kriegskorrespondent, in ihrer Funktion als Fotografin für Vogue im Dezember 1942 als Kriegskorrespondentin der US-Armee akkreditieren.39

33 Penrose 1985a, S. 93f. Penrose 2001, S. 95. Penrose nennt den 14. Juni 1939 als Datum von Millers Ankunft in Großbritannien. 34 Penrose 1985a, S. 98. Die wöchentlichen Ausgaben einer Arbeiterfamilie mit 5 Personen beliefen sich (lt. Daily Express vom 31. Mai 1940) auf ca ₤ 3 (genannt werden: Miete ca. 10s 6d, Kohle ca. 4s 4d, Gas und Elektrizität ca. 3s 6d, Versicherung ca. 4s 8d, Kleidung ca. 3s, Verschiedenes ca. 4s). Bis 1971 war das GBP in 20 Schilling (abgekürzt: s) zu je 12 Pence (abgekürzt: d) unterteilt. Ein Auto der Marke Vauxhall kostete ca. ₤ 169, ein Paket Kakao, eine Packung Zigaretten und ein Paket Waschpulver je ca. 6d, eine Dose Hundefutter ca. 7d, eine Fahrt mit dem Bus von Glasgow nach London ca. ₤2 10s. Vgl. die Angaben auf der Internetseite der Battle of Britain Historical Society >www.battleofbritain.net/0001.html<, “Britain prepares for war”, Document-3a. 35 Ernestine Carter (Hrsg.), Grim Glory: pictures of Britain under fire, preface by Edward R. Murrow, London 1941. 36 Penrose 1985a, Abb. S. 102–108. 37 Vgl. Kap. 4.2, Porträts von 1929–1940. 38 Penrose 1981b, S. 122–127. 39 Penrose 1985a, S. 109. 13

Zunächst entstanden, teilweise in enger Zusammenarbeit mit Scherman, Reportagen über die Lage der britischen Bevölkerung im Krieg.40 Auch war Miller – wie bereits 1931 – wieder als Filmfotografin tätig und schuf zahlreiche Aufnahmen von den Dreharbeiten des Films Out of chaos, in dem die britische Regisseurin Jill Cragie (1914 – 1999) über das Leben und die Probleme von ‚offiziellen Kriegskünstlern‘41 wie Henry Moore, Graham Sutherland und Paul Nash berichtete. Seit Ende Juli 1944, der Befreiung der französischen Hafenstadt Saint Malo von deutscher Besatzung, lieferte Miller aber Material von den europäischen Kriegsschauplätzen. Durch Millers Funktion als Kriegskorrespondentin der US-Armee und Fotografin für Vogue wurden ihre Artikel und Aufnahmen über das Geschehen des Krieges in der britischen und amerikanischen Ausgabe des Hochglanzmagazins veröffentlicht. Neben Artikeln über glamouröse Mode, Luxus und das Leben der ‚Highsociety‘ – den eigentlichen Themen von Vogue – fanden sich nun auch Reportagen über menschliches Leid, Tod und Vernichtung. Die Mitarbeiter von Vogue nahmen so ‚am Krieg teil‘ und versuchten wohl auf diese Weise, das Erscheinen des Magazins in einer Zeit zu legitimieren, in der viele Menschen ihre Existenz verloren hatten und ohne Obdach, Nahrung und Kleidung waren.

Lee Miller folgte den alliierten Truppen quer durch Europa42, fotografierte im August 1944 die Befreiung von Paris und war im April 1945 beim Zusammentreffen der sowjetischen und amerikanischen Armeen in Torgau dabei. Im Mai gleichen Jahres dokumentierte sie mit ihrer Kamera das Grauen, das sich den Soldaten bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau bot. Kurze Zeit später gelangte sie nach München, wo sie in Eva Brauns Bett schlief und in Hitlers Badezimmer badete.43 In Berchtesgaden sah sie schließlich dessen Haus Adlerhorst brennen.44 Im Februar 1946 kehrte Lee Miller, die ihre Kriegserlebnisse in zahlreichen Artikeln in Wort und Bild festgehalten hat, nach Aufenthalten und Touren in Salzburg, Wien, Rumänien und Ungarn – wo sie im gleichen Jahr in Budapest den Bildhauer Sigmund Stróbl45 porträtierte und der Erschießung des faschistischen Premierministers László Bardossy beiwohnte – nach London zurück. Bereits kurze Zeit später – von Mai bis Oktober 1946 – war sie wieder auf Reisen, die sie diesmal in die USA führten: dort wurde sie nicht nur von Vogue für ihre journalistische Leistung gefeiert, sie sah auch nach zwölfjähriger Abwesenheit zum ersten Mal ihre Familie wieder. Sie bereiste das Land und besuchte während ihres Aufenthaltes langjährige Freunde wie Man Ray und Max Ernst46, die während

40 Penrose 1985a, S. 109–112. 41 Vgl. Kap. 4.1.4.1.4 und 4.1.4.1.3. 42 Penrose 1995, S. 33ff. 43 David Scherman fotografierte die badende Lee Miller, Abb. in: Penrose 1985a, S. 142. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 132, rechte Abb. 44 Penrose 1985a, siehe Kapitel 7, S. 118–144. 45 Vgl. Kap. 4.1.2.2.2. 46 Waldberg gibt als Datum für das erste Zusammentreffen von Penrose und Ernst in dessen Atelier in Paris in der Rue Tourlaque 1927 an (vgl. Patrick Waldberg, Max Ernst, Paris 1958, S. 268). Penrose kannte Ernst also lange vor Miller, die Ernst durch Man Ray schon bald nach ihrer Ankunft in Paris 1929 kennen gelernt haben wird: eine Fotografie Man Rays (vgl. Man Ray, Photograph, München 1982, S. 71, Abb. 59. Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 65) zeigt den Fotografen selbst, Lee Miller, Max Ernst und Marie-Berthe Aurenche, Ernsts zweite Frau. Mit zu den frühesten Porträts von Max Ernst (ff) 14 des Krieges in die USA emigriert waren. Diese porträtierte sie wie auch Wifredo Lam, Isamu Noguchi, Dorothea Tanning, Yves Tanguy und Kay Sage.

Im Dezember 1946 nahm Miller ihre Arbeit bei der britischen Vogue wieder auf und reiste im Januar 1947 in die Schweiz, wo sie im Auftrag von Vogue berühmte ‚Schweizer‘ wie Jean Arp und Hans Erni porträtierte. Marino Marini, Giorgio Morandi, Giacomo Manzù, Giuseppe Santomaso, Renato Guttuso, Carlo Carrà und Alberto Viani sind die Künstler, die Lee Miller während der 24. Biennale von Venedig im Sommer 1948 fotografierte und über die sie in ihrem Vogue-Artikel Venice Biennale47 berichtete.48 Im Februar 1949 hatten Lee Miller und Roland Penrose, die seit 1947 verheiratet und Eltern ihres Sohnes Antony waren, die Möglichkeit, ihrem Wunsch nach einem naturverbundenen Leben nachzukommen: auf einer Auktion ersteigerten sie ein Farmhaus namens Farley Farm, in den Sussex Downs, einer südlich von London gelegenen Hügellandschaft. Durch die zentrale Lage des Hauses waren häufig Freunde von Miller und Penrose auf Farley Farm zu Besuch. Lee Miller hatte eine spezielle Art der Gastfreundschaft – sie hielt immer ausreichend Arbeit in Haus und Garten bereit, um bei ihren Gästen keine Langeweile aufkommen zu lassen: die Bemühungen ihrer Freunde hat sie in vielen Fotografien festgehalten, die zum Teil ihren im Juli 1953 in der britischen Vogue veröffentlichten Artikel Working Guests49 illustrieren. Working Guests ist einer von Millers letzten Artikeln. Ihre Tätigkeit als Autorin hatte sie nur begonnen, weil sie mit der journalistischen Arbeit ihrer Kollegen unzufrieden war und die Artikel, die ihre Fotos begleiteten, lieber selbst verfassen wollte. Sie kritisierte vor allem, dass die Aufnahmen durch die Texte ihrer Kollegen in einen falschen Zusammenhang gestellt würden. Lee fiel das Schreiben nicht leicht, worunter vor allem ihre Familie litt. So bat Roland Penrose Audrey Withers von Vogue heimlich, seiner Frau keine Aufträge mehr zukommen zu lassen.50

Während Lee Millers journalistische Laufbahn im Juli 1953 endete – nur 1959 erschien in der britischen Vogue ein weiterer Artikel51, in dem sie über die Picasso-Ausstellung im Londoner Institute of Contemporary Art berichtete –, begann Roland Penrose seine Karriere als Schriftsteller mit einer Biografie über Pablo Picasso. Neben dieser 1956 in London erschienenen Publikation verfasste er weitere Bücher über den spanischen Künstler. Auf seinen zahlreichen Reisen, die ihn unter anderem 1954, 1955, 1956, 1958, 1962, 1965 und 1970 zu Picasso an die französische Mittelmeerküste führten, wurde er von seiner Frau begleitet. Lee Miller nahm während dieser Aufenthalte zahlreiche Fotografien des Künstlers

von der Hand Millers kann eine im gleichen Jahr entstandene, von der Fotografin signierte Aufnahme gezählt werden, die den Künstler mit Marie-Berthe zeigt (Jürgen Pech (Red.), Max Ernst im photographischen Porträt, Ausst. Kat., Max-Ernst-Kabinett, 21.3.–31.8.1985, S. 63). 47 Lee Miller, Venice Biennale, in: (britische) Vogue (August 1948), S. 66–67, 88–90. 48 Vgl. Kap. 4.1. 49 Lee Miller, Working Guests, in: (britische) Vogue (July 1953), S. 54–57, 90, 92. 50 Penrose 1985a, S. 104, S. 112, S. 114, S. 193. Penrose berichtet auf S. 116 aber auch von dem mangelnden Selbstvertrauen Lee Millers in Bezug auf ihre schriftstellerischen Fähigkeiten. 51 Lee Miller, Picasso, in: (britische) Vogue (November 1951), S. 112, 113, 160, 165. 15 mit oder ohne Werk auf und hielt auch das besondere Ambiente, das Picasso in seinen verschiedenen Häusern geschaffen hatte, im Bild fest.52

Seit Ende der 1950er Jahre interessierte sich Lee Miller aber immer weniger für die Fotografie, an deren Stelle vor allem klassische Musik und das Kochen traten. Mit großer Begeisterung besuchte sie Konzerte, sammelte Kochbücher und kreierte immer neue, exotische Gerichte. Auch war Millers Reiselust weiterhin ungebrochen: zu ihren Zielen gehörten die Westindischen Inseln (1971), die USA (1959, 1962, 1964, 1967, 1969, 1971, 1975), Norwegen (1961), Spanien (1966, 1973), Frankreich (1965, 1966, 1970, 1976), Japan (1966), Italien (Venedig: 1962, 1964, 1966, 1969) und Ägypten (1963).

Nur noch zweimal griff Lee Miller Anfang der 1970er Jahre zur Kamera, um Künstler zu porträtieren. Miller war zusammen mit ihrem Mann Roland, der über das Leben und das Werk von Joan Miró und das von Antoni Tàpies arbeitete, 1970 nach Palma de Mallorca und 1973 nach Barcelona gereist. Dort porträtierte sie Miró und Tàpies mit ihren Werken im Atelier oder ließ sich von der besonderen Atmosphäre inspirieren, die in deren Häusern herrschte. Diese Aufnahmen der beiden spanischen Künstler stehen am Ende ihrer Karriere als Fotografin. Lee Miller starb am 27. Juli 1977 auf Farley Farm.

52 Vgl. Kap. 4.1.1.7, 4.1.1.8, 4.1.1.9, 4.1.1.10, 4.1.2.2.5, 4.1.2.2.6, 4.1.2.2.7, 4.1.2.3.4, 4.1.4.2.6, 4.1.3.2, 4.1.4.2.5. 16

3 Typen des fotografischen Künstlerporträts im 19. Jahrhundert

Schon kurze Zeit nach der offiziellen Bekanntgabe des technischen Prozesses der sogenannten Daguerreotypie vor der Pariser Akademie der Wissenschaften am 19. August 1839 stellte das fotografische Bildnis – als ein bevorzugtes Sujet der Daguerreotypisten – eine ernst zu nehmende Konkurrenz für das gemalte53, gezeichnete oder gestochene Porträt dar. Diesen ‚Wettstreit‘ konnte die Fotografie im Lauf der Zeit für sich entscheiden, so dass der Begriff Porträt im heutigen Sprachgebrauch fast zu einem Synonym für das fotografische Bildnis geworden ist.

Die Fotografen, bei denen es sich häufig um ehemalige Maler handelte, entwickelten zur damaligen Zeit aber keine neuen Bildlösungen und Konzepte, um sich von der Malerei abzugrenzen, sondern versuchten vielmehr, diese zu imitieren. Sie orientierten sich an den Kompositionsregeln der akademischen Malerei und übernahmen traditionelle Motive und ikonographische Merkmale.54 Doch betraf die Imitation nicht nur das Sujet oder den Bildaufbau: die Fotografen waren teilweise auch bemüht, die Maltechnik nachzuahmen. So wollten sie mit Edeldruckverfahren55 malerische Effekte schaffen, um ihren rein technisch hergestellten Fotografien einen künstlerischen Anspruch zu verleihen. Gerade der technische Prozess, der eine zunächst viel bewunderte, abbildgetreue Wiedergabe des Objekts erlaubte, setzte den Fotografen – anders als den Malern – hinsichtlich der Motivwahl und der Komposition ihrer Aufnahmen, der Lichtregie und der Verwendung von Farbe deutliche Grenzen, so dass die Fotografie lange Zeit nicht als ein künstlerisches Medium galt.

Schon um 1840, also in der Frühzeit der Fotografie, fanden sich neben den konventionellen fotografischen Bildnissen von Künstlern auch Aufnahmen56, die in der Tradition von

53 Das Miniaturenporträt, das sich noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute, verlor beispielsweise nach der Einführung der Fotografie zunehmend an Bedeutung (Aaron Scharf, Art and Photography, London 1968, S. 21–24). Vgl. auch: Erika Billeter, Malerei und Photographie im Dialog, Bern 1977, S. 171. 54 Vgl. auch: Ursula Peters, Stilgeschichte der Fotografie in Deutschland 1839–1900, Köln 1979, S. 274ff. 55 Helmut Gernsheim, Geschichte der Photographie, Die ersten hundert Jahre, Propyläen Kunstgeschichte, Sonderband III, 1983, S. 723ff. Lexikon der Kunst, Leipzig, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1989, Band 2, S. 259–260. Walter Koschatzky, Die Kunst der Photographie, Wien 1993, S. 257–271. 56 Christian Diener, Graham Fulton-Smith (Hrsg.), Franz Hanfstaengl, Album der Zeitgenossen, Fotos 1853–1863, München 1975, o. Pag., vgl. die Porträts des Bildhauers Christian Daniel Rauch (1777-1857), des Architekten Leo von Klenze (1784–1864), des Malers Peter von Cornelius (1783-1867), des Bildhauers Ernst Rietschel (1804–1861) und des Malers Johann Wilhelm Schirmer (1807–1863). 17

Porträtgemälden57 von Malern und Bildhauern ab 1558 stehen und in denen die Protagonisten mit typischen Accessoires zu sehen sind.58 Die Kunstwerke und berufsspezifischen Werkzeuge sollen in diesen Fotografien einen Hinweis auf die künstlerische Profession oder das besondere Interesse des Porträtierten an bildender Kunst liefern und finden sich seither als charakterisierende Elemente in fotografischen Künstlerporträts.

Am Motiv gemalter Vorbilder orientierte sich auch der Fotograf einer um 1840/43 entstandenen Daguerreotypie59 (Fotografie 1): diese Aufnahme, die dem Fotografen Aymard-Charles-Theodore Neubourg zugeschrieben werden könnte und den dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen in Arbeitskleidung mit seinem auf einer Staffelei präsentierten Basrelief Diana und Jupiter (1840) im Freien zeigt, gilt als ein sehr frühes Beispiel für die Darstellung eines mit seinem Werk posierenden Künstlers.

Nicht durch ein Werk, sondern durch die typischen Utensilien eines Malers wird in einer ebenfalls nur wenige Jahre (um 1842/43) nach der Bekanntgabe des fotografischen

57 Vgl. hierzu: Ludwig Goldscheider, 500 Selbstporträts, Wien 1936, Abb. 130, Tafel zwischen Abb. 201 und 202, Abb. 206, 211, 219, 255, 264, 270, 274, 275, 277, 278, 283, 304, 305, 320, 322, 348, 371, 377, 418, 441, 455, 460, 461, 478. Karla Langedijk, Die Selbstbildnisse der holländischen und flämischen Künstler in der Galleria degli Autoritratti der Uffizien in Florenz, Florenz 1992, S. 106, Abb. [20], S. 174, Abb. [32], S. 260, Abb. [52]. Künstler im Spiegel einer Sammlung: Graphische Bildnisse von Malern, Bildhauern und Kupferstechern aus dem Porträtarchiv Diepenbroick, Ausst. Kat., Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, 8.6.–7.9.1997, Abb. 8, Kat. Nr. 9, 10, 11, 12, 28, 67, 70, 71, 74, 80, 81, 84, 107. Künstlerbildnisse: Porträts von Tischbein bis Beuys, Malerei, Graphik und Skulptur aus eigenen Beständen, Ausst. Kat., Staatliche Museen Kassel, Neue Galerie, 1.10.1996–16.2.1997 (= Staatliche Museen Kassel, Monographische Reihe; 8), Farbtaf. 1, 3, Kat. Nr. 92, 147, 150. Rita Göke, Studien zum Künstlerbildnis des 17. und 18. Jahrhunderts in England, Münster 2000 (= Bonner Studien zur Kunstgeschichte; 15) (Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1994), S. 78ff. Susann Waldmann, Der Künstler und sein Bildnis im Spanien des 17. Jahrhunderts: ein Beitrag zur spanischen Porträtmalerei, Frankfurt am Main 1995 (= Ars Iberica; 1) (Zugl.: München, Univ., Diss., 1994), Abb. 4, 36, 37, 40, 41, 42. Claudia Denk, Artiste, Citoyen & Philosophe: Der Künstler und sein Bildnis im Zeitalter der französischen Aufklärung, München 1998 (Zugl.: München, Univ., Diss., 1994), Abb. 19, 20, 21, 22, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 42, 46, 47, 48, 51, 52, 53, 54, 58, 62, 63, 64, 65, 68, 69, 71, 79, Taf. X. Künstlerleben in Rom, Bertel Thorvaldsen (1770–1844), Ausst. Kat., Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 1.12.1991–1.3.1992, Schleswig, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloß Gottorf, 22.3.–21.6.1992, Abb. 4.8, 4.9, 4.11, 4.14, 4.17, 4.29. Diether Schmidt, Otto Dix im Selbstbildnis, Berlin 1978, S. 109, Abb. 70, S. 139, Abb. 94, S. 145, Abb. 98, S. 167, Abb. 120, S. 168/169, Abb. 121 und 122. Werner Schnell, Georg Friedrich Kersting (1785–1847); das zeichnerische und malerische Werk mit Œuvrekatalog, Berlin 1994 (Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Habil.-Schr., 1986), Kat. Nr. A 28, A 29, A 48, A 49, A 72, B 74, Abb. 8 und 12. Annette Kanzenbach, Der Bildhauer im Porträt. Darstellungstraditionen vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen, Univ., Diss., 2000. 58 Göke 2000, S. 78 und 261. Hans-Joachim Raupp, Untersuchungen zu Künstlerbildnis und Künstlerdarstellung in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, Hildesheim [u. a.] 1984 (= Studien zur Kunstgeschichte; 25), S. 22. 59 Fotografie 1 = Abb. in: Michael Klant, Künstler bei der Arbeit – von Fotografen gesehen, Ostfildern- Ruit 1995, S. 17. Klant weist daraufhin, dass sich auf der Rückseite der Fotografie der – vermutlich erst später angebrachte – Vermerk Neubourg 1840 findet. Abb. siehe auch: History of Photography 1 (1977), S. 85–87. 18

Prozesses (1839) von Louis-Jacques-Mandé Daguerre aufgenommenen Fotografie60 (Fotografie 2) ein Hinweis auf das künstlerische Wirken des Porträtierten, bei dem es sich um Daguerres Schwager Charles Arrowsmith handeln könnte, gegeben. Arrowsmith(?) posiert, wie viele in Porträtgemälden verewigte Künstler, nicht nur mit einem Pinsel und einer Palette, die er ostentativ in seinen Händen hält, sondern ist auch mit dem charakteristischen Malkittel bekleidet.

Doch nicht nur das Bildmotiv des mit den spezifischen Accessoires ausgestatteten Künstlers findet sich schon früh in der Porträtfotografie, auch die Darstellung des Künstlers in einer Arbeitsszene – in diesem Fall in gestellter Arbeitshaltung – gehörte schon bald zum Repertoire der Fotografen, die den Porträtierten so unmittelbar als Künstler ausweisen wollten.61 Die Darstellung des Künstlers bei der Arbeit ist ein in der bildenden Kunst gebräuchliches, seit dem 15. Jahrhundert nachweisbares Motiv, das zu dieser Zeit vor einem religiösen Hintergrund gesehen werden muss: die Gemälde, Drucke und Zeichnungen zeigen so den Evangelisten Lukas als Madonnenmaler.62 Im 16. Jahrhundert wurde das Motiv aber aus dem rein religiösen Zusammenhang gelöst: der Künstler als solcher wurde bildniswürdig und unter anderem mit Kunstwerk(en) und künstlerischen Utensilien in einer Arbeitssituation dargestellt.63

Zu dieser Gruppe des Künstlerporträts gehört eine 1855 vom Münchner Fotografen Franz Hanfstaengl aufgenommene Fotografie64, die den Bildhauer Konrad Knoll zeigt. Knoll ist in diesem Porträt neben einem vollständig ausgearbeiteten Relief zu sehen, das ‚optimal‘ präsentiert wird (Fotografie 3). Der Bildhauer hält in einem Vollendungsgestus einen Hammer und einen Meißel an das Werk, so als ob er es in diesem Augenblick gerade bearbeiten würde, wogegen aber seine elegante dunkle und vor allem saubere Kleidung spricht.

Die sogenannte Geste der Vollendung, die sich bereits Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts im gemalten Künstlerbildnis findet65, ist ein Topos, der schon Mitte des 19.

60 Fotografie 2 = Abb. in: Klant 1995, Abb. 4. 61 Vgl. Klant 1995, S. 21ff. 62 Gisela Kraut, Lukas malt die Madonna: Zeugnisse zum künstlerischen Selbstverständnis in der Malerei, Worms 1986. Dorothee Klein, St. Lukas als Maler der Maria: Ikonographie der Lukas- Madonna, Berlin 1933. 63 Beispiele des 16. Jahrhunderts, Abb. in: Erna Fiorentini, Ikonographie eines Wandels: Form und Intention von Selbstbildnis und Porträt des Bildhauers im Italien des 16. Jahrhunderts, Berlin 1999 (Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1999), Abb. 11. Beispiele des 17. Jahrhunderts, Abb. in: Waldmann 1995, Abb. 4, 6, 8, 42, 54, 55, 56, 57. Vgl. auch das Porträtgemälde des Bildhauers Nicolas Coustou von Nicolas de Largilière von 1715 (Abb. in Klant 1995, S. 25, Abb. 17). Vgl. auch: Annette Kanzenbach, Der Bildhauer im Porträt. Darstellungstraditionen vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen, Univ., Diss., 2000. 64 Fotografie 3 = Abb. in: Klant 1995, S. 24, Abb. 15: „Franz Hanfstaengl: Der Bildhauer Konrad Knoll, um 1855. Albuminabzug vom Kollodiumnegativ, Fotomuseum im Stadtmuseum München.“ 65 Waldmann 1995, Abb. 54, 55, 56, 57. 19

Jahrhunderts in den Bereich des fotografischen Künstlerporträts66 – besonders für die Darstellung von Bildhauern67 – übernommen wurde: der Porträtierte ist so zu sehen, wie er seine Utensilien an ein bereits ‚vollendetes‘ respektive weit ausgearbeitetes Werk hält. Auf diese Weise sollte zum einen ein Bezug zum Werkprozess, der mit dem damals erhältlichen Filmmaterial nicht dokumentiert werden konnte, hergestellt und der Porträtierte so als Künstler ausgewiesen werden. Andererseits – und dies ist wohl der entscheidende Punkt – entsprach die Darstellungsform dem Selbstverständnis des Künstlers, der natürlich durch ein bereits ‚vollendetes‘ Werk sein Können besser unter Beweis stellen konnte als dies mit einer noch nicht vollständig ausgeführten Arbeit möglich gewesen wäre.68

Neben der Pose und der Kleidung Knolls liefert auch dessen Kopfwendung einen Hinweis auf eine gestellte Arbeitssituation: Knoll konzentriert sich nicht auf seine Plastik, an der er zu arbeiten vorgibt, sondern blickt aus dem Bild heraus, so als ob er von dort Inspiration für seine Arbeit beziehen würde. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts steht dieser ‚Blick aus dem Bild‘, der mit einer Wendung des Kopfes des ‚arbeitenden‘ Künstlers verbunden ist und der entweder auf den potentiellen Betrachter des Bildes gerichtet sein kann oder an ihm vorbeiführt, im fotografischen Künstlerporträt als ein Zeichen für das Genie, die schöpferische Kraft des porträtierten Künstlers.69 Der Topos der sogenannten ‚genialen‘ Kopfwendung ist aus der Bildnismalerei übernommen worden, in der er sich auf italienische Künstlerporträts des 16. Jahrhunderts zurückführen lässt und für das ‚vom Göttlichen‘ abgeleitete, künstlerische Ingenium steht.70

Wie die ‚geniale‘ Kopfwendung gilt auch der seit Mitte des 18. Jahrhunderts im gemalten Porträt für die Darstellung von Künstlern tradierte Melancholiegestus als „Ausdrucksformel für den schöpferisch tätigen Menschen“.71 Auch in der Porträtfotografie gibt sich die dargestellte Person, die ihren Kopf in ihre Hand stützt oder diese an die Stirn führt, durch diese besondere Pose schon frühzeitig den entsprechend vorgebildeten Betrachtern als eine ‚empfindsame‘ Künstlerpersönlichkeit zu erkennen.

Neben der Pose der porträtierten Künstler, mit der sie ein vorab definiertes Bild von sich selbst vermitteln wollen, sagt auch ihre Kleidung etwas über ihr Selbstverständnis und ihren künstlerischen Erfolg aus, gilt doch „die Charakterisierung der eleganten äußeren Erscheinung des Künstlers [...] als Topos der Künstlerschilderung und als Ausweis der

66 Beispiele bei Klant 1995, S. 32, Abb. 26, 27, 29, 30. 67 Hélène Pinet, L’atelier du Sculpteur vu par les photographes, in: Réunion des musées nationaux (Hrsg.), La Sculpture française au XIXe Siècle, Ausst. Kat., Galeries nationales du Grand Palais, Paris, 10.4.–28.7.1986, S. 10, zitiert nach: Klant 1995, S. 36. 68 Klant 1995, S. 36. 69 Klant 1995, S. 23 und S. 26. Raupp 1984, S. 181ff. Denk 1998, S. 115. Göke 2000, S. 106–108. 70 Göke 2000, S. 56f und 106ff. Vgl. auch Raupp 1984, S. 182ff. 71 Göke 2000, S. 222–238. Raupp 1984, S. 226–241. Künstlerbilder – Künstlermythen: Graphik und Zeichnung des 16. bis 18. Jahrhunderts, Ausst. Kat., Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, 17.1.–1.4.2002, S. 42. 20

Nobilitierung, ist sie doch Anzeichen wirtschaftlichen Wohlergehens.“72 So sind die Künstler im fotografischen Porträt neben der Darstellung in Arbeitskleidung – durch die sie etwas von der Ernsthaftigkeit ihres Tuns vermitteln wollen – vor allem in konventioneller, repräsentativer, zeitgenössischer Kleidung zu sehen.

Eine authentischere Schilderung des Arbeitsprozesses findet sich im fotografischen Künstlerporträt erst rund 25 Jahre nach der Einführung der Fotografie mit einer Aufnahme von Etienne Carjat (Fotografie 4)73. Dieser porträtierte den Maler Gustave Courbet um 1866/67 bei der Arbeit an einem Gemälde. Courbet widmete sich ganz seinem Werk, das aufgrund seiner Größe und seiner bildflächenparallelen Präsentation im Mittelpunkt der Aufnahme steht, während der Künstler der Kamera den Rücken zuwendete. Diese Konzentration auf das Gemälde und dessen eindeutig unvollendeter Zustand sowie die Tätigkeit des Porträtierten vermitteln dem Betrachter den Eindruck, dass er Zeuge einer ‚realen‘ Arbeitssituation ist. Für Klant ist es eines der ersten fotografischen Künstlerporträts, das vorgibt, einen eher dokumentarischen als repräsentativen Charakter zu besitzen.

Porträtfotografien, die die Künstler in ihren Ateliers zeigen, sind bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein selten. Dies verwundert, da Atelierszenen seit dem 15. Jahrhundert74 in der Malerei – die die frühen Fotografen zu imitieren suchten – zu den traditionellen Motiven der Künstlerdarstellung zählen. Sicher hatten die Fotografen bis zu dieser Zeit ein ebenso großes Interesse daran, die Künstler in ihren Werkstätten darzustellen, denen als Genius Loci eine große Bedeutung zukommt. Doch wurden die Künstlerporträts bis in die 1870er Jahre fast ausschließlich im Studio des Fotografen aufgenommen, wo mit den entsprechenden Requisiten eine Ateliersituation angedeutet wurde.75 Hierfür waren sicherlich auch die technischen Gegebenheiten76 – das fotografische Verfahren selbst und die zur Verfügung stehenden Objektive – verantwortlich. So benötigten die Fotografen für die seit 1839 verbreitete Daguerreotypie und das seit 1851 eingeführte Kollodiumnassverfahren77 vor Ort ein vollständiges Fotolabor, das heißt eine Dunkelkammer und spezielle Chemikalien, da die Platte unmittelbar vor der Belichtung in einem aufwändigen Prozess präpariert werden musste. Der technische Prozess wurde durch die Einführung der Gelatinetrockenplatte um 187878 vereinfacht, so dass auf eine ‚große Ausrüstung‘ weitgehend verzichtet werden konnte – doch erforderte die Trockenplatte eine längere Belichtungszeit als die nasse Methode. Obwohl seit den 1840er Jahren bahnbrechende Entwicklungen auf dem Gebiet der Optik stattgefunden hatten, die vor allem zur Verbesserung der Lichtempfindlichkeit der Objektive beitrugen, herrschte sicherlich – bis

72 Göke 2000, S. 23. Vgl. auch Ausst. Kat. Florenz 1992, S. XXVI. 73 Fotografie 4: Abb. in: Klant 1995, S. 38, Abb. 33. 74 Vgl. Fußnote 62. 75 Klant 1995, S. 30. 76 Dieter Martin, Spaziergang durch die Geschichte der Fotografie, Hamburg 1996, S. 1, 8, 13. 77 Marjen Schmidt, Fotografien in Museen, Archiven und Sammlungen: konservieren, archivieren, präsentieren, München 1994 (= Museums-Bausteine; Bd. 2), S. 28. 78 Schmidt 1994, S. 29. Klant 1995, S. 41. 21 zur Einführung des Kunstlichts – in den Fotostudios eine bessere Lichtsituation vor, mit der die Fotografen zudem vertraut waren. 22

4 Das fotografische Künstlerporträt im Werk Lee Millers

Wenn ein Fotograf einen bildenden Künstler porträtiert, verfolgt er damit zwei Ziele: zum einen soll durch die Darstellung des Künstlers mit seinen Werken eine enge Verbindung zwischen beiden hergestellt werden. Zum anderen soll die Genese eines Kunstwerks mit Hilfe der Fotografie dokumentiert werden, um so die Arbeitsweise der Maler, Bildhauer, Objektkünstler oder Graphiker aufzeigen und hinter deren ‚Schöpfungsgeheimnis‘ kommen zu können. In diesem Zusammenhang kommt dem Atelier als Genius Loci, dem Ort also, wo Kunstwerke in der Regel geschaffen und oft auch aufbewahrt werden, eine besondere Bedeutung zu.79 Lee Millers Fotografien, die den Porträtierten in direkter Weise über die Darstellung von tradierten Accessoires – Kunstwerken und/oder berufstypischen Werkzeugen – in einem künstlerischen Zusammenhang sehen lassen, sollen im Rahmen dieser Arbeit in die Kategorie Künstler mit Werk: direkte Einbindung des Porträtierten in einen Kunstkontext eingeordnet werden (Kap. 4.1).

Ein weiteres Anliegen der Fotografen ist es, das alltägliche Leben des porträtierten Künstlers in seiner gewohnten Umgebung zu dokumentieren. Mit seinen Aufnahmen will der Fotograf aber nicht den Künstler, sondern den Menschen jenseits der Kunst zeigen, um auf diese Weise dessen Persönlichkeit darstellen zu können. In diesen Fotografien, die nicht als Künstlerporträts im ‚traditionellen Sinn‘ angesehen werden können, wird kein Bezug zum Œuvre oder zur künstlerischen Tätigkeit hergestellt und so kein Hinweis auf die besondere Rolle des Dargestellten gegeben. Da zwischen diesen Porträts des Künstlers als Jedermann und den Fotografien, die Miller von anderen, nicht künstlerisch tätigen Personen aufgenommen hat, keine Unterschiede bestehen, soll dieser Porträtgruppe, die in dem Kapitel Künstler ohne Werk: der porträtierte Künstler als ‚Jedermann‘ (Kap. 4.2) vorgestellt wird, in der vorliegenden Arbeit nur eine sekundäre Bedeutung zukommen.

In dieser Kategorie des Künstlerporträts findet sich aber auch eine geringe Anzahl von Fotografien, in denen der Dargestellte nicht unmittelbar in einem künstlerischen Umfeld zu sehen ist, in denen sich Miller aber über das Motiv und das Arrangement der Aufnahme der Kunst der porträtierten Künstler annähert. Grundsätzlich wird in diesen zum Teil aufwändig gestalteten und sorgfältig komponierten Fotografien auf das besondere Interesse des Protagonisten an derartigen Inszenierungen verwiesen, was in engem Zusammenhang zu seiner Kreativität und Genialität – also der Künstlerrolle – zu sehen ist. Aufnahmen dieses Typs sollen unter dem Aspekt Künstler ohne Werk: indirekte Einordnung in einen Kunstkontext (Kap. 4.3) zusammengefasst werden.

79 Vgl. Ulrich Pohlmann, Künstlerleben, in: Hubmann 1999, S. 13. Wilfried Wiegand, Portraits, Begegnungen in der Welt der Kreativen, in: List 2000, S. 198. 23

4.1 Künstler mit Werk: direkte Einbindung der Porträtierten in einen Kunstkontext

In Lee Millers Künstlerporträts werden die Protagonisten durch die Beiordnung von charakteristischen Accessoires, zu denen vor allem Werke und berufstypische Utensilien zählen, in eine unmittelbare Beziehung zur Kunstszene gesetzt. Trotzdem muss es sich bei dem Porträtierten nicht zwangsläufig um einen Künstler handeln, da auch andere Personen wie beispielsweise Kunsthändler, Sammler, Mäzene, Galeristen, Kulturpolitiker oder Freunde des Künstlers in einem entsprechenden Ambiente fotografiert worden sein können.80

Mit der Darstellung des Künstlers im Arbeitsprozess soll konkret auf die künstlerische Identität und die besondere Rolle der porträtierten Person hingewiesen werden. Die Aufnahmen dieser Kategorie dokumentieren aber nicht immer den tatsächlichen Schöpfungsprozess, da viele Künstler bei der Arbeit ungestört sein wollen oder sich gerade in dieser Situation der Kamera des Fotografen ‚schutzlos ausgeliefert‘ fühlen, so dass die Arbeitssituation oft speziell für die Fotografie inszeniert wird.81

Also selbst wenn der Porträtierte im Werkprozess zu sehen ist oder mit den typischen Accessoires fotografiert wird, muss er nicht unbedingt ein Künstler sein. Entscheidend ist auch, ob man den Dargestellten erkennt, also anhand seiner Physiognomie identifizieren kann, was dem ‚neutralen‘ Betrachter bei einem prominenten Künstler entsprechend leichter fällt. Erst durch das Zusammenspiel dieser Faktoren – die erkennbare Physiognomie des Porträtierten, das Wissen um seine Person und seine Einbindung in ein künstlerisches Umfeld – ist für die Stilisierung als Künstler entscheidend.82 Der Porträtierte kann also über die Inszenierung in einer Fotografie als Künstler angesprochen werden, ob es sich aber tatsächlich um einen solchen handelt, kann unter Umständen nur über einen begleitenden Text, nicht aber über das Bild selbst erschlossen werden.

80 Lee Miller stellte zum Beispiel die Mäzenin Marie-Laure de Noailles 1944 in Paris neben einem Gemälde Pablo Picassos dar (SWA LMA, Inv. Nr. 5991-97). Eine andere Fotografie zeigt die Schriftsteller Elsa Triolet und Louis Aragon 1944 in Picassos Pariser Studio, umgeben von dessen Werken (LMA, Inv. Nr. 5981-13 und 5981-17). Auch Peggy Guggenheim wurde 1948 auf der 24. Biennale von Venedig, auf der sie einen Teil ihrer hochkarätigen Sammlung der Kunst des 20. Jahrhunderts präsentierte, in Gesellschaft des italienischen Kunstkritikers Lionello Venturi unter anderem mit einem Mobile Alexander Calders fotografiert (Abb. in: Miller 1948, S. 66–67). Für das Porträt von Nusch und Paul Éluard diente ein Gemälde Picassos als Kulisse (LMA, Inv. Nr. 5925- 514, Abb. in: Roland Penrose, Portrait of Picasso, London 1981, S. 69, Abb. 179 (Ausgabe New York 1957, S. 66, Abb. 177)). Auch Jaime Sabartès, Sekretär und enger Freund Picassos, wird in einer um 1956 aufgenommenen Fotografie mit Werken des spanischen Künstlers – aus Sperrholz ausgeschnittenen Figuren – gezeigt (LMA, Inv. Nr. P 0717, vgl. auch die Aufnahme in: Penrose 1981b, S. 219, Abb. 547). Mit einer von Picasso geschaffenen Plastik wurden auch Roland Penrose und Paul Éluard 1944 in Paris fotografiert (LMA, Inv. Nr. 5981-18). 81 Vgl. hierzu: List 2000, S. 196 und S. 198. 82 Vgl. hierzu: Ausst. Kat. Berlin 1988, S. 9. 24

Lee Miller fotografierte die Künstler vor allem bei der Präsentation von Kunstwerken: in diesen Aufnahmen sind die Protagonisten fast ausschließlich mit eigenen Gemälden, Objekten oder Skulpturen zu sehen, wobei die Anzahl der Arbeiten variiert. Nur wenige Aufnahmen zeigen die Porträtierten mit Werken, die andere Künstler in vergangenen Epochen geschaffen haben. Die Protagonisten posierten für ihr Porträt mit ihren Arbeiten in ihren Ateliers83, im Fotostudio oder in ihrer gewohnten Umgebung84. Nicht immer kann der Aufnahmeort einer Fotografie aber über bildimmanente Faktoren spezifiziert werden. Wenn der dargestellte Raum aufgrund des gewählten Bildausschnitts auf ein Minimum reduziert oder der Porträtierte vor einem neutralen Hintergrund fotografiert wurde, kann man versuchen, über die Aufnahmesituation zusätzliche Informationen zu gewinnen. Vielleicht ist die Fotografie Teil einer Serie, so dass über den Zusammenhang zwischen den einzelnen Bildern auf den Ort und die Situation zur Zeit der Aufnahme rückgeschlossen werden kann. Hinweise hierauf können auch schriftliche Aufzeichnungen liefern.

Während der Künstler in diesen Aufnahmen, in denen sich auch die seit dem 19. Jahrhundert im fotografischen Künstlerporträt tradierten Elemente finden85, in repräsentativer Manier mit seinem Werk gezeigt wird, ohne dass ein engerer ‚Kontakt‘ zum Kunstwerk hergestellt wird, kann in anderen, innovativ gestalteten Fotografien eine intensive Beziehung zwischen dem Porträtierten und dem dargestellten Werk festgestellt werden86. Lee Miller hielt mit ihrer Kamera aber nicht nur die unmittelbare Kunstpräsentation fest, sondern beobachtete die Künstler auch in der vorbereitenden Phase, die der Ausstellung der Werke voranging87. Die Darbietung des Werks durch die Maler, Objektkünstler oder Bildhauer ist auf unterschiedliche Betrachter ausgerichtet: zum einen werden die künstlerischen Arbeiten der Fotografin und somit einem virtuellen Betrachter der Aufnahme vorgeführt, zum anderen sind weitere im Bild dargestellte Personen die Adressaten der Vorstellung, an die sich die Künstler direkt wenden.

83 In diesem Fall steht der Begriff Atelier für den Arbeitsraum des bildenden Künstlers und nicht für das Atelier des Fotografen, das im Rahmen dieser Arbeit als Fotostudio bezeichnet wird. 84 Vgl. Kap. 4.1.2. 85 Vgl. Kap. 3. 86 Vgl. Kap. 4.1.1. 87 Vgl. Kap. 4.1.3. 25

4.1.1 Künstler präsentieren Kunst: ‚Dialog‘ zwischen Künstler und Kunstwerk88

Eine zahlenmäßig kleine Gruppe von Künstlerporträts im Œuvre Lee Millers stellt eine intensive Beziehung zwischen dem Porträtierten und dem Kunstwerk zur Schau. In diesen Fotografien nehmen die Künstler über eine Berührung und/oder eine entsprechende Haltung ihres Körpers einen mehr oder weniger engen Kontakt zum Werk auf oder bilden wie Joseph Cornell89 über die Stellung im Bild eine Einheit mit ihrer Schöpfung, wodurch unter anderem ein Hinweis auf die Autorschaft des Dargestellten an der gezeigten Arbeit gegeben werden kann.

In Ergänzung hierzu betrachten die Bildhauer ihre figurativen Skulpturen oft sehr konzentriert. Da sie sich hierbei zumeist direkt vor ihren Plastiken befinden und so den Eindruck vermitteln, dass sie diesen unmittelbar ins ‚Gesicht‘ blicken, scheinen die Figuren diesen Blick sozusagen zu ‚erwidern‘. Hierdurch wird eine Art ‚Dialog‘ zwischen dem Bildhauer und der von ihm gestalteten Figur geschaffen, die so als ein real existierendes ‚Individuum‘ angesprochen wird. Die Illusion, dass es sich bei dem dargestellten Werk nicht länger um ein artifizielles Produkt, sondern um ein ‚beseeltes, lebendiges‘ Wesen handelt, kann – wegen der Plastizität und Figuration der Arbeiten – vor allem im Bereich der Skulptur erzeugt werden. Millers Fotografien visualisieren so den Traum „der Künstler von der Beseelung ihrer Schöpfung, zumindest aber von der Sichtbarkeitmachung des ihr innewohnenden Lebens [...]“90.

88 Die Aufnahmen enthalten in vielen Fällen ein narratives Element und erzeugen beim Betrachter die Illusion, dass es sich bei den dargestellten, artifiziellen Figuren um ‚selbstständige, lebendige Wesen‘ handeln könnte. Diese Vorstellung visualisierte Miller aber auch in Fotografien, die nicht dem Bereich des fotografischen Künstlerporträts zu zuordnen sind. So finden sich in ihrem Œuvre Aufnahmen, in denen allein plastische Werke dargestellt sind. Miller zeigt diese Skulpturen aber nicht als Kunstwerke, als starre, leblose Figuren, sie ‚haucht‘ ihnen vielmehr durch die spezielle Inszenierung ‚Leben‘ ein. Bei diesen Fotografien handelt es sich nicht nur um reine Skulpturenfotografie, sondern fast schon um Porträts der Plastiken (vgl. zum Beispiel die Abb. in: Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 21. Ausst. Kat. Paris 1982/83, S. 59). Auch in späteren Jahren finden sich im Werk Millers immer wieder Fotografien von Skulpturen, in denen die Figuren den dargestellten Personen gleichgestellt sind oder eine Art von ‚Eigenleben‘ zu führen scheinen. Als Beispiele hierfür können die Fotografien Paris under Snow von 1945 (Abb. in: Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 71), Revenge of Culture (Abb. in: Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 59), Strasbourg Sculptures, ca. 1944 (Abb. in: Penrose 1992, S. 152–153) und die Aufnahmen der Bauskulptur, die das Haus Max Ernsts in Saint-Martin d’Ardeche schmückten (Abb. in: Livingston 1989, S. 56), genannt werden. 89 Vgl. Kap. 4.1.1.1. 90 Andreas Blühm, Pygmalion: die Ikonographie eines Künstlermythos zwischen 1500 und 1900, Frankfurt am Main [u. a.] 1988 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 28, Kunstgeschichte; Bd. 90) (Zugl.: Berlin, FU, Diss., 1987, u.d.T. Blühm: Die Ikonographie des Pygmalionmythos 1500-1900), S. 16. 26

4.1.1.1 Joseph Cornell mit dem Objekt Jouet surréaliste (New York, 1933)

Die frühesten nachweisbaren Porträts91 eines Künstlers mit seinem Werk im Œuvre Lee Millers wurden 1933 in New York aufgenommen und zeigen den amerikanischen Objektkünstler Joseph Cornell (1903 – 1972) mit einer Arbeit aus der Werkgruppe der surrealistischen Spielzeuge.

Lee Miller und Joseph Cornell92 lernten sich 1933 in New York kennen, wo sie im Herbst 1932 ihr Fotostudio93 eröffnet hatte. Das große Interesse, das Lee Miller der Person und der Kunst Cornells entgegenbrachte, kann besonders gut durch den Umstand veranschaulicht werden, dass sie in den Zeiten der wirtschaftlichen Depression, die 1932 ihren absoluten Tiefpunkt erreichte, auf ein Honorar für die Sitzungen mit Cornell verzichtet haben soll, womit diese Fotoserie als eine freie Arbeit Millers gesehen werden kann. Antony Penrose berichtet: „Lee versäumte es nicht, die zu fotografieren, die sie interessierten, egal ob sie das Honorar bezahlen konnten oder nicht. Der surrealistische Künstler Joseph Cornell wurde von den meisten Menschen als ein armer kleiner Verrückter aus Brooklyn angesehen. Er erschien alle zwei bis drei Wochen mit seinem neuesten Werk – bei dem es sich oft um eine ungewöhnliche Zusammenstellung von Teilen zerbrochener Puppen handelte, die schön unter einer Glaskuppel arrangiert worden waren – im Studio. Lee, die seine Kunst verstand und ihr Anerkennung zollte, ermutigte ihn und fotografierte ihn regelmäßig mit seinen Objekten.“94

Von Lee Miller porträtiert zu werden war zur damaligen Zeit à la mode, durch ihre guten Kontakte zur New Yorker Künstler- und Theaterszene gehörte zu ihren Porträtkunden die „soziale und intellektuelle Elite New Yorks“.95 Bereits in ihrem Fotostudio in Paris96 soll Lee Miller Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre für ein Kinderporträt oder das Porträt eines

91 Es handelt sich um drei originale schwarzweiße Planfilmnegative (LMA, Inv. Nr. 96-1, 96-2 und 96- 3) im Format von H/B 16 x 21 cm. SWN LMA, Inv. Nr. 96-1, Abb. in: Joseph Cornell/Marcel Duchamp... in resonance, Ausst. Kat., Philadelphia Museum of Art, 8.10.1998–3.1.1999, Menil Collection, Houston, 22.1.–16.5.1999, Ostfildern-Ruit 1998, S. 279, Abb. 197. Ausschnitt aus SWN LMA, Inv. Nr. 96-2, Abb. in: Livingston 1989, Abb. S. 116. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 40. Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 263, Abb. 178. Whitney Chadwick (Hrsg.), Mirror Images: Women, Surrealism, and Self-Representation, London u. Cambridge 1998, S. 50, Abb. 9. Calvocoressi 2002, S. 30. SWN LMA, Inv. Nr. 96-3, Abb. in: Penrose 1985a, Abb. S. 35. 92 Edouard Jaguer, Joseph Cornell, Paris 1989. Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 279. 93 Lee Miller unterhielt in New York in der 8 East 48th Street ein Atelier. 94 Penrose 1985a, S. 54: „Lee did not neglect to photograph those who intrigued her, whether or not they could afford the fee. Joseph Cornell, the Surrealist artist, was regarded by most people as a pitiful little lunatic from Brooklyn. He would appear in the studio every two or three weeks with his latest creation – often some sinister arrangement of parts from broken dolls beautifully mounted under a glass dome. Seeing his art with appreciative and understanding eyes, Lee encouraged him and frequently photographed him with his objects“. 95 Penrose 1985a, S. 50, S. 54. 96 Das Atelier Lee Millers befand sich in Paris in der Rue Victor Considérante Nummer 12. 27

Haustieres 100 US-Dollar97 (dem entsprachen zur damaligen Zeit ungefähr 500 französische Francs = ca. 240 Reichsmark, 1 US-Dollar entsprach 1924 2,40 Reichsmark98) verlangt haben, ein Betrag, den sie ihrem Bruder Erik für seine technische Assistenz in ihrem Fotostudio in New York von 1932 bis 1934 als Monatslohn zahlte.99 Das Honorar für das Porträt eines Erwachsenen dürfte zu dieser Zeit um einiges höher anzusetzen sein. Man Ray verlangte beispielsweise Mitte der 1920er Jahre 1000 französische Francs (= ca. 200 US-Dollar = ca. 480 Reichsmark) für eine Porträtsitzung.100 Zum Vergleich: Berenice Abbott, die von Anfang 1923 bis 1926 seine Assistentin war, erhielt von ihm 15 Francs (= ca. 3 US-Dollar = ca. 7,20 Reichsmark) als Tageslohn.101 Nur für ein fotografisches Porträt von Man Ray hätte sie – oder jemand mit einem ähnlichen Einkommen – also mehr als zwei Monate arbeiten müssen. Für den Preis von 25 Porträtaufnahmen von Man Ray, also rund 25.000 französische Francs (= ca. 5.000 US-Dollar = ca. 12.000 Reichsmark), wurde 1922 auch Pablo Picassos 1906 vollendetes Gemälde Les Demoiselles d’Avignon verkauft.102

Joseph Cornell103 (Nyack, New York, 24.12.1903 – Nyack, 29.12.1972) befand sich zu der Zeit, als die Aufnahmen entstanden, anscheinend in einer schwierigen künstlerischen und finanziellen Situation. 1917 begann er eine Ausbildung an der Phillips Academy in Andover, Massachusetts, wo er unter anderem Französisch, Spanisch und Latein studierte. Der Tod des Vaters im gleichen Jahr stürzte die Familie Cornell in finanzielle Schwierigkeiten, so dass Cornell die Phillips Academy 1921 ohne Abschluss verlassen und als Handelsvertreter für Wollstoffe und Textilien arbeiten musste. Diese Stelle verlor er 1931 durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise. Bis 1934, als er eine Anstellung als Textildesigner fand, lebte Cornell von Gelegenheitsarbeiten. Erst Anfang 1941 gab er diesen Job wieder auf, um sich ganz seiner Kunst widmen zu können. Cornells Interessen waren vielfältig: neben seiner besonderen Leidenschaft für Bücher, romanische Sprachen und Literatur, Musik, Kino und das Ballett faszinierte ihn auch die Malerei, besonders die moderne französische Malerei.

97 Penrose 1985a, S. 32. Penrose berichtet hier, dass Lee Miller, trotz ihrer Abneigung gegen Tiere, auch die Haustiere ihrer reichen Kundschaft porträtierte. Begonnen hatte es damit, dass eine Dame der französischen Gesellschaft neben ihrem Porträt auch eine Fotografie ihrer zahmen Eidechse wünschte. Für das Porträt des Tieres verlangte Miller 100 US-Dollar. 98 Jürgen Schiemann, Die deutsche Währung in der Weltwirtschaftskrise 1929–1933, Hamburg 1979, S. 31, Fußnote 3. 99 Penrose 1985a, S. 44. 100 Emmanuelle de l’Ecotais, Alain Sayag (Hrsg.), Man Ray: das photographische Werk, München [u. a.] 1998, S. 116 und S. 13: „Er [Man Ray] wurde sehr bald zu einem erfolgreichen Fotografen, nicht aber zu einem arrivierten Künstler [...] Von seinen kommerziellen Transaktionen ist – leider! – nicht die Spur erhalten geblieben, doch seine Lebensgewohnheiten ab 1925 lassen auf ein hohes Niveau der Vergütungen schließen, die er von seinen Auftraggebern verlangen konnte.“ 101 Ecotais/Sayag 1998, S. 71. Bonnie Yochelson, Berenice Abbott: Changing New York, New York 1997, S. 10: Yochelson bemerkt, dass Abbott zu Beginn ihrer Assistenzzeit bei Man Ray 10 Francs pro Tag erhielt, was weniger als 2 Dollar gewesen seien, Man aber bald von ihrer Arbeit in der Dunkelkammer so begeistert gewesen sei, dass er ihr Gehalt auf 25 Francs pro Tag erhöhte. 102 Ingo F. Walther, Pablo Picasso 1881–1973: Leben und Werk, in: Carsten-Peter Warncke, Pablo Picasso 1881–1973, hrsg. von Ingo F. Walther, Köln 1995, S. 696. 103 Edouard Jaguer, Joseph Cornell, Paris 1989, S. 89. 28

Im November 1931 eröffnete Julien Levy (1906 – 1981) in New York seine gleichnamige Galerie für Avantgarde-Kunst, Fotografie und Film, seinen „Schaukasten des Surrealismus“.104 „Als ein großer Schwärmer für Fotografie wurde Cornell schnell, aber unaufdringlich ein ständiger Besucher der neuen Galerie und stellte sich bald selbst als Künstler vor“, schreibt Ann Temkin.105 Levy, der Cornells Händler und Freund wurde, organisierte unter dem Titel Minuties, Glass Bells, Shadow Boxes, Coup d’oeil, Jouets surréalistes106 Cornells erste Einzelausstellung, die vom 26. November bis 30. Dezember 1932 im hinteren Raum der Galerie gezeigt wurde. Zur gleichen Zeit wurden im Vorderraum die Radierungen Pablo Picassos zu Honoré de Balzacs Le Chef d’œuvre inconnu präsentiert.

Auch die Fotografien Lee Millers wurden in der Julien Levy Gallery in New York gezeigt: so nahm sie, zusammen mit Umbo, Laszlo Moholy-Nagy, Man Ray und anderen Fotografen, vom 20. Februar bis zum 11. März 1932 an der Gruppenausstellung Modern European Photographers teil. Lee Millers erste und einzige Einzelausstellung zu ihren Lebzeiten fand direkt im Anschluss an Cornells Kunstschau, vom 30. Dezember 1932 bis zum 25. Januar 1933, statt. Berücksichtigt man zusätzlich das große Interesse, das Cornell für Fotografie und Lee Miller für surrealistische Kunst zeigten, so ist es mehr als wahrscheinlich, dass sich die beiden Künstler in der Julien Levy Gallery kennengelernt haben.

Die Porträts von Joseph Cornell von 1933 sind sicher in Lee Millers New Yorker Fotostudio entstanden. Ein Fotostudio bietet ein ‚optimales‘ Ambiente für eine inszenierte Fotografie, da die Fotografen dort in der Lage sind, geeignete Bedingungen für eine exakt komponierte Aufnahme zu schaffen. So kann die Lichtregie bestmöglich den Vorstellungen angepasst und die Szene mit bestimmten Requisiten versehen werden, um auf diese Weise die intendierte Bildaussage mit den dem jeweiligen Stil entsprechenden Gestaltungsmitteln ins Bild umzusetzen. Trotzdem sind im Werk Millers nur wenige Fotografien nachweisbar, die bildende Künstler zeigen und die in einem Fotostudio aufgenommen worden sind. Lee Miller führte während der ersten Jahre ihrer Karriere als Fotografin zwei eigene Studios. Nachdem sie zu Beginn ihrer Ausbildung bei Man Ray dessen Fotostudio und Equipment nutzte, arbeitete sie ab 1930 in ihrem eigenen Fotoatelier in Paris. Nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten im Herbst 1932 eröffnete sie auch in New York ein Studio, das sie nach ihrer Heirat 1934 schloss, um in Ägypten zu leben. In den beiden Fotoateliers in Paris und New York entstanden vor allem kommerzielle Porträt- und Werbefotografien. Die Porträtserie von Joseph Cornell, die im Œuvre Millers als die einzige Darstellung eines Künstlers mit

104 Dorothea Tanning, Birthday: Lebenserinnerungen, Köln 1990, S. 27. 105 Ann Temkin, Habitat for a Dossier, in: Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 82: „A great photography enthusiast, Cornell quickly but unobtrusively became a habitué of the new gallery and soon introduced himself as an artist“. Temkin berichtet weiter, dass Cornell seine Collagen aus Angst vor einer Zurückweisung zunächst nur Joella Levy, Frau und Mitarbeiterin Levys, aber nicht Levy selbst zeigte. 106 Jaguer 1989, S. 89. Im Rahmen einer der ersten Surrealisten-Ausstellungen in den USA wurden bereits im Januar 1932 einige von Cornell selbst als Montages bezeichnete Collagen aus Holzschnitten und Radierungen der Jahrhundertwende, zusammen mit einem Object Cornells, in der Julien Levy Gallery in New York präsentiert (Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 279). 29 seinem Werk im Fotostudio nachweisbar ist, zeigt aber, dass Miller dieses Ambiente auch für ihre freien Arbeiten nutzte.

Als Ergebnis der Fotositzung der beiden Künstler befinden sich heute sechs verschiedene Schwarzweißaufnahmen im Lee Miller Archive: eine Serie von drei originalen Planfilmnegativen im Format von ca. 16 x 21 cm zeigt Cornell mit einem seiner Jouets surréalistes, spielzeugähnlichen Objekten, die der Autodidakt zur Unterhaltung seines behinderten Bruders Robert geschaffen haben soll.107 Diese Negative sind in der rechten unteren Ecke handschriftlich mit den Nummern 96–1108 (Fotografie 5), 96–2109 (Fotografie 6) und 96–3110 (Fotografie 7) versehen worden. Drei weitere originale Planfilmnegative mit identischen Maßen, aber ohne Nummerierung, zeigen verschiedene Objekte aus der Werkgruppe der Glass Bells (Fotografie 8).111 Diese sind von Cornell aus einem großen Glassturz und verschiedenen Gegenständen zusammengestellt worden.

Millers fotografische Porträts von Joseph Cornell zeigen in Inszenierung und Lichtregie deutliche Übereinstimmungen: der Künstler wurde von der Fotografin im Brustbild und in verschiedenen Profildarstellungen wiedergegeben. Miller fotografierte Joseph Cornell und das Boot, die von einem starken, konzentrierten Licht jeweils vom linken Bildrand her spotartig beleuchtet werden, in einem dunklen, nicht näher definierbaren Raum. Cornell posiert im Sitzen, wobei ein dunkler Gegenstand (eine Tischplatte?) seinen Körper partiell verdeckt. Aufgrund der Dunkelheit im Raum und der Dunkelheit des Gegenstandes selbst ist dieser in seinen ganzen Ausmaßen nicht abgrenzbar. Vor Cornell auf der Platte steht eine Arbeit aus der Werkgruppe der Jouets surréalistes, wie der Künstler diese Objekte selbst bezeichnete. Es handelt sich um ein gestreiftes Spielzeugsegelschiff, das mit dem Kiel in einem Ständer befestigt ist. Das Schiff wird parallel zur Bildfläche aufgenommen und ist mit der Bugseite in Richtung Cornells ausgerichtet worden. Der Abstand zwischen dem Schiff und Cornells Kopf verringert sich in jeder Aufnahme, so dass in unterschiedlichem Ausmaß Partien seines Kopfes und seines Oberkörpers verdeckt sind. Am Mast des Schiffes finden sich außer den Segeln lange, helle Haarsträhnen, eine hochglänzende Kugel? sowie zwei Schmetterlinge.

107 Kynaston McShine (Hrsg.), Joseph Cornell, München 1990, S. 9. Auch Dorothea Tanning berichtet in ihren Lebenserinnerungen (Tanning 1990, S. 29) von dem besonderen Verhältnis, das zwischen Robert und Joseph Cornell herrschte: Joseph soll seinen spastischen gelähmten Bruder angebetet und seine Werke vor allem zu dessen Freude geschaffen haben. 108 Fotografie 5 = SWN LMA, Inv. Nr. 96-1, Abb. in: Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 279, Abb. 197. 109 Fotografie 6 = Ausschnitt aus LMA, Inv. Nr. 96-2, Abb. in: Livingston 1989, Abb. S. 116. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 40. Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 263, Abb. 178. Whitney Chadwick (Hrsg.), Mirror Images: Women, Surrealism, and Self-Representation, London u. Cambridge 1998, S. 50, Abb. 9. Calvocoressi 2002, S. 30. 110 Fotografie 7 = SWN LMA, Inv. Nr. 96-3, Abb. in: Penrose 1985a, Abb. S. 35. 111 Eine Abbildung eines Objektes der Werkgruppe Glass Bells von Cornell findet sich in: Penrose 1985a, S. 54. Livingston 1989, S. 117. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 41. Eine Abbildung dieses Objektes oder einer sehr ähnlichen Glass Bell ist im Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 279, Abb. 198 (= Fotografie 8), publiziert worden. 30

Das Kunstwerk wird in der vorderen Bildebene präsentiert und verdeckt den Künstler partiell, so dass es eine besondere Rolle in der Komposition spielt. Als ein dominierendes Bildelement verweist es allein auf die künstlerischen Neigungen des Porträtierten. Die Lichtregie trägt – durch die starke Ausleuchtung des Jouet surréaliste – wesentlich zur Betonung des Schiffes bei.

Die Porträts von Joseph Cornell veranschaulichen, wie die Komposition der drei Aufnahmen im Laufe der Fotositzung immer wieder modifiziert worden ist; sie zeigen eine Entwicklung auf, die mit der Fotografie LMA, Inv. Nr. 96-1 (Fotografie 5) beginnt und in einer Ausschnittvergrößerung des Negativs LMA, Inv. Nr. 96-2 (Fotografie 6) ihren Höhepunkt findet. In diesem Ausschnitt rückt das Segelschiff, dessen Mast der Mittelachse des Bildes entspricht, ins Zentrum der Komposition und bildet zusammen mit dem im Profil gezeigten Kopf Cornells eine Einheit. Diese Verbindung von Schiff und Künstler wird durch den gewählten Ausschnitt bildfüllend dargestellt, ohne aber vom Bildrand angeschnitten zu werden. Der Künstler und sein Werk werden durch die Fotografie eins und scheinen untrennbar miteinander verbunden zu sein.

Anhand des Negativs und des gewählten Ausschnitts aus LMA, Inv. Nr. 96-2 (Fotografie 6) kann man besonders gut erkennen, dass Lee Miller bereits bei der Aufnahme eine Vorstellung davon gehabt haben muss, von welchem Ausschnitt sie später einen Abzug herstellen wollte. So ist die ursprüngliche Aufnahme LMA, Inv. Nr. 96-2 nicht für eine formatfüllende Wiedergabe geeignet, da das Bein Cornells hinter dem unbekannten Gegenstand hervorragt. Lee Miller hat diese Arbeitsweise sicher während ihrer Assistenzzeit bei Man Ray kennen gelernt, für den „die Wahl des richtigen Ausschnitts“, so Emmanuelle de l’Ecotais, „von entscheidender Bedeutung“ war. „Auf den ersten Blick könnte man denken, Man Ray habe erst nach der Aufnahme, bei der Sichtung der Kontaktabzüge, an den Ausschnitt und damit an die Komposition gedacht. Dies ist nicht der Fall, denn aus mehreren Arbeiten, nicht nur Porträts übrigens, geht deutlich hervor, dass er bereits vor der Aufnahme eine klare Vorstellung des später zu wählenden Bildausschnitts hatte“.112 Ohne Retusche oder andere Bildmanipulationen konnte Man Ray mit dieser Technik – größerer Aufnahmeabstand und Vergrößerung eines Ausschnitts aus dem Negativ – in einer Zeit, in der nur eine geringe Auswahl an Filmmaterial zur Verfügung stand, die von ihm intendierten Effekte (in diesem Fall weiche Übergänge) erzielen.

Durch die Wahl eines engeren Ausschnittes aus dem Negativ LMA, Inv. Nr. 96–2 (Fotografie 6) entstanden schließlich Abzüge, bei denen nichts mehr von Joseph Cornell und seinem Werk ablenkt: es erfolgt eine Konzentration auf das Wesentliche, alles ‚störende Beiwerk‘, das zur Erreichung der intendierten Wirkung notwendig war, wird ‚ausgeblendet‘. Im Fall des Negativs LMA, Inv. Nr. 96–2 wirkt Cornell mit seinem ‚Schiff‘ – verglichen mit dem vergrößerten Ausschnitt – fast ‚verloren‘ in Dunkelheit und Raum. Der gewählte Ausschnitt aus LMA, Inv. Nr. 96–2 ist es, der die von Miller intendierte surrealistische Aussage des Bildes in besonderer Weise zur Geltung bringt: der Künstler und sein Kunstwerk werden zu

112 Ecotais/Sayag 1998, S. 73–74. Als Beispiele können die ca. 1930 von Man Ray aufgenommenen Porträts von André Breton genannt werden (Abb. in: Man Ray 1982, S. 65, Abb. 41 und Abb. 44). 31 einer Einheit, ‚verschmelzen‘ für den Zeitpunkt der Aufnahme zu einem neuen Objekt, das durch die Fotografie festgehalten wird. Auf der Ebene des Bildes entsteht eine surreale ‚Assemblage‘ aus der Person Cornells und dem dargestellten Kunstwerk, die „Fotografie als Mittel zur Visualisierung des Imaginären“113 wird ihrer Rolle gerecht.

Die von Miller gewählte partielle Ausleuchtung der Szene macht eine Unterscheidung der Bildebenen kaum noch möglich, so dass der Raum als solcher nicht mehr eindeutig zu definieren ist. Somit spielt die Lichtregie eine entscheidende Rolle bei der Isolierung des Kopfes. Die Dunkelheit ist, durch den Verzicht auf technische Manipulationen, ein sehr wichtiges Element bei der irrealen Darstellung des ‚vom Körper gelösten, schwebenden Kopfes‘ Joseph Cornells, wie er in der Ausschnittvergrößerung aus LMA, Inv. Nr. 96–2 gezeigt wird (Fotografie 6). Der Kopf wird mit einem konzentrierten Lichtstrahl möglichst hell beleuchtet, während der Raum nicht ausgeleuchtet wird. In dieser Dunkelheit ist der dunkel bekleidete Körper kaum noch respektive gar nicht mehr wahrzunehmen, wodurch die Illusion eines schwebenden Kopfes erzeugt wird. Cornell trägt durch seine Mimik, seinen starren Blick, der einen hypnoseähnlichen Zustand suggeriert, seinen Teil zur Verstärkung des surrealen Effekts der Porträts bei.

Die Thematik eines isoliert im dunklen Raum ‚schwebenden‘ Kopfes kann in Lee Millers Pariser Jahre mit Man Ray zurückverfolgt werden und findet sich in Fotografien, die Miller von ihren Freundinnen114 aufgenommen hat. Bei diesen handelte es sich nicht um bildende Künstlerinnen, so dass sich dieses Bildmotiv auch außerhalb dieses Porträtbereichs – bei Millers freien Arbeiten – findet. Die Freunde Lee Millers waren wegen ihres künstlerischen

113 Michel Frizot (Hrsg.), Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 450. 114 Lee Miller verwendete ein ähnliches Arrangement auch bei der 1933 in New York entstandenen Fotografie Floating Head, einem Porträt Mary Taylors (Abb. in: Livingston 1989, Abb. S. 42. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 22. Calvocoressi 2002, S. 31. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 73). Auch diese Fotografie visualisiert den surrealistischen Traum eines schwebenden Kopfes. Wie bei den Porträts von Joseph Cornell wurde ein starkes spotartiges Licht eingesetzt, um einen dramatischen Helldunkel-Effekt zu erzielen. Ohne weitere künstlerische Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Glasstürze und ohne eine technische Bearbeitung des Negativs erzielt Lee Miller im Fall von Floating Head allein durch eine ungewöhnliche Pose des Modells, eine raffinierte Lichttechnik und eine Drehung des Negativs eine experimentelle Wirkung. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die Wahl des sehr eng gefassten Bildausschnitts, der nur wenig neutralen Leeraum zeigt; es erfolgt eine Zentrierung auf die wesentlichen Elemente der Komposition. Man Ray experimentierte bereits um 1920 mit ungewöhnlichen Perspektiven, wofür die Fotografie Head, New York ein eindrucksvolles Beispiel ist. Rosalind Krauss weist daraufhin, dass diese Fotografie kein Einzelfall in Man Rays Werk sei, sondern dass die der Fotografie zugrundeliegenden Ideen, die auf einer einfachen Drehung oder konsequenten Desorientierung des Körpers basieren, im Rahmen seines fotografischen Schaffens wiederholt worden seien (Ausst. Kat. Washington 1985, S. 60). So finden sich auch gegen Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre Fotografien Man Rays mit der Darstellung frei im dunklen Raum schwebender Köpfe (Abb. in: Man Ray: Photographien Paris 1920–1934, München 1980, Abb. Nr. 64; leider werden in dieser Publikation weder die Bildtitel noch das Entstehungsjahr der einzelnen Fotografien genannt). Diese Fotografien können von der Wahl des Motivs und dem Arrangement der Szenen direkt mit den Bildern Lee Millers in Verbindung gesetzt werden. Es existiert auch ein Porträt Millers (um 1930) von Man Ray, das sie in einer sehr ähnlichen Haltung zeigt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Lee Miller mit der Komposition und den technischen Voraussetzungen einer derartigen Fotografie vertraut war (Abb. in: Ecotais/Sayag 1998, Abb. S. 131). 32

Interesses aber sicherlich geeignete Modelle zur Umsetzung experimenteller Konzepte. Jane Livingston schreibt Lee Miller in ihrer Publikation Lee Miller Photographer ein Porträt115 der Schauspielerin Tanja Ramm zu. Ramm war eine langjährige Freundin Millers aus ihrer gemeinsamen Studienzeit in der Arts Students League in New York.

Die Fotografie, die im Jahre 1931 in Paris entstanden sein soll, zeigt einen Frauenkopf ‚unter‘ einem großen Glassturz. Die gesamte Szene ist in Dunkelheit getaucht und wird nur spotartig beleuchtet, so dass sich auf dem Glas starke Lichtreflexe abzeichnen. Der Kopf wird isoliert, ohne Bezug zum Körper dargestellt, so als sei er in ‚sadistischer Manier‘ gewaltsam vom Körper getrennt und dann unter den Glassturz gelegt worden, dessen Form an eine ‚Schneekugel‘ erinnert. Die sadistische Erotik war ein bedeutender Themenkomplex des Surrealismus. Die surrealistischen Künstler feierten und ehrten den Marquis de Sade in vielen Werken – Gemälden, Fotografien und Gedichten: „Sades Rebellion gegen überlieferte moralische und politische Werte, seine leidenschaftliche Bejahung der Lust und der Geschlechtlichkeit und seine Verabsolutierung des Bösen machten ihn zu einem der größten Vorbilder für die Surrealisten. Die Surrealisten bewunderten Sade auch wegen seiner leidenschaftlichen Verteidigung der Freiheit des Individuums.“116

In der Zeitschrift Le Surréalisme au Service de la Révolution117 wurde ein Foto publiziert, das von Kamerastandpunkt, Aufbau und Arrangement fast identisch mit dem Lee Miller zugeschriebenen Foto ist: der mit verbundenen Augen dargestellte Kopf von Tanja Ramm? wird nur in einer leicht modifizierten Haltung gezeigt. Diese Fotografie wird durch die Bildunterschrift Man Ray. – Hommage à D. A. F. de Sade. dem amerikanischen Fotografen zugeschrieben. Antony Penrose berichtet über die Zusammenarbeit zwischen Lee Miller und Man Ray, dass Lee nach neun Monaten der Ausbildung bei Man Ray eigene Aufträge für Vogue und andere Magazine übernommen hat. Auch soll Man Ray ihr viele seiner Aufträge überlassen haben, um so Zeit zum Malen zu gewinnen. Miller soll sich darüber beschwert haben, dass es nur die Arbeiten waren, die er selbst nicht ausführen wollte oder die schlecht bezahlt wurden.

Antony Penrose sieht die Toleranz, die zwischen Lee Miller und Man Ray geherrscht haben soll, wenn es um die Zuschreibung ihrer Fotografien ging, als einen Maßstab für ihre gegenseitige Achtung an.118 An anderer Stelle berichtet er aber von einem Streit zwischen

115 Abb. in: Livingston 1989, S. 105. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 29. 116 Josef Helfenstein, Meret Oppenheim und der Surrealismus, Bern, Univ., Diss., 1991, S. 92. Zur Rolle der Frau im Surrealismus, vgl.: Georgiana Colvile, Scandaleusement d’elles, Trente-quatre femmes surréalistes, Paris 1999. Rosalind Krauss, Jane Livingston, L’Amour fou, photography & surrealism, Ausst. Kat., Corcoran Gallery of Art, Washington, D.C., Sept.–Nov. 1985. Whitney Chadwick, Women Artists and the Surrealist Movement, [London] 1993. Whitney Chadwick (Hrsg.), Mirror Images: Women, Surrealism, and Self-Representation, London u. Cambridge 1998. La femme s’entête, La part du féminin dans le surréalisme, Textes réunis par Georgina M. M. Colvile et Katharine Conley, Arles 1998. 117 Le Surréalisme au Service de la Révolution (1930), Nr. 2. 118 Penrose 1985a, S. 30. “A measure of Lee’s and Man Ray’s mutual respect is [...] that neither of them was seriously concerned when their credits were wrongly ascribed.“ 33

Miller und Man Ray über die Urheberschaft an einer Fotografie, so dass das Verhältnis zwischen den beiden auch in diesem Punkt nicht frei von Konflikten war. Lee Miller und Man Ray sollen sich uneins darüber gewesen sein, wer als der Urheber einer Aufnahme anzusehen sei: derjenige, der eine Fotografie aufgenommen habe und sich somit für das Negativ verantwortlich zeichnet, oder derjenige, der nach eigenen Vorstellungen von diesem Negativ einen Abzug hergestellt habe.119

Auch Roland Penrose weist in einem Interview mit Philippe Sers120 auf die äußerst enge Zusammenarbeit zwischen Man Ray und Lee Miller hin: “Lee hat mir gesagt, dass Man Ray und sie sich bei der Arbeit so vertraut waren, dass sie oft nicht wussten, wer von ihnen ein Foto gemacht habe. ‘Bei vielen Fotos, die Man zugeschrieben werden, habe ich ihm geholfen, hierzu gehört auch der wundervolle Akt Primat de la matière sur la pénsée.’ Sie fügte hinzu: ‘Ich weiß nicht, ob ich es gemacht habe [...] aber das ist nicht wichtig; ich kann nicht erklären, was es gewesen ist: Man Ray und ich arbeiteten fast wie eine Person zusammen.’“

Auch Lucien Treillard, ein enger Freund Lee Millers und Man Rays, berichtet über deren besonders enges (Arbeits-)Verhältnis. Er weist daraufhin, dass Man Ray und Lee Miller an vielen Bildern gemeinsam gearbeitet hätten und unterstützt so die Aussage Lee Millers über die unglaubliche Nähe und Vertrautheit bei der Arbeit mit Man Ray. Miller hatte durch ihre intensive (Liebes-)Beziehung zu Man Ray zweifellos eine Sonderstellung inne und kann nicht mit Berenice Abbott, Jacques-André Boiffard oder Bill Brandt, Man Rays anderen Assistenten, verglichen werden, die für ihn nach seinen exakten Vorgaben scheinbar nur die Dunkelkammerarbeit zu erledigen hatten121, was allerdings auch Millers Aufgabe war.

Die von Antony und Roland Penrose sowie Lucien Treillard geschilderten Umstände über das enge Lebens- und Arbeitsverhältnis zwischen Lee Miller und Man Ray122 machen es

119 Penrose 1985a, S. 30, Abb. S. 31: Man Ray soll eine Fotografie von Lee Miller aufgenommen haben; da ihm die Aufnahme nicht gefallen haben soll, soll er das Negativ weggeworfen haben. Miller soll dieses Negativ gefunden und in mühevoller Arbeit einen Abzug davon hergestellt haben. Man Ray war anscheinend zunächst beeindruckt, soll dann aber wütend reagiert und Miller aus dem Studio geworfen haben, als sie erklärte, dass diese Fotografie nun ihr Werk sei und nicht seines. Man Ray soll daraufhin die Fotografie, die den Kopf Lee Millers im Profil zeigte und besondere Betonung auf ihren Hals legte, mit einer Rasierklinge im Halsbereich zerschnitten haben und den Eindruck einer zerschnittenen Kehle durch die Verwendung von roter Tinte als Blut noch zusätzlich gesteigert haben. 120 Ausst. Kat. Paris 1982/83, S. 56: „Lee m’a dit qu’en travaillant avec Man, ils étaient tous deux si proches l’un de l’autre que souvent l’un ne savait même pas lequel des deux avait fait une photo: ‘Il y en a beaucoup qui sont attribuées à Man, dans lesquelles j’ai aidé, y compris le superbe nu Primat de la matière sur la pénsée.’ Elle a ajouté: ‘Je ne sait pas si c’est moi qui l’ai fait... Mais cela n’a aucune importance: je ne peux pas revendiquer quoi que ce soit: nous étions presque la même personne qui travaillait.’“ 121 Ecotais/Sayag 1998, S. 71. 122 Zwei Kriterien könnten bei einer vorsichtigen Betrachtung für eine Zuschreibung der Fotografien zu Man Ray sprechen. Dies wäre zum einen die Publikation der Fotografie Hommage à D.A.F. de Sade unter seinem Namen, zum anderen die Verwendung dieser Fotografie als Vorlage für das Motiv des Frauenkopfes in seinem 1950 entstandenen Gemälde Aline and Valcour, inspiriert durch de Sades (ff) 34 nicht nur aus chronologischen und motivlichen, sondern auch aus stilistischen Gründen schwierig, die Aufnahmen einem der beiden Fotografen zu zuschreiben. Sie lassen aber Raum für weitere Hypothesen: Lee Miller arbeitete 1929 gemeinsam mit Man Ray in dessen Studio und nutzte auch die dort vorhandene Ausrüstung. Die Fotografien könnten also in Man Rays Studio entstanden sein, wo beide Fotografen mit Man Rays Kamera ihre eigenen Aufnahmen des von ihnen gemeinsam erarbeiteten und in Szene gesetzten Arrangements gemacht haben könnten.123 Auf jeden Fall muss Livingstons Datierung (1931) der Lee Miller zugeschriebenen Fotografie korrigiert werden, da die Publikation der Hommage à D.A.F. de Sade mit dem Jahr 1930 einen Terminus ante quem für die Entstehung der Aufnahme liefert.

Lee Miller war also nicht nur mit dem Arrangieren einer surrealistischen Assemblage oder surrealistischen Szene bereits seit 1929/30 vertraut, auch der Einsatz von Glasstürzen als künstlerisches Gestaltungsmittel war ihr, wie wir anhand der Porträts von Tanja Ramm feststellen können, nicht fremd. Glasstürze sind aber ein wichtiger Bestandteil der Glass Bells Joseph Cornells, unter denen der Künstler verschiedene ‚zwei‘- und dreidimensionale Gegenstände anordnete. Im Lee Miller Archive finden sich heute die Aufnahmen von drei verschiedenen Objekten Cornells: Miller hat diese Objekte für ihre Fotografien aber nicht ‚demontiert‘, sondern fotografierte die Kunstwerke in ihrer vom Künstler intendierten Form. Ihr Anspruch, die Objekte in interpretierender und nicht in dokumentierender Weise aufzunehmen, lässt sich aber an der speziellen Lichtregie erkennen.124 Die besondere Behandlung des Lichts findet sich auch in den Fotografien, die Miller von Joseph Cornell und Tanja Ramm aufgenommen hat. Die kontrastreichen Hell-Dunkel-Effekte und die spotartig gesetzten Lichtreflexe tragen auch in diesen Aufnahmen wesentlich zur Erreichung des intendierten surrealistischen Effekts bei.

Bei der oben beschriebenen Kooperation zwischen Miller und Man Ray handelte es sich um eine Form der Zusammenarbeit, die in einem ähnlichen Rahmen auch zwischen Lee Miller und dem Fotografen George Hoyningen-Huene existiert haben könnte und die als ein Erklärungsansatz für die eventuelle Zuschreibung eines Porträts von Alexander Calder zu ihren Arbeiten herangezogen werden könnte.125 Lee Miller hätte so während einer

gleichnamigen Roman (Abb. u. a. in: Roland Penrose, Man Ray, London 1989, Abb. 114. Janus, Man Ray, München 1973, Abb. 88). 123 Auch Jane Livingston betont die enge Zusammenarbeit zwischen Man Ray und Lee Miller, sei es in ihrer Rolle als Fotografin oder als Modell (Livingston 1989, S. 35). 124 Abb. in: Livingston 1989, S. 117. Penrose 1985a, S. 54. 125 Zum Bestand des Lee Miller Archive zählt auch ein Porträt des Bildhauers Alexander Calder (LMA, ohne Inventar-Nummer). Diese Aufnahme kann in die Zeit um 1929/30 datiert werden und entstand so bereits ca. drei bis vier Jahre vor den Porträts von Cornell. Calder, der zu diesem Zeitpunkt am Anfang seiner Karriere stand, wird mit seinem Circus gezeigt, dem Werk, in dem sich seine Liebe zu Spielzeugen und seine Faszination für den Zirkus verbanden und das ihn „in die Kunst der Avantgarde der Zeit einführte" (Abb. in: Ausst. Kat. Stockholm 1996, S. 14. Ausst. Kat. New York 1977, S. 57–79, Abb. S. 64–65). Die Arbeit an diesem Objekt hatte Calder ungefähr 1926, dem Jahr, in dem er sich in Paris niederließ, begonnen und noch über Jahre fortgeführt, in denen er den Circus ständig vergrößerte und auch ‚Vorstellungen‘ für ein handverlesenes Publikum gab (Ausst. Kat. New York 1977, S. 45ff). Zuschauer bei einer solchen Vorstellung war der Zirkuskritiker Legrand-Chabrier, der seine Eindrücke in einem Artikel im Candide vom 23. Juni 1927 beschreibt (Ausst. Kat. Bonn (ff) 35

Fotositzung Hoyningen-Huenes mit Calder mit der im Fotostudio vorhandenen Ausrüstung selbst ein Porträt des amerikanischen Bildhauers, der mit seinem Circus posierte, aufnehmen können. Da die Aufnahme im Lee Miller Archive aber nicht eindeutig Miller zugeschrieben werden kann, soll dieses Porträt nur im Zusammenhang mit den Fotografien erwähnt werden, die Künstler mit ihren Werken zeigen, und als ein Beweis dafür angeführt werden, dass Miller schon früh (um 1929/30) – und nicht nur im Rahmen ihrer Ausbildung bei Man Ray – mit der Künstlerfotografie in Berührung kam.

Auch die ‚neue‘ Form der Darstellung des Künstlers mit seinem Werk – die ‚Offenheit‘ und die Mobilität des Circus eröffneten dem Fotografen völlig neue Darstellungsmöglichkeiten – war Miller bekannt: Calder wird nicht einfach – wie in der Porträtmalerei und der Porträtfotografie tradiert – neben seinem Werk abgebildet, sondern ‚inmitten‘ seiner Kunst gezeigt, er wird zum Teil seines Circus wie auch Cornell ein Teil seines Jouet surréaliste wird. Auch handelte es sich bei den in den Porträts von Joseph Cornell und Alexander Calder dargestellten Werken – trotz des deutlichen Größenunterschieds – um spielzeugähnliche Objekte, so dass Miller vielleicht bereits frühzeitig durch die Porträts von Calder für eine solche Kunst sensibilisiert worden sein könnte.

Folgt man den Ausführungen von Susan Davidson, so ist es anscheinend nicht Joseph Cornells ursprüngliche Absicht gewesen, sich von Miller porträtieren zu lassen.126 Im Vordergrund sollen für Cornell nach Meinung Davidsons die Fotografien seiner Kunstwerke gestanden haben. Fotografien, die er für Katalogabbildungen oder für die Publikation in Zeitschriften benötigt haben könnte. Auch könnte er befreundeten Künstlern Ehre und Referenz erwiesen haben, in dem er ihnen mit Widmung versehene Fotografien seiner Werke zukommen ließ.127 So soll Cornell eine der Fotografien, die Miller von seinen Glass Bells aufgenommen hatte, mit der Widmung A André Breton En Hommage Joseph Cornell November 9, 1933 an den französischen Surrealisten geschickt haben.

Die Idee, nicht nur Cornells Objekte, sondern auch den Künstler mit seiner Kunst zu fotografieren, könnte ein Einfall Lee Millers gewesen sein, die selbstbewusst, extrovertiert und immer auf der Suche nach neuen Motiven war.128 Dies ist umso wahrscheinlicher, wenn

1993, S. 108–110, Abb. des Circus S. 109). Es existiert ein weiteres, 1930 in der Zeitschrift Vanity Fair publiziertes Porträt des amerikanischen Bildhauers mit seinem Circus von George von Hoyningen-Huene (Abb. in: Ewing 1998, Abb. 103). Beide Fotografien basieren auf der gleichen Inszenierung und weisen dementsprechend enge Übereinstimmungen in der Komposition und der Lichtregie auf. Der Aufbau des Circus und die Haltung Calders, der in der gleichen Kleidung gezeigt wird, sind in beiden Aufnahmen nur leicht modifiziert worden und könnten mit unterschiedlichen Szenen in der ‚Vorstellung‘ des Circus begründet werden. 126 Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 279: „In addition to taking photographs of Cornell’s artworks, Miller also makes several portraits of him“. 127 Im Dezember 1933 erhielt auch Marcel Duchamp eine Fotografie von Cornell, deren Motiv leider nicht überliefert ist. Von Monsieur Phot stellte Cornell eigenhändig ca. 20 nummerierte Exemplare her, die er im Laufe der Jahre an Freunde verschenkte. Duchamp erhielt im Januar 1934 die Nummer 12 der Mappe mit der Widmung à Marcel Duchamp/En hommage/Joseph Cornell/Jan. 1934 (vgl. Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 280–281). 128 Penrose 1985a, S. 30. 36 man berücksichtigt, dass Cornell, bei dem es sich um einen introvertierten, scheuen und zurückhaltenden Menschen handelte, erst kurze Zeit zuvor durch seine beiden Ausstellungen bei Levy künstlerische Anerkennung in Fachkreisen gefunden hatte.129

Die Idee, Künstler und Kunstwerke zu fotografieren, war für Lee Miller durch ihre Kontakte zu Man Ray und George Hoyningen-Huene nicht neu. Man Ray stellte bereits 1915 Fotografien seiner eigenen Werke für Katalogabbildungen her, da er die Aufnahmen von Berufsfotografen unzureichend fand.130 Bis gegen Ende der 1930er Jahre fotografierte er immer wieder die Werke befreundeter Künstler wie beispielsweise Alberto Giacometti und Marcel Duchamp, den ab 1933/34 eine enge Freundschaft mit Joseph Cornell verband. Emmanuelle de l’Ecotais führt aus: „Als Man Ray am 22. Juli 1921 beinahe mittellos in Paris angekommen war, begann er zunächst damit, die Gemälde seiner Malerfreunde zu photographieren, wie ihm Picabia geraten hatte. In der Folge nahmen verschiedene Künstler seine Dienste in Anspruch. Wie Man Ray erzählte, hatte er stets eine Photoplatte in Reserve, um nach getaner Arbeit ohne Auftrag noch ein Porträt zu machen; getreu dem Motto ‘das Beste kommt zum Schluß’, entstand diese Aufnahme nur zu seinem eigenem Vergnügen.“131

Man Ray machte zwar einen deutlichen Unterschied zwischen seinen freien, künstlerischen Porträtaufnahmen und der Reproduktionsfotografie, die für ihn nur zweckgebunden war und der eine untergeordnete Wertigkeit zukam. Trotzdem führt er in seiner Autobiographie aus, dass bei der Fotografie zu Reproduktionszwecken nicht nur ein technisches Geschick, sondern auch das Verständnis für die abgelichteten Werke zwingend erforderlich sei, da ansonsten das künstlerische Moment der Gemälde nicht in die Aufnahmen übertragen werden könne.132

Auf die Modifikationen in Millers Fotoserie von Joseph Cornell ist bereits hingewiesen worden: ob Cornell in diesem Fall den Anweisungen der Fotografin folgte und seine Körperhaltung gemäß ihren Wünschen variierte oder seine eigenen Vorstellungen verwirklichte, ist nicht dokumentiert. Man könnte aber aufgrund der stringenten Weiterentwicklung der Komposition davon ausgehen, dass Miller auch wegen ihrer fundierten fotografischen Ausbildung bei Man Ray der bestimmende Part bei der Aufnahme gewesen ist. Sicher ist, dass Joseph Cornell sich sehr für die Fotografie interessierte und Fotoausstellungen besuchte133: es stellt sich daher die Frage, ob Cornells Interesse im Jahr 1933 über das rein künstlerische Element der Fotografie hinausging, und wenn ja, wieweit er mit der technischen Seite vertraut war. 1933 entstand sein erstes illustriertes Filmdrehbuch

129 Joseph Cornell wird allgemein als ein sehr scheuer Mensch beschrieben (vgl. Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 15 und S. 263. Jimmy Ernst, Nicht gerade ein Stilleben: Erinnerungen an meinen Vater Max Ernst, Köln 1991, S. 258–259. Tanning 1990, S. 28–30). 130 Ecotais/Sayag 1998, S. 71. 131 Ecotais/Sayag 1998, S. 63. 132 Man Ray, Selbstportrait/Eine illustrierte Autobiographie, München 1983, S. 53. Vgl. auch Hörner 2002, S. 25. 133 Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 82. 37

Monsieur Phot134, das durch fünf auf schwarzes Papier aufgezogene stereoskopische Bilder illustriert wird. Bei diesen Bildern handelte es sich allerdings um ‚gefundenes‘ und in einem anderen Zusammenhang wieder verwendetes Material. Auch für seinen ersten Film Rose Hobart (1936) verwendete Cornell Teile eines Films aus dem Jahr 1931, die er modifizierte und neu arrangierte.135

Lee Millers Porträtfotografien von Joseph Cornell müssen im surrealistischen Kontext gesehen werden. Sie gewinnen ihren experimentellen Charakter und hohen künstlerischen Wert nicht durch technische Manipulationen in der Dunkelkammer, sondern durch das Arrangement der Szene, die Komposition des Bildes, besonders durch die Wahl des Ausschnitts und durch die Lichtregie. Mit ihren surrealistischen Porträts lieferte Lee Miller einfühlsame Charakterstudien Cornells, die seinem introvertierten Wesen und seiner träumerischen Art entsprachen. Besonders die Lichtsituation spielte in diesen Arrangements eine Rolle. Die Dunkelheit betonte zum einen das Geheimnisvolle der Person Cornells, zum anderen diente sie dazu, die von Miller intendierte surrealistische Aussage der Bilder zu verstärken oder überhaupt erst möglich zu machen. Der Bildraum kann nur über das dargestellte Werk als ein künstlerisches Umfeld gesehen werden. Der Künstler und sein Kunstwerk ‚verschmelzen‘ in der Fotografie und werden so zu einer ‚untrennbaren‘ Einheit.

Die Aufnahmen von Joseph Cornell stellen einen absoluten Höhepunkt im Bereich des Künstlerporträts dar, da sich im Werk Millers kein ähnlich perfekt arrangiertes Porträt findet, das die Einheit von Künstler und Kunstwerk in einem entsprechenden Ausmaß darstellt.

4.1.1.2 Eileen Agar mit der Skulptur Golden Tooth (London?, 1937)

Die Porträts der Malerin, Objektkünstlerin und Fotografin Eileen Agar (Buenos Aires, 1.12.1899 – London, 17.11.1991) entstanden ca. vier Jahre nach den Aufnahmen von Joseph Cornell und können mit zu den sehr wenigen (erhaltenen) Fotografien von bildenden Künstlern mit Werk der 1930er Jahre gezählt werden. Agar ist in den drei Porträts (Fotografie 9 und Fotografie 10)136 mit der Plastik Golden Tooth zu sehen.137

134 Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 279 und Abb. 50. 135 Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 85 und S. 281. Cornell soll in späteren Jahren Fotografien in seinem Sinne arrangiert haben: so bei einem Porträt, das Ernst Beadle im Juni 1948 vom Künstler, der eine Puppe im Central Park ‚rettet‘, aufnahm. Auch bei einer Fotografie von James Ogle aus dem Jahr 1938, die eine auf dem Rücken liegende, mit Konfetti bedeckte Puppe zeigt, wird explizit darauf hingewiesen, dass das Arrangement der Szene von Cornell stamme (Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 162, Abb. 209 und S. 89, Abb. 55. Diese Aufnahme wurde in ‘View’, Januar 1943, S. 38, publiziert). 136 Es handelt sich bei den drei Porträts um folgende Fotografien: Fotografie 9 = neuer Schwarzweißabzug LMA, Inv. Nr. NC 0126 (Abb. der Fotografie auf der Internetseite der Redfern- Gallery: >http://www.redfern-gallery.co.uk/pages/artistinfo/121.html<). Fotografie 10 = Neuer Schwarzweißabzug, ohne Inventarnummer (Abb. dieses Porträts in: Georgiana Colvile, Scandaleusement d’elles, Trente-quatre femmes surréalistes, Paris 1999, S. 25) und neuer Schwarzweißabzug, LMA, ohne Inventarnummer, ohne Abbildung. 38

Die Fotografien sind wahrscheinlich Ende Juli/Anfang August 1937 in London entstanden, wo sich Lee Miller zu dieser Zeit kurzfristig aufgehalten hat. Roland Penrose berichtet in seiner 1981 veröffentlichten Autobiographie Scrapbook138, dass man nach dem Aufenthalt in Cornwall (Juli 1937) Mitte August139 mit Picasso und Dora Maar in Mougins zusammentreffen wollte, um dort einen gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Er berichtet von einem Zwischenstopp in London, wo nicht nur er, sondern auch Agar lebte und arbeitete. Obwohl das Verhältnis zwischen ihr und Miller „nicht besonders gut“ gewesen sein soll, wie Agar in ihrer Autobiographie140 schreibt, begleitete Miller die surrealistische Künstlerin auch auf einer ihrer ‚fotografischen Entdeckungstouren‘ an die Südküste Englands. Bei dieser Gelegenheit entstand in Brighton auch ein sehr ungewöhnliches Porträt Agars141.

Lee Miller und Eileen Agar142 (Buenos Aires, 1.12.1899 – London, 17.11.1991) begegneten sich im Sommer 1937 in Cornwall wahrscheinlich zum ersten Mal143, obwohl Agar von 1928 bis 1930 und Miller von 1929 bis 1933 in Paris lebten. Agar vervollständigte dort bei dem kubistischen Maler Frantisek Foltyn (1891 – 1976) ihre in den Jahren von 1920 bis 1924 in London absolvierte Ausbildung144, während Miller in Man Rays Atelier arbeitete. Eileen Agar soll 1929 in Paris die Bekanntschaft André Bretons und Paul Éluards gemacht haben, mit denen auch Lee Miller über Man Ray in engen Kontakt gekommen war. Roland Penrose und Herbert Read wählten 1936 Werke Agars für die International Surrealist Exhibition145 in London aus, an der sie als einzige britische und eine von nur wenigen Künstlerinnen wie Toyen 146, Dora Maar oder Léonor Fini teilnahm.147 Auch auf den Surrealisten-Ausstellungen in New York (1936), Tokio (1937), Paris (1938), Amsterdam (1938) und London (1940) wurden ihre Arbeiten präsentiert.

Lee Miller fotografierte Eileen Agar und die Plastik Golden Tooth in einer Art ‚Doppelporträt‘, bei der das langhaarige Phantasiegeschöpf mit dunkel bemaltem Gesicht den Part des in der

137 Zu den wenigen Veröffentlichungen über das Werk Agars gehört die Publikation: Eileen Agar, Retrospective Exhibition, Ausst. Kat., Commonwealth Art Gallery, London, 29.9.–24.10.1971. 138 Penrose 1981b, S. 108. 139 Penrose 2001, S. 79f. Eileen Agar berichtet in ihrer AutoBiografie von einem Treffen in Mougins im September 1937 (vgl. Agar 1988, S. 135). 140 Agar 1988, S. 222. 141 Vgl. Kap. 4.3.2. 142 Zur Biografie Eileen Agars siehe: Agar 1988. Delia Gaze (Hrsg.), Dictionary of Women Artists, Volume I, London 1997, S. 169–171. Chadwick 1993, S. 69 und S. 240. Teilweise finden sich unterschiedliche Angaben über das Geburtsjahr Agars (1899 respektive 1904) und ihre Studienzeiten. Die Angaben wurden aus der AutoBiografie Agars übernommen. 143 Penrose 1981b, S. 107. Penrose 2001, S. 78–79. 144 Agar besuchte die Leon Underwood School of Painting and Sculpture – hier lernte sie Henry Moore kennen – und die Slade School of Fine Art, University of London. 145 Vgl. hierzu: International Surrealist Exhibition, Ausst. Kat., New Burlington Galleries, London, 1936. 146 Marie Cĕrmínová, 1902–1980. 147 Penrose 1981b, S. 60–67. 39

Regel menschlichen Porträtierten einnimmt. Agar posiert in der Inszenierung nicht nur neben bzw. vor dem polychrom gefassten, figurativen Objekt, dessen Material (Holz?) wegen der Farbschicht nicht näher spezifisiert werden kann, sondern befindet sich in engem Körperkontakt mit der Skulptur, was durch deren Dreidimensionalität ermöglicht wird. So umfasst die Künstlerin die Plastik mit den Händen oder legt ihre Arme um die Figur und tritt auf diese Weise in eine enge Beziehung zu dem Werk, von dem sie Besitz nimmt (Fotografie 10) oder sich in Besitz nehmen läßt148.

Als Kulisse findet sich in allen drei Fotos ein heller, neutraler Hintergrund, der den Bildausschnitt weitgehend ausfüllt. Lediglich in zwei Fotografien (9 und 10)149 wird am linken und rechten Bildrand ein Einblick in einen dunklen und nicht näher bestimmbaren (Innen)Raum gewährt. Anders als in den Aufnahmen von Joseph Cornell wird das Licht nicht eingesetzt, um eine geheimnisvolle, surreale Atmosphäre zu schaffen, sondern zur gleichmäßigen Ausleuchtung der Szene verwendet.

Das Verhältnis zwischen Eileen Agar und dem phantastischen, bärtigen Wesen, also quasi dem Weiblichen und dem Männlichen oder auch der Künstlerin und dem Kunstwerk, ist in zwei Fotografien (9 und 10)150 hierarchisch: Agar ist zwar in der vordersten Bildebene zu sehen und verdeckt das Werk partiell, doch ist ihre Darstellung auf die untere Hälfte der Aufnahme beschränkt, so dass sie von der Skulptur überragt wird. Diese wird nicht nur frontal und zentriert dargestellt, sondern erfährt zusätzlich durch den hellen Hintergrundstreifen151 respektive den Raum, der ihr aufgrund der geringen Aufnahmedistanz in der Komposition zukommt152, eine besondere Betonung. Die Präsenz und Dominanz des dargestellten Werks wird zudem durch den ‚Blickkontakt‘, den die Figur mit ‚weit aufgerissenen Augen’ mit dem Betrachter der Fotografie ‚aufnimmt‘, unterstützt.

Der Blick Eileen Agars ist in den drei Aufnahmen weder auf die Skulptur, noch auf den Betrachter gerichtet, sondern geht – fast schon in der Art Joseph Cornells, der durch seine melancholische Aura als ein empfindsamer und schöpferischer Mensch charakterisiert wird – aus dem Bild heraus und könnte so für den mit den Topoi der Künstlerdarstellung in der Porträtmalerei und der frühen Porträtfotografie vertrauten Betrachter einen Hinweis auf ihre Rolle als Künstlerin und somit ihre Urheberschaft am dargestellten Werk liefern153.

Der Eindruck, dass es sich um ein hierarchisches Verhältnis zwischen der ‚männlichen‘, artifiziellen Figur und der ‚real‘ existierenden Frau und Künstlerin handelt, wird auch durch die Perspektive getragen: so erfährt die Plastik durch die Darstellung in Untersicht eine

148 Nicht publizierter, neuer Abzug LMA, ohne Inv. Nr. 149 SWA LMA, Inv. Nr. NC 0126 (= Fotografie 9) und das bei Colvile 1999, S. 25 abgebildete Porträt (= Fotografie 10). 150 Vgl. Fußnote 149. 151 SWA LMA, Inv. Nr. NC 0126 (= Fotografie 9) und Aufnahme in Colvile 1999, S. 25 (= Fotografie 10). 152 SWA LMA, Aufnahme ohne Inventarnummer. 153 Vgl. Kap. 3. 40 weitere Betonung, während Agar in leichter Aufsicht zu sehen ist. Doch war es Millers Intention, ein solches Verhältnis darzustellen? Gerade die Betonung der Plastik durch die Untersicht könnte technischen Ursprungs sein.

Lee Miller porträtierte Eileen Agar und die Skulptur Golden Tooth mit einer 6 x 6 Spiegelreflexkamera, einer Rolleiflex. Die Rolleiflex ist mit einem aufklappbaren Lichtschacht ausgerüstet, dessen Sucherformat dem Negativformat entspricht, so dass der Fotograf in der Lage ist, bereits bei der Aufnahme die Komposition des Bildes in ihrem gesamten Umfang ohne Einschränkung festlegen zu können. Die Konstruktion des Lichtschachts, in den der Fotograf bei der Aufnahme von oben hereinblickt, macht aber eine bestimmte Kamerahaltung nötig: so muss der Apparat in Brust- oder Bauchhöhe gehalten werden, was bei einem stehenden Modell zwangsläufig eine Untersicht nach sich zieht. Bei einem sitzenden Modell befindet sich der Kamerapunkt etwa in Höhe des Kopfes, was eine frontale Darstellung erlaubt. Dies gilt es bei allen Aufnahmen mit der Rolleiflex zu berücksichtigen, da die Untersicht oftmals nicht als stilistisches Mittel, sondern als technische Konsequenz zu betrachten ist.154

Eileen Agar wird in allen drei Aufnahmen155 durch ihre Stellung im Bild von der Plastik dominiert, doch lässt ihre Pose nicht auf ein von Minderwertigkeitsgefühlen geprägtes Selbstverständnis schließen. Die Künstlerin präsentiert sich der Kamera mit hocherhobenem Kopf und einem Gesichtsausdruck, der nicht nur durch das Lächeln Selbstbewusstsein und Stolz suggeriert. Ihre Erscheinung, ihre Kleidung und besonders ihr Hut lassen auf eine unabhängige und modisch orientierte Frau schließen. In allen Aufnahmen sucht Eileen Agar Kontakt zu dem dargestellten Werk, hebt ihre Arme empor, um die Skulptur mit den Händen zu berühren und geht so eine direkte Verbindung mit dieser ein. Auch wenn die Urheberschaft Agars an dem Werk nicht endgültig festgestellt werden kann, so könnte die Haltung der Porträtierten in diesen Aufnahmen durchaus einen Hinweis darauf liefern, dass es sich bei Golden Tooth um eine Skulptur der Künstlerin handelt.

Die Fotografien selbst erlauben es nicht, die Dargestellte als bildende (surrealistische) Künstlerin anzusprechen, das gezeigte Kunstwerk verweist lediglich auf das künstlerische Ambiente, in dem die Aufnahmen entstanden sind. Bei der Porträtierten könnte es sich so auch um eine künstlerisch interessierte oder tätige Person wie eine Kunsthändlerin, eine

154 Darchinger 1997, S. 19. 155 Die Fotografie LMA, Inv. Nr. NC 0126 (= Fotografie 9) und der bei Colvile publizierte Abzug (= Fotografie 10: ohne Inv. Nr., Abb. in: Colvile 1999, S. 25) wurden vom gleichen Standort aus aufgenommen und zeigen einen sehr ähnlichen Bildausschnitt, in den die Künstlerin in einer modifizierten Pose eingebunden wird. Durch die Darstellung der Protagonisten in einer Nahaufnahme ist in dem – nicht nummerierten – Porträt des LMA der Bildraum auf ein Minimum reduziert worden. Das Verhältnis zwischen der Skulptur und der Künstlerin ist in diesem Porträt ausgeglichener: Agar wird in dieser Aufnahme nicht länger von der Figur überragt, sondern posiert ‚Kopf an Kopf‘ mit der Plastik, schmiegt‘ sich fast schon an sie. Die Künstlerin passt sich in der Inszenierung dem gezeigten Kunstwerk perfekt an, ihr Körper ist der Skulptur zugewendet, ihr Gesicht befindet sich in unmittelbarer Nähe des ‚Gesichts‘ der Figur. Dennoch ist das Werk aufgrund seiner Frontalität – Eileen Agar ist im Profil dargestellt – und seiner Größe nach wie vor das die Komposition beherrschende Element. 41

Kunstsammlerin oder eine Mäzenin handeln. Gleiches gilt auch für die Künstler, die Lee Miller rund elf Jahre später auf der 24. Biennale von Venedig fotografierte und zu denen – neben vielen anderen – auch Marino Marini zählte.

4.1.1.3 Marino Marini mit der Skulptur eines Reiters (Venedig, 1948)

Im August 1948 veröffentlichte die britische Vogue den von Lee Miller verfassten Artikel Venice Biennale156, der ihre Eindrücke über dieses wichtige Kunstereignis nicht nur in Worten, sondern auch in zehn Bildern von unterschiedlichen Formaten wiedergibt. Diese Aufnahmen können zu Millers Auftragsarbeiten gerechnet werden. Lee Miller hatte während des 2. Weltkriegs begonnen, die Artikel zu ihren in Vogue publizierten Fotografien selbst zu schreiben. Sie reagierte damit auf die ihrer Meinung nach nur bedingt zutreffenden Äußerungen und Schilderungen anderer Autoren, deren Texte mit ihren Fotos illustriert wurden. Ihre Tätigkeit als Fotografin und Autorin setzte Miller – wenn auch immer unter Schwierigkeiten – in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis Mitte der 1950er Jahre fort.

Die 24. Biennale von Venedig fand, nach einer sechsjährigen, kriegsbedingten Unterbrechung, vom 29. März bis zum 30. September 1948 in der Lagunenstadt statt.157 Zu den 224 teilnehmenden Künstlern, die der Einladung der Commissione per l’arte figurativa gefolgt waren, zählte auch Marino Marini. Der italienische Bildhauer stellte 1948 auf der Biennale nicht nur seine Werke aus, sondern war neben Carlo Carrà (1881 – 1966), Felice Casorati (1886 – 1963), Giorgio Morandi (1890 – 1964) und Pio Semeghini (1878 – 1964) einer von fünf Künstlern, die als Mitglieder in die insgesamt zehnköpfige Commissione per l’arte figurativa berufen worden waren. Bei den restlichen fünf Mitgliedern, die im Rahmen dieser Kommission mit der Konzeption und Organisation der Ausstellung betraut worden waren, handelte es sich um die Kunstkritiker Nino Barbantini (1884 – 1952), Roberto Longhi (1890 – 1970), Rodolfo Pallucchini158, Lodovico Ragghianti und Lionello Venturi (1895 – 1961).159

In Venice Biennale betonte Lee Miller die große Bedeutung der 24. Biennale, die dem italienischen Publikum die Möglichkeit biete, erstmals wichtige moderne Gemälde ausländischer Künstler wie Picasso, Klee oder auch Braque in Italien zu sehen oder mit 136 Werken der außerordentlichen Sammlung Peggy Guggenheims einen „historischen Überblick“ über die Strömungen der modernen Kunst – Dadaismus, Kubismus, Abstraktion, Surrealismus – zu gewinnen. Millers Kritik an den früheren Biennalen ist unverhohlen: die

156 Miller 1948, S. 66–67, 88–90. 157 Enzo Di Martino, La Biennale di Venezia: 1895–1995, cento anni di arte e cultura, Mailand 1995. Ders.: Storia della Biennale di Venezia: 1895–2003; arti visive, archittura, cinema, danza, musica, teatro, o.O., 2003 158 Pallucchini organisierte als Generalsekretär die fünf ersten Biennalen von Venedig nach dem 2. Weltkrieg. Die Lebensdaten konnten – wie auch bei Lodovico Ragghianti – leider nicht ermittelt werden. 159 XXIV. Biennale di Venezia, Catalogo, 29.3.–30.9.1948, Venedig IVa edizione 15 Settembre 1948, S. V und S. XII–XIV. 42

Autorin weist so daraufhin, dass zwar auch auf diesen Ausstellungen zeitgenössische Kunst in großer Quantität präsentiert worden sei, bei dieser habe es sich aber um „gewöhnliche akademische Werke“ oder „heroische Mahnmale“ gehandelt. Die künstlerischen „Experimente dieses Jahrhunderts“ oder der sich „weiterentwickelnde Geschmack der Welt“, so Miller weiter, wären von den internationalen Kritikern weitgehend ignoriert worden.160

Marino Marini161 (Pistoia, 27.2.1901 – Viareggio, 6.8.1980) begann 1917 zunächst ein Studium der Malerei an der Accademia di Belle Arti in Florenz und studierte ab 1922 Bildhauerei bei Domenico Trentacoste. 1927 traf er den italienischen Bildhauer Arturo Martini (1889 – 1947), dem er 1929 als Leiter der Bildhauerklasse am Istituto Superiore per le Industrie Artistiche in Monza nachfolgte. 1928 nahm er zum ersten Mal an der Biennale von Venedig teil und war in den kommenden Jahren auf bedeutenden nationalen wie internationalen Ausstellungen vertreten; Marini erhielt zahlreiche Auszeichnungen. 1940 übernahm er eine Professur für Bildhauerei an der Akademie in Turin und 1941 an der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand. 1948 nahm er an der 24. Biennale di Venezia teil und wurde von Lee Miller während dieser Ausstellung fotografiert.

Sein Porträt (Fotografie 11)162, das ihn mit zwei Skulpturen aus den 1935 begonnen Werkreihen Reiter und Pomona zeigt, gehört zu den insgesamt zehn Aufnahmen, die in Lee Millers Artikel Venice Biennale publiziert worden sind. Den sechs auf der Biennale präsentierten Skulpturen163 Marinis – vier Gipse und zwei Bronzen – wurde im Rahmen einer Sonderausstellung des Künstlers (mostra personale) ein eigener Saal (Sala XXV) gewidmet. Da Marini nur von seinen eigenen Werken umgeben ist, wurde er sicher von Miller in diesem Ausstellungsraum fotografiert.

Die Kunstwerke definieren als einzige bildimmanente Faktoren – die Ausstellung wird nicht in einer vor- oder nachbereitenden Phase gezeigt, auch werden keine Besucher wiedergegeben – den neutralen, hellen Bildraum als ein künstlerisches Umfeld und lassen somit auch die porträtierte Person in diesem Zusammenhang sehen, ohne dass Marini aber konkret als Künstler ausgewiesen würde. Nur die enge Beziehung, die Marini zu den dargestellten Figuren eingeht, könnte als ein Hinweis auf seine Urheberschaft gewertet werden. Eine Konkretisierung des allgemeinen künstlerischen Zusammenhangs kann aber über Millers Artikel, in dem die Autorin den Porträtierten direkt als Künstler anspricht, vorgenommen werden. Miller beschreibt Marini und seine auf der Biennale präsentierte Reiterfigur, die eines der Hauptthemen seines zeichnerischen wie bildhauerischen Œuvres

160 Miller 1948, S. 66–67, 88–90, hier S. 66. 161 Die Biografie Marino Marinis wurde übernommen aus: Ellen Maurer, Marino Marini, Staatsgalerie Moderner Kunst, Ostfildern 1997 (= Kunstwerke/Bayerische Staatsgemälde Sammlungen, Staatsgalerie Moderner Kunst, München; 3), S. 82–84. Vgl. auch die auf der Website des Museo Marino Marini, Fondazione Marini San Pancrazio Firenze >http://www.fol.it/clients/marini< veröffentlichte Biografie des Künstlers sowie die Angaben in: XXe siècle, Hommage à Marino Marini, Numero spécial, Paris 1974, S. 133–134. 162 Fotografie 11 = SWA, Abb. in: Miller 1948, S. 67. 163 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 108. 43 darstellt, mit folgenden Worten: „Marino Marini erhielt keinen Preis, aber seine Reiterfiguren aus Gips sind bemerkenswert [...] Er ist der Anführer einer in Mailand ansässigen Gruppe von jungen Malern und Bildhauern, die aus ganz Italien stammen. Er und seine Frau sind fröhlich und sehen gut aus“.164

Marini ist in der Aufnahme Millers mit zwei Gipsen – der Reiterfigur Gentilhuomo a cavallo165 (auch Il cavaliere genannt) von 1939 und einer weiteren, auf einem Sockel präsentierten Skulptur, dem weiblichen Akt Pomona (von Marini selbst The Bomb genannt) aus dem Jahr 1947 – zu sehen.166 Im Zentrum der Komposition sind die Reiterfigur und der Künstler dargestellt. Marini blickt seinem Reiter direkt ins Gesicht und scheint ihm mit seinem ausgestreckten rechten Arm befehlen zu wollen, vom Pferd herabzusteigen. Der ‚Reiter’ scheint den Blick Marinis zwar zu ‚erwidern’, wodurch ein ‚Dialog’ zwischen Künstler und Kunstwerk hergestellt wird, ‚ignoriert’ aber natürlich den Wunsch Marinis. Wie der mythische Bildhauer Pygmalion167, der die von ihm geschaffene Skulptur mit göttlicher Hilfe durch einen Kuss in eine lebendige Frau verwandelte, spricht auch Marini in dieser humorvollen und spielerischen Inszenierung seinen ‚Reiter’ als ein ‚lebendiges, menschliches Individuum’ an. Die intensive Beziehung zwischen beiden wird noch durch ihre ‚mimische Ähnlichkeit’ verstärkt.

Marino Marini und seine Werke werden in der Fotografie in einem hierarchischen Verhältnis gezeigt. Die Reiterfigur Gentilhuomo a cavallo selbst stellt, als eine besondere Form des Denkmals, nicht nur ein Hoheitssymbol dar, sondern überragt den Künstler aufgrund ihrer

164 Miller 1948, S. 88: „Marino Marini received no prize, but his equestrian figures in gesso are memorable. The mysterious aura of Chinese dynasty art and the vitality of modern good humour blend into something quite new. He is the leader of a group of young artists which is centred in Milan but unites painters and sculptors all over Italy. He and his wife are both light-hearted, gay and good looking.” Die Aufnahme wurde auch in dem Artikel Five Modern Italian Artists in der amerikanischen Ausgabe von Vogue (November 1, 1948) mit folgendem Text veröffentlicht: „Marino Marini is Italy’s leading contemporary sculptor who, at forty-seven, is considered by many notable critics as a major creative force behind our era’s rich sculptural achievement. Marini stands here beside one of his powerful, deeply moving equestrian figures; behind him is the massive, implacable nude that he calls “the bomb.” He prefers to live in industrial Milan rather than Florence or Rome. “I need to feel around me an aggressive energy in activities other than art,” he says, “that is, in manufacturing, building, and the life of the people. When I visit the Roman landscape, I sit quietly and listen for the sounds of the past which sometimes rise from the ground. Then I go back to Milan and work.” 165 Abb. in: Ausst. Kat. Venedig 1948, Abb. 56. Patrick Waldberg, Marino Marini, L’Œuvre Complet, Paris 1970, S. 192 = Catalogue Général de la Sculpture, no. 80. 166 Abb. in: Waldberg 1970, S. 124 = Catalogue Général de la Sculpture, no. 220. 167 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, übers. und hrsg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1997, Liber X, S. 526–531. Vgl. Blühm 1988. Heinrich Dörrie, Pygmalion: ein Impuls Ovids und seine Wirkungen bis in die Gegenwart, Opladen 1974. Hans Lamer, Wörterbuch der Antike, Stuttgart 1989 (= Kroeners Taschenausgabe: Bd. 96), S. 603: „Literarische Bearbeitung des Stoffes unter anderem durch Ovid, Metamorphosen X 243–297. Musikalische Bearbeitung in dem Musical My Fair Lady von F. Loewe nach einer Komödie von George Bernhard Shaw.“ Die Motivik findet sich auch in Gemälden und Graphiken, vgl. Barbara Eschenburg, Pygmalions Werkstatt: die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, Ausst. Kat., Kunstbau, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 8.9.–25.11.2001, Köln 2001, Kap. III, S. 188–214. 44

Aufstellung auf einem Sockel168, so dass der Bildhauer zu seiner ursprünglich nur 157 cm hohen Skulptur aufblicken muss. Die Plastik, die das dominierende Element in der Figurengruppe darstellt, und der porträtierte Künstler werden in der vordersten Bildebene wiedergegeben und stehen daher im Mittelpunkt der Aufnahme. Die Aktfigur, die vom Künstler partiell verdeckt wird, ist in einiger Distanz zu dieser zentralen Zweiergruppe im Bildhintergrund zu sehen, so dass ihr eine geringere Bedeutung zugewiesen wird.

Die Armhaltung und die Schrittstellung Marinis finden sich in ähnlicher Weise auch bei der Aktfigur, so dass diese wie eine Projektion – trotz ihrer hellen Farbigkeit fast schon wie ein ‚Schatten’ – des Künstlers wirkt. Auch in diesem Fall wird zwischen dem ‚Schöpfer und seiner Schöpfung’ eine enge Beziehung hergestellt, die als ein Indiz für die Urheberschaft des Porträtierten am dargestellten Werk gelten könnte.

Die Freude und das Interesse Marinis an derartigen Inszenierungen spiegeln auch Fotografien von Herbert List169 wieder. In diesen 1952 in Mailand entstandenen Porträts170 sitzt der Künstler in der Haltung eines anderen, von ihm modellierten ‚Reiters’171 aus dem Jahr 1951 auf dem Rücken des von ihm gestalteten Pferdes172 und schlüpft nicht nur in die Rolle einer seiner Skulpturen, sondern wird so zu einem Teil von ihr. Wie eine Projektion des dargestellten Künstlers wirkt die Skulptur auch in einer Aufnahme von Arnold Newman aus dem Jahr 1950.173 Newman zeigt Marino Marini, der unmittelbar vor seiner mit einem weißen Tuch ummantelten Skulptur Danseuse174 steht. Durch die sehr ähnliche Haltung und Stellung wird eine enge Beziehung zwischen dem Künstler und dem Kunstwerk geschaffen, die Plastik wird fast zu einer Art ‚Übermutter‘ des Künstlers und betont in der Aufnahme durch ihre hervorgehobene Stellung den Porträtierten.

Marino Marini wird in der Fotografie in einem eleganten Anzug, mit Hemd und Krawatte gezeigt, die Erscheinung des Künstlers kann – wie auch schon in Lee Millers Porträt und der Aufnahme von Herbert List – als konservativ und repräsentativ beschrieben werden und erfüllt gesellschaftliche Normen. In der Aufnahme von Newman ist Marini aber zusätzlich mit einem klassischen Strickpullover bekleidet, wodurch seine elegante Kleidung eine lässige und sportliche Note erhält. In allen Fotografien stellt sich der mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen geehrte Künstler, der zudem auf der 24. Biennale von Venedig

168 Die Skulpturen, die von Marini mit Plinthen konzipiert worden waren, wurden auf der 24. Biennale von Venedig (1948) auf Sockeln präsentiert. 169 Abb. in: Marini 1974, S. 6–7. 170 Abb. in: List 2000, S. 220–221. 171 Abb. in: Marini 1974, S. 28. 172 Bei der Pferdeskulptur, auf der Marini sitzt, könnte es sich um ein Pferd aus dem Jahr 1951 handeln, Abb. in: Marini 1974, S. 36. 173 Abb. in: Arnold Newman, Artists, Portraits from Four Decades, London 1980, Abb. 46. 174 Danseuse, Höhe 174 cm, Bronze, Abb. in: Waldberg 1970, S. 358 = Catalogue Général de la Sculpture, no. 242a. 45

(1948) seine Werke in einer Sonderschau präsentierte, aber über sein Auftreten – seine Haltung und seine Kleidung – als eine selbstsichere, erfolgreiche Persönlichkeit vor.175

Wilfried Wiegand schreibt zu diesem Thema, bezogen auf die fotografischen Künstlerporträts von Herbert List: „Wie die meisten Photographen seiner Zeit respektiert er die Selbstdarstellung der Künstler, die es vorziehen, als korrekt gekleidete Bürger im Bild zu erscheinen. Ihrem Stand ist noch immer der verständliche Drang nach gesellschaftlicher Anerkennung anzumerken. Die korrekte Kleidung als Uniform des Bürgertums dokumentierte, daß sie sich von der Kunst ernähren konnten und nicht zur Bohème der Gescheiterten gehörten.“176

4.1.1.4 Giacomo Manzù mit der Skulptur Kardinal (Venedig, 1948)

Eine Art ‚Eigenleben’ wie die Plastik des Reiters von Marino Marini führt sozusagen auch eine Skulptur von Giacomo Manzù in einer in Millers Artikel Venice Biennale veröffentlichten Aufnahme (Fotografie 12)177.

Giacomo Manzù178 (Bergamo, 24.12.1908 – Rom, 17.1.1991) hatte bereits 1938 erstmals – mit großem Erfolg – auf der Biennale von Venedig ausgestellt. 1941 wurde Manzù Professor für Bildhauerei an der Mailänder Akademie Brera, wo er bis 1954 lehrte. Bei seiner zweiten Teilnahme an der 24. Biennale von Venedig erhielt er 1948 den von der Comune di Venezia ausgesetzten Preis in Höhe von 500.000 Lire für den besten italienischen Bildhauer179 und war in den kommenden Jahren auf zahlreichen internationalen Ausstellungen vertreten.

In Millers Porträt, das während der 24. Biennale von Venedig 1948 entstanden ist, posiert Manzù in Gesellschaft von John Rothenstein (1901 – 1992, Direktor der Londoner Tate Gallery von 1938 bis 1964) unmittelbar neben einer seiner gerade geschaffenen Kardinalsskulpturen180 (1948). John Rewald schreibt über das Motiv des Kardinals im Werk Manzùs: „Die erste Zeichnung zu diesem Thema stammt von 1934, die erste Plastik von 1938. Von 1949 bis 1950 entstand der erste große Kardinal, dem dann Schlag auf Schlag

175 Eine 1963 entstandene Fotografie, die den Künstler in Gesellschaft von Jean Arp beim Modellieren einer Skulptur aus Ton zeigt, liefert einen Hinweis darauf, dass Marini auch während der Arbeit mit Hemd, Pullunder und Krawatte bekleidet war und zum Schutz dieser Kleidung eine Arbeitsschürze trug. Auf weiteren Fotografien, die Marini im Werkprozess zeigen, fällt auf, dass der Künstler auch in weniger eleganter Kleidung arbeitete (Waldberg 1970, S. 218. Marini 1974, S. 69, 93, 130). 176 Wilfried Wiegand, Portraits, Begegnungen in der Welt der Kreativen, in: List 2000, S. 197–198. 177 Fotografie 12 = Abb. in: Miller 1948, S. 67. 178 Zur Biografie Giacomo Manzùs siehe: John Rewald, Giacomo Manzù, Salzburg 1966, S. 324–327. Carlo Ludovico Ragghianti, Giacomo Manzù, Sculptor, Mailand 1957 179 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 7. Giorgio Morandi wurde von der Comune di Venezia als bester italienischer Maler ausgezeichnet. 180 Kardinal, 1948, Bronze, Höhe 35 cm, Abbildung in: Rewald 1966, Tafel 46. 46 andere folgten, sitzende und stehende, kleine und große, sogar überlebensgroße – im ganzen mehr als fünfzig, von denen der letzte genau zehn Jahre später vollendet wurde.“181

Die bronzene, nur 35 cm hohe Figur des ‚sitzenden’ Kardinals wird in der Ausstellung auf einem hohen Podest präsentiert, so dass sie sozusagen ‚Kopf an Kopf’ mit Manzù zu sehen ist. Die Bedeutung der Plastik wird in der Aufnahme nicht nur ihre erhöhte Aufstellung, sondern auch durch die Darstellung in der vorderen Bildebene unterstrichen. Der ‚Kardinal’ ist nicht nur wie John Rothenstein im Profil zu sehen, sondern wird von diesem mit einem intensiven, prüfenden Blick bedacht, wodurch sich eine Art ‚Dialog’ zwischen beiden entwickelt. Einen ähnlich intensiven und ernsten Blickkontakt nimmt Manzù in der Aufnahme mit der Fotografin und somit dem Rezipienten der Fotografie auf, wodurch dieser in die ‚Gesprächsrunde’ von Rothenstein, Manzù und dem ‚Kardinal’ integriert wird.

Als Kulisse für die Aufnahme diente 1948 auf der 24. Biennale von Venedig sicher der den Werken Manzùs gewidmete Sala XXIII. Wie bei Marino Marini lenkt auch in diesem Fall nichts von den Porträtierten, die vor einer gleichmäßig beleuchteten, hellen Wand aufgenommen wurden, ab. Außer einem kleinen Schild, das sich am Podest der Skulptur befindet, gibt es in Millers Aufnahme keine bildimmanenten Elemente, die einen Hinweis auf eine Ausstellungssituation erlauben. Allein das Kunstwerk charakterisiert die dargestellten Personen als künstlerisch interessierte Menschen. Offen bleibt aber, ob dieses Interesse beruflicher oder privater Natur ist, ob es sich vielleicht um den Künstler selbst, Kunsthändler, Museumsmitarbeiter, Sammler oder auch Ausstellungsbesucher handelt.

Hierzu liefert Millers Artikel Venice Biennale Informationen: so finden sich im Text detaillierte Angaben über die Identität der Porträtierten und die Situation zur Zeit der Aufnahme. Lee Miller schreibt in ihrem Artikel über die 24. Biennale von Venedig (1948), dass Rothenstein, der als Mitglied der Jury auch für die Vergabe der verschiedenen Preise an die Künstler mitverantwortlich war182, die Skulptur Kardinal für die Tate Gallery gekauft habe und an einer anderen Skulptur sehr interessiert gewesen sei183 und liefert so einen wichtigen Hinweis auf den internationalen künstlerischen Erfolg Manzùs.184 Die Autorin verweist aber auch gleichzeitig auf die Überraschung, die die Vergabe des ersten Preises185 in der Kategorie Italienische Skulptur an Manzù hervorgerufen habe und lässt so erkennen, dass dessen Werk auch kritisch gesehen wurde.186

181 Rewald 1966, S. 59. 182 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 7. 183 Vgl. Kapitel 4.1.1.5. 184 John Rothenstein, Die Tate-Galerie, Berlin [u. a.], 1963, S. 228–229. 185 Der mit 100.000 Lire dotierte Preis der „Presidenza della Biennale“ ging an Giacomo Manzù (Skulptur) und Renato Guttuso (Malerei) (Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 7). 186 Miller 1948, S. 88. In dem betreffenden Artikel widmet Miller Giacomo Manzù einen Absatz: „The award of first prize for Italian sculptors to Giacomo Manzù caused some surprise. The Tate Gallery has acquired a small bronze of him of a Cardinal, sly and somnolent. Mr. Rothenstein, who made the (ff) 47

In der Fotografie Lee Millers sind – wie im Fall von Picasso und Sabartès187 – zwei Personen dargestellt, so dass eine Identifizierung des Künstlers erschwert wird. Miller liefert zwar in der Bildunterschrift noch einmal in verkürzter Form die Informationen, die sie auch in dem betreffenden Absatz ihres Artikels mitteilt, und weist mit den Worten „Ein kleinformatiger Kardinal aus Bronze mit seinem Bildhauer, dem Preisträger Manzù, und seinem Käufer John Rothenstein von der Tate“ eine Person eindeutig als Künstler und Urheber des Werks, die andere als Vertreter eines Museums von internationalem Rang und Käufer der Plastik aus.188 Problematisch ist aber, dass die Autorin die Beschreibung nicht speziell zuordnet (z. B. die linke oder die rechte Person), so dass nicht klar ist, bei wem es sich um den Künstler oder den Käufer des Werks handelt. Der Betrachter der Fotografie müsste schon mit den Gesichtszügen des Künstlers vertraut sein, um diesen eindeutig erkennen zu können, was im Fall eines prominenten, oft fotografierten Künstlers– der Manzù damals nicht war – natürlich einfacher ist.

Auch die Kleidung und die Pose, in der sich die Protagonisten der Kamera präsentieren, lassen keinen Rückschluss auf ihre speziellen Rollen – Künstler und Kunsthistoriker respektive Kunstkäufer – zu. Beide tragen dem repräsentativen Anlass entsprechend konventionelle Kleidung, wobei Rothenstein durch sein Einstecktuch in der Brusttasche seines Anzugs eine Spur eleganter als Manzù erscheint. Auch die Gestik und Mimik der beiden ist sehr ähnlich: sie geben sich ernst, aufrecht und selbstbewusst und erwecken durch ihre vor der Brust verschränkten Arme eine zurückhaltenden und distanzierten Eindruck.

Manzù wird zwar durch seine frontale Darstellung und seinen direkten Blick in die Kamera betont, er befindet sich aber in einer Raumebene hinter Rothenstein, so dass diese Hervorhebung relativiert wird. Die unmittelbare Nähe zwischen Manzù und dem dargestellten Werk könnte ein Indiz auf seine Autorschaft sein, Rothenstein hingegen hat seinen Körper der Skulptur zugewendet und nimmt mit ihr ‚Blickkontakt’ auf, wodurch auch zwischen ihm und der Plastik eine enge Beziehung geschaffen wird.

Lee Millers Fotografie von Marino Marini mit Reiterfigur wurde im November 1948 auch zur Illustration des Artikels Five Modern Italian Artists189 in der amerikanischen Ausgabe der Vogue incorporating Vanity Fair verwendet. Dieser Artikel eines namentlich nicht genannten Verfassers thematisiert auf insgesamt drei Seiten die zeitgenössische italienische Kunst und stellt fünf ihrer Vertreter in kurzen, den Fotografien zugeordneten Absätzen vor. Diese Künstler – die Bildhauer Marino Marini und Giacomo Manzù sowie die Maler Giuseppe Santomaso, Renato Guttuso und Giorgio Morandi – stellten alle 1948 auf der 24. Biennale in

purchase for the Tate, regretted that he was unable, for foreign exchange reasons, to buy an equally somnolent, nearly life-sized lady in a peignoir.” 187 Vgl. Kap. 4.1.1.8. 188 Miller 1948, S. 67: “Bronze-Skulptur Small bronze Cardinal, with its prize-winning sculptor Manzù, and John Rothenstein who acquired it for the Tate“ 189 Five Modern Italian Artists, in: (amerikanische) Vogue incorporating Vanity Fair (November 1, 1948). 48

Venedig aus und wurden auch schon in Millers Artikel über diese Kunstschau erwähnt. Die fünf Fotografien, die die Künstler mit ihren Kunstwerken zeigen und die den Artikel Five Modern Italian Artists illustrieren, wurden während der Biennale 1948 aufgenommen; vier von ihnen sind bereits in dem Artikel Venice Biennale als Bildmaterial verwendet worden.

Ein Vergleich der beiden Artikel zeigt auf, in welchem Verhältnis die Ausschnittwahl und das Format der Fotografien zu der für die Publikation zur Verfügung stehenden Seitenzahl und der Gesamtlänge des Textes stehen. Die in dem aus fünf Seiten bestehenden Artikel Venice Biennale publizierten Fotografien werden so, zusammen mit dem auf vier Seiten veröffentlichten Text, ausnahmslos in einem kleineren Format wiedergegeben als die durch die erneute Publikation in dem dreiseitigen Artikel Five Modern Italian Artists vergleichbaren vier Aufnahmen, die nur von kurzen, die Kunst und den Künstler erläuternden Absätzen begleitet werden. Trotz des kleineren Formats dieser Fotografien bei der ersten Veröffentlichung im August 1948 in dem Vogue-Artikel Venice Biennale wird der Bildraum zu einem größeren Teil in die Darstellung integriert. Die auf ein Minimum reduzierte Darstellung des Raums in den im November 1948 in der amerikanischen Vogue publizierten Aufnahmen wurde durch eine Ausschnittvergrößerung erreicht, wodurch eine Konzentration auf die dargestellten Künstler und ihre Werke erzielt wird.190

4.1.1.5 Giacomo Manzù mit der Skulptur Grande ritratto di signora (Venedig, 1948)

Die einzige ‚neue’ Aufnahme (Fotografie 13)191 in Five Modern Italian Artists zeigt Giacomo Manzù mit einem anderen seiner insgesamt zehn192 auf der 24. Biennale von Venedig im Saal 23 ausgestellten Werke – der Bronze Grande ritratto di signora193, zu der ihn seine Muse Alice Lampugnani inspirierte. Obgleich die Aufnahme nicht in Venice Biennale publiziert worden ist, beschreibt Lee Miller bereits in diesem Artikel die Figur, „deren Schläfrigkeit an die des Kardinals erinnere“, als „fast lebensgroße Dame im Morgenrock“. Die Autorin liefert in ihrem Text über die 24. Biennale von Venedig (1948) auch bereits einen Hinweis auf Manzùs künstlerisches Renommee und die Qualität seines Werks, in dem sie auf den Kauf der Kardinalsskulptur durch den Vertreter eines Kunstmuseums von internationalem Rang hinweist. An gleicher Stelle erfährt der Leser auch von dem Interesse, das Rothenstein als Einkäufer für die Tate-Gallery auch für eine zweite Skulptur des italienischen Bildhauers gezeigt haben soll. Der Verkauf der Plastik Grande ritratto di signora soll aber wegen der schwierigen finanziellen Situation nach dem 2. Weltkrieg (Devisen!) nicht zustande gekommen sein.

190 Miller 1948, S. 67. 191 Fotografie 13 = Abb. in: Vogue 1948. 192 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 102. 193 Großes Porträt einer Dame im Morgenrock, 1946, Bronze, Höhe 165 cm, Sammlung Lampugnani, Mailand, Zweitguss im Museum of Modern Art, New York, Abb. in: Rewald 1966, Tafel 31 und 33. 49

Giacomo Manzù ist in Lee Millers Aufnahme zu sehen, wie er unmittelbar hinter der von ihm geschaffenen weiblichen Figur steht und dieser mit einem intensiven und konzentrierten Ausdruck ‚ins Gesicht’ blickt. Die Skulptur scheint aber an einer ‚Kontaktaufnahme’ mit ihrem Schöpfer nicht ‚interessiert’ zu sein: es wird der Eindruck erweckt, als ‚wende’ sie mit ‚geschlossenen Augen’ und einer ‚gewissen Arroganz’ ihren Kopf vom Künstler ab. Diese Art des ‚Dialogs’ zwischen Künstler und Werk konnte bereits in der Aufnahme von Marino Marini mit seiner Reiterskulptur beobachtet werden, doch geht Manzù einen Schritt weiter: in dem er zusätzlich mit seiner Hand sein Werk berührt und so die Beziehung intensiviert.

Auch die Betonung der Skulptur, die in diesem Fall aus der Präsentation im Vordergrund der Aufnahme resultiert, erinnert an die Bedeutung, die der Reiterskulptur in Marinis Porträt zukam. Ein weiteres Element, das sich in fast allen in Venice Biennale publizierten Porträts findet, ist der meist flächige, neutrale und gleichmäßig ausgeleuchtete Hintergrund, der den porträtierten Künstlern und ihren Werken nichts von ihrer Wirkung nimmt. Auch im Fall Manzùs liefert die Fotografie aus sich heraus keine konkreten Informationen über den Porträtierten, das dargestellte Werk oder den Ort und die Situation zur Zeit der Aufnahme. Diese Details können lediglich über den begleitenden Text erschlossen werden.

Das in dem Artikel Five Modern Italian Artists veröffentlichte Porträt des Bildhauers mit seiner Skulptur der ‚Signora’ wird – wie auch die anderen vier Fotografien – von einem in diesem Fall elfzeiligen Absatz in Art einer Bildunterschrift begleitet. In diesem kurzen Text194 in der amerikanischen Vogue findet sich kein Hinweis auf die Kaufabsichten eines Vertreters eines britischen Museums und somit auf die wachsende internationale Bedeutung des porträtierten Künstlers. Der Autor betont vielmehr die nationale Berühmtheit Manzùs in Italien und stellt diesen mit Marino Marini und dem 1947 verstorbenen Arturo Martini als „künstlerischen Dreierbund“ und als die „wichtigsten modernen Erben der großen Traditionen der Bildhauerei der etruskischen Epoche und der Renaissance“ vor. Wie in Millers Venice Biennale wird auf die Vergabe des Preises für „Italienische Skulptur“ an Manzù eingegangen, wodurch ein Hinweis auf den Erfolg des vierzigjährigen Bildhauers gegeben wird. Gleichzeitig wird diese Aussage aber relativiert, in dem auf die Kritik der „Modernisten“ an Manzùs Kunst, die „zeitgenössische Kraft“ („contemporary vigour“) vermissen lasse, verwiesen wird.

4.1.1.6 Alberto Viani mit der Skulptur Nudo von 1944 (Venedig, 1948)

Während der 24. Biennale von Venedig im Juli 1948 nahm Miller auch die Fotografie des venezianischen Bildhauers Alberto Viani auf, dessen Porträt (Fotografie 14)195 zusammen

194 Vogue 1948: „Giacomo Manzù is one of the „Three M’s,” famous throughout Italy as the principal modern heirs to the great Etruscan and Renaissance traditions in sculpture. The other members of this artistic triumvirate are Marini (page 190) and Arturo Martini (who died last year). Manzù’s art is warmly romantic and graceful, as in the lovely Grande ritratto di signora beside which he was photographed here. Now forty, Manzù is a profoundly religious man, whose small bronze figures of cardinals are among the best churc-inspired works of art of our time. Although for the “modernists” Manzù lacks a contemporary vigour, he won the prize for Italian sculpture at this year’s Bienniale.” 195 Fotografie 14 = SWA, Abb. in: Miller 1948, S. 89. 50 mit den Aufnahmen von Marini, Manzù und anderen Künstlern Millers Artikel Venice Biennale illustrierte.

Alberto Viani196 (Quistello, Provinz Mantua, 26.3.1906 – Mestre, 1989) studierte an der Accademia di Belle Arti in Venedig und war dort von 1944 bis 1947 Assistent des Bildhauers Arturo Martini197. Als Martini im März 1947 starb, verließ Viani die Akademie und kehrte an das Liceo Artistico, wo er bereits zuvor gelehrt hatte, zurück. Viani, der 1946 neben Renato Birolli (1905 – 1959) und anderen Künstlern wie Renato Guttuso198 zu den Gründungsmitgliedern der Fronte Nuovo delle Arti199 gehörte, stellte zusammen mit dieser Künstlervereinigung 1948 auf der Biennale in Venedig aus, wo er bei seiner ersten Teilnahme den Preis für den besten italienischen Nachwuchsbildhauer erhielt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Skulpturen 1944 und 1947 in zwei Einzelausstellungen und 1947 und 1948 in zwei Gruppenausstellungen präsentiert. In den folgenden Jahren bildete das Werk Vianis auch weiterhin einen Bestandteil der Biennale von Venedig und wurde in zahlreichen internationalen Ausstellungen gezeigt.200

Pier Carlo Santini veröffentlichte in seiner Monografie über Alberto Viani eine Aufnahme (Fotografie 15)201 eines namentlich nicht genannten Fotografen, der 1948 während der 24. Biennale den Ausstellungsraum (Sala XXXIX) fotografierte, in dem die Skulpturen Vianis zusammen mit den Gemälden anderer Protagonisten der Künstlervereinigung Il Fronte nuovo delle Arti wie Renato Guttuso und Giuseppe Santomaso202 präsentiert wurden. In Venedig stellte Alberto Viani insgesamt fünf biomorphe Plastiken203, die im

196 Über das Leben Vianis ist nur wenig bekannt, vgl. die biografischen Angaben in: Alberto Viani, Ausst. Kat., Venedig, Contemporaneo Galleria dell’Arte, Villa Ceresa, 5.12.1998–31.1.1999, S. 111 und Pier Carlo Santini, Alberto Viani, Mailand 1990, S. 323ff. 197 In Verbindung mit Giacomo Manzù findet Arturo Martini (Treviso, 11.8.1889–Mailand, 22.3. 1947) in dem Artikel Five Modern Italian Artists ((amerikanische) Vogue incorporating Vanity Fair (November 1, 1948)) als einer der „wichtigsten Erben der großen Traditionen der Bildhauerei der etruskischen Epoche und der Renaissance“ Erwähnung. In dem Text wird die Berühmtheit von Manzù, Marini und Martini, deren Namen alle mit einem „M“ beginnen und deshalb von dem Verfasser als „Three M’s“ bezeichnet werden, innerhalb Italiens hervorgehoben und die „Zugehörigkeit“ der drei Bildhauer zu einem „künstlerischen Triumvirat“ betont. 198 Vgl. Kap. 4.1.2.1.5. 199 Vgl. hierzu: Prima mostra del fronte nuovo delle arti: Galleria della Spiga, 12.6.–12.7. 1947, Vorwort von Stefano Cairola und Einführung von Giuseppe Marchiori, Mailand 1947. Enzo DI Martino, Il Fronte nuovo delle arti alla Biennale di Venezia del 1948, Mailand 1988. Il Fronte nuovo delle arti: nascita di una avanguardia, Ausst. Kat., Basilica Palladiana, Vicenze, 1997. Luca Massimo Barbero, Il fronte nuovo delle arti: l’arte italiana attraverso le avanguardie del secondo dopoguerra, Cosenza [1999]. 200 Teilnahme an der Biennale von Venedig in den Jahren 1952, 1958, 1966 und 1972 sowie an anderen internationalen Ausstellungen, vgl.: Santini 1990, S. 325 und S. 240. 201 Fotografie 15 = Abb. in: Santini 1990, Abb. S. 240 oben. 202 Vgl. Kap. 4.1.2.1.5 und 4.1.3.1. 203 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 169. Die Skulpturen werden in dieser Publikation unter den Nummern 41, 42, 44, 45 und dem Titel „Nudo (1948). Gesso.“ respektive unter der Nummer 43 und dem Titel „Nudo (1945). Marmo.“ (Abb. Kat. Nr. 59) geführt. 51

Ausstellungskatalog der Biennale von 1948 alle unter dem Titel Nudo geführt werden, aus. Bei vier der Skulpturen, die aus Gips geschaffen worden sind, handelte es sich um die aktuellsten Arbeiten des Bildhauers aus dem Jahr 1948, eine weitere Plastik aus Marmor stammte aus dem Jahr 1945.

Santini liefert in seiner Monografie abweichende Informationen zu den in der Ausstellung präsentierten Werken. Zwar berichtet auch er von fünf Plastiken, von denen vier in seinem Buch abgebildet sind, macht aber unterschiedliche Angaben zum Entstehungsdatum, zur Bezeichnung sowie zum Material der Arbeiten. So handelt es sich nach Santini bei diesen Skulpturen um die ausnahmslos in Gips gearbeiteten und heute zerstörten oder verschollenen Werke Nudo sdraiato204 von 1945, Nudo (Idolo)205, Nudo (Idolo)206 und Torso 207, die alle drei aus dem Jahr 1948 stammen.208 Diese vier Skulpturen haben in den Ecken des Ausstellungsraums auf niedrigen Sockelplatten oder einem hohen Sockel Aufstellung gefunden. Auf einem solchen Sockel mit einer großen runden Basisplatte wird im Zentrum des Ausstellungsraums die angeblich ebenfalls aus Gips geschaffene Skulptur Nudo209 (1945) gezeigt. Miller berichtet aber in ihrem Artikel Venice Biennale, dass es sich bei der Skulptur, vor der sie Viani porträtierte, um eine Arbeit aus Marmor gehandelt habe, was durch die Angaben im Ausstellungskatalog der 24. Biennale gestützt wird.

Viani, der in der vorderen Bildebene auf der niedrigen runden Basisplatte seiner Skulptur in sitzender Haltung dargestellt ist, posiert mit verschränkten Armen und Beinen so vor diesem Werk, dass sein Körper den Sockel der Skulptur vollständig verdeckt und die Plastik oberhalb seines Kopfes zu schweben scheint. Durch diese spezielle Inszenierung wird die in dem Artikel Venice Biennale formulierte Vorstellung Lee Millers, dass es sich bei den

204 Santini 1990, Abb. 35, vgl. S. 313. Das Werk wird in der Fotografie auf S. 240 in der hinteren linken Ecke gezeigt. 205 Santini 1990, Abb. 46, vgl. S. 313. Das Werk wird in der Fotografie auf S. 240 in der hinteren rechten Ecke gezeigt. 206 Santini 1990, Abb. 47, vgl. S. 313. Das Werk wird in der Fotografie auf S. 240 in der vorderen linken Ecke gezeigt. 207 Santini 1990, Abb. 48, vgl. S. 313. Das Werk wird in der Fotografie auf S. 240 in der vorderen rechten Ecke gezeigt. 208 Vgl. auch die Abb. in Santini 1990, S. 90. 209 Santini 1990, S. 313. Santini identifiziert eine der insgesamt fünf auf der 24. Biennale von Venedig präsentierten Skulpturen, die in der auf S. 240 publizierten Aufnahme dargestellt sind, als Nudo von 1944. Die anderen vier dort präsentierten Skulpturen konnten zweifelsfrei zugeordnet (vgl. die Fußnoten 204 bis 207) werden, so dass es sich bei der fraglichen Plastik nur um das im Mittelpunkt gezeigte Werk handeln kann. In seiner Publikation veröffentlicht Santini auf den Seiten 80 und 81 unter den Nummern 39 und 40a, 40b und 40c vier weitere Fotografien, die ebenfalls die Skulptur Nudo von 1944 (respektive in der Version von 1985) darstellen sollen. Die dort gezeigte Skulptur entspricht aber nicht der im Ausstellungsraum fotografierten Plastik. Santini weist in seiner Publikation auf S. 313 die Skulptur mit den Nummern 39, 40 fälschlicherweise der im Ausst. Kat. der 24. Biennale von Venedig (Ausst. Kat. Venedig 1948) unter der Nummer 59 geführten Skulptur Vianis zu, allerdings mit folgendem Hinweis „ma non compare nelle fotografie della mostra“. Bei der in Lee Millers Porträt von Alberto Viani dargestellten Skulptur handelt es sich ohne Zweifel um die im Ausst. Kat. der 24. Biennale di Venezia unter der Nummer 59 abgebildete Skulptur Nudo von 1945. 52

Plastiken Vianis um „sinnliche, anatomische Abstraktionen aus Marmor“ handele, welche „sich in der Art von Seifenblasen von ihren Sockeln erheben“210, visualisiert. Diese Assoziation wird zudem durch die vertikale Ausrichtung der auf der Mittelsenkrechten dargestellten ‚Einheit’ von Künstler und Werk und den gewählten Bildausschnitt verstärkt: die Skulptur erstreckt sich auf ihrem Sockel vom unteren bis zum oberen Bildrand und füllt so den gezeigten Raum in der Höhe vollständig aus. Zusätzlich wird die Plastik in Untersicht wiedergegeben, was nicht nur zu ihrer Monumentalisierung beiträgt, sondern auch ein entscheidendes Element bei der Visualisierung eines ‚schwerelosen’ Zustands darstellt. Der Betrachter gewinnt so den Eindruck, als wäre der Bildraum zu klein für die marmorne Plastik, die in der nächsten Sekunde die ‚Grenze dieses Raumes überwinden’ könnte. Eine Assoziation, die der Anblick des Werks auch bei der Autorin hervorgerufen hat. Lee Miller geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie in der Bildunterschrift schreibt: „Vianis wunderbar leichte Marmorskulpturen scheinen dem Weltraum entgegenzustreben und die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben.“211

In vielen von Lee Millers Fotografien findet sich ein streng orthogonales Ordnungssystem, das man in reduzierter Form auch in dem Porträt von Alberto Viani erkennen kann: in dieser Aufnahme erfolgt eine starke Betonung der Vertikalen durch die Anordnung der zentralen Gruppe von Künstler und Werk im Bild. Diese vertikale und eher statisch wirkende Ausrichtung wird in der Komposition aber durch mehrere Diagonalen relativiert.

Durch das der Fotografie zugrunde liegende Konzept wird nicht nur der Eindruck einer marmornen Skulptur, die sich den Gesetzen der Schwerkraft wiedersetzt und ‚dem Weltraum entgegenstrebt’, erzeugt, sondern auch eine intensive Beziehung zwischen Künstler und Werk dargestellt. So wird dem Betrachter der Aufnahme suggeriert, dass Alberto Viani in der Aufnahme zu einem Teil seiner Skulptur wird. Zu diesem Effekt tragen mehrere Faktoren – die Stellung des Künstlers im Bild und seine Körperhaltung – bei.212 Viani und die Plastik sind so in Szene gesetzt worden, dass der menschliche Körper und das von Menschenhand geschaffene Objekt in der Komposition auf einer Diagonale dargestellt sind. Der Bildhauer hat seinen Kopf ähnlich wie Joseph Cornell in der früheren Fotografie Millers erhoben und blickt wie dieser aus dem Bild heraus und unterstützt so den Eindruck, dass seine Schöpfung schwerelos sei.

Die Vision einer Einheit von Künstler und Werk wird nicht zuletzt durch die große, runde Basisplatte perfektioniert, die sich fast über die gesamte Breite des publizierten Ausschnitts

210 Miller 1948, S. 88: “A further young sculptor’s prize was given to Viani, a talented Venetian whose sensuous anatomic abstractions in marble take off from their pedestals like soap bubbles. He’s a serious young man… and look’s like René Clair.” 211 Miller 1948, S. 89: „Viani’s miraculously light marble sculptures seems to streamline ist way to outer space and to defy the laws of gravity“. 212 Viani sitzt so vor seinem Werk, dass sein Körper fast deckungsgleich mit dem Sockel der Skulptur ist und diesen an keinem Punkt überragt. Der Kopf des Künstlers wird im Zentrum der Komposition im Schnittpunkt zweier Diagonalen wiedergegeben. An dieser Stelle ‚verbinden’ sich auch die ‚schwebende Plastik’ und der mit der Basisplatte verbundene Teil des Sockels miteinander. Die Ausrichtung von Vianis Kopf im Bild ist analog zur Stellung der biomorphen Skulptur. 53 der Fotografie erstreckt. Auf dieser Platte, die den Künstler und sein Werk verbindet, präsentiert sich Alberto Viani der Fotografin. Die Haltung, in der der Bildhauer dargestellt ist, ist ein entscheidendes Element bei der Umsetzung des von der Fotografin intendierten Konzepts. Der Porträtierte kann diese ‚perfekte’ Übereinstimmung seiner Körperhaltung mit der Skulptur, die sich während der Aufnahme hinter ihm befand, nur mit detaillierten Instruktionen Lee Millers erzielt haben. Obwohl Lee Miller den Künstler als einen ernsten jungen Mann beschreibt, war er anscheinend an einer witzigen Präsentation seiner Person und seines Werks interessiert.

Weniger unkonventionell war aber die äußere Erscheinung Alberto Vianis: er trug während der Ausstellung, wie auch Marino Marini und andere Künstler, einen Anzug. Die sehr elegante Kleidung erlaubt auch in diesem Fall einen Rückschluss auf den sozialen Status des Porträtierten und liefert einen Hinweis darauf, wie der Künstler von der Gesellschaft gesehen werden wollte. Viani, der zwar auf der 24. Biennale von Venedig als bester italienischer Nachwuchsbildhauer mit dem Preis der Presidenza della Biennale in Höhe von 100.000 Lire ausgezeichnet wurde, aber bis 1944 weitgehend unbekannt war, stand als Miller ihn porträtierte erst am Anfang einer internationalen Karriere als Bildhauer. Viani kann aber über seine Erscheinung nicht als Künstler angesprochen werden, eine eventuelle Zugehörigkeit zu künstlerischen Kreisen lassen aber die dargestellten Skulpturen und Gemälde vermuten. Eine endgültige Bestätigung dieser Vermutung liefert allein der die Fotografie begleitende Text, der den Dargestellten nicht nur in ein künstlerisches Umfeld einbindet, sondern ihn konkret als bildenden Künstler ausweist.

Der neutrale und helle Bildraum wird in Millers Aufnahme (zusätzlich zu Vianis Plastik Nudo von 1945) durch weitere Werke – mindestens fünf Gemälde und eine Skulptur (Nudo (Idolo)213 von 1948) – akzentuiert und kann so in einem künstlerischen Zusammenhang gesehen werden. Die beiden Skulpturen werden in der Darstellung auf einer diagonal verlaufenden Raumachse wiedergegeben, so dass sie eng aufeinander bezogen sind. Die Plastik Nudo (Idolo) von 1948 wird in der Aufnahme, die der unbekannte Fotograf vom Ausstellungsraum hergestellte, in der hinteren rechten Ecke des Saales gezeigt. In dem Porträt Millers ist Nudo (Idolo) von 1948 auch in einer Raumecke dargestellt, befindet sich aber auf der linken Seite der im Mittelpunkt des Bildes dargestellten Einheit von Künstler und Werk (Nudo von 1945). Miller fotografierte also tendenziell aus der gleichen Hälfte des Raumes her wie der unbekannte Fotograf, der sich auf der Längsachse des Saales befunden hat und mit seiner Aufnahme die Werke und ihre Aufstellung während der Biennale dokumentieren wollte, doch zeigt sie die Skulpturen aus einer anderen Perspektive.

Die Fotografin stand während der Aufnahme im linken Teil des Saales auf einer Diagonalachse mit Alberto Viani und der Skulptur Nudo von 1945 und hat diese aus einer deutlich geringeren Distanz als der unbekannte Fotograf aufgenommen. Die von Miller gewählte Entfernung ermöglichte aber dennoch die Darstellung der Skulptur in ihrer ganzen Höhe, der gewählte Standpunkt erlaubte auch die Wiedergabe eines weiteren Werks des

213 Santini 1990, Abb. 46, vgl. S. 313. 54 porträtierten Künstlers. Eine Identifizierung der dargestellten Gemälde anderer Künstler214 der Vereinigung Il Fronte nuovo delle Arti ist aufgrund der Aufnahmedistanz nicht möglich.

Ein Vergleich von Millers Darstellung der Skulptur Nudo (1945) und der Abbildung des gleichen Werks durch den unbekannten Fotografen zeigt auf, wie die Wiedergabe eines plastischen Objektes durch die Fotografie beeinflusst wird (Fotografien 14 und 15). So existieren bei der Wiedergabe von Gemälden oder Skulpturen in einer Fotografie prinzipiell große Unterschiede: ein Gemälde ist durch seinen ‚zweidimensionalen’ Bildträger auf die Ansicht von einem Punkt aus angelegt, was für die ‚optimale’ Präsentation (oder Reproduktion) in einer Fotografie eine bildflächenparallele Darstellung erfordert. Eine Skulptur besitzt aber durch ihre Dreidimensionalität beliebig viele Ansichten, so dass eine ‚objektive’ Darstellung unmöglich ist. So ist durch die Wahl des Aufnahmeabstandes, der Perspektive oder der Behandlung des Lichts jede Fotografie von Skulptur bereits im Ansatz einer Deutung unterworfen.215

Diese drei Faktoren sind es, die dem Betrachter der Fotografie von Lee Miller und der Aufnahme des unbekannten Fotografen suggerieren, dass es sich nicht um ein und dieselbe Skulptur, sondern um zwei verschiedene Werke handelt. Lee Miller fotografierte die Plastik, wie bereits beschrieben, aus einer kürzeren Entfernung und von einem anderen Standpunkt her, so dass die Aufnahme einen völlig anderen Blick auf das Werk bietet. Während der unbekannte Fotograf die Skulptur so aufgenommen hat, wie sie sich auch einem potentiellen Besucher der Ausstellung beim Betreten des Saales darstellte, und eine der beiden breiteren Seiten des ‚Aktes’ aus einer großen Distanz frontal wiedergegeben hat, zeigt Miller eine der ‚Schmalseiten’ aus einer geringeren Entfernung. Zudem wählte sie für ihre Aufnahme die monumentalisierende Untersicht, so dass ein Blick unter das ‚schwebende’, biomorphe Element gegeben wird. Der Ausstellungsraum der Biennale wurde, wie aus der bei Santini publizierten Fotografie ersichtlich ist, durch ein Oberlicht auf ganzer Länge mit Tageslicht versorgt. In beiden Fällen scheint diese natürliche Beleuchtung die einzige Lichtquelle gewesen zu sein, die in Millers Fotografie dazu beiträgt, dass der untere Part des biomorphen Elements verschattet dargestellt ist. Durch diesen Schattenwurf wird ein Negativvolumen suggeriert bzw. ein bereits bei der Ausarbeitung des Werks umgesetztes Negativvolumen verstärkt.

Die von Lee Miller während der Biennale von Venedig im Jahr 1948 porträtierten Bildhauer Marini, Manzù und Viani präsentierten ihr Werk in der Darstellung speziell für die Kamera,

214 Im Saal 29 wurden die Gemälde von Antonio Corpora (geb. 1909), Armando Pizzinato, Renato Guttuso (1912–1987), Giulio Turcato (1912–1995), Giuseppe Santomaso (1907–1990) und Emilio Vedova (geb. 1919) ausgestellt (vgl. Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 169). 215 Erika Billeter (Hrsg.), Skulptur im Licht der Fotografie: Von Bayard bis Mapplethorpe, Ausst. Kat., Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg, Europäisches Zentrum moderner Skulptur, 6.12.1997– 22.2.1998, Musée d’art et d’histoire Fribourg, 27.3.–1.6.1998, Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Palais Liechtenstein, 26.6.–20.9.1998, S. 7. Wener Schnell, Brancusis Torsi vor seiner Kamera – oder: Wie der ‚Torse de jeune homme’ zu seinem Namen kam, in: Hermann J. Mahlberg (Hrsg.), Topoi. Beiträge zu einer kulturarchäologischen Ortsbestimmung, Festschrift für Rainer K. Wick zum 60. Geburtstag, Wuppertal 2004, S. 129–141. 55 auch wenn – wie im Fall von Giacomo Manzù – zusätzlich zum Künstler und seinem Werk eine weitere Person zu sehen ist. Diese Person – John Rothenstein, Direktor der Tate Gallery in London – war auch durch seine Mitgliedschaft in der Jury der 24. Biennale eng mit dem Kunstbetrieb verbunden und trat als potentieller Käufer und somit als Garant für die Qualität des Werks auf. In keiner der Aufnahmen werden eventuelle Besucher der Biennale wiedergegeben. Die Bildhauer posierten in einem neutralen Umfeld mit ihren Werken, mit denen sie wie beispielsweise Marino Marini und Giacomo Manzù eine Art ‚Dialog’ führen.

In den bisher vorgestellten, auf der 24. Biennale von Venedig (1948) entstandenen Künstlerporträts liefern die dargestellten Kunstwerke als bildimmanente Faktoren einen Hinweis auf ein künstlerisches Umfeld. Durch die besondere, intensive Beziehung zwischen den Protagonisten und ihren Werken wird dieser allgemeine Zusammenhang in bestimmten Umfang konkretisiert und ein Hinweis auf deren Urheberschaft gegeben. Die Präsentationsform der gezeigten Werke erlaubt in bestimmten Grenzen, eine Ausstellungssituation zu thematisieren; diese wird aber durch keine weiteren Elemente im Bild näher bestimmt. Dass die Fotografien während einer bedeutenden internationalen Ausstellung aufgenommen worden sind, erfährt man lediglich durch den Text, der die Aufnahmen bei ihrer Veröffentlichung in Artikeln in der britischen oder amerikanischen Ausgabe der Zeitschrift Vogue begleitete.

4.1.1.7 Pablo Picasso mit der Baby-Skulptur aus Frau mit Kinderwagen (Vallauris, 1954)

Pablo Picasso als einen der – wenn nicht gar den – meist fotografierten Künstler des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen, ist wohl keine Übertreibung.216 Die ersten Aufnahmen von Miller datieren in das Jahr 1937, als sie den Maler und Bildhauer durch Vermittlung von Roland Penrose kennen lernte und mit ihm und anderen Künstlerfreunden gemeinsam einen Urlaub in Mougins verbrachte. Auch Fotografen wie David Douglas Duncan (USA, *1916) und Edward Quinn (Irland, 1920 – Schweiz, 1997) waren eng mit Picasso befreundet und porträtierten den Künstler und sein Werk seit den 1950er Jahren bis zu seinem Tod im April 1973. Duncan fotografierte Picasso zum erstenmal am 8. Februar 1956 in der Badewanne217, Quinn bei einer Keramikausstellung in Vallauris 1951218. Anders als Duncan

216 Ausst. Kat. Paris 1991, o. Pag., vgl. das Kapitel „Picasso as a Model“. „Why is Picasso so continually subject to photography? Because he is an immensely famous artist? A controversial figure?“ fragte auch Alfred Barr, Jr. und führt als Gründe nicht nur die Berühmtheit respektive die Umstrittenheit des Künstlers, sondern vor allem die faszinierende Persönlichkeit Picassos an, der sich zudem gern fotografieren lasse (Penrose 1981a, S. 7–8). Auch Roland Penrose betont die besondere Bedeutung, die den Porträts von Picasso zukommt: „Picasso was preoccupied above all with vision, and it is therefore appropriate that a visual record should be made of the surroundings in which he was born and in which he chose to live, the friends he made and the women he loved and who shared his intimacy. By studying such a record we can gain insight into both his work and his character, we can divine the influences that combined to inspire him, and it may shed some light on the strange and incalculable workings of his genius […] It was fortunate that Picasso himself was usually willing to be photographed and, even more important, that several distinguished photographers became his intimate friends.” (Penrose 1981a, S. 13). 217 David Douglas Duncan, Viva Picasso, Wien [u. a.] 1981, S. 1. 56 und Quinn, die beide als freiberufliche Fotografen arbeiteten, veröffentlichte Miller ihre Porträts von Picasso und anderen Künstlern nicht in speziellen Bildbänden. Ihre Künstlerporträts entstanden als freie Arbeiten oder Auftragsarbeiten für Vogue und illustrierten (eigene) Zeitschriftenartikel219 oder wurden in den Monografien publiziert, die ihr Ehemann Roland Penrose über Künstler wie Antoni Tàpies und Pablo Picasso verfasste.220

Picasso hatte sich 1947 in der Töpferei Madoura in Vallauris erstmals mit der Keramik beschäftigt. In dem südfranzösischen Ort richtete er sich 1949 in einer ehemaligen Parfümerie in der Rue du Fournas Ateliers speziell für Malerei und Bildhauerei ein. In seiner Bildhauerwerkstatt schuf er von 1950 bis 1954 die Assemblage Frau mit Kinderwagen221. 1954 – im Jahr der Fertigstellung der Figurengruppe – fotografierte Lee Miller Picasso dort zusammen mit der Baby-Skulptur. Der Fotograf, Maler und Bildhauer Alexander Liberman hatte bereits 1952 die Gelegenheit, die Ateliers des Künstlers in Vallauris zu besuchen. Von der Bildhauerwerkstatt berichtete er, dass es sich um den größten Raum in der Fabrik handele. Zwei der Plastiken, von denen der Raum angefüllt sei, beschreibt er folgendermaßen: „Aus Weinkörben war ein kleines, seilspringendes Mädchen entstanden; in einer Ecke schien ein aus Abfall gemachter Kinderwagen unter der Last eines Karikaturbabys zu schaukeln. Dieser Mann liebte das Spiel [...] der Sinn für Humor, für das Theater und die kindliche Freude am Spiel sind verborgene Eigenschaften vieler Künstler.“222 Lee Millers Fotoserie, die aus mindestens zehn Aufnahmen223 besteht, thematisiert dieses Spiel Picassos mit seinen Skulpturen und seine enge Beziehung zu diesen Werken.

Als wäre er der ‚Vater’ des ‚Babys’ aus Frau mit Kinderwagen – so zärtlich und voller Stolz kümmert sich Pablo Picasso um die kleine Skulptur, die er in allen Aufnahmen der Serie224

218 Edward Quinn, Picasso, Fotos von 1951–1972, Köln 1977, S. 10. Vgl. auch: The Private Picasso, a photographic study by Edward Quinn, Boston 1987, S. 40 und S. 78. 219 Lee Miller, Paris – Its Joy… its Spirit… Its Privations, (britische) Vogue (Octobre 1944). 220 Roland Penrose: Portrait of Picasso, London 1956 (amerikanische Ausgabe 1957) (nochmals 1971 publiziert, eine weitere, erweiterte Ausgabe erschienen 1981). Picasso. His Life and Work, London 1958 (deutsche Ausgabe München 1961). Picasso, London 1960 und 1971. Tàpies, London 1978 und Barcelona 1985. 221 Werner Spies, Picasso. Das plastische Werk, Werkverzeichnis der Skulpturen in Zusammenarbeit mit Christine Piot, Ausst. Kat., Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, 7.10.–27.11.1983, Kunsthalle Düsseldorf, 11.12.1983–29.1.1984, S. 390: Die Frau mit dem Kinderwagen, Vallauris, 1950, Kat. Nr. 407, I Original aus Gips, gebrannten Ton (Dachziegel und Keramikteile), Metallteile, Kuchenformen und Kinderwagen. Abbildung der Bronzeskulptur auf S. 247. 222 Alexander Liberman, Künstler im Atelier, Hannover 1961, S. 33. 223 SWN LMA, Inv. Nr, P 0119, P 1040, P 1041, P 1042, P 1043, P 1044, P 1047, P 1048, Negativformat 6 x 6 cm. Die Schwarzweißnegative LMA, Inv. Nr. P 1045 und P 0120 entstanden bei der selben Gelegenheit im Atelier Picassos in Vallauris und zeigen Picasso und Braque, die die Keramiktauben Picassos begutachten (vgl. Kap. 4.1.2.2.6). Abb. von LMA, Inv. Nr. P 0119 in: Penrose 1981b, S. 213, Abb. 527. 224 Die Aufnahmen der Porträtserie im Negativformat von 6 x 6 cm zeigen Pablo Picasso im Atelier in Vallauris mit seiner Skulptur des Babys aus Frau mit Kinderwagen (SWN LMA, Inv. Nr. P 1040, P 1041, P 1042, P 1043, P 1044, P 1048 und P 0119), in einigen dieser Aufnahmen in Gesellschaft (ff) 57 durch die spezielle Inszenierung als ein ‚real’ existierendes Kind anspricht: der Künstler hält das ‚Baby’ in seinen Armen und küsst es (Fotografie 16)225 oder präsentiert es voller Stolz seinen Besuchern226, er spielt mit der in einer ‚Kinderkarre’ sitzenden Figur227, ‚füttert’ sie mit einem ‚Fläschchen’ (Fotografie 17)228 oder scheint das ‚Baby‘ zu ‚wickeln’229. Auch die ‚Züchtigung’ des ‚Kindes’230, das von seinem ‚Vater’ mit Schlägen auf den ‚Po’ bestraft wird, gehört zu diesem Repertoire.

Der Künstler und sein aus Tonhenkeln und Tongefäßen geschaffenes Kunstwerk sind in dieser witzigen Inszenierung, die ihre Impulse wahrscheinlich allein durch den Künstler bezieht und sein fröhliches und gelöstes Spiel mit seinem Werk darstellt, eng miteinander verbunden. Weder die kleine Plastik noch der Künstler dominieren einander, sie bilden vielmehr eine Einheit, die die Komposition beherrscht. Die zwischen den beiden ‚Darstellern’ herrschende, ‚spielerische’ Beziehung wird als äußerst intensiv empfunden, obwohl es sich bei der aus gefundenen Objekten wie Tonscherben, Kuchenförmchen und einem Kinderwagen gearbeiteten Assemblage, von der um 1962/63 zwei Exemplare in Bronze gegossen wurden, nicht um eine abbildende Darstellung eines Kleinkindes handelt.

Lee Miller fotografierte Picasso und die kleine Skulptur aus einer geringen Entfernung. Neben den im Mittelpunkt stehenden Protagonisten wird durch den gewählten Bildausschnitt – meist auf der linken und rechten Seite des ‚ungleichen Paares’231 – ein Einblick in den Raum gewährt. Da die dargestellten Elemente aufgrund der leichten Unschärfe des Bildhintergrundes bei gleichzeitiger Fokussierung der zentralen Figurengruppe nur mit Phantasie als Gegenstände angesprochen werden können, die auch im Atelier Picassos existiert haben könnten232, kann dieser Raum in den Aufnahmen allein über das dargestellte Kunstwerk in einem künstlerischen Zusammenhang gesehen werden. Lee Miller wollte mit diesem Porträt scheinbar nicht den Künstler mit seinem Werk im Atelier darstellen, obwohl

Georges Braques (LMA, Inv. Nr. P 1042, P 1043). Die Aufnahme LMA, Inv. Nr. P 1047 zeigt die beiden Künstler ohne die Skulptur. Bei der gleichen Gelegenheit entstanden auch die Aufnahmen von Picasso und Braque mit einem weiteren Werk Picassos, bei dem es sich um Keramiktauben handelt (LMA, Inv. Nr. P 1045, P 0080, P 0120). 225 Fotografie 16 = SWN LMA, Inv. Nr. P 1040, Abb. in: Livingston 1989, S. 102. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 107. Penrose 1981b, S. 214, Abb. 530. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 133. 226 SWN LMA, Inv. Nr. P 1042. 227 SWN LMA, Inv. Nr. P 1041. 228 Fotografie 17 = SWN LMA, Inv. Nr. P 1044, Abb. in: Penrose 1981b, S. 214, Abb. 533. 229 SWN LMA, Inv. Nr. P 1048. 230 SWN LMA, Inv. Nr. P 1043. 231 SWN LMA, Inv. Nr. P 1040, P 1044 und P 1048. In den Aufnahmen LMA, Inv. Nr. P 1042 und P 1043 wird neben Picasso und seiner Skulptur noch Georges Braque gezeigt, so dass ein größerer Teil des Raumes zu sehen ist. In der Aufnahme LMA, Inv. Nr. P 1041 ist Picasso am linken Bildrand und die ‚Kinderkarre‘ mit dem ‚Baby‘ am rechten Rand der Fotografie zu sehen. 232 Picassos Atelier in Vallauris wird in Fotografien von Robert Doisneau und Edward Quinn detaillierter gezeigt. Vgl. die Abbildungen in: Ausst. Kat. Picasso 1983/84, S. 242–243, S. 257 und S. 262. 58 dieses Atelier die ‚Kulisse’ für die Aufnahme bot, wie aus den anderen Fotografien der Serie hervorgeht.233

Auffallend ist, dass in allen Aufnahmen der Serie die Figur des Babys isoliert dargestellt ist und weder in die endgültige Konstruktion integriert, noch in Bezug dazu gesetzt wird. Zwar wird die ‚Kinderkarre’ in sechs Fotografien234 gezeigt, doch ist aufgrund der Nähe zwischen der Fotografin und ihren beiden ‚Modellen’ immer nur ein Ausschnitt dieses ‚Wagens’ zu sehen, wodurch die Interpretation der Assemblage als ‚Kinderwagen’ erschwert wird. Die von Picasso geschaffene Figur der Mutter, die ein wesentliches Element in der ‚vollständigen’ Figurengruppe ist, wird in den Aufnahmen Millers komplett ausgeblendet. Die Darstellung des Kinderwagens mit Kind, aber ohne Mutter, ist in formaler Hinsicht widersinnig, so dass sich die Frage stellt, ob diese Skulptur vielleicht zum Aufnahmezeitpunkt, der in das Jahr der ‚Fertigstellung’ der Gruppe fällt, noch nicht konstruiert worden war und das Ensemble so noch nicht in seiner ‚endgültigen’ Form präsentiert werden konnte.

Roland Penrose, der in seinem Scrapbook235 über einen Besuch bei Pablo Picasso in seinem Bildhaueratelier im Jahr 1954 berichtet, bei dem auch Georges Braque und seine Frau Marcelle als Gäste zugegen waren, erwähnt die ‚Mutter’ des ‚Babys’ in seinen Aufzeichnungen mit keinem Wort: „[...] Picasso brachte große Skulpturen hervor, an denen er gerade arbeitete. Er setzte Scherben und Topfhenkel zu einem Baby in einem Kinderwagen zusammen und spielte mit einer Reihe von Lösungen. Jede Variation, die er ausprobierte, brachte eine Überraschung mit sich. Diese war manchmal so ausgefallen, dass Braque nur höflich grinste, aber immerhin so, dass die Verbindung zwischen den beiden Erfindern des Kubismus, die sich ein halbes Jahrhundert zuvor so vollkommen verstanden hatten, immer noch vorhanden war. Das Geheimnis um die Bedeutung der Form, die Fragwürdigkeit unserer Interpretationen und die Veränderungen, die stattgefunden hatten, waren wie immer von großer Bedeutung für die beiden. Für Braque war aber die Verfeinerung der Form der Keramiktauben, die Picasso ihm zeigte, von größerer Wichtigkeit als die ausgefallenen und manchmal derben Späße Picassos. Pablo war der Vitalere, während Braque den Anschein eines großen weisen Mannes ohne jede Leichtfertigkeit gab. Lee kam wie immer dazu und

233 Vgl. zum Beispiel SWN LMA, Inv. Nr. P 1045. 234 SWN LMA, Inv. Nr. P 1040, P 1041, P 1042, P 1043, P 1044, P 1048. 235 Penrose 1981b, S. 213–214: “[…] Picasso brought out large sculptures he was working on. Shards and pot-handles put together by him became a baby in a push-cart. Playing with all manner of solutions, each position he tried brought a surprise, sometimes so outrageous that only a polite grin came from Braque, but even so, that communication between the two inventors of cubism who had understood each other so thoroughly some half century before was still present. The mystery of the meaning of form, the uncertainty of our interpretations and the metamorphoses that take place were forever of vital importance to them both, but for Braque it seemed that the refinement of form in the ceramic doves that Picasso showed him was of greater importance than his friend’s more outrageous and sometimes bawdy jokes. In Pablo there was more vitality whereas in Braque there was a sensation of the great wise old man now beyond frivolity. Lee as usual joined in, taking pictures at well chosen moments, such as Picasso kissing the rounded cheek of his baby made from a broken pot, or showing Tony how the addition of a large key in the hand of a life-size wartime bronze brought it to life, since the lady it represented was, in effigy, the Madame of a brothel.” 59 fotografierte in ausgewählten Momenten, beispielsweise als Picasso die aus einem zerbrochenen Topf gestaltete, gerundete Wange seines Babys küsste [...]“.

Den Aufzeichnungen von Penrose zufolge zeigte Picasso seinen Besuchern in seinem Bildhaueratelier die großformatigen Skulpturen, an denen er gerade arbeitete. Das ‚Baby’ in seiner Kinderkarre und Picassos derber und spielerischer Umgang mit der Plastik werden von Penrose erwähnt, so dass diese Textstelle in seinem Scrapbook in direktem Zusammenhang zu Millers Fotoserie steht. Penrose beschreibt mit Worten, was Miller während ihres Aufenthaltes in Picassos Atelier in ihren Fotografien festgehalten hat. Auf die in die endgültige Fassung von Frau mit Kinderwagen eingebundene Figur der ‚Mutter’ liefern aber weder Penrose noch Miller einen Hinweis. Die Vermutung, dass die Figurengruppe zu dieser Zeit noch nicht vollständig ausgearbeitet worden war, kann durch die Informationen von Penrose gestützt werden.

Doch bleibt gerade dadurch, dass die (eventuell noch unvollendete) Figur der ‚Mutter’ nicht in die Inszenierung einbezogen wurde, der Illusionismus erhalten: nichts lenkt in der Darstellung von der intensiven Beziehung zwischen Picasso und seinem Werk ab, durch die nicht vorhandene ‚Mutter’ wird die Aufmerksamkeit allein dem Schöpfer, sozusagen dem ‚Vater’ der Skulptur zuteil. Picasso soll seine Werke, wie seine Tochter Maya zu berichten weiß, grundsätzlich als ‚seine Kinder’ angesehen haben. 236

Roland Penrose liefert in seinem Text aber noch andere interessante Informationen, die auch die Arbeitsweise Lee Millers betreffen. Die eingangs aufgestellte Hypothese, dass die Inszenierung allein von Picasso gesteuert wurde, ohne dass die Fotografin ihn zu bestimmten Posen aufgefordert habe, wird durch die Äußerungen von Penrose gestützt: Lee soll so „wie gewöhnlich dazugekommen sein“ und in ausgewählten Momenten fotografiert haben. Penroses Formulierung „wie gewöhnlich“ erlaubt auch Rückschlüsse auf die Entstehung weiterer Porträtserien, die Miller von Picasso (und anderen Künstlern?) aufnahm: die Fotografin wollte den Porträtierten scheinbar nicht beeinflussen, sondern möglichst ungestellte Fotos aufnehmen.

Dieses Ziel hatten sich auch andere Fotografen gesetzt. So berichtet beispielsweise Edward Quinn von einem Besuch bei Picasso: „Sobald ich anfing zu fotografieren, konzentrierte er sich auf seinen eigenen Ausdruck, als wolle er sich von seiner besten Seite zeigen. Nach wenigen Minuten war er dann bereits so beschäftigt oder in ein Gespräch vertieft, daß er mich völlig vergaß. Das war genau die Situation, die ich brauchte, um ungestellte und glaubwürdige Fotos von ihm zu machen. Dabei habe ich die Kamera wie einen Stift benutzt, der die vielfältigen Tätigkeiten Picassos in der ihm gewohnten Umgebung aufzeichnet.“237

236 Werner Spies (Hrsg.), Picassos Welt der Kinder, Ausst. Kat., Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 9.9.–3.12.1995, Staatsgalerie Stuttgart, 16.12.1995–10.3.1996, München [u. a.] 1995, S. 58. 237 Quinn 1977, S. 16. 60

Der Fotograf beeinflusst die Person, die er porträtieren möchte, aber nicht nur direkt über Regieanweisungen, in dem er sie zu bestimmten Posen auffordert, sondern auch indirekt durch seine Gegenwart. Dass Picasso sich der Anwesenheit Millers während seiner Inszenierung mit dem ‚Baby’ aus Frau mit Kinderwagen bewusst gewesen sein muss, zeigt die geringe Aufnahmedistanz zwischen der Fotografin und ihrem Modell. Diese ist nicht nur in den Abzügen, sondern bereits in den Negativen erkennbar, so dass es sich nicht um das Ergebnis einer nachträglichen Vergrößerung handelt.

Der Künstler richtete sein Handeln in den bisher vorgestellten Aufnahmen, in denen er seine Skulptur in einer das Werk interpretierenden Inszenierung darbot, auf die Kamera aus, wodurch die Präsentation seiner Skulptur in erster Linie der Fotografin und somit dem Betrachter der Fotografie galt. Es existieren aber auch Aufnahmen, in denen sich Picasso einer weiteren Person zuwendet. So hat Lee Miller Pablo Picasso auch dabei beobachtet, wie er sein ‚Kind’ in ‚väterlicher’ Regung und voller Begeisterung, mit freudig erregtem Gesicht, einem weiteren Besucher des Ateliers präsentierte: Georges Braque. Sicherlich ist in diesen Aufnahmen238 nicht nur ein eventueller ‚Vaterstolz’ dargestellt, sondern auch der Stolz des Künstlers Picasso auf seine Werke, seine ‚Geschöpfe und Kreaturen’, die er seinem langjährigen Freund, ehemals engen Mitstreiter und schließlich auch rivalisierenden Künstlerkollegen vorstellt.239

Penrose schildert in dem oben zitierten Auszug aus seinem Scrapbook240 die unterschiedlichen Temperamente der beiden Künstler während ihres Aufenthalts in Vallauris im Jahr 1954 und stellt Georges Braque als einen weisen alten Mann dar, während er die große Vitalität Picassos betont. Lee Millers Aufnahmen241 zeugen von den verschiedenen Wesensarten der beiden Porträtierten, wofür die Fotografie LMA, Inv. Nr. P 1042 ein gelungenes Beispiel ist. Picassos ‚sprühende’ und ‚schillernde’ Persönlichkeit, seine Energie und Begeisterung, die er in diesem Fall über seine Plastik empfindet und die man an seiner Mimik und Gestik ablesen kann, werden so dem über seine Gesichtszüge und seine Haltung Ruhe und Besonnenheit ausstrahlenden Braque gegenübergestellt. Braque soll so auch das Gespräch der beiden „Erfinder des Kubismus“ über die Formgestaltung von Picassos Keramiktauben, mit denen die Künstler in drei weiteren Fotografien Millers gezeigt werden242, dem zum Teil derben Spiel Picassos mit seiner Babyskulptur vorgezogen haben, wie Penrose schreibt.

238 SWN LMA, Inv. Nr. P 1042 und P 1043. 239 Vgl. hierzu: William Rubin, Picasso und Braque: die Geburt des Kubismus, München 1990. Roland Penrose, Picasso – Leben und Werk, München 1961, S. 147–148, 180. Eileen Agar schreibt in ihrer AutoBiografie, dass Picasso mit anderen Künstlern konkurrierte und sich sehr für die Preise interessierte, die seine Gemälde auf Auktionen in Paris erzielten. Paul Éluard musste ihm auch berichten, für welche Summen Braques Gemälde verkauft wurden (Agar 1988, S. 140). 240 Penrose 1981b, S. 213–214. 241 SWN LMA, Inv. Nr. P 1042, P 1043, P 1047. 242 Vgl. Kap. 4.1.2.2.6. 61

Picassos Stolz über seine gelungene Arbeit spiegelt auch eine weitere Fotografie wieder, die den Künstler ebenfalls in Gesellschaft von Braque zeigt (Fotografie 18)243. Die Porträtierten stehen Schulter an Schulter im Atelier, wodurch die im Vergleich zu Georges Braque geringe Körpergröße Pablo Picassos augenfällig wird. Im Vordergrund der Aufnahme wird in der linken unteren Ecke ein helles Objekt präsentiert, dessen Bedeutung sich dem Betrachter der Fotografie erst auf den zweiten Blick offenbart. Es handelt sich bei diesem Objekt um einen Teil der Skulptur des ‚Babys’ aus Frau mit Kinderwagen. Aufgrund des gewählten Ausschnitts ist nur die Form, die die Haube des Kindes bezeichnen soll, in der Aufnahme zu sehen, wodurch die Identifizierung des Gegenstandes sehr erschwert wird und eine Ansprache als Werk Picassos fast unmöglich gemacht würde, existierten nicht die anderen Fotografien der Serie, die das Werk in ganzer Größe darstellen.

Lee Millers Aufnahmen von Picasso mit seinem ‚Baby’ sind durch die besondere Darbietung des Künstlers voller Witz und enthalten, auch bei einer isolierten Betrachtung, ein narratives Element. Eine der Aufnahmen Millers, in der Picasso zu sehen ist, wie er die kleine Skulptur küsst, könnte Assoziationen an den von Ovid in seinen Metamorphosen244 überlieferten und in der europäischen Kunst vielfach tradierten Mythos des Pygmalion hervorrufen.245 Der Bildhauer Pygmalion soll sich – so die antike Sage – in die von ihm geschaffene Skulptur einer schönen jungen Frau verliebt haben. Voller Sehnsucht bat er daraufhin die Göttin Aphrodite um Hilfe, die die Plastik, während der Künstler sein Werk mit Küssen bedeckte, in ein menschliches Wesen verwandelte.246 Wie Pygmalion küsst auch Picasso seine Skulptur und könnte so seiner ‚väterlichen’ Zuneigung zu seinem Werk Ausdruck geben. Doch da es sich bei dieser Plastik nicht um eine figurative Darstellung, sondern um eine abstrakte Skulptur handelt, die zudem nicht als eine begehrenswerte Frau, sondern als ein kleines Kind verstanden werden soll, spielt Picasso in der Inszenierung nicht die Rolle Pygmalions, sondern konterkariert vielmehr durch sein Handeln den Mythos.247

Ein ganz anderes Verhältnis zwischen Picasso und seiner Baby-Skulptur aus Frau mit Kinderwagen spiegelt eine Fotografie aus dem Besitz von Jacqueline Picasso248 wieder, von deren Hand viele Porträts ihres Mannes stammen.

Picasso hatte aus Unzufriedenheit über die „städtebaulichen und atmosphärischen Entwicklungen in Cannes“249, wo er seit Juni 1955 in seiner Villa La Californie lebte, das Haus Notre Dame de Vie in Mougins erworben und im Juni 1961 bezogen. Bereits 1958

243 Fotografie 18 = SWN LMA, Inv. Nr. P 0119, Format 6 x 6 cm, Abbildung eines Ausschnitts aus dem Schwarzweißnegativ in: Penrose 1981b, S 213, Abb. 527. 244 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, übers. und hrsg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1997, Liber X, S. 526–531. 245 Vgl. Blühm 1988. Dörrie 1974. 246 Lamer 1989, S. 603. Ausst. Kat. 2001, Kap. III, S. 188–214. 247 Vgl. hierzu: Werner Schnell, Der Torso als Problem der modernen Kunst, Köln 1984, S.152f 248 Jacqueline Roque war seit 1954 Picassos Lebensgefährtin und heiratete den Künstler 1961. 249 Warncke 1995, S. 722. 62 hatte er aus dem gleichen Grund nahe Aix-en-Provence das Schloss Vauvenargues gekauft, wo er von 1959 bis 1961 mit Unterbrechungen lebte und arbeitete. Das Schloss bot aber aufgrund seiner einsamen Lage und der klimatischen Verhältnisse nicht das geeignete Ambiente. Der Umzug Picassos nach Notre-Dames-de-Vie bietet einen Terminus post quem für die Datierung der Fotografie, die so frühestens im Juni 1961 entstanden sein kann.

In der Fotografie250 wird kein ‚Dialog’ zwischen dem Künstler und seinem Werk gezeigt, Picasso posiert vielmehr in selbstbewusster Haltung mit seinem Kunstwerk. In dieser Aufnahmesituation wird kein Kontakt zwischen Picasso und seinem ‚Baby’ hergestellt, die kleine Skulptur wird – wie auch schon in den Fotografien Lee Millers – nicht in den Figurenkomplex eingebunden, sondern völlig isoliert dargestellt. In der von Lee Miller mit der Kamera festgehaltenen Inszenierung soll Picassos Spiel mit der Figur zur Interpretation der Assemblage als ‚Baby’ beitragen, während die Skulptur in der Fotografie aus dem Besitz Jacquelines nicht als Kleinkind angesprochen werden kann. Die isolierte Darstellung der Baby-Skulptur könnte in dieser Fotografie mit den Arbeiten und Vorbereitungen für den Bronze-Guss der Skulptur um 1962/63251 in Verbindung gebracht werden.

4.1.1.8 Pablo Picasso mit einer Keramikmaske (Cannes, 1956)

In einen äußerst engen ‚Kontakt’ zu seiner Kunst tritt Picasso nicht nur in den Aufnahmen, in denen er mit der Baby-Skulptur oder einem Porträtkopf Jacquelines252 zu sehen ist, sondern auch in einer Reihe von Fotografien, die ihn im Winter 1956 unter anderem mit seinem langjährigen Freund und Vertrauten Jaime Sabartès in seinem Haus La Californie zeigen.

Der Begriff ‚zeigen‘ trifft im Fall von zwei Aufnahmen (Fotografien 19 und 20)253 jedoch nicht ganz den Sachverhalt: Picasso und Sabartès werden von Lee Miller mit ‚Masken’ vor dem Gesicht porträtiert. Bei dieser Maskierung handelt es sich um flache, runde ‚Keramikgesichter’, die Picasso aus weißem Ton modellierte, glasierte und brannte.254 Picasso präsentiert in der Darstellung die Rückseite seiner ‚Maske’ mit der Datierung Cannes mai 1956 am unteren Rand der Plastik. Auf der Vorderseite der Keramik sollen sich Abdrücke von Maschendraht abzeichnen.

250 Abb. in: Warncke 1995, S. 724, rechte Abbildung. 251 Ausst. Kat. Picasso 1983/84, S. 390, Kat. Nr. 407. 252 Vgl. Kap. 4.1.1.7 und 4.1.1.10. 253 Fotografie 19 = Neuer Abzug, LMA, Inv. Nr. P 0725 Abb. in: Penrose 1981b, S. 219, Abb. 548. Es existiert ein weiteres Einzelporträt von Picasso mit Maske von Miller (Fotografie 20 = Abb. in: Penrose 1981a, S. 89, Abb. 246). Der Künstler verdeckt seine Gesichtszüge in dieser Fotografie mit dem Werk, mit dem sich Sabartès in der Aufnahme LMA, Inv. Nr. P 0725 maskiert. 254 Abbildungen in: Ausst. Kat. Picasso 1983/84, S. 357, Abb. 586 (Maske Sabartès): „Maske, Cannes, Mai 1956, weißer gebrannter Ton, glasiert (Abdruck von Wellpappe), 16 x 20 cm. Auf dem Rücken datiert Mai 1956 Cannes, Privatsammlung“. Ebd., S. 358, Abb. 588 (Maske Picasso): „Maske, Cannes, Mai 1956. Weißer gebrannter Ton, glasiert (auf der Vorderseite Abdruck von Maschendraht), 28 x 25 cm. Auf dem Rücken datiert Cannes mai 195[6], Privatsammlung. Abgebildet: Rückseite“. 63

Picassos Lebenswelt erscheint dem Betrachter der Fotografie ungeordnet und chaotisch: so sind im Salon der Villa La Californie, wo Miller Picasso und Sabartès porträtierte, zahllose, scheinbar wahllos abgelegte Gegenstände255 zu sehen. Dieser Raum bot auch die Kulisse für viele Aufnahmen von David Douglas Duncan und Edward Quinn.256 Duncan bezeichnet diesen Raum auch als „großes Atelier (früher Salon und Esszimmer)“, worauf es in der Aufnahme Millers aber keine Hinweise gibt: so sind zwar Kunstwerke, aber keine typischen künstlerischen Gerätschaften zu sehen. Der dargestellte Ausschnitt des Raumes zeigt also nur ein für Picassos Häuser typisches Interieur, ein „chaotisches Innenleben“, das dem Künstler „heilig“ gewesen sein soll.257

In diesem Sammelsurium aus Kunstwerken und Verkleidungen werden Picasso und Sabartès in einem hierarchischen, von Picasso dominierten Verhältnis gezeigt (Fotografie 19). Die beiden langjährigen Freunde sind zwar Seite an Seite zu sehen, doch wird Sabartès, der in einem Lehnstuhl Platz genommen hat, von dem neben ihm stehenden Picasso überragt. Dieser ‚teilt’ zusätzlich die Bildfläche nach dem Prinzip des Goldenen Schnitts und besetzt so eine wichtige Position in der Fotografie. Picassos Kopf wird zum zentralen Element in der Darstellung, was auch durch die Wahl des Kamerapunktes, der in Augenhöhe Picassos liegt, unterstrichen wird. Durch die ‚untrennbare’ Einheit von Künstler und Werk in der Fotografie kommt dem gezeigten Kunstwerk im Fall Pablo Picassos eine gleichsam hervorgehobene Bedeutung zu, die Plastik ist vielmehr das dominierende Element, da sie das Gesicht des Dargestellten vollständig verbirgt. Sabartès und die Maske, die er vor sein Gesicht hält, werden erst auf den zweiten Blick wahrgenommen. Picassos Sekretär und enger Vertrauter wird sitzend in Aufsicht wiedergegeben, so dass man davon ausgehen kann, dass Lee Miller für diese Aufnahme nicht ihre 6 x 6 cm Rolleiflex verwendete, sondern mit einer 35 mm Spiegelreflexkamera (Zeiss Contact oder Honeywell Pentax) fotografierte258.

Wenn ein Künstler mit Kunstwerken porträtiert wird, so kann dieses Werk – neben seiner Physiognomie – einen wichtigen Hinweis auf seine Identität liefern. Dies ist aber in der Fotografie von Pablo Picasso mit Maske nicht der Fall: das Kunstwerk weist zwar auf einen generellen künstlerischen Kontext, der einen Rückschluss auf ein berufliches oder privates Interesse der Protagonisten erlaubt, hin. Gleichzeitig macht es aber eine Identifizierung der Dargestellten anhand ihrer Gesichtszüge unmöglich, da es – wie vom Künstler intendiert? –

255 Auf einer Ablage vor einem großen Wandspiegel findet sich so ein kleinformatiges Landschaftsgemälde, das aufgrund der Aufnahmedistanz nicht bestimmt werden konnte und wohl Picassos Sammlung von Werken anderer Künstler zuzuordnen sein wird, in Gesellschaft von Hüten, die Picasso zur Verkleidung dienten. Auf dem Boden sind weitere Gegenstände, die nicht näher differenziert werden können, dargestellt. Auf der linken Seite der Fotografie sind auf einem Gestell viele, zum Teil gerollte Blätter zu sehen, bei denen es sich um Werke Picassos handeln könnte. 256 Vgl. beispielsweise Duncan 1981, Vorsatz a) und S. 5, 30, 38, 80, 136. 257 David Douglas Duncan, Picasso und Jacqueline, Stuttgart 1988, S. 106. 258 Vgl. Kap. 4.1.1.2, 4.1.1.9. 64 als Maske verwendet wird.259 In einigen Fällen schuf Picasso auch Masken aus Papier, mit deren Hilfe er sich in die merkwürdigsten Wesen verwandelte.260

Eine Identifizierung des Künstlers wird auch dadurch erschwert, dass nicht nur eine, sondern zwei maskierte Personen zu sehen sind. So können in der Fotografie Lee Millers allein die hierarchisierte Struktur der Zweiergruppe und die Kleidung der Porträtierten zur Identifizierung des Urhebers der dargestellten Werke beitragen – und diese Faktoren sind widersprüchlich. So posiert Picasso, der im Zentrum des Interesses steht, in einer sehr lässigen Kleidung und trägt ein kariertes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine helle Hose. Sabartès hingegen, dem eine untergeordnete Stellung zukommt, präsentiert sich in einem weißen Hemd mit sorgfältig gebundener Krawatte und einer gepflegten Strickjacke. Die Kleidung von Picassos Sekretär und Vertrautem entspricht eher so dem repräsentativen Habit, das Künstler normalerweise wählten, um auf ihren Erfolg und ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu verweisen.

Picassos Spaß an Inszenierungen und seine Freude an bizarren Maskierungen spricht aus vielen Fotografien, die ihn mit Hüten, falschen Bärten und in Kostümen zeigen.261 Roland Penrose berichtet, dass Picasso „zeitlebens [...] von den Wandlungen der Persönlichkeit, wie sie Masken und Verkleidungen bewirken können, [fasziniert war]. Dem Versuch, uns außerhalb der Grenzen unseres Selbst zu stellen und eine neue Rolle anzunehmen, kommt eine seltsame Bedeutung zu: Ein Wechsel im Kostüm suggeriert einen Wechsel der Identität [...] In seinem Atelier hält er immer noch eine große Vielfalt von Masken, Hüten und Verkleidungen bereit, deren er sich mit Vergnügen bedient, manchmal um die Stimmung herabzusetzen, welche die Ankunft bewundernder Besucher verursacht. Die Taktik hat unfehlbar Erfolg. Picasso der Clown steht da, wo vor einer Minute noch Picasso der große Künstler stand.“262 Picassos Besucher und Freunde wussten von seiner Leidenschaft und so ergänzten ihre Geschenke oftmals seine Sammlung von Verkleidungen.

Picasso verwendete in den Jahren, in denen er von Miller, Quinn und Duncan fotografiert wurde, auf seine alltägliche Kleidung nicht die gleiche Sorgfalt wie auf seine Maskeraden. Der Kleidungsstil Picassos wechselte in den langen Jahren seiner künstlerischen Laufbahn häufig.263 Einen Höhepunkt an Eleganz stellten die Jahre seiner Ehe mit der russischen

259 Zum Thema Masken vgl. allgemein: Entlarvt! Von Masken und Maskeraden, Ausst. Kat., Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Museum beim Markt für angewandte Kunst bis 1900, 18.12.2004– 28.3.2005. 260 Duncan 1981, S. 82. Mit einem eigenen Werk verdeckt der Künstler in einer Aufnahme von Edward Quinn seinen Körper auf fast ganzer Länge (Quinn 1987b, Abb. S. 21). 261 Als Beispiele können die folgenden Fotografien angeführt werden: Penrose, 1981b, Abb. 201, 256, 271. Duncan 1981, S. 70, 78, 94, 113, 120, 127. Jacques Prévert, Portraits de Picasso, photographies de André Villers, (Paris 1981), o. Pag. Quinn, 1977 Abb. 121–125. 262 Roland Penrose, Einleitung zu: Edward Quinn, Picasso: Werke und Tage, Zürich 1965, S. 12–13. 263 So berichtet Lael Wertenbaker, dass Picassos Vater über das Aussehen seines Sohnes enttäuscht war, als er ihn in Barcelona während Picassos erstem Besuch nach seiner Übersiedlung nach Paris um 1900 wiedersah. Picassos Äußeres wird als bohemienhaft und exzentrisch, seine Haare als lang und zottelig beschrieben (Lael Wertenbaker, Picasso und seine Zeit, [Amsterdam] 1972, S. 31). (ff) 65

Ballerina Olga Koklowa, durch die er engen Kontakt zum Ballet Russe kam, dar. Eine Verbindung, die, so Penrose, ihm den Weg in die Kreise der ‚großen Gesellschaft’ ebnete und somit den Lebensstil Picassos um 1918 nachhaltig veränderte, wovon nicht zuletzt zeitgenössische Porträts zeugen, die den Künstler in sehr eleganter Kleidung zeigen.264 Eine Kleidung, die in engem Zusammenhang zu seinem damaligen Selbstverständnis als Künstler steht und als ein äußeres Zeichen für seine Anerkennung und den damit verbundenen finanziellen Erfolg angesehen werden kann.265

Dass Picasso sich von dieser Art der künstlerischen Selbstdarstellung befreite, davon zeugt nicht nur der erste Eindruck, den Dora Maar bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Picasso Ende 1935 gewann266, die von seinem „abgetragenen alten Anzug mit ausgebeulten Taschen, ausgeleierten Hosen und eigentümlicher Weste“ berichtet, sondern auch die Aufnahmen, die André Villers während der Dreharbeiten des Films von Georges Clouzot Le Mystère Picasso im Jahre 1955 machte. Picasso stellte sich den Kameras des Filmteams und des Fotografen völlig unprätentiös in kurzen, ausgebeulten Shorts und einem Trägerhemd oder mit nacktem Oberkörper.267 Auch in einer Aufnahme von David Douglas Duncan um 1957 präsentiert sich Picasso selbstbewusst und voller Stolz in einer weißen, gerippten Unterhose und mit Badelatschen an den Füßen.268 Picasso scheute sich auch nicht, Besucher nur mit Unterwäsche und Kniestrümpfen bekleidet zu empfangen, wie ein anderes Foto von Duncan zeigt.269 Einen Hinweis auf das Desinteresse des Künstlers an seiner Kleidung liefert auch Madame Lacourière, in deren Pariser Druckerei Picasso 1948 die Radierungen zu Gòngora – Vingt Poèmes270 schuf. Als der Künstler während der Arbeiten zu den Gedichten des spanischen Dichters Luis de Gòngora y Argote bemerkt habe, dass seine abgewetzten Hosen nicht mehr „stadtfein“ waren, habe er sich mit seinem Sohn auf eine Einkaufstour begeben, von der er zur Verwunderung Lacourières mit Blue Jeans zurückkehrte.271

David Douglas Duncan berichtet, dass der in Frankreich im Exil lebende Picasso, der aufgrund der politischen Verhältnisse nicht in sein Heimatland Spanien zurückkehren konnte,

Picassos sich ständig wandelnde äußere Erscheinung dokumentieren die Fotografien in: Warncke 1995, S. 683–724. 264 Penrose 1961, S. 213–214, S. 252. Vgl. die Abbildungen in: Penrose 1981a, S. 47, Abb. 102 und 104, S. 54, Abb.128, S. 55, Abb. 129 und 131, S. 57, Abb. 140, S. 58, Abb. 142 und 143. 265 Warncke 1995, S. 693ff. Penrose 1981a, S. 50. Wertenbaker 1972, S. 79. 266 Zitiert nach: Mary Ann Caws, Dora Maar, Die Künstlerin an Picasso Seite, Berlin 2000, S. 54. 267 Abb. in: Quinn 1987b, Abb. S. 22–23, 25. Auch während der Arbeit an der Chapelle de la Paix ließ sich Picasso von Quinn in Shorts und mit nacktem Oberkörper fotografieren (Quinn 1987b, Abb. S. 97–103). 268 Duncan 1981, S. 121. 269 Duncan 1988, S. 112–113. 270 Georges Bloch, Pablo Picasso, Catalogue de l’œuvre gravé et lithographié 1904–1967, Bern 1968, S. 307, Nr. 48: „Gongora – Vingt Poèmes, Paris, Les Grands Peintres Modernes et le Livre, 1948. Les 275 exemplaires comportent quarante et une eaux-fortes“, Abbildungen No. 476–516. 271 Lothar-Günther Buchheim, Picasso: Eine Bildbiographie, Berlin [u. a.] 1958, S. 107–108. 66 bei seinen Besuchen in Arles anlässlich des von ihm leidenschaftlich geliebten Stierkampfes von seiner oft exzentrischen Kleidung Abstand nahm und einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Seidenkrawatte trug, die an ihm „wie eine gute Tarnung“ wirkten. „Seine konservative Kleidung diente jedoch nicht dazu, sein Inkognito zu wahren, sondern sie war die Geste der Achtung vor Mensch und Tier in der Arena“, fährt Duncan fort.272 Als eine sehr elegant gekleidete Person zeigen auch die Fotografien von Lucien Clergue den Künstler während einer Ausstellung seiner um die Jahrhundertwende in Barcelona entstandenen Zeichnungen und Aquarelle, die er 1957 zum erstenmal nach mehr als 30 Jahren im Musée Réattu in Arles wiedersah.273

4.1.1.9 Pablo Picasso mit einer Porträtfotografie (Cannes, 1956)

Zu der Porträtserie, die Lee Miller während ihres Besuches bei Picasso in Cannes 1956 geschaffen hat, zählt auch eine Aufnahme274, die den Künstler erneut mit ‚verdeckter’ Physiognomie zeigt. Doch handelt es sich in diesem Fall nicht um eines seiner Werke, mit dem Picasso sein Gesicht fast vollständig verdeckt, sondern um eine Porträtfotografie, die in einem vergrößerten Maßstab seine Augen und einen Teil seiner Nase wiedergibt. Während die Maske mit ihrer runden, der natürlichen Gesichtsform ähnlichen Ausarbeitung eher an einen Kopf erinnert, zieht das querrechteckige Format des Fotos, das Picassos Kopf an der linken und rechten Seite überragt, aber eine Verfremdung des Gesichts nach sich. Diese wird dadurch gesteigert, dass Lee Miller nicht Picasso selbst, sondern vielmehr sein Spiegelbild fotografierte. Der Künstler hatte sich vor dem Spiegel, der für sein Porträt mit der Keramikmaske275 als Kulisse diente, frontal aufgestellt, so als wolle er sich mit seinen fotografisch reproduzierten Augen selbst betrachten, was wegen des Papierabzugs vor seinem Gesicht eigentlich unmöglich ist. Da in der Fotografie aber keine Realitätsdifferenz fühlbar ist, wird der Blick Picassos durch das Foto nicht ‚versperrt’, sondern intensiviert: das fotografische Auge entspricht so dem wirklichen Auge des Künstlers.

Lee Miller fotografierte dabei auch ihr eigenes Spiegelbild. Sie ist an Picassos rechter Seite zu sehen und hält ihre Kamera, bei der es sich um die 35 mm Spiegelreflexkamera Honeywell Pentax oder Zeiss Contact handelt, schussbereit vor ihr Gesicht. Da sie nicht an dem ‚realen’ Picasso interessiert war, sondern vielmehr an dessen Abbild, konzentriert sie sich allein auf den Spiegel und scheint dort etwas zu fokussieren, was außerhalb des für den Betrachter sichtbaren Bereichs liegt.276 Bei dem Spiegel handelt es sich um das einzige unmittelbar aufgenommene Objekt: während die Spiegelfläche aufgrund der Reflexionen der

272 Duncan 1981, S. 142, Bildlegende zu S. 56 unten. 273 Lucien Clergue, Picasso, mon ami, o. O. [1993], S. 46–47. 274 Neuer Schwarzweißabzug, LMA, Inv. Nr. P 0730. 275 Vgl. Kap. 4.1.1.8. 276 Vgl. auch eine Aufnahme von André Villiers. Villiers fotografierte Pablo Picasso in Verkleidung vor einem Spiegel und schuf so nicht nur ein Porträt des Künstlers, sondern auch ein Selbstporträt (Abb. in: Prévert [1981], o. Pag.). 67 anderen Personen und Gegenstände277 im Raum nicht sofort als solche zu erkennen ist, bildet der verzierte Rahmen den oberen Abschluss von Millers Fotografie. Dieser Rahmen und der parallel dazu verlaufende Schliff des Spiegels liefern einen Hinweis auf die Aufnahmesituation und machen so die Vielfalt der Wahrnehmungsebenen deutlich.278

Obwohl es sich bei der Fotografie in der Fotografie nicht um ein Werk Picassos handelt, unterstützt diese die Identifizierung des Porträtierten: Picasso maskiert sich mit einer Aufnahme, die eines seiner hervorstechendsten physiognomischen Merkmale noch in vergrößertem Maßstab zur Geltung bringt und so in den absoluten Mittelpunkt stellt: seine Augen. Für den Fotografen Alexander Liberman besaßen die Augen Picassos eine besondere Faszination: „Die dunklen runden Augen sind so stark, daß man in seinem Gesicht nichts anderes sieht als diese beiden schwarzen, durchbohrenden Punkte, die einen festhalten und hypnotisieren.“279

Den Augen eines Künstlers kommt – neben seinen Händen – eine entscheidende Bedeutung bei der Entstehung eines Kunstwerks zu: durch das, was er sieht, kann er Inspirationen für seine Arbeit gewinnen und diese Ideen schließlich mit seinen Händen verwirklichen.280 Obwohl Picasso in Millers Aufnahme bis zum Oberschenkel zu sehen ist und zudem in einen weiten Bildraum eingebunden ist, sieht man vor allem seine Augen: Picasso ist ‚ganz Auge’. Auf diese Weise wird, neben der speziellen Inszenierung der Fotografie, auf die besondere schöpferische Rolle Picassos verwiesen. Dies geschieht in zwei ebenfalls 1956

277 Links von Picasso, im rechten Drittel der Aufnahme, sind im Hintergrund des Spiegelbildes eine Frau und ein Mann, die die beiden Protagonisten im ‚Vordergrund‘ aufmerksam beobachten, vor einer Fensterfront dargestellt. Zwischen diesen Parteien ‚spiegelt‘ sich der rückwärtige Teil der Lehne des Rohrsessels, in dem Jaime Sabartès mit der Maske aus Keramik an der Seite Picassos fotografiert wurde und in dem er sich auch zum Zeitpunkt dieser Aufnahme noch befunden haben könnte, wieder. Diese Elemente sind aber für die zentrale Darstellung als bedeutungslos anzusehen. 278 Auch David Douglas Duncan fotografierte das Spiegelbild Pablo Picassos: in dieser Fotografie (Duncan 1981, S. 82) wird der Künstler mit einer von ihm geschaffenen Papiermaske gezeigt, die sein Gesicht vollständig verdeckt. Es scheint, als habe sich Duncan während der Aufnahme in der für einen Fotografen ‚typischen Position‘ vor Picasso befunden. Erst die Bildlegende, in der Duncan die Situation zur Zeit der Aufnahme beschreibt (Duncan 1981, S. 144), gibt Hinweise auf den Aufnahmekontext: „Der Spiegel im Atelier war Picasso gelegentlich eine große Hilfe, denn er war manchmal sein eigenes Modell. Eines Spätnachmittages, als ich die unordentliche Ansammlung von Hüten photographierte, die auf einem Stuhl in der Ecke aufgehäuft lagen, erschien im Dämmerlicht im Spiegel eine düstere Gestalt – und ich hatte mich in diesem Raum allein geglaubt. Die Augen des maskierten Mannes, der nun direkt hinter mir stand, waren ernst, ich war mir nicht einmal sicher, ob er mich überhaupt sah.“ Dieser Kontext ist durch den gewählten Ausschnitt, der den Fotografen und den Rahmen des Spiegels nicht einbezieht, nicht mehr nachvollziehbar. Die vielschichtigen Realitätsebenen werden durch die Vergrößerung eines Ausschnitts auf ein Minimum reduziert. 279 Liberman 1961, S. 31. 280 Sabine Flach, Das Auge: Motiv und Selbstthematisierung des Sehens in der Kunst der Moderne, in: Claudia Benthien und Christoph Wulf (Hrsg.), Körperteile: Eine kulturelle Anatomie, Hamburg 2001, S. 49–65. Burkhard Oelmann, Auslösen/Abtrennen: Fotografierende und fotografierte Hände, in: Benthien 2001, S. 461–483. Babette Krimmel, Die Künstlerhand, in: la mano: Die Hand in der Skulptur des 20. Jahrhunderts, Heilbronn 1999 (= Heilbronner Museumskatalog ; Nr. 48), S. 121-131. 68 aufgenommenen Porträts von Jean Dubuffet und Georges Limbour durch die Konzentration auf die Hände der Porträtierten.281

Die Augen Picassos mit ihrem intensiven Blick wurden von vielen Fotografen als bildwürdig angesehen und zum zentralen Motiv ihrer Aufnahmen. Eine der bekanntesten Fotografien stammt von Irving Penn und wurde 1957 in Picassos Villa La Californie in einer nur zehnminütigen Fotositzung aufgenommen. Das Porträt wurde von L. Fritz Gruber zu seinem „Jahrhundertphoto, [...] das in einer clownhaften Verkleidung doch alles Typische der spanischen Weltfigur enthüllt“, erklärt.282 Robert Doisneau porträtierte Pablo Picasso 1952 in seinem Atelier in Vallauris. In der Aufnahme wird der Kopf Picassos vom unteren Bildrand angeschnitten, so dass von seinem Gesicht nur noch die Augen zu sehen sind, die durch ihren eindringlichen Blick die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen.283 Auch David Douglas Duncan fotografierte 1957 die Augen Picassos. Diese Fotografie inspirierte den Künstler zu einem Werk, dessen Entstehung der Fotograf mit seiner Kamera festhielt. Als Basis für seine Arbeit dienten Picasso zwei vergrößerte Nahaufnahmen seiner Augen, die Duncan in der Hoffnung, Picasso würde die Fotos signieren, auf Leinwand montiert hatte. Zwei Bogen Papier verdeckten die Fotografien größtenteils, nur für die Augen hatte Picasso Öffnungen in das Papier geschnitten. Mit Kohle zeichnete der Künstler nun mit wenigen Linien um diese Augenpartie den Kopf eines Vogels und schuf so „in nur wenigen Minuten zwei Selbstporträts von Pablo Picasso als Eule.“284

Picasso fotografierte bereits seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts selbst und setzte die Fotografie in unterschiedlicher Weise im Werkprozess ein: er dokumentierte so die Stadien seiner Gemälde im Malprozess oder reproduzierte die vollendeten Gemälde, auch bediente er sich fotografischer Vorlagen bei der Herstellung seiner Werke. Die Fotografie wurde von ihm aber nicht als ein eigenes künstlerisches Ausdrucksmittel angesehen, so dass fotografische Bilder, anders als Gemälde, Skulpturen, Graphiken und Keramiken, nicht zu seinem Œuvre zu zählen sind.285 Als Urheberin der Fotografie in der Fotografie könnte so natürlich Lee Miller angesehen werden, die über die Kamera als Fotografin angesprochen wird. Ob es sich um eine Aufnahme Millers handelt, konnte nicht festgestellt werden, das

281 Vgl. Kap. 4.3.9 282 Gruber bemerkt, dass der Betrachter im Originalabzug den Fotografen und ein Fenster in der Pupille Picassos sehe (L. Fritz Gruber, Das Auge des Jahrhunderts, in: ZEITmagazin, Nr. 23 vom 28. Mai 1998, S. 10). Siehe auch die Abb. in: Irving Penn: eine Retrospektive, hrsg. von Colin Westerbeck, München [u. a.] 1997, S. 114, Tafel 64, Kat. Nr. 87. Auch Brassaï berichtet von dem intensiven Blick Picassos (Picasso vu par Brassaï, Ausst. Kat., Musée Picasso, Paris, 17.6.– 28.9.1987, S. 11), von dem auch die Fotografien Edward Quinns zeugen (Picasso, in Zusammenarbeit mit Edward Quinn. Texte von Francis Ponge und Pierre Descargues, Frankfurt am Main [u. a.] 1975, Abbildungen und Text bis Seite 17). 283 Abb. in: William Rubin (Hrsg.), Pablo Picasso: Retrospektive im Museum of Modern Art, New York, München 1980, S. 384, Abb. 748. 284 Abb. in: Duncan 1981, S. 84–87, Bildtext S. 145. Vgl. auch: Quinn 1975, Einleitung [S. 12–14]. 285 Le miroir noir: Picasso, sources photographiques 1900–1928, Ausst. Kat., Musée Picasso, Paris, 12.3.–9.6.1997. Anne Baldassari, Picasso und die Photographie: der schwarze Spiegel, München [u. a.], 1997. 69

Bildmotiv findet sich aber bei David Douglas Duncan, der Picassos Augen 1957 fotografierte. Diese Aufnahme weist viele Analogien zu der Fotografie auf, mit der sich Picasso in Millers Porträt maskiert, so dass Duncan vielleicht schon zu einem früheren Zeitpunkt (vor 1956) ein Foto von Picassos Augenpartie aufgenommen hat.

4.1.1.10 Pablo Picasso mit dem Porträtkopf Jacqueline (Mougins, ca. 1963)

Eine ähnlich enge Beziehung zwischen Künstler und Werk wie in der Darstellung von Pablo Picasso mit seiner Baby-Skulptur286 wird von Lee Miller auch in zwei Fotografien visualisiert, die den Künstler mit einer sogenannten Klappskulptur zeigen (Fotografien 20 und 21)287. Bei dieser Skulptur handelt es sich um einen aus dünnem Blech ausgeschnittenen, gebogenen und farbig bemalten Frauenkopf288 – ein Porträt von Jacqueline Picasso – aus dem Jahr 1962. Fast schon hat es den Anschein, als habe Miller den Künstler und sein Werk bei einem vertrauten ‚Gespräch’ beobachtet.

Dieses ‚Gespräch’ findet vor einem großen, geöffneten Fenster statt, in dem die Plastik vor einer Naturkulisse zu sehen ist (Fotografie 21). ‚Jacqueline’ ist mit dem ‚Gesicht’ auf Picasso ausgerichtet, der sein Werk intensiv betrachtet und der – verbunden mit einer lebhaften Geste seines rechten, erhobenen Arms – in der Inszenierung einen Dialog mit dem Porträtkopf alias Jaqueline zu führen scheint. Auf diese Weise wird die Skulptur, die als ein Zeichen für Jaqueline Picasso steht, in der Art einer real existierenden Person angesprochen.

Durch ihre Größe und ihre erhöhte Position wird die Porträtskulptur zum dominierenden Element in der Aufnahme und zieht die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich. Erst wenn man dem ‚Blick’ der Figur folgt, nimmt man Picasso wahr, der im Verhältnis zum überdimensional gearbeiteten Kopf in der Komposition nicht nur größenmäßig, sondern auch aufgrund seiner Sitzhaltung eine untergeordnete Rolle spielt. Der Künstler befindet sich aber an der Schnittstelle der senkrecht und diagonal verlaufenden Linien des Fensters, wodurch er betont und das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Künstler ausgeglichen wird. Durch die diagonale Linienführung wird zudem im Bild eine gewisse Dynamik erzeugt, die auf das Geschehen, das erzählerische Moment der gezeigten Situation bezogen werden kann und dieses unterstützt. Für die zweite Aufnahme wurde der Porträtkopf gedreht: fast scheint es, als wende sich ‚Jacqueline’ von Picasso ab und sei nicht länger an einem ‚Gespräch’ mit ihm interessiert (Fotografie 22). Stattdessen ‚blickt’ die Skulptur – wie ihr Schöpfer – in die Landschaft, wodurch der Blick Picassos sozusagen verdoppelt wird.

Obwohl die Fotografien in einem Atelier oder einem zum Atelierkomplex zählenden Lagerraum in Picasso Villa Notre Dame de Vie in Mougins entstanden sind, wird dieses

286 Vgl. Kap. 4.1.1.7. 287 Fotografie 22 = Abb. von SWN LMA, Inv. Nr. P 0872 in: Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 106 (falsche Bildunterschrift!). Fotografie 21 = Abb. von LMA, Inv. Nr. P 0873 in: Penrose 1981a, S. 102, Abb. 275. Es handelt sich um Schwarzweißnegative im Format von 6 x 6 cm. 288 Ausst. Kat. Paris 1983/84, S. 291, Kat. Nr. 633. 70

Umfeld von Miller weitgehend ausgeblendet. Nur der Künstler und ein ausgewähltes Werk, das einen generellen Hinweis auf eine besondere Beziehung des Porträtierten zur Kunst liefert, werden zum Gegenstand der Darstellung. Dass die Situation in diesem Raum durchaus eine andere Möglichkeit geboten hätte, zeigt eine Fotografie von Edward Quinn. Quinn fotografierte Picasso und einen weiteren Porträtkopf Jacquelines am Fenster seines Ateliers bzw. seines Präsentations- und Lagerraums in Notre Dame de Vie in Mougins (Fotografie 23)289. Das in dieser Fotografie gezeigte Fenster mit dem darunter verlaufenden Heizkörper ist auch in Millers Fotografien zu sehen, so dass dieser Raum auch für ihre Porträts von Picasso als Kulisse diente.

Quinn zeigt den Künstler inmitten seiner Werke, die an den Wänden des Raumes lehnen oder auch mitten im Raum am Boden Aufstellung gefunden haben. Einem Werk widmet sich Picasso in der Darstellung besonders: einem Porträtkopf Jacquelines von 1962, bei dem es sich allerdings nicht um den in den in den Fotografien Lee Millers präsentierten Kopf handelt.290 Die Skulptur ist auf einem hohen, schmalem Modelliertisch aus Bronze aufgestellt worden. Picasso berührt die Plastik mit seiner Hand und zeichnet sie so zusätzlich vor allen anderen Werken aus. Die Aufnahme beinhaltet aber – anders als Millers Porträt – keine narrative Komponente: der prüfende Blick Picassos wirkt eher kritisch-distanziert und die Brille in seiner Hand könnte er kurz zuvor zu einer genauen Überprüfung seines Werks benötigt haben.

Nur selten finden sich in den Bildbänden von Edward Quinn oder auch David Douglas Duncan, die Picassos Leben und Werk wie kaum ein anderer Fotograf mit ihrer Kamera konstant über einen langen Zeitraum begleiteten und dokumentierten, genaue Datierungen oder auch nur Hinweise auf den Entstehungszeitpunkt der Fotografien. So kann zwar über das Motiv manchmal eine enge Verbindung zwischen den Aufnahmen von Miller, Duncan und Quinn hergestellt werden291, eine chronologische Einordnung von Millers Künstlerporträts mit Hilfe der Aufnahmen der beiden Fotografen ist aber nicht möglich. Auf den Arbeitsabzügen oder Kontaktabzügen der Negative im Lee Miller Archiv finden sich oft unterschiedlichen Datierungen, obwohl die Aufnahmen zu einer Serie gehören und zur selben Zeit entstanden sind. Auch stehen diese Zeitangaben in einigen Fällen in Widerspruch zu Roland Penroses Erinnerungen, die er als Zeitzeuge in seinem Scrapbook292 veröffentlichte, so dass eine Einordnung in einen genaueren zeitlichen Rahmen mit Schwierigkeiten verbunden ist.

289 Picasso Live, Fotografien von Edward Quinn, Karlsruhe 1994, Abb. S. 123 (= Fotografie 23). Eine Totale dieses Raums, in dem Picasso seine in Arbeit befindenden Werke lagerte, zeigt Quinn in der Abb. S. 125. 290 Abb. in: Ausst. Kat. Paris 1983/84, S. 390, Kat. Nr. 636. 291 Vgl. Kap. 4.1.4.2.6. 292 Penrose 1981b. 71

Die von Edward Quinn in seiner Fotografie gezeigten Plastiken293 sind ausnahmslos im Jahr 1962 entstanden, das vor Picasso aufgebaute Gemälde gehört zur Serie Maler und Modell, die der Künstler verstärkt ab 1963294 schuf. Dies könnte für eine Datierung der Aufnahme in diesen Zeitraum sprechen, zumal es sich bei den von Quinn fotografierten Arbeiten um in Arbeit befindende Werke gehandelt haben soll.295 Quinn könnte Picasso also inmitten seiner neuesten Werke porträtiert haben. Auch die Aufnahme Lee Millers könnte über das dargestellte Kunstwerk und das Umfeld in einen ähnlichen Zeitraum (ab 1963 bis spätestens Mitte der 1960er Jahre) datiert werden.

4.1.2 Künstler präsentieren Kunst: der Künstler posiert mit Kunstwerk(en)

Bei der Darstellung von Malern, Bildhauern und Objektkünstlern, die mit ausgewählten, meist eigenen Werken posieren, handelt es sich um ein gebräuchliches Bildmotiv296, das von den Fotografen schon frühzeitig aus der Porträtmalerei in die Porträtfotografie übernommen wurde297 und das sich nicht nur im Werk von Lee Miller, sondern auch von Fotografen wie Wilhelm Maywald298, Arnold Newman299, Michel Sima300 und vielen anderen findet.

Die Pose der porträtierten Künstler macht deutlich, dass sie sich der Anwesenheit des Fotografen bewusst waren und sich für die Aufnahme entsprechend in Szene gesetzt haben. Auf diese Weise vermittelt der Porträtierte dem Betrachter der Fotografie ein bestimmtes Bild, das er sich bereits im Voraus von seiner Person gemacht hat. Diese Form der Selbstwahrnehmung gibt dem Protagonisten eine gewisse Sicherheit vor der Kamera und hilft ihm, eventuelle Unsicherheiten und Ängste zu kontrollieren und zu verbergen.

4.1.2.1 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) vor neutralem Hintergrund

Die porträtierten Künstler sind in den folgenden Fotografien vor einem neutralen Hintergrund oder in einem (weitgehend) neutralen Bildraum zu sehen. In diesen Fotografien erlaubt das Kunstwerk als einziger bildimmanenter Faktor einen Rückschluss auf das besondere

293 Abbildungen in: Ausst. Kat. Paris 1983/84, S. 390, Kat. Nr. 630, 631, 634, 635, 636, 637. 294 Vgl. Zervos XXIII, 154 bis 170, 193 bis 212. 295 Quinn 1994, S. 124. 296 Vgl. zum Beispiel die Abbildung in: Kunst + Architektur in der Schweiz (2002), Nr. 2, S. 60 unten. 297 Vgl. Kap. 3. 298 Wilhelm Maywald, Portrait + Atelier, Zürich 1958, o. Pag., vgl. jeweils das erste Porträt in den Kapiteln zu Fernand Léger, Henri Laurens, das zweite und dritte Porträt von Pablo Picasso, vier Porträts von Le Corbusier, drei von Jean Arp, drei von Georges Braque. 299 Arnold Newman, Artists: Portraits from four decades, London 1980, vgl. zum Beispiel Abb. S. 7, 8 unten, Taf. 1, 2, 11, 13, 21, 23, 24, 31, 32, 46, 55, 56, 57, 59, 61, 68, 69, 80, 81, 87. 300 Vgl. die Fotoporträts in: Michel Sima, 21 Pariser Künstler, Berlin [1959], Abb. S. 3–6, 9–16, 20–23, Farbtafel III, S. 28, 31, 32. 72

Ambiente, das die porträtierte Person umgab und liefert so einen Hinweis auf ein künstlerisches Interesse des Dargestellten, ohne ihn aber konkret als Künstler auszuweisen.

In der Regel werden in diesen Fotografien ein bis zwei Kunstwerke an zentraler Stelle in ‚optimaler’ Anordnung präsentiert, seltener findet sich die Darstellung von weiteren Werken, die in diesem Fall nur eine untergeordnete Rolle spielen. Unter Berücksichtigung der speziellen Aspekte der jeweiligen Gattungen handelt es sich um typische Präsentationsformen: die Gemälde werden so zumeist an oder vor einer Wand gezeigt, während die Skulpturen auf Sockeln im Raum aufgestellt worden sind.

4.1.2.1.1 E.L.T. Mesens mit der Fotografie einer Collage (London, 1944)

Der vielseitig interessierte Künstler, Galerist, Kunsthändler, Komponist und Dichter Édouard-Léon-Théodore Mesens (Brüssel, 27.11.1903 – Brüssel, 13.5.1971)301 war ein aktiver Vertreter des Surrealismus, für den er sich Zeit seines Lebens engagierte. Er unterhielt enge Kontakte zu den französischen surrealistischen Kreisen, denen zum Beispiel Francis Picabia (1879 – 1953), Man Ray, Paul Éluard, Louis Aragon (1897 – 1982) und nicht zuletzt André Breton (1896 – 1966) angehörten. Auch Lee Miller und Roland Penrose waren ein Teil des Freundeskreises um Mesens, der zur Gruppe der Künstler gehörte, die sich 1937 in Cornwall traf.

1937 verließ Mesens Belgien, wo er bereits in verschiedenen Galerien als Assistent und Direktor gearbeitet hatte, und übernahm 1938 den Posten des Direktors der London Gallery, die Roland Penrose und Anton Zwemmer als sein Associé im gleichen Jahr erworben hatten.302 Der London Gallery kam bis zu ihrer ersten Schließung im Jahr 1940 eine große Bedeutung auf dem auf nur fünf Galerien begrenzten Markt für moderne Kunst in London zu. Neue Impulse im Bereich der modernen Kunst lieferte auch die Zeitschrift London Bulletin, die von Mesens und Penrose 1938 ins Leben gerufen wurde und 1940 aus finanzieller Not eingestellt werden musste.

Aus verschiedenen Gründen verschlechterte sich das Verhältnis von Roland Penrose und Lee Miller zu E.L.T. Mesens in den Jahren des Krieges, so dass ab 1945 bis 1950 ein „offener Krieg“ zwischen den ehemaligen Freunden tobte, der dann zum endgültigen Bruch geführt haben soll.303 Die Fotografien304 Lee Millers können aus diesem Grund in die Jahre von 1939 (Millers Übersiedlung von Ägypten nach Großbritannien) bis 1944 (Millers ‚Eintritt’

301 Zur Biografie E.L.T. Mesens: Le dictionnaire des peintres belges, Brüssel 1995, S. 736. Christiane Geurts-Krauss, E.L.T. Mesens, L’alchimiste méconnu du surréalisme, Brüssel 1998. René Magritte und der Surrealismus in Belgien, Ausstellungskatalog, Kunstverein und Kunsthaus Hamburg, 23.1.– 28.3.1982, S. 290–291. 302 Penrose 2001, S. 86f. 303 Geurts-Krauss 1998, S. 146ff. Penrose 2001, S. 92. 304 SWN LMA, Inv. Nr. A. 0795 bis A 0806 und LMA, Inv. Nr. 5670, 1–12 (in der Kartei des LMA datiert auf den 12.4.1944), Negativformat 6 x 6 cm. Abb. von LMA, Inv. Nr. A 0800 in: Calvocoressi 2002, S. 75. 73 in das kontinental-europäische Geschehen des 2. Weltkriegs) datiert werden. Im Vergleich mit den Aufnahmen von 1937305, die den Künstler in Surrealistenkreisen im Urlaub in Cornwall zeigen, wirkt Mesens in den hier vorgestellten Fotografien deutlich älter, so dass eine Datierung um 1944 wahrscheinlich erscheint, was durch die Angaben in der Kartei des Lee Miller Archive gestützt wird: als Aufnahmetag wird der 12.4.1944 angeführt.

Lee Millers Porträtserie, die aus mindestens 24 Schwarzweissaufnahmen besteht, zeigt Mesens vor unterschiedlichen Kulissen in einem Innenraum. Die Räumlichkeiten, in denen die Aufnahmen entstanden, sind mit zahlreichen Gemälden ausgestattet, die unter anderem bereits im Eingangsbereich an den Wänden präsentiert werden. Dies könnte die Vermutung nahe legen, dass E.L.T. Mesens eventuell in der London Gallery, der er als Direktor vorstand, also in den Räumen einer Kunstgalerie porträtiert wurde, wofür in den Fotografien selbst aber keine konkreten Anhaltspunkte gegeben werden. Als Aufnahmeort nennt Richard Calvocoressi das Haus von Roland Penrose im Londoner Stadtteil Downshire Hill, wo Mesens und seine Frau Sybil während des Krieges lebten und wo die exquisite Kunstsammlung des Hausherrn die Wände schmückte.306

Elf Aufnahmen der Serie (vgl. Fotografie 24)307 zeigen Mesens mit einer auf Karton aufgezogenen Fotografie einer Collage, die sehr wahrscheinlich als eines seiner Werke angesehen werden kann, da er von 1924 bis in die 1930er Jahre in dieser künstlerischen Technik arbeitete. Erst 1954 begann er – nach einer langjährigen Unterbrechung – wieder, Collagen zu schaffen.308 Eileen Agar, die Mesens seit der ersten Ausstellung surrealistischer Kunstwerke in London im Jahr 1936 kannte, charakterisiert ihn als einen begabten Collagisten, der auch wenige Gemälde geschaffen habe, man werde sich vor allem aber durch seine Verdienste um die Verbreitung des Surrealismus in Großbritannien erinnern.309

Bei dem in Millers Aufnahme (vgl. Fotografie 24) dargestellten, fotografisch reproduzierten Werk handelt es sich um einen in einem modernen Formenrepertoire ausgeführten Kopf. Der Künstler posiert in den Fotografien in verschiedenen Positionen (sitzend und stehend) und in verschiedenen Ansichten (Frontal- und Profildarstellung) neben der Fotografie der Collage, die während der Fotositzung auf einem Kaminsims vor einer neutralen Wand aufgestellt

305 SWN LMA, Inv. Nr. A 0733, A 0734, A 0737 und A 0738, vgl. Kap. 4.2, Porträts von 1929–1940. 306 Antony Penrose schreibt (Penrose 2001, S. 92) über das Verhältnis zwischen seinem Vater und E.L.T. Mesens: „Roland’s refusal to turn on Éluard signalled the flaw in his relationship with Mesens, whose dogmatic views allowed no compromise. How much this rift detracted from the effectiveness of the London Gallery can only be guessed at, but certainly, if Roland and Mesens had been able to keep in step, even greater things might have happened. It was a measure of Roland’s commitment to the higher purpose of surrealism that he continued to share his house with Mesens and wholeheartedly support him, in spite of their often acerbic differences.” 307 LMA, Inv. Nr. A 0795 bis A 0806, Abb. von LMA, Inv. Nr. A 0800 (= Fotografie 24) in: Calvocoressi 2002, S. 75. Die Aufnahme LMA, Inv. Nr. 0799 zeigt E.L.T. Mesens ohne Collage. 308 Ausst. Kat. Hamburg 1982, S. 260. 309 Agar 1988, S.127. 74 worden war. Die Inszenierung wurde – wie bei den Porträts von Joseph Cornell310 – entweder von der linken oder der rechten Seite mit einem intensiven Licht ausgeleuchtet, so dass sich in den Aufnahmen ein starker Helldunkelkontrast findet. Mesens befindet sich immer unmittelbar vor oder neben der Collage, so dass nicht nur über diese Stellung im Bild, sondern auch über einen teilweise ähnlichen ‚Zeichenvorrat’ für die Darstellung des jeweiligen ‚Gesichts’ eine Verbindung zwischen dem Porträtierten und dem Werk geschaffen wird.

Die Collage selbst konnte leider nicht genau bestimmt werden. Es exisistiert aber eine von Mesens geschaffene Rayographie (1926) mit dem Titel Masque de veuve pour la valse311, die – abgesehen von der unterschiedlichen Technik – Analogien zu der fotografierten Collage aufweist. Die Form des Kopfes, der Nase und des linken Auges sind in beiden Fällen sehr ähnlich gestaltet worden, so dass man Mesens als Urheber beider Werke ansehen könnte.

Wie Eileen Agar würdigt auch Mesens das Werk, neben dem er posiert, keines Blicks. Zudem hält er – anders als Agar, die einen engen Körperkontakt mit der dreidimensionalen Skulptur Golden Tooth312 sucht und auf diese Weise einen Hinweis auf ihre Urheberschaft an diesem Werk liefern könnte – immer einen gewissen, wenn auch geringen Abstand zur Collage ein. Die Betonung des Künstlers, der in allen Fotografien in vorderster Bildebene zu sehen ist, wird durch die ‚optimale’ Präsentation des Werks an zentraler Stelle im Bild relativiert, wozu nicht zuletzt auch das große Format der Fotografie der Collage beiträgt. Mesens wählte für seine Darstellung immer konventionelle Posen, zu denen in der Serie Millers auch der tradierte Melancholiegestus313 zählt. Auch die Haltung und die Kleidung314 des Dargestellten verfehlen ihre Wirkung nicht: über seine sehr beherrschte und aufrechte Körperhaltung, seine Mimik und seinen direkten Blick in die Kamera erweckt er den Eindruck einer selbstsicheren Persönlichkeit. Diese repräsentative, Selbstbewusstsein suggerierende Haltung lässt in Verbindung mit seiner Kleidung – E.L.T. Mesens trug während der Aufnahmen einen eleganten Nadelstreifenanzug mit Einstecktuch – Rückschlüsse auf sein Selbstverständnis zu.

So könnte sein Auftritt mit der Forderung nach gesellschaftlicher Akzeptanz in Verbindung gebracht werden, was aber gerade bei einem surrealistischen Künstler überrascht. Die äußere Erscheinung der nach dem Prinzip des Surrealismus lebenden Künstler, die Eleganz und einen verfeinerten Lebensstil zur Schau stellten und den konventionellen Anzug zu ihrer

310 Vgl. Kap. 4.1.1.1. 311 Abb. in: Ausst. Kat. Hamburg 1982, S. 125, Kat. Nr. 207. 312 Vgl. Kap. 4.1.1.2. 313 Vgl. Kap. 3. Göke 2000, S. 222–238. Mesens ist in den Aufnahmen SWN LMA, Inv. Nr. A 0795, A 0796, A 0797, A 0798 und A 0802 in dieser Haltung zu sehen. 314 In der gleichen Kleidung wie in der Porträtserie mit Collage porträtierte Lee Miller den belgischen Künstler in einer weiteren Serie von Fotografien, die bei der gleichen Gelegenheit entstanden sind und ihn in einem anderen Ambiente zeigen (SWN LMA, Inv. Nr. 5670-1 bis 5670-12, Format 6 x 6 cm). 75 alltäglichen Garderobe machten315, steht in krassem Widerspruch zur surrealistischen Ideologie, die nicht nur mit der Forderung nach freier Liebe gegen alle gesellschaftlichen Konventionen verstieß. Mit ihrer Kunst, ihren Schriften und ihren Aktionen wollten die Surrealisten die Gesellschaft provozieren, deren Normen anprangern und Werte in Frage stellen. So konnte beispielsweise eine gesellschaftliche Ehrung oder die Annahme einer Auszeichnung zum Ausschluss aus der surrealistischen Gemeinschaft führen, wie es bekanntlich bei Max Ernst geschah, als er 1954 den Großen Preis für Malerei auf der 27. Biennale von Venedig erhielt.

Auch Antony Penrose weist auf die Diskrepanz zwischen dem Denken und der Art, wie sich die Surrealisten gaben, hin: „Der belgische surrealistische Maler René Magritte kleidete sich immer untadelig in einen Geschäftsanzug, führte nach außen hin ein konventionelles Leben und malte [...] die bizarrsten und phantastischsten Szenen. So war es auch bei den Leuten, die sich in Rolands ordentlichem Vorderzimmer in 21 Downshire Hill trafen, um die surrealistische Ausstellung zu organisieren. Die Männer in Straßenanzügen und Krawatten hätten als das Organisationskomitee eines örtlichen Kricketvereins gelten können. In bester Manier des Guerillakampfs gab nichts ihre wahre Identität als Revolutionäre preis, die sich gegen die Kunstwelt verschworen hatten und die, wie man damals glaubte, deren Ende wollten.”316

Dass es sich bei E.L.T. Mesens um einen surrealistischen Künstler handelt, kann nicht über die Fotografie, die mit ihrem traditionellen Bildmuster in krassem Gegensatz zum surrealistischen Programm steht, erschlossen werden. Neben der Darstellung des Porträtierten im Melancholiegestus weist in der Fotoserie nur die fotografische Reproduktion der Collage auf dessen generelles Interesse an Kunst hin.317 Der Dargestellte könnte so – rein spekulativ – als ein Künstler gesehen werden, die sich seit Anbeginn der Fotografie meist in eleganter und konventioneller Kleidung porträtieren ließen, um so auf ihren künstlerischen und materiellen Erfolg zu verweisen. Die äußere Erscheinung des Porträtierten ließe in Verbindung mit dem dargestellten Werk aber auch eine Ansprache als Kunsthändler, Kulturpolitiker, Kunstsammler, Kunsthistoriker etc. zu. Gleiches gilt auch für Wifredo Lam, den Lee Miller 1946 in New York porträtierte.

315 Dies wird zum Beispiel durch die Porträts, die Man Ray von der surrealistischen Bewegung aufnahm, deutlich (Abbildungen in: Man Ray, Man Ray Photograph, München 1982, S. 56, Abb. 25 und 26, S. 65, Abb. 41, S. 66, Abb. 48, S. 75, Abb. 70, S. 79, Abb. 75). 316 Penrose 2001, S. 72: „The Belgian Surrealist Painter René Magritte used to dress immaculately in a buisiness suit every day, lived an outwardly conventional life and in his solid conventional style paintes the bizarre fantasies of his dream scenes. So it was with the people who attended meetings to organise the Surrealist exhibition in the orderly comfort of Roland’s front room at 21 Downshire Hill. The men in lounge suits and ties could have passed for the organising committee of the local cricket club. In the best traditions of guerilla warfare nothing betrayed their true identity as revolutionaries plotting the end of art world as it was then known.” 317 In weiteren Aufnahmen der Serie (vgl. LMA, Inv. Nr. A 0795 bis A 0798, A 0803 bis A 0806) werden zusätzlich zu dem an zentraler Stelle präsentierten Werk ein respektive zwei schemenhaft dargestellte und vom Bildrand angeschnittene, gerahmte Gemälde gezeigt. 76

4.1.2.1.2 Wifredo Lam mit dem Gemälde Le Sacré (New York, 1946)

Im Sommer 1946 wurden die ersten Linienflüge in die USA seit dem Ende des 2. Weltkriegs wieder aufgenommen, so dass sich für Lee Miller die Möglichkeit bot, in Begleitung von Roland Penrose eine Reise in die Vereinigten Staaten anzutreten, um nach fast zwölf Jahren erstmals ihre Familie wiederzusehen. Für Millers Ankunft in den USA gibt Antony Penrose verschiedene Daten (19. Mai 1946 und Juli 1946) an.318 Auf dieser Reise wurde Miller nicht nur von Vogue für ihre journalistische Leistung gefeiert, sie traf auch alte Freunde wie Man Ray und Max Ernst wieder, die während des Krieges in die USA emigriert waren319, und porträtierte diese wie Isamu Noguchi, Kay Sage, Yves Tanguy, Dorothea Tanning oder auch Wifredo Lam.320

Der kubanische Maler Wifredo Lam wurde am 8. Dezember 1902 in Saguala-Grande auf Kuba geboren und starb 1982, an seinem achtzigsten Geburtstag, während der Vorbereitungen zu einer großen Retrospektive seiner Arbeiten im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris.321 Lam, der seit 1923 in Spanien lebte, musste das Land 1937 verlassen, nachdem er im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gekämpft hatte. Als Exil wählte Lam Paris, wo er ein enger Freund Picassos wurde. Während des 2. Weltkriegs war Lam erneut zur Flucht gezwungen und emigrierte 1941/42 nach Kuba. Picasso hingegen verbrachte die Jahre des Krieges in seinem Pariser Atelier, in dem Lam bei seiner Abreise seine Werke deponiert hatte. In seiner Heimat, die während des Krieges zum Exil wurde, arbeitete Lam unter anderem an seinem Gemälde Der Dschungel, das 1943 bei seiner Präsentation in der Galerie von Pierre Matisse in New York einen Skandal hervorrief.

Lee Miller porträtierte Wifredo Lam – wie E.L.T. Mesens 1944 in London – im Juli? 1946 in New York vor wechselnden Hintergründen in einem Innenraum. Richard Calvocoressi führt als Ort der Aufnahme das Atelier des Künstlers in New York an, was aus den mindestens 20 Fotografien (vgl. Fotografie 25)322 selbst aber nicht erschlossen werden kann.323 Lam ist in Millers Porträts nicht von den typischen Gerätschaften und Utensilien eines Malers wie Staffeleien, Farbdosen oder Farbtuben, Pinseln oder Leinwänden umgeben, sondern wird lediglich mit einem Kunstwerk vor einer neutralen Wand, mit einem Kochtopf in der Hand in einer Küche oder in einem luxuriösen Wohnambiente neben einem Schachspiel gezeigt. Auch findet sich in Lams Biographie kein Hinweis darauf, dass der Künstler 1946 über einen

318 Penrose 2001, S. 134f. Penrose 1985a, S. 178. 319 Penrose 2001, S. 134f. 320 Vgl. Kap. 4.1.2.1.8, 4.1.2.2.3, 4.1.4.2.3, 4.1.4.1.5. 321 Zur Biografie von Wifredo Lam: Max-Pol Fouchet, Wifredo Lam, Barcelona 1983, S. 251–253. Wifredo Lam, Ausst. Kat., Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 2.7.–4.9.1988, Kunstverein Hamburg, 19.11.1988-8.1.1989, S. 90–99. 322 SWN LMA, Inv. Nr. A 0032 bis A 0035, A 0040 bis A 0059, Negativformat der Serie 6 x 6 cm, Abb. von SWN LMA, Inv. Nr. A 0053 (= Fotografie 25) in: Calvocoressi 2002, S. 129. Bei vier weiteren Aufnahmen (SWN LMA, Inv. Nr. A 0036 bis A 0039) handelt es sich um Darstellungen des Innenraums. 323 Calvocoressi 2002, S. 128–129. 77 längeren Zeitraum in New York lebte, vielmehr machte er dort zu dieser Zeit nur einen kurzen Zwischenstopp auf seiner Rückreise von Kuba in seine Wahlheimat Frankreich. Erst von 1947 bis 1952 lebte der Maler abwechselnd in New York, auf Kuba und in Paris. Lam verfügte so 1946 wahrscheinlich noch nicht über eigene Räumlichkeiten oder ein Atelier in New York, sondern könnte von Miller in der Wohnung eines Freundes oder Gönners (zu denen zum Beispiel Rosamond Russell324 zählte), in der er vielleicht während seines kurzen Aufenthaltes untergebracht war, oder auch in den Repräsentations- und Verkaufsräumen einer Kunstgalerie (vielleicht der Galerie Pierre Matisse?) fotografiert worden sein.

Lee Miller und Roland Penrose lebten während ihres Aufenthaltes in New York im Appartement von Julien Levy, mit dem Miller bereits seit ihrer Pariser Zeit eng befreundet war. Penrose berichtet in seinem Scrapbook von dem Eindruck, den Levys Wohnung, die auch gleichzeitig dessen Kunstgalerie beherbergte, auf ihn machte: „Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich völlig unerwartet in Räume, die mit fantastischen surrealistischen Werken überfüllt waren. Hierzu gehörten Boxen von Cornell, frühe Werke von Dalì und Gemälde von Max Ernst, Tanguy und Man Ray, die während des Krieges entstanden waren und die mir unbekannt waren, sowie Dutzende von Objekten und Gemälden von anderen Künstlern, die ich bald kennen lernen sollte.“325 Vielleicht gehörte zu diesen Werken ja auch das Gemälde Lams? Es ist also eher unwahrscheinlich, dass Miller den Künstler in einer Ateliersituation porträtierte, wozu unbekannte Fotografen 1942 und 1947 in Havanna die Gelegenheit hatten.326

Wie in der ungefähr zwei Jahre zuvor entstandenen Fotoserie des belgischen Surrealisten E.L.T. Mesens wird Wifredo Lam in mindestens zehn Aufnahmen in repräsentativer Pose und sehr eleganter Kleidung mit einem Kunstwerk gezeigt und so das in der Porträtfotografie tradierte Schema zur Darstellung arrivierter (Künstler-)Persönlichkeiten wiederholt: Lam posiert327 – wie Mesens – neben einem einzelnen ausgewählten Werk, das an seiner rechten Seite in optimaler Weise an einer neutralen, hellen Wand präsentiert wird (Fotografie 25). Während bei Mesens nur Vermutungen über seine Urheberschaft angestellt werden können,

324 Rosamond Riley (1. Ehe) = Rosamond Bernier (2. Ehe mit Georges Bernier, mit dem sie das Kunstmagazin L’Œil herausgab, vgl. Penrose 1981b, S. 224–225) = Rosamond Russell (3. Ehe mit dem Kunstkritiker der London Times). 325 Penrose 1981b, S. 140: „The door from the lift opened unexpectedly into rooms crowded with fantastic surrealist works such as Cornell boxes, early work by Dalí and wartime paintings, new to me, by Max Ernst, Tanguy, Man Ray, with dozens of objects and paintings by other artists whom I soon met.” 326 Fouchet 1983, S. 15, Abb. i, j, S. 17, Abb. e. 327 Während Lam seine Position kaum veränderte und in allen Aufnahmen in der rechten Bildhälfte dargestellt ist, variierte Miller ihren Standort mehrfach, so dass der Künstler aus unterschiedlichen Distanzen, die eine Darstellung in ganzer Figur (SWN LMA, Inv. Nr. A 0048 bis A 0051, A 0056 bis A 0057), bis in Höhe der Oberschenkel (SWN LMA, Inv. Nr. A 0053 bis A 0055) oder der Hüfte (SWN LMA, Inv. Nr. A 0052) erlauben, aufgenommen wurde. Der Bildraum wurde entsprechend der Entfernung zwischen der Fotografin und dem Porträtierten weiter gefasst und durch einen schmalen Streifen des Parkettbodens und eine helle Wandzone angedeutet oder aber auf die Darstellung der hellen Wandfläche reduziert und besitzt in allen Aufnahmen einen flächigen Charakter. 78 handelt es sich bei dem dargestellten Gemälde Le Sacré328 eindeutig um eine der jüngsten Arbeiten Lams von 1945. Wie Mesens schenkt auch Wifredo Lam seinem Werk scheinbar keine Beachtung, sondern richtet seinen Blick aus dem Bild heraus auf die Fotografin oder aber in einen Bereich, der dem Betrachter der Fotografie verborgen bleibt. Doch beschränken sich die Gemeinsamkeiten nicht auf die Posen oder die Kleidung der Porträtierten, sondern betreffen auch das Verhältnis, in dem das Kunstwerk und der Künstler in der Aufnahme stehen. Obwohl Lam in allen Fotos an hervorgehobener Stelle329 vor dem Werk posiert und dieses auch partiell verdeckt, ist die Distanz zwischen beiden nur gering, so dass die durch die Hierarchisierung der Bildebenen hervorgerufene Betonung des Künstlers eingeschränkt wird. Durch seine Größe, seine Präsentation parallel zur Bildfläche sowie seine erhöhte Anbringung wird das Gemälde neben dem Porträtierten zu einem wichtigen Element in der Darstellung.

Die Aufnahmen Lee Millers zeigen Wifredo Lam in einer Körperhaltung, die durch die raumgreifende Schrittstellung330 und die sehr gerade Haltung des stehenden Künstlers Selbstbewusstsein und Stärke suggeriert. In einer ähnlichen Pose präsentierte sich Lam auch in Fotografien331, die ihn mit seiner ersten Frau Eva im Jahr 1927 zeigen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass diese Haltung bereits seit langem zum Repertoire des Künstlers gehörte. Doch entspricht diese Pose der Persönlichkeit Lams? Lee Miller und Roland Penrose kannten Wifredo Lam eigener Aussage zufolge bereits „ein wenig“, als sie 1946 in New York zufällig auf den Künstler trafen. Penrose erinnert sich in seinem Scrapbook an die Begegnung mit Lam und seiner Gönnerin Peggy Riley (= Rosamond Riley = Rosamond Russel = Rosamond Bernier): „An dem Tag, an dem wir uns in der 57. Straße trafen, stand ihre elegante Erscheinung in seltsamen Kontrast zu ihrem schüchternen Begleiter, dem kubanischen Maler Wifredo Lam, den wir alle drei flüchtig kannten und den sie mit Mühe vor seinen eigenen, durch seine Abstammung begründeten Selbstzweifeln zu schützen versuchte.“332 Anscheinend handelte es sich bei der selbstbewussten Pose Lams also nur um eine Fassade, hinter der sich der Künstler verbarg, um von seinen Zweifeln und seiner Schüchternheit abzulenken. Seine Introvertiertheit wird schließlich auch in der Haltung seiner Arme, die er vor der Brust verschränkt hat, deutlich. Diese Haltung, in der sich er sich

328 Le Sacré [Le Rite], 1945, Öl/Lw, 91 x 96 cm, Abb. in: Lou Laurin-Lam, Wifredo Lam, Catalogue Raisonné of the Painted Work, Volume I, 1923–1960, S. 381, Abb. 45.50. 329 Lam teilt die Bildfläche ungefähr im Verhältnis des Goldenen Schnitts. 330 Nach Tikkanen erweckt das Stehen mit gespreizten Beinen den „Eindruck der Standhaftigkeit, der Unerschütterlichkeit, des Selbstvertrauens“, vgl.: J. J. Tikkanen, Die Beinstellungen in der Kunstgeschichte. Ein Beitrag zur Geschichte der künstlerischen Motive, Helsingfors 1912 (= unveränderter Abdruck aus: Acta Societatis scientarum Fennicae; 42,1), S. 3. 331 Abb. in: Fouchet 1983, S. 10, Abb. d (Ausgabe Barcelona 1986, S. 19). 332 Penrose 1981b, S. 224: „The day we met her in 57th Street the elegance of her hat and dress made an amusing contrast with her shy companion, Wifredo Lam, the Cuban painter whom we all three knew slightly and whom she was at pains to protect from his own race-conscious torments.” 79 bereits in Fotografien aus dem Jahr 1942333 präsentierte, nimmt Lam in leicht modifizierter Form in fast allen Porträts334 von Lee Miller ein.

So wird er in einer Fotografie der Serie335 zwar mit verschränkten Armen wiedergeben, doch führt er mit den Zeigefingern seiner beiden Hände einen Zeigegestus aus und weist – ohne es anzublicken – direkt auf sein Gemälde, das so hervorgehoben wird. Diese Beziehung zwischen dem Künstler und seinem Werk wird in einer weiteren Aufnahme (Fotografie 25) durch eine verringerte Distanz zwischen beiden noch intensiviert. Auf diese Weise wird eine Verbindung zwischen dem Maler und seiner ‚Schöpfung’ hergestellt, so dass Lam sich nicht länger eines Zeigegestus bedienen muss, um einen Hinweis auf seine Urheberschaft zu liefern. Wifredo Lam kann sich so der Kamera Millers in einer anderen Pose, in der er sich bereits 1945 in einem auf Kuba aufgenommenen Gruppenporträt336 mit André Breton und Pierre Mabille337 in ähnlicher Weise darstellte, präsentieren: für diese Aufnahme Lee Millers wählte er – wie auch E.L.T. Mesens338 – den tradierten Melancholiegestus, durch den er einen Hinweis auf seine Künstlerrolle liefern könnte.339

Das Gemälde Le Sacré, dessen Präsentationsform an eine Ausstellungssituation denken lassen könnte, ist neben dieser klassischen Pose das einzige Element, das in der Aufnahme einen Hinweis auf ein künstlerisches Umfeld liefert. So kann Wifredo Lam, wie auch schon Mesens340, in den Porträts zwar nicht unmittelbar als bildender Künstler angesprochen werden, seine Nähe zur und seine Vorliebe für Kunst ist aber unverkennbar. Die konventionelle Pose und konservative Erscheinung Lams, der sich wie Mesens im eleganten Anzug porträtieren ließ, sowie die traditionelle Inszenierung der Aufnahme sagen hierbei etwas über den Erfolg und die gesellschaftliche Bedeutung des Porträtierten aus. Der kubanische Maler war zwar bis 1943 nur in wenigen Ausstellungen mit seinen Werken an die Öffentlichkeit getreten, doch sagt der Ankauf des umstrittenen Gemäldes Der Dschungel durch das Museum of Modern Art in New York im Jahr 1945 etwas über die Anerkennung seines Werks aus.341

333 Fouchet 1983, S. 14, Abb. c, f, g. 334 SWN LMA, Inv. Nr. A 0048 und A 0049, A 0051 bis A 0057. 335 SWN LMA, Inv. Nr. A 0056. Lam ist in dieser Aufnahme in ganzer Figur und im Dreiviertelprofil zu sehen, so dass er sich zum einen der Fotografin und dem potentiellen Betrachter der Aufnahme zuwendet, zum anderen über seine Körperhaltung zu seinem Werk aber auch eine enge Beziehung zu seinem Werk herstellt. 336 Fouchet 1983, S. 15, Abb. h. 337 Pierre Mabille war französischer Kulturattaché in Port-au-Prince. 338 Im Fall von Mesens handelt es sich um die SWN LMA, Inv. Nr. A 0795 bis A 0797 und 0802, Lam wird in den Aufnahmen SWN LMA, Inv. Nr. A 0053 und A 0054 im Melancholiegestus gezeigt. 339 Vgl. Kap. 3. Göke 2000, S. 222–238. 340 Vgl. Kap.4.1.2.1.1. 341 Ausst. Kat. Düsseldorf 1988/89, S. 97 und S. 101. Fouchet 1983, S. 252. 80

Auch Lee Miller soll die Gelegenheit genutzt haben und das Werk Le Sacré, mit dem Lam in den Aufnahmen zu sehen ist und das 1945 in der Ausstellung Lam, Recent Paintings in der Pierre Matisse Gallery in New York präsentiert worden war, erworben haben.342 Wie Der Dschungel vereint auch Le Sacré surrealistische und kubistische Einflüsse sowie Elemente der kubanischen Kunst. Der Stil des avantgardistischen Gemäldes steht in absolutem Gegensatz zur insgesamt konventionellen Inszenierung der Fotografie und verrät dem Betrachter etwas über die moderne Gesinnung des Porträtierten und sein künstlerisches Interesse.

4.1.2.1.3 Jean Arp mit dem Holzflachrelief Wolkenpfeil (Schweiz, um 1947)

Lee Miller erhielt im Januar 1947 einen Fotoauftrag von der Redaktion der Vogue, der sie zusammen mit Lams Gönnerin, der Autorin Peggy Riley343, zu Mode- und Gesellschaftsaufnahmen in die Schweiz führte. Im Mai 1947 veröffentlichte die britische Vogue unter dem Titel There are also people in Switzerland einen Artikel, der über die Schweiz und das Leben der berühmten und weniger berühmten Einwohner dieses Landes berichtet. Den von Dennis de Rougemont verfassten Text illustrieren 14 Porträts, die Miller von prominenten, in der Schweiz lebenden Forschern, Verlegern und Künstlern aufgenommen hat. In den von ihr verfassten Bildlegenden werden die porträtierten Personen und ihre Profession näher beschrieben. 344 Als bildende Künstler werden Hans Erni und Jean Arp vorgestellt.

Hans Peter Wilhelm Arp345 (Straßburg346, Elsaß, 16.9.1886 – Basel, 7.6.1966) bevorzugte seit 1939 die französische Form seines Namens und nannte sich seit dieser Zeit Jean. Arp, der aufgrund der politischen Verhältnisse während des 2. Weltkriegs ständig zur Flucht gezwungen war, lebte seit 1945 mit seiner zweiten Frau Marguerite Hagenbach, die sein Werk sammelte, abwechselnd in Meudon (Frankreich) und Basel (Schweiz), wo „ihre mit Kunstwerken gefüllte Wohnung [...] zu seinem zweiten Wohnsitz“ wird. Vielleicht besuchte Lee Miller während ihres Aufenthaltes in der Schweiz im Januar 1947 Jean Arp in dieser Wohnung und fotografierte ihn dort mit einem seiner Werke?

342 Calvocoressi 2002, S. 128–129. 343 Alias Rosamond Riley = Rosamond Russel = Rosamond Bernier, vgl. Fußnote 3244. 344 Calvocoressi 2002, S. 126. 345 Zur Biografie von Jean Arp siehe: Biographisches Lexikon Schweizer Kunst – Dictionnaire biographique de l’art Suisse – Dizionario biografico dell’arte svizzera, hrsg. vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft, Zürich und Lausanne, 1998, Bd. 1, S. 44-46. Arp 1886–1966, Ausst. Kat., Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 13.7.1986–31.8.1986, [u. a.], S. 281–299. Hans Arp, Ausst. Kat., Kunsthalle Nürnberg, 1.12.1994-26.2.1995, S. 8f. 346 Das Elsaß stand zurzeit von Arps Geburt unter der Herrschaft des preußischen Königs und deutschen Kaisers Wilhelms I. Arp beherrschte schon als Kind drei Sprachen: Elsässisch, Französisch und Deutsch. 81

In dem Porträt (Fotografie 26)347, das Miller von Jean Arp geschaffen hat, wird das tradierte Schema wiederholt, das sich unter anderem bereits in den Aufnahmen von Lam und Mesens348 findet. Wie diese Künstler posierte auch Arp vor einer gleichmäßig beleuchteten, hellen Wand, die nur durch das dort präsentierte Werk – das Holzflachrelief Wolkenpfeil349 – betont wird. Während die Collage, mit der Mesens posierte, nicht datiert werden konnte und es sich bei dem Gemälde von Lam um eine seiner jüngsten Arbeiten handelte, ist Arp mit einem Werk zu sehen, das er 1932, also rund 15 Jahre zuvor geschaffen hat und das so als Hinweis auf die Qualität und vor allem die Kontinuität seines künstlerischen Schaffens verstanden werden kann.

Arp ist als Halbfigur nicht nur im Vordergrund des Fotos zu sehen, sondern verdeckt – wie Lam, Mesens und Paolozzi350 – sein Holzflachrelief partiell, so dass er eigentlich das zentrale Element in der Aufnahme darstellt. Doch auch hier kommt dem Werk über seine Anordnung und Präsenz – durch den in der Komposition beanspruchten Raum, die Klarheit der Formelemente sowie seine fast optimale Präsentation – eine große Bedeutung zu, so dass es in der Aufnahme nach vorn kommt und mit Arp auf einer Position gezeigt wird. Die eigentliche Distanz zwischen dem Künstler und seinem Werk wird so quasi negiert, obwohl zwischen beiden ein Flügel zu sehen ist, der vom Vordergrund zum Hintergrund des Bildes überleitet und so Tiefenerstreckung suggeriert. Über die geschwungenen Formen des Musikinstruments sowie seine schwarze Farbe wird auch eine Verbindung zu den Bildelementen des Reliefs geschaffen.

Über seine Körperhaltung sowie seinen ruhig und konzentriert wirkenden Blick stellt sich Jean Arp, der sich an den Flügel lehnt und sich frontal der Kamera zuwendet, als eine selbstsichere Persönlichkeit vor. Auch seine Kleidung – Arp trägt einen dunklen, doppelreihigen Anzug, von dem sich das ebenfalls dunkle Hemd (ohne Krawatte) kaum abhebt – wirkt weder übertrieben lässig noch übertrieben repräsentativ, sondern durch die dunkle Farbigkeit modisch, zurückhaltend und elegant und unterstützt den Eindruck, den der Künstler über seine Haltung zu vermitteln versuchte.

Auch in diesem Porträt wird über das Kunstwerk – wie beispielsweise bei Cornell, Agar, Mesens, Lam und Paolozzi – ein künstlerischer Zusammenhang evoziert, aber nicht konkretisiert. Bei Arp könnte es sich so zwar um den Urheber des dargestellten Werks oder einen bildenden Künstler generell handeln, andererseits könnte aber auch das Instrument einen Hinweis auf ein musisches Interesse oder eine entsprechende Profession des

347 Fotografie 26 = Abb. in: Denis de Rougemont, There are also people in Switzerland, (britische) Vogue (Mai 1947), S. 66. Calvocoressi 2002, S. 134. 348 Vgl. Kap. 4.1.2.1.2 und 4.1.2.1.1. 349 Wolkenpfeil (Flêche de nuage), 1932, Holz, bemalt, 110 x 140 cm, Kunstmuseum Basel. Abb. in: Bernd Rau (Hrsg.), Hans Arp: die Reliefs; Œuvre-Katalog, Stuttgart 1981, Kat. Nr. 241. Carola Giedion-Welcker, Hans Arp, Stuttgart 1957, S. 25. Arps Reliefs besitzen gewöhnlich eine Tiefe zwischen 3,5 und 6,5 cm. 350 Vgl. Kap. 4.1.2.1.4. 82

Porträtierten liefern. Ohne eine Identifizierung Arps über seine Physiognomie kann über die Fotografie selbst nicht auf seine Künstlerrolle geschlossen werden.

Der kurze, von Lee Miller verfasste Begleittext des Fotos liefert aber eindeutige Informationen über Arp, der als Erfinder des Dadaismus und als Surrealist vorgestellt wird, der aber „auf einzigartige Weise immer er selbst geblieben“ sei. Arp wird in dem Text als Maler, Bildhauer und Dichter angesprochen: “Fetzen aus gerissenem Papier inspirieren seine harmonisch komponierten, gemalten oder skulptierten ‚Tropfen’. Sein feiner Witz zeigt sich in seiner Dichtung351, von der eine neue Ausgabe mit den Duo-Zeichnungen, die er zusammen mit seiner verstorbenen Frau, der bekannten abstrakten Malerin Sophie Taeuber-Arp geschaffen hatte, illustriert wird.“352

Die Fotografien, die zur Illustration des Artikels There are also people in Switzerland dienen, sind in unterschiedlichen Größen und in annährend quadratischen Formaten veröffentlicht worden. Zwei der Aufnahmen stellen bildende Künstler – Hans Erni353 und Jean Arp – dar. Das Porträt von Arp besitzt das größte Format aller publizierten Aufnahmen. Während die Fotografie des Schweizer Malers Hans Erni auf der ersten Seite des Artikels gezeigt wird und das gleiche Format aufweist wie das ebenfalls dort veröffentlichte Porträt des Architekten und Kunsthistorikers Prof. Sigfried Gideon, dominiert die Aufnahme von Jean Arp auf der betreffenden Seite von Vogue nicht nur den Text, der an dieser Stelle nur aus kurzen Absätzen besteht, sondern auch die anderen drei Illustrationen. Diese zeigen den Kunstbuchverleger und Herausgeber der Kunst- und Literaturzeitschrift Labyrinth Albert Skira, den Vorsitzenden der Schweizerischen Atomenergiekommission Prof. Paul Scherrer (1890 – 1869) und den Kinderpsychologen Prof. Jean Piaget (1896 – 1980). Die Porträts dieser Protagonisten sind nicht nur deutlich kleiner als die Fotografie von Jean Arp, sondern werden am rechten Seitenrand und in der linken unteren Ecke der Seite wiedergegeben, während das Porträt von Arp an zentraler Stelle in der oberen Hälfte der Seite zu sehen ist.

In Millers Fotografien werden nicht nur die beiden Künstler Jean Arp und Hans Erni mit Kunstwerken dargestellt, diese finden sich auch in den Porträts des Verlegers Albert Skira (Fotografie 27)354 und des Kunsthistorikers Prof. Sigfried Gidieon (Fotografie 28)355. Hans Erni ist in der Fotografie356 in einer gestellten Arbeitssituation zu sehen und posiert in lässiger Arbeitskleidung und mit seinen Werkzeugen vor einem großformatigen Wandbild, wodurch ein Bezug zum Werkprozess und so zu seinem Beruf geschaffen werden soll. Die

351 Wahrscheinlich handelt es sich um die Gedichtsammlung Le Siège de l’air, die mit Duo- Zeichnungen aus dem Jahr 1938 illustriert wurde. 352 „Torn scraps of paper often inspire his beautifully balanced ‘blobs’ of painting and sculpture. His unbrutal wit shows in poetry, of which a new edition is illustrated by ‘duo-dessin’ plates made in collaboration with his late wife Sophie Taeuber-Arp, well known abstract painter.” 353 Vgl. 4.1.4.1.7. 354 Fotografie 27 = Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 135. 355 Fotografie 28 = Abb. in: Rougemont 1947, S. 65ff. 356 Vgl. Kap. 4.1.4.1.7, Fotografie 61. 83

Darstellungen von Arp, Skira und Gidieon weisen, was die repräsentative Kleidung und die selbstsichere Pose der Porträtierten betrifft, Übereinstimmungen auf. Unterschiede gibt es nur bei der Präsentation der dargestellten Kunstwerke: das Holzflachrelief Arps weist aufgrund des von ihm beanspruchten Raums und der bildflächenparallelen Wiedergabe eine größere Präsenz im Bild auf als die vielen, kleinformatigen Porträtskizzen357, die Skira hinterfangen und die wie das Gemälde in der Aufnahme von Gidieon mit perspektivischer Verkürzung gezeigt werden. Dieses Werk wird zudem vom oberen Bildrand angeschnitten. Grundsätzlich werden aber alle drei Porträtierten – Gidieon als Kunsthistoriker, Skira als Kunstbuchverleger und Arp als bildender Künstler – über die gleichen bildimmanenten Elemente als Menschen mit einem künstlerischen Interesse, wenn nicht gar mit einem entsprechenden Beruf, dargestellt.

Zwei der von Miller Porträtierten – der Kinderpsychologe und Autor Jean Piaget und der Atomphysiker Prof. Scherrer – sind Wissenschaftler und pflegten so keinen professionellen Umgang mit Kunst. In ihren Porträts werden keine Kunstwerke, die auf ein eventuelles privates künstlerisches Interesse hinweisen könnten, gezeigt. Während Piaget in einem neutralen Innenraum porträtiert wird, in dem nur das Buch, das er in den Händen hält, in Verbindung mit dem Text einen Hinweis auf seine Tätigkeit als Autor von 14 Fachbüchern zum Thema Erziehungswissenschaften liefern könnte, wird Scherrer in der Aufnahme wie auch 1945 der ungarische Biochemiker und Nobelpreisträger Albert Szent-Györgyi (1895 – 1986) in einem Labor, inmitten von wissenschaftlichen Geräten, wiedergegeben. Im Fall Scherrers kann über bildimmanente Faktoren auf eine wissenschaftliche Beschäftigung des Dargestellten geschlossen werden, dieser erste Eindruck wird anhand des Textes, der neben der Physiognomie einen entscheidenden Faktor bei der Identifizierung der Porträtierten darstellt, konkretisiert. Die in Vogue veröffentlichten Porträts von Wissenschaftlern unterscheiden sich in diesem Punkt nicht von den an gleicher Stelle publizierten Künstlerporträts.

4.1.2.1.4 Edoardo Paolozzi mit einer Graphik (London, um 1947/48)

Auch die Porträtserie358, die Lee Miller von dem zur Zeit der Aufnahme jungen und noch unbekannten Eduardo Paolozzi (1924 – 2005) geschaffen hat, weist im Fall von zwei Fotografien, die den Künstler mit seinem Werk zeigen, weitgehende Analogien zu den vorgestellten Aufnahmen von Wifredo Lam und E.L.T. Mesens auf. So findet sich auch in diesen Porträts359 ein flächiger, neutraler und heller Bildhintergrund, vor dem der in Großbritannien geborene Bildhauer, Collagist, Graphiker, Filmemacher und Schriftsteller

357 Albert Skira ist in Millers Fotografie vom Januar 1947 sicher mit den Entwürfen zu sehen, die Pablo Picasso für eine Ausgabe von Balzacs La Comédie du Diable geschaffen hatte. Bei den Zeichnungen handelt es sich um verschiedene Porträts von Honoré de Balzac; eines dieser Porträts illustrierte den Umschlag des 1946 im Albert Skira Verlag erschienenen Buchs. 358 Die Serie umfasst mindestens aus zwölf Aufnahmen: SWN LMA, Inv. Nr. 1455-37 A, 1455-40 A bis 1455-48 A, Negativformat der Serie 6 x 6 cm. Abb. eines Ausschnitts aus LMA, Inv. Nr. 1455-46 in: Calvocoressi 2002, S. 142. 359 SWN LMA, Inv. Nr. 1455-38A und 1455-37A, Negativformat der Serie 6 x 6 cm. 84 italienischer Abstammung mit einer Zeichnung wiedergegeben wird. Wenn auch über diese Fotografien selbst keine Aussage über den Ort der Aufnahme getroffen werden kann, so ermöglicht es der Serienzusammenhang360, diesen Hintergrund als eine Wand in einer Wohnung oder einem Haus (von Roland Penrose?) anzusprechen.

Die Zeichnung, die Paolozzi mit seinen beiden? Händen vor dieser Kulisse präsentiert, stellt in einer reduzierten und auf wenige Linien begrenzten Strichführung zwei unterschiedliche (Gas?)Lampen dar. Die fast schon in der Art von technischen Plänen gestaltete, präzise Darstellung der Lampen setzt sich am oberen Rand in einem gebogenen Draht? fort, so dass es den Anschein hat, als sei die Zeichnung mit diesem Bogen an der Wand befestigt worden. Paolozzi stellt durch das Halten des Blattes mit seinen Händen eine enge Verbindung zu dieser Arbeit her und könnte so als Schöpfer des Werks angesehen werden. Da sich in der Literatur keine Abbildung der Zeichnung fand, konnte sie dem Künstler zwar nicht unmittelbar zugeordnet werden, doch verweist Diane Kirkpatrick auf die Darstellung von Gaslampen im Frühwerk Eduardo Paolozzis.361

Die Form der Präsentation des Werks und besonders die Art der ‚Befestigung’ an der Wand suggeriert einerseits keine charakteristische Ausstellungssituation im Zusammenhang mit einer Kunstschau für ein breites Publikum. Andererseits könnte aber gerade über die ungewöhnliche Hängung auf die Modernität der Arbeit verwiesen werden, so dass es sich bei der von Miller fotografierten Szene um die Vorbereitung zur Präsentation der Zeichnung im Rahmen einer Ausstellung handeln könnte. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Inszenierung auf den Zeitpunkt der Aufnahme beschränkt gewesen und speziell für die Fotografin arrangiert worden ist.

Wie Lam und Mesens posiert auch Paolozzi vor seiner Zeichnung, die er zudem zum Teil verdeckt: so ist der Glaszylinder einer der Gaslampen nur partiell sichtbar, während die Haltevorrichtung vollständig zu sehen ist. Obwohl er – wie auch die beiden anderen Künstler – durch diese pointierte Darstellung eine besondere Rolle in der Komposition spielen müsste, wird die Hierarchie der Bildebenen durch den sehr geringen Abstand zwischen dem Porträtierten und dem Werk relativiert. Durch ihre Größe und ihre optimale Präsentation (parallel zur Bildfläche und in Höhe von Paolozzis Oberkörper) springt die Zeichnung dem Betrachter sozusagen ins Auge. Das Blatt kann – wie bei Mesens und Lam – als ein Indiz dafür gewertet werden, dass der Porträtierte in seiner Freizeit oder seinem Berufsleben mit Kunst zu tun hat.

Allerdings lässt die Kleidung Paolozzis, der anders als die von Miller in einem ähnlichen Zeitraum porträtierten Künstler362 keinen klassischen Anzug, sondern ein sportliches dunkles

360 Eine weitere Fotografie der Serie (SWN LMA, Inv. Nr. 1455-37 A) zeigt den Künstler ohne Werk in einem Treppenhaus, in den anderen Aufnahmen ist Paolozzi ohne Kunstwerk im Freien vor Architekturkulissen, die anscheinend in unmittelbarem Zusammenhang mit dem in den Fotografien LMA, Inv. Nr. 1455-37 A bis 1455-39 A gezeigten Aufnahmeort stehen, zu sehen. 361 Diane Kirkpatrick, Eduardo Paolozzi, London, New York, o. J., S. 14–15. 362 vgl. Lam, Mesens, Marini, Manzu, Arp, Morandi [u. a.] 85

Hemd und einen ebenfalls dunklen Pullover oder Pullunder trägt, nicht zu, ihn als Repräsentanten offizieller kultureller Einrichtungen oder einen Sammler oder Kunsthändler anzusprechen. Diese ungezwungene, lässige Bekleidung könnte einerseits in Analogie zu Paolozzis Rolle als Künstler der Avantgarde, seiner Orientierung an einer modernen, die traditionelle Bildhauerei revolutionierenden Formensprache und seiner Ablehnung tradierter künstlerischer Strukturen gesehen werden. Andererseits gehörte Paolozzi mit Mitte zwanzig einer neuen Generation, die bekanntlich nach dem 2. Weltkrieg nicht nur neue Musikrichtungen bevorzugte, sondern sich auch modern und unkonventionell kleidete, an.

Nicht nur die äußere Erscheinung Paolozzis, auch seine Haltung unterscheidet sich deutlich von den Posen, die Lam, Mesens und Arp zur Schau stellten. Zwar hielt er sich gerade und aufrecht, doch stellte er sich nicht frontal der Kamera, sondern wendete seinen Oberkörper der Wand respektive seinem Kunstwerk zu, so dass er in Dreiviertelansicht von hinten mit zurückgedrehtem Kopf zu sehen ist. Der Blick, den Paolozzi auf Lee Miller richtete, und seine Körperhaltung suggerieren ein (noch) geringes Selbstbewusstsein des Porträtierten. Dieses könnte einerseits mit der Jugend Paolozzis begründet werden, der zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht älter als 25 Jahre gewesen sein dürfte. Andererseits könnte es sich aber auch um eine eventuelle Unsicherheit des Künstlers Paolozzi handeln, der in dem in Frage kommenden Zeitraum seine Ausbildung noch nicht oder gerade erst abgeschlossen haben dürfte.

Eduardo Paolozzi studierte von 1945 bis 1947 Bildhauerei an der Slade School of Fine Art, die zu dieser Zeit in Oxford untergebracht war. Seine erste Einzelausstellung hatte der Künstler 1947 in der Londoner Mayor Gallery, im Sommer des gleichen Jahres siedelte er nach Paris über, wo er bis 1948 viele Kontakte zu Künstlern herstellte. Antony Penrose berichtet, dass auch in der ersten Ausstellung des Londoner Institute of Contemporary Art (ICA) unter dem Titel 40 Years of Modern Art, 1907 – 1947 im Februar 1948 Werke einer Gruppe von jungen Künstlern, zu denen auch Paolozzi gehörte, gezeigt wurden.363 Die Entstehung der Porträtserie Lee Millers könnte in diesem Zusammenhang gesehen und in die Zeit von Ende 1947 bis Anfang 1948 datiert werden, war doch Roland Penrose als Mitbegründer des ICA und einer der Leihgeber der Ausstellung eng mit der Institution verbunden.

In den Porträts, die Lee Miller von Eduardo Paolozzi zu Beginn seiner internationalen Karriere als Bildhauer geschaffen hat, stellte sich der junge Künstler bereitwillig der Kamera. Dass sich das Selbstverständnis Paolozzis und seine Bereitschaft, sich porträtieren zu lassen, mit zunehmenden Alter und Erfolg aber anscheinend änderte, lässt sich aus der folgenden Begebenheit schließen. Helmut Friedel, Initiator des Langzeitprojektes Künstlerporträtphotographie, bat den Künstler im April 1988 schriftlich um seine Teilnahme an diesem Projekt, dessen Ziel er folgendermaßen beschreibt: „Die Absolventen der Fachakademie Fotodesign München sollen aufgrund ihrer Beschäftigung mit dem Werk eines Künstlers den Autor so darstellen, dass seine spezifische bildnerische Ausdrucksweise

363 Penrose 2001, S. 139. Die Ausstellung wurde am 10. Februar 1948 im Institute of Contemporary Art eröffnet. 86 sichtbar wird [...]“. Im Auftrag des mittlerweile geadelten Sir Eduardo Paolozzi gab seine Assistentin, Marlee Robinson, Helmut Friedel in einem Brief folgende Antwort: „Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, möchte Sir Eduardo nicht fotografiert werden, selbst nicht von erfahrenen Fotografen, die er kennt. Es existieren einige Fotografien von ihm und wenn das Lenbachhaus einen Abzug für seine Sammlung wünscht, werde ich ihn gerne liefern [...] Sir Eduardo hat mich gebeten, hinzuzufügen, dass jeder, der Kunstgeschichte studiert, fähig sein sollte, sich mit Worten auszudrücken. Es gibt zu viele Leute, die behaupten, Kunsthistoriker zu sein, ohne aber die Fertigkeiten der Bewertung und der Kommunikation erworben zu haben. Diese erweisen sowohl den Künstlern als auch der Öffentlichkeit durch ihr mangelndes Schreibtalent einen schlechten Dienst.“364

4.1.2.1.5 Renato Guttuso mit Gemälden, u. a. Die Wäscherin (Venedig, 1948)

In den bisher vorgestellten Aufnahmen wurde über das abgebildete Werk ein künstlerischer Zusammenhang evoziert, der auf ein entsprechendes berufliches wie privates Interesse des Porträtierten – sei es als Kunstsammler, Kunsthändler, Mäzen oder auch Kulturpolitiker – schließen läßt. Die Fotografien ermöglichten aber nicht über bildimmanente Elemente – also aus sich heraus – eine Identifizierung des Porträtierten als Künstler, diese war nur mit einer genauen Kenntnis der dargestellten Person und des dargestellten Werks möglich und wurde durch die Prominenz des Protagonisten erleichtert.

Sieben von zehn Aufnahmen, die auf der 24. Biennale 1948 in Venedig entstanden sind und Millers im gleichen Jahr in der britischen Vogue publizierten Artikel Venice Biennale365 illustrieren, können auch unter diesem Aspekt gesehen werden. Diese Bilder zeigen die an der Biennale teilnehmenden Künstler366 zusammen mit eigenen Kunstwerken. Der allgemeine künstlerische Zusammenhang wird aber durch die Einbindung der Fotografien in einen Artikel konkretisiert: der Text ist also nötig, um die Dargestellten zweifelsfrei als bildende Künstler erkennen zu können. Diese Identifizierung der Dargestellten anhand des Textes funktioniert auch im Fall der drei restlichen Aufnahmen, bei denen es sich zum einen um die Darstellung von Personen handelt, die nicht als Künstler, aber wie Peggy Guggenheim (1898 – 1979), Lionello Venturi und John Rothenstein als Mäzene, Sammler und Kritiker oder auch im Museumskontext mit Kunst in Berührung kamen. Diese werden, wie die Mehrzahl der porträtierten Künstler, zwar ebenfalls mit Kunstwerken gezeigt, ihre

364 Ansichten – photographische Bilder Münchner Künstler, Ausst. Kat., Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1994, Abb. „Eduardo Paolozzi“, in der Übersetzung der Verfasserin. Originaltext: „As I explained previously Sir Eduardo does not like to have his photograph taken even by experienced photographers who he knows. A few photographs of him do exist and if the Lenbachhaus would like me to supply a print for their collection I would be pleased to do so […] Sir Eduardo has asked me to add that anyone studying art history should be able to express themselves in words. There are too many people who claim to be art historians who have not learned the skills of assessment and communication they do both artists and public a disservice by their lack of writing ability […]” 365 Miller 1948, S. 66–67, 88–90. 366 Marini (vgl. Kap. 4.1.1.3), Viani (Kap. 4.1.1.6), Guttuso (vgl. Kap. 4.1.2.1.5), Santomaso (vgl. Kap. 4.1.3.1), Manzù (vgl. Kap. 4.1.1.4, 4.1.1.5) und Carrà (vgl. Kap. 4.1.2.1.7). 87

Rolle auf der Biennale wird aber durch den Artikel und die Bildunterschrift eindeutig definiert. Auch im Fall der Porträts von Henry Moore, Gino Severini (1883 – 1966) und Oskar Kokoschka, die ohne Werke und somit ohne einen künstlerischen Zusammhang dargestellt werden, können die Porträtierten durch den Text zweifelsfrei als Künstler identifiziert werden367. Zu den 1948 in dem Vogue-Artikel Venice Biennale publizierten Fotografien gehört auch ein Porträt des italienischen Malers Renato Guttuso.

Renato Guttuso368 (Bagheria, bei Palermo, 26. Dezember 1911 – Rom, 18. Januar 1987) erlangte sein künstlerisches Wissen und seine Fertigkeiten nicht auf Kunstschulen, sondern vor allem als Autodidakt. Auch seine Beschäftigung mit Kunsttheorie und –kritik lässt sich bereits in frühe Jahre zurückführen. Guttuso gehörte zur 1945/46 gegründeten Künstlergruppe Fronte nuovo delle Arti, in der sich italienische Maler, Bildhauer, Kunstkritiker und -schriftsteller369 zusammengeschlossen hatten. Die Vereinigung basierte, wie die bereits 1938 um Guttuso und Birolli entstandene künstlerische Bewegung La Corrente, auf einer „allgemeinen Vorstellung von moderner Malerei, die den Anschluß an die europäischen Malrichtungen herstellen und auf freiheitliche Haltung und sozialen Bezug ausgerichtet sein wollte.“370 Die Frage, ob dieses Ziel über eine expressionistische Malweise mit einem Bezug zur tatsächlichen politischen und gesellschaftlichen Situation oder vielmehr durch eine freie bzw. sich vom Spätkubismus herleitende Abstraktion zu erreichen sei, spaltete die Gruppe 1948.

Zuvor nahmen aber im gleichen Jahr elf Mitglieder der Fronte nuovo delle Arti an der 24. Biennale teil. Ihre Werke wurden gemeinsam in den Sälen 39 und 40 präsentiert.371 Neun der insgesamt 45 Gemälde im Saal 39, in dem unter anderem zehn Gemälde von Giuseppe Santomaso und fünf Plastiken von Alberto Viani präsentiert wurden, stammten von Renato Guttuso.372 Dieser erhielt bei seiner ersten Teilnahme an der Biennale im Jahr 1948 den mit 100.000 Lire dotierten Nachwuchspreis der Presidenza della Biennale für einen italienischen Maler373 und war bis 1960 regelmäßig auf der venezianischen Kunstschau vertreten.

367 Vgl. Kap. 4.2, Fotografien von 1940–1950. 368 Zur Biografie Guttusos vgl: Renato Guttuso: Gemälde und Zeichnungen, Ausst. Kat., Tübingen, Kunsthalle, 26.9.–24.11.1991, Düsseldorf, Kunstmuseum, 1.12.1991–16.2.1992, Hamburg, Kunstverein, 29.2.–12.4.1992, Stuttgart 1991, S. 21–30, Lebensdaten S. 167–172. Fabio Carapezza Guttuso berichtet, dass Renato Guttuso erst am 2. Januar 1912 amtlich gemeldet wurde, so dass dieses Datum oftmals als eigentliches Geburtsdatum genannt wird. 369 Zur Künstlergruppe zählten Renato Birolli, Morlotti, Leonardi, Franchia, Antonio Corpora (geb. 1909), Armando Pizzinato, Giulio Turcato (1912–1995), Giuseppe Santomaso (vgl. Kap. 4.1.3.2) (1907–1990), Emilio Vedova (1919*) und Alberto Viani (vgl. Kap. 4.1.1.6). 370 Ausst. Kat. Tübingen 1991, S. 16. 371 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 166–171. 372 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 168–169. 373 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 7. Der Preis wurde jeweils an einen italienischen Maler und einen italienischen Bildhauer vergeben. Neben Guttuso wurde auf der 24. Biennale Alberto Viani als bester Nachwuchsbildhauer ausgezeichnet. 88

Guttuso wird in Lee Millers Fotografie (29)374 in einem modernen Polstersessel sitzend unter zwei seiner neuesten Werke aus der Periode des sogenannten „sozialistischen Realismus“ gezeigt. Es handelt sich um die 1947 entstandene Zeichnung auf Karton Die Wäscherin375 und das 1948 geschaffene Gemälde Sizilianischer Bauer376. Der Künstler male „den strengen Rhythmus der Arbeit in strahlenden Farben“, formuliert Lee Miller in der Bildunterschrift und verweist gleichzeitig auf den Erfolg Guttusos, der nicht nur auf der Biennale von Venedig 1948 mit Werken vertreten sei, sondern dessen Gemälde Blackbirds gerade erst der Tate Gallery überreicht worden sei.377 In diesem Porträt findet sich wieder das klassische Darstellungsmuster: so wird Guttuso wie so viele andere Künstler von Miller vor einem Hintergrund gezeigt, der durch seine Helligkeit und Gleichmäßigkeit nicht von dem Porträtierten und seinen dort ausgestellten Werken ablenkt. Trotz seiner sitzenden Position stellt sich Guttuso über seine Körperhaltung und seinen direkten Blick in die Kamera als eine selbstsichere Person vor.378 Der Abstand, den Miller während der Aufnahme zu Guttuso und seinen Werken einhält, ist relativ gering – zumal ihr der Porträtierte mit seinem Oberkörper entgegenkommt und so die Entfernung zusätzlich verringert – und erlaubt die Darstellung des Künstlers als Halbfigur. Allerdings lässt der Aufnahmeabstand – wie bei dem Holzflachrelief von Arp379 – in Verbindung mit der Schwarzweißaufnahme eine Differenzierung der unterschiedlichen Materialarten oder der Arbeitstechnik nicht zu. Auch ist die Distanz, die Guttuso selbst zu seinen Werken einhält, – wie bei Lam und Paolozzi380 – unbedeutend. Der Künstler und seine Arbeiten, die zudem durch ihre Größe an Bedeutung gewinnen, scheinen sich so fast auf einer Raumebene zu befinden.

Durch die optimale, bildflächenparallele Präsentation der Bilder in regelmäßigem Abstand an der Wand und die Nummerierung der Werke auf kleinen Schildern, die am unteren Rahmen angebracht worden sind, kann auf eine Ausstellungssituation geschlossen werden. Dieser Zusammenhang wird durch den Artikel bestätigt, wie auch der Porträtierte über den Text – nicht aber über die Fotografie selbst – eindeutig als Künstler identifiziert werden kann. Miller schreibt in ihrem Artikel über die 24. Biennale von Venedig von 1948, dass Guttuso und Santomaso381, dessen Foto sich ebenfalls in Venice Biennale findet, unter den jungen Malern der Biennale eine herausragende Rolle spielen würden. Guttuso wird von ihr als ein

374 Fotografie 29 = Abb. in: Miller 1948, S. 89. Vogue 1948. 375 Abb. in: Hommage à Guttuso, Sonderheft der Zeitschrift XXe Siècle (Septembre 1981), No. 57, S. 78. Das Werk wird im Ausst. Kat. der 24 Biennale auf S. 168 unter der Nummer 26 und der Bezeichnung „Lavandaia (1947). Pittura su carta“ geführt. 376 Abb. in: Guttuso 1981, S. 79. Ausst. Kat. Venedig 1948, Abb. 45. Das Werk wird in dieser Publikation auf S. 168 unter der Nummer 33 und der Bezeichnung „Contadino siciliano (1948). Olio“ geführt. 377 Miller 1948, S. 89: “His ‘Blackbirds’ has just been presented to the Tate Gallery”. 378 Der Kamerapunkt liegt in dieser Aufnahme in Höhe des frontal der Kamera zugewendeten Kopfes von Renato Guttuso, wodurch der Künstler in Augenhöhe gezeigt wird und trotz seiner sitzenden Position in der unteren Bildhälfte besondere Betonung erfährt. 379 Vgl. Kap. 4.1.2.1.3. 380 Vgl. Kap. 4.1.2.1.2 und 4.1.2.1.4. 381 Vgl. Kap. 4.1.3.1. 89

Preisträger der Biennale vorgestellt und als ein „riesiger, unordentlicher und charmanter Römer beschrieben, dessen Themen Holzhacker, Wäscherinnen und Landschaften mit Vögeln“ seien. In Guttusos Bildern erkennt Miller eine Mischung aus Abstraktion (Sizilianischer Bauer) und sozialistischem Realismus (Die Wäscherin), den künstlerischen Strömungen also, an denen sich die Mitglieder von Il Fronte nuovo delle Arti vorrangig orientierten. Die Diskussion, welcher dieser Richtungen der Vorrang zu geben sei, führte 1948 zur Spaltung der Gruppe in „abstrakte und realistische Künstler“.382 Der Leser des Artikels und Betrachter der Aufnahmen ist in der Lage, Millers Beschreibung am Bild selbst nachzuvollziehen. Die Schwarzweißaufnahmen lassen aber keine Überprüfung der Buntfarbigkeit von Santomasos Gemälden zu, die laut Miller mit der „Üppigkeit einer ländlichen Gegend strahlen sollen“.

An Lee Millers im Archiv verwahrten Aufzeichnungen für den Artikel Venice Biennale kann die Arbeitsweise der Fotografin und Autorin im Ansatz nachvollzogen werden. So existieren handschriftliche Unterlagen Millers, das Originalmanuskript des Artikels und die von redaktionellen Mitarbeitern von Vogue korrigierte, sechsseitige Version sowie fünf Seiten mit Informationen zu den Fotografien. Miller vermerkte so auf dem Kopf der Seite in Stichworten, welche Kamera sie verwendete (eine 35 mm Spiegelreflexkamera Zeiss Contact, von Miller kurz ‚Contax‘ genannt und die 6 x 6 Spiegelreflexkamera Rolleiflex) und nummerierte die einzelnen Filmrollen sowie die einzelnen Fotografien, zu denen sie stichwortartig die Bildunterschriften verfasste. Millers Aufzeichnungen lassen auf eine größere Anzahl von tatsächlich gemachten Fotografien schließen: zu ca. 112 mit der Rolleiflex aufgenommenen Bildern finden sich entsprechende Angaben für die Bildunterschrift, während bei der Zeiss Contact zu ca. 118 Bildern (drei Rollen Film à ca. 36 Fotos) Informationen gesammelt wurden. Aus dieser Menge von ungefähr 230 Fotografien sind schließlich nur zehn Aufnahmen als Illustrationen für den Artikel Venice Biennale ausgewählt und fünf in dem Artikel Five Modern Italian Artists erneut publiziert worden. Lee Miller, der sicher bewusst war, dass nur ein geringer Teil ihrer Fotografien in Vogue publiziert werden würde, nahm trotzdem eine große Zahl von Fotografien auf, damit sie – wie auch andere Fotografen, die für Presseagenturen, Zeitungen und Magazine arbeiten – oder die Redaktion von Vogue die gelungensten Bilder auswählen konnten.

Zu einem nicht näher bezeichneten Porträt Guttusos, bei dem es sich um das in Venice Biennale auf Seite 89 publizierte Foto handeln könnte, sammelte Miller folgende Informationen: „78+ Renato Guttuso --- see earlier captions [...] important Younger painter/The picture above him, left on the photo, lady washing her pants or something is the one bought for the Tate. I’ve included also a picture which is more like his normal style […] all very odd because when I did these, as well as Matzu (sic) and Moore combinations the prizes had not been awarded nor this picture bought.”

Lee Miller schließt in ihrem im August 1948 in Vogue publizierten Artikel Venice Biennale den kurzen Absatz über Renato Guttuso mit der Feststellung, dass dessen allerneuestes

382 Vgl. auch: Santomaso, Werke 1939–1986, Ausst. Kat., Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein, Kunstverein Ludwigshafen e.V., 21.9.–2.11.1986, S. 19. 90

Gemälde der Tate Gallery überreicht worden sei. Um welches Werk Guttusos es sich handelt, erfährt der Leser an dieser Stelle nicht. Lediglich in der Bildunterschrift findet sich der Hinweis, dass das Gemälde Blackbirds, das nicht zu den auf der Biennale präsentierten Werken zählt383, erst vor kurzem an die Tate Gallery übergeben worden sei. Ob es sich bei dem in Millers Artikel erwähnten „picture“ um dieses Werk oder die in ihrem Manuskript angeführte Zeichnung auf Karton Die Wäscherin handelt, die im veröffentlichten Porträt Guttusos in der linken Bildhälfte oberhalb des Künstlers präsentiert wird, kann nicht näher bestimmt werden. Lee Miller verweist mit diesen Angaben so vor allem auf den großen Erfolg und die internationale künstlerische Annerkennung des italienischen Malers, dessen Werke – wie die Skulpturen Manzùs384 – bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, also nach langen Jahren der politischen wie kulturellen Isolation des faschistischen Italien, in einem renommierten Museum Großbritanniens vertreten waren.

Guttuso präsentierte sich während der Ausstellung in einer Kleidung (dunkles Sakko, helles Hemd), die trotz fehlender Krawatte und eines geöffneten Hemdkragens (seine unordentliche Note?) den gesellschaftlichen Konventionen entsprach und unterstützt so den bereits über seine Haltung demonstrierten selbstsicheren Eindruck eines erfolgreichen Menschen, eines arrivierten Mitglieds der Gesellschaft. Auch die Zigarette, die Guttuso in der linken Hand hielt, verleiht dem Dargestellten eine gewisse Lässigkeit. Bei der in vielen Künstlerporträts385 dargestellten Zigarette handelt es sich schon fast um ein typisches Accessoire, dessen Ursprung, bezogen auf den künstlerischen Kontext, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann. Zu dieser Zeit begannen Künstler, Literaten und Schauspieler Tabak in Form von Zigaretten zu rauchen, was sich unmittelbar auf das Image der Zigarette, die ein „künstlerisches und fortschrittliches Geltungsbild“ erhielt, auswirkte. Der Genuss einer Zigarette nimmt weniger Zeit in Anspruch als das Rauchen von Pfeifen oder Zigarren und passte sich so den durch technische Neuerungen geänderten Lebensgewohnheiten, die immer mehr durch die Geschwindigkeit als „Zeichen des Fortschritts“ bestimmt wurden, an. Die Zigarette wurde so zu einem Symbol für „das neue Zeitgefühl der Moderne“.386

In der Fotografie von Renato Guttuso erfolgt durch die fast bildflächenparallele Darstellung der Lehnen des Sessels, in dem der Maler posiert, in Verbindung mit der Ausrichtung der hoch- und querrechteckigen Gemälde eine starke Betonung der Vertikalen und Horizontalen in der Komposition. Diese für Millers Aufnahmen fast schon als typisch anzusehende Betonung der Orthogonalität wird in diesem Fall von der Fotografin nicht angewendet, um

383 Vgl. Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 168, Kat. Nr. 26–35. 384 Vgl. Kap. 4.1.1.4, 4.1.1.5. 385 Vgl. hierzu: Pierre Georgel, La pipe du peintre, in: Pierre Georgel und Anne-Marie Lecoq, La peinture dans la peinture, Paris 1987, S. 208–209. Tabak gelangte Anfang des 16. Jahrhandurts nach Europa, die Pflanze wurde aber zunächst als Ziergewächs und Heilmittel verwendet. Im 17. Jahrhundert stellte das Rauchen noch eine Neuheit dar, wobei der Tabak aber schon bald eine große Popularität erlangte. Darstellungen von Pfeiferauchern wurden besonders in der flämischen und holländischen Malerei ein beliebtes Sujet. 386 Luca E. A. Roncoroni, Der Geschmack der grossen Welt. Semiotisch-diachrone Analyse der Zigarettenwerbung, Zürich, Diss, Univ., 1996, S. 4. 91 sich dem Œuvre des Künstlers über die Komposition zu nähern, ein Ziel, das zum Beispiel von Arnold Newman in seinem Porträt von Piet Mondrian387 aus dem Jahr 1942 verfolgt wurde, sondern vielmehr als ein Ordnungssystem im Bild genutzt.

4.1.2.1.6 Giorgio Morandi mit dem Gemälde Natura Morte (Venedig, 1948)

Eine Ausnahme von dieser Kompositionsregel im Werk Millers stellt nicht nur die Fotografie des Bildhauers Alberto Viani388, sondern auch das Porträt Giorgio Morandis389 dar: Morandi, der auf der 24. Biennale von Venedig im Jahr 1948 den von der Comune di Venezia vergebenen ersten Preis für italienische Malerei390 in Höhe von 500.000 Lire erhielt, wird mit seinem dort präsentierten Frühwerk, dem metaphysischen Gemälde Natura Morte391 von 1918 gezeigt. Inspiriert durch die in La Raccolta von Giuseppe Raimondi (1878 – 1955) abgebildeten Gemälde von De Chirico und Carrà begann Giorgio Morandi (Bologna, 20.7.1890 – Grizzana, 18.6.1964), der von 1914 bis 1929 in Bologna als Zeichenlehrer an Grundschulen arbeitete, ab 1918 selbst metaphysische Werke zu schaffen. In rund eineinhalb Jahren entstanden so rund zwölf Stilleben, zu denen auch das Werk gehört, mit dem er in Millers Aufnahme posiert.

In diesem Porträt (Fotografie 31)392, das auch Millers Artikel Venice Biennale illustrierte, finden sich keine horizontalen oder vertikalen Strukturen, die Komposition wird allein durch eine diagonale Linienführung bestimmt, wodurch sich ein verwirrendes, dynamisches Gefüge ergibt. Dieser Bildaufbau steht nicht nur in in absoluten Kontrast zu Morandis Bildern, sondern stellt auch im Werk Millers eine Ausnahme dar. Der sorgfältig strukturierte Aufbau des Bildes zeigt aber, dass es sich nicht um eine zufällig entstandene Fotografie handelt.

In dieser Fotografie ist sozusagen alles schräg: von der Körperhaltung Morandis, der seinen Oberkörper nach rechts beugt und sich so seinem dort ausgestellten Werk Natura Morte annähert, über die fluchtenden Linien des Gemäldes, das an einer Wand präsentiert wird und mit einer perspektivischen Verkürzung zu sehen ist, bis hin zu einem drapierten Vorhang, der den Künstler partiell hinterfängt und dessen äußerer Kantenverlauf weitgehend mit der Körperachse des Porträtierten übereinstimmt.

387 Newman 1980, Taf. 1. 388 Vgl. Kap. 4.1.1.6. 389 Zur Biografie Morandis siehe: Giorgio Morandi: 1890–1964, Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen, Ausst. Kat., Kunsthalle Tübingen, 23.9.–26.11.1989, Kunstsammlung Nordrhein- Westfalen, Düsseldorf, 20.1.-18.3.1990, Köln 1989. 390 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 7. Der von der Comune di Venezia gestiftete Preis ging neben Morandi an den italienischen Bildhauer Giacomo Manzù. 391 Abb. in: Ausst. Kat. Venedig 1948, Abb. 15. Giorgio Morandi: Ölbilder, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen, Ausst. Kat., Haus der Kunst, München, 18.7.–6.9.1981, Abb. 6. Lee Miller nennt in ihrem in der August-Ausgabe des Jahres 1948 der britischen Vogue publizierten Artikel Venice Biennale nur in wenigen Fällen die Titel der dargestellten Kunstwerke. 392 Fotografie 31 = Abb. in: Miller 1948, S. 66. Livingston 1989, S. 154. Calvocoressi 2002, S. 147. 92

Dieser Vorhang, der als einziges Element auch in der oberen Partie der Fotografie zu sehen ist, während sich die Darstellung von Künstler und Werk auf den unteren Bereich der Aufnahme beschränkt, zeichnet Morandi nicht nur besonders aus, sondern trägt mit seinem gleichmäßigen Faltenwurf zur Dynamisierung der Komposition wesentlich bei. Der Künstler, der als Halbfigur gegeben wird und in seinen Händen wahrscheinlich ein Brillenetui hält, nimmt eine wichtige Position in der Fotografie ein.393 Dem Stilleben Natura Morte, das sich von der vorderen zur mittleren Raumebene erstreckt und vom Künstler zum Teil verdeckt wird, kommt so im Rahmen der Komposition nicht die gleiche Bedeutung wie dem Porträtierten zu. Diese Nachteile werden aber, trotz seiner nicht bildflächenparallelen Präsentation, durch die Größe des Werks und den Raum, den es in der Aufnahme einnimmt, relativiert.

Trotz seiner schrägen Körperhaltung wirkt Morandi, dessen „hochgewachsene, asketische und mönchsgleiche“ Erscheinung Miller in ihrem Artikel und der Bildunterschrift betont, in der Aufnahme ‚gerade’. In Verbindung mit seinem direkt in die Kamera gerichteten Blick könnte man meinen, dass es sich bei Morandi um eine sehr selbstsichere Person handelt. Auch seine Kleidung, die mit Anzug, Hemd, Krawatte und Weste einen korrekten, eleganten und repräsentativen Eindruck erweckt, zeigt, dass er sich seiner künstlerischen Bedeutung und seines Erfolges durchaus bewusst war, obwohl sein Werk erst durch die Auszeichnung auf der Biennale von Venedig (1948) über die „engsten Fachkreise hinaus etwas bekannter“ wurde.

Morandi wird, wie unter anderem auch Lam, Mesens und Arp, mit einem Werk gezeigt und somit über bildimmanente Faktoren in einen generellen Kunstkontext eingebunden. Dass es sich bei dem Dargestellten aber nicht ‚nur’ um einen Kunsthändler oder -sammler, sondern um einen sehr erfolgreichen Maler handelt, kann, wie bei Arp und Guttuso, nur über den Text erschlossen werden. In ihrem Artikel berichtet Lee Miller von der Verleihung eines ersten Preises in der Sparte der italienischen Malerei und der großen Verehrung, die die jüngeren Künstler Morandi auf der 24. Biennale zuteil werden ließen.

Lee Millers Porträt von Giorgio Morandi wurde, wie auch die Fotografien von Renato Guttuso, Giuseppe Santomaso und Marino Marini394, nicht nur zur Illustration ihres Artikels Venice Biennale (Fotografie 31) verwendet, sondern kurze Zeit später in der amerikanischen Ausgabe von Vogue in dem Artikel Five Modern Italian Artists (Fotografie 30)395 ein zweites Mal publiziert. Diese Aufnahmen – ergänzt um ein ‚neues’ Porträt des Bildhauers Giacomo Manzù396 – wurden in der amerikanischen Vogue in einem weitaus größeren Format veröffentlicht, als dies in Venice Biennale der Fall ist, zeigen aber alle einen reduzierteren

393 Morandi wird nicht nur in der vordersten Bildebene gezeigt, sein Kopf befindet sich auch im Schnittpunkt der Bildachsen, die durch die Vorhangkante und den oberen Rahmen des Gemäldes definiert werden. 394 Vgl. Kap. 4.1.2.1.5, 4.1.3.1, 4.1.1.3. 395 Fotografie 30 = Abb. in: Vogue 1948. 396 Vgl. Kap. 4.1.1.5. 93

Bildausschnitt. Durch diese Reduzierung wird in den Fotografien eine Konzentration auf den Künstler und sein Werk erzielt. Im Fall von Giorgio Morandi geht die weitgehende Ausblendung des Bildraums im oberen Bereich der Fotografie zu Lasten des Spiels mit der Diagonalen, wodurch die dynamische Bildwirkung der in Venice Biennale publizierten Aufnahme verloren geht. Wird der Porträtierte in dieser Fotografie durch die Bilddiagonalen besonders betont, so rückt er in der Aufnahme in Five Modern Italian Artists hauptsächlich durch die Darstellung in Nahaufnahme in den Mittelpunkt.

Giorgio Morandi stellte auf der 24. Biennale sein in der Zeit um den 1. Weltkrieg entstandenes, metaphysisches Werk aus. In den den Malern Morandi, de Chirico (1888 – 1978) und Carrà397 (1881 – 1966) vorbehaltenen Sälen 3 und 4 sind unter dem Motto Tre Pittori italiani dal 1910 al 1920 insgesamt 37 Werke398 zu sehen. Hiervon sind elf Werke von Giorgio Morandi, wobei es sich um zehn Stilleben Natura morta aus der Zeit von 1916 bis 1920 und ein Bild von 1916 mit dem Titel Fiori handelt. Lee Miller war ihrer Aussage zufolge von den auf der Biennale ausgestellten frühen Werken Morandis und Carràs tief beeindruckt und betont die „herausragende Schönheit“ der Gemälde de Chiricos. In ihrem im August 1948 veröffentlichten Vogue-Artikel Venice Biennale berichtet die Autorin, dass dieser künstlerische Stil in Italien „bis zum heutigen Tag“ keine Akzeptanz gefunden habe, obwohl er die moderne Malerei weltweit entscheidend geprägt habe.

Giorgio de Chirico war als einziger der drei Maler nicht persönlich auf der 24. Biennale di Venezia anwesend. Lee Miller begründet dies in ihrem Artikel damit, dass er seine frühere Brillanz verleugne und sein eigenes Werk heftig kritisiere. Während Giorgio Morandi außer seinen frühen Gemälden aus der metaphysischen Periode auf der Biennale keine weiteren, aktuellen Arbeiten zeigte, sind von de Chirico neben 13 Gemälden aus der Zeit von 1912 bis 1917 im Saal 28 auch zehn Lithografien399 zu sehen, deren Entstehungsdatum im Ausstellungskatalog nicht angegeben wird. Die Werke der anderen, in dem gleichen Saal ausstellenden Maler stammen aber durchweg aus den Jahren von 1945 bis 1948, so dass dieses Umfeld vielleicht auch einen Hinweis auf die Aktualität der dort präsentierten Arbeiten de Chiricos liefern könnte. Nur Carlo Carrà stellte zweifelsfrei auf der 24. Biennale von Venedig vom 29. Mai bis 30. September 1948 neben seinen metaphysischen Arbeiten auch seine aktuellsten Gemälde aus der Zeit von 1941 bis 1947 aus.400

397 Vgl. Kap. 4.1.2.1.7. 398 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 29–32. 399 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 118. Die Entstehungszeit der Lithographien wird im Katalog nicht aufgeführt. 400 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 104. 94

4.1.2.1.7 Carlo Carrà mit Gemälden, u. a. Madre e figlio (Venedig, 1948)

Carlo Carrà401 (Quargenento, Piemont, 11.2.1881 – Mailand, 13.4.1966) wurde 1921 zum ersten Mal zur Biennale in Venedig eingeladen, 1928, bei seiner dritten Teilnahme an der italienischen Kunstschau, erhielt er dort seine erste Einzelausstellung. An der 24. Biennale von Venedig im Sommer 1948 nahm Carrà nicht nur als Künstler teil und präsentierte dort neben seinem metaphysischen Frühwerk aus den Jahren von 1917 bis 1921 auch seine aktuellsten Gemälde, sondern war als Mitglied der Commissione per l’Arte figurativa zusätzlich eng mit der Konzeption und der Organisation dieser Ausstellung verbunden.402

Das Porträt, das Lee Miller von Carlo Carrà während der Biennale aufnahm, zählt zu den insgesamt zehn Fotografien, die im August 1948 in ihrem Artikel Venice Biennale veröffentlicht worden sind (Fotografie 32)403 Miller gibt Carrà, den sie in Venice Biennale unter anderem als „kleinen, bezaubernden Mann“ charakterisiert, als Halbfigur im Profil nach rechts in einer auf die untere Bildhälfte begrenzten Darstellung wieder. Dies und die Einbindung des Porträtierten in einen weiten Raumausschnitt – in der Aufnahme werden zwei neutrale, helle Wände mit den daran anschließenden, schräg nach oben laufenden Decken gezeigt – lassen auf einen distanzierteren Standort der Fotografin schließen. Der Künstler, der im lässigen Anzug und mit der für ihn fast schon typischen Baskenkappe404 zu sehen ist, dreht seinen Kopf über seine Schulter in Richtung der Fotografin, die er mit einem Lächeln bedenkt und die ihn in einer wie zufällig wirkenden Aufnahme in Untersicht wiedergibt.

In den Aufnahmen, die Lee Miller beispielsweise von Guttuso oder Lam405 geschaffen hat, spielen die dargestellten Werke neben dem porträtierten Künstler eine entscheidende Rolle in der Inszenierung. Obwohl Lee Miller – wie sie in ihrem Artikel schrieb – von den frühen Bildern Carràs genauso tief beeindruckt war wie von denen Morandis und de Chiricos, treten diese in der Fotografie in den Hintergrund: in dem Porträt liegt das Augenmerk eindeutig auf der Person Carlo Carràs, der in der vorderen Bildebene wiedergegeben wird. An der rückwärtigen linken Wand werden zwei Gemälde gezeigt, deren Präsentation einen Hinweis auf die künstlerische Arbeit des Porträtierten liefern könnte. Dass Lee Miller Carrà während einer Ausstellung fotografierte, kann nicht über die Fotografie selbst, sondern wieder nur über Millers schriftliche Aufzeichnungen über die 24. Biennale von Venedig im Jahr 1948 erschlossen werden.

401 Zur Biografie Carlo Carràs siehe: Carlo Carrà – Retrospektive, Ausst. Kat., Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 4.10.–6.12.1987, S. 69–87. 402 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. V. 403 Fotografie 32 = Abb. in: Miller 1948, S. 67. 404 Carrá ist in vielen Fotografien mit einer Baskenkappe, die er auch bei der Arbeit an der Staffelei trug, zu sehen, Abb. in: Piero Bigongiari, L’opera completa di Carrà dal futurismo alla metafisica e a realismo mitico, Mailand 1970, S. 8 (mittlere Abb., linke Spalte) und S. 83. Ausst. Kat. Baden-Baden 1987, S. 8, Abb. 87. 405 Vgl. Kap. 4.1.2.1.5 und 4.1.2.1.2. 95

Die dargestellten Werke können aufgrund der relativ großen Distanz nur mit Schwierigkeiten identifiziert werden. Eines der Gemälde wird in der Fotografie durch den Künstler fast vollständig verdeckt, während ein anderes, in der linken Bildhälfte dargestelltes Gemälde als ein Werk der frühen metaphysischen Phase im Œuvre Carràs angesprochen werden kann. Das Foto muss also im Saal 3 oder 4 entstanden sein, wo auch die Werke de Chiricos und Morandis aus dieser Zeit ausgestellt waren.406 Es handelt sich bei der Arbeit um das 1917 in einer Nervenklinik gemalte Werk Madre e figlio407. Carrà, der als Soldat im 1. Weltkrieg diente, war dort wegen seines schlechten Gesundheitszustandes eingeliefert worden. Im Ausstellungskatalog der 24. Biennale von 1948 trägt diese Arbeit die Nummer „9“.408 Ein drittes Gemälde, das in der rechten Bildhälfte präsentiert wird, kann nicht näher bestimmt werden, da das Werk ein kleineres Format aufweist und zusätzlich aus einer größeren Distanz gezeigt wird. Berücksichtigt man die Nummerierung der Werke im Ausstellungskatalog, so könnte es sich bei diesem Werk um die Nummer „11“, ein Gemälde mit dem Titel La Figlia dell’Ovest409 von 1919 handeln, das vom Künstler verdeckte Bild könnte unter der Nummer „10“, mit der das Gemälde L’ovale delle apparizione410 von 1918 bezeichnet wurde, geführt worden sein.

In den bisher vorgestellten Fotografien, die Miller von den an der 24. Biennale von Venedig teilnehmenden Künstlern aufgenommen hat, kann allein über ihre zum Teil in Vogue publizierten, schriftlichen Aufzeichnungen ein Zusammenhang zu dieser Kunstschau hergestellt werden. Die Fotografien selbst liefern durch die Darstellung eines reduzierten und weitgehend neutralen Innenraums keine konkreten Informationen, die eine Einordnung in einen Ausstellungskontext erlauben würden.

4.1.2.1.8 Isamu Noguchi mit Skulpturen, u. a. Man Ideograph (New York, 1946)

Wie viele andere Künstler411 wurde auch der japanisch-amerikanische Bildhauer Isamu Noguchi im Sommer 1946 von Lee Miller während ihres Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten porträtiert. Die Serie, die mindestens zwölf Aufnahmen412 (Fotografien 33 und 34) umfasst, erinnert durch den weitgehend neutralen Innenraum an die Porträts von Mesens (ca. 1944), Lam (1946) und Paolozzi (Ende 1947/Anfang 1948) sowie die Fotografien der

406 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 29–32. 407 Abb. in: Ausst. Kat. Baden-Baden 1987, S. 37. Bigongiari 1970, Abb. 78. 408 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 31: „9 Madre e figlio (1917). Milano, coll. Emilio Jesi”. 409 La Figlia dell’Ovest, Öl/Lw, 90 x 70 cm, 1919, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Abb. in: Bigongiari 1970, Abb. 83. 410 L’ovale della apparizioni, Öl/Lw, 92 x 60, 1918, Abb. in: Bigongiari 1970, Abb. 81. 411 Auch Wifredo Lam (vgl. 4.1.2.1.2), Kay Sage (vgl. Kap. 4.1.2.2.3), Yves Tanguy (vgl. Kap. 4.1.4.2.3) sowie Max Ernst und Dorothea Tanning (vgl. 4.1.4.1.5, 4.3.4, 4.3.5) standen der Fotografin auf ihrer Amerikareise 1946 Modell. 412 SWN LMA, Inv. Nr. A 0532 bis A 0543, Negativformat 6 x 6 cm. Abb. von LMA, Inv. Nr. A 0540 (= Fotografie 33) in: Calvocoressi 2002, S. 133. Abb. von LMA, Inv. Nr. A 0542 (= Fotografie 34) in: Penrose 1985a, S. 179. 96

Künstler, die im Sommer 1948 auf der 24. Biennale von Venedig porträtiert worden sind.413 Während Miller von dieser Ausstellung in einem eigenen, mit ihren Künstlerporträts illustrierten Vogue-Artikel berichtet, schrieb sie die Eindrücke, die sie auf ihrer Amerikareise sammelte, nicht nieder. Auch die Fotos, die sie während dieser Reise von Malern und Bildhauern wie Noguchi aufgenommen hat, wurden nicht in einem Buch oder einem Artikel veröffentlicht, so dass diese Porträts – wie die Serien von Mesens, Lam und Paolozzi – als freie Arbeiten der Fotografin anzusehen sind – vielleicht, weil ein Auftrag mit Vogue nicht zustande kam?

Isamu Noguchi414 wurde am 17. November 1904 als Sohn eines japanischen Dichters und einer amerikanischen Schriftstellerin in Los Angeles geboren, verlebte seine Kindheit und Jugend von 1907 an in Japan und siedelte erst 1918 wieder in die Vereinigten Staaten über. 1927 erhielt Noguchi ein Guggenheim-Stipendium, das ihm einen Aufenthalt in Paris ermöglichte, wo er sechs Monate als Assistent in Brancusis Atelier arbeitete. Seine ersten Entwürfe für öffentliche Plätze und Monumente entstanden 1933, sein erstes Bühnenbild entwarf Noguchi 1935 für ein Ballett von Martha Graham, mit der er auch in den kommenden Jahren regelmäßig zusammenarbeitete.415

Im 2. Weltkrieg wurden, nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbour im Dezember 1941 und dem darauffolgenden Ausbruch des amerikanisch-japanischen Krieges, die japanischen Einwanderer, die aufgrund eines amerikanischen Gesetzes nicht naturalisiert werden konnten, und die Amerikaner japanischer Abstammung als Feinde der USA betrachtet und waren Repressalien von Seiten des Staates und der Gesellschaft ausgesetzt. Zu den vielfältigen Maßnahmen, die die Regierung ergriff, gehörte auch die Internierung der „alien enemies“ in speziellen Lagern. In diesen Internierungslagern wurden seit Februar 1942416 innerhalb weniger Monate 120.000 Personen, von denen ca. 2/3 amerikanische Bürger japanischer Abstammung waren, aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit gefangen gehalten. Noguchi demonstrierte gegen diese Internierung und ließ sich aus Solidarität freiwillig in ein Lager einweisen, wo er 1942 sieben Monate lang lebte und versuchte, mit seinen Entwürfen für öffentliche Anlagen wie Plätze, Gärten oder auch Spielplätze die Lebensverhältnisse der Lagerinsassen zu verbessern.417 Als er das Desinteresse der Verantwortlichen und somit die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen erkennen musste, kehrte Noguchi noch im selben Jahr nach New York, wo er seit 1937 lebte, zurück und bezog ein Atelier in der Macdougal Alley in Greenich Village.

413 Vgl. Kap. 4.1.2.1.1, 4.1.2.1.2, 4.1.2.1.4, 4.1.1.3, 4.1.1.4, 4.1.1.5, 4.1.1.6, 4.1.2.1.3, 4.1.2.1.5, 4.1.2.1.6, 4.1.2.1.7, 4.1.3.1. 414 Die Angaben zur Biografie wurden der Monographie von Bruce Altshuler, Isamu Noguchi, New York 1994 (= Modern masters series; 16), S. 113–116, entnommen. 415 Isamu Noguchi, The Isamu Noguchi Garden Museum, New York 1987, S. 210–219. 416 Roger Daniels, Prisoners without trial: Japanese Americans in World War II, New York 1993, S. 46. 417 Nancy Grove, Diane Botnick, The Sculpture of Isamu Noguchi, 1924–1979. A Catalogue, New York u. London 1980, S. 21. 97

Der Krieg zwischen den beiden Nationen wurde durch den Abwurf der beiden ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 entschieden und endete mit der Kapitulation Japans. Noch im März 1946, dem Jahr also, in dem Lee Miller Isamu Noguchi in seinem Atelier in New York porträtierte, waren ca. 2800 Personen418 japanischer Abstammung in amerikanischen Lagern interniert, und hatten dort bis zu vier Jahre verbracht.419 Die ehemals in den Camps gefangen gehaltenen Japaner wurden auch nach ihrer Freilassung mit einer feindlichen Haltung von Seiten der Gesellschaft konfrontiert. Der New Yorker Bürgermeister La Guardia versuchte beispielsweise, mit anti-japanischen Parolen den Zuzug von Japanern in die Stadt zu begrenzen.420 Noguchi berichtet über seine Erfahrungen und sein soziales Engagement im 2. Weltkrieg in einem Text, der auf der offiziellen Homepage des Künstlers im Internet421 veröffentlicht worden ist.

Vom 10. September bis zum 8. Dezember 1946 zeigte das New Yorker Museum of Modern Art, das bereits 1931 und 1941 Noguchis Skulpturen Angnes Enters und Capital gekauft hatte, die Ausstellung Fourteen Americans. Zu diesen 14 Amerikanern zählte auch – ungeachtet der feindlichen Stimmung – Isamu Noguchi. Mit der Präsentation der Skulpturen des Bildhauers in einem amerikanischen Museum von internationaler Bedeutung, in einer Ausstellung, die amerikanischen Künstlern vorbehalten war, wurde kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs ein deutliches Zeichen gesetzt: zum einen wurde die amerikanische

418 Daniels 1993, S. 72. 419 Daniels 1993, S. 72. 420 Daniels 1993, S. 79. 421 Vgl. hierzu die Internetseite >http://www.noguchi.org<. Isamu Noguchi, „Colorado River Relocation Camp, Poston, Arizona, 1942“(©Isamu Noguchi Organization, Stand 2000): „With a flash I realized I was no longer the sculptor alone. I was not just American but Nisei. A Japanese-American. (I had received a medal from somewhere; ‘Nisei of the Year’ just before leaving New York). I felt I must do something. But first I had to get to know my fellow Nisei; I had no reason previously to seek them out as a group. Secondly, I sought out those of us who were sympathetic and with whom I thought I could work to counteract the bigoted hysteria that soon appeared in the press. I organized a group called ‘Nisei Writers and Artists for Democracy’. All to no avail. With the evacuation command I escaped from California (I was luckily a New Yorker) and went to Washington, thinking to make myself useful. Instead, I met John Collier from the American Indian Service. One of the projected war relocation camps was to be situated on Indian territory under his jurisdiction at Poston, Arizona, and he suggested that I might be of help there in its development. Thus I wilfully became a part of humanity uprooted. There could have been some question of my position, whether on the side of the administration or of the internees, but with the harshness of camp life came a feeling of mutuality, of identity with those interned and against the Administration, in spite of personal friendships. The desert was magnificent – the fantastic heat, the cool nights, and the miraculous time before dawn. I became leader of forays into the desert to find ironwood of roots for sculpting. ‘Though democracy perish outside, he would be kept its seeds,’ cried Mr. Collier through clouds of dust. My work for the most part was to design and help to develop park and recreation areas. I soon became apparent, however, that the purpose of the War Relocation Authority was hopelessly at odds with that ideal cooperative community pictured by Mr. Collier. They wanted nothing permanent nor pleasant. My presence became pointless, but as I voluntarily became an internee, it took me seven month to get out and then on a temporary basis. So far as I know, I still only temporary at large.” 98

Staatszugehörigkeit Noguchis demonstriert, zum anderen die herausragende künstlerische Qualität seines Werks betont.

Lee Millers Porträts (Fotografie 33422 und Fotografie 34423) entstanden in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Erfahrungen und Diskriminierungen, die der Künstler als „feindlicher Ausländer“ im 2. Weltkrieg erlebt hatte und müssen deshalb vor diesem Hintergrund gesehen werden.424 Isamu Noguchi posiert in Millers Porträtserie mit seinen in schwarzem Schiefer ausgeführten, abstrakten Konstruktionen Man Ideograph425 und Fishface426 aus dem Jahr 1945. Der Künstler präsentierte sich mit nacktem Oberkörper, einer weite, hellen und langen Hose, die er bis zu den Knien aufgerollt hatte, und Sandalen an den Füßen. Diese ‚Nacktheit’ steht in krassem Gegensatz zur Bekleidung anderer, von Lee Miller fast zeitgleich im Porträt dargestellter Künstler wie beispielsweise Wifredo Lam oder auch Marino Marini, Giacomo Manzù und Giorgio Morandi427. Diese Künstler präsentierten sich der Kamera in konservativen Anzügen, Hemden und Krawatten, was nicht nur mit ihrem Selbstverständnis, sondern auch mit einem Zugeständnis an gesellschaftliche Konventionen und der Forderung nach gesellschaftlicher Akzeptanz – besonders während der 24. Biennale von Venedig – begründet werden kann. Auch Isamu Noguchi zeigte sich noch in einer 1941 entstandenen Fotografie428 in konventioneller westlicher Kleidung.

Die Entscheidung Noguchis, während der Porträtsitzung im Jahr 1946 auf eine solche repräsentative Kleidung zu verzichten, könnte so vordergründig als eine Demonstration einer künstlerischen ‚Gegenkultur’ verstanden und in Zusammenhang mit einem gewandelten Selbstverständnis, einem Wechsel in der künstlerischen Identität, die schließlich untrennbar mit dem Wirken des Künstlers verbunden ist, gesehen werden. So präsentierte sich Noguchi in einer ebenfalls 1946 entstandenen Aufnahme429 von Eliot Eliofson in seinem New Yorker Studio beim Zusammensetzen seines Werks Figure auch in einer unkonventionellen Bekleidung: der Künstler war barfuss und trug ein T-Shirt und eine weite Hose. Auch eine

422 Fotografie 33 = SWN LMA, Inv. Nr. A 0540, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 133. 423 Fotografie 34 = SWN LMA, Inv. Nr. A 0542, Abb. in: Penrose 1985a, S. 179. 424 Noguchi berichtet nicht nur von den Diskriminierungen, denen er von amerikanischer Seite ausgesetzt war, sondern auch von Benachteiligungen durch seine japanischen Landsleute. So wurde Isamu Noguchi 1952, nachdem er erfolgreich zwei Brücken für den Peace Park in Hiroshima fertiggestellt hatte, vom Bürgermeister der Stadt und dem Architekten Kenzo Tange aufgefordert, ein Memorial for the Death of Hiroshima zu entwerfen. Der Entwurf wurde vom verantwortlichen Komitee abgelehnt, wofür – wie Noguchi vermutet – in diesem Fall seine amerikanische Abstammung der Grund gewesen sein könnte. Noguchi spürte seiner Aussage zufolge die Notwendigkeit, sich trotz der Ablehnung mit der Umsetzung seines Entwurfes zu beschäftigen, da er ein solches Mahnmal, besonders wenn es in den USA errichtet würde, als eine Geste des Bedauerns und als ein Zeichen des Widerstands gegen ein solch verheerendes Ereignis ansah (Noguchi 1987, S. 94, 154–156). 425 Abb. in: Grove/Botnick 1980, S. 38 und Abb. Nr. 218. 426 Abb. in: Grove/Botnick 1980, S. 39 und Abb. Nr. 221. Altshuler 1994, S. 50, Abb. 51. 427 Vgl. Kap. 4.1.1.3, 4.1.1.4, 4.1.2.1.6. 428 Abb. in: Altshuler 1994, S. 27, Abb. 25. Ana Maria Torres, Isamu Noguchi: a study in space, New York 2000, S. 24, Fig. 4. 429 Abb. in: Altshuler 1994, S. 109, Abb. 109. 99

Fotografie430 eines namentlich nicht genannten Fotografen zeigt Noguchi im Jahr 1950 bei der Arbeit an seiner Skulptur Mu mit nacktem Oberkörper und nur mit einer hellen, langen Hose und Schuhen bekleidet.

Mit dem Wissen um die schwierige Situation der japanischen Bevölkerung in den USA während des Krieges und in den Nachkriegsjahren muss aber auch die binationale Herkunft des Künstlers als ein entscheidender Faktor für eine derartige Inszenierung herangezogen werden. Noguchi präsentierte sich der Kamera in einer Bekleidung, die in Verbindung mit seinem Äußeren, in dem sich seine asiatische Herkunft manifestiert, an traditionelle japanische Kleidung erinnert und auf einen asketischen Lebensstil Bezug nimmt. Der Künstler könnte mit dieser Rückbesinnung auf die Traditionen seiner japanischen Heimat seine ethnische Zugehörigkeit und somit seine Verbundenheit mit den in den USA lebenden Japanern demonstrieren. Dass Noguchi diese erstmals nach Ausbruch des japanisch-amerikanischen Krieges als Gruppe wahrnahm, beschreibt der Künstler in dem bereits erwähnten Text aus dem Jahr 1942.431

Nicht nur in Millers Porträt stellte der Bildhauer über seine Erscheinung seine japanischen Wurzeln in den Vordergrund, er präsentierte sich auch in einem 1947 entstandenen Porträt von Irving Penn in einem Gewand, das an einen Kimono erinnerte, und identifizierte sich so mit der japanischen Kultur.432 Doch während der Künstler in Penns später entstandenen Porträt in einer selbstbewussten Haltung (er posierte in der traditionellen japanischen Sitzhaltung und richtete seinen Blick in die Kamera) und vollständig bekleidet gezeigt wird, präsentierte er sich der Kamera Millers in einer introvertierten Pose und mit nacktem Oberkörper, was als eine Art Symbol für seine Sensibilität, Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit in den Zeiten von Rassismus und Diskriminierung gesehen werden könnte.

Die Aufnahmen Millers sind durch die dargestellten, abstrakten Skulpturen und den reduzierten Kleidungsstil Noguchis von großer Aktualität und zugleich Zeitlosigkeit, die beispielsweise den zwei Jahre später entstandenen Porträts von Manzù und Marini nicht (in gleichem Maße) zugesprochen werden kann. Lediglich die fast 13 Jahre früher aufgenommenen Cornell-Porträts433, die ebenfalls eine neuartige Kunstrichtung der dreißiger Jahre thematisieren, sind von einer ähnlichen Modernität, können aber aufgrund ihres experimentellen und surrealistischen Kontextes nur bedingt zum Vergleich herangezogen werden.

430 Abb. in: Altshuler 1994, S. 107, Abb. 107. Torres 2000, Fig. 52. 431 Vgl. Fußnote 4211. 432 Abb. in: Irving Penn, Passage, with the collaboration of Alexandra Arrowsmith and Nicola Majocchi, New York 1991, S. 40, Abb. unten links. 433 Vgl. Kap. 4.1.1.1. 100

In allen Aufnahmen, in denen Noguchi allein434 mit seinen Werken porträtiert wird, dominiert die körperlange Skulptur Construction in black slate (Man Ideograph.) die Komposition, in der sie immer an zentraler Stelle435 und in der vordersten Bildebene zu sehen ist. Noguchi, der für sechs Aufnahmen entweder auf einem riesigen Überseekoffer436, der vor der rückwärtigen Wand des hellen, kargen Raums aufgestellt worden ist, oder dem Sockel seiner Skulptur437 Platz genommen hat, wird von dieser nicht nur überragt, sondern tritt auch immer hinter ihr zurück. Die Körperhaltung Noguchis, der mit verschränkten Armen und Beinen posiert, seinen Oberkörper nach vorn beugt oder sich mit dem Rücken an der Wand anlehnt, unterscheidet sich grundsätzlich von den Posen, die die meisten anderen Künstler für ihr Porträt eingenommen haben. Besonders Pablo Picasso und auch Wifredo Lam wollen sich über eine aufrechte Haltung ihres Körpers und die tradierten Posen als souveräne und erfolgreiche Personen darstellen, was Picasso vollendet gelang, bei Lam aber weitgehend scheiterte. Noguchi hingegen schien die Aufmerksamkeit, die ihm durch die Anwesenheit der Fotografin zuteil wurde, von sich abwenden zu wollen und wird so eher als eine introvertierte und sensible Person wahrgenommen, was nicht nur durch seine zurückhaltende Mimik und Gestik, sondern auch durch seine asketische Erscheinung noch unterstrichen wird. Selbst wenn Noguchi sich – wie in vier Aufnahmen Millers – im Stehen frontal der Kamera zuwendete438, ‚versteckt’ er sich hinter seiner Skulptur – durch deren offen Elemente er hindurchblickte – und ist so nur partiell sichtbar.

Der Raum kann, trotz einer größeren Aufnahmedistanz, die es ermöglichte, einen entsprechend großen Ausschnitt des Raums wiederzugeben, nur durch die dargestellten Kunstwerke in einem künstlerischen Zusammenhang gesehen werden, da keine weiteren Details in der Fotografie eine entsprechende Tätigkeit des Porträtierten oder eine spezielle Ateliersituation thematisieren. Obwohl die relativ isolierte Aufstellung der Skulpturen unter Umständen für einen Ausstellungssituation sprechen könnte, ist es wahrscheinlicher, dass die Porträts in einem Raum, der zum Atelierkomplex zählte und in dem der Künstler seine Skulpturen lagerte, aufgenommen worden sind. Einen Hinweis hierauf liefert neben der äußeren Erscheinung des Künstlers die Aufstellung der Plastik Fishface, die in der Darstellung neben Noguchi auf dem Koffer präsentiert wird, also in einer für eine Ausstellung ungewöhnlichen Anordnung.439

434 Zwei Aufnahmen der Serie (SWN LMA, Inv. Nr. A 0532 und A0537) zeigen den Künstler zusammen mit Roland Penrose respektive Penrose und Lee Miller. Diese Fotografie könnte mit Selbstauslöser aufgenommen worden sein. 435 Auf der vertikalen Mittelachse des Bildes ist die Skulptur in den folgenden Aufnahmen zu sehen: SWN LMA, Inv. Nr. A 0535, A 0536. Das Werk teilt die Bildfläche im Verhältnis des Goldenen Schnitts in den Aufnahmen: SWN LMA, Inv. Nr. A 0532, A 0543, A 0538, A 0539. 436 SWN LMA, Inv. Nr. A 0538, A 0539, A 0540, A 0541, A 0543. 437 SWN LMA, Inv. Nr. A 0532. 438 SWN LMA, Inv. Nr. A 0533, A 0534, A 0535, A 0536. 439 Die Skulptur befindet sich in allen Aufnahmen, außer der Nahaufnahme LMA, Inv. Nr. A 0542 (Abb. in: Penrose 1985a, S. 179) auf der rückwärtigen Bank. 101

Noguchis heute verschollene abstrakte Plastik Construction in Black Slate (Man Ideograph)440 ist aus schwarzem Schiefer gearbeitet worden und setzt sich aus drei Elementen und einer flachen Sockelplatte zusammen.441 Die vertikale Orientierung der Plastik, die zudem auf zwei breiten Holzstücken aufgestellt war, lässt an ein aufrecht stehendes menschliches Wesen denken, eine Assoziation, die auch durch den Titel Man Ideograph, unter dem die Skulptur Construction in black slate auch bekannt ist, vermittelt wird. Die Skulptur Noguchis könnte so als ein Ideogramm gesehen werden, also als ein Schriftzeichen, das für einen bestimmten Begriff – in diesem Fall das englischen Wort man – steht, was in der Übersetzung Mann oder Mensch bedeutet.442 In Millers Aufnahme wird aber diese abstrakte Komposition, die als ein Mensch verstanden werden soll, einem lebendigen Menschen gegenübergestellt, wodurch ihre Künstlichkeit und ihr Zeichencharakter offensichtlich werden.

Lee Miller variierte ihre Aufnahmeposition, so dass die Plastik Construction in black slate (Man Ideograph.), die aus zwei sich im Winkel von 90° durchdringenden, vertikalen Elementen zusammengesetzt ist, aus vier verschiedenen Blickwinkeln präsentiert wird. Auf diese Weise wird die Allansichtigkeit der Skulptur, ihre Verwandlung von einem fast ‚vollständig flächigen’ zu einem dreidimensionalen Objekt dargestellt. Der Eindruck, dass es sich bei der Plastik um ein nur aus einer Fläche konstruiertes Werk handelt, wird in der Aufnahme LMA, Inv. Nr. A 0540 (Fotografie 33) vermittelt. Miller zeigt eines der beiden Hauptelemente der Plastik in frontaler Darstellung, so dass die Ausdehnung des anderen Elementes in der Fotografie auf ein absolutes Minimum reduziert wird.443 Drei weitere

440 Noguchi 1987, S. 248. Vgl. auch die Abb. in: Altshuler 1994, S. 128. 441 Es handelt sich um zwei ca. 147 cm hohe, ca. 37 cm breite und sehr flache, nicht symmetrisch gearbeitete Teile, die mit unterschiedlichen, polymorphen Ausschnitten versehen wurden und eine Art Rahmenkonstruktion bilden. Die unterste von jeweils drei Negativformen je Element ist nicht in sich geschlossen, sondern öffnet sich zur flachen Sockelplatte hin, so dass sie Plastik auf vier ‚Beinen‘ zu stehen scheint. Die flachen Teile der Plastik durchdringen sich auf der vertikalen Achse in einem Winkel von ca. 90° und greifen mit spitzen, dreieckigen Formen, die aus dem ‚Rahmen‘ herausragen, und horizontalen und diagonalen Streben in der Breite der Rahmenkonstruktion ineinander. Ein drittes, kleinteiliges Element, das aus einer runden Scheibe mit einem am unteren Ende ansetzenden langovalen Teil besteht, wurde im oberen Drittel auf eine Platte der flachen Schieferkonstruktion aufgesetzt. Grove/Botnick 1980, S. 38: die Höhe der Skulptur wird mit 60 inches angegeben, was ca. 147 cm entspricht (1 inch = 2,54 cm). Vgl. die Aufnahmen LMA, A 0540, Abb. in Calvocoressi 2002, S. 133 und A 0542, Abb. in Penrose 1985a, S. 179, in denen eines der flachen Elemente direkt von vorn gezeigt wird, so dass die äußerst geringe Stärke der Schieferplatte deutlich wird. 442 Dem englischen Begriff ‚man’ entsprechen im Deutschen die Begriffe Mann, Mensch oder auch Menschheit. 443 Es wird in der Aufnahme als eine schmale, vertikale Linie, die als ein Part des flächig dargestellten Elementes angesehen werden kann, wiedergegeben. Lediglich der Schattenwurf dieses Elementes, der durch das von der linken Seite einfallende Licht verursacht wird, erlaubt es, seine Ausdehnung in der Darstellung ansatzweise zu erkennen. Die Fläche des dritten, aus einem runden und einem langovalen Teil bestehenden Elements orientiert sich in ihrem Verlauf an der des frontal dargestellten Hauptelementes. Der Abstand, der zwischen diesen beiden Bestandteilen der Plastik Construction in black slate (Man Ideograph.) eigentlich existiert und der in einigen Fotografien der Serie deutlich zu erkennen ist, wird in dieser Aufnahme negiert, so dass das kleinteilige Element als ein Teil der frontal ausgerichteten Schieferplatte zu sehen ist. 102

Fotografien444 der Serie sind aus einer leicht modifizierten Perspektive aufgenommen worden. Lee Miller fotografierte die Skulptur Construction in black slate (Man Ideograph.) aus fast der gleichen Entfernung, verlagerte ihren Standpunkt aber weiter nach links, wodurch zwar der flächige Charakter des in der vorigen Aufnahme frontal dargestellten Teiles noch weitgehend erhalten bleibt, das zweite Element aber nicht länger nur als eine Linie gezeigt wird. Die Konstruktion der Plastik ist in diesen Fotografien bereits im Ansatz erkennbar. Als ein dreidimensionales Objekt ist die Skulptur in sieben der mindestens zwölf Aufnahmen zu sehen. Keines der beiden Hauptelemente wird in diesen Fotografien frontal gezeigt, so dass die Darstellung der Flächigkeit zugunsten des plastischen Gesamteindrucks der sich durchdringenden Schieferplatten aufgegeben wird.

Einen völlig anderen Blick auf die Skulptur Construction in black slate (Man Ideograph.) erlaubt das Schwarzweißnegativ LMA, Inv. Nr. A 0542 (Fotografie 34): während die Skulptur in allen anderen Fotografien445 der Serie in ganzer Höhe gezeigt wird, handelt es sich bei dieser Darstellung um einen Ausschnitt des Objektes. Millers Fotografie präsentiert Noguchi und die Skulptur in Nahaufnahme und bringt so die Plastizität der Construction in black slate (Man Ideograph.) besonders zur Wirkung.446 Der sitzende Künstler wird von Miller in Aufsicht wiedergegeben, wodurch auch ein Einblick in die Plastik gegeben wird, deren Negativvolumen erst jetzt vollständig zur Geltung kommt. Das ‚Eindringen’ des Raums in diesen Teil der Skulptur und somit das Negativvolumen des Werks wird in dieser Aufnahme durch die Aufsicht, die das Ineinandergreifen der beiden Elemente besonders deutlich werden lässt, eindrucksvoll dargestellt.

1947 porträtierte der amerikanische Fotograf Arnold Newman den Bildhauer Isamu Noguchi447, in seinem Studio in New York, zusammen mit dessen Skulptur Kouros (Fotografie 35).448 Das altgriechische Wort Kouros bedeutet Jüngling oder junger Mann. Dieser Begriff bezeichnet auch einen griechisch-archaischen Skulpturentyp, der einem streng definierten Darstellungsmuster unterlag und bei dem es sich um die Figur eines nackten, schreitenden jungen Mannes handelt.449

Bei einem Vergleich dieses Porträts mit Miller Aufnahme SWN LMA, Inv. Nr. A 0542 (Fotografie 34) lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen. So zeigen beide Fotografen den

444 SWN LMA, Inv. Nr. A 0538, A 0539, A 0543. 445 SWN LMA, Inv. Nr. A 0532, A 0533, A 0534, A 0535, A 0536, A 0537, A 0538, A 0539, A 0540 (Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 133), A 0451, A 0943. 446 Das Werk ist in der rechten Bildhälfte dargestellt, während Isamu Noguchi, der zum Teil von seiner Skulptur verdeckt wird, in der linken Hälfte des Bildes gezeigt wird. Der Künstler wirkt in dieser Darstellung nun fast völlig unbekleidet, da er nur bis zur Hüfte zu sehen ist. 447 Abb. in: Newman 1980, Abb. 30. 448 Fotografie 35 = Abb. in: Grove/Botnick 1980, Abb. Nr. 204. Die dargestellte Skulptur Kouros hat eine Höhe von 117 inches (1 inch = 2,54 cm, die Skulptur hat also eine Höhe von 297 cm) und wurde von Noguchi in den Jahren 1944–45 aus rosafarbenen Marmor geschaffen. 449 Gisela M. A. Richter, Kouroi: Archaic Greek Youths, a study of the development of the Kouros type in Greek sculpture, London 1960 und New York 1988. 103

Künstler in einer Nahaufnahme, der gewählte Bildausschnitt ermöglicht in beiden Fällen die Darstellung des Porträtierten bis zur Hüfte. Von der Skulptur kann in beiden Fotografien aufgrund dieser Nahansicht und der Größe des Werks nur ein Ausschnitt wiedergegeben werden, der aber auch bei Newman das Volumen und die Plastizität des Objektes zur Geltung bringt. Während der gezeigte Ausschnitt der Skulptur bei Miller die rechte Bildseite dominiert, wird der Teil des Werks bei Newman auf der linken Seite dargestellt, greift aber, besonders im oberen Bereich, auf die rechte Hälfte der Fotografie über, verdeckt den Porträtierten zum Teil und wird so zum bildbestimmenden Element. Diese Dominanz des dargestellten Kunstwerks in Newmans Fotografie wird noch durch die auf die rechte untere Ecke reduzierte Darstellung des porträtierten Künstlers gefördert, eine Darstellungsweise, die durch die gezeigte Zurückhaltung Isamu Noguchis zusätzlich unterstrichen wird. Diese Zurückhaltung und die Suggestion von Sensibilität sind, wie auch schon in der Aufnahme Millers, durch Mimik und Haltung des Künstlers bedingt, der seine Arme wie schutzsuchend vor den Körper gelegt hat und seinen Blick gesenkt hat. 450

Noguchi ist in beiden Aufnahmen in seinem Studio vor einer hell getünchten Ziegelwand, vor der er sitzt oder an die er sich stehend anlehnt, zu sehen. Auffallend ist, dass das Porträt Noguchis von Newman den Künstler mit einem dunklen T-Shirt mit hellen Streifen und Hosenträgern zeigt, wodurch der Bezug zu Noguchis japanischer Heimat und deren Tradition über die Kleidung nicht gegeben ist. Anzumerken bleibt, dass es sich auch bei der Darstellung im T-Shirt, das der Künstler auch bei der Arbeit trug451, keinesfalls um eine repräsentative Bekleidung handelte, vergleichbar der Darstellung des Künstlers im Anzug.

4.1.2.2 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) im Kontext von Atelier und Ausstellung

Bei der Darstellung des Künstlers in einer Ateliersituation handelt es sich um ein Motiv, das Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Porträtmalerei in den Bereich der fotografischen Künstlerdarstellung übernommen und bis in die heutige Zeit tradiert worden ist.452 Aufnahmen dieser Kategorie sind in Lee Millers Werk über einen langen Zeitraum – von Anfang der 1940er bis in die 1970er Jahre – nachweisbar.

450 Eine Fotografie eines nicht namentlich erwähnten Fotografen mit unbekanntem Entstehungsdatum zeigt Isamu Noguchi mit seinem Gipsmodell für das Carl Mackley Memorial (1933). In dieser Aufnahme fällt, wie in den Porträts von Miller und List, die Zurückhaltung des Künstlers auf, sein Zurücktreten hinter seine Skulptur und sein fast immer nach unten gesenkter Blick. Noguchi wird in der Aufnahme nicht mit unbekleidetem Oberkörper dargestellt, sondern ist mit einem dunklen Hemd bekleidet (Grove/Botnick 1980, Abb. Nr. 115). 451 Abb. in: Altshuler 1994, S. 128. 452 Vgl. zur Tradition des Atelierbildes: Werner Schnell, „Das rote Atelier“ des Henri Matisse – ein Bild und seine Verwandten, Berlin 2001, S. 21–26. Schnell 1994, S. 50–60. Frédéric Gaussen, Visites d’ateliers [Rembrandt, Fragonard, Goya, David, Friedrich, Girodet, Courbet, Daumier, Bazille, Renoir, Picasso, Giacometti], Paris 2002. Lizzie Boubli, L’atelier du dessin italien à la Renaissance. Variante et variation, Paris 2003. Eva Mongi-Vollmer, Das Atelier des Malers: die Diskurse eines Raumes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 2004. 104

Dem Atelier als Aufnahmeort kommt im Bereich der Künstlerdarstellung eine besondere Rolle zu, da es sich um den Ort handelt, an dem die Künstler in der Regel ihre Werke schaffen und oft auch aufbewahren. Die Darstellung des Künstlers im Atelier erlaubt dem Betrachter der Fotografie, einen Einblick in die oftmals verborgene Welt der Porträtierten zu gewinnen und so einen Zusammenhang zwischen der schöpferisch tätigen Person, die sich durch ihre Kreativität und Genialität auszeichnet, und ihrem in diesem Ambiente präsentierten Werk herzustellen. „Die Art, wie ein Künstler die Dinge um sich hat, ist so aufschlussreich wie sein Werk“ 453: Pablo Picasso, der mit diesen Worten zitiert wird, bezieht sich auf alle Lebensbereiche des Künstlers, speziell im Atelierzusammenhang aber kommt der Existenz und Anordnung von Gegenständen wie im Atelier lagernden Werken, Utensilien wie Staffeleien oder Werktischen, Pinseln oder Meißeln und künstlerischen Materialien eine große Bedeutung zu, da diese unter Umständen Rückschlüsse auf den Schaffensprozess zulassen.

Miller wählte für ihre Fotoporträts von Künstlern im Atelier vor allem zwei konträre Darstellungsmöglichkeiten: durch eine geringe Aufnahmedistanz zwischen der Fotografin und den zu porträtierenden Protagonisten ist zum einen nur ein geringer Teil des Raums in der Aufnahme sichtbar, so dass der Künstler und/oder sein(e) Werk(e) im Mittelpunkt stehen. Im anderen Fall wird durch eine größere Entfernung zwischen dem Porträtierenden und dem Porträtierten der Raum in einem größeren Ausmaß gezeigt: auf diese Weise ist ein entsprechend großer Teil des Künstlerateliers mit den dort aufbewahrten Kunstwerken und künstlerischen Gerätschaften und Utensilien in der Fotografie zu sehen, so dass unter Umständen Informationen über den Produktionsprozess der Werke geliefert werden.454

Wie das Atelier bietet auch eine Kunstausstellung eine spezielle Bühne für die Darstellung des Künstlers mit seinem Werk in einer Fotografie, handelt es sich doch bei dieser Form der Präsentation von Kunst um eine „besondere Kontaktebene zwischen Künstler, Kunst und Betrachter (Gesellschaft)“.455 Die Darbietung des Werks ist im Rahmen einer Ausstellung auf ein breites Publikum ausgerichtet, die Kunstwerke werden in unterschiedlichsten Räumlichkeiten in einem optimalen Arrangement zur Schau gestellt. Wenn ein Fotograf einen Künstler während eienr Ausstellung fotografiert, bieten sich ihm verschiedene Möglichkeiten: so kann er zum einen den Protagonisten mit seinen bereits zur Präsentation arrangierten Werken wiedergeben. Zum anderen hat er vielleicht die Chance, diesen bereits bei den Vorbereitungen zur Ausstellung seiner Arbeiten beobachten zu können.

4.1.2.2.1 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Marin (Paris, 1944)

Pablo Picasso ist in vielen von Millers Fotoserien, die über einen langen Zeitraum hin bei ihren Besuchen in den Domizilen und Ateliers des Künstlers in Paris, Vallauris, Cannes und Mougins entstanden sind, bei der Präsentation seines Werks zu sehen. Die früheste von

453 Quinn 1977, S. 17. 454 Klant 1995, S. 93ff. 455 Lexikon der Kunst, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1996, Band 4, S. 117, Stichwort Kunstausstellung“. 105

Miller fotografierte Werkschau Picassos datiert in den August/September des Jahres 1944, als sie ihn nach der Befreiung von Paris im 2. Weltkrieg in seinem Atelier aufsuchte und mit seinen aktuellen Gemälden und Skulpturen fotografierte. In diesen Aufnahmen und den später entstandenen Fotografien wurde der Künstler unter anderem in eine klassische Ateliersituation eigebunden, die durch Arbeiten im Werkprozess und künstlerische Utensilien wie Werktische, Pinsel, Farben etc. gekennzeichnet ist.

Pablo Picasso verbrachte die Kriegsjahre seit 1940 – trotz der deutschen Okkupation von Paris im 2. Weltkrieg und Angeboten, die ihm eine Ausreise ermöglicht hätten – in seinem Pariser Atelier in der Rue des Grands-Augustins 7. Seine Lebensumstände waren schwierig: so war er nicht nur weitgehend von seiner Umwelt isoliert, es mangelte ihm auch am Nötigsten – Nahrungsmitteln, Heizmaterial, Werkzeugen und künstlerischen Werkstoffen.456 Picasso trotzte durch seinen Verbleib in der Stadt den Nationalsozialisten, die seine Kunst – anders als die monumentalen Skulpturen Sigismund Stróbls457, der laut Miller sogar ein Porträt Adolf Hitlers schaffen sollte – als entartet betrachten.

Lee Miller fasste ihre Eindrücke vom Leben in der befreiten französischen Hauptstadt und vom Wiedersehen mit langjährigen Freunden wie Pablo Picasso, Christian Bérard und Paul Éluard in einem Manuskript458, das in dem Artikel Paris – Its Joy ... Its Spirit ... Its Privations in Vogue im Oktober 1944 veröffentlicht worden ist, zusammen. Der Leser erfährt in ihrem Artikel von ihrem Besuch in Picassos Atelier, wo sich die Fotografin und der Künstler bei der Begrüßung vor Freude in die Arme fielen und Neuigkeiten über ihre Freunde und deren Arbeiten austauschten. Die Autorin berichtet über das schwierige Leben Picassos im Krieg und über seine ungebrochene Inspiration, die – trotz mangelnden Materials – zur Schöpfung zahlreicher Werke geführt habe.

Während Millers Besuch im August 1944 sind mehrere Fotoserien459 entstanden, die Pablo Picasso mit seinen aktuellsten Werken – der Skulptur Mann mit Schaf460 und dem Gemälde

456 Wertenbaker 1972, S. 129. Penrose 1961, S. 305–307. Alfred H. Barr Jr., Picasso – Fifty Years of his Art, New York 1966, S. 226. 457 Vgl. Kap. 4.1.2.2.2. 458 Das um andere Quellen erweiterte Manuskript Lee Millers zu ihrem im Oktober 1944 in der britischen Vogue veröffentlichten Artikel Paris – Its Joy ... Its Spirit ... Its Privations wurde publiziert in: Penrose 1992, S. 67–84, besonders S. 73–74 (Picasso). Der hier veröffentlichte Text setzt sich zusammen aus Lee Millers Originalmanuskript des Artikels, ihrem Manuskript zu The Way Things are in Paris, (britische) Vogue, November 1944, einem unveröffentlichten Manuskript über Maurice Chevalier und zahlreichen Briefen und Telegrammen an Millers Vogue-Chefredakteurin Audrey Withers (vgl. Penrose 1992, S. 206). 459 SWN LMA, Inv. Nr. 5925-466, 5925-467, 5925-470, 5925-474, 5925-475, 5925-477, 5925-478 (= LMA, Inv. Nr. P0206, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 105. Penrose 1981b, S. 137, Abb. 341. Eine Ausschnittvergrößerung des Negativs LMA, Inv. Nr. 5925-478 findet sich in: Barr Jr., Picasso, New York 1974, S. 244), 5925-480, 5925-481, 5925-517, LMA, Inv. Nr. 5981-14, 5981-16, Negativformat 6 x 6 cm. In den Aufnahmen wird Picasso unter anderem in Gesellschaft seiner Freunde und Bekannten gezeigt, die ihn nach der Befreiung von der deutschen Besatzungsmacht aufsuchten (LMA, Inv. Nr. Org. Neg. 5981-14, 5981-16, Abb. in: Penrose 1981b, S. 137, Abb. 340, SWN LMA, 5925-517, 5925-473, 5925-466). 106

Marin461 – zeigen. Die (Selbst-)Darstellung Picassos, das Ambiente im Atelier sowie die Präsentation der Werke weisen in diesen Fotoserien weitgehende Analogien auf, so dass die folgenden (mindestens) vier Aufnahmen, in denen der Maler mit seinem Gemälde Marin und den Porträtgemälden von drei Jungen zu sehen ist, stellvertretend für diese Serien stehen sollen.

Obwohl alle vier Fotografien dieser Serie462 ein sehr ähnliches Motiv aufweisen und Picasso mit seinen Gemälden im Atelier zeigen, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Behandlung des Bildraums voneinander: für zwei Aufnahmen463 wählte Miller, wie im Porträt Picassos mit seiner Skulptur Mann mit Schaf, eine große Distanz, die zur Darstellung des Künstlers mit einer großen Anzahl seiner zum Teil großformatigen und auf Staffeleien präsentierten Gemälde geeignet war. Diese sprechen, wie auch weitere, auf dem Boden stehende, kleinformatige Gemälde, die sich gegenseitig verdecken oder mit der Bildseite an der Wand lehnen, für eine intensive Arbeit Picassos auch während des Zweiten Weltkriegs und stehen in der Fotografie als ein Zeichen für die Kreativität und Produktivität des Porträtierten, von der Miller auch in ihrem Manuskript berichtet.

Obwohl Picasso in diesen Aufnahmen in ganzer Figur zu sehen ist und zudem mit seiner Darstellung auf der Mittelsenkrechten eine wichtige Position im Bild besetzt, ist er aufgrund der gewählten Aufnahmedistanz kaum zu differenzieren. Die Entfernung zwischen Miller und ihren Modellen erschwert auch eine Identifizierung der Gemälde, obwohl diese zum Teil optimal, also parallel zur Bildfläche präsentiert werden. Picasso posierte so unter anderem mit seinem Gemälde Marin und drei Porträts von Jungen im strengen Profil464, bei denen es sich um die neuesten Schöpfungen des Künstlers aus dem August 1944 handelte.

In einer 1954 in Picassos Studio in der Rue des Grands Augustins entstandenen Aufnahme von Alexander Liberman (1912 – 1999)465 bietet sich dem Betrachter ein sehr ähnliches Arrangement dar. In diesem Fall posierte Picasso zwar nicht neben seinen zur Präsentation arrangierten Werken, die Art und der Ort der Ausstellung stimmen aber mit der Darstellung in

460 Zu der Fotoserie (vgl. Fußnote 4622), die Lee Miller in Picassos Atelier in Paris Ende August/Anfang September 1944 schuf, gehört auch eine Fotografie, die Pablo Picasso mit einem weiteren seiner Werke, der Plastik Mann mit Schaf (L’Homme au mouton, Paris 1944, Abb. in: Werner Spies, Pablo Picasso: Das plastische Werk, Stuttgart 1971, Abb. 280), zeigt (SWN LMA, Inv. Nr. 5925-474, Format 6 x 6 cm, Abb. in: Penrose 1992, S. 74). 461 Abb. in: Zervos XIII, 167. „Le Marin. Huile sur toile. Paris, 28 Octobre 1943. 130 x 81.“ 462 SWN LMA, Inv. Nr. 5925-480 und 5925-48, LMA, Inv. Nr. 5925-477 und 5925-478 (= LMA, Inv. Nr. P0206, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 105. Penrose 1981b, S. 137, Abb. 341. Eine Ausschnittvergrößerung des Negativs LMA, Inv. Nr. 5925-478 findet sich in: Barr Jr., Picasso 1974, S. 244), Negativformat 6 x 6 cm. 463 SWN LMA, Inv. Nr. 5925-480 und 5925-481, Negativformat 6 x 6 cm. 464 SWN LMA, Inv. Nr. 5925-480 und 481, die drei Porträtgemälde von links nach rechts: Zervos XIV, 30, „Tête de jeune garçon. Dessin à l’encre de Chine. Paris, 14 août 1944. 50 x 32 cm.”; Zervos XIV, 31, „Tête de jeune garçon. Dessin à l’encre de Chine. Paris, 15 août 1944. 50 x 29 cm.” Zervos XIV, 33, „Tête de jeune garçon. Dessin à l’encre de Chine. Paris, 13 août 1944. 50 x 37 cm.” 465 Abb. in: Penrose 1981a, S. 73, Abb. 193. 107

Lee Millers Porträts von Pablo Picasso aus dem Jahr 1944 weitgehend überein. Selbst eine Staffelei, auf der Picasso bereits zehn Jahre zuvor ein Gemälde arrangierte, scheint 1954 noch am selben Platz im Atelier zu stehen. Dies lässt vermuten, dass die Art der Präsentation der Werke vom Künstler selbst gewählt wurde und die jeweiligen Fotografen darauf kaum oder nur in geringem Maß Einfluss nehmen konnten, selbst wenn sie dies beabsichtigen.

Für die anderen beiden Fotografien (vgl. Fotografie 36)466 der Serie verlagerte Lee Miller den Aufnahmeort weiter nach links und rückte auch näher an ihr Modell heran. Picasso ist zwar nach wie vor an pointierter Stelle und (fast) in ganzer Figur zu sehen, doch hat sich die Anzahl der präsentierten Werke von mindestens neun auf zwei bis vier Gemälde verringert. An Picassos linker Seite ist wieder das Gemälde Marin, das von zwei der Porträts der Jungen partiell verdeckt wird, sichtbar. Diese Werke werden mit einer leichten perspektivischen Verkürzung gezeigt. Dieser fast optimalen Präsentation steht die zum Teil starke Beschneidung durch den Bildrand entgegen. Die Anordnung der Werke im Raum lässt erneut an eine Werkschau im Atelier des Künstlers denken. Die Ateliersituation wird zudem durch weitere Künstlerutensilien konkretisiert: so sind auf einem Tisch Pinsel, die in einem Behälter aufbewahrt werden, und weitere Gegenstände des künstlerischen Bedarfs zu sehen.

Miller schreibt in ihrem Vogue-Artikel Paris – Its Joy ... Its Spirit ... Its Privations467 über Picassos „exquisite“ Porträts der jungen Männer. Sie berichtet mit zum Teil sehr martialischen Worten, dass es sich bei diesen Bildnissen um die Darstellungen eines imaginären jungen Kämpfers der französischen Widerstandsbewegung FFI (Forces Françaises de l’intérieur) handele, dessen „vornehmes und wildes, junges, aber umsichtiges und weises, dichterisches und lebhaftes Gesicht denen der gewehrtragenden Jungen in den Strassen gleiche. Ohne Bart und mit warmen Augen sei er, gleich ob es sich um einen Universitätsstudenten oder einen chasseur du café468 handele, stolz und gleich und frei. Er habe im privaten Duell oder im Guerillakampf das Blut des Feindes geschmeckt und warte nun auf den Eintritt in die Armee, um seinen Appetit zu befriedigen“.

Die in dieser Fotoserie präsentierten, jüngsten Gemälde Picassos sind nur mit einem geringen zeitlichen Abstand entstanden: so datiert das Gemälde Marin in den Oktober 1943, während die drei Porträts der Jungen von Picasso Mitte August 1944 gemalt worden sind.469 In den Porträts von Lee Miller werden diese Gemälde durch ihre Anordnung unmittelbar

466 SWN LMA, Inv. Nr. 5925-477 und 5925-478, Negativformat 6 x 6 cm. Fotografie 36 = Abb. von LMA, Inv. Nr. 5925-478 in: Calvocoressi 2002, S. 105. Penrose 1981b, S. 137, Abb. 341. Eine Ausschnittvergrößerung des Negativs LMA, Inv. Nr. 5925-478 findet sich in: Barr Jr., Picasso 1974, S. 244. Bildunterschrift: „Picasso in his studio, September 1944. The small painting in the right foreground was done in mid-August 1944. Photograph by Lee Miller, courtesy Vogue“. 467 Lee Miller, Paris – Its Joy... Its Spirit... Its Privations, (britische) Vogue (October 1944), S. 27, 78, 95, Manuskript publiziert in: Penrose 1992, S. 67ff. 468 Chasseur du café = Junger Mann in Livree, der in den Cafés die Aufträge der Kunden besorgt. 469 Vgl. Fußnote 4644 108 aufeinander bezogen, wodurch der unterschiedliche Stil der Werke hervorgehoben wird. Es handelt sich um zwei differente Darstellungsformen470: eine konventionelle, naturnachahmende und abbildende im Fall der drei Porträts der Jungen und eine figurative, aber nicht dem Naturvorbild entsprechende im Fall des ‚Matrosen‘, der so gleichzeitig in Frontal- und Profildarstellung zu sehen ist.471

Picasso ist in allen Aufnahmen Millers vom August 1944 in konventioneller Kleidung – mit einem weißen Hemd mit Krawatte und einer Anzughose – zu sehen. In dieser bzw. sehr ähnlicher Kleidung posierte der Künstler auch für eine Fotografie von Peter Rose Pulham (1910 – 1956)472, der ihn vor dem Krieg (1938) in seinem Atelier in der Rue des Grands Augustins 7 in Paris porträtierte. Die eigentlich gesellschaftlichen Normen entsprechende Kleidung wirkt durch die zu langen Ärmel des Hemdes und eine verdrehte Krawatte aber nur bedingt elegant und könnte so zum einen auf das Desinteresse verweisen, das Picasso seinem Äußeren entgegenbracht haben soll473. Zum anderen könnte aber Picassos Anspruch, sich seinen Freunden und Besuchern, die sich nach der Befreiung der Stadt zahlreich in seinem Atelier einfanden, in konventioneller Kleidung zu präsentieren, einen Hinweis auf die Bedeutung liefern, die er dieser Kleidung gerade in sehr schwierigen Zeiten beigemessen haben könnte.

Konventionell wie die Kleidung Picassos ist auch seine Pose, über die er sich als ein arrivierter, selbstbewusster ‚Künstler’ vorstellt: mit seinen meist leicht gegrätschten Beinen steht er fest und scheinbar unverrückbar auf dem Boden, er verschränkt seine Arme ostentativ vor der Brust oder schiebt seine Hand – wie in der Aufnahme der Plastik Mann mit Schaf474 – lässig in die Hosentasche. Auch Picassos intensiver Blick, den er meistens unmittelbar auf Lee Miller richtet, trägt wesentlich dazu bei, ihn als eine äußerst selbstsichere Person wahrzunehmen. Zu Picassos Image gehört auch die Zigarette, die er in seiner Hand hält und die als Symbol für das neue Zeitgefühl der Moderne steht. Diesen Symbolcharakter machten sich viele Künstler zunutze, die sich beim Rauchen oder mit einer Zigarette in der Hand fotografieren ließen und so ihre moderne Gesinnung und ihren fortschrittlichen Charakter hervorheben wollten.475

Vier fotografische Selbstporträts (vgl. zum Beispiel Fotografie 37)476 von Pablo Picasso aus den Jahren 1915 – 1916 und weitere Fotografien, die andere Fotografen von ihm 1925 und

470 Warncke 1995, S. 403–408. 471 Zervos XIII, 167. „Le Marin. Huile sur toile. Paris, 28 Octobre 1943. 130 x 81.cm.“ Vgl. auch die Abb. in: Ausst. Kat. Paris 1966/67, Kat. Nr. 205. 472 Abb. in: Penrose 1981a, Abb. 152. 473 Vgl. Kap. 4.1.1.7. 474 SWN LMA, Inv. Nr. 5925-474, Format 6 x 6 cm, Abb. in: Penrose 1992, S. 74. 475 Vgl. Kap. 4.1.2.1.5. 476 Fotografie 37 = Abb. in: Ausst. Kat. New York 1996, S. 141. 109

1929477 aufgenommen haben, zeigen, dass sich der Künstler bereits zu dieser Zeit in einer sehr ähnlichen Haltung der Kamera präsentierte. Er hatte die Pose, in der er sich selbst wahrnahm und von anderen wahrgenommen werden wollte, also bereits frühzeitig entwickelt. Picasso modifizierte seine Mimik und Gestik, die auf ein großes Selbstvertrauen schliessen lassen, in den kommenden Jahren und Jahrzehnten nur noch geringfügig. Auch wird schon in den frühen Selbstporträts Picassos Faible für Verkleidungen und ein unkonventionelles Äußeres deutlich, da er sich nicht nur in einem sehr eleganten dunklen Anzug, sondern auch in der Kleidung von Arbeitern und den Shorts eines Boxers präsentierte. Picassos Selbstporträts und die Fotografien von 1925 und 1929 entstanden in seinen Ateliers, in denen ein künstlerisches Chaos vorherrschte: neben Gemälden, die an den Wänden lehnten oder auch in bildflächenparalleler Anordnung der Kamera präsentiert wurden, fanden sich überall die Spuren seiner Arbeit, von der unter anderem Pinsel und Farbdosen sowie auf dem Boden verstreute Malutensilien zeugen. Diese frühe, in der Tradition des gemalten und fotografierten Künstlerporträts stehende (Selbst-)Darstellung mit Gemälden lässt den Rückschluss zu, dass Picasso dieser Art von Darstellungen seiner Person zusammen mit seinen (neuesten) Schöpfungen eine große Bedeutung beimaß.478 Dafür spricht auch, dass er in den Porträts, die Brassaï (1899 – 1984) 1932479, Cecil Beaton (1904 – 1980) 1931480 oder Peter Rose Pulham 1938481 von ihm aufgenommen haben, in der für ihn typischen Pose mit einem Gemälde und einer Zigarette in der Hand zu sehen ist.

Millers Fotografien, die Picasso in späteren Jahren (ab 1944) in Pose mit seinen Werken in seinen Ateliers darstellen, weisen Übereinstimmungen zu diesen frühen Selbstporträts auf, so dass er seine eigenen, bereits früh entwickelten Vorstellungen von der Präsentation seiner Person und seiner Kunst in diesen Aufnahmen verwirklicht haben dürfte. Franz Hubmann, der 1957 zu Besuch bei Picasso war und den Künstler einen Tag lang mit der Kamera begleitete, berichtet mit den Worten „das Fotografieren war nicht leicht. Picasso sah sogar aus den Augenwinkeln, wenn ich die Kamera hob und stand sofort in Positur [...]“ von den Schwierigkeiten, die ihm das ständige Posieren Picassos bereitete.482

4.1.2.2.2 Siegmund Stróbl mit Skulpturen (Budapest, um 1945)

Als US-Kriegskorrespondentin für Vogue hielt sich Lee Miller gegen Ende des 2. Weltkrieges nicht nur in Paris auf, sondern reiste Ende 1945 nach Ungarn, wo zu dieser Zeit noch ungarischen Faschisten und ihre deutschen Verbündeten gegen die russische Armee

477 Abb. in: Quinn 1975, S. 45 und S. 53. 478 Picasso fotografierte 1908 auch André Salmon vor einem seiner Gemälde, Abb. in: Picasso and Braque: A Symposium, organized by William Rubin, New York 1992, S. 311, Abb. 7. 479 Ausst. Kat. Paris 1987, S. 40–41, Abb. 3. 480 Abb. in: Penrose 1981a, Abb. 140. 481 Abb. in: Penrose 1981a, Abb. 152. 482 Franz Hubmann, Besuch bei Picasso, Ausst. Kat., Galerie Klewan, München, 28.10.–29.11.1997, S. 10. 110 kämpften.483 Miller befand sich von Oktober 1945 bis Januar 1946 in Budapest, ehe sie ihre journalistische Arbeit für Vogue als Vorwand für weitere Reisen auf den Balkan nahm. In Budapest wohnte Miller unter anderem der Hinrichtung des faschistischen Ex-Premierministers Bardossy bei484, schuf Aufnahmen von der ungarischen Bevölkerung oder von britischen Militärangehörigen.485 Sie besuchte den ungarischen Biochemiker und Nobelpreisträger Albert Szent-Györgyi486 (1893 – 1986), den sie – wie zwei Jahre später den Vorsitzenden der Schweizerischen Atomenergiekommission Prof. Paul Scherrer487 – in seinem Labor mit seinen wissenschaftlichen Instrumenten fotografierte, und porträtierte den Bildhauer Siegmund Stróbl – wie kurze Zeit zuvor in Paris Pablo Picasso488 – mit seinen neuesten Werken in seinem Atelier.

Zsigmond Kisfaludi-Stróbl (Alsórajk, 1884 – Budapest, 1975) erlangte seinen Ruhm als Porträtbildhauer und Schöpfer von monumentalen Idealstatuen489 bereits lange vor Beginn des 2. Weltkriegs, zu seinen Werken zählen unter anderem die Porträtbüsten der britischen Kronprinzessin Elisabeth (spätere Königin Elisabeth II.) von 1934 und George Bernhard Shaws von 1932. Auch Adolf Hitler soll 1933 eine Büste bei Stróbl in Auftrag gegeben haben. Miller berichtet aber in ihren stichwortartigen Aufzeichnungen490, die ihre 1945 in Budapest entstandenen Aufnahmen ergänzen, dass das Projekt angeblich wegen gesundheitlicher Probleme Hitlers nie verwirklicht wurde.

Lee Miller war sich während ihres Besuchs bei Stróbl der großen Popularität des Bildhauers bewusst, wie man aus ihren Aufzeichnungen erfährt. Die Autorin erkennt die Qualität von Stróbls im „akademischen Stil“ gearbeiteten Werken an, bekennt aber freimütig, dass diese nicht „nach ihrem Geschmack“ seien: „Atelier von Sigismund Strobl, sehr bekannter Bildhauer --- akademisch [...] nicht nach meinem Geschmack, aber gut, verglichen mit dem was es sonst für öffentliche Gebäude, Parks und Menschen gibt.“491 Miller kritisiert so unter anderem die Größe der von ihr als „Russian style monuments“ bezeichneten, monumentalen Heldendenkmäler, relativiert ihre Aussage aber, in dem sie darauf hinweist, dass diese

483 Penrose 1985a, S. 158ff. 484 SWN LMA, Inv. Nr. M46-6 bis M46-12, M46-14, M46-16. 485 Vgl. als Beispiel die Abb. in: Penrose 1985a, S. 159, 161, 162, 165, 167. 486 SWN LMA, Inv. Nr. M46-1 bis M46-4, M46-13 bis M46-15, M46-17 bis M46-20, Abb. in: Miller 1946, S. 98. 487 Vgl. Kap. 4.1.2.1.3. 488 Vgl. Kap. 4.1.2.2.1. 489 Auf der Internetseite >http://www.kfki.hu/keptar/index2.html< wird unter dem Namen Kisfaludi-Stróbl ein Überblick über das Leben und das Werk des Bildhauers gegeben (Stand März 2002). 490 Maschinenschriftliches Manuskript von Lee Miller zu ihrem Artikel Hungary in (britische) Vogue (April 1946); das Original wird im Lee Miller Archive aufbewahrt. 491 Maschinenschriftliches Manuskript von Lee Miller zu ihrem Artikel Hungary in Vogue, April 1946: “Studio of Sigismund Strobl best known sculptor --- academic... not my taste but good.value compared to what might exist for public buildings, public parks and public men.“ 111

Skulpturen normalerweise für eine Aufstellung auf einem weiten Platz konzipiert worden seien, wodurch sich ein harmonisches Gesamtbild ergeben würde.

In Stróbls Budapester Atelier entstand während Millers Besuch eine Serie von mindestens elf Fotografien (vgl. Fotografie 38)492, in denen der Bildhauer immer mit einer Vielzahl von Skulpturen zu sehen ist. Anders als Picasso, Marini oder auch Manzù493 versuchte Stróbl aber nicht, über die Körperhaltung, den Blick oder auch eine Berührung in eine enge Beziehung zu seinen Skulpturen zu treten. Vielmehr wird in den Aufnahmen die Situation im durch Tageslicht gleichmäßig ausgeleuchteten Atelier Stróbls dokumentiert. Die Arbeitsstätte des Bildhauers wurde durch ein künstlerisches Chaos aus Künstlerutensilien und Gegenständen des täglichen Gebrauchs beherrscht. Miller erfüllt mit ihrer Beschreibung von Stróbls Werkstatt, die „[...] mit ziemlich eingestaubten Büsten von allen möglichen Leuten, darunter GB Shaw, der Prinz von Wales usw [...] von allen – außer Hitler“494 überfüllt sei, typische Klischeevorstellungen.

Von dem hohen Repräsentationsanspruch des arrivierten Bildhauers Stróbl und dem Stolz auf seine Arbeit zeugen in Millers Fotoserie nicht nur die konventionellen, klassischen Posen495, sondern auch seine elegante Kleidung – weißes Hemd, dunkle Krawatte, eine elegante Nadelstreifenhose und auf Hochglanz polierte Schuhe. Darüber trug der Bildhauer aber einen hellen Arbeitskittel, der leichte Schmutzspuren aufwies, die auf eine handwerkliche Tätigkeit schliessen lassen. In Verbindung mit dem Atelierambiente könnte diese Arbeitskleidung als ein Indiz für seine künstlerische Tätigkeit gewertet werden.

Stróbl ist in fast allen Fotografien der Serie in ganzer Figur im Mittelpunkt des Bildes zu sehen; er posierte neben seinen im Atelier präsentierten Skulpturen. Während er diesen Werken den Rücken zuwendete und so keine Beachtung schenkte, konzentrierte er sich in einer Aufnahme496 auf ein auf einem Modelliertisch stehendes Werk, an dem er eine vollendende Geste vollzog. Sicher war Stróbl die konventionelle Form der Darstellung von Bildhauern im 19. Jahrhundert497 geläufig: die Künstler wurden so im Atelier in stehender Haltung neben einem bereits ‚fertiggestellten’ Werk porträtiert, an dem sie aber noch letzte Arbeitsschritte auszuführen scheinen, um so ihr Können unter Beweis zu stellen. Man kann

492 Die Porträtserie besteht aus insgesamt elf Aufnahmen (SWN LMA, Inv. Nr. 529, m19-1 bis m19-8, m19-10 bis m19-12, Negativformat von 6 x 6 cm). In fast allen Aufnahmen wird der Künstler in ganzer Figur oder mit vom unteren Bildrand angeschnittenen Beinen in stehender Position gezeigt, nur die Aufnahme LMA, Inv. Nr. 529, m19-12 (= Fotografie 38) gibt den Bildhauer in sitzender Haltung wieder, Abb. einer Ausschnittvergrößerung in: Penrose 1985a, S. 164. 493 Vgl. Kap. 4.1.1.7, 4.1.1.3, 4.1.1.5. 494 Maschinenschriftliches Manuskript von Lee Miller zu ihrem Artikel Hungary in Vogue, April 1946: “In any case his studio is crowded with well dusted bustof [sic] everyone including GB Shaw... prince of Wales etc... everyone but Hitler.” 495 Zu Stróbls Pose zählen sein direkter Blick in die Kamera, seine gerade, aufrechte Haltung, die verschränkten oder in die Hüfte gestützten Arme sowie die leichte Grätschstellung der Beine. 496 SWN LMA, Inv. Nr. 529, M19-10. 497 Vgl. hierzu; Annette Kanzenbach, Der Bildhauer im Porträt. Darstellungstraditionen vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen, Univ., Diss., 2000. Vgl. auch Kap. 3. 112 also vermuten, dass Stróbl diese repräsentative und in der Tradition der Bildhauerdarstellung stehende Pose selbst gewählt haben könnte.

Bei dem auf dem Modelliertisch präsentierten Werk – einer weiblichen Figur mit einem Palmzweig in den hochgestreckten Händen – handelte es sich, wie Miller in ihrem Manuskript des Artikel Hungary schreibt, um den Entwurf zu einer Skulptur eines vielfigurigen Ensembles498, das anlässlich der ‚Befreiung’ Ungarns durch die sowjetische Armee in Budapest499 Aufstellung finden sollte, was zwei Jahre später (1947) auch geschah. Die kurze Zeit, die zwischen dem Entwurf und der Ausarbeitung der monumentalen Skulpturen – allein die Figur, an der der Bildhauer scheinbar arbeitet, misst in ihrer endgültigen Form 40 Meter und wird zudem noch von drei weiteren monumentalen Figuren flankiert500 – lag, liefert einen Hinweis darauf, dass der Künstler nach traditionellem Vorbild eine große Werkstatt geführt haben könnte, in der er seinem Personal bestimmte Arbeiten übertrug. Von der Existenz solcher Mitarbeiter zeugen auch Millers Aufnahmen.501 Die Vermutung, dass der Künstler lediglich für den Entwurf der Skulpturen zuständig war und deren Ausarbeitung, die natürlich seiner Kontrolle unterlag, seinen Mitarbeitern überlassen haben könnte, spricht für eine starke Nachfrage nach Werken Stróbls und somit für seinen großen künstlerischen wie finanziellen Erfolg. Vielleicht posierte Stròbl aus diesem Grund auch im schmutzigen Arbeitskittel für Miller, um so die Ernsthaftigkeit seines Schaffens zu legitimieren?

Doch wurden in Stróbls Atelier nicht nur die Entwürfe zu den einzelnen Skulpturen des Monuments präsentiert, sondern auch das Modell, das die Gesamtkonzeption des Denkmals veranschaulichte. Der Bildhauer ist also in allen Aufnahmen zusammen mit seinen jüngsten Werken sowie seinen bereits bekannten Skulpturen zu sehen, wodurch ein Hinweis auf die künstlerische Bedeutung des Porträtierten, seinen bereits erzielten und seinen zukünftigen Ruhm gegeben wird.502

Für die Publikation in Millers Artikel Hungary in der britischen Vogue wurde eine Fotografie der Serie ausgewählt (Fotografie 38)503. Sie zeigt den Bildhauer, der in einem Lehnstuhl

498 Abb. in: Lilija Stepanovna Alesina, Zigmond Kisfaludi-Strobl’, Moskau 1986, S. 88–93, Abb. 63 bis 68. 499 Das Denkmal wurde auf dem sich über die Donau erhebenden Gellert-Hügel errichtet. 500 Das Modell, das in der Aufnahme LMA, Inv. Nr. 529, M19-12 auf einem Werktisch am rechten Bildrand gezeigt wurde und das einen sowjetischen Soldaten darstellen soll, fand so unmittelbar vor der Siegesgöttin Aufstellung. Diese zentrale Figurengruppe wird von zwei weiteren Statuen flankiert – Allegorien für die Zerstörung und den Fortschritt. 501 SWN LMA, Inv. Nr. 529 m19-1 bis m19-5, m19-7. 502 Siegmund Stróbl posiert neben dem Modell der Siegesgöttin in den Aufnahmen LMA, Inv. Nr. 529, M19-10 und 529, M19-11, neben dem des sowjetischen Soldaten in den Aufnahmen LMA, Inv. Nr. 529, M19-4 bis 529, M19-7 (dieses Modell ist auch in den Aufnahmen 529, M19-8 und M19-12 dargestellt), neben dem Modell des vollständigen Ensembles ist Stróbl in den Aufnahmen LMA, Inv. Nr. 529, M19-1 bis M19-3 zu sehen. 503 Fotografie 38 = SWN LMA, Inv. Nr. 529, M19-12, Format 6 x 6 cm, Abb. einer Ausschnittvergrößerung in: Penrose 1985a, S. 164. 113

Platz genommen hatte, in ganzer Figur und der bekannten souveränen Haltung, so als handele es sich um einen Herrscher auf seinem Thron. Die Bedeutung, die Stróbl über diese Herrscherpose suggeriert, wird auch über die Fokussierung504 des Porträtierten in der Fotografie unterstrichen. Die ‚majestätische’ Erscheinung des Bildhauers wird durch den 1918 geschaffenen Gips seiner Skulptur Bogenschütze505, die 1927 im Budapester Stadtpark aufgestellt wurde und als deren Vorbild die Plastik Herakles der Bogenschütze506 (1909) von Antoine Bourdelle angesehen werden kann, perfektioniert. Es hat den Anschein, als werde Stróbl in seinem ‚Reich’ von seinem monumentalen Bogenschützen bewacht, der ihn weit überragte und der als ein Herrschersymbol verstanden werden kann.

Durch die Größe und die helle Farbe der Skulptur, deren Kontour sich so präzise vor dem dunklen Hintergrund abzeichnet, wird sie noch vor Stròbl zum bildbestimmenden Element. Hierzu trägt auch die raumgreifende, dynamische Modellierung bei, die besonders durch die Schenkelspreizung der Figur zum Ausdruck kommt und die einen absoluten Kontrast zur Haltung des porträtierten Bildhauers darstellt, der mit übereinandergeschlagenen Beinen zu sehen ist.

Durch die erhöhte Aufstellung des Gipses ragte dieser zudem aus dem künstlerischen Chaos hervor. Anders als in drei Aufnahmen507, die die Plastik in Rückenansicht und Aufsicht darstellen, wird der Bogenschütze in dieser Fotografie in Vorderansicht und Untersicht wiedergegeben, wodurch die vom Künstler intendierte Monumentalität – als ein entscheidender Faktor für die Wirkung der Skulptur – herausgestellt wird. Mit Ausnahme der Skulptur des Bogenschützen handelte es sich bei den in der Fotografie dargestellten Plastiken um klein- bis mittelformatige Werke, die aufgrund ihrer geringen Größe, ihrer dunklen Farbigkeit und/oder ihrer Präsentation in der hinteren Bildebene nur sekundär wahrgenommen werden.

Lee Miller fotografierte Sigmund Stróbl aus einer größeren Distanz, so dass neben dem Bildhauer, der in ganzer Figur mit seinen Werken dargestellt ist, auch ein Einblick in dessen Atelier gegeben wird. Dort bewahrte Stròbl zahlreiche weitere Gegenstände auf, zu denen auch ein leerer Stuhl gehörte, der am linken Bildrand sichtbar ist und über den der Blick des

504 So wird der Bildhauer nicht nur in der vorderen Bildebene gezeigt, auch der Kamerapunkt liegt in Höhe seines Gesichtes, was für die Verwendung von Millers Spiegelreflexkamera Rolleiflex spricht. 505 Abb. in: Alesina 1986, S. 42–43. 506 Antoine Bourdelle, L’héracles archer, 1908–09, Höhe 248 cm, Musée Royeaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel. Abb. in: Bourdelle, Text von Pierre Descargues, Paris 1954, S. 38–39. 507 SWN LMA, Inv. Nr. 529, M19-6 bis 529, M19-8. Acht SWN LMA, Inv. Nr. M19-1 bis M19-8) der insgesamt elf Fotografien wurden von einem erhöhten Standpunkt im Atelier – einer Art Balkon aus aufgenommen (vgl. SWN LMA, Inv. Nr. 529, m19-12). Die Fotografin wechselte ihre Position dort mehrfach, so dass aus unterschiedlichen Perspektiven ein Überblick über den Raum und die dort präsentierten Skulpturen gegeben wird. Durch die zum Teil große Aufnahmedistanz können die Monumentalstatuen in ganzer Größe dargestellt werden, während kleinere Figuren und Modelle kaum noch differenziert werden können. Miller zeigt in den Aufnahmen die zum Teil als monumentale Werke konzipierten Modelle und Skulpturen in Aufsicht, wodurch ihnen zwar allein durch ihre Größe eine besondere Präsenz im Bild zukommt, ihre Monumentalität, die ein wesentlicher Faktor ihrer Wirkung ist, aber nicht entsprechend zur Geltung kommt. 114

Betrachters auf den Porträtierten geleitet wird. In unmittelbarer Nähe des Künstlers sind auch ein mit Hüten und Mänteln vollbeladener Garderobenständer und ein Fahrradreifen zu sehen. Die würdevolle, stolze Pose des Künstlers wird durch die Verbindung des Porträtierten mit seiner Skulptur des Bogenschützen noch unterstrichen, während dieser Eindruck durch die alltäglichen Gegenstände, die er – anders als Pablo Picasso – nicht zur Schöpfung neuer Kunstobjekte verwendete, fast schon karikiert wird.

Obwohl auch andere Porträts von Lee Miller im Atelier entstanden sind, wie beispielsweise die bereits vorgestellten Aufnahmen von Pablo Picasso508 mit seiner Skulptur des Babys in seinem Atelier in Vallauris, unterscheiden sich diese in der Gewichtung der Darstellung von Raum und porträtiertem Künstler von den hier angeführten Fotografien. Die Künstler und ihre Werke treten in den Mittelpunkt der Aufnahme, der Bildraum, der fast schon auf ein Minimum reduziert wird, wird allein durch die dargestellten Werke als ein künstlerischer Raum angesprochen. In den Aufnahmen, die in Budapest in den Arbeitsräumen von Stróbl entstanden sind, bietet sich dem Betrachter eine fast klassische Ateliersituation dar, in der die nach akademischen Regeln konzipierten Werke Stróbls Aufstellung gefunden haben, umgeben von den im Werkprozess benötigten Utensilien wie Tischen zum Modellieren und Leitern, um die Monumentalskulpturen bearbeiten zu können, sowie Mitarbeitern des Bildhauers.509 Lee Miller war also in erster Linie an der Darstellung des Ateliers und der Werke interessiert. In diese Szenerie wird der Künstler als ein wichtiger Bestandteil der Ateliersituation eingebunden. Dass Lee Miller dieses Darstellungsmuster nicht nur im Falle eines Künstlers anwendete, dessen Kunst sie eigener Aussage zufolge („not my taste“) weniger schätzte oder bei dem es sich nicht um einen engen Freund der Fotografin handelte, zeigt ein Vergleich mit den Porträts von Pablo Picasso 1944 in seinem Pariser Atelier mit seiner Skulptur Mann mit Schaf.

4.1.2.2.3 Kay Sage mit Gemälden, u. a. I saw three cities (Woodbury, 1946)

Rund eineinhalb Jahre nach den Aufnahmen von Sigismund Stróbl entstanden im Sommer 1946 während der USA-Reise von Lee Miller und Roland Penrose die Porträts510 der amerikanischen Malerin Kay Sage mit ihren Werken. Während ihres USA-Aufenthaltes schuf Miller – auch als freie Arbeiten – die bereits vorgestellten Fotoporträts von Isamu Noguchi und Wifredo Lam511. Der Bildhauer und der Maler wurden von Miller mit ihrer Kunst in einem neutralen Umfeld fotografiert, für die Darstellung von Kay Sage und ihres Mannes Yves Tanguy512 dienten die Ateliers der surrealistischen Künstler als Aufnahmeort. Doch erfährt der Betrachter der Fotoserie – wie bei Wifredo Lam – nicht nur etwas über das künstlerische

508 Vgl. Kap. 4.1.1.7. LMA, Inv. Nr. P 0872, LMA, Inv. Nr. P 0873, LMA, Inv. Nr. P 1040, LMA, Inv. Nr. P 1044. 509 SWN LMA, Inv. Nr. 529, m19-1, m19-2, m19-3, m19-4, m19-5, m19-6, m19-7, m19-8. Negativformat 6 x 6 cm. 510 LMA, Inv. Nr. A 0063 bis A 0071 und A 0074, vgl. auch A 0060 bis A 0062. 511 Vgl. Kap. 4.1.2.1.2 und 4.1.2.1.8. 512 Vgl. Kap. 4.1.4.2.3. 115

Interesse der Porträtierten, Millers Aufnahmen zeigen Sage und Tanning auch in ihrem gewohnten Umfeld und stellen so einen alltäglichen Aspekt ihres Lebens dar.

Kay Sage513 (Albany, 25.06.1898 – Woodbury, 1963) wurde als Tochter eines reichen Industriellen und Politikers geboren, was ihr eine finanzielle Unabhängigkeit garantierte, so dass sie ihren Lebensunterhalt nicht, wie viele andere Künstler, mit Auftragsarbeiten verdienen musste. Die Künstlerin ließ sich im März 1937 in Paris nieder (auch Lee Miller hielt sich im Sommer 1937 kurzfristig in Paris auf und könnte Sage bei dieser Gelegenheit kennen gelernt haben), verließ Europa aber wegen des Ausbruchs des 2. Weltkriegs und kehrte im Oktober 1939 in die USA zurück.

Kay Sage war – wie auch Lee Miller – niemals ein aktives Mitglied der Gruppe der Surrealisten um Breton, ihre Kontakte beschränkten sich auf ihre Beziehung zu Yves Tanguy. Das Verhältnis zwischen den Surrealisten und Sage war vielmehr schwierig, da diese die Frau und Künstlerin aus unterschiedlichen Gründen ablehnten. Trotzdem unterstützte Sage die surrealistische Bewegung finanziell und trug nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für die Emigration einzelner Surrealisten – allen voran Yves Tanguy – in die USA Sorge. Dort ließ sie ihnen – mit der Intention, surrealistische Kunst in den USA bekannter zu machen – vielfältige Unterstützung zukommen.514

Kay Sage und Yves Tanguy, die 1940 geheiratet hatten, mieteten sich im Herbst 1941 ein Haus in Woodbury, einer kleinen Stadt im westlichen Connecticut. Die Städte dieser amerikanischen Region beherbergten bereits in den Jahren des Ersten Weltkriegs zahlreiche Künstler und Schriftsteller, die aus Europa geflohen waren. Während der 1930er Jahre und im Lauf des Zweiten Weltkriegs siedelten sich dort erneut viele Künstler an. 1946, dem Jahr also, in dem Lee Miller und Roland Penrose die beiden in Connecticut besuchten, kauften Sage und Tanguy dort die Town Farm, die mit getrennten Ateliers für die beiden Maler ausgestattet war.515

Die mindestens zehn Porträts, die Lee Miller im Ambiente des Ateliers von Kay Sage aufgenommen hat, zeigen die Künstlerin in traditioneller Pose und konventioneller Kleidung mit ihren Werken und wiederholen so ein über lange Zeit im Bereich des fotografischen Künstlerporträts tradiertes Schema516. Die Distanz, die Lee Miller zu Sage und ihren im Atelier präsentierten Werken einhielt, ermöglichte die Darstellung eines weiten Raumausschnitts, in dem nicht nur die Werke, sondern auch die künstlerischen Utensilien (zum Beispiel Pinsel und eine Staffelei) für eine entsprechende Nutzung des Raumes ‚sprechen’.

513 Zur Biografie von Kay Sage siehe: Judith D. Suther, A House of Her Own, Kay Sage, Solitary Surrealist, Lincoln [u. a.], o. J. 514 Suther, S. 76ff, 84ff, 89, 94, 102. 515 Suther, S. 96f, 106, 114f, 117. Katharina Schmidt (Hrsg.), Yves Tanguy, Retrospektive 1925–1955, Ausst. Kat., Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 17.10.1982–2.1.1983, S. 113. 516 Vgl. Kap. 3. 116

Kay Sage posierte für Miller mit bzw. unmittelbar neben drei Leinwänden, denen aufgrund ihrer Größe, ihrer optimalen bildflächenparallelen Ausrichtung und ihrer zentrierten Stellung im Bild eine besondere Betonung zukommt. Zwei dieser Werke, bei denen es sich um weit ausgearbeitete, scheinbar bereits vollendete Gemälde handelt, haben auf oder unmittelbar vor einer Staffelei Aufstellung gefunden, während die Künstlerin den dritten Bildträger in der Hand hält.517 Zumindest eines der beiden vollendeten Werke kann als eine Arbeit der surrealistischen Malerin – das 1944 entstandene, also relativ aktuelle Werk I saw three cities518 – identifiziert werden, während die zweite, auf der Staffelei präsentierte Arbeit anhand der Literatur bislang leider nicht bestimmt werden kann. Bei der Leinwand, die Sage in den Händen hielt und von der in einigen Aufnahmen519 so nur die Rückseite zu sehen ist, handelte es sich um einen noch unbemalten Bildträger, der im allgemeinen als ein Zeichen für die schöpferische und visionäre Kraft eines Künstlers steht.520

Kay Sage präsentierte sich der Kamera Lee Millers in einer konventionellen, repräsentativen Pose, die aber ihre Zurückhaltung und Unsicherheit nicht kaschieren kann. Zwar blickte die Künstlerin in sechs Fotografien521 bei zum Teil frontaler, ganzfiguriger Darstellung direkt in die Kamera oder ist in der vorderen Bildebene zu sehen, doch schien Sage hinter ihrer Kunst fast schon ‚Schutz’ zu suchen, so dass die Gemälde ihren Körper partiell verdecken. In allen Aufnahmen stellte sich Sage der Kamera mit einer unbewegt und starr wirkenden Mimik und ist meist mit herabgezogenen Mundwinkeln, die sie nur ansatzweise zu einem Lächeln verzog, zu sehen. Nicht nur ihr Gesichtsausdruck, auch die leicht zusammengesunkene Körperhaltung vermitteln nicht den Eindruck einer dynamischen und selbstbewussten Künstlerpersönlichkeit, als die sich zum Beispiel immer Pablo Picasso oder auch Dorothea Tanning in ihren Porträts darstellten. In allen Fotografien scheint die Künstlerin – wie Wifredo Lam und Isamu Noguchi522 – die Aufmerksamkeit, die ihr durch die Anwesenheit der Fotografin zuteil wird, von sich abwenden zu wollen.

Mit einer wohl überlegten und einstudierten Pose wollen die Porträtierten im ‚entscheidenden Augenblick’ ein vorab definiertes Bild von sich selbst liefern und so von ihrer eigentlichen Persönlichkeit ablenken. Kay Sage ist dies in Millers Porträts scheinbar nicht gelungen, denn der erste Eindruck, den man von ihr bei der Betrachtung der Fotografien gewinnt, deckt sich mit den Äußerungen von Menschen, die Sage kannten und die sie als “unfreundlich, launisch, leicht zornig, unnahbar, einsam, zurückhaltend und widerspruchsvoll“, als eine

517 LMA, Inv. Nr. A 0063 bis A 0066 und A 0068 bis A 0071. 518 Suther, S. 107, Abb. in: Chadwick 1993, Abb. 56. 519 SWN LMA, Inv. Nr. A 0066, A 0068, A 0071, A 0074. 520 Göke 2000, S. 263 „[...] spielt das leere Blatt oder die unbemalte Leinwand auf die geistige Konzeption des Werks an, die der Ausführung vorausgeht und als „idea“ deren wichtigsten Bestandteil darstellt. Die Zeichnung in der Künstlerdarstellung kann hingegen als Verbildlichung des „design“ („disegno“) angesehen werden, womit ebenfalls die geistige Erfindungskraft angesprochen ist, ist doch „disegno“ laut vasari der „Vater“ von Malerei, Bildhauerei und Architektur.“ Vgl. Picasso, Kap. 4.1.2.3.4. 521 SWN LMA, Inv. Nr. A 0063, A 0065, A 0066, A 0068, A 0069, A 0071. 522 Vgl. Kap. 4.1.2.1.2 und 4.1.2.1.8. 117

Frau, die „nicht nett und liebenswert“ war und nur selten gelächelt haben soll, beschreiben.523

Während Sage neben ihren vollendeten Werken posierte, ohne sie zu betrachten, schenkte sie dem noch leeren Bildträger ihre ganze Aufmerksamkeit. In zwei Fotografien524 ist sie zu sehen, wie sie die noch unbearbeitete Leinwand mit einem Hammer am Spannrahmen befestigt. Kann die Porträtierte durch die Darstellung im Atelier als eine Frau, die mit Kunst und Künstlern vertraut ist und bei der es sich durchaus – wie bei Peggy Guggenheim – um eine Mäzenin handeln könnte, angesehen werden, so wird dieser erste Eindruck durch ihre Tätigkeit konkretisiert. Die Arbeit, die Sage ausführt, könnte mit der entsprechenden Kenntnis zu einer vorbereitenden Phase im Werkprozess gezählt und Sage als eine Künstlerin angesprochen werden. Die Vermutung, dass es sich bei der Porträtierten um die Schöpferin der dargestellten Werke handeln könnte, wird auch in einer weiteren Aufnahme gestützt: die auf bzw. vor der Staffelei präsentierten Werke sind so mit einer leichten perspektivischen Verkürzung zu sehen und auf die Künstlerin, die unmittelbar neben ihren Gemälden steht, ausgerichtet.

Lee Miller fotografierte Kay Sage in einem Raum mit hellen Wänden und einem dunklen Holzfußboden, bei dem es sich um einen ehemaligen Stall in einer Scheune handelte und der – anders als beispielsweise die Ateliers von Picasso – durch seine Klarheit und Ordnung besticht. Auch die Pinsel der Künstlerin wurden fein säuberlich und in Dosen geordnet aufbewahrt.525 In den Aufnahmen werden keine weiteren, zum Beispiel im Studio lagernden oder auch an den Wänden präsentierten Werke gezeigt. Dass es sich bei der Porträtserie Lee Millers um eine wirklichkeitsnahe Schilderung des Ambientes handelt, in dem die Künstlerin arbeitete, kann anhand verschiedener Augenzeugenberichte gestützt werden. So führt Sages Biographin Judith Suther an, dass die Künstlerin für ihre Arbeit nur erstklassige Materialien verwendete, die sie zwischen den einzelnen Sitzungen peinlich sauber hielt. Sage soll jegliche Unordnung und Störung in ihrem Atelier – auch durch Tanguy – vermieden haben. Suther zitiert auch den Galeristen Julien Levy, der in einem 1972 geführten Interview auf die außerordentliche Ordnung in den Ateliers hinweist: „Ihre Ateliers waren so rein und fleckenlos, dass man denken könnte, sie würden überhaupt nicht malen. Sie reihten ihre Pinsel und Farben so auf, als handele es sich um chirurgische Instrumente.“526 Diesen Eindruck gewann auch William Copley beim einem Besuch in Tanguys Atelier – das von Sage hatte er sich laut eigener Aussage als „Weiberfeind“ nicht so genau angesehen.527 Auch das Erscheinungsbild Sages entspricht in den Porträts von Lee Miller der Beschreibung ihrer Arbeitsumstände: so trug sie keine fleckige Arbeitskleidung, sondern eine repräsentative und elegante Garderobe, bestehend aus Bluse und Rock.

523 Suther, S. 124ff. 524 SWN LMA, Inv. Nr. A 0070 und A 0071. 525 SWN LMA, Inv. Nr. A 0063 bis A 0065, A 0067, A 0070 und A 0071. 526 Suther, S. 8: „Their studios were so immaculate you wouldn’t think they did any painting. They filed their brushes and their paints as if they were surgical instruments.” 527 Ausst. Kat. Baden-Baden 1982/83, S. 113. 118

4.1.2.2.4 M. Ernst und D. Tanning mit Gemälden, u. a. Un peu de calme (Huismes, um 1956)

1946 fotografierte Lee Miller während ihrer USA-Reise nicht nur Kay Sage, sondern auch Max Ernst und Dorothea Tanning, die zu dieser Zeit in dem kleinen Ort Sedona in der Wüste Arizonas lebten. Die dort entstandenen Aufnahmen528 zeigen die beiden surrealistischen Maler nicht nur im Atelier und somit als kunstinteressierte Menschen529, sondern auch in ihrem Leben jenseits der Kunst.

Diese beiden Aspekte, die Millers Fotoserien seit Mitte der 1940er Jahre regelmäßig aufweisen530, finden sich auch in einer Serie von mindestens 19 Fotografien531, die Lee Miller um 1956 von Max Ernst und Dorothea Tanning in ihrem Domizil im französischen Huismes aufgenommen hat. Miller fotografierte ihre Freunde und Kollegen nicht nur in ihrer künstlerischen Welt, sondern auch in ihrer alltäglichen Umgebung als gewöhnliche Menschen. Wie bei Picasso, Miró oder Tàpies war aber auch allein das Ambiente, das Ernst und Tanning in ihrem Anwesen Le Pin Perdu in Huismes geschaffen haben, für Miller von Interesse.532

Max Ernst533 (Brühl, 2. April 1891 – Paris, 1. April 1976) gehörte zu den Künstlern, die von den Nationalsozialisten seit ihrer Machtgergreifung 1933 verfemt und deren Werke 1937 in der NS-Ausstellung Entartete Kunst präsentiert und mit Hohn und Spott bedacht wurden. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges konnte Ernst der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime, das Frankreich besetzt hielt und das ihn 1939 und 1940 zweimal als „feindlicher Ausländer“ verhaften ließ, nur durch seine Flucht aus Frankreich und die anschließende, von Peggy Guggenheim unterstützte Emigration in die USA (1941) entgehen.

Ernst lebte zu dieser Zeit mit der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington im südfranzösischen Saint-Martin d’Ardèche zusammen, wo ihn Miller und Penrose im September 1939 besuchten534. Die Wirren des Krieges und der Flucht führten schließlich zur unfreiwilligen Trennung von Carrington und Ernst, der 1941 Peggy Guggenheim heiratete;

528 Einige der Fotografien, in denen die Auseinandersetzung eines riesenhaften Max Ernst und einer winzigen Dorothea Tanning zu sehen ist, stellen über die surreale Inszenierung und das besondere Interesse der Protagonisten an einem solchen Arrangement auch eine indirekte Verbindung zu ihrer speziellen Rolle als Künstler her (vgl. Kap. 4.3.4). 529 Vgl. Kap. 4.1.4.1.5. 530 Vgl. die Serien von Wifredo Lam, Kay Sage und Yves Tanguy. 531 SWN LMA, Inv. Nr. A 0378 bis A 0386, A 0425 bis A 0434, Negativformat 6 x 6 cm. Vgl. auch die SWN LMA, Inv. Nr. A 0485 bis 0495. 532 SWN LMA, Inv. Nr. A 0367, A 0368, A 0369. 533 Zur Biografie von Max Ernst vgl. zum Beispiel: Skulpturen, Häuser, Landschaften, Ausst. Kat. Musée national d’art moderne/Centre Georges Pompidou, Paris, 5.5.–27.7.1998, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 5.9.–29.11.1998, S. 278–306. 534 Vgl. Kap. 4.2, Porträts von 1929–1940. 119 die Ehe wurde schon 1943 wieder geschieden. 1946 wurde die amerikanische surrealistische Malerin Dorothea Tanning535 (geb. Galesburg, Illinois, 25.8.1910) Ernsts dritte Frau, mit der er sich in Sedona niederließ. Ernst und Tanning kehrten 1953 nach Frankreich zurück, wo sie zunächst in Paris, ab 1955 aber in Huismes bei Tours lebten. Nur kurze Zeit später erhielten sie dort Besuch von Lee Miller und Roland Penrose.

Obwohl zwischen den Porträtserien von Kay Sage (1946) und Max Ernst und Dorothea Tanning (um 1956) eine Zeitspanne von rund zehn Jahren liegt, lassen sich in der Inszenierung von Kunst und Künstler Analogien aufzeigen. Wie Sage sind Tanning und Ernst im Atelier fotografiert worden, das als Genius Loci traditionell eine bedeutende Rolle bei der Darstellung von Künstlern spielt. In dieser durch die dort zahlreich präsentierten Gemälde und berufstypischen Werkzeuge künstlerisch geprägten Atmosphäre posierten sie – wie Kay Sage – neben einer Staffelei, auf der ausgewählte Arbeiten vorgestellt wurden. Dorothea Tanning und Max Ernst, die sich 1942 anlässlich einer von Peggy Guggenheim, Ernsts zweiter Frau, organisierten Ausstellung 31 Künstlerinnen kennenlernten, arbeiten in getrennten Ateliers, in denen sie sich – wie Tanguy und Sage – nur auf Aufforderung besucht haben sollen.536 Als Aufnahmeort der Porträtserie kann aufgrund der dargestellten Werke das Atelier von Max Ernst identifiziert werden. Dafür spricht auch, dass Max Ernst am gleichen Ort von Miller auch beim Zeichnen beobachtet wurde, wobei eine reale Arbeitssituation suggeriert wurde.537

Eines der Gemälde, die abwechselnd auf der zentriert dargestellten Staffelei aufgestellt worden sind, war La chasse aux papillions en Touraine538 von 1955. Dieses relativ aktuelle Werk steht für den bereits erworbenen und zukünftigen Erfolg von Ernst, während weitere, ältere Gemälde, die im Hintergrund der Aufnahme zu sehen sind und deren große Zahl gleichbedeutend für eine grosse Produktivität ihres Schöpfers steht, von dessen bereits erzieltem künstlerischen Ruhm zeugen539. Unter den im Atelier aufbewahrten Werken kam der Arbeit Un peu de calme540 von 1939 durch das große Format (169,8 x 325 cm) und die fast optimale Präsentation –

trotz der Hängung an der hinteren Atelierwand – eine besondere Bedeutung zu. Die Präsenz dieses Werks im Atelier bietet einen Terminus post quem für die Datierung der Fotoserie, da Ernst das Gemälde erst 1956 aus Saint-Martin d’Ardèche, wo es seit seiner Emigration im

535 Zur Biografie Dorothea Tannings siehe Kap. 4.1.4.1.5. 536 Tanning, Birthday, S. 165ff. 537 SWN LMA, Inv. Nr. A 0425 und A 0426, A 0381 und A 0382. 538 „La chasse aux papillions en Touraine, Öl auf Leinwand, 100,3 x 73,7 cm, bezeichnet rechts unten max ernst 55“, Abb. in: Spies/Metken, Bd. 6, S. 34, Kat. Nr. 3109. 539 Vgl. auch Pablo Picasso, Kap. 4.1.2.2.5 und Sigismund Stróbl, Kap. 4.1.2.2.2. 540 „Un Peu de calme, Öl auf Leinwand, 180 x 325 cm, bezeichnet ganz rechts unten max ernst 1939, rückseitige Beschriftung Un peu de calme max ernst“, Abb. in: Spies/Metken, Bd. 5, S. 14, Kat. Nr. 2329. 120

Keller seines Hauses stand, abgeholt und anschließend überarbeitet haben soll.541 In diesem Fall könnten die Aufnahmen Millers frühestens 1956 entstanden sein, obwohl die im Archiv verwahrten Kontaktabzüge in das Jahr 1950 datiert wurden und Miller und Penrose bereits 1955 Reisen in Frankreich (und Spanien) unternommen haben sollen.

Über die im Atelier präsentierten oder lagernden Werke sowie die typischen Werkzeuge und Utensilien – also die charakteristischen Accessoires – können Ernst und Tanning in der Inszenierung zumindest als künstlerisch interessierte Menschen angesprochen werden. Zusätzlich halten die beiden surrealistischen Maler auch Pinsel in den Händen. Doch selbst wenn der Betrachter durch diese Hinweise vermuten könnte, dass es sich bei den Dargestellten um Künstler handelt, so stellt sich doch die Frage, wer von den beiden die dargestellten Gemälde geschaffen haben könnte. Auch wenn der Betrachter der Fotografie keine Informationen über die Physiognomie der Porträtierten und die abgebildeten Werke hat, gibt es im Bild ein Indiz dafür, wer als Urheber der Gemälde angesehen werden könnte. So werden die Staffelei und das auf ihr aufgestellte Gemälde – wie bei Kay Sage – nicht bildflächenparallel wiedergegeben, sondern sind auf den Künstler, in diesem Fall Max Ernst, ausgerichtet, wodurch seine Person hervorgehoben wird. Dies wird zudem durch seine zentrale Position im Bild542 unterstrichen.

Ernst stand während der Fotositzung neben oder saß auf einem kleinen Hocker vor der Staffelei, so dass er seine Frau, die sich auf dem Boden niedergelassen hatte, immer um mindestens Kopfeshöhe überragte.543 Bei dem Schemel, auf dem der Künstler posierte, könnte es sich um seinen gewohnten Arbeitsplatz gehandelt haben, den er verwendete, um den unteren Bereich des großformatigen Werks auf der Staffelei bearbeiten zu können. Für eine repräsentative fotografische Darstellung war diese – zu niedrige – Sitzgelegenheit aber denkbar ungeeignet, so dass Ernst mit seinem zusammengesunkenen Körper und den hochgerutschten Hosenbeinen eine geradezu linkische Erscheinung bot. Anders seine Frau, die sich trotz ihrer halb liegenden, halb sitzenden, aber dennoch dynamisch wirkenden Haltung, zu der auch ihr hocherhobener Kopf zählt, als eine selbstbewusste Frau darstellte, was Kay Sage trotz ihrer Pose nicht gelungen war.

In einer ähnlich souveränen Haltung ist Tanning auch in weiteren Doppelporträts zu sehen, die sie zusammen mit Ernst im Fotostudio ohne einen künstlerischen Bezug zeigen und die 1950 von Lee Miller544 und 1947 von Irving Penn545 aufgenommen worden sind. Penn ließ

541 Ausst. Kat. Paris 1998, S. 292. 542 Ernst wird auf der Linie, die die Bildfläche im Verhältnis des Goldenen Schnitts teilt, dargestellt. 543 Max Ernst wird lediglich in einem Doppelporträt (SWN LMA, Inv. Nr. A 0428) im Stehen gezeigt. 544 Die Serie besteht aus mindestens vier Aufnahmen. Neben den beiden Studioporträts von Max Ernst und Dorothea Tanning (SWA LMA, Inv. Nr. A 0874 und A 0857) schuf Miller zwei weitere Fotografien von Ernst im Freien (SWA LMA, Inv. Nr. A 0877 und ohne Inv. Nr., Abb. in: Penrose 1981b, S. 286, Abb. 686). 545 Abb. in: Irving Penn, Fotografier en donation till minne av Lisa Fonssagrives-Penn, Ausst. Kat., Moderna Museet, Stockholm, 26.12.1995–3.3.1996, S. 262, Abb. 136. Jürgen Pech (ff) 121 den Personen, die er fotografieren wollte, größtmögliche Freiheit während der Porträtsitzung. Der Fotograf stellte seinen Modellen in seinem Studio lediglich die Kulisse zur Verfügung, die im Fall von so unterschiedlichen Künstlern wie beispielsweise Salvador Dalí, Marc Chagall, Le Corbusier oder auch John Marin aus einem beliebig formbaren Teppichstück in einem neutralen Umraum bestand. Penn soll seinen prominenten Modellen nur minimale Anweisungen gegeben und sie lediglich aufgefordert haben, direkt in die Kamera zu blicken.546 Innerhalb des Bühnenarrangements konnten sie ihre Pose frei wählen, was auch Dorothea Tanning und Max Ernst taten. Da Dorothea Tannings Haltung in dem Porträt von Irving Penn (*1917) von 1947 sehr stark an ihre Pose in Millers 1950 entstandener Aufnahme erinnert, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch Lee Miller ihren Modellen keine bestimmten Inszenierungen vorschrieben hat, auch wenn die Übereinstimmungen zwischen den konventionell konzipierten Porträtserien von Kay Sage (1946) und Max Ernst und Dorothea Tanning (um 1956) dies vermuten lassen könnten. Dies läßt auch einen Rückschluss auf die Art und Weise, in der sich Max Ernst der Kamera präsentiert, zu. Max Ernst war auch bereits seit langem mit der klassischen Form der Künstlerdarstellung vertraut, wie ein Porträt aus dem Jahr 1920 zeigt. Ernst ist in dieser Fotografie547 in einer sehr ähnlichen Haltung wie 1956 und mit den traditionellen Accessoires eines Malers (Gemälden, Pinseln und Palette) zu sehen und trägt den charakteristischen Malerkittel. Dass dieses besondere Arrangement durchaus zu seinem Repertoire gehört haben könnte, zeigen auch die Fotografien548 von Karlheinz Bauer, der Max Ernst rund acht Jahre nach Miller (im Oktober 1963) in dessen Atelier in Huismes porträtierte.

In Millers Fotoserie von ca. 1956 sind Ernst und Tanning aber weder – wie in den Studioporträts (1950) und den Aufnahmen von Penn (1947) – in eleganter Garderobe noch in typischer Arbeitskleidung zu sehen, wodurch Künstler in der Regel auf ihren Erfolg oder die Ernsthaftigkeit, mit der sie sich ihrem Schaffen widmen, verweisen wollten, sondern bieten eine eher ungewöhnliche Erscheinung. Max Ernst trug so eine dunkle, schmutzige und zerlöcherte Jacke, die an die Kleidung eines Handwerkers erinnert, und eine ebensolche Jeans. Diese zerlumpte Erscheinung wird durch die Frisur von Max Ernst perfektioniert, dem in der Aufnahme die Haare ‚wild zu Berge stehen’. Es hat den Anschein, als habe der Künstler seine Arbeit im Garten – von der weitere Aufnahmen549 Millers zeugen – nur unterbrochen, um Lee Miller im Atelier Modell zu stehen, da die Schuhe in der Darstellung an den Rändern noch mit Erde bedeckt sind. Auch die Kleidung Dorothea Tannings, die über ihrem einfachen, dunklen Kleid eine dunkle Schürze mit hellen Punkten trug, lässt an eine

(Red.), Max Ernst im photographischen Porträt, Ausst. Kat., Max-Ernst-Kabinett, 21.3.–31.8.1985, S. 193, Kat. Nr. 134. Reinhold Mißelbeck (Hrsg.), Celebrities – Celebrities, Photographische Portraits aus der Sammlung Gruber im Museum Ludwig, Köln 1995, S. 53. 546 Ausst. Kat. Stockholm 1995/96, S. 37. Vgl. auch die Abbildungen S. 131, 135, 137, 139, 141 und S. 145, 151, 155, 157. 547 Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 31. 548 Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 310. 549 SWN LMA, Inv. Nr. A 0422 bis A 0424. 122

Tätigkeit in Haus oder Garten denken, ein Eindruck, der durch den kleinen Henkelkorb, den sie in den Aufnahmen auf ihrem Schoß gestellt hat, noch verstärkt wird.

4.1.2.2.5 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Nu assis et nu debout (Cannes, 1956)

In seiner Biographie Picasso – Leben und Werk verweist Roland Penrose auf die Gewohnheit Pablo Picassos, seinen Besuchern in spontan arrangierten Präsentationen in seinen Domizilen seine neuesten Werke vorzustellen. Für Angela Rosengart sind diese Besucher „ihm wohl auch Anlass, seine Werke mit anderen Augen zu betrachten.“550 Neben anderen Fotografen wie beispielsweise Brassaï (1899 – 1984)551 oder Lucien Clergue (*1934)552 fotografierte Lee Miller Pablo Picasso nicht nur bei den Vorbereitungen für eine solche Werkschau553, sondern porträtierte wie auch Arnold Newman (*1918)554, Dora Maar555, Edward Quinn556, David Douglas Duncan557 und Lucien Clergue558 den Künstler in repräsentativer Pose mit seinen zur Präsentation zusammengestellten Werken seit 1944 in diversen Fotoserien559.

Auffallend ist, dass Picasso in allen Fotografien, die ihn mit seinen Gemälden zeigen, diesen den Rücken zuwendet, also nur neben seinen Bildern posiert, ohne über eine Berührung oder einen Blick eine Beziehung zwischen dem Werk und seiner Person herzustellen. Diese Aufnahmen stehen in völligem Gegensatz zu Millers witziger Fotoserie, die den Bildhauer in einem innigen Verhältnis mit der Babyskulptur aus Frau mit Kinderwagen im Jahr 1954 darstellt oder aber auch den Fotografien, die den spanischen Künstler im ‚Gespräch’ mit einem metallenen Porträtkopf Jacquelines zeigen560.

550 Rosengart 1957, S. 45 551 Ausst. Kat. Paris 1987, S. 76–77, Abb. 25–26. 552 Clergue [1993], S. 113. 553 Vgl. zum Beispiel SWN LMA, Inv. Nr. P 0496 und neuer Abzug LMA, Inv. Nr. P 0770. 554 Abb. in: Ausst. Kat. Paris 1991, o. Pag.: Foto Lucien Clergue, Picasso surrounded by his paintings, Mougins, Mas Notre-Dame-de-Vie 1965. 555 Abb. in: Penrose 1981a, S. 67, Abb. 171. 556 Abb. in: Quinn 1987b, S. 223, 224, 235, 236, 237. Abb. in: Penrose 1981a, S. 98, Abb. 263 (Foto Edward Quinn). 557 Abb. in: Duncan 1981, S. 24, 67. 558 Abb. in: Ausst. Kat. Paris 1991, o. Pag.: Foto Arnold Newman: Picasso with his paintings: Vallauris, Le Fournas, 1954. 559 Vgl. Kap. 4.1.2.2.1. 560 Vgl. Kap. 4.1.1.7 und Kap. 4.1.1.10. 123

Eine Serie von mindestens sieben Aufnahmen (vgl. Fotografie 39)561 kann über die dargestellten Werke in das Jahr 1956 datiert werden. Die Fotografien sind, wie man am Interieur erkennen kann, in Picassos Jugendstilvilla La Californie in Cannes aufgenommen worden, wo der Künstlers seit Mai 1955 lebte. Wieder wählte Picasso für sein Porträt die für ihn fast schon typische Pose, die von seinem enormen Selbstbewusstsein zeugt, und stellte sich mit seinen zur Präsentation arrangierten Werken dar. Picasso ist so zu sehen, wie er inmitten von mindestens zwei bis maximal vier zum Teil großformatigen Leinwänden steht562 oder hockt (Fotografie 39)563. An Picassos linker Seite ist das Gemälde Femmes à la toilette (= Nu assis et nu debout = Two Nudes)564 aufgestellt worden, während rechts von ihm zwei Werke aus der Serie der Atelierbilder des Jahres 1956 sichtbar sind.565 Die wechselnde Anzahl an Gemälden resultiert aus unterschiedlichen Aufnahmedistanzen, die unterschiedliche Ausschnitte nach sich zogen. Grundsätzlich wurde der Künstler von Miller wie 1944 in Paris mit seinen Werken von einem distanzierteren Standort aus aufgenommen, da die Fotografin nur so die großen Formate der Gemälde, die zudem noch auf Staffeleien standen, in ganzer Größe erfassen konnte. Auf diese Weise wird, wie in der zwölf Jahre zuvor entstandenen Serie, der Einfallsreichtum und die Schöpfungskraft Picassos herausgestellt.

Obwohl diese Gemälde, bei denen es sich um die neuesten Werke des Künstlers aus dem Jahr 1956 handelte, nicht parallel zur Bildfläche angeordnet worden sind und so eine leichte perspektivische Verkürzung aufweisen, verlieren sie – nicht zuletzt durch ihre enormen Abmessungen und ihre in einigen Aufnahmen bildfüllende Darstellung566 – nichts von ihrer Präsenz und Ausdruckskraft. Picasso kann sich in den Aufnahmen aber durch seine bereits

561 SWN LMA, Inv. Nr. P 0895 (= Fotografie 39), 0896, 0897, 0898, 0899, 0900, 0901, Negativformat 6 x 6 cm. Miller nahm zusätzlich zu den Porträts des Künstlers noch mindestens eine weitere Fotografie auf, in der nur das Atelier Picassos in La Californie zum zentralen Motiv wird, Abb. in: Penrose 1981a, S. 73, Abb. 227. 562 SWN LMA, Inv. Nr. P 0896, 0897, 0898, 0899, 0900, 0901. 563 SWN LMA, Inv. Nr. P 0895, Abb. in: Livingston 1989, S. 158. 564 Abb. in: Zervos XVII, 54. Ausst. Kat. Paris 1966/67, Kat. Nr. 246. „Deux femmes nues. Huile sur toile: 195 x 130 [cm]. Cannes, Janvier–Avril 1956, Daté au dos: 4–I–56.“ 565 Trotz seiner enormen Höhe von 195 cm wurde Femmes à la toilette auf einer Staffelei aufgestellt und überragt so den eher kleinwüchsigen Picasso. Obwohl es mit 114 x 146 cm ein deutlich kleineres Format als Femmes à la toilette aufweist, verläuft L’Atelier („Femme dans l’atelier“, Abb. in: Zervos XVII, 67. Ausst. Kat. Paris 1966/67, Kat. Nr. 247. „L’Atelier. Huile sur toile: 114 x 146. Cannes, 2 Avril 1956. Signé en haut, à droite: Picasso. Daté au dos: 2–4–56 III/8–4–56. Z., XVII, no. 67.“) dank seiner Präsentation auf einer Staffelei im oberen Bereich fast auf einer Linie mit dieser großformatigen Leinwand. Ein weiteres Atelierbild („L’atelier, Huile sur toile. Cannes, 2 avril 1956. 73 x 92 cm“, Abb. in: Zervos XVII, 59) befindet sich in der Darstellung unterhalb von L’Atelier und wurde auf dem Fuß der Staffelei aufgestellt, so dass es das andere Gemälde nicht verdeckt. Zusätzlich wird in einigen Aufnahmen (LMA, Inv. Nr. P 0897, P 0898 und P 0901) eine weitere großformatige Leinwand vom linken Bildrand angeschnitten und von Femmes à la toilette partiell verdeckt, so dass eine Identifizierung erschwert wird. 566 Vgl. beispielsweise das SWN LMA, Inv. Nr. P 0896. 124 seit 1915/16 bekannte Pose und seine Position im Bild567 weitgehend gegen die Übermacht seiner Werke behaupten. In krassem Gegensatz zu dieser repräsentativen Selbstdarstellung steht in dieser Aufnahme Millers seine lässige Kleidung: Picasso trug eine dunkle Hose und ein weißes, lässiges T-Shirt.

Die Aufstellung der Gemälde auf Staffeleien liefert in der Aufnahme einen Hinweis auf die Entstehung der Werke im Atelier, der Bezug zum Werkprozess wird durch die Darstellung von vom Künstler verwendeten, künstlerischen Utensilien wie Pinseln und Farbdosen noch konkretisiert. In einer Fotografie568 sind hinter Picasso schemenhaft die Schmalseiten gestapelter Leinwände zu erkennen, was auf eine Lagerung von Gemälden verweisen könnte, wodurch der Eindruck, dass Picasso in seiner Werkstatt porträtiert wurde, noch verstärkt wird.569 Die Darstellung des Porträtierten im Atelier sagt schließlich in bestimmten Umfang etwas über dessen künstlerisches Interesse aus, ohne dass man ihn aber unmittelbar als Künstler ansprechen könnte.

Über die Pose des Künstlers bis hin zur Präsentation der Gemälde weist die Aufnahmesituation deutliche Analogien zu der von Miller 1944 in Paris in Picassos Atelier aufgenommenen Werkschau des Künstlers auf570. Dass diese Art der Darstellung nicht auf die in den 1940er und 1950er Jahren entstandenen Fotografien beschränkt blieb, zeigen weitere Fotoserien von 1963 und 1965. So porträtierte Lee Miller Pablo Picasso bei zwei Gelegenheiten in seiner Villa Notre-Dame-de-Vie in Mougins zusammen mit seinen im Atelier präsentierten Gemälden. Diese Aufnahmen können im Fall einer Fotografie571 über die dargestellten Werke, bei denen es sich um Picassos neueste, zur Serie Maler und Modell zählende Schöpfungen aus dem Frühjahr 1963 handelte, in das Jahr 1963 datiert werden.572

In einer weiteren Fotoserie573 posiert der Künstler unter anderem mit seinem 1925 in Monte-Carlo entstandenen Gemälde Les Trois Danseuses, das sich bis 1965 in seinem Besitz befand (Fotografie 40)574. Picasso hatte die Anfragen verschiedener Museen, die an einem Ankauf des Werks interessiert waren, immer wieder negativ beantwortet. Durch die

567 Der Künstler wird auf der Mittelsenkrechten (SWN LMA, Inv. Nr. P 0895, 0897, 0898, 0899, in diesen Aufnahmen wird der Künstler von der Rundbogentür hinterfangen und so zusätzlich betont) gezeigt oder teilt die Bildfläche im Verhältnis des Goldenen Schnitts (SWN LMA, Inv. Nr. P 0896, 0900, 0901). 568 SWN LMA, Inv. Nr. P 0898. 569 In der Aufnahme SWN LMA, Inv. Nr. P 0895 sind diese Leinwände aufgrund der hockenden Haltung des Künstlers deutlich zu erkennen. 570 Vgl. Kap. 4.1.2.2.1. 571 Neuer Abzug LMA, Inv. Nr. P 0874. 572 Abb. in: Zervos XXIII, 176. Zervos XXII, 177. Zervos XXIII, 197. Zervos XXIII, 223. 573 SWN LMA, Inv. Nr. P 0057 bis P 0065 und P 1064 bis P 1068, Abb. von LMA, Inv. Nr. P 1068 in Penrose 1981a, S. 111, Abb. 295. 574 Fotografie 40 = SWN LMA, Inv. Nr. P 1066, Abb. in: Penrose 1981b, S. 250, Abb. 606. Lee Miller ist neben Jacqueline Picasso am linken Bildrandzu sehen, so dass die Fotografie sicher mit Selbstauslöser aufgenommen wurde. 125

Vermittlung von Roland Penrose erklärte sich der Künstler schließlich im November 1964 zu einem Verkauf des Gemäldes zu einem Freundschaftspreis an die Londoner Tate Gallery bereit.575 Es soll das erste Mal gewesen sein, dass Picasso ein Gemälde direkt an ein Museum verkaufte.576 Die Aufnahmen Lee Millers entstanden anlässlich dieses Verkaufs und können in die Zeit Anfang Januar 1965 datiert werden.

Für eine Darstellung im Atelier spricht in diesen beiden Serien vor allem die Anordnung der Gemälde, die in großer Zahl in Lagerhaltung – schichtweise und Rückseite an Rückseite oder Vorderseite an Vorderseite – entlang der Wände gestapelt worden sind und so auf Picassos Kreativität und Schaffenskraft verweisen. Die Anordnung der für eine spontane Ausstellung ausgewählten Werke weist Analogien zu den bisher vorgestellten Porträts von Pablo Picasso aus den Jahren 1944 und 1956 auf. Auch posiert der Künstler wieder in der vielfach beschriebenen, selbstbewussten Haltung. Aufnahmen anderer Fotografen wie beispielsweise Edward Quinn weisen in diesen Punkten577 deutliche Übereinstimmungen zu Lee Millers Fotografien auf.578

4.1.2.2.6 Pablo Picasso und Georges Braque mit Keramiktauben (Vallauris, 1954)

1954 besuchte Georges Braque zum ersten Mal seit langer Zeit wieder seinen ehemals engen Freund und Künstlerkollegen Pablo Picasso, der ihm und anderen Freunden wie Lee Miller und Roland Penrose in seinem Atelier in Vallauris viele seiner neuesten Werke vorstellte.

Lee Miller beobachtete die beiden „Erfinder des Kubismus“ unter anderem bei der Präsentation von zwei Keramiktauben und hielt die Szene in mindestens drei Fotografien fest. Ihre Bilder (vgl. Fotografie 41)579 zeigen Picasso und Braque, wie sie sich über ihre Kunst, in diesem Fall die Werke Picassos, austauschen, etwas, was sie in den Jahren ihrer Freundschaft und ihrer künstlerischen Zusammenarbeit um 1908 bis 1914 regelmäßig taten.580 Penrose berichtet in seinem Scrapbook, dass Braque zu Picassos teilweise derben Spiel mit der Skulptur des Babys aus dem Ensemble Frau mit Kinderwagen nur gute Miene

575 Antony Penrose berichtet, dass sein Vater Roland zu einem „inoffiziellen britischen Botschafter am ‚Hofe’ Picassos“ wurde und oftmals Forderungen an den Künstler herantrug, was Picasso missfallen haben soll. Vgl. Penrose 2002, S. 88. 576 Penrose 2001, S. 155. 577 Diese Analogien betreffen die Pose des Künstlers, die Form der Präsentation ausgesuchter Gemälde und die Lagerhaltung der Werke. 578 Vgl. beispielsweise die Abbildungen in: Quinn 1987b, S. 223, 224, 235, 236, 237, 256. Edward Quinn, Picasso – Mensch und Bild, Stuttgart 1987, S. 223, 224, 235, 236, 237. Quinn 1975, S. 60– 61. Clergue [1993], S. 17, S. 113. Penrose 1981a, Abb. 263, S. 98 (Foto E. Quinn). Ausst. Kat. Paris 1991, o. Pag. (Foto von Arnold Newman, „Picasso with his paintings; Vallauris, Le Fournas, 1954“). 579 SWN LMA, Inv. Nr. P 1045, P 0120, LMA, Inv. Nr. P 0080 (= Fotografie 41), Negativformat 6 x 6 cm (Abb. dieser Aufnahme in: Penrose 1985a, S. 189. Penrose 1981b, S. 214, Abb. 532. Penrose 1981a, S. 76, Abb. 203. Penrose 1957, Abb. S. 60 unten rechts. Penrose 1961, Abb. 12. Calvocoressi 2002, S. 169). 580 Rubin 1990, S. 41ff. 126 gemacht habe und vielmehr an den verfeinerten Formen der Keramiktauben581, die Picasso ihm vorgeführt habe, interessiert gewesen sei582. Dass sich Braque aber auch ein wenig über das heitere Spiel des ‚Vaters’ mit seinem ‚Kind’ amüsierte, machen Lee Millers Aufnahmen deutlich.583

Picasso, der die beiden fast lebensgroßen Keramiktauben in seinen Händen hält, steht vor Braque, der sich interessiert den Plastiken zuwendet und danach greift.584 Eine dieser Aufnahmen (Fotografie 41)585 wurde 1984 mit anderen Fotografien Millers in der Photographers Gallery in London gezeigt. Im Begleittext zu dieser Ausstellung erfährt der Leser, dass es sich bei der Skulptur um ein Geschenk an Braque gehandelt habe. In einer weiteren Fotografie586 unterzieht Braque die Taube, die er von Picasso erhalten hat und nun in seinen Händen hält, einer eingehenden Betrachtung, während Picasso wartend neben ihm steht. Schließlich scheint er diese Taube auf der Bank?, auf der er sitzt, abgelegt zu haben, um sich dem zweiten Vogel aus Keramik zuzuwenden. Pablo Picasso war von kleinem Wuchs und musste so, wie für einige der Aufnahmen587, die ihn beim Spiel mit seiner Babyskulptur zeigen588, zu dem neben ihm stehenden Braque aufblicken. In der Fotoserie mit den Keramiktauben zeigt sich aber ein anderes Verhältnis auf: Picasso wird durch seine Darstellung im Kniestück in den Fotografien besonders hervorgehoben und dominiert die Szene im Atelier, was durch die leichte Untersicht noch zusätzlich betont wird.

Picasso hält mit einem stolzen und zufriedenen Gesichtsausdruck die Keramiken in den Händen und reicht sie an Braque weiter, wodurch er als der Schöpfer der Werke angesprochen werden könnte. Picasso agiert, während Braque reagiert: der spanische Maler und Bildhauer wirkt in der Aufnahme dynamisch, voller Energie und ungebrochener Schaffenskraft im Bereich der Plastik und der Malerei, worauf die in die Aufnahme integrierten Werke – die an der Wand mosaikartig übereinandergestapelten Gemälde, die den Hintergrund für die Darstellung der beiden Künstler bilden, und die im Zentrum des Interesses stehenden Taubenfiguren – hinweisen könnten, während sein fast gleichaltriger Malerkollege und Freund Braque einen eher passiven und zurückhaltenden Eindruck macht,

581 Leider können die Tauben in der Aufnahme nicht einem bestimmten Werk zugeordnet werden, daher soll an dieser Stelle nur ein Hinweis auf die Keramiktauben, die Picasso 1953 modellierte, gegeben werden (vgl. Daniel Henry Kahnweiler, Picasso: Keramik, Hannover 1957, S. 12, Abb. S. 36–38. Spies 2000, S. 252, Abb. C2). 582 Vgl. Kap. 4.1.1.7. 583 SWN, LMA, Inv. Nr. P 1042 und P 1043, Negativformat 6 x 6 cm. 584 Abzug LMA, Inv. Nr. P 0080 und SWN P 1045. 585 LMA, Inv. Nr. P 0080: „’Lee Miller and Picasso’, Exhibition of photographs by Lee Miller, opening at the Photographer’s Gallery, 5–8 Newport St. London, on 3rd May 1984“: “Picasso and Braque, Vallauris, 1954. When Braque visited Picasso in his studio on this occasion, it was the first time the two artists had met for many years. Picasso offered Braque the pottery doves as a gesture of peace and affection. Published in Portrait of Picasso by Roland Penrose, Thames and Hudson 1981.” 586 SWN LMA, Inv. Nr. P 0120. 587 SWN LMA, Inv. Nr. P 1042, 1043, 1047, P 0119. 588 Vgl. Kap. 4.1.1.7. 127 was durch seine sitzende Position noch verstärkt wird. Diesen Eindruck gewann auch Roland Penrose von den beiden Künstlern und beschreibt Picassos große Vitalität, während er Braque als einen „weisen, alten Mann“ charakterisiert.589

Die Darstellung der Ateliersituation war nicht Millers Ziel, was durch den gewählten Ausschnitt des Raums deutlich wird. Von besonderem Interesse für die Fotografin war die Figur der Taube, die im Mittelpunkt des Bildes zu sehen ist. Neben der ‚Taube’ waren natürlich auch Picasso und Braque, die von Miller aus relativ kurzer Distanz gezeigt werden und so in der vorderen Bildebene zu sehen sind, von besonderer Bedeutung. Die in der Fotografie abgebildeten Gemälde und Plastiken sprechen den Bildraum als einen künstlerischen Raum im Atelierzusammenhang an und liefern somit einen Aspekt, der für die Identifizierung der Porträtierten als Menschen, die beruflich wie privat mit Kunst zu tun haben, von Relevanz ist.

Eine weitere Differenzierung zwischen den beiden dargestellten Personen ist über die Physiognomie vorzunehmen. Trotz der Berühmtheit beider Künstler genießt Pablo Picasso, aufgrund seiner in zahllosen Porträts dargestellten Gesichtzüge, die schon als ein ‚Markenzeichen’ des Künstlers betrachtet werden können, und vielleicht auch wegen seiner charismatischen Persönlichkeit, bereits 1954 eine weitaus größere Popularität als Georges Braque, so dass Picasso in diesen Aufnahmen eher erkannt und als Schöpfer der dargestellten Werke angesprochen werden könnte.

Die Darstellung von Vögeln, besonders Tauben, findet sich sowohl im Werk Picassos als auch in dem Braques sehr häufig. Doch erlangte eine Lithographie Picassos, die eine Taube zeigt, 1949 eine besondere Berühmtheit: der Künstler verwendete dieses Blatt als Vorlage für das Plakat des Weltfriedenskongresses, den die kommunistische Partei Frankreichs im gleichen Jahr einberufen hatte. Seit dieser Zeit war die Taube ein sehr bekanntes Motiv Picassos, so dass mit einiger Kenntnis über das Werk des Künstlers die dargestellte Skulptur unmittelbar mit ihm in Verbindung gebracht werden könnte.590 Picasso, zu dessen Haushalt immer Tiere gehörten, hielt auch in seinem späteren Haus La Californie in einem Verschlag vor seinem Atelier die von ihm favorisierten Tauben, die ihn zu vielen Werken inspirierten.591

589 Penrose 1981b, S. 213–214. Auch David Douglas Duncan beschreibt mit deutlichen Worten seine Eindrücke von der letzten Begegnung zwischen Picasso und Braque: „Und während diese beiden Giganten, die Schöpfer des Kubismus, austauschten, was immer sie noch an Gemeinsamkeiten besaßen, beobachtete ich nur: der eine die Vogelscheuche auf dem Feld, das sie gemeinsam abgeerntet hatten, der andere noch durchaus bereit, die gesamte Kunstwelt und sogar noch mehr auf seine Schultern zu heben. Es war ein Augenblick der Trauer, nicht der Photgraphie [...] Picasso, ein Meter sechzig groß, stand da wie auf Beinen, die tief in der Erde zu wurzeln schienen, und er warf seinen Schatten auf den schwankenden jüngeren mit seinen ein Meter achtzig, dessen Leben sich langsam dem Ende zuneigte [...]“, vgl. Duncan 1988, S. 18–19. 590 Als Modell für die Lithographie soll eine Zuchttaube gedient haben, die Henri Matisse Picasso schenkte. Wertenbaker 1972, S. 149, Abb. S. 150. Quinn 1975, S. 272, unter dem Stichpunkt „1949“. 591 Penrose, Portrait 1981, S. 81, Abb. 220. Warncke 1995, S. 717, rechte Spalte, mittlere Abb. Duncan 1981, S. 139, Bildlegende Fotografie S. 18–19. Quinn 1987b, S. 194. 128

Die äußere Erscheinung der beiden Künstler lässt keine Rückschlüsse auf ihre Identität und ihren künstlerischen Erfolg, an dem zu dieser Zeit kein Zweifel besteht, zu: obwohl Braque ein Jackett trägt und somit konventioneller als Picasso, der nur in einem Hemd mit aufgerollten Ärmeln und einer derben Cordhose zu sehen ist, gekleidet ist, wirkt er durch den groben Stoff der Jacke und das am Hals geöffnete Hemd eher sportlich als elegant.

4.1.2.2.7 Pablo Picasso mit der Skulptur Seilhüpfendes Mädchen (Vallauris, 1954)

Miller porträtierte Pablo Picasso 1954 in seinem Atelier in Vallauris nicht nur mit den Keramiktauben, sondern auch mit seiner Skulptur Seilhüpfendes Mädchen.592 Die Arbeit an diesem Werk wurde 1950 begonnen und bis 1954 fortgeführt. In der Fotografie593 Millers wird die Figur des seilhüpfenden Mädchens – im Vergleich mit der endgültigen Fassung – in einem relativ ausgearbeiteten Zustand gezeigt. Es fehlen lediglich die Formen, die Picasso für den Bronzeguss als stützende Elemente594 für die Konstruktion vorgesehen hatte und die als Blume und Schlange verstanden werden sollen. Der fortgeschrittene Zustand der Plastik würde für eine Datierung der Fotografie um 1954 sprechen, so dass die Aufnahme in engem Zusammenhang zu den Fotoserien595 gesehen werden könnte, die Picasso und Braque mit der Skulptur des Babys oder bei der Betrachtung von Keramiktauben zeigen. Picasso ist in all diesen Fotografien in der gleichen Kleidung dargestellt, so dass die Aufnahmen innerhalb eines kurzen Zeitraums – vielleicht am selben Tag – aufgenommen worden sein könnten.

Der Raum, in dem Picasso fotografiert wurde, kann über die dargestellten Werke sowie über künstlerische Utensilien wie Modelliertische oder auch Materialien als Atelier eines Bildhauers angesprochen werden. Der Porträtierte selbst kann über die Darstellung in diesem Umfeld nicht unmittelbar als bildender Künstler, aber zumindest als ein künstlerisch Interessierter gesehen werden. Die Kleidung Picassos, der ein knittriges Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln über der Hose trägt, ist lässig und unkonventionell und lässt nicht die Möglichkeit zu, ihn eventuell als einen Mäzen, einen Repräsentanten eines Museums oder einer anderen kulturellen Institution zu sehen.

Picassos Körperhaltung orientiert sich an der Pose, in der er sich seit 1915/16 in zahllosen fotografischen Porträts und Selbstporträts präsentierte596. Dem Selbstvertrauen, das durch diese Haltung zum Ausdruck kommt, entspricht in der Aufnahme die besondere Stellung des

592 Ausst. Kat. Berlin 1983, S. 390: „Seilhüpfendes Mädchen, Vallauris 1950, I Original aus Gips, Keramikteilen, Weidenkorb, Kuchenformen, Schuhen, Holz, Eisen, 152 x 65 x 66 cm, M.P. 336. Abbildung der Bronzefassung S. 244–245. 593 SWN LMA, Inv. Nr. P 1078, Negativformat 6 x 6 cm. Zu der Serie, die Miller bei der gleichen Gelegenheit aufnahm, gehören auch die Fotografien LMA, Inv. Nr. P 0474 und P 0478. 594 Spies 2000, S. 263, Abb. S. 264–265. 595 Vgl. Kap. 4.1.1.7 und 4.1.2.2.6. 596 Vgl. Kap. 4.1.2.2.1. 129

Porträtierten.597 Das Werk, das der Künstler nicht beachtet, befand sich zum Zeitpunkt der Aufnahme auf einem Modelliertisch und war dort von zahllosen künstlerischen Werkzeugen sowie Materialien und Materialresten umgeben, wodurch ein Bezug zum künstlerischen Prozess hergestellt wird. In der Aufnahme wird Picasso durch die Zigarette, die er – wie auch viele andere Künstler – während der Fotositzung in der Hand hielt, als ein fortschrittlicher und moderner Mensch charakterisiert598. Durch die Höhe der Skulptur von ca. 152 cm und die zusätzliche Stellung auf dem niedrigen Modelliertisch, der dem Künstler ungefähr bis zur Hüfte reichte, musste die Fotografin eine größere Distanz zu Picasso und seinem Werk einhalten. Der Raum wurde auf diese Weise entsprechend mehr in die Darstellung einbezogen, so dass Miller mit ihrer Aufnahme die Situation in Picassos Atelier für Bildhauerei in Vallauris aufzeigt.

Auch zwei Fotografen der 1946 von Raymond Grosset in Paris gegründeten Fotoagentur Rapho – Robert Doisneau und Michel Mako – zeigen in ihren Fotografien599 Picasso in seinem Atelier in Vallauris zusammen mit der Skulptur Seilhüpfendes Mädchen. Die Aufnahmen sollen ca. 1952 entstanden sein und stellen unterschiedliche Phasen im Werkprozess dar. Die Fotografie von Mako zeigt eine relativ frühe Phase in der Entwicklung der Skulptur, in der erst das Grundgerüst – das gebogene Eisenrohr, der Korbkörper, der Kopf und das rechte Bein – zu sehen ist. Doisneaus Aufnahme gibt das Seilhüpfende Mädchen schon in einem relativ ausgearbeiteten Zustand, der die endgültige Version erkennen lässt, wieder. Sollten beide Fotografien tatsächlich innerhalb eines Jahres entstanden sein, spräche dies für einen schnellen Fortgang der Arbeiten, die sich immerhin über einen Zeitraum von ca. vier Jahren erstreckten. Michel Mako und Robert Doisneau (1912 – 1994) wählten wie Lee Miller eine größere Aufnahmedistanz, die eine Darstellung der Figur in ganzer Höhe erlaubte. Die beiden Fotografen beziehen aber den Modelliertisch, auf dem die Plastik bearbeitet wurde, nur zu einem Teil (Doisneau) respektive überhaupt nicht (Mako) in ihre Aufnahmen ein, was auf einen geringeren Aufnahmeabstand hinweist. Der reduzierte Raumausschnitt erlaubt aber trotzdem die Wiedergabe von weiteren Werken und künstlerischen Utensilien, die für ein Atelier kennzeichnend sind.

Die Aufnahme, die die meisten Analogien zu Lee Millers Fotografie von Pablo Picasso mit der Skulptur Seilspringendes Mädchen aufweist, stammt von Edward Quinn (Fotografie 42)600. Miller und Quinn fotografierten den Künstler und sein Werk fast von der gleichen

597 Picasso, der im Bildmittelgrund in ganzer Figur hinter einem Modelliertisch stehend wiedergegeben wird, teilt die Fläche des Bildes im Verhältnis des Goldenen Schnitts und wird so zum zentralen Element in der Darstellung. Er ist zudem auf einer Bilddiagonalen, die zwischen den beiden Skulpturen Stierschädel und Seilspringendes Mädchen verläuft und sie dadurch eng aufeinander bezieht, dargestellt. Die Leserichtung des Bildes entspricht weitgehend dieser Diagonalen und verläuft von Picasso über die an der hinteren Atelierwand dargestellte Plastik des Stierschädels zur Skulptur Seilspringendes Mädchen, die in ganzer Höhe in der rechten Bildhälfte wiedergegeben wird. 598 Vgl. Kap. 4.1.2.1.5. 599 Abb. in: Ausst. Kat. Berlin 1983, S. 242, Abb. 248 (Mako) und 249 (Doisneau). 600 Fotografie 42 = Abb. in: Quinn 1987a, S. 69. Quinn 1975, S. 134 oben rechts. Vgl. auch die weiteren Aufnahmen der Fotoserie, die Quinn von Picasso um 1953 in seinem Atelier in Vallauris (ff) 130

Stelle im Atelier aus und zeigen so einen sehr ähnlichen Raumausschnitt, der noch in den kleinsten Details übereinstimmt. Picasso ist lediglich in unterschiedlicher Kleidung zu sehen.

Problematisch ist die exakte Datierung der Fotografien: die Aufnahme Edward Quinns soll um 1952601 respektive 1953602 entstanden sein, Miller soll Picasso aber während ihres Aufenthaltes im Jahr 1954 porträtiert haben. Einen Hinweis auf eine zeitliche Nähe zwischen den Fotografien liefert die sehr ähnliche Aufnahmesituation, besonders die in beiden Fällen schon sehr fortgeschrittene Ausarbeitung der Skulptur und die kaum veränderte Anordnung der Geräte und Materialien auf dem Werktisch. Möglich wäre aber auch, dass die Objekte, Materialien und Werkzeuge in Picassos Atelier in Vallauris, wie es später für seine Wohnateliers bekannt ist, einen angestammten Platz besaßen, an dem sie auch während längerer Abstände in der Werkphase belassen wurden.

Die unterschiedliche Kleidung Picassos in den Fotografien von Miller und Quinn lässt hingegen auf einen großen zeitlichen Abstand schließen, da der Künstler in Quinns Aufnahme mit Wolljacke, Pullover, Schal und Mütze in passender Bekleidung für den Winter dargestellt ist, während er sich in Millers Foto in sommerlicher Kleidung präsentierte. Zwei Aufnahmen, die unter anderem über eine bis ins Detail identische Kleidung in den Kontext der Aufnahmen von Edward Quinn eingeordnet werden können, zeigen Picasso in seinem Atelier mit einem auf den 3. März 1953 datierten Keramikteller603 und mit mehreren Gemälden. Eines dieser Gemälde604 wurde von Picasso auf den 25.3.53 datiert, so dass Quinn den Künstler wahrscheinlich im Frühjahr 1953 fotografierte, während Miller Picasso im Sommer 1954 porträtiert haben könnte. Roland Penrose bemerkt in seiner Publikation Picasso – Leben und Werk, dass der Künstler sich im Sommer 1954 „wie immer“ in Vallauris aufgehalten habe.605

4.1.2.2.8 Henry Moore mit dem Modell für die Liegende Figur (Much Haddam, um 1956/57)

Die Situation in Henry Moores Bildhaueratelier in Much Haddam (Großbritannien) schildert Lee Miller auch in ihrer mindestens zwölf Aufnahmen (vgl. Fotografie 43)606 umfassenden Porträtserie von 1956/57.

aufnahm, Abbildungen in: Pablo Picasso – der Reiz der Fläche, Ausst. Kat., Staatliches Museum Schwerin, 3.7.–26.9.1999, S. 156, 158. 601 Spies 2000, Abb. S. 263. 602 Quinn 1977, S. 32. Die dort abgebildeten Fotografien Quinns (Abb. 15 und 16), die in das Jahr 1953 datiert werden, können über Picassos Kleidung in einen engen Zusammenhang zur Aufnahme mit der Skulptur Seilspringendes Mädchen gesetzt werden. 603 Abb. in: Quinn 1987a, Abb. S. 45. 604 Abb. in: Ausst. Kat. Schwerin 1999, S. 158. 605 Penrose, Picasso 1961, S 354. 606 LMA, Inv. Nr. A 0546 bis A 0557. Fotografie 43 = SWN LMA, Inv. Nr. A 0557, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 144. 131

Henry Moore607 (Castleford, Yorkshire, 30.7.1898 – Perry Green, Hertfordshire, 31.8.1986) war seit 1935 ein enger Freund von Roland Penrose, so dass Lee Miller den Bildhauer schon 1939, dem Jahr ihrer Übersiedlung nach England, kennen gelernt haben könnte. Zu einer langen Reihe von nationalen und internationalen Präsentationen von Moores Skulpturen gehört auch die erste Ausstellung surrealistischer Kunst in Großbritannien im Jahr 1936, auf der er nicht nur seine Werke zeigte, sondern die er auch zusammen mit Herbert Read und Roland Penrose organisierte. 1948 wurde er auf der 24. Biennale von Venedig als bester internationaler Bildhauer geehrt; diesem Preis folgten im Lauf seiner Karriere zahlreiche weitere Auszeichnungen. Lee Miller fotografierte ihn 1948 in Venedig beim Dolcefarniente in Gesellschaft von Freunden und veröffentlichte ihre Aufnahme in ihrem Artikel Venice Biennale608.

Moores Tätigkeit als „offizieller Kriegskünstler“, die er 1940 während des 2. Weltkriegs aufnahm und während der er unter anderem die Londoner Bevölkerung zeichnete, die in der Londoner Metro vor der Bombardierung Schutz suchte, ist einer der Aspekte in dem 1943 gedrehten Film Out of chaos609. Miller fotografierte Moore und das Filmteam bei der Arbeit im Londoner Untergrund und in Moore Haus und Atelier in Much Haddam. Dort lebte und arbeitete der Künstler seit 1941, nachdem sein Londoner Atelier während der deutschen Luftangriffe bombardiert worden war. Millers Aufnahmen entstanden um 1956/57, als sie Moore in Gesellschaft von Roland Penrose und ihres Vaters Theodore Miller in Much Haddam besuchte.

Anders als Pablo Picasso, E.L.T. Mesens, Wifredo Lam, Jean Arp oder auch Sigismund Stróbl nahm Moore für diese Fotos keine spezielle, besonders würdevolle und repräsentative Pose ein610, sondern wird von Miller in fünf Aufnahmen611 in einer ungezwungenen und locker wirkenden Haltung im Gespräch mit seinen Gästen im Atelier gezeigt. Miller gab ihren Modellen also scheinbar keine bestimmten Posen vor, sondern porträtierte sie in ausgewählten Momenten, wobei sie ihnen weitgehend freien Raum für ihre Selbstdarstellung ließ.

Im Fall der Innenaufnahmen612 fotografierte Miller – wie bei Picasso und Stróbl – von einem distanzierteren Standpunkt aus, so dass die Porträtierten in einen weiter gefassten Ausschnitt des Raumes eingebunden werden. In diesem Fall musste die Fotografin aber, anders als bei Picasso und Stróbl, wahrscheinlich aufgrund der räumlichen Gegebenheiten,

607 Zur Biografie Henry Moores siehe: Henry Moore: Mutter und Kind, Ausst. Kat., Käthe-Kollwitz- Museum, Köln, 19.3.– 1.5.1992, S. 139–142. 608 Vgl. Kap. 4.2, Porträts von 1940–1950. 609 Vgl. Kap. 4.1.4.1.3 und 4.1.4.1.4. 610 Vgl. Kap.4.1.2.2.1, 4.1.2.1.1, 4.1.2.1.2, 4.1.2.1.3 und 4.1.2.2.2. 611 SWN LMA, Inv. Nr. A 0553, A 0554, A 0555, A 0556, A 0557, Negativformat 6 x 6 cm. 612 Sieben andere Fotografien der Serie (SWN LMA, Inv. Nr. A 0546, A 0547, A 0548, A 0549, A 0550, A 0551, A 0552, Negativformat 6 x 6 cm) sind im Freien entstanden und geben Moore mit seinen dort bearbeiteten Skulpturen wieder. 132 auf eine Wiedergabe des Ateliers in Aufsicht verzichten. Die Fotoserie unterscheidet sich von den bisher vorgestellten, im Atelier aufgenommenen Aufnahmen dadurch, dass der Künstler nicht allein mit seinen Werken oder zusammen mit eventuellen Mitarbeitern, sondern in Gesellschaft von Penrose und Theodore Miller, also Personen, die keine Funktion im Atelierbetrieb ausübten, fotografiert wurde. Dies könnte dafür sprechen, dass die Fotoserie als freie Arbeit Millers entstanden ist.

Moore, Penrose und T. Miller sind in den Aufnahmen von Gegenständen umgeben, die der Künstler bei der Arbeit an seinen Skulpturen verwendete und bei denen es sich unter anderem um einen Werktisch, Scheinwerfer, einen Spiegel, diverse Werkzeuge und Utensilien sowie einen Stuhl handelte. Auch die für ein Atelier optimale Beleuchtung über ein Oberlicht wird in den Aufnahmen Millers für das Atelier Moores dokumentiert. Der Bildraum wird über diese Objekte und die im Atelier präsentierten Skulpturen eindeutig als Arbeitsbereich eines Bildhauers ausgewiesen. Die Fotografin wechselte während der Aufnahme ihren Standort mehrfach, so dass Moores Werke in unterschiedlicher Anzahl (mindestens ein bis maximal vier Objekte) und in verschiedenen Ausschnitten gezeigt werden. Diese Werke liefern einen Anhaltspunkt für die Datierung der Fotografien.

So hatte Moore (neben Picasso, Miró und Noguchi) 1956 den Auftrag erhalten, eine Skulptur für den Eingang des UNESCO-Gebäudes in Paris zu modellieren.613 Für diese Plastik entwarf der Bildhauer ein Arbeitsmodell, das zunächst aus Gips gearbeitet und später in Bronze gegossen wurde. Die anhand dieses Modells gearbeitete endgültige Fassung der Liegenden Figur aus Travertin hat eine Länge von ca. fünf Metern wurde 1958 enthüllt.614

Das Modell für die Liegende Figur befand sich während der Aufnahme als einziges Objekt auf einem Werktisch und war von verschiedenen Werkzeugen umgeben, so dass es als die aktuellste Arbeit des Künstlers angesehen werden kann. Der relativ fortgeschrittene Zustand der Plastik macht eine Datierung in den Zeitraum um 1956/1957 wahrscheinlich. In zwei Fotografien der Serie615 sind Moore, Penrose und T. Miller mit einer weiteren Skulptur, dem [Bronzemodell? des] 1956 fertiggestellten, sogenannten Glenkiln-Kreuz616 zu sehen.

Henry Moore wird in allen fünf Aufnahmen, die im Atelier entstanden sind, zusammen mit Roland Penrose gezeigt, in zwei der Fotografien zusätzlich mit Theodore Miller. Dass es sich bei Millers Vater um einen Besucher im Atelier, nicht aber um den Künstler selbst handelt, kann an seiner Kleidung – Mantel und Hut – sowie der Fotokamera, die er bei sich trägt, leicht erkannt werden. Schwieriger ist es, zwischen Moore und Penrose, der selbst

613 Christa Lichtenstern, Henry Moore, Figur für das UNESCO-Gebäude, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter, (2003), 9, S. 27–34. Claude Allemand-Cosneau et al. (Hrsg.), Henry Moore, Ursprung und Vollendung, München [u. a.] 1996, S. 191 und S. 44–45, Abb. 8–9. 614 Der Steinblock für diese Skulptur wurde in einem italienischen Marmorsteinbruch gebrochen und von Moore vor Ort vorbehauen. Die endgültige Ausarbeitung erfolgte am eigentlichen Standort in Paris (Vgl. Herbert Read, Henry Moore, München/Zürich 1967, S. 212–219). 615 SWN LMA, Inv. Nr. A 0553 und A 0554. 616 Abb. in: Will Grohmann, Henry Moore, Berlin 1960, S. 193–194, Abb. 155 und 156. 133 künstlerisch tätig war, zu differenzieren: über die Kleidung der Porträtierten kann keine eindeutige Aussage getroffen werden, beide bieten eine durchaus konventionelle Erscheinung. Während Penrose mit einem Pullover und einem Jackett bekleidet war, wird Moore in einem Hemd mit kurzen Ärmeln, aber mit einer breiten, modischen Krawatte gezeigt. Auch ihre Posen liefern keinen Hinweis auf ihre künstlerische Rolle, Moore und Penrose wirken mit ihrer aufrechten Haltung und ihren in die Hüfte gestützten Armen oder den lässig in den Hosentaschen gesteckten Händen beide sehr selbstbewusst. Sie wenden sich in den Aufnahmen einander zu, keiner der Dargestellten richtet seinen Blick in die Kamera. Lediglich in drei Aufnahmen617 wird Moore auf der Mittelsenkrechten gezeigt, wodurch seine Person hervorgehoben wird. In einer Fotografie618 ist er zu sehen, wie er sich zusätzlich mit seinem Arm an der Skulptur Glenkiln-Kreuz anlehnt und so eine Beziehung zu dem Werk herstellt, wodurch ein Hinweis auf seine Autorschaft gegeben werden könnte. Moore, der mit einem entsprechenden Wissen des Betrachters in allen Fotografien der Serie über seine Physiognomie als Bildhauer angesprochen werden kann, wird nur in einer Atelieraufnahme, die ihn in einer Arbeitssituation zeigt, eindeutig als Urheber seines Werks dargestellt. In dieser Fotografie (43)619 ist Henry Moore zu sehen, wie er an dem Modell der Skulptur Liegende Figur einen Arbeitsschritt auszuführen scheint, wobei ihn Roland Penrose beobachtet. Vielleicht wollte der Künstler seinem Freund so Details über seine Arbeitsweise vermitteln: Moore formte den Gips für seine Modelle im feuchtem Zustand und bearbeitete diese nach dem Trocknen durch Schnitzen weiter.620 Von dieser Technik des Bildhauers zeugen die zahllosen Späne, die auf dem Werktisch dargestellt sind.

Moore wurde zwar – wie Picasso und Stròbl – von Miller mit seinen jüngsten Skulpturen in seinem Atelier fotografiert, doch unterscheidet sich diese Fotoserie von den Porträts, die Miller von dem spanischen und dem ungarischen Künstler aufgenommen hat. Anders als Picasso und Stròbl posiert Moore nicht für Miller, von der keinerlei Notiz nimmt, so dass die Aufnahmen spontan und ungestellt wirken. Auch wurden die Werke, die im Atelier Moores aufbewahrt wurden oder an denen er gerade arbeitete, nicht speziell für die Fotografin arrangiert. Roland Penrose berichtet von einem Besuch bei Picasso, dass Miller „wie gewöhnlich“ dazu gekommen sei, um den Bildhauer Picasso und sein neuestes Werk – die Baby-Skulptur aus Frau mit Kinderwagen – in „ausgewählten Momenten“ zu fotografieren. Auch die in Moores Atelier aufgenommenen Fotografien erwecken diesen Eindruck; der Ateliersituation kam hierbei – neben dem Porträtierten – eine besondere Bedeutung zu.

4.1.2.2.9 Stanley William Hayter mit Gemälden (London, um 1939)

In den in diesem Kapitel vorgestellten Fotografien standen der Porträtierte – der Künstler – und der ihn umgebende Raum – das Atelier mit seiner besonderen Atmosphäre – im

617 SWN LMA, Inv. Nr. A 0553, A 0554 und A 0557. 618 SWN LMA, Inv. Nr. A 0554. 619 Fotografie 43 = SWN LMA, Inv. Nr. A 0557, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 144. 620 Allemand-Cosneau 1996, S. 59. 134

Mittelpunkt der Fotografie. Auch ein Porträt621 des britischen Malers und Graphikers Stanley William Hayter entstand wahrscheinlich im Atelier des Künstlers, wobei die Darstellung der Ateliersituation in diesem Fall aber nicht Millers Ziel war.

Stanley William Hayter622 (London, 27.12.1901 – 4.5.1988) knüpfte 1929 erste Kontakte zu Künstlern der surrealistischen Bewegung, zu der auch Lee Miller über Man Ray eine enge Beziehung unterhielt, so dass sich Hayter und Miller bereits in Paris kennen gelernt haben könnten. Auf der 1936 in London präsentierten International Surrealist Exhibition zeigte Hayter nicht nur seine Werke623, sondern war auch als Organisator neben Roland Penrose and Herbert Read eng mit der Kunstschau verbunden. Eine weitere Präsentation seines Werks in Großbritannien erfolgte 1937 in der Mayor Gallery, die neben der London Gallery von Roland Penrose eine der wenigen Galerien darstellte, die sich auf dem Londoner Kunstmarkt auf moderne Kunst spezialisiert hatten.

1938 wandte sich Hayter von der offiziellen surrealistischen Bewegung ab und ließ sich 1939 in London nieder, wo er bis zu seiner Übersiedlung in die USA Anfang des Jahres 1940 im Bereich der Camouflage624, also der militärischen Tarnung von Objekten, tätig war. Hayter soll die spezielle Technik der Camouflage 1937 auf einer Reise nach Spanien, das sich zu dieser Zeit im Bürgerkrieg befand, kennen gelernt haben. In London gründete er zusammen mit Helen Philips, Julian Trevelyan (1910 – 1988), John Buckland Wright (1897 – 1954) und Denis Clarke Hall die Industrial Camouflage Research Unit. Roland Penrose schloss sich ihnen an und stellte sein künstlerisches Talent in den Dienst von Firmen, die ihre Gebäude und Fabriken mit Tarnkonstruktionen vor den deutschen Luftangriffen auf Großbritannien im Zweiten Weltkrieg schützen wollten.625

Im gleichen Jahr, in dem sich ‚Bill‘ Hayter in London niederließ, hatte auch Lee Miller Ägypten verlassen, um seit Juni 1939 mit Roland Penrose in London zu leben. Sollten sich der Künstler und die Fotografin also nicht bereits Ende der 1920er Jahre in Paris begegnet sein, könnte ein erster Kontakt zwischen den beiden um 1939/40 durch ihren gemeinsamen Freund Roland Penrose geknüpft worden sein.

In zwei Aufnahmen626 Lee Millers ist Hayter bei der Entwicklung eines Camouflage-Modells dargestellt, eine dritte Fotografie627 der Serie zeigt den Künstler in derselben Kleidung wie in diesen beiden Abzügen, so dass sie mit Sicherheit bei der gleichen Gelegenheit entstanden

621 Neue Abzüge im Format von 19 x 19 cm, LMA, Inv. Nr. 3239-3, 3239-7, 3239-8. 622 Zur Biografie Hayters siehe: Peter Black and Désirée Moorhead, The Prints of Stanley William Hayter, A Complete Catalogue, London 1992, S. 22ff und S. 391. 623 Penrose 1981b, S. 67, Abb. 164, Nr. 14. 624 Black/Moorhead 1992, S. 22 und S. 391. 625 Penrose 2001, S. 99. 626 Neue Abzüge LMA, Inv. Nr. 3239-7 und 3239-8. Neuer Abzug LMA, Inv. Nr. 3239-8 in: Calvocoressi 2002, S. 70. Vgl. Kap.4.1.4.2.2. 627 Neuer Abzug LMA, Inv. Nr. 3239-3. 135 sind. Die Fotografien können in die Zeit von Juni 1939 (Übersiedlung Millers nach Großbritannien) bis in die erste Hälfte 1940 (Übersiedlung Hayters in die USA) datiert werden und zählen so mit zu den frühesten Aufnahmen eines Künstlers mit einem ‚Kunstwerk’ im Atelier. In der Kartei des Lee Miller Archive wird als Aufnahmetag der 9. Mai1944 genannt.

In der dritten Fotografie wird der Künstler in einen reduzierten Bildausschnitt eingebunden, in dem lediglich ein vom Bildrand angeschnittener Zeichentisch mit Utensilien und eine hinter Hayter aufgestellte Staffelei mit einem großformatigen Gemälde als Indizien dafür gewertet werden können, dass diese Aufnahmen im Atelier entstanden sind. In diesem Ambiente wird der Künstler zusammen mit seinen Werken gezeigt, die anscheinend erst „kurze Zeit vorher“ (von einer Ausstellung oder aus Hayters Pariser Atelier 17?) ins Atelier geschickt worden waren und die nun von ihm ausgepackt werden. Das unordentlich am Boden liegende Material – Kisten, Papier und Stroh? -, mit dem die Gemälde während des Transports gesichert wurden, weist daraufhin, dass es sich um das Ent- und nicht um das Verpacken der Werke handelt. Hayter hält in diesem Prozess inne und posiert für Miller am Boden hockend mit einem respektive zwei?628 bereits ausgepackten Gemälden in den Händen, während ein weiteres noch in seiner schützenden Umhüllung zu sehen ist.

Es verwundert, dass Hayter, der sich hauptsächlich der Graphik zugewandt hatte und auf diesem Gebiet erfolgreich war, in Millers Aufnahme mit mehreren Gemälden zu sehen ist, die zu seinem relativ unbekannten malerischen Werk aus der Zeit von 1930 bis 1940 zählen. Doch scheint die Darstellung von einzelnen Arbeiten Hayters in dieser Fotografie nicht Millers Ziel gewesen zu sein. Diese finden sich zwar im Mittelpunkt der Aufnahme, werden aber mit einer starken perspektivischen Verkürzung gezeigt, so dass sie zwar als generell als ein Kunstwerk, nicht aber als eine bestimmte Arbeit Hayters angesprochen werden können. Das Gemälde, das auf einer Staffelei hinter Hayter zu sehen ist, wird fast parallel zur Bildfläche präsentiert, ist aber durch den Bildrand angeschnitten, was – zusätzlich zu seiner Darstellung in der hinteren Raumebene – zu einem Bedeutungsverlust führt.

Durch die geringe Aufnahmedistanz und den damit verbundenen reduzierten Ausschnitt wird der Künstler, obwohl er am Boden hockt, zum zentralen Element in der Aufnahme. Der Porträtierte stellt sich über seinen Blick, der unmittelbar auf einen Punkt außerhalb des Bildraums gerichtet ist, und seine dynamische Körperhaltung sowie seine insgesamt repräsentative Erscheinung – wie auch die Mehrzahl der von Miller porträtierten Künstler – als eine selbstsichere und erfolgreiche Persönlichkeit vor. Seine elegante Bekleidung steht aber in einem gewissen Kontrast zu seiner handwerklichen Tätigkeit.

Auch in diesen Porträts von Miller kann der Betrachter anhand der ihm durch das Bild vorgestellten Informationen (mit Ausnahme der Physiognomie des Dargestellten) nicht

628 Bei dem Gegenstand, den der Künstler in der Aufnahme LMA, Inv. Nr. 3239-3 in seiner linken Hand hält, könnte es sich um ein Gemälde, von dem lediglich die seitliche Kante gezeigt wird, oder unter Umständen auch um einen Kistendeckel handeln. Dies ist aufgrund der perspektivischen Verkürzung nicht zu klären. 136 entscheiden, ob es sich bei dem Porträtierten um den Maler selbst handelt. Das künstlerische Umfeld könnte so auch einen Hinweis auf einen verwandten Beruf oder ein privates Interesse des Dargestellten liefern.

4.1.2.2.10 Jean Oberlé mit Gemälden (Paris, 1944)

Das Porträt von Stanley William Hayter von 1940 zeigt den Künstler eventuell in einer nachbereitenden Phase im Ausstellungsbetrieb. Eine ganz andere Situation, die mit Sicherheit im Umfeld einer Präsentation seiner Gemälde anzusiedeln ist und bei der es sich um den Prozess der Vorbereitung handelt, ist in vier629 von (mindestens) elf630 Aufnahmen einer Fotoserie von Jean Oberlé dargestellt.

Eine Ausschnittvergrößerung einer Fotografie der Serie (Fotografie 44)631 wurde in dem Artikel Les lumières de la ville von Alexandre Astruc neben Aufnahmen anderer Fotografen und weiteren Aufnahmen Lee Millers in der französischen Vogue im Januar 1945 publiziert Diese Veröffentlichung erlaubt einen Rückschluss auf die ungefähre Entstehungszeit – Ende 1944 – und den Entstehungsort – Astruc berichtet von einer Ausstellung der Gemälde des Künstlers in der Pariser Galerie Charpentier.632 Diese Datierung kann über Informationen des Lee Miller Archive noch spezifiziert werden: als Aufnahmetag wird in der Kartei unter der betreffenden Inventarnummer der 21. November 1944 genannt.

629 SWN LMA, Inv. Nr. 6103-1, 6103-3, 6103-4 und 6103-6, Negativformat 6 x 6 cm. 630 In sieben weiteren Fotografien der Serie (SWN LMA, Inv. Nr. 6103-2, 6103-5, 6103-7 bis 6103-11, Negativformat 6 x 6 cm), in denen Oberlé in den Räumen der Galerie Charpentier unter anderem in einer (repräsentativen) Pose zusammen mit ausgewählten Werken zu sehen ist, wird im Bild selbst kein unmittelbarer Bezug zu diesem Prozess hergestellt. Keine der bisher vorgestellten Aufnahmen der Porträtserie wurde zur Veröffentlichung in dem Artikel von Alexandre Astruc Les lumières de la ville in der Januarausgabe der französischen Vogue des Jahres 1945 ausgewählt, publiziert wurde schließlich eine Ausschnittvergrößerung einer Fotografie (SWN LMA, Inv. Nr. 6103-11, Negativformat 6 x 6 cm), die den Künstler in traditioneller Manier und in repräsentativer Pose vor einem Kamin wiedergibt. Oberlé lehnt sich anscheinend an die Kaminumrandung an und vermittelt durch seine gerade, aufrechte, ruhig und diszipliniert wirkende Körperhaltung einen selbstsicheren Eindruck. In der Darstellung hält er ein kleinformatiges Gemälde in seinen Händen, von dem er sich aber abwendet, um in die Kamera zu blicken. Ein weiteres Werk, das als eine Arbeit Oberlés identifiziert werden konnte und das seinen engen Freund Max Jacob darstellt, wurde auf dem Kaminsims präsentiert. Dieses Porträtgemälde befindet sich heute im Musée des Beaux-Arts d’Orléans (1, rue Fernand Rabier, 45000 Orléans). Freundliche schriftliche Mitteilung des Direktors des Musée des Beaux-Arts de Quimper, André Cariou, vom 14.5.2002. 631 Fotografie 44 = SWN LMA, Inv. Nr. 6103-11, Abb. in: Alexandre Astruc, Les lumières de la ville, in: (französische) Vogue (Januar 1945), S. 80 632 Alexandre Astruc, Les lumières de la ville, in: (französische) Vogue (Januar 1945), S. 80. Astruc schreibt in diesem Artikel, in dem eine Aufnahme der Serie (LMA, 6103-11) publiziert wurde, über Oberlé: „Des êtres aussi nous sont revenus, des voix se sont matérialisées qui ont été pendant quatre ans pour des millions de Français la présence réconfortante qui leur ouvrait l’avenir: Jean Oberlé est de nouveau parmi nous et ce garçon étonnamment doué nous a montrés chez Charpentier toute une série de toiles où se révèlent une sensibilité aiguïe et un goût subtil des coloris.“ 137

Jean Oberlé (Brest, Finistère, 12. 1.1900 – Paris, 2.3.1961) lebte während der deutschen Besatzung von Paris im 2. Weltkrieg in London. In den vier Jahren, die er ab 1940 in seinem Exil verbrachte, moderierte er für den zur British Broadcasting Corporation (kurz B.B.C) gehörenden Sender France Libre die Sendung Les Français parlent aux Français und unterstützte so seine im besetzten Frankreich lebenden Landsleute. Oberlé war als Illustrator für bedeutende Pariser Zeitungen und Magazine tätig und illustrierte die Werke herausragender zeitgenössischer Autoren wie beispielsweise Colette (1873 – 1954), Blaise Cendrars (1887 – 1961), Max Jacob und des Nobelpreisträgers Anatole France (1844 – 1924).633 Seine Werke sollen regelmäßig in den großen Pariser Galerien ausgestellt worden sein.634

Nachdem die französische Hauptstadt Ende August 1944 befreit worden war, kehrte Oberlé aus seinem britischen Exil in seine Heimat zurück. Auch Lee Miller hielt sich seit dem Tag der Befreiung (25. August 1944) in Paris auf, wo sie sofort Freunde wie Picasso, Paul und Nusch Éluard oder auch Christian Bérard und Boris Kochno (1904 – 1990) aufsuchte und fotografierte. Ob Jean Oberlé zu den Freunden Millers zählte oder ob sie den Künstler über ihre Bekannten oder eventuell anlässlich der Ausstellung seiner Werke kennen lernte, kann nur vermutet werden. Vielleicht war Oberlé Miller auch durch seine im besetzten Frankreich sehr populäre Radiosendung bekannt?

Lee Miller porträtierte den Künstler während der Vorbereitungen für eine Ausstellung, bei der es sich um die erste Präsentation seines Werks in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg handelte. Der Maler wird in einigen Aufnahmen aus einer relativ großen Distanz gezeigt635, so dass ein entsprechend großer Ausschnitt des Raums dargestellt ist. In den Räumen der Galerie Charpentier, in denen die Gemälde Oberlés dem Publikum präsentiert werden sollten, herrschte während des Ausstellungsaufbaus, der in den vier betreffenden Aufnahmen neben der Darstellung des Künstlers zu einem zentralen Motiv wird, verständlicherweise eine ziemliche Unordnung. In den dekorierten und mit kostbar wirkenden Mobiliar ausgestatteten Räumen standen die Gemälde auf dem Boden oder lehnten an den Wänden, der Inhalt einer Werkzeugkiste war im Raum verstreut.

In diesem Ambiente posierte der Künstler, der durch seine Stellung im Bild besonders hervorgehoben wird636, in verschiedenen Haltungen637 für die Fotografin. In vier

633 Jean Oberlé schuf Illustrationen für die folgenden Werke: Jean Galtier Boissiere, La belle amour, Paris 1945. Pierre Veber, Amour, amour, Paris 1928. Claude Blanchard, Le Parisien de Paris, Paris 1946. Doré Ogrizell, Paris tel qu’on l’aime, Paris 1950. Pierre MacOrlan, Rhenanie, Paris 1928. Pierre Doublet, Civils en uniforme, Paris 1946. Anatole France, The gods are thirsty, London 1942. Blaise Cendrars, L’or, la merveilleuse histoire du général Johann August Suter, Paris 1929. Mery, La chasse au chastre, Paris 1946. 634 E. Bénézit, Dictionnaire critique et documentaire des Peintres, Sculpteurs, Dessinateurs et Graveurs, Bd. 7, Paris 1976, S. 773. Max Jacob et les artistes de son temps, Ausst. Kat., Musée des Beaux-Arts d’Orléans, 1.6.– 30.9.1989, S. 147–148. 635 SWN LMA, Inv. Nr. 6103-1 bis 6103-4 und 6103-6, Negativformat 6 x 6 cm. 636 Oberlé teilt die Bildfläche entweder ungefähr im Verhältnis des Goldenen Schnitts oder ist auf der Mittelsenkrechten dargestellt. 138

Aufnahmen638 sind in unmittelbarer Nähe Oberlés zwei respektive drei weitere Männer zu sehen. Diese bereiten ein auf dem Boden stehendes Gemälde, das eine Frau mit einem Blumenstrauß und einem Buch in den Händen zeigt, zur Hängung vor. Das Werk, das leider wegen des in der Literatur nur unzureichend bearbeiteten Œuvres von Oberlé nicht näher bestimmt werden kann, wird schließlich an der Wand in Position gebracht. Trotz seiner perspektivischen Verkürzung kommt diesem großformatigen Werk aufgrund des Raums, den es in der Komposition beansprucht, eine besondere Rolle unter den in der Aufnahme dargestellten Gemälden zu. Mit seiner Bildfläche ist es, wie auch ein kleines Gemälde, das Oberlé in der Hand hält, in Richtung des Malers ausgerichtet und kann so vielleicht – wie bei Max Ernst und Kay Sage639 – als ein Hinweis auf dessen Urheberschaft verstanden werden. Oberlé ist aber scheinbar weder an diesem Gemälde noch an den Arbeiten, die um das Bild herum stattfinden und in deren Mittelpunkt es steht, interessiert, er unterzieht vielmehr das kleinformatige Werk in seinen Händen einer genaueren Betrachtung.640 Seine Aufmerksamkeit gilt in neben diesem Gemälde nur noch der Fotografin, die er unmittelbar anblickt.641

Während Giuseppe Santomaso642 1948 von Lee Miller gezeigt wird, wie er im Rahmen der 24. Biennale von Venedig beim Arrangieren seines Werks Hand anlegt, scheint Oberlé in den Ende 1944 entstandenen Aufnahmen eher an der ästhetischen Komponente seiner Arbeiten interessiert zu sein. Dies könnte mit dem unterschiedlichen Rollenverständnis der Künstler, die zum einen an der Hängung des Werks aktiv teilnahmen respektive sich zum anderen von den handwerklichen Tätigkeiten beim Arrangieren der Bilder distanzierten, begründet werden. Im Fall von Jean Oberlé könnten – rein spekulativ – vielleicht auch andere Gründe eine Rolle spielen, um das mangelnde Interesse des Künstlers am Prozess des Hängens respektive die intensive Beschäftigung mit seinen Gemälden erklären zu können: Oberlés Werke waren während des Krieges in einem Pariser Appartement aufbewahrt worden, so dass der Künstler seine eigenen Arbeiten seit seiner Flucht nach Großbritannien kaum gesehen haben konnte und diese während der Ausstellung vielleicht wieder neu entdeckte.

Von den anderen, in der Fotografie dargestellten Männern unterscheidet sich Oberlé vor allem durch seine passive Haltung, die er lediglich in zwei der sechs Bilder643 aufgibt. Seine

637 Der Künstler wird in den Aufnahmen SWN LMA, Inv. Nr. 6103-1 und 6103-2, Negativformat 6 x 6 cm, stehend gezeigt, während er in den SWNn LMA, Inv. Nr. 6103-3, 6103-4 und 6103-6 als Sitzfigur in leichter Aufsicht zu sehen ist. 638 Negativformat 6 x 6 cm, LMA, Inv. Nr. 6103-1, 6103-3, 6103-4 und 6103-6. 639 Vgl. Kap. 4.1.2.2.4 und 4.1.2.2.3. 640 Negativformat 6 x 6 cm, LMA, Inv. Nr. 6103-1 und 6103-3. 641 Negativformat 6 x 6 cm, LMA, Inv. Nr. 6103-4 und 6103-6. 642 Vgl. Kap. 4.1.3.1. 643 In einer weiteren Fotografie (SWN LMA, Inv. Nr. 6103-6) wird Oberlé gezeigt, wie er ein Gemälde mit der Vorderseite auf dem Boden deponiert hat und auf der Rückseite des Werks hantiert, also anscheinend Vorbereitungen zur Präsentation trifft. Ein leerer, eher kleinformatiger, ornamentierter Bilderrahmen, der in den Darstellungen LMA, Inv. Nr. 6103-3, 6103-4 und 6103-6 auf dem Boden an der linken Seite des im Sitzen porträtierten Oberlés gezeigt wird respektive den er in der Hand hält (ff) 139

Tätigkeit kann aber auch in diesen Fällen nicht dem Prozess der Hängung zugeordnet werden. Oberlé bietet zudem im Anzug mit Weste eine äußerst elegante und konventionelle Erscheinung, über die er sich zwar in den Fotografien in die repräsentativen Räumlichkeiten perfekt einbindet, die aber in einem gewissen Kontrast zu der während des Aufbaus herrschenden Atmosphäre steht. Die anderen am Aufbau der Ausstellung beteiligten Männern werden in einem weiten Kittel mit Baskenkappe oder ebenfalls im Anzug wiedergegeben. An der besonderen Bedeutung, die Oberlé aufgrund seiner Haltung, seiner sehr eleganten Kleidung und nicht zuletzt seiner Passivität vor allen anderen im Raum zukommt, besteht kein Zweifel. Wieder wird der Porträtierte in einem künstlerischen Umfeld fotografiert und so ein besonderer Bezug zu seinen beruflichen oder privaten Interessen evoziert, aber wieder wird dieser Zusammenhang im Bild nicht konkretisiert. Oberlé erfüllt – wie auch Paul Delvaux – vielmehr das typische Klischee eines Kunsthändlers.

4.1.2.2.11 Paul Delvaux mit dem Gemälde La ville rouge (Brüssel, 1944)

Von Ende November644 bis Mitte Dezember 1944 reiste Lee Miller in ihrer Funktion als US-Kriegskorrespondentin für Vogue aus dem von deutscher Besatzung befreiten Paris nach Brüssel.645 Ihre Eindrücke vom Leben in der belgischen Hauptstadt in Kriegszeiten fasste sie in ihrem im Februar 1945 in Vogue veröffentlichten Artikel Brussels – more British than London 646 zusammen. Dieser Artikel wird – neben Fotografien von berühmten und weniger berühmten Brüsseler Einwohnern – auch von zwei Porträts647 von Millers bevorzugten modernen belgischen Malern illustriert, zu denen Olivier Picard648 und die Surrealisten René Magritte und Paul Delvaux649 (Antheit, Belgien, 23.9.1897 – Veurne, 20.7.1994) zählen.

(LMA, Inv. Nr. 6103-5), wird von dem Künstler in einer anderen Fotografie, in der er in stehender Position im Mittelpunkt gegeben wird, versuchsweise an ein bereits schlicht gerahmtes Gemälde gehalten (SWN LMA, Inv. Nr. 6103-2). 644 Insgesamt sollen lt. Angaben des Lee Miller Archive von Lee Millers Aufenthalts in Belgien 34 Kontaktbögen existieren, die auf den 20/11/1944 (Negative LMA, Inv. Nr. 6104) respektive den 25/11/44 datiert sind. 645 Miller reiste von Paris aus, wo sie sich seit Ende August aufhielt, in die belgische Hauptstadt, die sie mit dem Ziel London wieder verließ, um das Weihnachtsfest 1944 mit Roland Penrose in London zu verbringen. Von London aus kehrte sie dann wieder nach Paris zurück (Penrose 1985a, S. 129). 646 Lee Miller, Brussels – more British than London, in: (britische) Vogue (Februar 1945), S. 54–57, 76, 78. 647 LMA, Inv. Nr. 6104-160 (16) (Delvaux und Magritte), LMA, Inv. Nr. 6104-34 (4) (Olivier Picard), Abb. in (britische) Vogue (Februar 1945), S. 57. Auch die Aufnahme 6104-161 (16) zeigt Magritte und Delvaux, wie sie sich an einem Kanonenofen im belgischen Nachkriegswinter die Hände wärmen. Die im Hintergrund in einem Regal dargestellten Bücher, unter anderem über Gaugin, legen die Vermutung nahe, dass die Aufnahmen in einer Buchhandlung oder einer Kunstgalerie entstanden sein könnten. So wurde Magritte von Miller auch bei einer Ausstellung seiner Werke in Lou Cosyn’s Gallery fotografiert, die Aufnahmen sind aber zum Teil zu stark belichtet worden (vgl. 6104-162 (16) bis 6104-166 (16). René Magritte wird in den Aufnahmen 6104-158 (16), 6104-159 (16) und 6104- 259 (25) auch in einem Garderobenraum, zusammen mit seinem weißen Spitz gezeigt. 648 Vgl. Kap. 4.1.2.3.1. 649 Die Biografie von Paul Delvaux findet sich unter der Rubrik Painter bzw. Peintre auf der Internetseite der Paul Delvaux Foundation >www.delvauxmuseum.com<. 140

Letztere gehörten bereits seit 1937 zu den Freunden Millers und waren ihr durch den belgischen Künstler E.L.T. Mesens vorgestellt worden.650

Der Zeitpunkt von Millers Besuch in Brüssel fällt mit der Vorbereitung und der Eröffnung einer vom 16. Dezember 1944 bis zum 15. Januar 1945 im Palais des Beaux-Arts gezeigten Retrospektive von Delvauxs Werken zusammen. Miller porträtierte Paul Delvaux in einer aus mindestens zehn Aufnahmen bestehenden Serie651, die ihn sechs Fotografien652 mit seinem aktuellen, im Januar 1944 vollendeten Gemälde La ville rouge653 zeigt. Während man aufgrund der Koinzidenz der Ereignisse annehmen kann, dass diese Porträts während der Ausstellung aufgenommen worden sind, stellen vier weitere Fotografien der Serie654 Delvaux im Freien vor einer Architekturkulisse655, also außerhalb eines künstlerischen Ambientes, dar.

Obwohl die Fotografien, in denen Paul Delvaux mit seinem Gemälde dargestellt ist, laut Kartei des Lee Miller Archive am 20.11.1944 – also rund drei Wochen vor Eröffnung der Retrospektive – entstanden sind, so dass Lee Miller den Künstler wahrscheinlich in einer vorbereitenden Phase im Ausstellungsbetrieb fotografierte, ist dies aus den Aufnahmen selbst nicht ersichtlich. Bei der Vorbereitung handelt es sich so nicht, wie in den kurz zuvor aufgenommenen Fotografien von Jean Oberlé656 und den 1948 entstandenen Aufnahmen von Giuseppe Santomaso657 um eine unmittelbare Arbeit im Präsentationsraum, wie beispielsweise das Hängen oder Arrangieren der Gemälde durch den Künstler selbst oder durch Dritte. Das Kunstwerk wird nicht in der Anordnung und dem Ambiente präsentiert, in dem es in der Ausstellung einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden soll, sondern in einer spontan inszenierten Präsentation in einem Raum im Palais des Beaux Arts, in dem die in der Ausstellung zu präsentierenden Gemälde wahrscheinlich nach ihrer Anlieferung ausgepackt und bis zur Hängung gelagert wurden.

Für einen Lagerraum als Ort der Aufnahme spricht so die Darstellung zahlloser weiterer Gemälde, die mit den Vorderseiten an den Wänden lehnen und die den Bildraum, neben dem Werk La ville rouge, in einem künstlerischen Zusammenhang sehen lassen. Die

650 Penrose 2001, S. 79. 651 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-251 (25), 6104-252 (25), 6104-253 (25), 6104-254 (25), 6104-255 (25), 6104-256 (25), 6104-257 (25), 6104-258 (25), 6104-259 (25), 6104-260 (25), Negativformat 6 x 6 cm. 652 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-251 (25), 6104-252 (25), 6104-253 (25), 6104-254 (25), 6104-255 (25), 6104-256 (25). 653 La ville rouge, 110 x 180 cm, Datierung des Gemäldes: 12–43, 1–44. Abb. in: Paul-Aloïse De Bock, Paul Delvaux, Brüssel 1967, S. 124, Abb. 62. 654 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-257 (25), 6104-258 (25), 6104-259 (25), 6104-260 (25). 655 Die Aufnahmen (LMA, Inv. Nr. 6104-257 (25) und 6104-258 (25), Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 100) entstanden wahrscheinlich vor dem Palais des Beaux Arts. 656 Ende November 1944, vgl. Kap. 4.1.2.2.10. 657 Vgl. Kap. 4.1.3.1. 141

Lagerung der Werke und auch die Form der Präsentation des Gemäldes La ville rouge weist Analogien zu den Porträts auf, die Lee Miller im gleichen Zeitraum von Pablo Picasso aufnahm und die den Künstler mit seinen jeweils aktuellsten Werken im Atelier darstellen. Die Art und Weise, in der das Gemälde in den Aufnahmen präsentiert wird – auf dem Boden stehend und vom Künstler am oberen Bildrand gehalten –, kann als ein Indiz für die Spontaneität der Inszenierung gewertet werden.

Lee Miller wählte für die Fotografien des Malers mit seinem Werk eine größere Aufnahmedistanz, so dass La ville rouge in ganzer Größe in der unteren Bildhälfte gezeigt wird. Paul Delvaux, der hinter seinem Bild steht und von diesem aufgrund des großen Formats von 110 x 180 cm (H/B) bis in Höhe der Brust verdeckt wird, besetzt zwar eine wichtige Position658 im Bild, doch wird das Gemälde in den Aufnahmen, in denen es nur mit einer geringen perspektivischen Verkürzung659 wiedergegeben wird, wegen seiner Größe und seiner Anordnung in der vorderen Bildebene zum bildbestimmenden Element. Die perspektivisch verkürzte Wiedergabe des hochillusionistischen Werks trägt dazu bei, dass die Realitätsdifferenzen zwischen dem artifiziellen und dem real existierenden Bildraum erhalten bleiben, wodurch es als ein gemaltes Bild kenntlich gemacht wird, was bei einer bildflächenparallelen Darstellung nicht der Fall wäre660.

Keine der Fotografien, die Paul Delvaux mit seinem Werk im während seiner Retrospektive zeigen, wurde für die Illustration des Artikels Brussels – more British than London verwendet, auch findet sich im Text kein Hinweis auf diese Ausstellung. Über Paul Delvaux schreibt Miller unter anderem, dass dieser neben Olivier Picard und René Magritte zu ihren bevorzugten belgischen Malern zähle und sich „bei guter Gesundheit“ befinde. Sie fährt fort: „Delvaux hat seinen Stil auch nach dem Krieg fortgesetzt, aber farbiger als zuvor. Geheimnisvolle Nackte eilen zu unbekannten Missionen oder sitzen ruhig an unerwarteten Orten. Diese letzten Monate der Besatzung und Invasion haben ihn veranlasst, Gefangene und Skelette zu malen. Diese neuen, blassgrünlichen Bilder sind nicht schaurig, aber verwirrend.“661

658 Der Künstler teilt die Bildfläche entweder ungefähr im Verhältnis des Goldenen Schnitts (SWN LMA, Inv. Nr. 6104-252 (25)) oder ist etwa auf der Mittelsenkrechten dargestellt (SWN LMA, Inv. Nr. 6104-253 (25) und 254 (25)). 659 La ville rouge wird in keiner der Fotografien bildflächenparallel gezeigt, vielmehr handelt es sich – bedingt durch den mehrfachen Standortwechsel der Fotografin – um Ansichten von der rechten Seite her, so dass das Werk in allen Aufnahmen mit einer perspektivischen Verkürzung zu sehen ist. Um eine der optimalen Präsentation angenäherte Darstellung handelt es sich in den Aufnahmen SWN LMA, Inv. Nr. 6104-251 (25) und 6104-252 (25), in denen das Gemälde noch ohne Schwierigkeiten identifiziert werden kann. In der Aufnahme LMA, Inv. Nr. 6104- 253 (25) ist das Gemälde bereits mit einer stärkeren Verkürzung, die eine Identifizierung aber noch erlaubt, dargestellt. Die Person des Malers und der in einem größeren Umfang in die Aufnahme integrierte Bildraum stehen in der Fotografie LMA, Inv. Nr. 6104-254 im Mittelpunkt der Darstellung. Das Gemälde kann aufgrund der starken perspektivischen Verkürzung nicht mehr als eine bestimmte Arbeit Delvauxs identifiziert werden. 660 Vgl. hierzu die Fotoserie von Olivier Picard, Kap. 4.1.2.3.1. 661 Miller 1945, S. 54–57, 76, 78: „Delvaux has continued the same line but with more colour than before the war. Mysterious nudes rush off on unexplained missions, or sit placidly in unexpected places. These last months of occupation and invasion urged him to paint prisoners and skeletons. The latter are pale greeny pictures, not gruesome but disturbing.” 142

Die für die Publikation verwendete Aufnahme zeigt Paul Delvaux zusammen mit René Magritte, wie sich die beiden Künstler an einem Kanonenofen die Hände wärmen, und stellt sie in einer in einem Nachkriegswinter wohl alltäglichen Situation dar.662 Die im Hintergrund in einem Regal zur Ansicht oder zum Verkauf präsentierten Bücher, unter anderem über Gaugin, lassen den Schluss zu, dass die Aufnahmen in einer Bücherei, Buchhandlung oder einer Kunstgalerie entstanden sein könnten, wofür sich aber kein weiterer bildimmanenter Hinweis bietet. Magritte wurde aber von Miller auch bei einer Ausstellung seiner Werke in Lou Cosyn’s Gallery fotografiert.663

4.1.2.3 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) im Wohninterieur

In den in dem Kapitel 4.1.2.2 vorgestellten Fotografien sind die Porträtierten im Atelier oder im Ausstellungsraum zu sehen. In den Aufnahmen wurde über eine große Anzahl von Skulpturen oder Gemälden in Lagerhaltung, künstlerische Utensilien und Gerätschaften wie Staffeleien oder Werktische oder aber die Vorbereitungen für die Präsentation des Werks ein Hinweis auf eine spezielle Atelier- respektive Ausstellungssituation geliefert.

In einem völlig anderen Ambiente entstanden die nun folgenden Fotografien Millers. Über die Ausgestaltung und Möblierung der im Bild dargestellten Räume kann auf eine repräsentative Umgebung oder – in den meisten Fällen – auf das gewohnte Umfeld der Porträtierten als Aufnahmeort geschlossen werden, nicht aber auf einen spezifisch künstlerischen Raum, in dem der Künstler seine Werke schuf, lagerte oder auch präsentierte. In dieser Kulisse werden die Dargestellten zusammen mit ein oder zwei Kunstwerken, die auch in diesem Fall auf ihr spezielles Interesse an Kunst, nicht aber konkret auf ihren künstlerischen Beruf schließen lassen, fotografiert.

Millers erste Porträts von Künstlern in ihrem gewohnten Ambiente können in die Mitte der 1940er Jahre datiert werden. Olivier Picard, Christian Bérard und Feliks Topolski wurden von der Fotografin in ihren mit Kunstwerken ausgeschmückten Wohnungen porträtiert.

4.1.2.3.1 Olivier Picard mit Gemälden, u. a. Echange d’idées (Brüssel, 1944)

Die Porträtserie664 des belgischen Malers Olivier Picard muss in engem zeitlichen Zusammenhang zu den Fotografien, die Lee Miller von Jean Oberlé665 (Paris, November 1944), und Paul Delvaux666 aufgenommen hat, gesehen werden. Miller fotografierte Delvaux während ihres Aufenthaltes in Brüssel (Ende November bis Mitte Dezember 1944); die

662 Abb. in: Miller 1945, S. 57. Livingston 1989, S. 140. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 72. 663 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-162 (16) bis 6104-166 (16). René Magritte wird in den Aufnahmen 6104- 158 (16), 6104-159 (16) und 6104-259 (25) auch in einem Garderobenraum mit seinem weißen Spitz gezeigt (vgl. Kap. 4.2, Porträts von 1940-1950). 664 Die Serie besteht aus mindestens neun Fotografien (SWN, LMA, Inv. Nr. 6104-37 (4) bis 6104-45 (4), Negativformat 6 x 6 cm. Vgl. auch die Aufnahmen LMA, Inv. Nr. 6104-47 (5) und 6104-48 (5)). 665 Vgl. Kap. 4.1.2.2.10. 666 Vgl. Kap. 4.1.2.2.11. 143

Aufnahmen können anhand der Angaben in der Kartei des Lee Miller Archive auf den 20.11.1944 datiert werden.

Was Miller in diesem Zeitraum in der belgischen Metropole erlebte und wem sie dort begegnete, erfährt man aus ihrem im Februar 1945 in Vogue veröffentlichten Artikel Brussels – more British than London.667 Miller berichtet unter anderem, dass ihre bevorzugten modernen belgischen Maler, zu denen neben Paul Delvaux und René Magritte (1898 – 1967) auch Olivier Picard zählte, noch in Brüssel leben würden und dass es ihnen gut gehe. Während die Autorin im Fall von Delvaux und Magritte in kurzen, den einzelnen Künstlern zugeordneten Absätzen hauptsächlich eine durch den Krieg hervorgerufene stilistische Entwicklung der Maler skizziert, reduziert sie diese Beschreibung bei Picard auf eine Zeile und liefert vielmehr Informationen über dessen Lebensumstände in der Zeit nach der Befreiung Brüssels von deutscher Besatzung: „Es war schön, Olivier Picard wieder zu sehen. Er malt in derselben fragilen Art und Weise und hat wundervolle Theaterkulissen geschaffen. Sein Studio war eiskalt und wir lutschten in Brandy getauchten Zucker und sprachen darüber, wie viele von denen, die in Belgien die ganze Zeit eingeschlossen waren, nach England gehen wollten, um etwas von der Welt draußen zu sehen und um Vergleiche anstellen zu können, bevor man sesshaft werden und sein Leben wieder aufbauen würde.“668

Olivier Picard (Brüssel, 1897 – Brüssel, 28.9.1974)669, der als Maler, Zeichner, Illustrator, Bühnendesigner und Kunstkritiker tätig und Mitglied in der Association des critiques d’Art de Belgique und der Académie Picard war, zählte viele Künstler zu seinen Freunden, zu denen auch Paul Delvaux, René Magritte, Georges Braque, Amedeo Modigliani (1884 – 1920), Alberto Giacometti (1901 – 1966) und Henri Laurens (1885 – 1954) gehörten. Nachdem er abwechselnd in Brüssel und Paris gelebt hatte, ließ sich Olivier Picard in den 1950er Jahren endgültig in Paris nieder, wo er regelmäßig das Atelier von Fernand Léger (1881 – 1955) besuchte. Das Œuvre Picards wurde – gegen seinen Widerstand – in verschiedenen Ausstellungen in Paris (1937 im Musée de Jeu de Paume und 1938 im Petit Palais), London (1937 bei E.L.T. Mesens) und im gleichen Zeitraum auch in Brüssel (bei Manteau, Giroux, Armentor und 1950 im Musée des Beaux-Arts) präsentiert. Lee Miller, die seit 1934 in Ägypten lebte, hielt sich während des Sommers 1937 in Paris und London auf und könnte Picard und sein Œuvre bereits zu diesem Zeitpunkt kennen gelernt haben.

667 Miller 1945, S. 54–57, 76, 78. 668 Miller 1945, S. 76: “Olivier Picard was delightful to see again. He paints in his same fragile manner and has done lovely theatrical sets. His studio was freezing cold and we both suckled sugar soaked in brandy and talked about how much everyone who had been locked in Belgium all this time, depressed and discouraged, wanted to go to England: to see some outside world for comparison before settling down to rebuilding their lives.” 669 Die Angaben zur Biografie Olivier Picards wurden dem Dictionnaire des Peintres Belges du XIVe siècle à nos jours, 1995 entnommen respektive finden sich auf der Internetseite des Musée d’Ixelles, Brüssel >http://www.musee-ixelles.de< unter dem Link >Expositions<, >Exposition passée<. Zur Ausstellung von Picards Werken erschien folgende Publikation: Olivier Picard, Ausstellungkatalog Musée d’Ixelles, Bruxelles, 23.5.–28.7.1985, mit Texten von Jean Clair, René Micha, o. Pag., vgl. die Biografie auf der gezählten Seite 22. 144

Picards Arbeiten wurden bisher nur in wenigen Ausstellungen gezeigt – 1970 in Brüssel, 1975 bei Cardin oder 1976 in Mexiko, wo der Bildhauer Victor Manuel Contreras in Cuernavaca die letzten Arbeiten Picards in einem kleinen Museum aufbewahrt. Die bis jetzt letzte Ausstellung, auf der viele von Picards Gemälden und Zeichnungen zu sehen waren, die von Leihgebern aus aller Welt stammten, fand vom 23. Mai bis zum 28. Juli 1985 im Musée d’Ixelles in Brüssel statt.

In Millers Artikel findet sich der Hinweis, dass sie ihren Lieblingsmaler Olivier Picard in dessen Atelier in Brüssel besuchte, in dem eine eisige Kälte geherrscht haben soll. Etwas Wärme versprachen sich beide davon, dass sie in Brandy getränkte Zuckerstücke lutschten. Diese Szene hielt Miller in drei Fotografien670 fest, von der eine in ihrem Artikel in Vogue veröffentlicht wurde (Fotografie 45)671. Picard wird in der betreffenden Aufnahme gezeigt, wie er den Zucker vorsichtig in ein Glas mit Brandy taucht, um dieses Stück anschließend zum Mund zu führen.672 Hierbei sitzt er auf einem mit Kissen und Decken beladenen Sofa und vermeidet einen direkten Blick in die Kamera, wodurch er eine eventuelle Unsicherheit preisgibt. Eine enge Freundin Picards, die Bildhauerin Elisabeth de Wée, beschreibt den Künstler im April 1985 als einen Menschen, der unter starken Selbstzweifeln litt und auf die Bestätigung durch seine Freunde in steigendem Maß angewiesen war und stützt so den Eindruck, den man bei der Betrachtung der Porträts von Picard gewinnt.673

Miller porträtierte den Künstler aus einer kurzen Distanz, die in allen Aufnahmen geringfügig verändert wurde und die nur die Darstellung eines begrenzten Raumausschnitts erlaubte. Picard wird durch seine Stellung im Bild674 ausgezeichnet und so noch vor einem an der hinteren Wand gezeigten, großformatigen Gemälde wahrgenommen. Keine der Aufnahmen der Serie gibt dieses Kunstwerk, das immer vom Bildrand angeschnitten wird, vollständig wieder. Der Ausschnitt des gerahmten Gemäldes zeigt eine nackte junge Frau, die direkt oberhalb des Künstlers wiedergegeben wird. Diese Figur ist – wie Picard – bis in Hüfthöhe zu sehen und zusätzlich auf derselben Raumachse angeordnet worden, so dass der Blick des Betrachters über Picard zu der Nackten weitergeleitet wird.

Die hochillusionistische Malweise des Gemäldes und seine fast bildflächenparallele Präsentation lassen – anders als bei Delvaux und seinem Werk675 – in der Fotografie keine Differenzierung zwischen der realen Situation während der Aufnahme und dem künstlerischen Produkt zu: die nackte Frau scheint ebenso wirklich zu sein wie Olivier Picard. Dieser Eindruck wird dadurch gestützt, dass die ‚Nackte‘ nur unwesentlich kleiner dargestellt

670 SWN, LMA, Inv. Nr. 6104-37 (4) bis 6104-39 (4), Negativformat 6 x 6 cm. 671 Fotografie 45 = SWN LMA, Inv. Nr. 6104-37 (4), Abb. in: Miller 1945, S. 57. 672 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-38 (4). 673 Ausst. Kat. Brüssel 1985, o. Pag., gezählte Seite 17. 674 Durch den wechselnden Aufnahmeort ist Picard, der immer in der vorderen Bildebene gezeigt wird, entweder auf der Mittelsenkrechten dargestellt oder teilt die Bildfläche ungefähr im Verhältnis des Goldenen Schnitts. 675 Vgl. Kap. 4.1.2.2.11. 145 ist als der porträtierte Künstler. Da die weibliche Figur in der hinteren Bildebene wiedergegeben und zudem in einen gemalten Bildraum eingebunden wird, der räumliche Tiefe suggeriert und die Flächigkeit der hinter Picard dargestellten Wand weitgehend aufhebt, könnte dieser Größenunterschied nicht unmittelbar mit der Realitätsdifferenz, sondern auch mit der perspektivische Verkleinerung begründet werden.

Olivier Picard wird in diesen Aufnahmen nicht mit einem eigenen Werk, sondern mit dem 1939 entstandenen Gemälde Nocturne676 des surrealistischen Malers Paul Delvaux, seines engen Freundes, dargestellt. Obwohl das Œuvre Picards, das eine sehr poetische Ästhetik besitzt, eigentlich keiner Schule zugerechnet werden kann und sich jeglicher Klassifizierung entzieht – wie man auf der Internetseite des Musée d’Ixelles erfährt677 –, könnte vor allem über die traumhaften und irrealen Motive eine Verbindung zum Surrealismus hergestellt werden. Olivier Picard wird in Millers Fotografie mit Delvauxs Gemälde, das Analogien zu dem Porträt der Gabrielle d’Estrée et la Duchesse de Villars678 aus der Schule von Fontainebleau aufweist, in eine enge Beziehung gesetzt, was unter Umständen einen Hinweis auf seine Autorschaft liefern könnte. Da das Gemälde aber eindeutig Paul Delvaux zugeschrieben und als ein surrealistisches Werk angesprochen werden kann, könnte es nur auf die stilistische Nähe von Picards Œuvre zum Surrealismus verweisen. Über das Gemälde Nocturne und eine ebenfalls im Hintergrund präsentierte, nicht identifizierbare Skulptur679 wird eine künstlerische Atmosphäre geschaffen, in die der Porträtierte eingebunden wird. Nur bei Unkenntnis über die Person und das Werk Picards könnte er, der nicht als Bildhauer tätig war, als Urheber des Gemäldes Nocturne und der Figur angesehen werden.

Ohne Skulptur, aber mit einem weiteren Gemälde ist Picard in fünf anderen Fotografien680 der Serie zu sehen. Neben dem bereits bekannten Nocturne von Delvaux handelt es sich bei

676 Abb. in: Paul Delvaux, Ausst. Kat., Museum Boymans-van Boyningen, Rotterdam, 13.4.–17.6.1973, Cat. Nr. 15 und Seite 120. Nocturne, 1939, Öl/Leinwand, 94 x 123 cm, signiert und datiert unten rechts: P.DELVAUX 2–39. Virginie Devillers, Paul Delvaux: Le théâtre des figures, in: Revue de l’Université de Bruxelles, Collection Le sens de l’image, (1992), 1/2, S. 103, Abb. Nr. 10. 677 >http://www.musee-ixelles.de<, EXPOSITIONS, EXPOSITIONS PASSÉES, 1985, Olivier Picard: „Son œuvre, poétique avant tout, n’appartient à aucune école, même si l’on pourrait avoir la tentation de le rattacher aux surréalistes. Sa peinture, que l’on qualifierai plutôt d’irréalité poétique, est une tentative de matérialiser un rêve éveillé – fuite en avant – tout à ses voyages incessants à la recherche d’un monde «différent». 678 Abb. in: Gotthard Jedlicka, Französische Malerei: ausgewählte Meisterwerke aus fünf Jahrhunderten, Zürich [u.a.] 1938, Tafel 47. 679 Die Schwarzweißnegative LMA, Inv. Nr. 6104-37 (4), 6104-38 (4), 6104-39 (4) und 6104-44 (4) zeigen die Plastik, die nicht eindeutig bestimmt werden kann, da ein starkes, von der rechten Seite her einfallendes Licht, das auch Picard und das Gemälde mit geringerer Intensität trifft, die Linienführung zum größten Teil unkenntlich macht. Erkennbar ist, dass es sich um eine mittelgroße, stehende Figur handelt, deren ‚Kleidung‘ ein antikes Vorbild vermuten lässt. 680 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-40 (4) bis 6104-43 (4) und 6104-45 (4), Negativformat 6 x 6 cm. 146 dem zweiten Gemälde681 um ein eigenes Werk von Olivier Picard, da die von Willaumez682 als bevorzugte Motive des Künstlers angeführten „Balletttänzerinnen und Radfahrer, Reiter und Reifenspieler, Anstandsdamen und kleinen, pubertierenden Mädchen“ in dem nur partiell sichtbaren Werk Echange d’idées683 dargestellt sind. Eine Aufnahme684 der Fotoserie, die Lee Miller von Olivier Picard in seinem Atelier unter anderem mit Echange d’idées aufgenommen hat, wurde – wie bereits erwähnt – in ihrem Artikel Brussels – More British than London im Februar 1945 veröffentlicht, was die Datierung der Aufnahmen in die Zeit von Ende November bis Mitte Dezember 1944 stützt. Im Katalog, der anlässlich der Ausstellung des Musée d’Ixelles 1985 erschienen ist, findet sich eine Abbildung des Gemäldes, das in der rechten unteren Ecke aber die Signatur Olivier Picard 1950 trägt. Der Künstler hat sein Werk, das vor dem Fototermin Ende 1944 entstanden sein muss, also nachträglich signiert und datiert.

Auch in den fünf Aufnahmen, in denen Picard mit seinem Gemälde Echange d’idées zu sehen ist, wird er auf einer Raumachse mit der Nackten aus Nocturne gezeigt, wodurch erneut eine enge Verbindung zwischen beiden – dem Künstler und dem Kunstwerk – hergestellt wird. Dieser Eindruck wird durch die ähnliche Körper- und Armhaltung der gemalten Figur und des realen Künstlers noch gesteigert. Die von Miller gewählte Aufnahmedistanz erlaubt eine fast vollständige, bildflächenparallele Darstellung des Gemäldes von Paul Delvaux, so dass die illusionistische Bildwirkung in der Fotografie uneingeschränkt zur Geltung kommt. Während also das Werk von Delvaux in dem Porträt von Olivier Picard optimal präsentiert wird, ist sein eigenes Gemälde Echange d’idées – wegen der perspektivisch verkürzten Wiedergabe und der Beschneidung durch den linken Rand der Fotografie – nur bis zur Hälfte sichtbar. Picard richtet aber seinen Blick unmittelbar auf sein Gemälde, das wie er in der vorderen Bildebene dargestellt ist, und weist zusätzlich mit seinem rechten Arm auf ein Detail des Bildes, so dass dieser offensichtliche Nachteil relativiert wird.685

Lee Miller porträtierte Olivier Picard eigener Aussage zufolge in seinem Studio in Brüssel, was aus den Aufnahmen selbst aber nicht hervorgeht. Über die Möblierung und die Ausschmückung des in den Fotografien dargestellten Raums wird eher der Eindruck erweckt, dass die Wohnung Picards als Kulisse für seine Porträts diente. In zwei Aufnahmen

681 Für die Identifizierung des Gemäldes von Olivier Picard und die Zusendung des Ausstellungskatalogs von 1985 möchte ich Madame Isabelle Six, Musée des Beaux-Arts d’Ixelles, herzlich danken. 682 Marie-France Willaumez, in: Dictionnaire des Peintres Belges du XIVe siècle à nos jours, 1995, siehe: Olivier Picard. 683 „Echange d’idées, huile sur toile, 80 x 100 cm, signé et daté en bas à droite: Olivier Picard 1950, collection privée“, Abb. in: Ausst. Kat. Brüssel 1985, Kat. Nr. 4 684 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-37 (4), Abb. in: Miller 1945, S. 57, Abb. links unten. 685 Während den dargestellten Werken in den Aufnahmen SWN LMA, Inv. Nr. 6104-40 (4) und 6104- 41 (4) eine große Bedeutung zukommt, wählte Miller für die drei anderen Porträts einen geringeren Aufnahmeabstand, so dass die Werke stark beschnitten werden und die Darstellung des Künstlers in den restlichen Porträts (SWN LMA, Inv. Nr. 6104-42 (4), 6104-43 (4) und 6104-45 (4), vgl. auch 6104-44 (4), Negativformat 6 x 6 cm) zum zentralen Motiv wird. 147 von Jean Oberle686 wird der Künstler in einem sehr repräsentativen Ambiente, das mit der eleganten Erscheinung und der souveränen Körperhaltung des Porträtierten perfekt harmoniert, dargestellt. In den Porträts von Olivier Picard herrscht eher eine wohnliche Atmosphäre vor, die einen geringeren Repräsentationsanspruch aufweist. Auch steht die Erscheinung Picards nicht in Kontrast zu seinem Umfeld: der Künstler trägt zwar ein weißes Hemd mit einer Krawatte und entspricht so gesellschaftlichen Konventionen, ist aber mit einer Strickjacke durchaus lässig gekleidet.

Für die Publikation in Vogue wurde ein Ausschnitt aus dem Schwarzweißnegativ LMA, Inv. Nr. 6104–37 gewählt, so dass die Aufnahme am linken und unteren Bildrand leicht beschnitten ist. Das Porträt von Olivier Picard entspricht so mit seinen Maßen den anderen vier Fotografien, die diese Seite der Zeitschrift zusammen mit einer Aufnahme in einem größeren Format vollständig ausfüllen und nur von kurzen Bildunterschriften begleitet werden. Dieses Schema findet sich in ähnlicher Weise auch auf einer weiteren, nur mit Bildern versehenen Seite des Artikels.687 Alle 15 in Brussels – More British than London veröffentlichten Fotografien weisen bei unterschiedlichen Maßen ein fast quadratisches Format auf, wodurch sich ein ausgewogenes Gesamtbild ergibt.

Bei diesen 15 Aufnahmen handelt es sich – neben einem Modefoto – um Darstellungen der belgischen Bevölkerung und des britischen Militärs, das sich in der von der deutschen Vorherrschaft befreiten Stadt aufhielt, sowie um Porträts von prominenten Personen der Brüsseler Gesellschaft. Zwei der Porträts zeigen bildendende Künstler – Olivier Picard688 sowie Paul Delvaux und René Magritte. Während Picard in der in Vogue veröffentlichten Aufnahme mit Kunstwerken dargestellt ist, wird in dem Porträt von Delvaux und Magritte kein künstlerischer Zusammenhang evoziert. Zur Illustration von Millers Artikels Brussels – more British than London wurde aus den Fotoserien, wahrscheinlich von der Fotografin und Autorin selbst, eine Aufnahme689 ausgewählt, die die beiden surrealistischen Maler mit Magrittes Spitz an einem Ofen zeigt, an dem sie sich im kalten Nachkriegswinter die Hände wärmen.

Kunstwerke sind aber in zwei weiteren Fotografien690 dargestellt: es handelt sich um die Porträts von Mme Devèze, einer Dame der belgischen Gesellschaft, mit ihrer Familie und von Paul-Gustave (1887 – 1967) und Norine van Hecke (Fotografie 46). Während in der erstgenannten Aufnahme die drei Gemälde im Hintergrund zu sehen sind, eher einen dekorativen Charakter besitzen und zufällig aufgenommen worden sein dürften, spielt das Kunstwerk in der Aufnahme der van Heckes eine bedeutendere Rolle. Diese Aufnahme kann als ein Beispiel dafür angeführt werden, dass die Darstellung eines Kunstwerks zwar einen

686 SWN LMA, Inv. Nr. 6103-10 und 6103-11, Negativformat 6 x 6 cm. 687 Abb. in: Miller 1945, S. 54. 688 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-37 (04), Negativformat 6 x 6 cm, Abb. in: Miller 1945, S. 57, Abb. links unten. 689 SWN, LMA, Inv. Nr. 6104-161 (16), Negativformat 6 x 6 cm. 690 Abb. in: Miller 1945, S. 57, Abb. links oben und Mitte (= Fotografie 46). 148

Hinweis auf ein künstlerisches Umfeld liefert; das Foto selbst aber nichts darüber aussagt, ob es sich um einen bildenden Künstler handelt oder nicht.

Lee Miller stellt in ihrem Artikel Paul-Gustave van Hecke, den sie bereits 1937 durch E.L.T. Mesens kennen lernte691, als Herausgeber und Verleger von Variétés vor. Variétés war eine der ersten Zeitschriften, die sich mit dem Surrealismus befassten. Der Leser erfährt weiter, dass van Hecke auch die Kunst von Tanguy und Max Ernst bereits früh zu schätzen wusste und Ernsts berühmtes Gemälde Die Jungfrau Maria züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler besaß.692 Teile der katholischen Bevölkerung und der Kirche lehnten, so die Aussage Millers, dieses Werk radikal ab, was letztlich sogar zu einem Einbruch in das Haus der van Heckes geführt haben soll. Es wurde auch – mit der Begründung, dass „Jesus nichts falsches tun könne“ und folglich auch nicht bestraft werden müsse – der Vorwurf der Blasphemie erhoben. Die Autorin geht weiterhin auf die wichtige Rolle van Heckes in der belgischen Kunstszene ein, in dem sie ihn nicht nur als Sammler surrealistischer Kunst, sondern auch als Förderer von Delvaux, Magritte, Mesens und anderen Künstlern, Dichtern und Schriftstellern darstellt.

Miller berichtet in ihrem Artikel auch von ihrem Besuch bei Paul und Norine van Hecke. Die Wohnung der van Heckes befand sich, so Miller, im obersten Stockwerk eines Hauses, das die Modeschöpferin Norine van Hecke für ihre Arbeit nutzte. Neben dem Arbeitszimmer stellte das Wohnzimmer den einzigen geheizten Raum des Gebäudes dar. An den „mit Bildern vollgehängten Wänden“ erblickte Lee Miller neben einigen neuen Gemälden von Delvaux auch bekannte Werke von Magritte.

Wie der bildende Künstler Olivier Picard werden auch der Kunstsammler und Mäzen Paul-Gustave van Hecke und seine Frau, die Modeschöpferin Norine, mit einem Gemälde von Paul Delvaux gezeigt (Fotografie 46). Doch während Picard unmittelbar mit dem Werk Nocturne respektive der dargestellten nackten weiblichen Figur in Verbindung gesetzt wurde, kann dies in dem Porträt der van Heckes nicht beobachtet werden. Als entscheidende Faktoren für diese Bildwirkung können die Motive der Gemälde sowie das Verhältnis von Porträtierten und Kunstwerk in der Fotografie angesehen werden: so steht im Mittelpunkt des Werks Nocturne eine einzelne Figur, die unmittelbar hinter Olivier Picard dargestellt ist und ihm ungefähr in der Größe (und in einzelnen Aufnahmen sogar in der Körperhaltung) entspricht und die auch als Halbfigur gegeben ist. Über die fast bildflächenparallele Darstellung und die hochillusionistische Malweise des Gemäldes wird, wie bereits angeführt, der Eindruck erweckt, dass es sich bei dieser gemalten Figur um eine Frau aus Fleisch und Blut handele, und dass der eher flächige Bildraum der Fotografie durch den gemalten Raum an Tiefe gewinnt. Das Kunstwerk verliert in dieser Aufnahme Millers seinen Kunstcharakter, den es in dem Porträt der van Heckes beibehält.

691 Penrose 2001, S. 79. 692 Spies/Metken, Bd. 3, S. 138–139, Nr. 1059: Max Ernst. „La Vierge corrigeant l’enfant Jésus devant trois témoins: André Breton, Paul Éluard et le peintre, Technik: Öl auf Leinwand, Maße: 196 x 130 cm, Bezeichnet: rechts unten >>max ernst<<, Datierung: 1926...“, Museum Ludwig, Köln. 149

Auch bei dem in diesem Porträt dargestellten Gemälde Die Kurtisanen693 handelt es sich um ein hochillusionistisches Werk von Paul Delvaux, das zudem nur ca. zwei Jahre später entstand, mit 90 x 100 cm geringfügig kleiner ist als Nocturne (94 x 123 cm) ist und ebenfalls an der hinteren Wand über den Porträtierten präsentiert wird. Das Bild zeigt aber nicht eine einzelne Figur, sondern eine Gruppe von ganzfigurigen, stehenden Nackten, die weder über die Haltung noch über ein ähnliches Größenverhältnis in eine Beziehung zu Paul und Norine van Hecke, die unterhalb des Bildes sitzen, gesetzt werden können. Auch wird das Werk mit einer perspektivischen Verkürzung wiedergegeben, so dass der Illusionismus nicht so zu tragen kommt, wie dies bei einer bildflächenparallelen Darstellung der Fall wäre: das Gemälde wird in der Fotografie als ein Kunstwerk wahrgenommen. Hierzu trägt auch der breite, reich verzierte und vergoldete Bilderrahmen bei, der in starkem Kontrast zu dem schlichteren und unauffälligeren Rahmen des Gemäldes Nocturne steht.

In den in Vogue veröffentlichten Porträts von Picard und van Hecke wird durch die dargestellten Kunstwerke ein entscheidender Hinweis auf das künstlerische Interesse der Porträtierten geliefert. In welcher Weise sich die Dargestellten engagieren, ob sie als Künstler oder als Kunstsammler und Mäzen tätig sind, kann aber anhand der Fotografien – wie auch schon bei Jean Arp694 – aber nicht differenziert werden. Auch die Tatsache, dass Picard in den anderen Fotografien der Serie, die nicht zur Illustration des Artikels in Vogue verwendet wurden, in eine enge Beziehung zu den dargestellten Gemälden gesetzt wird, sagt nichts über seinen Beruf als bildender Künstler aus, wie ein Vergleich mit einem weiteren Porträt Millers von van Hecke deutlich macht. Der Kunstsammler und Verleger wird in dieser Aufnahme (Fotografie 47)695 mit zwei Werken von René Magritte gezeigt, bei denen es sich um das Gemälde Le mal du pays696 von 1941 und das gemalte Objekt Objet peint: œil697 von 1936 oder 1937 handelt. Auch hier bleibt der Illusionismus der Bilder aufgrund ihrer optimalen Präsentation in vollem Umfang erhalten, der gemalte Bildraum wird in gleicher Weise wahrgenommen wie der reale Raum, der so deutlich an Tiefenwirkung gewinnt. Van Hecke, der eine äußerste elegante Erscheinung bietet, wird – wie Olivier Picard – in einem engen Verhältnis zu Magrittes Gemälden, die zu seiner Sammlung surrealistischer Kunst gehörten, gezeigt.

693 Abb. in: Paul Delvaux, Ausst. Kat., Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München, 20.1.–19.3.1989, S. 64, Kat. Nr.11. Die Kurtisanen, 1941. Öl auf Leinwand, 90 x 100 cm. Signiert und datiert unten rechts P.DELVAUX 1941. Im Katalog findet sich folgender Hinweis auf die Herkunft des Gemäldes: P.G. van Hecke-Norine, Brüssel. 694 Vgl. Kap. 4.1.2.1.3. 695 Fotografie 47 = Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 106. David Sylvester (Hrsg.), René Magritte, Catalogue raisonné, Bd. II: Oil Paintings and Objects 1931–1948, Antwerpen 1993, S. 105, Fig. 81. 696 René Magritte, Le mal du pays, datiert auf der Rückseite: «LE MAL DU PAYS» MAGRITTE 1941, signiert unten rechts: Magritte, Öl auf Leinwand, 100 x 81 cm, Abb. in: Sylvester 1993, Kat. Nr. 487. 697 René Magritte, Objet peint: œil, Öl auf einer Holztafel, geklebt auf eine hölzerne Basis, Durchmesser der Holztafel: 15,5 cm, Basis: 25 x 25 x 6 cm, Art Institute in Chicago, Abb. in: Sylvester 1993, Kat. Nr. 686. 150

4.1.2.3.2 Christian Bérard mit der Skulptur eines Cheval écorché (Paris, 1944)

Lee Miller fotografierte Künstler mit ihren eigenen Kunstwerken oder – wie auch im Fall Picards – mit Arbeiten, die stilistisch mit ihrem Œuvre in Verbindung gebracht werden können. Es finden sich aber auch Aufnahmen, in denen die Porträtierten mit Werken, die andere Künstler in vergangenen Epochen geschaffen haben, zu sehen sind.

Als zwei Beispiele für Fotografien, in denen Lee Miller nicht versucht hat, sich über die dargestellten Werke der Kunst der Porträtierten zu nähern, können die Aufnahmen von Christian Bérard698 und Feliks Topolski angeführt werden. Maler, Bühnenbildner, Zeichner, Graphiker – Christian Bérard und Feliks Topolski sind keine Bildhauer, werden aber in diesen Bildern durch die Skulpturen, die an pointierter Stelle gegeben werden und durch die der Bildraum als ein künstlerisches Ambiente ausgewiesen wird, als Kunstschaffende oder Kunstinteressierte angesprochen.

Der französische Maler und Bühnendesigner Christian Bérard (Paris, 20.8.1902 – Paris, 12.2.1949) galt bis zu seinem frühen Tod im Alter von 47 Jahren als Enfant Terrible der französischen Kunstszene. Der Grundstein für Bérards erfolgreiche Karriere als Kostüm- und Kulissendesigner699 für Ballett-, Theater- und Filmproduktionen wurde 1930 mit dem Theaterstück La Voix Humaine von Jean Cocteau und dem Ballett La Nuit von Boris Kochno gelegt. Die Zusammenarbeit mit Cocteau, den Bérard 1925 in Villefranche-sur-Mer kennen lernte, umfasste unter anderem auch die Titelillustration für dessen Gedichtband Opéra (1927), das Theaterstück La Machine infernale (1934) sowie den Film La Belle et la Bête (1945). Auch mit seinem Lebensgefährten Boris Kochno (1904 – 1990), den er 1926 kennen lernte und der als Sekretär von Sergej Diagilev (1872 – 1929), Direktor des Ballet Russe, entscheidende Impulse für Bérards Karriere Theaterdesigner gegeben haben könnte, arbeitete der Künstler an zahlreichen Ballettproduktionen. Christian Bérard, der rauschgiftsüchtig war und zahlreiche Aufenthalte in einem Sanatorium verbrachte, starb am 12. Februar 1949 in Paris an einem Hirnschlag.

Christian Bérard wurde, unter anderem mit Boris Kochno, in einer ganzen Reihe von Aufnahmen700 porträtiert. Unter dem Titel Within: the cultural life of Paris flourishes bravely701 wurden im Oktober 1944 in der britischen Vogue insgesamt zehn Fotografien publiziert, zu denen neben den Fotos von Picasso, Paul und Nusch Éluard sowie Michel de Brunhoff auch

698 Zur Biografie Christian Bérards siehe: Boris Kochno, Christian Bérard, London 1988 (vgl. auch den den kurzen Lebenslauf auf S. 79). 699 Eine Auflistung der Film- und Bühnenproduktionen sowie der Buchillustrationen Bérards findet sich in: Kochno 1988, S. 192–202 und S. 250. 700 SWN LMA, Inv. Nr. 5925-486, 5925-487, 5925-488, 5925-492, 5925-493, 5925-494, 5925-495, 5925-496, 5925-497, Negativformat 6 x 6 cm. 701 Lee Miller, Within: the cultural life of Paris flourishes bravely – Without: the lovely skyline, the women’s pretty looks, in: (britische) Vogue (Oktober 1944), S. 144. 151 ein Porträt702 von Kochno und Bérard gehört. In dieser Aufnahme sind die beiden Künstler auf der Terrasse ihres Appartements zu sehen, wie sie aktiv am Befreiungskampf um Paris teilnehmen. Die Bildlegende gibt unter anderem Auskunft über die Kleidung Bérards, der nur ein Paar Hosen besessen haben soll und als Schürze bei der Arbeit einen alten Trenchcoat habe tragen müssen. In dieser Kleidung wurde der Künstler schließlich von Lee Miller im August 1944 in seinem Appartement in Paris in der Rue Casimir-Delavigne Casimir la Vigne porträtiert.

In einigen der Aufnahmen ist Christian Bérard mit einer bronzenen Pferdeskulptur dargestellt.703 Es handelt sich bei dieser Plastik um ein Cheval écorché, also die Darstellung eines gehäuteten Pferdes, so dass die Anordnung von Muskeln und Sehnen im Körper sichtbar ist. Skulpturen dieser Art wurden zum ersten Mal im Italien des 16. Jahrhunderts angefertigt704, zu einer Zeit also, als dem verstärkten Interesse an der Anatomie des menschlichen Körpers ein durch ethisch-religiöse Motive begründetes Verbot von Leichenöffnungen gegenüberstand. Durch die aus den unterschiedlichsten Materialien705 gefertigten Modelle, die als Muskelmann oder Écorché706 bekannt sind, konnten interessierte Wissenschaftler und Künstler die Strukturen und Funktionen des Körpers studieren, um die gewonnenen Erkenntnisse schließlich in ihren Arbeiten umzusetzen. Neben den Modellen des menschlichen Körpers waren auch die Darstellungen von einzelnen Körperteilen sowie von Tieren – wie beispielsweise dem Cheval écorché – verbreitet.

Die Plastik stellt wahrscheinlich eine Kopie einer in verkleinertem Maßstab gearbeiteten, gehäuteten Version des Pferdes aus dem Reiterstandbild des Marc Aurel707 (Rom, Kapitol, um 161 – 180 n. Chr.) dar. Die Zuschreibung und Datierung dieser Bronzepferde708, von denen im Ausstellungskatalog Giambologna, 1529 – 1608: sculptor to the Medici insgesamt

702 LMA, Inv. Nr. 5925-492, Abb. in: Lee Miller, Within: the cultural life of Paris flourishes bravely – Without: the lovely skyline, the women’s pretty looks, in: (britische) Vogue (Oktober 1944), S. 144, linke untere Abbildung. 703 LMA, Inv. Nr. 5925-486, 5925-487, 5925-488. 704 Barbara Eschenburg, Pygmalions Werkstatt: die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, hrsg. Von Helmut Friedel, Köln 2001, S. 15, 21–30 und Kap. IV. 705 Als Materialien finden sich Gips, Bronze, Terrakotta, Wachs, Elfenbein und Holz. 706 Weiterführende Literatur zum Écorché: Vincent, [...], Examen du cheval écorché antique, Paris 1784. Zofia Ameisenowa, The Problem of the Écorché and the three anatomical models in the Jagiellonian Library, Warschau 1963 (= Monografie z dziejów nauki i techniki, tom XX). Sylvie Hugues, Honoré Fragonard l’anatomiste 1732–1799. Les échorchés au XVIIIe siècle, o.O., 1990. Andrea Carlino, Paper Bodies: a Catalogue of anatomical fugitive sheets 1538–1687, London 1999 (= Medical history. Supplement ; 19). Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica, Vorwort von Jackie Pigeaud, Paris [u. a.] 2001 (= Theatrum sapientiae. Textes ; 3). Magali Vène, Écorchés: l’exploration du corps, XIVe–XVIIIe siècle, Paris 2001. Monika von Düring und Marta Poggesi (Red.), Encyclopedia anatomica: a selection of anatomical wax models [...], Köln 2001 (= Icon ; 1). 707 Abb. in: Adolf Reinle, Das stellvertretende Bildnis: Plastiken und Gemälde von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Zürich [u. a.] 1984, S. 269, linke Abb. 708 Abb. in: Giambologna, 1529–1608: Sculptor to the Medici, Ausst. Kat., Royal Scottish Museum, Edinburgh, 19.8.–10.9.1978, Victoria & Albert Museum, London, 5.10.–16.11.1978, Kunsthistorisches Museum, Wien, 2.12.1978–28.1.1979, S. 185f. 152 vier bekannte Exemplare mit einer Höhe von ca. 91 cm709 angeführt werden, ist umstritten und reicht vom späten 15. bis ins 18. Jahrhundert. Die Existenz des ersten, nach dem antiken Vorbild modellierten Cheval écorché um 1598 soll durch drei Abbildungen in einem Buch über die Anatomie des Pferdes von Carlo Ruini (1530 – 1598)710 gesichert sein.

Der Künstler und die Pferdeskulptur, auf die sich Bérard mit seinem Oberkörper zum Teil lässig stützt, werden in allen Aufnahmen711 Millers von Bücherregalen, einer geöffneten Tür und diversen Einrichtungsgegenständen hinterfangen. Christian Bérard war nicht als Bildhauer tätig, so dass die Skulptur selbst nicht als sein Werk anzusehen ist. Auch hatte sich Bérard als Maler nicht auf die Darstellung von Pferden spezialisiert, so dass das Cheval écorché nicht als ein Instrument im Arbeitsprozess gesehen werden kann. Die Plastik gehörte vielmehr zur Einrichtung der Wohnung, die Bérard und Kochno 1936 in der Rue Casimir Delavigne bezogen hatten und, wie sich Kochno erinnert712, mit Möbeln von „großen Pariser Antiquitätenhändlern“ ausgestattet hatten.

Nicht nur Millers Fotografien spiegeln den gehobenen Lebensstil, den Kochno und Bérard zu dieser Zeit pflegten, wieder, auch eine Aufnahme713 von Georgette Chadourne (*1923) zeugt von einem sehr repräsentativen Ambiente, zu dem die Erscheinung des Malers in krassem Widerspruch steht. In diesem Porträt, das Bérard im Morgenmantel und mit der unvermeidlichen Zigarette in der Hand in der Bibliothek seines Appartements in der Rue Casimir Delavigne zeigt, wird der Künstler von zwei ägyptisch anmutenden Skulpturen und zwei Obelisken flankiert. Auch in Millers Porträts von Bérard wird der Künstler mit Zigarette vor einem Bücherregal gezeigt, so dass auch diese Aufnahmen mit großer Wahrscheinlichkeit in der Bibliothek seiner Wohnung entstanden sind. Das Cheval écorché könnte so, wie die ‚ägyptische’ Plastik, als ein Dekorationselement gesehen werden.

Miller stellt in dieser Aufnahme keinen Zusammenhang zwischen Bérard und seiner Kunst her, weder porträtiert sie ihn mit einem eigenen Werk, noch ist das dargestellte, traditionelle Kunstwerk stilistisch mit dem Œuvre des Künstlers in Verbindung zu bringen. Ohne das Wissen um das Werk und die Person des Künstlers könnte der Betrachter der Fotografie jedoch assoziieren, dass es sich bei der dargestellten Person um den Urheber des Pferdes handelt.

Es wurde bereits auf die Rolle Bérards als Enfant terrible der französischen Kunstszene seiner Zeit hingewiesen, eine Rolle, die er auch in Aufnahmen von Lee Miller und Herbert

709 Im Ausst. Kat. Edinburgh 1978, S. 186 werden weitere Modelle in einem kleineren Maßstab (Höhe um 21 cm) genannt. 710 Das Cheval écorché soll in Ruini’s Anatomiebuch, italienische Originalausgabe Anatomia del cavallo infermita et suoi rimedii von 1598, auf drei Tafeln (243, 245, 247) abgebildet sein, vgl. Ausst. Kat. Edinburgh 1978, S. 186. 711 LMA, Inv. Nr. 5925-486, 487, 488, 496, 497. 712 Kochno 1988, S. 47–48. 713 Kochno 1988, Abb. S. 52. 153

List (1903 – 1975)714 verkörperte. Bérard entsprach mit seiner ungepflegten äußeren Erscheinung, seinem gestreiften, schmutzigen Arbeitskittel, in dem er sich porträtieren ließ, nicht länger gesellschaftlichen Vorstellungen und Konventionen. Er stand vielmehr in krassem Widerspruch zu Künstlern, die ihren künstlerischen und damit auch finanziellen Erfolg durch eine adäquate, elegante Erscheinung demonstrierten und sich so, wie Wieland betonte715, von der erfolglosen Bohème abgrenzen wollten. Aus den Erinnerungen von Bérards Lebensgefährten Boris Kochno erfährt der Leser, dass der Künstler, der durch seine Kontakte zu dem russischen Ballett-Impressario Sergej Diaghilew nicht nur seit Ende der zwanziger Jahre als Bühnenbildner erfolgreich war, sondern auch die Kostüme für die Aufführungen entwarf716, über einen außergewöhnlich exquisiten Geschmack verfügte und als eine Art Muse und Inspirationsquelle die führenden französischen Modeschöpfer zu Entwürfen angeregt haben soll. An gleicher Stelle weist Kochno daraufhin, dass Bérards eigener, zerlumpter Stil eher ein Vorbild für die spätere Hippiebewegung abgegeben haben könnte und dass die illustre Gesellschaft aufgrund seines liebenswerten Wesens und seines Charmes seine Kleidung übersehen habe.

Bérard kleidete sich in der Regel nicht nach den von der Gesellschaft vorgegebenen Normen, wurde aber trotz seines eigenen, zerrissenen und zerlumpten Erscheinungsbildes von dieser Gesellschaft anerkannt und wohl eher wegen seines Talentes und Erfolges, seiner Exaltiertheit und Liebe zu Verkleidungen, die man mit seiner Künstlerrolle in Verbindung brachte, in den exklusivsten Kreisen der Gesellschaft und den vornehmsten Restaurants von Paris willkommen geheißen.717 Der Künstler kämpfte nicht mehr um Anerkennung, sondern hatte einen Punkt seiner Karriere erreicht, der es ihm erlaubte, nach eigenen Vorstellungen, ohne Rücksichtnahme auf die gesellschaftlichen Standards zu leben.

714 Im Jahr 1948 porträtierte Herbert List Christian Bérard auch zusammen mit einer Skulptur – dem überlebensgroßen, auf einer dunklen Marmorsäule aufgestellten Kopf eines älteren, bärtigen Mannes. Bei diesem Werk soll es sich um das dem Bildhauer Pierre Puget (um 1624–1692) zugeschriebene Modell einer Brunnenfigur, die nach einem antiken Vorbild – dem Haupt des Laokoon – geschaffen wurde, handeln (Ausschnitt aus Laookongruppe: Das Haupt des Laokoon, Marmor, 2. Drittel 1. Jh. v. Chr. Rom, Vatikanische Museen, Cortile del Belvedere, Abb. in: Klaus Herding, Pierre Puget, Das bildnerische Werk, Berlin 1970, Abb. 240. Kochno 1988, S. 50–51, S. 192ff.) Die wildbewegten Züge dieses traditionellen Bildwerkes, auf das sich Bérard von hinten in äußerst lässiger Haltung mit einer Zigarette im Mundwinkel gelehnt hat und über das er beide Arme hängen lässt, ähneln in frappierender Weise den Zügen des Künstlers. Durch die Wiederholung der Gesichtszüge Bérards, seiner wild von Kopf abstehenden, ungekämmt wirkenden Haare und seines wirren Bartes in der Physiognomie, der Frisur und des Bartes des dargestellten Kopfes wird in besonderer Weise auf den Charakter Christian Bérards und vielleicht auch seine Liebe zur Kunst verwiesen, nicht aber auf seinen künstlerischen Stil. 715 Vgl. Kap. 4.1.1.3. 716 Ein Beispiel für ein von Bérard entworfenes Kostüm findet sich in: Kochno 1988, S. 142. 717 Kochno 1988, S. 54–55. Auch Lee Miller fotografierte Christian Bérard am 24.9.1944 (Angabe in der Kartei des Lee Miller Archive) in Gesellschaft von Nusch Éluard und Jean Cocteau in einem Restaurant (LMA, Inv. Nr. 5940-28 R3, 5940-30 R3). Besonders in der Aufnahme LMA, Inv. Nr. 5940- 29 R3 treten die Unterschiede der Kleidung von Cocteau und Bérard klar zutage. 154

4.1.2.3.3 Feliks Topolski mit der Skulptur eines Bischofs (London?, 1944)

Fast zeitgleich mit der vorgestellten Aufnahme von Christian Bérard entstand das Porträt des polnischen Malers und Zeichners Feliks Topolski.718 Lee Millers Fotografie wurde 1944 zur Illustration eines Artikels von Lesley Blanch (*1904 – ?), die von 1937 bis 1944 als Features Editor bei Vogue tätig war, in der britischen Vogue verwendet (Fotografie 48)719.

Feliks Topolski (Warschau, 14. August 1907 – London, 24. August 1989) lebte und arbeitete seit 1935 in London, seine Zeichnungen wurden, neben vielen internationalen Magazinen und Zeitschriften, auch in Vogue veröffentlicht. Von 1939 bis 1945 erlebte er – wie auch Henry Moore und Graham Sutherland720 – als offizieller Kriegskünstler („war artist“) und polnischer Offizier den Zweite Weltkrieg und dokumentierte mit seinen Zeichnungen unter anderem die „Schlacht um Großbritannien“ 721, die auch Lee Miller mit ihrer Kamera festhielt.

Wie Christian Bérard wurde auch Feliks Topolski von Miller mit einer Skulptur fotografiert. Auch in diesem Fall kann es sich nicht um ein eigenes Werk des Künstlers handeln, da Topolski nicht als Bildhauer tätig war. Bei der Plastik handelt es sich um das fast lebensgroße Abbild eines geistlichen Würdenträgers im kirchlichen Ornat. Die Kopfbedeckung der Figur – eine Mitra – macht deutlich, dass es sich um die Darstellung eines katholischen Bischofs handelt. Leider kann die Skulptur keinem bestimmten Bildhauer zugeschrieben werden, anhand der stilistischen Elemente (dynamische, sehr bewegte Haltung und fließende Ausarbeitung der Gewandfalten) ist eine Datierung in das 18. Jahrhundert wahrscheinlich.

Auch in dieser Fotografie spielt die Plastik eine zentrale Rolle und dominiert das Geschehen in der linken Hälfte der Aufnahme. Durch ihre stehende Position überragt die Figur den in der rechten Bildhälfte dargestellten Künstler, der im Melancholiegestus722 und fast schon zusammengekauert in einem Sessel sitzend dargestellt wird. Im Gegensatz zu Topolski, der durch seine gezeigte Haltung einen eher passiven Eindruck hinterlässt, kommt der Skulptur, die voller Leben zu sein scheint, ein ‚aktiver Part’ zu. Dieser Eindruck von Aktivität resultiert zum einen aus der Darstellung als fast lebensgroße Standfigur und wird zum anderen durch die ‚körperliche‘ Präsenz der Figur in der Aufnahme begünstigt.

718 Zu den Werken und der Biografie Feliks Topolskis: Feliks Topolski, Prace w zbiorach, Muzeum Narodowego w Warszawie, katalog, Warzawa 1965, S. 35–36, Bibliographie S. 39–40. Detaillierte Informationen über das Leben und Werk Feliks Topolskis finden sich auf der Internetseite >http://www.felikstopolski.com< (Stand März 2002). 719 Die Fotografie 48 wurde in dem Artikel von Lesley Blanch Feliks Topolski n der britischen Vogue (November 1944), S. 150 publiziert. 720 Vgl. Kap. 4.1.4.1.3 und 4.1.4.1.4. 721 Britain in Peace and War. Drawn by Feliks Topolski with an introduction by J. Laver. London: Methuen, 1941. Vgl.: Bibliography of the history of British art, Bd. V, 1938–1945, Nr. 3876. Vgl. auch die Bibliographie in: Ausst. Kat. Warschau 1965, S. 39–40. 722 Vgl. Kap. 3. 155

Dynamik vermittelt auch die ‚Haltung’ des ‚Geistlichen’, der in der Aufnahme im Dreiviertelprofil gezeigt wird und mit dem ‚Rücken’ in Richtung Topolskis ausgerichtet ist. Durch die Schrittstellung des linken ‚Beines’ und einer ‚Abwendung’ der Skulptur vom Künstler in Richtung eines nicht mehr in das Bildgeschehen integrierten Bereichs wird beim Betrachter die Illusion erzeugt, dass die Plastik sich in der nächsten Sekunde bewegen und eventuell sogar den Raum verlassen könnte. Durch die frontale Darstellung des Kopfbereichs der Skulptur nimmt diese schon fast eine Art Blickkontakt mit dem Fotografen auf. Es hat den Anschein, als wolle der ‚Bischof’ einen potentiellen Betrachter der Aufnahme mit einer Geste seines linken, erhobenen Arms auffordern, ihm zu folgen. Die Suggestion von Bewegung in der Ausführung der Figur wird nicht zuletzt durch den fließenden Faltenwurf der Gewanddarstellung unterstrichen.

Obwohl die Skulptur des Bischofs durch ihre Aktivität, ihre Dynamik und ihre Präsenz im Bild ein dominierendes Element in der Aufnahme darstellt, fällt der Blick des Betrachters zunächst auf den porträtierten Künstler. Dieser ist nicht nur in der vordersten Bildebene zu sehen und somit vor der im Bildmittelgrund dargestellten Plastik, er teilt auch die Bildfläche im Verhältnis des Goldenen Schnitts. Zudem wird er in der Nähe des Fensters gezeigt und durch das einfallende Licht besonders betont. Die Vorstellung von Licht verbindet der Betrachter der Aufnahme auch mit einer Stehlampe, die unmittelbar hinter dem Künstler aufragt.

Außer der dargestellten Figur, die bei Unkenntnis über das Werk und den Künstler wieder als eine seiner Schöpfungen gewertet werden könnte, werden in der Aufnahme keine weiteren Details dargestellt, die auf die künstlerische Tätigkeit der porträtierten Person im Bereich der bildenden Kunst hinweisen könnten. Im günstigsten Fall könnte über die Wahl des Aufnahmeortes, bei dem es sich – wie bei Bérard – um die Bibliothek des Künstlers gehandelt haben könnte, ein Rückschluss auf dessen Bildung, seine Beschäftigung als Schriftsteller oder zumindest literarisch Interessierter oder Bibliophiler gezogen werden. Die Aufnahmen von Bérard und Topolski in ihren Bibliotheken entstanden 1944: 1973, also 29 Jahre später, fotografierte Miller mit Antoni Tàpies wieder einen Künstler im Umfeld seiner Bibliothek723.

Die ungepflegte und schmuddelige Erscheinung Bérards stand in starkem Kontrast zur klassischen Skulptur selbst und zur eleganten und repräsentativen Ausstattung des Raums, der als Kulisse für sein Porträt diente. Topolskis Bekleidung – eine sportliche, kurze (Jeans?)Jacke und eine weite (Kord?)Hose – war zwar dem Trenchcoat Bérards in punkto Reinheit bei weitem überlegen, entsprach aber in der Lässigkeit durchaus seiner Haltung. Während die Bibliothek Bérards einen außerordentlich aufgeräumten und strukturierten Eindruck hinterließ, so als handele es sich bei den aufwändig gebundenen Büchern nur um dekorative Elemente, wird in dem Porträt Topolskis durch die Anordnung der Bücher in den Regalen klar, dass diese als Gebrauchsgegenstände dienten und häufig zur Hand genommen wurden. Das Ambiente, in dem der polnische Künstler fotografiert wurde, steht –

723 Vgl. Kap. 4.1.4.2.8. 156 anders als die Skulptur – nicht im Widerspruch zu seinem Äußeren: es handelt sich um wohnliche Räume. Räume, die nicht nur einen repräsentativen Eindruck hinterlassen, sondern in denen der Künstler lebte und zuhause war.

Miller Fotografie wird von folgender Bildunterschrift begleitet: „Back from a tour of the world at war. Polish artist Topolski sits for his portrait”. Ob diese Zeile von der Fotografin oder Lesley Blanch, die sich als Autorin für den restlichen Text verantwortlich zeichnet, dem Foto beigefügt wurde, ist unklar. Deutlich wird allerdings, dass Topolski von Miller nicht spontan fotografiert wurde, sondern dass die Aufnahme während einer Porträtsitzung entstand. Der Künstler hatte so wahrscheinlich durchaus die Möglichkeit, die Pose, die Kleidung und auch die Kulisse frei zu wählen oder zumindest Einfluss darauf zu nehmen. Man kann daher davon ausgehen, dass Topolski in der dargestellten Weise porträtiert werden wollte oder er zumindest gegen ein solches Porträt nichts einzuwenden hatte.

Der einzeilige Text liefert auch die Information, dass Topolski in seiner Funktion als polnischer Kriegskünstler von einer Reise zurückgekehrt sei, die ihn in die Kriegsgebiete der Welt geführt habe. Interpretiert man die Fotografie nun in diesem Sinne, so könnte man die Passivität des Künstlers auf seine Erschöpfung durch diese gefahrvollen und strapaziösen Touren in die Kriegsgebiete des Zweiten Weltkrieges zurückführen. Die als kriegswichtig angesehene Beschäftigung als Kriegskünstler diente vor allem dazu, Maler, Graphiker und Bildhauer vor der Einberufung in die Armee zu schützen und sie finanziell zu versorgen724, was Pablo Picasso allerdings als „psychologisch falsch“ ansah.725 Viele Künstler blieben in ihrer Funktion als official war artist in Großbritannien und dokumentierten die Folgen des Krieges, während Topolski in den Krisengebieten unterwegs war.726

Das Porträt von Feliks Topolski entstand fast zeitgleich mit den Fotografien, die im August 1944 von Pablo Picasso aufgenommen wurden. Picasso, für den Kleidung ein wichtiges Element im Selbstdarstellungsprozess war und dessen Kleidungsstil von äußerster Eleganz in den ersten Jahren seines Erfolges bis hin zu einer sehr lässigen Erscheinung wechselte, ließ sich von Miller in den Kriegsjahren in einem konventionellen Anzug porträtieren727. Diese Aufnahmen sagen etwas über die Bedeutung, die der Künstler seiner Kleidung in besonderen Zeiten und zu besonderen Anlässen beimaß, aus. Bei Topolski kann aber weder über seine Haltung, noch über seine Kleidung ein repräsentativer Anspruch erkannt werden, vielmehr gewinnt man den Eindruck, als handele es sich bei der Kleidung, in der Topolski für Miller posierte, um seine Reisekleidung.

724 Vgl. Kap. 4.1.4.1.3. 725 Penrose 1992, S. 73. 726 Roger Berthoud, Graham Sutherland – A Biography, London 1982, S. 116. 727 Vgl. Kap. 4.1.2.2.1. 157

4.1.2.3.4 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Nu assis et nu debout (Cannes, 1956)

Lee Miller zeigte in ihren Porträts von Olivier Picard, Christian Bérard und Feliks Topolski die Künstler in ihrer gewohnten Umgebung zusammen mit Kunstwerken. Dass dieses gebräuchliche und über lange Jahre tradierte Bildmotiv, das sich auch im Werk von Porträtfotografen wie Arnold Newman, Inge Morath (1923 – 2002), Franz Hubmann (*1904), Henri Cartier-Bresson, Lucien Clergue, Edward Quinn oder auch David Douglas Duncan findet, von Miller nicht nur Mitte der 1940er Jahre, sondern auch später im Bereich des Künstlerporträts eingesetzt wurde, zeigt eine Porträtserie von Pablo Picasso.

Roland Penrose verfasste Anfang der 1950er Jahre eine Biographie über Pablo Picasso, die unter anderem mit Fotografien von Lee Miller illustriert wurde. Der Schriftsteller und die Fotografin hielten sich aus diesem Grund häufig bei Picasso an der französischen Mittelmeerküste auf. So suchten Miller und Penrose Picasso 1954, 1955, 1956, 1958, 1962 und 1965 zum Teil mehrmals im Jahr auf. Die kurzen Abstände, die zwischen den Aufenthalten lagen, erschweren eine exakte chronologische Einordnung.

Lee Miller und Roland Penrose zählten zu dieser Zeit bereits seit ca. zwei Jahrzehnten zu den engen Freunden des Künstlers, der sie aber – wie alle seine Gäste – nicht in seinem Haus unterbrachte und nur mit Voranmeldung empfing.728 Selbst eine Einladung in das Haus Picassos, der sich unter anderem in seiner Villa La Californie von der Außenwelt und neugierigen Besuchern abschottete, konnte in letzter Minute zurückgezogen werden, wenn sich der Künstler in einer produktiven Phase befand oder aber in schlechter Stimmung war, was viele seiner Freunde und Bekannten nicht verstanden.

Durch ihre Freundschaft zu Picasso, ihre häufigen Besuche und gemeinsam verbrachten Urlaube war Lee Miller in der Lage, viele Facetten der Person und des Künstlers Picasso im Bild festzuhalten. Auch Edward Quinn und David Douglas Duncan suchten den Maler und Bildhauer nicht nur als Fotografen, sondern als seine Freunde auf. Wie Miller fotografierten sie Picasso bei allen möglichen Gelegenheiten: beim Essen, bei Gesprächen mit Freunden oder beim Spiel mit seinen Kindern und hielten so viele Aspekte seines täglichen Lebens in seiner gewohnten Umgebung fest. Picasso schuf in spontanen Aktionen und zur Freude seiner Besucher oft kleinere Werke aus Papier, bemalte den Teller, von dem sein Dackel Lump fraß oder ließ sich während des Essens von einer Fischgräte inspirieren, die ihm als Motiv für eine Keramik diente.729 Beim Malen im Atelier wollte er aber weitgehend ungestört sein, so dass nur sehr wenige Fotografien den Künstler im Werkprozess darstellen.730

Der österreichische Fotograf Franz Hubmann war 1957 einen Tag lang „Zu Gast bei Picasso“, wovon sein gleichnamiger Fotoband zeugt. Hubmann erinnert sich, dass Picasso

728 Vgl. Clergue [1993], S. 11 und S. 52. Penrose 1981b, S. 214. 729 Quinn 1965. Duncan 1981, S. 31–33 (Dackel) und 40–43 (Gräte). 730 David Douglas Duncan, Picasso malt ein Portrait, Bern 1996. Vgl. hierzu auch Warncke 1995, S. 716. 158 sich der Anwesenheit einer Kamera immer bewusst war und dass die Gelegenheiten, ihn spontan zu fotografieren, sehr selten gewesen sein sollen. Auch soll Picasso dem Fotografen Brassaï anvertraut haben, dass es nur sehr wenige Porträts von ihm gäbe, da er nicht oft sein Gesicht gezeigt habe.

Auch die Mehrzahl der mindestens 16 Fotografien731, die Lee Miller von Picasso aufnahm, sind während einer Porträtsitzung entstanden, bei der der Maler und Bildhauer für Miller in konventioneller Weise Modell gesessen hat und in der er wahrscheinlich nicht sein wahres Gesicht zeigte. Die Serie, in der der Künstler – von einer Ausnahme732 abgesehen – immer sitzend dargestellt ist, zeigt vielmehr das Spiel Picassos mit der Kamera. Die Inszenierung seiner Person betrifft hauptsächlich seine Mimik, während sein Körper fast unverändert im Dreiviertelprofil oder frontal gezeigt wird. Picasso blickt fast in allen dieser Aufnahmen direkt in die Kamera, durch leichte Veränderungen seiner Kopfhaltung und seines Gesichtsausdrucks erweckt er entweder den Eindruck eines grimmigen, eines hochmütigen oder eines ernsten Menschen733, der aber auch durchaus zu einem Lächeln bereit ist.

Eine Aufnahme dieser Serie (Fotografie 49)734 wurde 1984 in der Photographers Gallery in London im Rahmen der Fotoausstellung Lee Miller and Picasso gezeigt. Im Begleittext erfährt man, dass es sich um eine der sehr wenigen, formalen Porträtstudien, die Lee Miller von Picasso aufnahm, handelt, da sie eher daran interessiert gewesen sein soll, einen „natürlichen Augenblick“ einzufangen.

Die Art und Weise, wie Picasso für Miller posiert, erinnert sehr stark an die Mimik und die Pose, die der Künstler schon 1944 für ein Porträt von Cecil Beaton eingenommen hatte, so dass die jeweiligen Fotografen den Künstler in diesem Punkt wohl kaum beeinflusst haben dürften.735 Alle Fotografien der Serie entstanden wahrscheinlich im großen Salon von Picassos Villa La Californie. Es ist sicherlich schwierig gewesen, den Künstler in diesen mit Skulpturen, Gemälden und Keramiken überfüllten Räumen ohne eines seiner Werke oder Sammelobjekte darzustellen. Und doch spielen die allgegenwärtigen Kunstwerke in diesen Aufnahmen nur eine Nebenrolle – Picasso ist ohne Zweifel der Hauptdarsteller in der Inszenierung, was durch seine prominente Position im Bild unterstrichen wird.736

Ein flächiger weißer Hintergrund, der das Bild zu mehr als drei Vierteln ausfüllt und Picasso vollständig hinterfängt, bietet in den Aufnahmen LMA, Inv. Nr. P 0994 und P 0995 die

731 SWN LMA, Inv. Nr. P 0093 bis P 0108, Negativformat 6 x 6 cm. Abb. von LMA, Inv. Nr. P 0107 (= Fotografie 49) in: Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 98. 732 SWN LMA, Inv. Nr. P 0097. 733 SWN LMA, Inv. Nr. P 0102 (hochmütig), P 0101 (ernsthaft), P 0106 (grimmig), P 0104 (lächelnd). 734 Fotografie 49 = SWN LMA, Inv. Nr. P 0107, Abb. in: Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 98. 735 Vgl. die Aufnahme von Cecil Beaton aus dem Jahr 1944, Abildung in: Penrose 1981a, S. 69, Abb. 181. 736 In allen Aufnahmen wird Picasso auf der Mittelsenkrechten und in der vordersten Bildebene gezeigt, wodurch er im Zentrum der Komposition steht. 159 optimale Kulisse für die Darstellung des Porträtierten. Lediglich am rechten Bildrand ist in diesen beiden Fotos ein schmaler Streifen des Raums sichtbar. Bei der weißen Fläche handelt es sich um eine noch unbearbeitete, großformatige Leinwand, die auf einer Staffelei steht und – mit dem entsprechenden Wissen – als ein Zeichen für das schöpferische Potential des Porträtierten verstanden werden kann.737 Picasso posiert in der für ihn typischen lässigen Kleidung so vor dieser Leinwand, dass es den Anschein hat, als habe die Fotografin ein gemaltes Porträt des Künstlers aufgenommen.

In welcher Weise der gewählte neutrale Hintergrund Picasso in diesen Aufnahmen betont, zeigt ein Vergleich mit Porträts738, die Miller bei der gleichen Gelegenheit aufgenommen hat. Wieder sind die Aufnahmen im Salon der Villa La Californie entstanden, wieder wird der Porträtierte im Zentrum der Fotografie dargestellt. Doch wird seine Person in diesen Porträts nicht durch eine weiße Fläche vom Raum isoliert und somit besonders hervorgehoben, sondern in den Bildraum eingebunden.

In zwei weiteren Aufnahmen739 der Serie (LMA, Inv. Nr. P 0107 = Fotografie 49 und LMA, Inv. Nr. P 0108) ist der Hintergrund nicht mehr in zwei, sondern in drei Bereiche unterteilt. Die leere Leinwand, die bislang die Bildfläche zu einem großen Teil füllte, wird auf der linken Seite von einem Ausschnitt aus Picassos großformatigen Gemälde Nu assis et nu debout740 in ganzer Höhe verdeckt und so auf einen Streifen in der Mitte des Bildes reduziert, während rechts in einer gleichbreiten Zone ein Ausschnitt des Raums mit weiteren, kleinformatigen Kunstwerken sichtbar ist, zu denen das Stilleben Nature morte, crane et oursins741 (1947) zählt. Zwischen dem realen Raum und dem vollendeten Kunstwerk steht also in den Fotografien die noch unbearbeitete Leinwand, die unmittelbar auf den Künstler zuläuft und ihn von seiner Umgebung isoliert. Auf diese Weise wird Picassos Präsenz im Bild noch gesteigert, was durch seine Haltung, seinen intensiven Blick in die Kamera und seine zentrierte Position unterstützt wird. Mit dem Werk Nu assis et debout wird Picasso von Miller noch in einer weiteren, 1956 entstandenen Fotoserie gezeigt742.

Das dargestellte Werk bietet einen Terminus post quem für die Datierung der Serie, die so frühestens im April 1956 entstanden sein kann. Auch Roland Penrose nennt in seinem

737 Zur Bedeutung der leeren Leinwand siehe Göke 2000, S. 263. Die Aufstellung der Leinwand kann in der Aufnahme Negativ LMA, Inv. Nr. P 0104 zum Teil nachvollzogen werden. An diese großformatige Leinwand ist eine weitere, kleinere Leinwand mit der Vorderseite angelehnt (SWN LMA, Inv. Nr. P 0100). 738 SWN LMA, Inv. Nr. P 0093 bis P 0098, Negativformat 6 x 6 cm. Vgl. einen Ausschnitt aus dem SWN LMA, Inv. Nr. P 0078 in: Penrose 1981b, S. 216, Abb. 535, vgl. auch Abb. 536. Vgl. einen Ausschnitt aus dem SWN LMA, Inv. Nr. P 0098 in: Calvocoressi 2002, S. 149. 739 SWN LMA, Inv. Nr. P 0107 und P 0108. SWN LMA, Inv. Nr. P 0107, Abb. in: Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 98 (= Fotografie 49). 740 Abb. in: Zervos XVII, 54, „Nu assis et débout. Huile sur toile. Janvier – avril 1956, 195 x 130 cm.“ 741 Abb. in: Zervos XV, 31. „Nature morte, crane et oursins. Huile sur toile. 5 février 1947. 50 x 73 cm.” 742 Vgl. Kap. 4.1.2.2.5. 160

Scrapbook743 als Zeitpunkt für die Aufnahmen das Jahr 1956 und stützt so diese Annahme. Eine andere zeitliche Einordnung findet sich bei Calvocoressi, der ohne weitere Begründung als Entstehungsjahr 1958 angibt.744

Obwohl den Kunstwerken Picassos in der vorgestellten Porträtserie nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt, wird der Porträtierte durch ihre Gegenwart als ein Mensch, der sich beruflich oder privat auf dem Kunstsektor engagieren könnte, angesprochen. Während es bei vielen unbekannten Künstlern in der Regel bei dieser Vermutung bleibt, kann gerade im Fall Picassos, der wohl als der am meisten fotografierte Künstler des 20. Jahrhunderts gelten kann und entsprechende Popularität erlangte, die Physiognomie des Porträtierten einen konkreten Hinweis auf seine Künstlerrolle geben.

Ein Hinweis auf die Identität des Porträtierten findet sich auch in einer Fotografie, die Picasso zusammen mit seiner Lebensgefährtin und späteren Frau Jacqueline zeigt.745 Doch lassen in diesem Fall nicht nur ein Kunstwerk – das an der Wand präsentierte Gemälde Bildnis Jacqueline Roque mit verschränkten Armen746 – oder das bekannte Gesicht Picassos einen Rückschluss auf seine Künstlerrolle zu, sondern auch eine Signatur.

Picasso hält in der Aufnahme einen Gegenstand, der von ihm und seiner Frau intensiv betrachtet wird, in seinen Händen. Es handelt sich um eine (Gips?)Platte mit einem sehr breiten Rand, der parallel zur Bildfläche aufgenommen wurde und der in Großbuchstaben den Schriftzug ‚PALOMA P.’ trägt. Diese Platte wird nicht nur unmittelbar vor Picasso und seinem Gemälde gezeigt, sondern befindet sich zusätzlich im Schnittpunkt der Blickrichtungen von Roque und Picasso, so dass das Objekt im Zentrum der Aufnahme dargestellt ist. Auch diese Fotografie wurde 1984 in der Photographers Gallery ausgestellt und mit folgendem Begleittext747 versehen: „Jacqueline Roque und Picasso, Villa La Californie, 1958. They are admiring a pottery plaque made at school by Paloma Picasso.”

Während Picasso in dieser Fotoserie seinen eigenen Gemälden keine Aufmerksamkeit schenkte und ihnen den Rücken zuwendete, konzentrierte er sich bei einer anderen Gelegenheit, die Miller ebenfalls 1956 im Bild festhielt, voll auf seine Werke748. In diesen Fotografien wird der Eindruck erweckt, als hätte die Fotografin den Künstler bei der Überprüfung der Bildwirkung seiner Arbeiten beobachtet, also bei einer nachbereitenden Tätigkeit im Werkprozess.

743 Penrose 1981b, S. 216, Abb. 535 und 536. 744 Calvocaressi, Begegnungen 2002, S. 148–149. Dieses Entstehungsdatum wurde auch bei der Präsentation der Fotografie LMA, Inv. Nr. P 0107 in der Ausstellung Lee Miller and Picasso 1984 genannt. 745 Neuer Abzug LMA, Inv. Nr. P 0097. 746 Abb. in: Zervos XVI, 324. „Jacqueline accroupie. Huile sur toile. 3 juin 1954. 116 x 89 cm.” 747 Information des Lee Miller Archive. 748 Vgl. Kap. 4.1.4.2.6. 161

4.1.2.4 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) im Freien

In Lee Millers Œuvre finden sich nur vergleichsweise wenige Fotografien, die einen Künstler zusammen mit (s)einem Kunstwerk im Freien zeigen, obwohl viele Porträts, die den Dargestellten als Jedermann und nicht in seiner Künstlerrolle zeigen, in einer Außenkulisse entstanden sind. Auch existieren viele Porträts von Künstlern, die indirekt auf die künstlerische Identität der Porträtierten verweisen und sie Pleinair darstellen. Aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften sind Skulpturen im Außenbereich häufig zu finden, während Gemälde nur selten im Freien gezeigt werden.

4.1.2.4.1 Saul Steinberg mit der Galionsfigur Iris (Farley Farm, um 1953)

Bereits in den Aufnahmen von Christian Bérard und Feliks Topolski stellte Lee Miller die Porträtierten mit Werken dar, die andere Künstler in vergangenen Epochen geschaffen hatten und die keinen Rückschluss auf die Kunst und den Stil der dargestellten Maler und Bildhauer erlaubten. Dies ist auch der Fall bei Saul Steinberg: Lee Miller fotografierte den amerikanischen Karikaturisten um 1953749 während seines Besuchs auf Farley Farm mit einer Skulptur, die sicher nicht als sein Werk angesehen werden kann (Fotografie 50)750.

Saul Steinbergs751 (Rumänien, 1914 – 1999) Zeichnungen, Karikaturen und Cartoons wurden nicht nur regelmäßig in Printmedien veröffentlicht, sondern fanden auch in der Kunstszene große Beachtung. Zusammen mit Isamu Noguchi, Robert Motherwell und Arshile Gorky zählte Steinberg zu den 14 Americans, die 1943 in der gleichnamigen, legendären Ausstellung des New Yorker Museum of Modern Art ihre Werke präsentierten. Diese Präsentation seines Werks steht am Anfang einer großen Zahl von nationalen und internationalen Ausstellungen: so fanden 1953 zwei Präsentationen seines Werks im Amsterdamer Stedelijk Museum und der Pariser Galerie Maeght statt; 1959 zeigte das von Roland Penrose mitbegründete Institute of Contemporary Art (ICA) in London eine Auswahl von Steinbergs Werken.

Lee Miller fotografierte Saul Steinberg während seines Aufenthaltes auf Farley Farm in witzigen Situationen und zeigt ihn nicht bei der Arbeit an einem Werk, sondern auch, wie er in Art eines Laokoon mit einem Gartenschlauch statt einer Schlange ‚kämpfte’752. In einer

749 Die Arbeitsabzüge im LMA sind auf ca. 1950 (Kontaktabzug F.F. 0280 bis F.F. 0284) und 1952 (F.F. 0280) datiert. Bei Steinbergs Besuch entstanden außer diesen fünf Aufnahmen noch weitere Fotografien, die ihn in der gleichen Kleidung mit einem Gartenschlauch (Abb. in: Penrose 1985a, S. 192) zeigen. Die Veröffentlichung dieser Aufnahme in Millers Artikel Working Guests liefert einen Terminus ante quem für die Datierung der Fotografien, die so nicht nach Juli 1953 aufgenommen worden sein können. 750 Fotografie 50 = Abb. in: Penrose 1981b, S. 189, Abb. 477. 751 Zur Biografie Steinbergs siehe die Internetseiten der Saul Steinberg Foundation >www.saulsteinbergfoundation.org<. 752 Vgl. Kap. 4.1.4.1.9 und 4.2.3. 162 weiteren, zeitgleich aufgenommenen Fotografie Millers (Fotografie 50)753 ist Saul Steinberg mit einer weiblichen, hölzernen und farbig gefassten Figur zu sehen, die ursprünglich als Dekorationselement eines Schiffes diente und die Roland Penrose kurz nach dem 2. Weltkrieg aus Cornwall mit ins heimatliche Chiddingly gebracht hatte.754 Die einstige Funktion dieser Galionsfigur, die auf Farley Farm vor einer Hauswand aufgestellt worden war, in diesem Umfeld aber nicht länger nachvollziehbar, so dass sie in der Aufnahme Millers als eine eigenständige Plastik angesehen werden kann, die in naturnaher Darstellungsweise eine ‚opulente, barbusige Frau’ zeigt.755

Iris, wie die Figur genannt wurde, diente nicht nur als Kulisse für viele Porträts von Millers Freunden und Gästen auf Farley Farm, sondern wurde auch von Man Ray vielfach fotografiert.756 Doch keine der porträtierten Personen näherte sich der Figur in der Art und Weise wie Saul Steinberg: dieser hatte sich scheinbar zu Iris auf den Sockel gestellt und lehnte sich mit seinem linken Arm lässig auf die Plastik auf. Iris selbst schien diese Annäherung ‚mit Verwunderung zur Kenntnis genommen zu haben’, deutet man ihren ‚Gesichtsausdruck’ richtig. Auch die Haltung, die der Erbauer der Galionsfigur gegeben hatte, unterstützt den Eindruck, dass Steinberg Iris ‚zu nahe getreten’ war, ‚blickt’ sie doch nicht nur scheinbar ‚erstaunt’ aus dem Bild heraus, sondern ‚weist’ zusätzlich mit ihrem Arm direkt auf Steinberg.

Iris und Steinberg, der die Plastik auf keinen Fall geschaffen hat, aber von einem uninformierten Betrachter durchaus als der Schöpfer der Figur angesehen werden könnte, werden als gleichberechtigtes ‚Paar’ gezeigt: so überragt der Karikaturist zwar die Figur durch seine Größe, die Bildwirkung der Skulptur wird hierdurch aber kaum geschmälert. Auch in dieser Aufnahme Millers nimmt die dargestellte Figur eine zentrale Rolle ein, führt wieder ein ‚Eigenleben’, das durch die gezeigte ‚Haltung und Gestik’ zum Tragen kommt. Durch das Kunst(hand)werk wird auch in diesem Porträt kein stilistischer Bezug zum Werk Steinbergs hergestellt. Der Witz der Inszenierung könnte aber einen Hinweis auf seine besondere Rolle – und somit seine Nähe zur bildenden Kunst – liefern.

4.1.3 Künstler präsentieren Kunst: Künstler arrangieren Kunstwerke zur Präsentation

Während die Künstler in den bisher vorgestellten Aufnahmen Lee Millers in konventionellen, repräsentativen Posen mit ihren zur Präsentation bereits arrangierten Kunstwerken zu sehen waren, werden sie in den nun folgenden Fotografien in einer vor- respektive nachbereitenden Phase des Arrangements des Werks gezeigt. Zahlenmäßig machen diese Künstlerporträts im Œuvre Millers nur einen geringen Anteil aus.

753 Fotografie 50 = Abb. in: Penrose 1981b, S. 189, Abb. 477. 754 Penrose 2002, S. 110. 755 Penrose 2002, S. 108. 756 Vgl. zum Beispiel die Abbildungen in: Penrose 1981b, S. 192, Abb. 479, S. 193, Abb. 481 oder auch S. 190–191, Abb. 478. 163

4.1.3.1 Giuseppe Santomaso mit Gemälden, u. a. Interno n. 3 (Venedig, 1948)

Lee Miller fotografierte auf der 24. Biennale von Venedig im Juli 1948 Künstler wie Morandi, Marini, Guttuso, Carrà, Manzù oder auch Viani mit ihren Werken757. Diese Aufnahmen illustrieren – neben anderen Künstlerporträts Millers – ihren im August 1948 in der britischen Vogue veröffentlichten Artikel Venice Biennale758 oder wurden zum Teil im November 1948 in der amerikanischen Ausgabe von Vogue unter dem Titel Five Modern Italian Artists759 erneut publiziert.

Auch Giuseppe Santomaso wurde von Miller während dieser Ausstellung porträtiert. Der venezianische Maler präsentierte zusammen mit der von ihm mitbegründeten Künstlervereinigung Il Fronte nuovo delle Arti, zu der auch Guttuso und Viani gehörten, im Saal 39 insgesamt zehn seiner aktuellsten Gemälde760 aus den Jahren 1947/48. Während Alberto Viani und Renato Guttuso 1948 die mit 100.000 Lire dotierten Preise der Presidenza della Biennale für italienische Nachwuchskünstler in den Sparten Bildhauerei und Malerei erhielten, soll Santomaso auf der 24. Biennale mit dem Premio del Comune ausgezeichnet worden sein.761 Hierauf findet sich aber im Ausstellungskatalog der Biennale kein Hinweis, als Preisträger des Premio del Comune im Jahr 1948 werden Giorgio Morandi (Malerei) und Giacomo Manzù (Skulptur) genannt.762 Auch in Lee Millers Text finden sich keine Informationen über die Verleihung eines Preises im Rahmen der 24. Biennale von 1948 an Giuseppe Santomaso, seine Gemälde gehörten für sie aber – zusammen mit den Arbeiten Guttusos – zu den herausragenden Kunstwerken der Ausstellung.

Giuseppe Santomaso (Venedig, 26.9.1907 – Venedig, 23. Mai 1990) beteiligte sich bereits 1926 zum ersten Mal an Kollektivausstellungen, seine künstlerische Ausbildung begann er aber erst sechs Jahre später an der venezianischen Accademia di Belle Arti, an der er auch von 1957 bis 1975 eine Lehrtätigkeit ausübte. Seine erste Teilnahme an der Biennale von Venedig datiert bereits in das Jahr 1934 und stellt den Beginn einer erfolgreichen nationalen und internationalen Ausstellungstätigkeit, die mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen verbunden war, dar.763 Von 1948 an wurden seine Werke mehr oder weniger regelmäßig bis 1972 auf der Biennale von Venedig präsentiert.

Auch Giuseppe Santomaso wurde von Lee Miller 1948 auf der 24. Biennale von Venedig bei der Präsentation seiner Arbeiten fotografiert, doch ist er in diesen Aufnahmen in einer

757 Vgl. Kap. 4.1.2.1.6, 4.1.1.3, 4.1.1.4, 4.1.1.5, 4.1.1.6, 4.1.2.1.5, 4.1.2.1.7. 758 Miller 1948, S. 66–67, 88–90. 759 Vogue 1948. 760 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 167, Kat. Nr. 6–15. 761 Ausst. Kat. Ludwigshafen 1986, S. 149. 762 Ausst. Kat. Venedig 1948, S. 7. 763 Ausst. Kat. Ludwigshafen 1986, S. 149–150. 164 anderen Phase der Werkpräsentation zu sehen (Fotografien 51 und 52)764: so konzentriert er sich – anders als beispielsweise Renato Guttuso oder Giorgio Morandi765, die in repräsentativer Haltung neben ihren optimal arrangierten Werken posieren und diesen den Rücken zuwenden – unmittelbar auf sein Werk. Er scheint aber in diesem Fall aber nicht an der ästhetischen Komponente seiner Arbeit interessiert zu sein, da er nicht die Bildseite seines Werks betrachtet, sondern sich der Rückseite des Gemäldes zuwendet.

Dieses Gemälde hielt der Künstler, der in Dreiviertelansicht bis zur Hüfte wiedergegeben wird, mit seiner rechten Hand an der linken unteren Ecke fest, während er mit seiner linken Hand hinter dem Werk agierte. Auf diese Handlung, die während des Arrangements des Bildes stattfand, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit aus. Sicher war eine zweite Person dem Künstler beim Arrangieren seines Gemäldes behilflich, da aber dieser Bereich nicht in der Aufnahme zu sehen ist, liegen hierüber keine konkreten Informationen vor. Der Prozess der Hängung trägt – wahrscheinlich vom Künstler unbeabsichtigt – durch die Wendung des Werks in Richtung der Fotografin zu einer fast bildflächenparallelen Präsentation und somit zu einer optimierten Anordnung des Gemäldes für die Wiedergabe in einer Fotografie bei. Das Kunstwerk wird so auf eine Ebene mit dem porträtierten Künstler gestellt. Dieser teilt die Bildfläche im Verhältnis des Goldenen Schnitts, wird also an prominenter Stelle in der Komposition gezeigt.

Durch seine Blickrichtung stellt Santomaso eine Verbindung zu seinem Werk her, das am unteren Rand ein kleines Schild mit der Nummer „8“ trägt. Diese Nummerierung erlaubt über den Ausstellungskatalog der 24. Biennale von 1948 eine Identifizierung des Gemäldes, das 1947 entstand und den Titel Interno n. 3 trägt.766 Wie sehr die Wendung des Gemäldes seine Präsenz in der Aufnahme steigert, wird deutlich, wenn man die Präsentationsform von Interno n. 3 mit der eines zweiten, in der Aufnahme wiedergegebenen Bildes vergleicht. Es handelt sich hierbei um die Darstellung eines Fensters, ein Motiv, das sich häufig im Werk Santomasos findet und das, so der italienische Kunstkritiker Lionello Venturi, zum „Symbol seiner Kunst“ wurde.767 Drei der insgesamt zehn Arbeiten, die Santomaso auf der Biennale präsentierte, trugen den Titel Finestra. Das Gemälde768 wird unmittelbar neben Interno n. 3 an der Wand präsentiert, so dass es sich um die Katalognummer „7“ (Finestra n.1 von 1948) oder „9“ (Finestra n. 2 von 1947) des Ausstellungskatalogs der 24. Biennale handeln könnte. Die Wirkung dieses Kunstwerks in Millers Fotografie wird durch seine perspektivisch verkürzte Wiedergabe in der hinteren Bildebene geschmälert, auch wendete Santomaso, der zwischen beiden Bildern dargestellt ist, der Arbeit den Rücken zu und verdeckte sie weitgehend.

764 Abb. in: Miller 1948, S. 88 (= Fotografie 51). Vogue 1948 (= Fotografie 52). 765 Vgl. Kap. 4.1.2.1.5 und 4.1.2.1.6. 766 Ausst. Kat. Venedig 1948 , S. 167. 767 Ausst. Kat. Ludwigshafen 1986, S. 132. 768 Abb. in: Ausst. Kat. Venedig 1948 , Kat. Nr. 46. 165

Wie in den anderen, in Venice Biennale publizierten Fotografien kann die Ausstellungssituation in diesem Porträt von Santomaso nur ansatzweise durch die Form der Präsentation der Werke nachvollzogen werden. Während das Foto also nur in äußerst begrenztem Umfang Informationen über die Situation zur Zeit der Aufnahme liefert, können viele Details über Millers Artikel erschlossen werden. Das zur Illustration von Venice Biennale verwendete Porträt von Giuseppe Santomaso (Fotografie 51) wurde – wie auch im Fall der drei anderen Fotografien von Guttuso, Arp und Marini769 – in dem Artikel Five Modern Italian Artists nicht nur in einem anderen Format publiziert, für diesen Artikel wurden vielmehr Vergrößerungen aus dem Negativ gewählt (Fotografie 52). So ergaben sich bei den Fotografien von Marini und Guttuso nur geringfügige Veränderungen am linken und rechten Bildrand. Viel gravierender waren aber die zusätzlichen Reduzierungen bei Arp und auch bei Santomaso, bei dessen Porträt die Ausschnittwahl dazu führte, dass der vormals bis zur Hüfte dargestellte Künstler nur noch im Brustbild zu sehen ist.

Der Autor von Five Modern Italian Artists geht in seinem Artikel auf die besondere Rolle Santomasos in der zeitgenössischen italienischen Kunstszene ein und stellt den Maler auf eine Stufe mit Künstlern wie Armando Pizzinato (*geb. 1910), Emilio Vedova (geb. 1919) und Alberto Viani770 (1906 – 1989). Dass die Aufnahme Millers auf der Biennale in Venedig entstand, findet sich nur in einem kurzen, einleitenden Abschnitt, in dem die Entwicklung der italienischen Kunst kurz skizziert wird. Insgesamt werden in der amerikanischen Vogue fünf italienische Künstler771 mit ihren Porträts vorgestellt. Diesen Aufnahmen sind – sozusagen als längere Bildunterschriften – zehn- bis elfzeilige Absätze direkt zugeordnet worden, so dass Bild und Text in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen. Der Leser von Five Modern Italian Artists erfährt etwas über Santomasos und Guttusos Zugehörigkeit zur Künstlervereinigung Il Fronte nuovo delle arti772 und die Zielsetzung dieser Gruppe. Am Schluss des Absatzes beschreibt der Autor die Kunst Santomasos und geht auf seine „abstrakten, aber dennoch leicht erkennbaren Motive“ ein, für die der Künstler „sanfte venezianische Farben“ verwende und zu denen „Angelszenen und der Ausblick auf den Canale Grande von seinem Studiofenster aus“ zählen würden.

Die Farben Santomasos thematisiert auch Lee Miller in Venice Biennale. Sie betont in der Bildunterschrift, dass der Künstler ein Kolorist sei, der die Farben virtuos einsetze und sich von der Luftigkeit, den offenen Fenstern und dem weiten, offenen Raum seiner Geburtsstadt Venedig inspirieren lasse. Als Inspirationsquellen nennt sie im Text selbst poetisch „blaue Lagunen, Olivenöl, Orangen und offene Fenster“.

Auch Miller stellt Santomaso im Zusammenhang mit seinen Künstlerkollegen Guttuso, Emilio Vedova und Pizzinato vor, die ihre Werke gemeinsam im Saal 39 ausstellten.773 Nicht nur die

769 Vgl. Kap. 4.1.2.1.5, 4.1.2.1.3 und 4.1.1.3. 770 Vgl. Kap. 4.1.1.6. 771 Marini, vgl. Kap. 4.1.1.3, Morandi, Guttuso, Manzù, vgl. Kap. 4.1.1.5 und Santomaso. 772 Vgl. Fußnote 199. 773 Ausst. Kat. Venedig 1948 , S. 167. 166

Kunst, auch die äußere Erscheinung der Künstler ist ein Aspekt, der der Autorin berichtenswert erscheint. Santomaso wird von Miller als elegant und attraktiv beschrieben: der Maler präsentierte sich im Umfeld der Biennale zwar in einem konventionellen, dunklen Jackett und einem weißen Hemd, das er aber ohne Krawatte trägt und so – wie Guttuso – einen eher lässigen Eindruck bietet und sich dadurch von anderen, sehr repräsentativ gekleideten Biennale-Künstlern unterscheidet.

Über die in der Fotografie dargestellten Kunstwerke wird auch der italienische Maler als ein Mensch, der sich beruflich oder privat künstlerisch engagiert, ausgewiesen. Dass es sich bei dem Dargestellten aber um einen bildenden Künstler handelt, kann wieder nur vermutet werden.

4.1.3.2 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Femme dans l’atelier (Cannes, 1956)

In Millers Porträt von Giuseppe Santomaso von 1948 wird der Künstler in einem neutralen Bildraum mit zwei Gemälden gezeigt, von denen eines durch das Hantieren mit dem Werk an Bildwirkung gewinnt und zu einem zentralen Element in der Darstellung wird. Auch Pablo Picasso wurde von Lee Miller 1956 – also rund acht Jahre später – beim Arrangieren seines Werks für eine Präsentation fotografiert (Fotografie 53)774, doch geschah dies nicht während einer Ausstellung, der Künstler wurde vielmehr in seiner gewohnten Lebenswelt porträtiert.

Picasso wurde auch von anderen Fotografen wie Brassaï775, Roberto Otero776, David Douglas Duncan777 und Edward Quinn778 beim Auswählen und Arrangieren von Werken fotografiert, so dass es sich im Fall des spanischen Künstlers bereits seit mindestens 1939 um ein gebräuchliches Motiv handelt. Die Aufnahmen der verschiedenen Fotografen weisen Übereinstimmungen auf, so dass davon ausgegangen werden kann, dass eine alltägliche Szene aus dem Leben Picassos dokumentiert wurde. Edward Quinn erhob dabei – wie auch andere Fotografen – den Anspruch, das Leben Picassos ohne jegliche Beeinflussung von seiner Seite darzustellen, wobei er anfangs aber immer auf Schwierigkeiten stieß, da allein seine Gegenwart den Künstler veranlasste, eine Pose einzunehmen.779

774 LMA, Inv. Nr. P 0770 (neuer Abzug) und SWN LMA, Inv. Nr. P 0496 (Negativformat 24 x 36 mm). Abb. eines Ausschnitts aus dem SWN LMA, Inv. Nr. P 0496 in: Calvocoressi 2002, S. 170 (= Fotografie 53). 775 Abb. in: Ausst. Kat. Paris 1987, S. 76, Abb. 25 und S. 77, Abb. 26. 776 Abb. in: Roberto Otero, Forever Picasso: An intimate look at his last years, New York o. J., S. 66. 777 Abb. in: Duncan 1981, S. 17 unten. 778 Abb. in: Quinn 1987b, S. 310. 779 Edward Quinn 1977, S. 16: „Sobald ich anfing zu fotografieren, konzentrierte er sich auf seinen eigenen Ausdruck, als wolle er sich von seiner besten Seite zeigen. Nach wenigen Minuten war er dann bereits so beschäftigt oder in ein Gespräch vertieft, daß er mich völlig vergaß. Das war genau die Situation, die ich brauchte, um ungestellte und glaubwürdige Fotos von ihm zu machen. Dabei habe ich die Kamera wie einen Stift benutzt, der die vielfältigen Tätigkeiten Picassos in der ihm gewohnten Umgebung aufzeichnet.“ 167

In den beiden Porträts von Lee Miller ist Pablo Picasso mit einer Vielzahl an Gemälden zu sehen, die den Hintergrund des Bildes vollständig ausfüllen. Miller fotografierte verschiedene Phasen des Arrangements: ein Foto780 zeigt den Künstler beim Auswählen der zu präsentierenden Gemälde, in der anderen Aufnahme781 ist Picasso zu sehen, wie er seine Werke zur Präsentation zusammenstellt. Der Künstler wird, da er sich in beiden Fällen seinen Werken zuwendete und mit diesen hantierte, in Dreiviertelansicht von hinten gezeigt. In den Darstellungen hält Picasso jeweils ein Gemälde in den Händen, das er entweder von den in großer Zahl an der Wand lagernden Werken fortzutragen oder den bereits arrangierten Bildern hinzuzufügen scheint.

Neben seinen Tätigkeiten liefert auch die Anordnung der Gemälde im Bild einen Hinweis darauf, dass es sich um unterschiedliche Vorgänge bei den Vorbereitungen zu einer Ausstellung seiner Bilder handelt. So ist von den Gemälden, die verschiedene Formate aufweisen, in der ersten Aufnahme (Fotografie 53)782 in den meisten Fällen nur die Rückseite zu sehen, da die Bilder mit der Vorderseite zur Wand gelagert werden. Lediglich drei Werke wurden von Picasso bereits zur Seite gestellt und zeigen mit der Malseite zur Fotografin. Diese nehmen aber in der Aufnahme nur eine Randstellung ein und werden zudem durch eine weitere Person, die am rechten Bildrand schemenhaft sichtbar ist, verdeckt. Eine Identifizierung der Bilder ist aus diesem Grund schwierig, nur über Details können die ausschnitthaft gezeigten Werke als bestimmte Arbeiten im Œuvre Picassos angesprochen werden. Für einen neuen Abzug von Millers Aufnahme wurde eine Vergrößerung aus dem Negativ783 gewählt, so dass nur noch zwei Gemälde bestimmt werden können. Es handelt sich hierbei um zwei Werke aus der Serie der Atelierbilder von 1955/56, Femme dans l’atelier784 und L’atelier785. Ein drittes, großformatiges Gemälde wird in diesem neuen Abzug in so reduzierter Form gezeigt, dass es kaum noch als ein solches wahrgenommen werden kann. Im Negativ selbst ist diese Arbeit in einem größeren Ausmaß zu erkennen und kann als das Gemälde Nu assis et nu debout786 identifiziert werden. Dieses Werk wurde von Picasso von Januar bis April 1956 geschaffen.

Auch in der zweiten Fotografie787 sind drei Werke aus der Serie der Atelierbilder zu sehen. Diese Gemälde, die alle den Titel L’atelier788 tragen und auf den 26. April 1956 datiert sind,

780 SWN LMA, Inv. Nr. P 0496, Negativformat 6 x 6 cm. 781 SWN LMA, Inv. Nr. P 0770, Negativformat 6 x 6 cm. 782 Fotografie 53 = SWN LMA, Inv. Nr. P 0496, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 170. 783 SWN LMA, Inv. Nr. P 0496. 784 Abb. in: Zervos XVII, 67, „Femme dans l’atelier. Huile sur toile. Cannes, 2–8 avril 1956. 114 x 146 cm.“ 785 Abb. in: Zervos XVII, 496, „L’atelier. Huile sur toile. 30, 31 octobre 1955 (IV). 81 x 65 cm.“ 786 Abb. in: Zervos XVII, 54, „Nu assis et nu debout. Huile sur toile. Janvier–Avril 1956. 195 x 130 cm.“ 787 SWN LMA, Inv. Nr. P 0770. 788 Von links nach rechts handelt es sich um die Gemälde „L’atelier. Huile sur toile. Cannes, 26 avril 1956 (I). 46 x 55 cm“, Abb. in: Zervos XVII, 98. „L’atelier. Huile sur toile. Cannes, 26 avril 1956. 46 x (ff) 168 sind aufgrund ihres kleineren Formats (46 x 55 cm) vor eine weitere, großformatige Arbeit gestellt worden. Es handelt sich hierbei um einen großen, liegenden Akt789, der von den Atelierbildern, auf die weitere Werke Picassos wie die Stierkampfszene bereits platziert worden sind, zum Teil verdeckt wird. Auch die Corrida790 entstand Ende April 1956 und weist ein identisches Format wie die Atelierbilder auf. Ein Werk791 mit ähnlichen Maßen wird von dem Künstler zum Zeitpunkt der Aufnahme noch in den Händen gehalten. Durch das Hantieren mit dem Gemälde wird es nicht, wie alle anderen Arbeiten Picassos, in einer fast optimalen Ausrichtung präsentiert, sondern ist mit einer perspektivischen Verkürzung zu sehen, so dass es kaum identifiziert werden kann. Picassos Haltung in der Aufnahme macht klar, dass auch dieses Gemälde seinen Platz zur Präsentation auf einem der Atelierbilder finden soll.

Der Künstler stellte seine Werke, die er seinen Besuchern zeigte, in einem fast mosaikartigen Arrangement vor, bei dem die Gemälde nach Größe geordnet vor- und übereinander aufgebaut werden, so dass nicht alle Werke während der gesamten Ausstellung komplett zu sehen sind. Am Anfang der von Miller fotografierten Werkschau müssen so zwei großformatige, mit Femme dans un Rocking-Chair792 betitelte Werke gestanden haben, da sie hinter allen anderen Gemälden dargestellt sind und den Hintergrund der Fotografie fast vollständig ausfüllen. Der schichtenweise Aufbau der Arbeiten findet sich also nicht nur während der Lagerung, sondern auch während der Präsentation, wobei in diesem Fall natürlich nicht die Rückseite, sondern die Vorderseite der Bilder gezeigt wird.

Picasso trägt in den Aufnahmen Millers zwar in beiden Fällen sehr lässige, aber unterschiedliche Kleidung, so dass deutlich wird, dass sie bei zwei verschiedenen Gelegenheiten entstanden sind. Über das Motiv wird aber eine sehr enge Verbindung zwischen den Fotos geschaffen, da der Ablauf einer Präsentation gezeigt wird: bei den von Picasso in der einen Aufnahme ausgewählten Gemälden könnte es sich so theoretisch um die in der zweiten Fotografie zur Präsentation zusammengestellten Werke handeln.

Die in beiden Fotografien in großer Anzahl präsentierten Gemälde erfüllen zwei Funktionen: zum einen können sie als ein Zeichen für die Nähe des Porträtierten zur Kunstszene verstanden werden, wobei aber nicht unmittelbar deutlich wird, dass es sich um einen bildenden Künstler handelt. Kann der Dargestellte aber über seine Physiognomie identifiziert

55 cm“, Abb. in: Zervos XVII, 99. „L’atelier. Huile sur toile. Cannes, 26 avril 1956. 46 x 55 cm“, Abb. in: Zervos XVII, 100. 789 Abb. in: Warncke 1995, S. 525: „Großer liegender Akt (Die Voyeure), Femme nue allongée (Les voyeurs), Nizza, 24. August 1955, Öl auf Leinwand, 80 x 192 cm. Nicht bei Zervos. Erben Jacqueline Picasso“. 790 Abb. in: Zervos XVII, 93, „Corrida. Huile sur toile. Cannes, 27 avril 1956. 46 x 55 cm“. 791 Vielleicht handelt es sich um das in gleichen Zeitraum entstandene Gemälde „Femme dans l’atelier. Huile sur toile, Cannes, 3–7 avril 1956 (III), 46 x 55 cm“, Abb. in: Zervos XVII, 62. 792 Abb. in: Zervos XVII, 48. „Femme dans un Rocking-Chair. Huile sur toile. 25 mars 1956. 195 x 130 cm.“ Zervos XVII, 55, „Femme dans un Rocking-Chair. Huile sur toile. 26 mars 1956. 195 x 130 cm.“ 169 und unmittelbar als Maler oder Bildhauer angesprochen werden, was im Fall Picassos, der sich einer großen Popularität erfreute, sehr wahrscheinlich ist, so liefert die Menge der dargestellten Werke zum anderen einen Hinweis auf seine Produktivität und seine künstlerische Schaffenskraft.

Es existieren viele Fotografien793, die Picasso in Pose mit seinen zur Präsentation bereits arrangierten Werken zeigen, so dass diese Ausstellungen in seinen Ateliers und Atelierhäusern wahrscheinlich häufig stattgefunden haben. In seinen Biographien über den Künstler berichtet Roland Penrose über die Besuche bei Pablo Picasso mit folgenden Worten: „Seine alten Freunde erleben bei ihrer Ankunft bisweilen die Überraschung, daß er sich zu ihrer Unterhaltung verkleidet und eine Maskerade aufführt. Nie gehen sie fort, ohne wieder einmal über die Kraft und den Erfindungsreichtum seiner unermüdlichen Schaffenslust zu staunen. Er holt seine Bilder selbst hervor. Er häuft sie aufeinander, bis seine Besucher die Fülle kaum mehr zu fassen vermögen. Wenn sie gegangen sind, macht er sich wieder an die Arbeit bis spät in die Nacht hinein“.794 Dass es sich bei diesen Verkleidungen und den Präsentationen seines Werks um eine Gewohnheit Picassos gehandelt haben muss, erfährt der Leser auch an anderer Stelle: „[...] Trivialität und Ernst kommen gut miteinander aus. Ein Besuch, der mit einer Clownerie beginnt und mit der Vorführung eines afrikanischen Musikinstrumentes fortgesetzt wird795, mag mit dem Anblick der letzten Bilder Picassos belohnt werden. Die Besucher stehen dann im Kreis oder hocken auf dem Boden, da nicht genug Stühle vorhanden sind, während alles Handeln auf Picasso liegt. Er sucht unter den Bildern, die schichtenweise längs der Wände gestapelt sind, holt eines nach dem anderen hervor und lehnt sie gegeneinander. Dabei stellt er kleine und große zusammen. Die Gemälde werden mit Bekundungen der Bewunderung begrüßt, in Sprachen, die Picasso häufig unverständlich sind [...]“.796

Dass Picasso die Gemälde in der Aufnahme LMA, Inv. Nr. P 0496 (Fotografie 53) auch auswählte, um sie in einer Ausstellung in seiner Villa La Californie seinen Besuchern zu präsentieren, zeigen die anderen Fotografien der Serie.797 Picasso ist in vier Aufnahmen Millers zusammen mit weiteren Personen zu sehen, von denen er umringt wird, während er ihnen seine Werke darbietet.798 Der Künstler ist auch in diesen Fotografien mit einem langen, über der Hose getragenen karierten Hemd bekleidet, so dass ein Zusammenhang, der letztlich auch durch die fortlaufende Nummerierung der Negative799 gestützt wird, offensichtlich ist.

793 Vgl. Kap. 4.1.2.2.1 und 4.1.2.2.5. 794 Penrose 1957, S. 66. 795 Vgl. Kap. 4.2, Porträts von 1950–1960. 796 Penrose 1961, S. 377. 797 SWN LMA, Inv. Nr. P 0486 bis P 0497, Negativformat 24 x 36 mm [35 mm]. 798 SWN LMA, Inv. Nr. P 0492. 799 Vgl. den im Archiv aufbewahrten Kontaktbogen LMA, Inv. Nr. P 0486 bis P 0499 (35mm). 170

Die Gemälde, die in Millers Fotografien gezeigt werden, wurden von Picasso in einem Zeitraum von Ende Oktober 1955 bis Ende April 1956 geschaffen, wobei die Mehrzahl der Werke im April 1956 entstand. Picasso ist also bei der Auswahl für eine Präsentation und die anschließende Ausstellung seiner aktuellsten Werke beobachtet worden. Es liegt daher nahe, die Aufnahmen Lee Millers in das Frühjahr 1956 zu datieren.

4.1.3.3 Henry Moore mit seiner Skulptur Mutter und Kind (Farley Farm, ca. 1953)

Lee Miller fotografierte Henry Moore um 1956/57 nicht nur in künstlerischem Ambiente in seinem Atelier in Much Haddam800, sondern nutzte auch bereits vier Jahre zuvor, während eines Besuchs des Künstlers mit seiner Familie auf Farley Farm um 1953, die Landschaft um ihren Wohnsitz in Chiddingly als Kulisse für Aufnahmen des Bildhauers.

Die Fotografien entstanden unweit der Farmgebäude, die in drei der mindestens zwölf Aufnahmen dieser Serie801 dargestellt sind. Die Mehrzahl der Aufnahmen (zehn Fotos) zeigt Henry Moore allein802, entweder zusammen mit seiner Skulptur Mutter und Kind oder mit der Kamera in der Hand beim Fotografieren eines Objektes, das dem Betrachter des Bildes verborgen bleibt. Lediglich eine der zehn Fotografien liefert einen direkten Hinweis auf den Gegenstand seines Interesses, da sie das Motiv von Moores eigener Fotositzung zusammen mit dem in Rückenansicht gezeigten und im Gras von Farley Farm sitzenden Bildhauers präsentiert – seine Skulptur Mutter und Kind.803

Eine Aufnahme Lee Millers (Fotografie 54)804 erweckt beim Betrachter den Eindruck, als wäre der Künstler mit der Aufstellung seines Werks beschäftigt: Henry Moore hat die Statue mit beiden Armen umschlungen und drückt seinen Körper fest gegen sein Werk, so als wolle er, ungeachtet des Charakters der Unverrückbarkeit und Endgültigkeit der Arbeit, ihre Position auf dem Rasen verändern. Moores Körper und die Skulptur, die eine Höhe von 114 cm hat und zusätzlich auf einem roh behauenen Steinblock aufgestellt wurde, sind in der Fotografie eng zusammengepresst: die Kraftanstrengung des Künstlers äußert sich nicht nur in seiner Haltung, sondern zeichnet sich vor allem in seinem Gesicht ab.

800 Vgl. Kap. 4.1.2.2.8. 801 Es handelt sich um mindestens zwölf SWN im Format von 6 x 6 cm, zusätzlich findet sich eine weitere Aufnahme der Serie in Penrose 1981b, S. 186, Abb. 465. Die Negative werden im Lee Miller Archive aufbewahrt, sind aber leider bis auf eine Aufnahme ( SWN LMA, Inv. Nr. F.F. 0619, Abb. eines Ausschnitts in: Penrose 2002, S. 119) nicht nummeriert. 802 In zwei weiteren Fotografien ist Henry Moore zusammen mit seiner Tochter Mary respektive seiner Frau Irina und Lee Miller vor respektive neben der Skulptur dargestellt. Lee Miller ist so wahrscheinlich nur für elf der mindestens zwölf vorliegenden Aufnahmen verantwortlich, da die Aufnahmesituation eine Betätigung des Selbstauslösers wahrscheinlich nicht zulassen hat. 803 Mutter und Kind, 1936, Grüner Horntonstein, 114 cm, Abb. in: Werner Hofmann (Hrsg.), Henry Moore: Schriften und Skulpturen, Frankfurt am Main 1959, Tafel 13, vgl. auch S. 73. Read 1967, Abb. 79. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 55. 804 Fotografie 54 = SWN LMA, Inv. Nr. F.F. 0619, Abb. eines Ausschnitts in: Penrose 2002, S. 119. 171

Die Höhe der Skulptur auf ihrer Basis entspricht in etwa der Körpergröße Moores, so dass die ‚Gesichter’ des Bildhauers und seiner Figur eng gegeneinander gedrückt sind. Hierdurch wird der Eindruck erweckt, als ob sich die beiden einen Kuss geben würden, wodurch man an das Kussschema der als Le Baiser benannten Skulpturen Brancusis erinnert wird.805 Durch das analoge Größenverhältnis sind Mensch und Figur einander in der Aufnahme völlig gleichgestellt, was durch ihre Positionierung im Bild noch unterstrichen wird: beide Parteien sind in einer Bildebene auf der Mittelsenkrechten dargestellt und somit Teil eines streng orthogonalen Liniensystems, dessen horizontale Achsenführung durch einen Weidenzaun hervorgehoben wird, der die Bildfläche im Verhältnis des Goldenen Schnitts teilt. Trotz der Gleichstellung und der Nähe von Künstler und Kunstwerk entsteht aber keine Einheit zwischen beiden, da die Naturform des Menschen und die Kunstform des Werks in starkem Kontrast zueinander stehen.

Der erste Eindruck, der dem Betrachter die tatkräftige Mitwirkung Moores bei der Wahl eines für die Präsentation seiner Skulptur geeigneten Standorts in der Landschaft suggerierte, wird durch die Bildunterschrift („Henry Moore alters the position of his own statue in the garden“) bestätigt, mit der die Fotografie bei der Veröffentlichung in der britischen Ausgabe von Vogue im Juli 1953 in Millers Artikel Working Guests806 versehen wurde. Durch den für die Publikation gewählten Ausschnitt aus dem Negativ wird die Darstellung des Bildraums bis auf ein Minimum reduziert.

Lee Miller hatte eine spezielle Form der Gastfreundschaft: die vielen Freunde und Besucher auf Farley Farm wurden herzlich willkommen geheißen, aber zu allen möglichen Arbeiten in Haus, Garten und auch im Stall herangezogen. Während sich prominente Besucher mit dem Füttern der Schweine oder dem Vergiften der Schnecken im Garten, der Gemüseernte, dem Nähen von Vorhängen, der Bekämpfung von Holzwürmern, Maler- oder Elektroarbeiten oder auch dem Polstern von Möbeln verlustieren konnten, hielt die Gastgeberin ein Nickerchen auf dem Sofa.

Insgesamt 19 der Fotografien, mit denen Miller die sklavische Beschäftigung ihrer Gäste dokumentierte, verwendete die Fotografin und Autorin zur Illustration ihres Artikels in Vogue.807 Dieses Spektrum von Aufnahmen wird durch ein Foto der schlafenden Gastgeberin sowie einen Ausblick auf das Betätigungsfeld der Gäste ergänzt.808 In dem Artikel gibt Lee Miller ihre Geheimnisse einer guten Gastgeberin preis und beschreibt die Strategien, mit denen sie ihre Gäste bei Arbeit und Laune hält. Auch der eigentliche Verwendungszweck der Aufnahmen wird von Miller offenbart: so handelt es sich nicht um Auftragsarbeiten, die speziell für den Artikel in Vogue aufgenommen wurden, sondern um freie Arbeiten der Fotografin, die in einem Fotoalbum gesammelt wurden. Dieses Album

805 Vgl. hierzu: Les carnets de l’atelier Brancusi: Le Baiser. La série er l’œuvre unique, ouvrage édité à l’occasion de l’exposition «Le Baiser», Galerie de l’Atelier Brancusi, 9.6.–6.9.1999. 806 Miller 1953, Abb. S. 56. Siehe auch: Calvocoressi 2002, S. 15. 807 Miller 1953, S. 54–57, 90, 92. 808 Abb. in: Penrose 2002, S. 79 und Penrose 1985a, S. 187. 172 wurde, sozusagen ‚als Wink mit dem Zaunpfahl’, gleich neben dem Gästebuch auf Farley Farm aufbewahrt.809

In dem Artikel werden acht Künstler – die Bildhauer Reg Butler und Henry Moore, der Zeichner und Karikaturist Saul Steinberg, die Maler Matta, Renato Guttuso, John Craxton, Dorothea Tanning und Max Ernst – bei der Arbeit in Millers Haus und Garten gezeigt810. Die Darstellung eines Künstlers in Verbindung mit seinem Werk, das ihn – wie Henry Moore – in einen allgemeinen Kunstkontext einbindet, stellt allerdings in diesem Artikel eine Ausnahme dar.

4.1.4 Künstler in einer Arbeitssituation

Die Faszination, die für den Nicht-Künstler von der Entstehung eines Kunstwerks ausgeht, resultiert aus mehreren Faktoren. So läuft der Werkprozess in der Regel im Verborgenen ab, das heißt in bestimmten Räumen, die der Genese und Lagerung von Kunstwerken vorbehalten sind. Zu den Ateliers der Künstler haben oft nur wenige, ausgewählte Personen Zutritt. Nur sehr wenige Menschen verfügen also über die Möglichkeit, einen Künstler bei der Arbeit beobachten zu können, so dass der Prozess selbst durch seine Exklusivität – die in engem Zusammenhang zum Grad der Berühmtheit des Künstlers zu sehen ist – zu etwas Besonderem wird.

Die Entstehung eines Kunstwerks läuft bei jedem Künstler und auch bei jedem Kunstwerk – trotz oft einheitlicher Arbeitsabläufe – unterschiedlich ab, wodurch die Werkgenese, in der das künstlerische Material eine Metamorphose durchläuft, mit der Aura des Geheimnisvollen umgeben wird. Henri Cluzot, der 1955 in Nizza einen Film über Pablo Picasso drehte, der bezeichnenderweise den Titel Le Mystère Picasso trägt, verwendete eine Glasscheibe als Maluntergrund, um so den Produktionsprozess des Werks, das Picasso nicht verdeckt, mit der Kamera darstellen zu können.

Der unmittelbare Beobachter wie auch Fotografen und Filmemacher hoffen, durch ihre Präsenz bei der Kunstschöpfung und die Dokumentation des Prozesses das Geheimnis eines Künstlers offenbaren zu können. Über seine Arbeitstechnik sollen Rückschlüsse auf seine künstlerische Kreativität gezogen und Ansätze zur Interpretation des Werks gewonnen werden. Letztendlich legitimieren diese Aufnahmen aber auch die Arbeit des Künstlers, indem sie dem Betrachter der Fotografie die Ernsthaftigkeit, mit der er sich seiner Tätigkeit widmet, vor Augen führen.

Die Interessen von Fotografen, Filmemachern und Künstlern divergieren unter Umständen, wenn es um die Darstellung im Werkprozess geht, da sich viele Künstler von der

809 Miller 1953, S. 55: „The visitors’ book is flanked by a photo album of grim significance: in it are no ‚happy hols’ snaps of leisured groups wearing sun-glasses and sniffing Pimm’s Cup. It could easy be taken for a set of stills from a Soviet workers’ propaganda film. Everyone is busy doing a job: Joy through Work.” 810 Vgl. Kap. 4.2, Fotografien von 1950–1960. 173

Anwesenheit Dritter gestört fühlen oder sich auch in einer Arbeitsphase nicht der Kamera ausliefern wollen. So war David Douglas Duncan sehr glücklich darüber, dass seine Gegenwart Picasso nicht störte, was der Künstler mit den Worten „Lui, il ne me derange pas“ kundgetan haben soll.

Wenn ein Künstler aus diesen oder anderen Gründen nicht zu Aufnahmen im Werkprozess bereit ist, der Fotograf aber diesen Aspekt darstellen möchte, so muss eine Arbeitssituation nachgestellt werden. Auf diese Weise kann zwar nicht der eigentliche Vorgang der Kunstschöpfung und sein Resultat dargestellt werden, wie dies Cluzot in seinem Film oder auch Duncan in seiner Fotoserie811 von Pablo Picasso gelungen ist, es wird aber ein enger Bezug zum Schöpfungsprozess hergestellt.

Im Œuvre Lee Millers finden sich Fotografien, in denen der Künstler mit seinen noch unvollendeten oder (fast) vollendeten Werken posiert und in denen zusätzlich über die charakteristischen Werkzeuge und künstlerischen Materialien – die Insignien seines Berufs – eine Verbindung zum Werkprozess geschaffen werden soll (gestellte Arbeitssituation). Daneben existieren auch Aufnahmen, die den Künstler unmittelbar bei der Arbeit, das heißt beim Malen, Zeichnen oder Modellieren zeigen (Suggestion einer tatsächlichen Arbeitssituation). Diese Situation wurde zwar auch oft speziell für den Fotografen inszeniert, es soll aber eine möglichst realistische Arbeitssituation vorgetäuscht werden: der Künstler soll so gezeigt werden, als würde er seine Werke unter normalen Bedingungen schaffen. Diese Aufnahmen besitzen zwar auf den ersten Blick den Charakter einer Momentaufnahme, tatsächlich handelt es sich aber in vielen Fällen um gestellte Fotografien. Als Kulisse für die Darstellung des Künstlers in einer Arbeitssituation findet sich bei Miller fast ausschließlich das Atelier, nur in Ausnahmefällen werden die Porträtierten auch in einem anderen Umfeld gezeigt.

Über die unmittelbare Verbindung des Porträtierten zur Genese des Werks soll dieser in der Fotografie in direkter Weise als Künstler angesprochen werden. Ob es sich aber überhaupt um einen künstlerisch tätigen Menschen handelt, ob ein Hobbymaler oder -bildhauer oder ein professioneller Künstler dargestellt ist – diese Fragen kann der Betrachter der Aufnahme jedoch wieder nur über einen begleitenden Text und/oder mit einer gewissen Kenntnis über den Porträtierten und das dargestellte Werk entscheiden.

811 Duncan 1996. 174

4.1.4.1 Der Künstler posiert mit Kunstwerk(en) – Gestellte Arbeitssituation 4.1.4.1.1 Lesley Hurry mit Bühnenbildentwurf zu Hamlet? (London?, ca. 1943)

Wie der Bildhauer Konrad Knoll812, der Mitte des 19. Jahrhunderts von Franz Hanfstaengl porträtiert wurde, posiert auch Leslie Hurry in Millers Aufnahme813 in einer eigens für die Kamera inszenierten Arbeitsszene neben seinem Werk. Anders als Knoll vollzieht Hurry aber keine Geste der Vollendung, die sich in den fotografischen Künstlerporträts des 19. Jahrhunderts häufig findet, sondern hält den Pinsel achtlos in seiner herabhängenden Hand.

Lee Miller könnte den britischen Maler und Theaterdesigner Leslie Hurry814 (London, 10.2.1909 – 1978) durch Roland Penrose kennengelernt haben. Penrose war ein enger Freund des Schriftstellers und Herausgebers des Burlington Magazine, Herbert Read, mit dem er 1936 in den Burlington Galleries in London die erste Surrealisten-Ausstellung in Großbritannien organisiert hatte. Dort fand auch 1937 Hurrys erste Ausstellung statt, bei der Read auf den jungen Künstler aufmerksam wurde. 1941 wurden Hurrys Werke im Februar und im November in der Redfern Gallery gezeigt; bei der zweiten Werkschau zeigte der australische Choreograph, Tänzer und Schauspieler Robert Helpman815 großes Interesse für Hurrys Kunst und beauftragte diesen mit der Ausstattung seines Balletts Hamlet, für das Hurry das Bühnenbild und die Kostüme schuf. Das Ballett816 wurde am 19. Mai 1942 vom Sadler’s Wells Ballett mit großem Erfolg aufgeführt und begründete Hurrys Karriere als Theaterdesigner.817

Ob es sich bei dem in Hurrys Porträt auf einer Staffelei präsentierten Gemälde um einen Entwurf für ein Bühnenbild zu Hamlet (1942) handelt, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Jack Lindsay nennt aber als ein typisches Charakteristikum der Theaterarbeiten der frühen 1940er Jahre die Darstellung der Protagonisten mit mehreren Gesichtern, um so innere Konflikte, die Komplexität der Beziehungen oder auch Zeitschwankungen auszudrücken.818 Ein doppeltes Gesicht weist eine der von Hurry gemalten Gestalten in der insgesamt dreifigurigen Gruppe auf, die scheinbar in einer Nachtszene vor einem Schloss

812 Vgl. Kap. 3. 813 Neuer Abzug, LMA, Inv. Nr. 5037-36. 814 Vgl. die biografischen Angaben von Cyril W. Beaumont, in: Lilian Browse (Hrsg.), Leslie Hurry, Settings & Costumes for Sadler’s wells Ballets Hamlet (1942), Le Lac des Cygnes and the Old Vic Hamlet (1944). With an introduction by Cyril W. Beaumont, London 1946, S. 5–7. Frances Spalding (Hrsg.), The Dictionary of British 20th Century Painters and Sculptors, Dictionary of British Art, Volume VI, 1991, S. 262. 815 Martha Bremser (Hrsg.), International Dictionary of Ballet, Volume I, A–K, Detroit, 1993, S. 655ff. Informationen zu Robert Helpman sind im Internet unter folgender Adresse publiziert: >http://encarta.mns.com<, „Helpman, Sir Robert,“ Microsoft® Encarta® Online Encyclopedia 2000, © 1997–2000 Microsoft Corporation. 816 Die Aufführung des Sadler’s Wells Ballet, heute Royal Ballet, fand im New Theatre, London, mit Robert Helpman und Margot Fonteyn in den Hauptrollen statt. 817 Bremser 1993, S. 632. 818 Leslie Hurry 1909–1978, Ausst. Kat., Mercury Gallery, London, 17.1.–17.2.1979, ohne Pag. 175 dargestellt wird. Robert Helpman wollte mit seiner Ballett-Inszenierung des Hamlet nicht die literarische Vorlage von William Shakespeare umsetzen, sondern vielmehr, so Cyril W. Beaumont, die Gedankenwelt des sterbenden Hamlet in traumähnlichen Szenen darstellen.819

Lee Miller schuf von Lesley Hurry noch mindestens eine weitere Aufnahme820, die den Künstler in einer experimentellen Inszenierung darstellt: Miller porträtierte nicht den Künstler direkt, sondern die Spiegelung seines Gesichts in einer Teekanne821. Im Lee Miller Archiv in Chiddingly werden unter der Inventar-Nummer 5037 mindestens 36 Schwarzweißnegative (3 Kontaktbogen) aufbewahrt. Als Entstehungsdatum für diese Aufnahmen wird in der Kartei der 18.5.1943 angegeben. Sollte es sich bei der dargestellten Arbeit um einen Entwurf für ein Ballett handeln, so würden aus zeitlichen Gründen sowohl das im Mai 1942 uraufgeführte Stück Hamlet als auch der im September 1943 aufgeführte Tanz Le Lac des Cygnes in Frage kommen. Hurry wäre also von Miller entweder mit einem relativ aktuellen Entwurf, der bereits für seinen großen Erfolg als Theaterdesigner stand, oder aber mit einer seiner neuesten, noch unvollendeten? Arbeiten für das Ballett dargestellt worden.

Ein Fotograf, der einen Bühnendesigner mit seinen Werken porträtieren will, sieht sich sicherlich wegen der Größe der Bühnenbilder mit Schwierigkeiten konfrontiert, so dass er sich entscheiden muss, ob er die Kulisse oder deren Schöpfer in den Mittelpunkt seiner Aufnahmen stellen will. Hierzu bietet die Darstellung des Künstlers mit einem Entwurf für seine Bühnendekoration eine gelungene Alternative.822

Der Repräsentationsanspruch eines Künstlers in einem Fotoporträt lässt sich – bis in die heutige Zeit – an seiner Mimik, seiner Haltung und seiner Kleidung erkennen. Cyril W. Beaumont beschreibt in seinem Vorwort zu der 1946 publizierten Monografie Leslie Hurry: Settings & Costumes for Sadler’s Wells Ballets den Künstler als einen schüchternen, ausweichenden Menschen, der bei seinem Zusammentreffen mit Helpman von seinen eigenen künstlerischen Problemen völlig in Anspruch genommen war und seine Fähigkeit, für das Theater zu arbeiten, anzweifelte.823

Sollte Hurry schüchtern und voller Selbstzweifel gewesen sein, so verstand er es perfekt, dies in Millers Porträt zu verbergen. Der Künstler, der sich der Kamera präsentiert, ist nicht

819 Browse 1946, S. 7. 820 Neuer Schwarzweißabzug LMA, Inv. Nr. 5037-17. 821 Vgl. Kap. 4.3.3. 822 Nur kurze Zeit vor den Aufnahmen von Leslie Hurry hatte Lee Miller im April 1942 mit Hein Heckroth ebenfalls einen Bühnendesigner mit seinem neuesten Werk porträtiert (SWN LMA, Inv. Nr. 4401-4). Heckroth ist zu sehen, wie er auf einer Leiter vor einem originalen, scheinbar vollendetem Bühnenbild für das Ballett Russian Tales steht und auf einen Bogen Papier blickt, bei dem es sich wahrscheinlich um den Entwurf zu dem ausgeführten Werk handelt. Um das Bühnenbild mit seinen enormen Abmessungen darstellen zu können, musste die Fotografin eine größere Aufnahmedistanz einhalten, wodurch der Porträtierte vor der märchenhaften Szene fast schon winzig erscheint; dieser Nachteil wird nur aufgrund seiner prominenten Position im Bild relativiert. 823 Browse 1946, S. 7–8. 176 unsicher und zurückhaltend, sondern hat eine aufrechte Haltung eingenommen und blickt mit einem unnahbaren, fast schon arroganten Gesichtsausdruck unmittelbar in die Kamera. Diese selbstbewusste Selbstdarstellung wird noch durch die Position Hurrys im Bild unterstrichen: der Porträtierte, der im Kniestück und im Dreiviertelprofil dargestellt ist, teilt die Bildfläche nach dem Verhältnis des Goldenen Schnitts und wird so noch vor seinem mit einer leichten perspektivischen Verkürzung gezeigten Gemälde wahrgenommen. Die Wirkung des Bildes in der Aufnahme wird aber durch diese Verkürzung nicht wesentlich geschmälert, da es allein schon durch seine Größe und seine Wiedergabe an repräsentativer Stelle zu einem wichtigen Element in der Darstellung wird.

Mit Leslie Hurry porträtierte die Fotografin bereits Anfang der 1940er Jahre einen Künstler in Pose mit einer Arbeit im Werkprozess [in gestellter Arbeitshaltung] im Atelier, so dass die Aufnahme mit zu den frühesten Darstellungen dieser Art im Werk Millers gezählt werden kann. Es fällt auf, dass der Maler im Vergleich zu den nur kurze Zeit früher aufgenommenen Porträts von Stanley William Hayter (um 1939/40) und den nur wenig später entstandenen Aufnahmen von Graham Sutherland (1943) bei der Arbeit im Atelier zwar in einer gepflegten und sauberen, aber eher lässigen Kleidung zu sehen ist824. Der nonchalente Eindruck entsteht durch die aufgerollten Ärmel von Hurrys hellem Hemd, das er zudem ohne Krawatte trägt und das am Hals weit aufgeknöpft ist. Selbst Picasso, der sich in späteren Jahren von Duncan sogar in Bademantel und Unterhose porträtieren ließ, präsentierte sich noch im August 1944 in seinem Pariser Atelier in konventioneller, repräsentativer Kleidung825. Als Miller Leslie Hurry in dessen Atelier fotografierte, hatte der Künstler schon Anerkennung in Fachkreisen gefunden und seinen ersten großen Erfolg als Schöpfer phantasievoller Bühnenbilder und Kostüme gefeiert. Hurry versucht in dem Porträt aber nicht – wie andere seiner Kollegen – sich über seine Kleidung als einen arrivierten Künstler darzustellen.

Einen Hinweis auf eine fortschrittliche und moderne Denk- und Lebensweise Hurrys liefert auch die zahllosen Künstlerporträts (z. B. auch bei Max Liebermann)826 dargestellte Zigarette, mit der sich die Porträtierten auch bei der Arbeit zeigen827. Diese Zigarette wird von Hurry in der Aufnahme828 in seiner erhobenen Hand gehalten und ist so unmittelbar zwischen dem Künstler, der sich seinem Gemälde zuwendet, und dem Werk selbst dargestellt. Der Zigarette kommt in der Aufnahme eine größere Bedeutung zu als dem eigentlichen Werkzeug des Malers, dem Pinsel, den Hurry achtlos in seiner herabhängenden Hand hält.

Millers Aufnahme verrät nicht nur etwas über das Selbstverständnis des Künstlers, sondern in gewissem Umfang auch über seine Arbeitsweise: Hurry hat so wahrscheinlich im Stehen

824 Vgl. Kap.4.1.4.2.2 und 4.1.4.1.3. 825 Vgl. Kap. 4.1.2.2.1. 826 Nicola Perscheid und Steffi Brandl porträtierten den Maler 1906 respektive 1926/27 mit einer Zigarette in der Hand, Abbildungen in: Ausst. Kat. Berlin 1988 , S. 13 und 15. 827 Vgl. Picasso, Kap. 4.1.4.2.5, Hayter, Kap. 4.1.4.2.2, und Bérard, Kap. 4.1.4.1.2. 828 Neuer Schwarzweißabzug, LMA, Inv. Nr. 5037-36. 177 gearbeitet, einer Haltung, in der er auch von Miller porträtiert wurde. Hierfür spricht, dass das kleinformatige Gemälde respektive der Entwurf für ein Bühnenbild auf der Staffelei auf einer anderen, nur von der Rückseite sichtbaren Leinwand aufstand und auf diese Weise in Kopf- und Brusthöhe des Malers präsentiert wurde.

Aufgrund der skizzenhaften Ausarbeitung des Gemäldes ist unklar, ob es sich um ein kürzlich vollendetes (Bühnenbildentwurf für das im Mai 1942 aufgeführte Ballett Hamlet) oder ein sich in Arbeit befindendes Werk (Bühnenbildentwurf für das im September 1943 aufgeführte Ballett Le Lac des Cygnes) handelt. Allerdings ist die Leinwand bereits großflächig mit Farbe bedeckt worden und auch die zentrale Figurengruppe sowie das Schloss im Hintergrund weisen einen relativ fortgeschrittenen Zustand auf. Anhand der sehr wenigen Publikationen über Hurry und sein Œuvre war eine Identifizierung der Arbeit nicht möglich, so dass kein Vergleich mir der vollendeten Fassung angestellt werden konnte.

Der Grad der Ausarbeitung eines Kunstwerks ist in einer Fotografie, in der der Künstler bei der Arbeit wiedergegeben werden soll, neben der Haltung des Porträtierten von großer Bedeutung: ein Werk, das noch deutlich die Spuren der Bearbeitung durch den Künstler aufweist und in einem nicht vollendeten Zustand dargestellt ist, unterstützt die intendierte Wirkung und trägt zur Glaubwürdigkeit der dargestellten Arbeitsszene wesentlich bei.

Der Eindruck, dass der Betrachter Zeuge einer Arbeitsszene ist, wird im Porträt Hurrys nicht nur durch dessen Hinwendung auf das auf der Staffelei aufgestellte Gemälde erweckt, sondern durch die Wiedergabe weiterer Utensilien – zum Beispiel einer am rechten Bildrand gezeigten, klassischen Malerpalette – noch gestützt. Auf dieser Palette sind weitere, mit deutlichen Gebrauchsspuren versehene Pinsel, Farbbeutel und Farbtuben sowie ein kleiner Behälter sehr unordentlich abgelegt worden und können so – zusätzlich zu den an der Staffelei befestigten Lappen – auch als Indizien für einen Werkprozess gewertet werden.

In Millers Porträt von Leslie Hurry ist es vor allem die gekünstelte Pose des Porträtierten, die deutlich macht, dass der Künstler nicht spontan bei der Arbeit fotografiert wurde, sondern dass die Arbeitsszene für die Kamera inszeniert wurde. So konzentriert sich Hurry in der Aufnahme nicht auf sein Gemälde, sondern blickt, verbunden mit der traditionellen Kopfwendung, (wie Konrad Knoll) aus dem Bild heraus. Hurry schenkt seine ganze Aufmerksamkeit der Fotografin, so dass der Betrachter nicht den Eindruck gewinnt, dass er bei der Arbeit überrascht wurde829. Zwar ist Hurry mit einem Pinsel in der Hand zu sehen, doch setzt er diesen nicht im Malprozess ein: der Pinsel berührt weder die Leinwand noch ist er in unmittelbarer Nähe des Werks zu sehen, so dass er nur sekundär wahrgenommen wird. Als ein weiteres Indiz, das für eine arrangierte Arbeitsszene spricht, kann Hurrys Kleidung, auf der sich keinerlei Spuren einer eventuellen Maltätigkeit finden, angeführt werden.

Zusätzlich zu den Utensilien, die einen relativ eindeutigen Hinweis auf die künstlerische Neigung des Porträtierten liefern, sind am rechten Bildrand Regale mit Büchern zu sehen:

829 Vgl. Kap. 3. 178

Bücher können im fotografischen Porträt seit dessen Einführung als ein Symbol für die Gelehrsamkeit und Bildung der dargestellten Person verstanden werden.

4.1.4.1.2 Christian Bérard mit Gemälden, u. a. Model with Yellow Feet (Paris, 1944)

Die Fotografie, die Lee Miller von Leslie Hurry 1942/43 aufnahm, gehört mit zu den frühesten Beispielen für die Darstellung eines Künstlers, der im Werkprozess mit einer seiner aktuellsten Arbeiten posiert. Von dieser Zeit an bis ungefähr 1947 findet sich dieses traditionelle Motiv regelmäßig im Œuvre Millers und lässt sich auch noch vereinzelt bis Mitte der 1950er Jahre nachweisen.

Auch der für seine Exzentrik berühmte französische Maler und Theaterdesigner Christian Bérard präsentiert sich in Millers Porträt erstaunlicherweise in klassischer Manier. Die Aufnahme (Fotografie 55)830, die zu einer Reihe von Fotografien831 gehört, entstand während Millers Aufenthalt in Paris, als sie in ihrer Funktion als US-Kriegskorrespondentin mit den amerikanischen Truppen Ende August 1944 in der französischen Metropole Einzug hielt. Ohne Verzögerung suchte sie ihre Freunde auf, die während der deutschen Besatzung von Paris in der Stadt gelebt hatten.

Die Fotografien, die sie bei dieser Gelegenheit aufgenommen hat, zeigen Pablo Picasso in seinem Atelier in der Rue des Grands-Augustins 7 mit seinen aktuellsten Werken832 oder Bérard zusammen mit einem Cheval écorché, der Skulptur eines gehäuteten Pferdes833. Figuren dieser Art stellten als anatomische Studienobjekte für viele Künstler ein unverzichtbares Instrument im Werkprozess dar. Im Fall von Christian Bérard, der weder als Bildhauer noch als Pferdemaler tätig war, konnte die Skulptur aber als ein reines Dekorationselement gesehen werden. Während der Maler in diesen Aufnahmen also mit einer nach akademischen Regeln konzipierten Arbeit eines Künstlers aus einer anderen Epoche dargestellt wurde, wird er von Miller in dem Porträt LMA, Inv. Nr. 5925–494 (Fotografie 55) mit seinen eigenen Werken gezeigt.

In ihrem 1944 in der Oktoberausgabe von Vogue veröffentlichten Artikel Paris, Its Joy ... Its Spirit ... Its Privations findet sich ein kurzer Absatz834 von Miller über ihr Wiedersehen mit

830 Fotografie 55 = Neuer Abzug, LMA, Inv. Nr. 5925-494, Abbildung eines Ausschnitts aus dem Schwarzweißnegativ in: Calvocoressi 2002, S. 104. 831 SWN LMA, Inv. Nr. 5925-486, 5925-487, 5925-488, 5925-492, 5925-493, 5925-494, 5925-495, 5925-496, 5925-497, Negativformat 6 x 6 cm. 832 Vgl. Kap. 4.1.2.2.1. 833 Vgl. Kap. 4.1.2.3.2. 834 Lee Miller, Paris, Its Joy... Its Spirit... Its Privations, in: (britische) Vogue (October 1944), S. 78: „… Bébé Bérard and Boris Kochno are living in their fanciful flat near Place de l’Odeon. Bébé is exactly the same as ever. I was the first ‘soldat’ he had contacted and was whirled off my feet and smothered in beard and paint. He has only one pair of trousers and has to wear and old trench coat as a skirt to work in. They had spent the battle of Paris on their balcony loading guns for six French resistance boys who were shooting up the snipers who were annoying the tank people who were attacking the Odeon which was held by Doriot’s Milice (very much like the house that Jack built). (ff) 179

‚Bébé‘ Bérard. Die Autorin schreibt, dass das Werk des Malers wunderbar sei und dass seine künstlerische Arbeit während des Krieges weder durch eine mentale Blockade noch Schwierigkeiten anderer Art beeinflusst gewesen sei. Bérard unterscheide sich so von einigen britischen Malern, die frustriert darüber seien, dass sie malten, während andere schießen würden.

Bérard ist von Miller in seinem Atelier in der Rue Casimir-Delavigne porträtiert worden.835 Der Künstler hat sich für sein Porträt auf dem Fußboden niedergelassen, wo er in halb liegender, halb sitzender Haltung inmitten seiner Werke posiert. Bei den gezeigten Arbeiten handelt es sich um mindestens fünf, in unmittelbarer Nähe des Künstlers dargestellte Gemälde, von denen vier bereits vollendet scheinen und auf dem Boden stehend präsentiert werden, während von weiteren Leinwänden, die im Atelier lagern, nur die Rückseite zu sehen ist. Bérard ist auch in einer 1942 entstandenen Aufnahme eines unbekannten Fotografen in einer ähnlichen Stellung auf dem Fußboden inmitten seiner Werke zu sehen, so dass diese Pose zu seinem Repertoire gehört haben könnte.836

Das Werk Christian Bérards ist in der Literatur leider nur unzureichend publiziert worden, lediglich eine Monografie seines ehemaligen Lebensgefährten Boris Kochno stellt neben der Biographie des Künstlers auch ausgewählte Arbeiten vor.837 Da die Gemälde in der Aufnahme so angeordnet sind, dass sie sich zum Teil verdecken, sind vor allem drei vollendete Werke gut zu erkennen, von denen aber nur zwei identifiziert werden konnten: es handelt sich um die zur linken und zur rechten Bérards platzierten Bilder Model with Yellow Feet838 und Boys at Fourques839, die beide in einem Zeitraum von 1940 bis 1944 entstanden sind. Der Künstler ist – neben diesen relativ aktuellen Arbeiten – auch mit einem noch unvollendeten, auf einer Staffelei präsentierten Gemälde zu sehen. Der Zustand des Werks erlaubt, in Verbindung mit der riesigen, über und über mit Farben bedeckten Palette, die griffbereit vor dem Künstler liegt und in der vordersten Bildebene gezeigt wird, eine Ansprache als Arbeitsszene. Der Pinsel, das eigentliche Arbeitsgerät des Malers spielt – wie in der Aufnahme von Leslie Hurry – in Bérards Porträt nur eine untergeordnete Rolle und wird von seiner rechten Hand, mit der er sich am Boden abstützt, verdeckt. Die Annahme, dass Bérard im Werkprozess dargestellt wird, wird durch Farbflecken am Boden und weitere,

Bébé’s work is wonderful and he says that he had no ‘mental block’ or difficulty whatever in working all through the war: unlike some painters in England who feel frustrated if they are painting while others shoot. Boris has prepared a work on the history of the Ballett in France up to 1939 – when it became poisoned by the treachery of Lifar and a few others…” 835 Neuer Abzug, LMA, Inv. Nr. 5925-494, Abb. eines Ausschnitts aus dem Schwarzweißnegativ in: Calvocoressi 2002, S. 104. Das in der Aufnahme dargestellte Fenster erlaubt einen Ausblick auf das hölzerne Gitter, das die Terrasse vor Bérards und Kochnos Appartement abschloss und das auf dem in Vogue publizierten Foto LMA, Inv. Nr. 5925-492 gut zu erkennen ist. 836 Kochno 1988, S. 60 oben. 837 Kochno 1988. 838 Gemälde rechts unten: Christian Bérard, Model with Yellow Feet, 1940/44, oil on canvas, 26 x 23“ (65 x 59 cm), Abb. in: Kochno 1988, S. 128, Abb. 86. 839 Gemälde links unten: Christian Bérard, Boys at Fourques, 1943/45, oil on canvas, 20 x 28“ (50 x 70 cm), Abb. in: Kochno 1988, S. 129, Abb. 103. 180 für ein Maleratelier typische Utensilien wie Staffeleien, Mallappen und Farbtuben noch gestützt. Es scheint, als habe der Künstler – wie auch Leslie Hurry – seine Maltätigkeit nur kurz unterbrochen, um der Fotografin Modell zu stehen. Die Maler werden aber in einer modifizierten Haltung gezeigt: Bérard, der seinem Werk den Rücken zuwendet, kann unmöglich in dieser Stellung an der Staffelei gearbeitet haben, während Hurrys Pose seiner Arbeitshaltung angenähert war. Sowohl Bérard als auch Hurry haben ihren Kopf von der Staffelei abgewendet und blicken aus dem Bild heraus, wobei Hurry die Fotografin ansieht, während Bérard gedankenverloren und mit erhobenem Kopf in einen für den Betrachter nicht mehr sichtbaren Bereich schaut, so als bezöge er von dort Inspiration für seine Arbeit840.

Das großformatige Gemälde, das – ausgehend von den bekannten Maßen zweier Bilder – ungefähr 120 x 75 cm gemessen haben könnte, zeigt einen jungen Mann im Brustbild unter Einbeziehung der Hände. Während die Leinwand bereits mit einer grundierenden? Schicht heller Farbe bedeckt ist und auch die Figur schon mit Farbe ausgearbeitet wurde, ist am oberen rechten Bildrand in einem kleinen Bereich noch die rohe Leinwand mit der Vorzeichnung zu erkennen. Es wird deutlich, dass die ursprüngliche Anlage des Bildes vom Künstler überarbeitet wurde. Die Anzahl der Werke, von denen mindestens drei zweifelsfrei während der Kriegsjahre entstanden sind, liefert einen Hinweis auf Bérards künstlerische Produktivität in dieser Zeit, von der Miller bereits in ihrem Artikel berichtete.

Während die Pose Bérards also durchaus der gängigen Darstellungsweise entsprach, steht seine äußere Gestalt mit einem zerzausten Bart und ungekämmt wirkenden Haaren in krassem Gegensatz zum gewohnten Erscheinungsbild eines arrivierten Künstlers in dieser Zeit – und zu diesen zählte Bérard ohne Zweifel. Der Maler wird zwar in einer Kleidung, die er ohne weiteres bei der Arbeit hätte tragen können, gezeigt, doch weisen weder das sehr saloppe und zerknitterte Hemd mit gekrempelten Ärmeln noch seine bodenlange, halbe Arbeitsschürze deutliche Flecken auf. Als Reminiszenz an gesellschaftliche Konventionen kann vielleicht die elegante, dunkle Krawatte Bérards gesehen werden.

Bérard lebte sein Leben in der Regel unabhängig von den Vorgaben der Gesellschaft und war für seine Exaltiertheit und Exzentrik berühmt, so dass sich die Frage stellt, ob Miller den Künstler aufgefordert hat, sich in einer derart traditionellen Manier porträtieren zu lassen oder ob die Idee hierzu vielleicht von ihm selbst stammen könnte: obwohl er in der Kunstwelt und in der Gesellschaft als ein Enfant terrible galt, lieferte Bérard doch mit seinen Kostümentwürfen den Pariser Couturiers die Inspirationen zu den elegantesten und kostbarsten Roben, schuf – wenn auch aus finanzieller Notwendigkeit – zahllose Titelbilder für die elitäre Modezeitschrift Vogue und lebte mit Kochno in einer kostbar und elegant eingerichteten Wohnung.

Das Porträt Bérards wurde im Januar 1945 in dem Artikel Les lumières de la ville von Alexandre Astruc in der französischen Vogue veröffentlicht.841 In diesem Artikel findet sich –

840 Vgl. Kap. 3. 841 Astruc 1945, S. 76–80, Abb. S. 80 unten. 181 neben dem Porträt von Miller – noch eine weitere Aufnahme von Christian Bérard. Die Zuschreibung der auf der betreffenden Doppelseite veröffentlichten neun Aufnahmen wird durch den Vermerk Photos Seeberger, Lido vorgenommen, davon abweichende Angaben – wie im Fall der Porträts des französischen Fotografen André Ostier – sind direkt bei der jeweiligen Fotografie zu finden. Bérard wird in der Aufnahme zusammen mit Janine Charrat und Roland Petit in seinem Atelier in der Rue Casimir Delavigne gezeigt, wo der Künstler seit 1936 lebte und wo 1944 auch das Porträt von Miller entstand. Der Maler, der in einer artifiziell wirkenden Pose neben seiner Staffelei steht, berührt in dieser Fotografie mit seinem Pinsel die Palette und blickt voller Konzentration auf die beiden berühmten Tänzer, die ihm für ihr gemaltes Porträt Modell stehen. Die Publikation der Fotografien in der Januarausgabe der französischen Vogue von 1945 lässt auf eine ähnliche Entstehungszeit wie Millers Porträt von Bérard – dieses entstand Ende August/Anfang September 1944 – schließen. In der Fotografie wird Christian Bérard erneut in einer sehr traditionellen Manier – in einer angedeuteten Arbeitssituation mit seinen Modellen – gezeigt. Da Lee Miller nicht als Urheberin dieser Aufnahme genannt wird, wird deutlich, dass Bérard auch von anderen Fotografen in einer konventionellen Art und Weise dargestellt wurde und der Impuls zu einer solchen Pose auch von ihm selbst ausgegangen sein könnte.

Es existieren aber auch Aufnahmen, in denen Bérard nicht in einer klassischen Malerpose zu sehen ist. Zu diesen gehört eine Fotografie von Georgette Chadourne, die den Künstler in einer 1940 – also vier Jahre vor der Aufnahme von Miller – entstandenen Fotografie842 in den Werkprozess einbindet. Das Porträt wurde im Landhaus von Jean Hugo, dem Urenkel Victor Hugos, wo Bérard und Kochno eigentlich nur ein Wochenende verbringen wollten, aufgenommen. Die beiden ahnten bei ihrer Ankunft im Hérault nicht, dass sie dort wegen des Krieges mit Deutschland insgesamt drei Jahre verbringen sollten. In einem Raum, in dem ehemals eine Seidenraupenzucht untergebracht war, richtete sich Bérard ein Atelier ein, wo er – neben einer Staffelei und umgeben von den typischen Malutensilien – von Chadourne porträtiert wurde. Der Künstler, der mit einem fast bodenlangen, sehr saloppen Morgenmantel bekleidet ist, wird sich der Anwesenheit der Fotografin, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befunden haben muss, bewusst gewesen sein, dennoch gewinnt man den Eindruck, als sei er spontan in einer Arbeitssituation aufgenommen worden. Bérard, der im Mittelpunkt der Fotografie steht und dessen Haltung frei und ungezwungen wirkt, konzentriert sich allein auf seine Tätigkeit und schenkt Chadourne und ihrer Kamera keinerlei Beachtung.

Das Porträt, das Miller von Christian Bérard aufnahm, dominiert in dem Artikel Les Lumières de la Ville von Alexandre Astruc mit seinem Format die Seite, auf der noch drei weitere Fotografien mit kleineren, einheitlichen Maßen zu finden sind. Eine dieser kleinformatigen Aufnahmen843, die Jean Oberlé darstellt, stammt ebenfalls von Lee Miller, während die anderen Fotografien Basile Paschkoff und Seeberger zugeschrieben werden. Während in drei Fotografien deutlich wird, dass die Darstellung der Personen, die in repräsentativer Pose

842 Abbildung in: Kochno 1988, S. 58. 843 SWN LMA, Inv. Nr. 6103-11, vgl. Kap. 4.1.2.2.10. 182 gezeigt werden und sich der Kamera zuwenden, ein zentrales Anliegen der Fotografen gewesen sein muss, tritt in der vierten Fotografie eher die Maltätigkeit in den Vordergrund. In dieser Aufnahme ist eine ältere Dame an einer Staffelei beim Malen im Freien zu sehen. Obwohl die Porträtierte hierdurch unmittelbar als Künstlerin ausgewiesen werden soll, kommt ihr aufgrund der Rückenansicht eine untergeordnete Bedeutung im Bild zu: so scheint nicht die Physiognomie der Dargestellten für den Fotografen von besonderem Interesse gewesen zu sein, sondern allein ihr Handeln. Hierauf liefert auch der Artikel von Astruc einen entscheidenden Hinweis: als einzige der Porträtierten, bei denen es sich durchweg um prominente Franzosen und Französinnen wie zum Beispiel die Maler Christian Bérard, Jean Oberlé und François de Bigorie, die Tänzer Janine Charrat und Roland Petit, die Schauspieler Maria Casarès und André Roussin und die Schriftsteller Paul Valéry und Paul Éluard handelte, wird sie in der Bildunterschrift nicht namentlich ausgewiesen, sondern lediglich als „une dame peintre“, also eine „malende Dame“, bezeichnet.

Alexandre Astruc liefert mit seinem in Vogue erschienen Artikel eine Beschreibung des neuerwachten gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in der französischen Metropole nach dem 2. Weltkrieg. Die ältere Dame, bei der es sich wohl um eine Hobbymalerin gehandelt hat, steht inmitten der Prominenten als eine einfache Bürgerin der Stadt stellvertretend für die Lebensfreude und den Lebenswillen der Einwohner von Paris. Der unbekannten Malerin wurde die Ehre zuteil, in einer der führenden Modezeitschriften Frankreichs im Bild neben drei berühmten und erfolgreichen französischen Malern zu erscheinen.

Alle vier auf dieser Seite publizierten Fotos zeigen die Porträtierten in Verbindung mit einem Kunstwerk: während in zwei Porträts844 die Dargestellten neben einem ausgewählten, vollendeten Werk posieren, das zumindest als ein Hinweis auf ihr künstlerisches Interesse verstanden werden kann, werden in zwei weiteren Aufnahmen845 die Protagonisten über die Darstellung mit einem unvollendeten Gemälde im Atelier oder durch ihre Maltätigkeit in Bezug zum Werkprozess gesetzt und so konkret als Künstler angesprochen.

4.1.4.1.3 Graham Sutherland bei den Filmaufnahmen zu Out of chaos (London, um 1943)

Das Porträt, das Christian Bérard in einer klassischen Pose in einer angedeuteten Arbeitssituation zeigt, stellt im Werk Millers keine Ausnahme dar. Auch Graham Sutherland wird in mindestens fünf Fotografien (Fotografie 56)846, die am 14.10.1943847, also rund zehn Monate zuvor entstanden sind, in dieser Weise wiedergegeben. Diese Aufnahmen gehören zu einer Serie von mindestens 31 Fotografien, die den Künstler als einen der Hauptdarsteller

844 Abb. in: Astruc 1945, S. 80, links oben und rechts oben. 845 Abb. in: Astruc Alexandre, S. 80, oben Mitte und unten. 846 SWN LMA, Inv. Nr. 5311-14, 5311-15 und 5311-25 bis 5311-29, Abb. von LMA, Inv. Nr. 5311-27 in: Lesley Blanch, „Out of chaos“ – Art in wartime, (britische) Vogue (February 1944) (= Fotografie 56). 847 Datierung laut Kartei des Lee Miller Archive. 183 während der Dreharbeiten zu dem 1943 entstandenen Film Out of chaos der britischen Regisseurin Jill Cragie zeigen848.

In Großbritannien wurde zu Beginn des 2. Weltkriegs im September 1939 von Kenneth Clark, Direktor der National Gallery in London, ein Projekt initiiert, das auf einer bereits im 1. Weltkrieg entwickelten Idee basierte: Künstler wie beispielsweise Henry Moore, Feliks Topolski, Paul Nash oder auch Stanley Spencer wurden als offizielle Kriegskünstler (official war artists) beauftragt, alle „Facetten des Krieges“, in den Großbritannien involviert war, in ihren Werken festzuhalten. Ziel dieses Projektes war die finanzielle Unterstützung der in Kriegszeiten in Not geratenen Künstler und der Schutz vor der Einberufung in die Armee.849

Ein War Artist Advisory Committee, das sich aus Vertretern des Militärs, staatlicher Stellen und der Kunstwelt zusammensetzte und unter dem Vorsitz von Kenneth Clark stand, wählte die Künstler für diese Aufgabe aus. Diesen standen drei verschiedene Möglichkeiten einer Unterstützung durch das Komitee zur Verfügung. So konnten sie dem War Artist Advisory Committee erstens Werke, die ohne speziellen Auftrag entstanden waren, in der Hoffnung vorlegen, dass diese aufgekauft würden. Zweitens erhielten die Künstler eine festgelegte Summe für die Übernahme einer bestimmten Aufgabe oder konnten drittens für eine bestimmte Zeit – gewöhnlich für sechs Monate – ein festes Gehalt beziehen, so dass theoretisch ihr gesamtes, kriegsbezogenes Werk Eigentum der Regierung wurde. Die Bedingungen, unter denen die Kriegskünstler arbeiteten, sollen vom Komitee sehr moderat gehandhabt worden sein: so sollen die Künstler selbst entschieden haben, wie viele Bilder sie in einem von ihnen selbst festgelegten Zeitraum für die erhaltene Summe abliefern wollten. Vom Erfolg dieses Konzepts zeugt die große Anzahl der eingereichten Werke: so sollen ungefähr 300 beteiligte Künstler ca. 6000 Arbeiten850 geschaffen haben. Diese Arbeiten wurden während des Krieges in Wanderausstellungen in Großbritannien zur psychologischen Unterstützung der Bevölkerung gezeigt und 1946 auf die Nationalmuseen Großbritanniens, die Museen und öffentlichen Galerien in den Provinzen des Landes und im Commonwealth verteilt.851

Auch Graham Sutherland852 (London, 24.8.1903 – London, 17.2.1980) zählte zu den offiziellen Kriegskünstlern. Wahrscheinlich lernte er Lee Miller durch Roland Penrose kennen, der 1936 die International Surrealist Exhibition in London organisierte, auf der auch Sutherland seine Werke präsentierte. Bei Ausbruch des 2. Weltkriegs im September 1939 war abzusehen, dass Sutherland seine seine 1926 andauernde Lehrtätigkeit an der Chelsea

848 Vgl. 4.1.4.1.4. 849 Berthoud 1982, S. 95. 850 Julian Andrews, Sutherland: The Wartime Drawings, Milan 1979, London 1980, S. 167, zitiert nach: Berthoud 1982, S. 116. 851 Berthoud 1982, S. 99. 852 Berthoud 1982, S. 46–47. 184

School of Art und somit seine regelmäßige Einnahmequelle (um 1928 ca. £ 250 pro Jahr)853 verlieren würde. Durch den Verkauf seiner Graphiken verdiente Sutherland um 1926 ca. £ 700, um 1928 ungefähr £ 900 – £ 1000 pro Jahr854, weitere, unregelmäßige Einkünfte erzielte er aus seiner Tätigkeit als Werbedesigner855. In dieser Situation wandte er sich an seinen langjährigen Freund und Förderer Kenneth Clark. Sutherland hatte bis dahin die Idee verfolgt, dass er im Bereich der Camouflage tätig sein könnte, worunter die militärische Tarnung von strategisch wichtigen Objekten verstanden wurde. Auch Stanley William Hayter und Roland Penrose übten eine (Lehr)Tätigkeit auf diesem ‚kriegswichtigen‘ Sektor aus.856

Sutherland erhielt im August 1940 vom War Artist Advisory Committee den Auftrag, Arbeiten über die Kriegsschäden, die durch Feindeinwirkung in Großbritannien entstanden waren, zu schaffen. Der Künstler hielt sich so im Herbst 1940 vorwiegend in Wales und Gloucestershire auf, wo er die Zerstörungen durch die deutsche Bombardierung festhielt. Am 1. Januar 1941 wurde Sutherland per Vertrag zu einem vollbeschäftigten Kriegskünstler, der all seine in einem Zeitraum von jeweils sechs Monaten entstandenen Originalzeichnungen und Gemälde samt Vorzeichnungen sowie die Vervielfältigungsrechte für eine in drei Raten zahlbare Summe von £ 325 der britischen Krone verlieh (das Jahresgehalt erhöhte sich im Herbst 1943 von £ 650 auf £ 750).

In seiner Funktion als Kriegskünstler schuf Sutherland im Januar 1941 Zeichnungen des im Blitz – also durch die deutschen Bombenangriffe – zerstörten Londons. Die Bevölkerung soll zum Teil mit Verdruss auf den Umstand reagiert haben, dass er ihre durch Bombeneinwirkung geschädigten Häuser zeichnete und somit Nutzen aus der Zerstörung zog, so dass er sich zur Dokumentation der Szene der Fotografie bediente. Fast zur gleichen Zeit entstanden die Zeichnungen Henry Moores, die die in den Schächten des Londoner U-Bahnsystems vor den Bombenangriffen Schutz suchende Bevölkerung zeigen.857

Sutherland selbst erlebte einen relativ ‚geschützten‘ Krieg in Großbritannien, seine einzige Auslandsreise führte ihn im Dezember 1944 nach Paris und ins befreite Frankreich, während sich andere Künstler in Kriegszeiten auf gefährliche Missionen begaben und beispielsweise nach Ägypten oder Fernost reisten. Feliks Topolski, von dem Lee Miller auch ein Porträt aufnahm858, reiste in seiner Funktion als Kriegskünstler „so gut wie überallhin“, der Künstler

853 Berthoud 1982, S. 60. Graham Sutherland soll wöchentlich zwei Tage an der Chelsea School of Art unterrichtet haben. 854 Berthoud 1982, S. 57 und S. 64. Die USA waren bis zur Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 der Hauptabsatzmarkt für die Graphiken Graham Sutherlands. 855 Berthoud 1982, S. 67f. 856 Berthoud 1982, S. 94–95. Vgl. Kap. 4.1.2.2.9. 857 Berthoud 1982, S. 103. Vgl. Kap. 4.1.4.1.4. 858 Vgl. Kap. 4.1.2.3.3. 185 hielt sich sogar in Moskau auf, als die Deutschen nur noch ca. 55 Meilen (= 88,49 km) entfernt gewesen sein sollen.859

Zusammen mit seinen Künstlerkollegen Henry Moore, Stanley Spencer und Paul Nash (1889 – 1946) war Graham Sutherland in seiner Funktion als Official War Artist einer der Hauptdarsteller in dem 1943 in Großbritannien gedrehten Dokumentarfilm Out of chaos, der die besondere Lage der Künstler im Krieg darstellen sollte. Out of chaos war das erste Filmprojekt von Jill Craigie (1914 – 1999), die ihre Karriere als Produzentin und Regisseurin auch nach dem Krieg fortsetzte.860 Out of chaos wurde auf Schwarzweißfilm gedreht und hatte bei seiner Fertigstellung eine Länge von 28 Minuten. Der Film wurde im Dezember 1944 einem kleinen Kreis von Filmkritikern vorgeführt. Diese sollen die Produktion sehr positiv aufgenommen und als einen neuartigen Versuch gewürdigt haben, einem Publikum, das nur wenig Interesse an moderner britischer Kunst zeigte, diese Kunst näher bringen zu wollen. Out of chaos soll kurze Zeit nach dieser Erstaufführung herausgebracht worden sein.861

Lee Miller soll, so Antony Penrose, zusammen mit Dave Scherman an dieser „langwierigen und schwierigen Story“, die schließlich 1944 in der Februarausgabe von Vogue862 unter dem Titel „Out of chaos“- Art in wartime erschien, gearbeitet haben. Er berichtet auch, dass sich Miller und Scherman über die Art und Weise, in der Vogue die Fotografien schließlich verwendete, geärgert hätten. Lee Miller machte ihrer Enttäuschung darüber, dass die Aufnahmen zu spät in den ihrer Meinung nach „uneffektiven“ Artikel863 integriert und auch in

859 Berthoud 1982, S. 116. 860 Berthoud 1982, S. 112f. Der Film wurde für die Firma Two Cities, deren Eigentümer ein italienischer Rechtsanwalt namens Filippo del Giudice war, hergestellt, als Produzenten fungierten Sidney Box und William McQuitty. 861 Berthoud 1982, S. 112–113. 862 Lesley Blanch, “Out of chaos” – Art in wartime, in: (britische) Vogue (Februar 1944). 863 Die Autorin Lesley Blanch leitet ihren „uneffektiven“ Text, in dem sie auf die baldige Herausgabe des Films verweist, mit einer Reihe von Fragen ein und fasst so einige der Probleme, die ihrer Ansicht nach in diesem bemerkenswerten Film zur Diskussion stehen würden, zusammen. Sie schreibt: „Wie reagiert die Kunst oder die kreative Kraft des Künstlers auf die Gefahren und Schwierigkeiten des totalen Krieges? Wie tritt der Künstler in diesem Chaos in Erscheinung? Wird er durch die Hindernisse angeregt; oder dämpfen diese seine Kräfte? Kann er seinen künstlerischen Geist von seinen Pflichten als Bürger oder Soldat freimachen? Kann er erfolgreich von fernen Abstraktionen zu drängenden Aktualitäten wechseln? Wird sein Geist befreit oder eingeschränkt durch das disziplinierende Programm eines offiziellen Kriegskünstlers? Ist das fremde Motiv ein Sprungbrett oder wird er eingeengt, in dem er sich der Disziplin unterordnet?“. Das schwierige Experiment, sich mit einem so vagen Thema wie dem Arbeiten des künstlerischen Geistes zu befassen, könne, so Blanch, wohl am besten mit diesem Medium [dem Film, d.V.] behandelt werden. Die Regisseurin Jill Craigie habe die Idee gehabt und das Drehbuch zu diesem Film geschrieben. Dieser sei als „eine Geste für die zeitgenössische Kunst, ein Tribut für diese wunderbare Renaissance der Malerei und kritische Würdigung der Kunst“, welche seit dem Ausbruch des Krieges so offensichtlich sei, entworfen worden. Blanch zufolge gingen die Ansichten, ob dies ein direktes Resultat des Krieges sei oder trotz des Krieges stattfinde, auseinander. Der Film stelle viele Standpunkte dar, unter anderem von Sir Kenneth Clark, Direktor der National Gallery, und dem Kunstkritiker Eric Newton. (ff) 186 einem zu kleinen Format publiziert worden wären, in einem Brief an die Chefredakteurin Audrey Withers ‚Luft‘. Ihre Beschwerde setzte sie mit folgenden Worten fort: „[...] ist es denn die Arbeit von fünf Tagen wert – ohne dass ich etwas über die Reise, die Unannehmlichkeiten, das Material oder das Risiko sagen will, dass meine Aufträge in London während meiner Abwesenheit von “Gangstern” übernommen werden –, damit meine Bilder schließlich ohne meine Initialien zum Drucker geschickt werden und „Mme X“ [Lesley Blanch] über einen Film berichten kann? Ich bin auf jeden Fall für Gruppenjournalismus, wenn es denn ein solcher ist – aber nicht, wenn ich dafür zahlen muss, ich allein.”864

Der eine Seite umfassende Artikel „Out of chaos“– Art in wartime wurde mit 5 Fotografien, die die Fotografin während der Dreharbeiten des Films aufnahm und die allein unter ihrem Namen veröffentlicht wurden, illustriert: eine Aufnahme kleineren Formats zeigt die Regisseurin bei der Arbeit am Set, während vier nur unwesentlich größere Fotografien eines identischen Formats die Hauptakteure aus Out of chaos in einer (gestellten) Arbeitssituation zeigen. Henry Moore865, Stanley Spencer866 und Paul Nash867 wurden in der Londoner U-Bahn, auf einer Werft oder einem Schrottplatz fotografiert, wo sie Ideen für ihre Arbeiten fanden, während Graham Sutherland, der im Gegensatz zu den anderen Künstlern in dem betreffenden Artikel nicht einmal erwähnt wird, im Ambiente des Ateliers wiedergegeben wird.868

Die Künstler, so berichtet die Autorin weiter, die an der Formulierung ihrer Theorien interessiert seien, haben diesen Film willkommen geheißen und denken, dass er sinnvoll sei. Viele stimmten zu, dass der Eindruck des Krieges sie von abstrakten und surrealistischen Tendenzen hin zu einem persönlicheren Ausdruck abgewendet habe, wie Stanley Spencer sage. Der Film zeige Henry Moore bei Nacht beim Studieren seines Motivs in den U-Bahn Schutzräumen, Stanley Spencer in Schiffswerften, Paul Nash in einem Depot mit Bergungsgut, aus welchem sein Totes Meer oder Dead Sea entstanden sei. Die Autorin schildert, dass einige darauf beständen, dass die Künstler während der gewaltsamsten Abschnitte des Blitz durch den Schock stimuliert worden seien, andere, dass das innere Gewissen auf die Arbeit wirke und dass die, die dem Krieg auszuweichen versuchten, hinsichtlich der Kreativität zugrunde gingen, gelähmt durch ihre eigene Flucht aus der Wirklichkeit. Dies sei ein starker Gegensatz zu der anerkannten Meinung, dass Künstler ein beschütztes Leben führen sollten. Blanch beschließt ihre Ausführungen damit, dass sie auf die Vielschichtigkeit des Films, der eine zum Teil dokumentarische, zum Teil wissenschaftliche, zum Teil idealistische Argumentation sei, hinweist, eine erstaunliche Mischung, ein mutiges Projekt, Maler und Öffentlichkeit in Hinblick auf ein besseres Verständnis näher zusammenzubringen. 864 Penrose 1985a, S. 112: “[…] is it worth spending five working days, to say nothing of travel, discomfort and material, the risk of having gangsters do my jobs in London in my absence – and my pictures sent to engravers without my initials to have Mme X [Lesley Blanch] report on a film? I’m all for group journalism if it is group journalism – but not when I pay for it, me.” 865 Vgl. Kap. 4.1.4.1.4. 866 „Stanley Spencer, war artist, sketching in a shipyard, 1944“ Abb. in: Carolyn Hall, The Forties in Vogue, London 1985, Abb. 10, S. 131. Lee Miller wird nicht als Fotografin angeführt. 867 “Paul Nash, official war artist, at a salvage dump, 1944”, Abb. in: Hall 1985, Abb. 6, S. 131. Lee Miller wird nicht als Fotografin angeführt. 868 SWN LMA, Inv. Nr. 5311-27, Abb. in: Lesley Blanch, „Out of chaos“ – Art in wartime, (britische) Vogue (February 1944). 187

Sutherland war im Juni 1942 im Rahmen seiner Tätigkeit als Kriegskünstler nach Cornwall gereist, wo er seine Eindrücke von der Arbeit in einer Zinnmine in Pendeen festhielt. Die Förderung von Rohstoffen hatte während des Krieges durch den Wegfall von Importen nach Großbritannien eine besondere, kriegswichtige Bedeutung erfahren, so dass es sich bei diesem Sujet durchaus um einen Aspekt des Krieges handelte. Sutherland war während seines Aufenthaltes unter zum Teil gefährlichen Bedingungen morgens mit den Minenarbeitern bis in eine Tiefe von 1200 feet (= ca. 365 m) in die Grube eingefahren und hatte seine Eindrücke in Skizzen festgehalten, die er am Nachmittag in dem Atelier einer befreundeten Künstlerin ausarbeitete. Die Mine soll auf Sutherland einen aufregenden und überwältigenden Eindruck ausgeübt haben und seiner Ansicht nach eine enge Beziehung zu dem Tempo und dem Gefühl seiner Arbeit dargestellt haben, so dass er den Wunsch äußerte, in dieser Umgebung gefilmt zu werden. Diesem Wunsch des Künstlers sollte entsprochen werden, so dass sich das Filmteam und Sutherland in Cornwall trafen. Die Bedingungen in der Mine waren aber für Dreharbeiten nicht zuletzt wegen der Lichtsituation völlig unzulänglich, weshalb die Kalksteinbrüche in Derbyshire als Aufnahmeort gewählt worden seien, was den Künstler natürlich nicht zufrieden stellte.869 Die Fotografie eines namentlich nicht genannten Fotografen zeigt Sutherland während der Filmaufnahmen in dieser Kulisse beim Zeichnen in seinem Skizzenbuch.870

Lee Millers aus mindestens 31 Aufnahmen871 bestehende Fotoserie stellt Sutherland nicht bei diesen Außenaufnahmen dar, sondern gibt den Künstler im Atelier wieder. Die Serie, die während der Dreharbeiten zu Out of chaos entstand, vereint zwei Aspekte: Graham Sutherland wird so zum einen ohne einen offensichtlichen Zusammenhang zu den Filmaufnahmen in einer Ateliersituation in Pose mit Werk oder auch in einer gestellten Arbeitssituation gezeigt, zum anderen bindet Lee Miller den Künstler in die Situation am Set ein und stellt ihn in spontan entstandenen Aufnahmen zusammen mit den Kameraleuten oder der Regisseurin bei Besprechungen in der Atelierkulisse, beim Schminken oder auch in Pausen dar.

In nur sechs872 der mindestens 31 Fotografien werden die Dreharbeiten zu Out of chaos völlig ausgeklammert, vier dieser Aufnahmen stellen Sutherland in einer angedeuteten Arbeitssituation dar. Als Ort der Dreharbeiten diente nicht Sutherlands eigene Werkstatt, sein Atelier wurde vielmehr in Teilen in einem Londoner Filmstudio nachgebaut.873 Zur Abgrenzung des Atelierkomplexes innerhalb des Filmstudios wurde eine hölzerne? Konstruktion aus Trennwänden und Stützen verwendet. Der Atelierraum innerhalb des

869 Berthoud 1982, S. 106, 112, 113. 870 Berthoud 1982, die Abbildungen sind zwischen S. 64 und 65 eingebunden. Die Fotografie von Sutherland wird auf der sechsten Abbildungsseite in der oberen Bildhälfte wiedergegeben. 871 SWN LMA, Inv. Nr. 5311-2 bis 5311-6, 5311-9 bis 5311-22, 5311-25-33, Negativformat 6 x 6 cm. 872 SWN LMA, Inv. Nr. 5311-5, 5311-6, 5311-14, 5311-15, 5311-26, 5311-27. 873 Berthoud 1982, S. 113. Vielleicht besaß Sutherland, der seine Wohnsitze häufig wechselte und auch zeitweise in einem Wohnwagen lebte, zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen kein Atelier oder vielleicht bot dieses nicht die optimalen Bedingungen für die Dreharbeiten. 188

Filmstudios ist nicht vollständig abgeschlossen, sondern bot dem Filmteam durch einen weiten Abstand zwischen den Stellwänden die Möglichkeit, die Szene in Sutherlands Werkstatt von einem Punkt außerhalb der Kulisse filmen zu können. Zwei von Millers Porträts874 geben den Künstler im Bereich vor der Atelierkulisse wieder, so dass die Wände in Rück- respektive Seitenansicht gezeigt und der Aufbau des Ateliers in bestimmten Umfang nachvollzogen werden kann. In den beiden Fotografien kann aufgrund der fließenden Übergänge zwischen der Kulisse und dem umgebenden Raum des Filmstudios sowie der Ausklammerung der Dreharbeiten nicht auf die Aufnahmesituation rückgeschlossen werden, dies ist nur über den Serienzusammenhang und schriftliche Informationen möglich.

Sutherland wird in Millers Aufnahmen, die ihn im Werkprozess zeigen, in die Atelierkulisse eingebunden. In vier der Fotografien (vgl. Fotografie 56)875 wird nicht deutlich, dass der Künstler während der Filmaufnahmen porträtiert wurde. Sutherland steht in diesen Aufnahmen hinter einem Tisch, der in der vordersten Bildebene präsentiert wird und auf dem ein noch unvollendetes Werk flach aufliegt, so dass es nur mit einer enormen perspektivischen Verkürzung dargestellt werden kann, was eine Identifizierung nahezu unmöglich macht. Der Stift in Sutherlands Hand, bei dem es sich auch um ein Stück Zeichenkohle handeln könnte, und die Linien, die bereits auf dem großformatigen Papierbogen gezogen wurden, machen deutlich, dass sich um eine Zeichnung handelt. Der Künstler wird nicht unmittelbar bei dieser Tätigkeit wiedergegeben, sondern legt seine Hand, die den Stift führt, auf das Blatt auf oder stützt sich mit seinen Armen auf dem Bogen ab. Selbst wenn er sein Kinn nicht in allen Aufnahmen mit seiner Hand abstützt und so eine Denkerhaltung einnimmt876, wird deutlich, dass er über seine Arbeit reflektiert und die weitere Ausarbeitung und Vorgehensweise zunächst im Kopf vornimmt. Der Eindruck, dass Sutherland in einer Phase der Inspiration dargestellt ist, wird auch über seinen Blick und die Wendung seines Kopfes vermittelt. In der Art, in der sich seit dem 19. Jahrhundert viele Künstler im Foto darstellen ließen877, zeigt sich auch Graham Sutherland in Millers Porträt: so wendet er seinen Kopf von seinem Werk und dem imaginären Betrachter der Fotografie ab und blickt ohne ein bestimmtes Ziel in einen nicht in die Aufnahme integrierten Bereich. Konventionell wie seine Pose ist auch Sutherlands elegante Kleidung, die der Künstler wohl

874 SWN LMA, Inv. Nr. 5311-5 und 5311-6, Abb. von LMA, Inv. Nr. 5311-6 in: Livingston 1989, S. 130. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 53. Graham Sutherland ist in den Darstellungen in einen weiten Raumausschnitt eingebunden und wird von der Atelierkulisse hinterfangen. Über die in diesem Teil des Raumes an der hinteren Wand präsentierten Arbeiten, die aufgrund der Distanz nicht identifiziert werden können, sowie ein Sutherland unmittelbar zugeordnetes Werk wird der Bildraum als Ganzes in einen künstlerischen Zusammenhang gestellt. Letzteres wird vom Künstler in der Hand gehalten, verdeckt ihn bis in Höhe der Oberschenkel und wird vom unteren Bildrand angeschnitten. Sutherland, der in aufrechter Haltung gezeigt wird und seinen Blick direkt in die Kamera richtet, präsentiert in der Fotografie LMA, Inv. Nr. 5311-6 die Rückseite des gerahmten Werks der Kamera, wo sich auf der dort befestigten, überstehenden Leinwand? die Inschrift „LIME STONE KILNS(?) QUARRY(?)“ findet. Die Art der Rahmung könnte einen Hinweis darauf liefern, dass es sich bei dem Werk um ein Gemälde handelt. 875 SWN LMA, Inv. Nr. 5311-14. 5311-15, 5311-26, 5311-27 (= Fotografie 56), Negativformat 6 x 6 cm. 876 SWN LMA, Inv. Nr. 5311-27. 877 Vgl. Kap. 3. 189 kaum während der Arbeit getragen hat und die aus einem gestreiften Hemd, einer gepunkteten Krawatte und einer dunklen Hose bestand.

All diese Faktoren lassen den Schluss zu, dass Sutherland in einer inszenierten Arbeitssituation, die ihn als einen bildenden Künstler ausweisen soll, porträtiert wurde. Neben der noch unvollendeten Zeichnung sind an den Atelierwänden hinter Sutherland und auf dem Boden noch weitere, bereits ausgearbeitete Werke zu sehen, bei denen es sich scheinbar um seine aktuellsten Arbeiten als Kriegskünstler handelt. Die Vielzahl dieser Zeichnungen lässt auf eine ungebrochene Kreativität des Künstlers auch in Kriegszeiten schließen.

4.1.4.1.4 Henry Moore bei den Filmaufnahmen zu Out of chaos (London, um 1943)

Auch Henry Moore war – wie Graham Sutherland, Stanley Spencer oder Paul Nash – in seiner Funktion als Kriegskünstler einer der Akteure in Jill Craigies Film Out of chaos und wurde 1943 von Lee Miller bei den Filmaufnahmen fotografiert. Die aus mindestens 54 Aufnahmen878 (vgl. z.B. Fotografie 57)879 bestehende Serie zeigt die Dreharbeiten – wie bei Graham Sutherland – aus zwei Blickwinkeln: so wurde die Arbeit am Set zum einen die Aufnahmen integriert und der Künstler unter anderem in Gesprächen mit der Regisseurin inmitten technischen Equipments880 dargestellt, zum anderen wurde diese Situation am Drehort völlig ausgeschlossen, so dass Henry Moore aus der Perspektive des Filmteams zu sehen ist.881

Die Arbeiten an dem Film, der – anders als bei Sutjerland – nicht nur Moores künstlerische Rolle, sondern auch sein alltägliches Leben im Krieg thematisiert, fanden an mindestens vier verschiedenen Drehorten statt. Moore wurde so auf seiner Farm Hoglands in der Nähe von Much Haddam im Freien beim Wasserholen882 und dem Reparieren? des Hausdaches883 gefilmt respektive fotografiert, oder posiert zusammen mit seiner Frau Irina in seiner gewohnten Lebens- und Arbeitswelt.884

878 SWN LMA, Inv. Nr. 5282-1 bis 5282-12 und LMA, Inv. Nr. 5302-5, 5302-7, 5302-38 bis 5302-45, 5302-46 bis 5302-57, 5302-58 bis 5302-69, 5302-74, 5302-75, 5302-78 bis 5302-81, Negativformat 6 x 6 cm. Abb. eines Ausschnitts aus SWN LMA, 5282-19 in: Penrose 2002, S. 52 unten rechts. Abb. von LMA, Inv. Nr. 5282-20 in: Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 80. Penrose 1985a, S. 111. Livingston 1989, S. 64. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 55. 879 Abb. von SWN LMA, Inv. Nr. 5302-19 (= Fotografie 57) in: Calvocoressi 2002, S. 63. 880 Mindestens 26 Schwarzweißnegative LMA, Inv. Nr. 5302-62 bis 5302-39 bis 5302-41, 5302-54, 5302-58 bis 5302-65. 881 Mindestens 37 Schwarzweißnegative LMA, Inv. Nr. 5282-6 bis 5282-8, 5282-10 bis 5282-12, 5282- 14 bis 5282-20, 5282-22 bis 5282-24, 5302-7, 5302-42 bis 5302-45, 5302-46 bis 5302-53, 5302-55 bis 5302-57, 5302-74 bis 5302-75, 5302-78 bis 5302-81. 882 SWN LMA, Inv. Nr. 5302-74, 5302-75 und 5302-81. 883 SWN LMA, Inv. Nr. 5302-66 bis 5302-69. 884 SWN LMA, Inv. Nr. 5302-50 bis 5302-57 und 5302-42 bis 5302-45 und 5302-50. 190

Wie Sutherland wird auch Moore in seinem Atelier in einer gestellten Arbeitssituation wiedergegeben.885 Nicht nur die Pose des Künstlers erinnert in diesen Aufnahmen stark an die Haltung Sutherlands, sondern auch die Art, in der der Bildhauer über die Arbeiten, die sich auf einer Art Zeichentisch vor ihm befinden und bei denen es sich um Entwürfe für seine Skulpturen oder seine sogenannten Shelter drawings handeln könnte, reflektiert. Auch die repräsentative Erscheinung Moores, der einen Anzug und eine Krawatte trug, entspricht weitgehend dem eleganten Äußeren Sutherlands. Beide Künstler sind in den Aufnahmen im Ambiente des Ateliers zudem von weiteren Werken, mit denen sie in anderen Fotografien886 in Pose zu sehen sind, umgeben. Doch während Sutherland in einer nachgebauten ‚Attrappe‘ seines Ateliers gefilmt wurde, fanden die Dreharbeiten und somit auch die Fotositzung im Fall Moores am Originalschauplatz – in der Werkstatt des Künstlers in Much Haddam – statt.

Keine dieser Aufnahmen, die Moore in seinem Atelier zeigen, wurde aber im Februar 1944 zur Veröffentlichung in der Modezeitschrift Vogue unter dem Titel „Out of chaos“ – Art in wartime ausgewählt. Anders als Sutherland, der in seiner Funktion als Kriegskünstler in der illustrierenden Aufnahme im Atelier zu sehen ist, wird Moore – wie Nash und Spencer – in einer Außenkulisse wiedergegeben. Während diese beiden in einer gestellten Arbeitssituation im Freien – auf einem Schrottplatz und einer Werft – gefilmt wurden, ist Moore in der Londoner U-Bahn zu sehen (Fotografie 57).887

Die Stationen der Londoner Metro dienten während der deutschen Luftangriffe auf Großbritannien im 2. Weltkrieg vielen Einwohnern der Stadt als nächtliche Zufluchtsorte. Die Schutzsuchenden bevorzugten in der gefahrvollen Zeit des sogenannten ‚Blitz‘, der am 7. September 1940 begann und mit dem Hitler auch während des Jahres 1941 die britische Zivilbevölkerung demoralisieren wollte, die Bahnhöfe, da sie tiefer unter der Erde lagen als die regulären Luftschutzräume und so mehr Sicherheit vor den fallenden Bomben boten. Abend für Abend kauften sich Tausende von Menschen Tickets für eine Fahrt mit der Untergrundbahn, um dann auf den Stationen so gut wie möglich ihre Lager für die Nacht zu errichten. Diese Form der Zuflucht war von Seiten der Behörden nicht vorgesehen und wurde daher zunächst auch nicht von staatlichen Stellen organisiert, so dass sich Moore bei einer unvorhergesehenen, nächtlichen Fahrt mit der Metro ein chaotischer und beeindruckender Anblick bot. Der Künstler, der zur damaligen Zeit mit seiner Familie im Londoner Stadtteil Hampstead lebte, wollte nach einem Restaurantbesuch mit der U-Bahn nach Hause zurückkehren. Ein besonders heftiger deutscher Luftangriff zwang ihn aber, sich einige Zeit auf dem Bahnhof aufzuhalten, was er eigener Aussage zufolge sonst nicht getan hätte. So hatte er die Zeit, den Anblick der zahllosen, dicht aneinander gedrängten Menschenleiber, die sich scheinbar endlos zu beiden Seiten der Tunnelröhren erstreckten,

885 SWN LMA, Inv. Nr. 5302-7, 5302-46 bis 5302-49, 5302-51 bis 5302-53. 886 SWN LMA, Inv. Nr. 5302-78 bis 5302-80. 887 Literatur zu den Shelter drawings von Henry Moore: Alan G. Wilkinson, The Drawings of Henry Moore, New York [u. a.] 1984, S. 299–311. Die Shelterzeichnungen des Henry Moore, Ausst. Kat., Staatsgalerie Stuttgart, Mai bis Juni 1967. Abb. 57 = SWN LMA, Inv. Nr. 5302-19, Abb. in: Calvocoressi, Begegnungen, Berlin 2002, S. 63. 191 auf sich wirken zu lassen. Seine Eindrücke verarbeitete er am nächsten Morgen umgehend in einer Zeichnung, der weitere Arbeiten in besonderen Skizzenbüchern folgten. Moore war in den Jahren 1940 und 1941 hauptsächlich als Zeichner und weniger als Bildhauer tätig, da er wegen des Krieges gezwungen war, seine Wohnsitze häufig zu wechseln, nachdem im Oktober 1940 sein Studio im Londoner Stadtteil Hampstead von einer Bombe zerstört worden war.

Kenneth Clark, der in seiner Funktion als Vorsitzender des Komitees für Kriegskünstler auch Graham Sutherland zu einer entsprechenden Arbeit verholfen hatte888, wollte auch Henry Moore als Kriegskünstler verpflichten. Moore hatte es aber zunächst abgelehnt, als Official War Artist tätig zu werden, da der Krieg seiner Meinung nach sein Leben nicht besonders verändert und auch keine besonderen emotionalen Eindrücke bei ihm hinterlassen habe. Dies änderte sich schlagartig in der Nacht, in der Moore in die Schutzsuchenden in den Shelters gesehen hatte. Die Haltungen der Schlafenden und der Schauplatz entsprachen seinen Vorstellungen vollständig und faszinierten ihn sofort, da er in ihnen seine beiden bevorzugten Motive wiederfand: „I saw hundreds of Henry Moore reclining figures stretched along the platforms“889 and „even the train tunnels seemed to be like the holes in my sculptures“890, so Moore.

Diesem ersten Aufenthalt in der Londoner Metro folgten in der nächsten Zeit noch viele weitere, wobei der Künstler auf unterschiedlichen Bahnhöfen, die er in seinen Zeichnungen aber meist nicht weiter differenzierte, ‚arbeitete‘. Allein die Londoner U-Bahn Station Holborne diente am 24.9.1943891 aber als Schauplatz für die Filmaufnahmen Jill Craigies und die mindestens aus 24 Aufnahmen bestehende Fotoserie Lee Millers. Moore war nur während der Jahre 1940 und 1941 in den Shelters tätig und wandte sich, nachdem das Leben im Untergrund organisiert worden war und ihn aus diesem Grund nicht mehr interessierte, kurzfristig einem anderen Thema zu. Die Szenen in der U-Bahn wurden also speziell für den Film nachgestellt. Ob es sich bei den Menschen, die Moore in einigen Fotografien892 der Serie umgeben, wirklich noch um Schutzsuchende handelt oder ob sie sich nur für die Dreharbeiten zum Schlafen auf dem Bahnsteig niedergelegt hatten, ist unklar. Es ist aber bekannt, dass der Künstler während seiner nächtlichen Streifzüge durch die Londoner U-Bahn viel Rücksicht auf die Menschen nahm und sie so auch nicht nach der Natur zeichnete. Vor Ort sammelte er nur seine Eindrücke, die er sich einprägte oder in entlegenen Ecken auf der Rückseite von Umschlägen heimlich niederschrieb oder skizzierte und die er erst in seinem Atelier in Zeichnungen umsetzte.

888 Vgl. Kap. 4.1.4.1.3. 889 Henry Moore on Sculpture: A collection of the sculptor’s writings and spoken words edited with an introduction by Philip James, London 1966, S. 212 und 216, zitiert nach Wilkinson 1984, S. 300. 890 Henry Moore: Photographed and edited by John Hedgecoe, words by Henry Moore, London 1968, S. 134, zitiert nach Wilkinson 1984, S. 300. 891 Angabe in der Kartei des Lee Miller Archive. 892 SWN LMA, Inv. Nr. 5282-13, 5282-17 bis 5282-20 (Abb. dieser Aufnahme in: Penrose 1985a, S. 111), 5282-22 und 5282-23. 192

Paul Nash und Stanley Spencer halten in den in Vogue veröffentlichten Porträts große Blöcke in den Händen und sind augenscheinlich bei der Arbeit. Moore hingegen hält in der publizierten Aufnahme (Fotografie 57) keine berufstypischen Utensilien, sondern nur ein kleines Stück Papier in den Händen, bei dem es sich um seinen Fahrschein für die U-Bahn handeln könnte. Der Künstler steht in diesem Foto mit dem Rücken an einer Wand und beobachtet mit einem nachdenklichen Blick die Menschen, die auf dem Bahnsteig und der Treppe liegen und sitzen. Moore zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass er diese durch seine stehende Haltung überragt, sondern auch durch seine äußere Erscheinung. In der funktionalen und schmucklosen Betonarchitektur der Londoner U-Bahn-Station ist er in einem sehr eleganten Anzug und mit einer Krawatte zu sehen und hebt sich so von den anderen im Bild dargestellten Menschen, die mit Mänteln oder Kleiderschürzen, Hüten oder Kopftüchern bekleidet waren, deutlich ab. Er erinnert so an die Künstler, die um ihrer Reputation willen eine solch repräsentative und konventionelle Kleidung wählten. Es ist klar, dass Moore diese Kleidung – mit Ausnahme der Nacht, als er aus dem Restaurant kam – nicht während seiner Ideensuche in der Metro getragen haben wird, da er sich sonst zu stark von der Masse der Menschen abgehoben hätte, was er aber vermeiden wollte. Wie viele andere Künstler ist auch Moore mit einer Zigarette in der Hand zu sehen und stellt sich so als ein moderner und fortschrittlicher Mensch dar.

Während Moore auch bei seiner Arbeit im heimischen Atelier von Jill Craigie und Lee Miller893 aufgenommen wurde und so als bildender Künstler angesprochen wurde, verraten die Aufnahmen in den Shelters nichts über eine künstlerische Orientierung des Dargestellten.

4.1.4.1.5 Dorothea Tanning mit Gemälde Maternity (Sedona, Arizona, 1946)

Mit Dorothea Tanning porträtierte Lee Miller nicht nur eine surrealistische Malerin, sondern auch eine selbstbewusste, moderne und emanzipierte Frau. Für die Aufnahmen, die Tanning in ihrem Atelier in Sedona zeigen, nahm die Künstlerin aber – wie Bérard, Hurry und Penrose – eine konventionelle Pose ein. Die beiden Aufnahmen (Fotografien 58 und 59)894 sind nur ein kleiner Teil einer Fotoserie, die während Millers Reise in die USA im Sommer 1946 entstand und Dorothea Tanning und Max Ernst, die im gleichen Jahr heirateten, in ihrem Domizil in der Wüste Arizonas zeigt895.

Die beiden Künstler hatten sich 1942 in New York kennen gelernt, wo Ernst seit seiner Emigration aus dem besetzten Frankreich lebte und Tanning sich in den dreißiger Jahren niedergelassen hatte. Tanning896 (geb. Galesburg, Illinois, 25. August 1912) kam 1936 in der

893 SWN LMA, Inv. Nr. 5302-7, 5302-46 bis 5302-49, 5302-51 bis 5302-53. 894 SWA, ohne Inv. Nr., Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 176, Kat. Nr. 120 (= Fotografie 58). SWA, ohne Inv. Nr., Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 177 oben (= Fotografie 59). Vgl. auch die neuen Abzüge, LMA, Inv. Nr. NC 0168-16 (Abb. eines Ausschnitts in: Penrose 2001, S. 112; ohne Abbildung) und LMA, Inv. Nr. 12766Q-81 (Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 178, Kat. Nr. 126 = Fotografie 60). 895 Vgl. Kap. 4.3.4 und 4.3.5. 896 Zur Biografie von Dorothea Tanning siehe: Tanning 1990. Ausst. Kat. Paris 1974, S. 6–12. 193 im New Yorker Museum of Modern Art präsentierten Ausstellung Fantastic Art, Dada and Surrealism erstmals mit der surrealistischen Kunst in Berührung. Im Juli 1939 reiste Tanning mit Empfehlungsschreiben für Picasso, Van Dongen und Max Ernst nach Paris, wo das kulturelle und gesellschaftliche Leben aber bereits von dem drohenden Krieg stark beeinträchtigt war. Der Ausbruch des 2. Weltkrieges zwang Tanning, die keine Kontakte zu ihren bevorzugten Künstlern hatte knüpfen können, in die USA zurückzukehren.

1942 gehörte die Malerin neben Leonora Carrington, Léonor Fini, Frida Kahlo (1907 – 1954), Valentine Hugo (1887 – 1968), Jacqueline Lamba (1910 – 1993), Meret Oppenheim (*1913), Kay Sage und Louise Nevelson (1899 – 1988) zu den 31 Women, die Peggy Guggenheim, Ernsts dritte Frau, für eine Ausstellung gleichen Titels ausgewählt hatte. Während der Vorbereitungen für diese Ausstellung lernte sie Max Ernst kennen. 1944 hatte Tanning ihre erste Soloausstellung in New York und nahm 1947 an der Internationalen Surrealistischen Ausstellung in Paris teil.

Die Scheidung von Max Ernst von seiner dritten Frau Peggy Guggenheim vollzog sich nicht ohne Schwierigkeiten, so dass Ernst und Tanning schließlich gezwungen waren, New York zu verlassen.897 In Sedona fanden die beiden Künstler eine neue Heimat; die von Max Ernst beantragte Einbürgerung in den USA wurde ihm allerdings lange Jahre vorenthalten, so dass er 1952 mit Tanning nach Frankreich zurückkehrte und zunächst in Paris, dann in Huismes, im l’Indre-et-Loire und schließlich in Seillans im Var lebte.

Tanning war nicht nur als Malerin, sondern auch als Schriftstellerin tätig, wovon ihre Bücher The Abyss (1947, erstmals im Selbstverlag 1977 publiziert) und ihre Autobiographie Birthday898 (1986) zeugen. Die Künstlerin lebt seit 1980 in New York.

897 Zur Umsiedlung der beiden Künstler von New York nach Sedona sollen vor allem eine schwere Krankheit Dorothea Taninngs und das gesellschaftliche Klima Anlass gegeben haben. Ernst hatte Guggenheim nach einer kurzen Ehe wegen Tanning verlassen und wurde von ihr in ihren Aufzeichnungen entsprechend dargestellt, was seine gesellschaftliche Isolation und finanzielle Not verstärkte. Vgl. Ernst 1991, S. 417–418: "Er war sehr besorgt über Dorotheas Krankheit und deprimiert wegen der wachsenden Feindseligkeit und der demonstrativen Gleichgültigkeit, die ihm in New York entgegenschlugen. Quelle dieser Klimaveränderung war zweifellos Peggys Manuskript, dessen Inhalt inzwischen jedem bekannt war, obwohl der Erscheinungstermin noch in weiter Ferne lag.... Dorothea und Max hatten dafür gesorgt, daß ich als Untermieter ihre Wohnung bekam, als sie im Frühjahr 1946 in Arizonas Oak Creek Canyon umzogen. Aber auch dort wurden sie von Sensationsblättern und Nachrichtenmagazinen mit Berichten verfolgt, die aus Peggys nun erschienenen Buch schöpften. Die New Yorker Kunstwelt, Museen, Galerien und alle behandelten das Paar als 'Unpersonen'. Ihre Antwort auf diese Demütigungen war ihre Heirat, eine Doppelhochzeit zusammen mit Man Ray und Juliette 1947 in Kalifornien. Sie lebten so karg von der Hand in den Mund, daß Max zum ersten Mal in seinem Leben von mir [seinem Sohn Jimmy Ernst, d. V.] ein bißchen Hilfe in Form einer gelegentlichen Geldüberweisung von meinem eigenen bescheidenen Gehalt annahm, mit dem Versprechen allerdings, daß ich es in meinen Briefen nicht erwähnte, damit Dorothea nichts davon erfuhr." 898 Dorothea Tanning, Birthday, Santa Monica 1986. 194

Lee Millers Aufnahme (Fotografie 58)899 zeigt Dorothea Tanning zusammen mit Max Ernst im Atelier vor einer Staffelei, auf der ein noch unvollendetes, großformatiges Gemälde zu sehen ist. Tanning sitzt mit einem Pinsel in der Hand vor der Leinwand, die sie äußerst konzentriert anblickt und auf der bereits eine in naturalistischer Weise gemalte Frau mit einem Kind auf dem Arm zu sehen ist. Obwohl das Werk mit einer perspektivischen Verkürzung wiedergegeben wird, kann es anhand dieser Figurengruppe, die zu Tannings Gemälde Maternity900 von 1946 gehört, leicht identifiziert werden. Der noch unvollendete Zustand des Gemäldes sowie die Orientierung Tannings auf das Werk erwecken den Eindruck, dass es sich bei der Porträtierten um eine Künstlerin, die in einer Phase des Werkprozesses fotografiert wurde, handelt.

Max Ernst steht zwischen Tanning, die im Mittelpunkt des Bildes zu sehen ist, und dem am linken Bildrand dargestellten Gemälde. Obwohl er in der mittleren Bildebene dargestellt ist und von der Leinwand zum großen Teil verdeckt wird, zieht dennoch den Blick des Betrachters durch seine Position im Bild (Goldener Schnitt!) unmittelbar auf sich. Mit einem sehr intensiven, fast schon ‚bewundernden‘ Ausdruck, den er in einer weiteren, nur geringfügig modifizierten Aufnahme901 Dorothea Tanning zukommen lässt, betrachtet er das Gemälde.

Während Tanning über das typische Arbeitsgerät in Verbindung mit ihrem noch unvollendeten Gemälde Maternity als Malerin bei der Arbeit angesprochen werden soll, gibt es keine bildimmanenten Elemente, die auch Ernst direkt als Künstler ausweisen. Dies ist ungewöhnlich, galt doch Max Ernst als der zumindest in künstlerischer Hinsicht dominierende und berühmtere der beiden Künstler. Lee Miller scheint dies – aufgrund eigener Erfahrungen? – differenzierter gesehen zu haben. Sie zeigt Tanning mit hocherhobenem Kopf und in einer sehr geraden, Selbstbewusstsein suggerierenden Haltung, zusätzliche Bedeutung erhält die Malerin durch die Darstellung in der vorderen Bildebene und auf der Mittelsenkrechten. Tanning wird in Millers Fotografie in der Art eines arrivierten Künstlers gezeigt, was als ein Hinweis auf ihre künstlerische Bedeutung und Eigenständigkeit verstanden werden könnte. Gerade diese wurde ihr als Frau des Malers Max Ernst von der Gesellschaft aber immer wieder abgesprochen, wie die Künstlerin in ihrer Autobiographie schreibt.902

Die Gegenwart von Ernst in der Werkstatt seiner Frau (Tanning und Ernst arbeiteten während ihrer mehr als dreißigjährigen Beziehung immer in getrennten Ateliers), die sehr unnatürlich wirkende Haltung der Malerin, ihre saubere Kleidung sowie die sorgfältige Positionierung der Protagonisten sprechen gegen eine spontane Darstellung in einer

899 Fotografie 58 = SWA, ohne Inv. Nr., Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 176, Kat. Nr. 120. 900 Maternité, 1946, Öl auf Leinwand, 143 x 110 cm, Abb. in: Ausst. Kat. Paris 1974, S. 23, Kat. Nr. 8. Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 176. Chadwick 1993, Abb. 118. 901 SWA LMA, Inv. Nr. NC 0168-16, Abb. in: Surrealism: desire unbound, Ausst. Kat., London, Tate Modern, 20.9.2001–1.1.2002, S. 165, Fig. 157. 902 Tanning 1990, S. 161–163, S.165–169. 195

Arbeitssituation. Während der Pinsel in den Darstellungen von Leslie Hurry und Christian Bérard an einer untergeordneten Stelle zu sehen war, ist er in Millers Porträt von Dorothea Tanning im Schnittpunkt von drei Linien903 zu sehen und wird so – wie bei Penrose – besonders betont. Eine Palette, die in den Porträts von Hurry, Penrose und Bérard eine zentrale Rolle spielte und bei der es sich sozusagen um das klassische Instrument eines Malers handelt, findet sich in der Aufnahme nicht.

Die Aufnahme lässt Rückschlüsse auf die Arbeitsweise der Künstlerin zu. Das Gemälde Maternity wird eindeutig in einer Phase des Werkprozesses gezeigt: so ist die zentrale Figurengruppe – die Frau mit Kind – in der Vorzeichnung schon sehr sorgfältig ausgearbeitet worden, ohne dass aber die anderen Elemente der Komposition bereits angelegt worden wären. In der vollendeten Version sind die Figuren in einer kargen Landschaft mit düsterem, wolkenverhangenem Himmel zu sehen. Die Frau mit Kind ist auf einem Teppich dargestellt, zu ihren Füßen liegt ein kleiner Hund mit einem ‚kindlichen‘ Gesicht. Neben einer Tür am rechten Bildrand sieht man im Hintergrund des Gemäldes eine weitere geöffnete Tür, die einen Ausblick auf ein abstraktes Objekt bietet. All diese Elemente wurden in einer naturalistischen Abbildungsweise sehr detailgetreu gemalt, eine surreale Wirkung wird vor allem durch das Zusammenspiel der Dinge erzielt.

Miller nahm in Tannings Atelier in Sedona noch eine weitere Aufnahme (Fotografie 59)904 auf: in dieser Fotografie wird die Künstlerin in einer ähnlichen Pose wie in Fotografie 58 dargestellt. Lediglich Max Ernst hat seinen Platz verlassen und steht nun Rücken an Rücken mit Tanning, wodurch der Eindruck eines gleichberechtigten Paares erweckt wird. Fast scheint es, als wolle Miller mit ihrer Aufnahme klarstellen, dass die Beziehung der beiden Künstler nicht hierarchischen Strukturen unterliegt, sondern dass Ernst und Tanning in einer harmonischen Partnerschaft leben und sich gegenseitig unterstützen.

Vielleicht wurde auch wegen der unkonventionellen Lebensweise der beiden surrealistischen Künstler, die in Sedona sozusagen als Aussteiger in einem selbstgebauten Holzhaus weitab von den gesellschaftlichen Regeln sehr naturverbunden und in engem Kontakt zu den dort ansässigen Indianerstämmen lebten, für ihr Porträt ein im Bereich der Künstlerdarstellung seit langem bewährtes Muster gewählt, um sie auf diese Weise gesellschaftlich zu rehabilitieren. Tannings folkloristische Kleidung – ein weißes Kleid mit Volants und Spitze – verrät aber noch etwas von ihrem von den Surrealisten geteilten Interesse an der Kultur und Lebensweise der Indianer und steht so in einem gewissen Kontrast zu der klassischen Darstellungsweise. Die Kleidung der beiden Künstler ist dieselbe, die sie auch in Millers sehr bekannter Fotografie eines gigantischen Max Ernst und einer zwergenhaften Dorothea Tanning tragen – eine Fotografie, die immer wieder unter einem bestimmten Gesichtspunkt interpretiert wurde und in der die Dominanz Max Ernsts nur auf den ersten Blick klar zutage zu treten scheint.

903 Die Diagonalen und Vertikalen laufen durch die rechte Kante des Gemäldes, den rechten Arm der Künstlerin und Ernsts Körper. 904 Fotografie 59 = SWA, ohne Inv. Nr., Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 177 oben. 196

Auch in einer vierten, im Sommer 1946 in Sedona entstandenen Aufnahme (Fotografie 60)905, wird die Künstlerin mit ihrem Gemälde Maternity – aber ohne Max Ernst – gezeigt. Für die Fotografie wurde das Werk von der Staffelei genommen, auf den Boden gestellt und von der knienden Künstlerin mit einer Hand festgehalten. Bis auf den Lappen, der aus Tannings Hosentasche heraushängt, und die Staffelei am linken Bildrand lässt in dieser Aufnahme allein der unvollendete Zustand des Bildes an eine Phase im Werkprozess denken. Auch in diesem Fall handelt es sich um eine traditionelle Darstellungsweise. Tanning ist wie in der Aufnahme LMA, Inv. Nr. NC 0168–19 im Profil zu sehen, ihre Aufmerksamkeit gilt aber nicht ihrem Werk, sondern ihr Blick führt ohne ein bestimmtes Ziel aus dem Bild heraus. Die Malerin stellt sich so – wie schon viele Künstler vor ihr – als einen empfindsamen und schöpferischen Menschen dar.

4.1.4.1.6 Dorothea Tanning mit Gemälde Le mal oublié (Huismes, um 1955/56)

Der in eine unbekannte Ferne schweifende Blick, der das geniale Potential des arbeitenden Künstlers verdeutlichen soll906, findet sich auch in einer Serie von Fotografien, die Dorothea Tanning um 1956 – also rund neun Jahre später – im französischen Huismes zeigen. Auch in diesen Aufnahmen nimmt die Malerin eine klassische Pose ein und wird im Atelier vor ihrer Staffelei gezeigt, auf der sich ein noch unvollendetes Werk befindet.

Tanning präsentiert sich wieder als eine selbstbewusste Frau und Künstlerin, die das Spiel mit der Kamera offensichtlich genießt. Die Künstlerin posiert in einer kraftvollen und aufrechten Haltung vor ihrem Gemälde: sie hat die Beine weit auseinander gestellt, wie dies auch in Aufnahmen von Pablo Picasso immer wieder zu beobachten war und auf ein enormes Selbstbewusstsein des Porträtierten schließen lässt907. Tannings Pose wirkt aber in dieser Fotoserie eher theatralisch, es wird deutlich, dass sie für die Kamera eine Rolle spielt und fast schon die traditionelle Form der Künstlerdarstellung karikiert.

Mit ihren in die Hüften gestützten oder vor dem Körper verschränkten Armen908 und ihrem strahlenden Lachen wird der Eindruck einer sehr energischen Frau erweckt. Tanning variiert ihren Gesichtsausdruck und ihre Kopfhaltung in Millers Aufnahmen mehrfach und nimmt nicht nur Blickkontakt zur Fotografin auf, sondern ist auch zu sehen, wie sie eher ‚nachdenklich gestimmt‘ aus dem Bild herausblickt und liefert durch diesen Melancholiegestus dem informierten Betrachter einen Hinweis auf ihre Rolle als Künstlerin. Während die vor der Staffelei stehende Malerin, die immer mehrere Pinsel in der linken Hand hält, das großformatige Bild in den bereits ausgearbeiteten Partien zum Teil verdeckt und so im Mittelpunkt steht909, kommt dem nur mit einer geringen perspektivischen Verkürzung

905 Fotografie 60 = Neuer Abzug, LMA, Inv. Nr. 12766Q-81, Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 178, Kat. Nr. 126. Tanning 1995, S. 50, Fig. 15. 906 Vgl. Kap. 3. 907 Vgl. Kap. 4.1.2.2.1. 908 SWN LMA, Inv. Nr. A0494 und A0495 sowie A0491 bis A0493. 909 SWN LMA, Inv. Nr. A0491, A 0492, A 0493, A 0994, A 0495. 197 gezeigten Gemälde in den anderen Aufnahmen eine größere Bedeutung zu. Tanning hatte für diese Fotografien an ihrem fleckigen und mit unzähligen Pinseln, Farbtuben, Flaschen mit Lösungsmitteln und sonstigen Utensilien bedeckten Tisch Platz genommen, so dass das Werk hinter ihr besser zur Geltung kommt. Es handelt sich hierbei um das unvollendete Gemälde Le Mal oublié von 1955. Tanning wird in keiner der Aufnahmen in einer Arbeitshaltung gezeigt, so dass vor allem über den Zustand des Gemäldes ein Bezug zum Werkprozess hergestellt werden kann. Die angedeutete Arbeitssituation kann zwar nicht über eine Arbeitshaltung der Künstlerin, aber durchaus durch die Arbeitsatmosphäre im Atelier konkretisiert werden.

Während Dorothea Tanning in allen Fotografien der Serie in einer repräsentativen Pose zu sehen ist, lässt ihre Kleidung auf einen eher geringen Repräsentationsanspruch schließen. Die Künstlerin trägt ein dunkles Kleid, von der sich die ebenfalls dunkle Schürze nur aufgrund ihrer hellen Tupfen abhebt. Dass es sich hierbei nicht um eine spezielle Malkleidung handelt, wird deutlich, wenn man die anderen Aufnahmen der Serie betrachtet: wie Max Ernst ließ sich Tanning in Huismes in der Bekleidung porträtieren, die sie auch bei der Gartenarbeit trug. In dieser Kleidung ist das Künstlerpaar auch in einer Fotoserie, die im Atelier von Max Ernst in Huismes entstand, zu sehen910. In der 1946 in Sedona in Tannings Atelier entstandenen Aufnahme ist Max Ernst zwar zugegen, wird aber in der Inszenierung erstaunlicherweise nicht als Künstler angesprochen. Die Malerin posiert hingegen in den um 1955/56 im Atelier ihres Mannes entstandenen Fotografien mit dem selben Bündel von Pinseln in der Hand, mit dem sie auch vor ihrem noch unvollendeten Gemälde Le Mal oublié zu sehen ist, so dass ein Hinweis auf ihre Rolle als Künstlerin geliefert wird.

4.1.4.1.7 Hans Erni mit Wandgemälde Essai d’un portrait de Darwin (Schweiz, um 1947)

In den bisher vorgestellten Porträts wurden die Künstler mit einem unvollendeten Werk und ihren Mal- und Zeichenutensilien im Atelier aufgenommen. Im Fall des Schweizer Malers, Zeichners und Graphikers Hans Erni911 (geb. Luzern, 21. Februar 1909) bietet sich eine etwas andere Situation dar. Zwar griff Miller auch im Fall dieser Aufnahme auf ein traditionelles Darstellungsmuster zurück und zeigt Erni vor seinem Werk mit einem Pinsel in der Hand, während weitere Malutensilien auf einem Tisch neben dem Künstler abgestellt sind, und stellt so einen Bezug zum Werkprozess her, doch handelt es sich bei dem Werk selbst nicht um ein Tafel- oder Leinwandgemälde, das in den bisher vorgestellten Porträts immer auf einer Staffelei präsentiert wurde, sondern um ein großformatiges Wandgemälde, das mit Temperafarben auf einen Träger mit dem Handelsnamen ‚Pavatex‘ gemalt wurde.

910 Vgl. Kap. 4.1.2.2.4. 911 Zur Biografie Ernis siehe: Biographisches Lexikon Schweizer Kunst – Dictionnaire biographique de l’art Suisse – Dizionario biografico dell’arte svizzera, hrsg. vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft, Zürich und Lausanne, 1998, Bd. 1, S. 302–303. Walter Rüegg, Hans Erni, Das malerische Werk/Peintures/Paintings, Zürich, o. J., S. 272–277. The Dictionary of Art, hrsg. von Jane Turner, 1996, S. 465–466. 198

Ernis Arbeitsplatz wirkt also auf den ersten Blick nicht unbedingt wie der traditionelle Arbeitsbereich eines Malers, der an der Staffelei mit Pinsel und Palette zu sehen ist. Miller fotografierte die Szene aus einiger Entfernung, so dass das Wandgemälde fast vollständig im Bild wiedergegeben wird (es wird lediglich auf der rechten Seite vom Bildrand angeschnitten) und den Hintergrund der Aufnahme komplett ausfüllt. Erni, der von seinem Werk hinterfangen wird, ist so in ganzer Figur zu sehen.

In Hans Erni porträtierte Lee Miller einen der bekanntesten Schweizer Maler, der um 1947, als die Aufnahme entstand, bereits zahlreiche öffentliche Aufträge für Wandbilder erhalten hatte.

Wie Millers Porträt von Jean Arp912 entstand auch die Fotografie von Hans Erni als Auftragsarbeit und wurde in dem Artikel von Denis Rougemont There are also people in Switzerland im Mai 1947 in der britischen Vogue veröffentlicht (Fotografie 61)913. In der Bildunterschrift wird Erni als ein brillianter Avantgarde-Maler vorgestellt, der handwerkliches Geschick mit einer freien Komposition verbinde. Sein Wissen über Aerodynamik, Vogeleier, Kristalle und die Sozialgeschichte bilde die Grundlage für sein symbolisches Wandbild „Darwin and man“ (= Essai d’un portrait de Darwin), mit dem er in Millers Aufnahme zu sehen ist.

Die traditionelle Art und Weise, in der sich Erni in seinem Porträt darstellt bzw. dargestellt wird, liefert aber keinen Hinweis auf seine Vorreiterfunktion, seine Rolle als Vertreter einer neuartigen künstlerischen Richtung. Diese Aufgabe kommt allein dem gezeigten Werk Essai d’ un portrait de Darwin914 aus dem Jahr 1947 zu. Der Pinsel in Ernis Hand wie das unvollendete Werk sind Indizien, die für eine Darstellung in einer Arbeitssituation sprechen und die schon in den Porträts von Leslie Hurry, Christian Bérard, Roland Penrose und Dorothea Tanning zu finden waren915. Die Tatsache, dass Erni seinem Werk aber den Rücken zuwendet und zudem aus dem Bild heraus blickt, so als finde er einen schöpferischen Einfall in dem nicht mehr sichtbaren Raum, trägt nicht dazu bei, den Eindruck eines bei unmittelbar bei der Arbeit fotografierten Künstlers zu stützen. Ernis Haltung macht vielmehr deutlich, dass die Szene – wie bei Roland Penrose, dessen Porträt rund zwei Jahre später entstand – für die Kamera gestellt wurde.

912 Vgl. Kap. 4.1.2.1.3. 913 Fotografie 61 = Abb. in: Rougemont 1947, S. 65 oben. Die Bildunterschrift lautet: „Hans Erni, brilliant avant-garde painter, combines facility of draughtsmanship with freedom of composition. His research on aero-dynamics, birds’ eggs, crystals and social history is background material in this symbolic mural of Darwin and Man.” 914 „Versuch eines Bildnisses von Darwin“, 1947, 250 x 300 cm, Tempera, Abb. in: Rüegg, S. 133, Abb. 58. Das auf Pavatex gemalte Bild, dessen Thema frei gewählt wurde, befindet sich im Besitz der Hans Erni-Stiftung und wird momentan in der permanenten Ausstellung „Werke aus sieben Jahrzehnten“ im Hans Erni Museum präsentiert (Freundliche Mitteilung von Frau Corinna Braun, Hans Erni-Stiftung, Luzern vom 12.9.2003). 915 Vgl. Kap. 4.1.4.1.1, 4.1.4.1.2, 4.1.4.1.8, 4.1.4.1.5, 4.1.4.1.6. 199

4.1.4.1.8 Roland Penrose mit Gemälden, u. a. Erster Anblick (London, 1949)

Christian Bérard, das Enfant terrible der französischen Kunstszene, wird in Lee Millers 1944 entstandenem Porträt in einer sehr traditionellen Weise gezeigt916. Selbst wenn der Betrachter dieser Aufnahme nichts über den Porträtierten und seine unkonventionelle und exzentrische Lebensart weiß, so fällt doch auf den ersten Blick die Diskrepanz zwischen Bérards äußerer Erscheinung und dem Arrangement der Fotografie auf. Grundsätzlich verwundert es sehr, wenn ein Künstler, der sich offen gegen gesellschaftliche Konventionen und etablierte künstlerische Strukturen stellt, für sein Porträt eine bereits seit langer Zeit tradierte Darstellungsform wählt oder mit dieser Art der Inszenierung einverstanden ist. So trugen auch die Schriftsteller und Künstler, die der surrealistischen Bewegung angehörten, wie zum Beispiel E.L.T. Mesens917, sehr elegante, konventionelle Kleidung und ließen so über ihre Erscheinung nichts von ihrem revolutionären Gedankengut erkennen, sondern stellten sich – auch in den Porträts von Miller – vielmehr als arrivierte Mitglieder der Gesellschaft vor. Auch Millers Porträt (Fotografie 62)918 von Roland Penrose liegt ein traditionelles Bildmuster zugrunde, das sich bereits seit Mitte des 16. Jahrhunderts in der Porträtmalerei findet.919 Auch Penroses Vater, James Doyle Penrose, wählte für sein Porträt die klassische Malerpose und ließ sich Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts mit Pinsel und Palette bei der Arbeit an seinem Gemälde fotografieren.920

Roland Penrose921 (14.10.1900 – 23.4.1984), der zunächst ein Studium der Architektur am Queens College in Cambridge (1919 bis 1922) absolvierte, interessierte sich schon früh für den Surrealismus, mit dem er schon 1922 in Paris, wo er bei André Lhote (1885 – 1962) Malerei studierte und unter anderem Georges Braque und Yanko Varda (1949 – 1971) kennen lernte, in Kontakt kam. 1928, dem Jahr, in dem er auch Max Ernst und Joan Miró traf, wurden seine Werke erstmals in einer Einzelausstellung in der Galerie Van Leer in Paris präsentiert. Das Wirken von Roland Penrose ist aber seit 1929, als er ein enger Freund von Paul Eluard, André Breton und anderen surrealistischen Künstlern wurde, eng mit dem Surrealismus verbunden: er war nicht nur als Maler tätig, sondern zeichnete sich vor allem als Sammler surrealistischer Kunst und als Organisator zahlreicher Ausstellungen aus, zu denen 1936 auch die erste Schau surrealistischer Werke in Großbritannien zählte.922 Im gleichen Jahr stellte ihn Eluard Pablo Picasso vor: aus dieser ersten Begegenung resultierte

916 Vgl. Kap. 4.1.4.1.2. 917 Vgl. Kap. 4.1.2.1.1. 918 Fotografie 62 = Ohne Inv. Nr., Abb. in: Penrose 2002, S. 60. Die Aufnahme wird hier fälschlicherweise in das Jahr 1947 datiert, da das Gemälde erst 1949 entstanden ist (vgl. Penrose 2001, S. 185. Penrose 1981b, S. 151, Abb. 377). 919 Vgl. die Abbildungen in: Göke 2000, Abb. 23 (Antonis Mor, Selbstbildnis, 1558), Abb. 36 (Nach Raffael Mengs, Richard Wilson, 1752). Waldmann 1995, Abb. 4 (Jusepe Martinez, Selbstbildnis, um 1655 oder um 1664). Ausst. Kat. Florenz 1992, S. 107, Abb. 20. 920 Penrose 1981b, S. 18, Abb. 19. 921 Zur Biografie von Roland Penrose siehe: Penrose 2001, S. 179–182. 922 Penrose 1981b, S. 60ff und 162ff. Vgl. auch Penrose 2002, S. 19f und S. 41f. 200 eine enge, lebenslange Freundschaft, in deren Folge Penrose zahlreiche Gemälde Picassos erwarb. Penrose stammte aus einer wohlhabenden Familie und unterstützte mit seinem Geld nicht nur die Projekte seiner damals fast unbekannten, heute aber hoch geschätzten Künstlerkollegen, sondern kaufte auch ihre Werke und trug so im Lauf der Jahre eine bedeutende Sammlung zusammen, zu der auch Picassos Weeping Woman923 gehört. 1938 eröffnete er in London eine eigene Galerie, die London Gallery, und präsentierte dort, zunächst nur bis 1939924, zusammen mit E.L.T. Mesens als Geschäftsführer die Werke avantgardistischer Künstler. Lee Miller, die er 1937 in Paris zum ersten Mal traf und die ihren Ehemann verließ, um mit Penrose von 1939 an in London zu leben, heiratete er 1947. Im gleichen Jahr kauften Penrose und Miller nicht nur ein Haus auf dem Land, sondern wurden auch Eltern ihres Sohnes Antony.

Während des 2. Weltkriegs stellte Roland Penrose sein künstlerisches Talent in den Dienst der militärischen Tarnung von Objekten, der sogenannten Camouflage. 1939 arbeitete er zunächst für die von Stanley William Hayter925 gegründete The Industrial Camouflage Research Unit, und leitete ab 1943 als Captain der britischen Armee die Eastern Command School of Camouflage. Nach dem Krieg gründete er mit Herbert Read eine Organisation, aus der das spätere Institute of Contemporary Art (ICA) hervorgegangen ist.

Obwohl sich heute viele Werke Penroses in Museen wie der Tate Britain befinden, ist er hauptsächlich durch seine Sammelleidenschaft und seine Ausstellungstätigkeit sowie seine Bücher über Picasso, Miró, Man Ray und Tàpies bekannt. Die Bedeutung, die sein künstlerisches Schaffen für ihn selbst hatte, lässt sich aber an Lee Millers Porträt ermessen, für das er als Maler posierte, obwohl er – so Antony Penrose – kein Vertrauen in seine Kunst hatte und seine Werke im Vergleich mit den Arbeiten seiner Freunde als „hoffnungslos minderwertig“ einstufte.926

In Millers Aufnahme (Fotografie 62)927 posiert Roland Penrose wie Dorothea Tanning928 mit einem großen Pinsel, den er ostentativ in seiner Hand hält, ganz traditionell vor seiner Staffelei. Auch die mit zahlreichen Farbtönen bedeckte Palette, die auch in den Porträts der Maler Christian Bérard und Leslie Hurry eine wichtige Rolle spielte, fehlt in Millers Fotografie nicht. Penrose, der vor der Staffelei im Dreiviertelprofil gezeigt wird, ist in der Darstellung von insgesamt vier Bildern umgeben, bei denen es sich um drei vollendete Werke, unter anderem Erster Anblick von 1947, handelt. Ein viertes, noch im Entstehungsprozess begriffenes Gemälde – The Flight of the Flies (1949) – wird auf der Staffelei präsentiert und schafft über den scheinbar noch unvollendeten Zustand sowie die gezeigten Utensilien eine

923 Zervos IX, 73. “Femme en pleurs. Huile sur toile. Paris, 26 octobre 1937. 61 x 50 cm. Coll. Roland Penrose.“, Tate Modern. Vgl. auch Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Kat. Nr. 64. 924 Die Galerie wurde 1946 wieder eröffnet und schloss 1950 endgültig. 925 Vgl. Kap. 4.1.4.2.2. 926 Penrose 2002, S. 126. 927 Fotografie 62 = Ohne Inv. Nr., Abb. in: Penrose 2002, S. 60. 928 Vgl. Kap. 4.1.4.1.6. 201 enge Verbindung zum Werkprozess, so dass man bei der Betrachtung der Aufnahme den Dargestellten spontan als einen Maler ansprechen könnte. Das Gemälde The Flight of the Flies erlaubt eine ungefähre Datierung des Fotoporträts, das von Antony Penrose zwar in das Jahr 1947 datiert wird, das aber nicht vor 1949 – dem von Roland Penrose genannten Entstehungsjahr des Werks – entstanden sein kann.

Die Werke, die alle parallel zur Bildfläche angeordnet worden sind und so – abgesehen von Überschneidungen – optimal präsentiert werden, nehmen einen großen Raum in der Darstellung ein. Während zwei Gemälde in der üblichen Weise an der hinteren Wand aufgestellt worden sind, wurde ein kleineres Blatt auf eine ungewöhnliche Art nur am oberen Rand an der Dachschrägen befestigt, so dass es, wie der Schattenwurf verrät, in der Luft hängt.

Penrose, der zwar nicht im Anzug, aber in einem gepflegten, sportiven Hemd zu sehen ist, wird wieder, wie so viele andere von Miller porträtierte Künstler, über die traditionelle Darstellungsform, zu der auch der geniale Blick aus dem Bild heraus gehört929, als Maler angesprochen. Einen starken Kontrast zu diesem Topos stellen die surrealistischen Werke dar, die den Porträtierten als einen modernen und avantgardistischen Menschen ausweisen und zudem von einer großen Schaffenskraft und Kontinuität im künstlerischen Schaffen zeugen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Roland Penrose nicht in einer realen Arbeitssituation von Miller fotografiert wurde, sondern speziell für sein Porträt eine Pose einnahm. Eine sehr traditionelle Inszenierung weist auch eine 1937 entstandene Fotografie (Fotografie 63)930 auf, in der Penrose bei der Arbeit an einem Gemälde zu sehen ist: der surrealistische Maler war also mit der klassischen Form der Künstlerdarstellungen bereits seit langem vertraut.

4.1.4.1.9 Saul Steinberg mit dem Felsbild Long Man of Wilmington (Farley Farm, um 1953)

In einer äußerst witzigen und unkonventionellen Weise setzte Lee Miller aber 1953 das Thema des in einer angedeuteten ‚Arbeitssituation‘ porträtierten Künstlers in der Fotoserie des amerikanischen Karikaturisten Saul Steinberg931 um. Bei der Betrachtung der mindestens fünf Aufnahmen wird schnell deutlich, dass der Porträtierte nicht unmittelbar beim Zeichnen fotografiert worden sein kann, da es sich bei dem Objekt seines Interesses nicht um ein ‚gewöhnliches‘ Kunstwerk handelt. So wurde das Werk nicht auf Papier, dem bevorzugten Material Steinbergs, geschaffen, als Bildträger diente vielmehr eine Anhöhe in den Sussex Downs.

929 Vgl. Kap. 3. 930 Fotografie 63 = Ohne Inv. Nr., Abb. in: Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 30. 931 Zur Biografie Steinbergs vgl. Kap. 4.1.2.4.1. 202

Saul Steinberg ist in Millers Fotoserie (Fotografie 64)932 in einer weiten Landschaft, die nur aus Grasflächen besteht, zu sehen. Das Gelände steigt zum Horizont an, so dass es eine ideale Fläche für das ‚Werk‘ des Karikaturisten bietet: mit hellen Linien auf dunklem Grund ist dort eine Figur mit menschlichem Umriss geschaffen worden. Der Porträtierte blickt nicht nur voller Konzentration auf diese Gestalt, die mit weit ausgebreiteten Armen dargestellt ist und an den Seiten von zwei senkrechten Linien gerahmt wird, sondern hält auch einen Stift, das typische Arbeitsinstrument eines Zeichners, an das Bild. Auf diese Weise wird die Illusion erweckt, Steinberg sei der Urheber dieser Zeichnung, die in der Fotografie nur wenig größer als seine Hand zu sein scheint.

Doch spielt Lee Miller mit der Realität: so handelt es sich bei Steinbergs ‚Werk‘ um eines der in Großbritannien häufig nachweisbaren, relativ schwer zu datierenden Felsbilder.933 Diese Bilder, die sich in gewaltigen Größen auf Anhöhen finden und die unter anderem Pferde oder Götter darstellen sollen, wurden von Unbekannten durch das Abstechen des Bodens bis auf den darunter liegenden Kalkkreidestein geschaffen. So hat das als The Long Man of Wilmington oder The Wilmington Giant bekannte Bild auf dem Windower Hill unweit von Farley Farm, Millers Wohnsitz in East Sussex, wo Steinberg als Gast weilte, im Original eine Höhe von ca. 80 Metern und eine Breite von ca. 41 Metern und wird u. a. in das 7. nachchristliche Jahrhundert datiert.934

Steinberg, dessen Gesellschaftskleidung mit Anzug und Hut in sonderbarem Kontrast zur Wiesenlandschaft steht, befindet sich in einer großen Distanz zum Wilmington Giant und konnte seine exakte Position nur mit genauen Anweisungen Millers einnehmen. Das Fehlen jeglicher Vegetation – wie Bäumen oder Sträuchern – macht die Illusion des in die Landschaft ‚zeichnenden‘ Karikaturisten perfekt: es wird kein Anhaltspunkt, der einen Rückschluss auf die realen Größenverhältnisse zwischen Steinberg und dem Felsbild erlaubt hätte, gegeben. Durch den niedrigen Kamerapunkt, der für die Verwendung von Millers

932 SWN LMA, Inv. Nr. FF 0280, FF 0281, FF 0282, FF 0283, FF 0284, Negativformat 6 x 6 cm. Abb. von LMA, Inv. Nr. FF 0280 in: Calvocoressi 2002, S. 160–161. Livingston 1989, S. 99. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 104 (= Fotografie 64). (Die Fotografie wird in den beiden letztgenannten Publikationen fälschlicherweise in das Jahr 1954 datiert. Die Serie steht aber in engem Zusammenhang zu der Aufnahme, die Steinberg im Kampf mit einem Gartenschlauch zeigt (vgl. Kap. 4.3.7). Diese wurde aber bereits im Juli 1953 in Millers Vogue-Artikel Working Guests auf S. 55 publiziert, so dass auch die Fotoserie Steinbergs mit dem Wilmington Giant vor Juli 1953 entstanden sein muss. 933 Als Beispiele können The Finglesham Man in Kent, The Giant of Cerne Abbas in Dorset (S. Chadwick Hawkes et al., The Finglesham Man, Antiquity 39 (1965), S. 17–32) und The White Horse in Uffington, Berkeshire, (Nikolaus Pevsner, Berkshire, The Buildings of England, BE 30, Middlesex 1966, S. 245) (Abb. in: Andrew Causey, Paul Nash’s Photographs: Document and Image, London 1973, Abb. 70 und 71) angeführt werden. 934 Hawkes1965, S. 28–30. 203 zweiäugiger Spiegelreflexkamera vom Typ Rolleiflex935 sprechen würde, und der daraus resultierenden Untersicht wird im Gegenteil zur Monumentalisierung Steinbergs noch beigetragen.

Mit dem Zeichenstift in der Hand fungiert Steinberg als Mittler in dem die Fotoserie prägenden Kontrast zwischen der malerischen – den durch die Lichtführung akzentuierten, geschwungenen Formen der Landschaft – und der graphischen Komponente der Aufnahmen – dem allein durch die Linie definierten Felsbild.

Lee Miller kommt mit ihrer Fotografie der Intention Steinbergs entgegen, der über seine Zeichnungen sagte: „Die Absicht einer Zeichnung liegt darin, die Leute fühlen zu lassen, dass in ihr noch etwas anderes steckt, jenseits des Wahrnehmbaren. Die Reise zwischen Wahrnehmung und Verstehen – damit vor allem spiele ich“.936 Diese Worte Steinbergs kann man ohne weiteres auf die experimentelle, surrealistische Fotografie Lee Millers übertragen.

Die experimentelle Tendenz wird nicht durch eine technische Bearbeitung in der Dunkelkammer, sondern allein durch die sorgfältige Inszenierung der Aufnahme erzielt. Als ein wichtiger Faktor kann hierbei – wie in der Fotoserie von Max Ernst und Dorothea Tanning als Gigant und Zwerg937 – Millers ‚spielerischer‘, aber durchdachter Umgang mit der Perspektive genannt werden. Die endgültige Vermischung von ‚Realität‘ und ‚Irrealität‘ und somit die surreale Aussage wird aber durch den Stift erreicht, den Steinberg mit seiner erhobenen Hand so an die Figur hält, als sei sie gerade erst seiner Phantasie entsprungen. Die von Lee Miller geschaffene und mittels der Fotografie festgehaltene Illusion des Karikaturisten, der seine Ideen nicht länger allein auf Papier festhält, sondern dessen Kreativität auch vor grasbewachsenen Hügeln in den Sussex Downs nicht halt macht, ist untrennbar mit beiden Faktoren verbunden.938

Saul Steinberg hatte – wie Max Ernst und Pablo Picasso – ein großes Interesse an Inszenierungen, wie auch Aufnahmen von Inge Morath zeigen. Die Fotografin wurde von Steinberg anlässlich einer Porträtsitzung Anfang der 1960er Jahre mit einer Papiermaske vor dem Gesicht empfangen. Nachdem sich Morath von der Überraschung erholt hatte, fotografierte sie den Karikaturisten mit dieser Maske. Dieses Porträt stand am Anfang einer längeren Zusammenarbeit der beiden Künstler, in deren Folge eine ganze Serie von Maskenbildern entstand. Steinberg kam bei dieser Kooperation der Part des Erfindens und

935 Vgl. Kap. 4.1.1.2. 936 Saul Steinberg, in: Artis (1968), S. 24–25, zitiert nach: Saul Steinberg – Zeichnungen, Aquarelle, Collagen, Gemälde, Relief – 1963–1974, Ausst. Kat., Kölnischer Kunstverein, 14.11.–31.12.1974, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 12.2.–16.3.1975, Kestner-Gesellschaft, Hannover, 21.3.– 18.5.1975, Kulturhaus der Stadt Graz, Juni/Juli 1975, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, Juli/August 1975, S. 25. 937 Vgl. Kap. 4.3.4. 938 Die Gäste von Roland Penrose und Lee Miller auf Farley Farm scheinen in deren Begleitung öfter eine Exkursion zum Felsbild aus heidnischen Zeiten unternommen zu haben (vgl. die Aufnahmen in: Penrose 1981b, S. 183, Abb. 456. Penrose 2002, S. 63). 204

Zeichnens der verschiedenen Masken zu. Auch wählte er die zu diesen Masken passenden Personen aus seinem Freundeskreis aus.939 Inge Morath hielt schließlich das Ergebnis in der zwischen 1960 und 1966 entstandenen Fotoserie Saul Steinbergs Masken fest. Auch Gijon Mili porträtierte Steinberg um 1955 mit einer Maske, einem Selbstporträt, das er sich auf die Nase gesteckt hat, so dass seine Nasenspitze zur Nase der von ihm entworfenen Maske wird.940

Millers aus fünf Aufnahmen bestehende Fotoserie, die 1953 in den Sussex Downs in Zusammenarbeit mit Steinberg entstand, entspricht nicht dem traditionellen Darstellungsmuster, das Lee für die anderen, bisher vorgestellten Künstlerporträts wählte und lässt so etwas von der Vielfalt in diesem Bereich ihres Œuvres erkennen. Ganz der Tradition entsprechend werden die Künstler von Lee Miller aber in den Fotografien gezeigt, die sie unmittelbar in den Werkprozess einbinden.

4.1.4.2 Künstler ‚bei der Arbeit‘ – Suggestion einer ‚tatsächlichen‘ Arbeitssituation

Das Kunstwerk spielte in den bisher vorgestellten Porträts von Lee Miller eine entscheidende Rolle, wenn es darum ging, die Nähe des Dargestellten zur bildenden Kunst zu verdeutlichen. Ob dieses Interesse eher privater oder beruflicher Natur war, konnte aber anhand der Fotografien selbst – ohne weitere Informationen über die fotografierte Person – nicht entschieden werden.

Deutlicher war dies in den Aufnahmen, die im Atelier aufgenommen worden sind, zu erkennen, ohne dass aber der Porträtierte, der für die Fotografin posierte, durch seine Tätigkeit unmittelbar als Künstler ausgewiesen wurde. Während in den Fotografien, in denen die dargestellten Personen im Atelier in einer angedeuteten Arbeitssituation mit einem noch unvollendeten Werk zu sehen sind941, bereits in einem bestimmten Umfang eine Verbindung zum Werkprozess und somit zur Künstlerrolle hergestellt werden konnte, wird dies in den nun folgenden Porträts konkretisiert. Die Dargestellten sind in diesen Aufnahmen, die zum Teil auch eigens für die Kamera des Fotografen inszeniert worden sind, unmittelbar bei der Arbeit am Werk zu sehen. Die Künstler konzentrieren sich in diesen Fotografien allein auf ihre künstlerische Tätigkeit und ihr noch unvollendetes Werk und nehmen von der Anwesenheit der Fotografin keine Notiz.

939 Kunsthalle Wien, Sabine Folie, Gerald Matt (Hrsg.), Inge Morath: Das Leben als Photographin, Ausst. Kat., Kunsthalle Wien, 18.6.–10.10.1999, München, 1999, S. 41–42. Kurt Kaindl berichtet hingegen, dass es Inge Morath war, die geeignete Personen als Träger auswählte und die entsprechende Kleidung der Personen bestimmte. Kurt Kaindl, Inge Morath – Biographie einer Fotografin, in: Kurt Kaindl (Hrsg.), Inge Morath – Fotografien 1952–1992, Salzburg 1992, S. 16. 940 Gijon Mili, Photographs & Recollections, Boston 1980, Abb. S. 147. 941 Vgl. Kap. 4.1.4.1. 205

4.1.4.2.1 Roland Penrose mit einer Postkartencollage (Mougins, 1937)

Dies ist auch der Fall in zwei Fotografien (vgl. Fotografie 65)942, die 1937 während des gemeinsamen Urlaubs von Lee Miller, Roland Penrose und ihren surrealistischen Freunden in Mougins entstanden sind und die mit zu den frühsten (erhaltenen) Aufnahmen eines Künstlers im Werkprozess gezählt werden können. Wie Pablo Picasso, der ebenfalls zur Künstlergruppe gehörte und während seines Aufenthaltes in Südfrankreich gemalte Porträts seiner Freunde schuf, war auch Penrose in Mougins künstlerisch tätig, wobei er von Lee Miller fotografiert wurde.

So ist er in den beiden Aufnahmen bei der Arbeit an einer Collage zu sehen, in der er Postkarten mit anderen Bildelementen wie „Fahrkarten, Druckfragmenten oder in Gouache- sowie Frottage-Technik gearbeiteten Flächen“ kombinierte, wobei die Farbigkeit und nicht das Motiv der Karten für ihn eine besondere Rolle gespielt haben soll.943 Diese Technik, in der der Künstler in Mougins erstmals gearbeitet haben soll, findet sich bis zu seinem Tod 1981 immer wieder in seinem Werk.

Dass Penrose für die Umsetzung seiner Collagen kein Atelier benötigte, sondern dass ihm der Fußboden in seinem (Bade-)Zimmer im Hotel Vaste Horizon genügte, zeigen Millers Aufnahmen. Der Künstler, der in die Hocke gegangen ist, um so seine vor ihm am Boden liegende Collage bearbeiten zu können, scheint vor lauter Konzentration auf sein Werk die Fotografin gar nicht mehr wahrzunehmen, obwohl sie sich unmittelbar vor ihm befunden haben muss. Die Distanz zwischen Miller und Penrose erlaubte so die Darstellung des Künstlers in ganzer Figur, auch die Collage ist durch die leichte Aufsicht gut zu erkennen.

Während Roland Penrose für eine 1947 entstandene Aufnahme944 von Lee Miller mit Pinsel und Palette vor seiner Staffelei posiert und so in einer für Maler klassischen Inszenierung zu sehen ist, erwecken die zehn Jahre zuvor in Mougins aufgenommenen Fotografien den Eindruck, dass der Künstler spontan in einer in realistisch wirkenden Arbeitssituation fotografiert wurde. Hierzu gehört nicht nur der Blick, den Penrose unmittelbar auf seine Collage richtet, sondern auch seine Arbeit am Werk.945

Penroses äußere Erscheinung946 zeigt keinerlei repräsentative Tendenzen. Auch der Raum, in dem die Aufnahmen entstanden, war kaum geeignet, um den Porträtierten als einen erfolgreichen Maler und somit als ein arriviertes Mitglied der Gesellschaft auszuweisen. Dass es sich um spontan aufgenommene Fotografien handelt, kann man auch daran erkennen,

942 Abb. in: Penrose 2002, S. 38. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 65 (= Fotografie 65). 943 Penrose 2002, S. 38. 944 Vgl. Kap. 4.1.4.1.8. 945 Ob er allerdings mit seiner rechten Hand der bereits weit ausgearbeiteten, aber dennoch unvollendeten Collage Elemente hinzuzufügen scheint oder nur variiert, bleibt unklar, da die Arbeit an dieser Stelle vom unteren Bildrand angeschnitten wird. 946 Penrose trug Freizeitkleidung und Sandalen und rauchte während der Arbeit eine Zigarette. 206 dass das durch das Fenster einfallende Licht Penrose von hinten trifft, so dass der Künstler und sein Werk verschattet dargestellt worden sind. Lee Miller war vor allem an der Darstellung des Künstlers bei der Arbeit interessiert, wobei das Augenmerk auf der porträtierten Person und ihrer Tätigkeit liegt, weniger aber an den Veränderungen, die der Dargestellte an seiner Arbeit vornimmt.

4.1.4.2.2 Stanley W. Hayter mit einem Camouflage-Modell (London, 1940)

Auf seine Arbeit an seinem Werk konzentriert sich auch Stanley William Hayter in (mindestens) zwei Aufnahmen, die nur rund drei Jahre nach der Fotografie von Roland Penrose entstanden sind und so ebenfalls ein relativ frühes Beispiel in dieser Kategorie des Künstlerporträts darstellen.

Der Graphiker und Maler wurde von Lee Miller in seinem Atelier auch beim Entpacken seiner Gemälde fotografiert947, die entweder von einer Ausstellung in die Werkstatt zurückgekehrt oder aus dem ehemaligen Pariser Atelier 17 des Künstlers in sein Londoner Domizil geschickt worden waren. Hayter, der Frankreich 1939 verlassen hatte, hielt sich bis zu seiner endgültigen Übersiedlung in die USA nur kurzfristig in London auf. In dieser Zeit wandte er sich neben seiner Kunst einer kriegswichtigen Arbeit zu und war im Bereich der Camouflage948 tätig. Erste Erfahrungen auf dem Gebiet der militärischen Tarnung von Objekten hatte er 1937 auf einer Reise in das vom Bürgerkrieg heimgesuchte Spanien sammeln können. Dieses Wissen veranlasste Hayter während seines Aufenthaltes in Großbritannien zur Gründung der Industrial Camouflage Research Unit, der auch Roland Penrose949 angehörte. Auch andere Künstler stellten ihr Talent in den Dienst der militärischen Tarnung, da eine Tätigkeit auf diesem Gebiet – neben der Beschäftigung als offizieller Kriegskünstler durch die britische Regierung – eine Möglichkeit bot, der Einberufung zu entgehen und den Lebensunterhalt in Kriegszeiten sicherte950.

Es existieren mindestens zwei Porträts (vgl. Fotografie 66)951, die Miller im Auftrag für Vogue aufnahm und die Hayter am 9. Mai 1940952 bei der Arbeit an einem Modell für eine Tarnung für Luftangriffe zeigen. Mit großer Wahrscheinlichkeit entstanden die Fotografien in Hayters

947 Vgl. Kap. 4.1.2.2.9. 948 Black/Moorhead 1992, S. 22 und S. 391. 949 Penrose 2001, S. 99: “Roland wanted to make some kind of non-combattant contribution, and searched around for a venture by like-minded people. Fortunately Bill Hayter, who had seen camouflage in the Spanish Civil War, had founded the Industrial Camouflage Research Unit with Helen Philips, Julian Trevelyan, John Buckland Wright and Denis Clark Hall, and Roland joined them. They rented space in Ernö Goldfinger’s office at 7 Bedford Square and set to work to get contracts from firms who were worried about the vulnerability of their factories from air attack.” Penrose schrieb seine Tipps für die Tarnung von Objekten in einem Buch nieder (Roland Penrose, Home Guard Manual of Camouflage, London 1941). 950 Vgl. Kap. 4.1.4.1.3. 951 Neue Abzüge LMA, Inv. Nr. 3239-7 und 3239-8, Abb. von LMA, Inv. Nr. 3239-8 in: Calvocoressi 2002, S. 70 (= Fotografie 66). 952 Datierung laut Kartei des Lee Miller Archive, vgl. auch Kap. 4.1.2.2.9. 207

Atelier, von dem aber durch die geringe Distanz zwischen der Fotografin und ihrem Modell nur wenig sichtbar ist. Im Mittelpunkt der Aufnahmen stehen der Künstler und sein Werk, das er voller Konzentration betrachtet, dem er seinen Körper zuneigt und an dem er, nach Maßgabe der beiden Fotografien, mit seinen Händen arbeitet.

Hayter scheint in diesem Fall nicht an einem Modell für eine Tarnung von Gebäuden, sondern für eine militärische Waffe, eine Flugzeugabwehrkanone (kurz Flak genannt), zu arbeiten. Über der aus Holz in einem kleineren Maßstab nachgebildeten Flak schweben auf fragil wirkenden Stützen, wahrscheinlich Drähten, zwei große Flächen aus Lochblech oder einem dichten Drahtgitter, so dass die Waffe aus der Luft nicht sichtbar sein würde. Das Kriegsgerät und seine Schutzkonstruktion stehen vor Hayter auf einem Arbeitstisch, der mit Werkzeug und Material für das Modell vollständig bedeckt ist und der neben der Arbeit am Werk als Indiz für eine Darstellung im Werkprozess gewertet werden kann. Das Modell ist bereits soweit ausgearbeitet worden, dass es auch in vergrößertem Maßstab seine Funktion als Tarnung wahrscheinlich erfüllen und einem Objekt weitgehend Schutz bieten könnte.

Bereits in der zeitgleich entstandenen Aufnahme953 LMA, Inv. Nr. 3239–3 wurde der Porträtierte, der vor allem als Graphiker tätig war, nicht mit Arbeiten dieses Bereichs, sondern mit seinen relativ unbekannten Gemälden gezeigt.954 Eine Person, die nur wenig über den Künstler und sein Schaffen weiß, könnte so auch in dem Modell eine Skulptur sehen und auf eine bildhauerische Tätigkeit des Porträtierten schließen.

Hayter stand der surrealistischen Bewegung nahe und gehörte im Rahmen der ersten wichtigen Ausstellung surrealistischer Arbeiten in Großbritannien, der International Surrealist Exhibition, die am 11. Juni 1936 in den New Burlingon Galleries eröffnet wurde, zum Organisationskomitee um Roland Penrose und Herbert Read.955 Bereits bei Millers Porträts von E.L.T. Mesens956, der im Rahmen dieser Ausstellung für die Auswahl der belgischen surrealistischen Künstler zuständig war, konnte von seinem äußeren, sehr noblen Erscheinungsbild nicht auf eine Mitgliedschaft in einer Gruppe geschlossen werden, die sämtliche gesellschaftlichen Werte und Normen radikal ablehnte. Auch Hayter war mit einem weißen Hemd, einer Krawatte sowie der Weste und Hose eines dunklen Anzugs konventionell gekleidet und umgab sich so, wie viele andere Künstler im Porträt, mit der Aura eines arrivierten und erfolgreichen Menschen. Die von Hayter gewählte Kleidung sagt viel über sein Selbstverständnis als Künstler aus, steht aber im Kontrast zur dargestellten Arbeitssituation. Es ist unwahrscheinlich, dass der Künstler bei der Arbeit eine derartige Kleidung getragen hat, so dass es sich um eine gestellte Szene handeln könnte. Der Eindruck eines nonchalanten und weltoffenen Menschen wird auch bei Hayter durch die Zigarette erweckt, die er wie viele andere Künstler während der Arbeit im Mund oder in der

953 Vgl. Kap. 4.1.2.2.9. 954 Black/Moorhead 1992, S. 15. Zu den in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen Werken zählen Ophelia (1936; London, Tate Gallery), Eclosion (1937), Parturition (1939). 955 Penrose 2001, S. 72. 956 Vgl. Kap. 4.1.2.1.1. 208

Hand hielt und die als ein ‚Symbol‘ für modernes Denken und Handeln verstanden werden kann.

4.1.4.2.3 Yves Tanguy mit Gemälde (Woodbury, 1946)

Im Rahmen ihrer USA-Reise besuchten Lee Miller und Roland Penrose 1946 auch das Ehepaar Yves Tanguy und Kay Sage auf deren Farm in Woodbury, einer Kleinstadt im westlichen Connecticut. Yves Tanguy957 (Paris, 5. Januar 1905 – Woodbury (USA), 15. Januar 1955) und Kay Sage hatten sich 1941 in Woodbury niedergelassen und 1946, kurz vor dem Besuch von Miller und Penrose, dort die Town Farm gekauft. Miller hielt den Besuch bei den beiden surrealistischen Malern in einer Fotoserie – fast schon einer Art Film – fest. Diese Serie zeigt uns Tanguy und Sage als Künstler und als Jedermann und so stellt so zwei für Miller besonders wichtige Aspekte heraus: diese Zweiteilung weisen seit Mitte der 1940er Jahre viele ihrer Fotoserien958 auf.

Lee Miller fotografierte Tanguy, den sie durch Man Ray959 bereits während ihrer Zeit in Paris kennen gelernt haben könnte, unter anderem in fröhlicher Runde auf der Terrasse des Farmhauses960, beim Rauchen im Haus961 oder beim Kontrollieren seines typisch amerikanischen Briefkastens962. Der französische Surrealist unterscheidet sich in diesen Fotografien weder durch sein Aussehen – mit einem kurzärmligen Hemd und einer langen Hose ist er leger gekleidet – noch durch sein Handeln von einem durchschnittlichen amerikanischen Vorstadtbürger. Doch war Tanguy kein Amerikaner: in den USA lebte er, der Europa im November 1939 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verlassen musste, im Exil. Vielleicht zeigen uns Lee Millers Fotografien ja den Emigranten Tanguy, der seinen Briefkasten in der Hoffnung kontrollierte, kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs Nachrichten von seinen Freunden und Kollegen im fernen Europa vorzufinden?

In den Aufnahmen963 Millers ist Tanguy zu sehen, wie er mit gebeugtem Oberkörper vor dem Briefkasten steht und in ihn hineinblickt. Hierbei nimmt er von Miller keinerlei Notiz, wodurch die Szene spontan und ungestellt wirkt. Dass sich Tanguy der Gegenwart Millers aber bewusst gewesen sein muss, wird nicht nur durch die kurze Distanz deutlich, die Miller zu

957 Zur Biografie Yves Tanguys siehe: Ausst. Kat. Baden-Baden 1982/83, S. 262–274. 958 Vgl. zum Beispiel Kap. 4.1.2.1.2, 4.1.2.1.4, 4.1.2.2.4, 4.1.4.1.5, 4.1.4.1.6. 959 Man Ray gehörte bereits seit 1923 zu den ständigen Besuchern in dem Pavillion, den Yves Tanguys zusammen mit Marcel Duhamel und Jaqces Prévert und deren Frauen in Paris in der Rue du Château bewohnte. 960 SWN LMA, Inv. Nr. A 0060. Die Negative LMA, Inv. Nr. A 0061 und A 0062 müssen mit Selbstauslöser oder von einer anderen Person aufgenommen worden sein, da Lee Miller im Bild zu sehen ist. 961 SWN LMA, Inv. Nr. A 0072 und A 0075 bis A 0079. 962 SWN LMA, Inv. Nr. A 0508 bis A 0512. 963 SWN LMA, Inv. Nr. A 0508 bis A 0510. 209 ihm einhielt; in weiteren Fotografien964 posiert Tanguy neben dem Briefkasten speziell für Miller, so dass die Schnappschusssituation wahrscheinlich inszeniert wurde.

Tanguys Briefkasten trug in großen Buchstaben seinen Vor- und Nachnamen, so dass der Porträtierte über diesen Schriftzug in Art einer Bildunterschrift als der bekannte surrealistische Maler Yves Tanguy angesprochen wird. Dem Werk und der Person Tanguys wurde spätestens seit seiner Teilnahme an den beiden Ausstellungen Cubism and Abstract Art (März/April 1936) und Fantastic Art, Dada and Surrealism (Dezember 1936) im New Yorker Museum of Modern Art in amerikanischen Fachkreisen großes Interesse entgegengebracht. Auch hatte Alfred Barr für das MoMA Gemälde aus Tanguys Anfangszeit erworben. Doch dass es sich bei der dargestellten Person wirklich um den Surrealisten Tanguy und nicht um einen Nachbarn oder einen Freund des Malers handelt, weiß man nur dann mit Sicherheit, wenn man mit der äußeren Erscheinung Yves Tanguys vertraut ist und dem Namen ein bereits bekanntes Gesicht zuordnen kann.

Sowohl Kay Sage als auch Yves Tanguy wurden von Miller während ihres Besuchs 1946 in ihren Ateliers fotografiert und so als Künstler stilisiert. Während Sage965 für Miller nur neben ihren neuesten Gemälden posierte, ist Yves Tanguy in drei Aufnahmen966 in einer Arbeitssituation fotografiert worden. Der surrealistische Maler ist so zu sehen, wie er vor einer sehr massiven, dunklen Staffelei sitzt und ein dort aufgestelltes, kleinformatiges Gemälde konzentriert betrachtet. Tanguy verwendete während der Arbeit an seinem Werk einen Malstock, den er in seiner linken Hand hielt und der im oberen Bereich auf der Staffelei auflag. Seine rechte Hand, die einen Pinsel führte, mit dem er am Bild zu arbeiten schien, stützte er auf den Malstock auf, um so sehr präzise malen zu können – was für seine hochillusionistische Malerei von entscheidender Bedeutung war. Lee Miller fotografierte die Arbeitsszene von der rechten Seite her, so dass der in der linken Bildhälfte dargestellte Tanguy im Profil zu sehen ist, während die Staffelei und das kleine, querformatige Gemälde mit einer starken perspektivischen Verkürzung gezeigt werden, was eine Identifizierung des Werks so gut wie unmöglich macht. Durch die geringe Distanz, die Miller zu Tanguy einhielt, ist der sitzende Maler bis zu den Knien dargestellt worden, während die Staffelei vom oberen und unteren Bildrand angeschnitten wird. Der starken vertikalen Ausrichtung der Staffelei, die durch ihre massive Ausarbeitung und ihre dunkle Farbe in der rechten Hälfte der Fotografie zum bildbestimmenden Element wird, stehen zwei Diagonalen gegenüber, die in der linken Partie des Bildes durch den Verlauf des Malstocks sowie die Körperhaltung Tanguys definiert werden.

Yves Tanguy arbeitete voller Konzentration an seinem Werk und schien die Fotografin gar nicht wahrzunehmen, wodurch – wie bei den Aufnahmen, die ihn beim Kontrollieren des Briefkastens zeigen – die Szene ungestellt wirkt. Doch der Eindruck, dass der Maler spontan in einer realistischen Arbeitssituation fotografiert wurde, täuscht: durch die geringe Distanz

964 SWN LMA, Inv. Nr. A 0511 bis A 0513. 965 Vgl. Kap. 4.1.2.2.3. 966 SWN LMA, Inv. Nr. A 0081 bis A 0083. 210 zwischen der Fotografin und ihrem Modell muss sich Tanguy der Nähe Millers bewusst gewesen sein. Auch ist er in einer weiteren Fotografie967 zu sehen, wie er Miller unmittelbar anblickt und sie anlächelt. Für diese Aufnahme hatte Miller ihre Position leicht verändert und war schräg hinter den Maler und sein Werk getreten, so dass der unvollendete Zustand des Gemäldes – der auch bei dieser Ansicht eine Identifizierung nicht zulässt – deutlich wird. Für Miller war scheinbar die Darstellung des Malers bei der Arbeit von besonderer Bedeutung, wobei sie aber kein Interesse hatte, die unterschiedlichen Phasen der Bildwerdung zu dokumentieren.

Auch schien sie Tanguys Atelier nur wenig zu beeindrucken: durch den geringen Aufnahmeabstand sind der Maler und die Staffelei formatfüllend dargestellt worden, sodass vom Atelier außer einigen Utensilien, die sich in unmittelbarer Nähe Tanguys befanden und die zum Malen benötigte, nichts zu sehen ist. Doch vielleicht gab es – anders als in Picassos Arbeitsräumen – wirklich nichts zu sehen? In den Ateliers von Kay Sage und Yves Tanguy soll, wie Besucher zu berichten wissen, eine sehr große Ordnung geherrscht haben.968 Robert Lebel verwendet für Tanguys Arbeitsraum, der „den Eindruck [vermittelte], als sei kurz vorher auch die allerkleinste Kleinigkeit daraus entfernt worden“, den Begriff „mönchische Schlichtheit“ und William Copley beschreibt Tanguys Atelier mit folgenden Worten: „Ich habe niemals etwas gesehen, was dem Atelier von Yves ähnlich gewesen wäre, außer in Krankenhäusern [...] eine alte, sehr massive französische Staffelei war an ihrem oberen Rand mit einer gedrehten Kordel versehen, die an einer Spindel befestigt war und ein kleines Instrument für die Präzisionsarbeiten hielt. Seine Farbtuben lagen geordnet und klassifiziert in Regalfächern unter der Staffelei. Die Tische, die sich dort befanden, glichen Operationstischen. Künstler arbeiten unterschiedlich. Manche sind schlampig, andere sorgfältig. Das Atelier von Yves wurde so sorgfältig behandelt wie seine Malerei.“ 969

Lee Miller porträtierte den surrealistischen Maler Yves Tanguy in einer sehr traditionellen Art und Weise970. Nichts in dieser Fotografie lässt erkennen, dass es sich um einen Surrealisten handelte, der von seinem Freund Lebel als „schweigsam und verschlossen“ sowie als „Frevler, Lästerer, Aufsässiger“971 beschrieben wurde. Die von Miller gewählte Darstellungsmuster findet sich schon in der Porträtmalerei, die zum Vorbild für die frühe Porträtfotografie wurde. Millers Porträt von Tanguy weist so Analogien zu einem Porträtfoto des britischen Malers Marcus Stone (Fotografie 67)972 von ca. 1900 auf.

967 SWN LMA, Inv. Nr. A 0080. 968 Suther, S. 8. 969 Ausst. Kat. Baden-Baden 1982/83, S. 39. 970 Vgl. auch Sima [1959], S. 35. 971 Ausst. Kat. Baden-Baden 1982/83, S. 33 und S. 35. 972 „G.D. & D., London: Marcus Stone, R. A., London um 1900. Postkarte aus: The Star Series, Sammlung Klant, Freiburg.”, Abb. in: Klant 1995, S. 62, Abb. 62 (= Fotografie 67). 211

4.1.4.2.4 Oskar Kokoschka mit dem Triptychon Prometheus-Saga (London, 1950)

Wie Tanguy 1946 wurde auch der österreichische Maler Oskar Kokoschka nur wenige Jahre später von Lee Miller ‚bei der Arbeit‘ fotografiert. Doch zeigt Miller in ihren mindestens 58 Aufnahmen umfassenden Fotoserien (vgl. Fotografie 68)973 von Kokoschka nicht nur einzelne, ausgewählte Szenen im Werkprozess wie bei Tanguy, sie hielt vielmehr den Ablauf der Arbeiten an dessen dreiteiligem Deckenbild Prometheus-Saga974 im Bild fest. Dieses Triptychon, bei dem es sich um Kokoschkas erste Arbeit mit antik-mythologischem Sujet handelte, schuf der Künstler 1950 im Auftrag des Kunstsammlers Graf Antoine Seilern, der wie Kokoschka vor den Nationalsozialisten nach Großbritannien geflohen war. Das Werk sollte die Decke seines Londoner Hauses in 56 Prince’s Gate schmücken und wurde vor Ort ausgeführt.

Oskar Kokoschka975 (Pöchlarn an der Donau, 1.3.1886 – Montreux, 22.2.1980) gehörte zu den Künstlern, die Lee Miller auf der 24. Biennale in Venedig im Sommer 1948 fotografierte. Obwohl Kokoschka auf dieser Biennale in einer Sonderschau 16 Werke ausstellte, ist er in der in Millers Artikel Venice Biennale976 publizierten Aufnahme nicht mit einem Gemälde, sondern im Brustbild außerhalb eines künstlerischen Ambientes zu sehen. In der Bildunterschrift zu dieser Fotografie heißt es: „Kokoschka, der große Expressionist, der jetzt in London lebt, hatte auf der Biennale seinen eigenen Pavillion, in der eine Retrospektive seines Werks gezeigt wurde“.977 Im Artikel selbst findet Kokoschka keine Erwähnung. Unklar ist, ob sich die Fotografin und der Maler erstmals auf der Biennale in Venedig trafen oder bereits in London, wo sie seit 1938 (Kokoschka) und 1939 (Miller) lebten, erste Kontakte geknüpft hatten. 1949, also kurze Zeit, bevor die Fotoserie im Juli 1950 in London entstand, waren im Institut of Contemporary Art, das von Roland Penrose gegründet worden war, unter dem Titel Modern German Prints and Drawings auch Werke Kokoschkas ausgestellt worden, so dass sich die Fotografin und der Maler bei dieser Gelegenheit (wieder)gesehen haben könnten. Auch auf der 26. Biennale von Venedig 1952 war Kokoschka vertreten und

973 SWN LMA, Inv. Nr. LM 120-49 bis LM 120-60, LM 120-73 bis LM 120-84, Negativformat 6 x 6 cm (7.7.1950). SWN LMA, Inv. Nr. LM 122-17 bis 122-22, Negativformat 6 x 6 cm (ohne Datum). SWN LMA, Inv. Nr. LM 124-45 bis LM 124-47, LM 124-48 bis LM 124-59, LM 124-60 bis LM 124-70, LM124-72 und LM 124-74 (Fotografie 68 = Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 146f), Negativformat 6 x 6 cm (18.7.1950). 974 Oskar Kokoschka, Prometheus-Saga, dreiteiliges Deckenbild, Tempera auf Leinwand, 1950. Mittelbild 230 x 350 cm, seitliche Tafeln je 230 x 230 cm, Abb. in: Hans Maria Wingler, Oskar Kokoschka, Das Werk des Malers, Salzburg 1956, Abb. 121 (linke Tafel), Abb. 122 (Mitteltafel), Abb. 123 (rechte Tafel). 975 Zur Biografie Oskar Kokoschkas siehe: Jutta Hülsewig-Johnen (Hrsg.), Oskar Kokoschka: Emigrantenleben, Prag und London 1935–1953, Bielefeld 1994, S. 301–313. Frank Whitford, Oskar Kokoschka – A Live, London 1986. J. P. Hodin, Oskar Kokoschka, Sein Leben – seine Zeit, London 1968. Heinz Spielmann, Oskar Kokoschka: Leben und Werk, Köln 2003. 976 Miller 1948, S. 66–67, 88–90, das Porträt von Kokoschka findet sich auf Seite 88. 977 „Kokoshka, the great expressionist now resident in London, had his own pavilion for a retrospective show of his work at the Biennale”. 212 präsentierte dort unter anderem sein Triptychon Prometheus-Saga, mit dem er in Lee Millers Fotoserien zu sehen ist.

Laut Kartei des Lee Miller Archive entstanden die Fotografien, die Oskar Kokoschka bei der Arbeit an der Prometheus-Saga zeigen und die Lee Miller aus rein persönlichen Interesse aufgenommen haben soll978, am 7. und am 18. Juli 1950 (vgl. Fotografie 68). Die Tatsache, dass Kokoschka in den Fotografien in unterschiedlicher Kleidung zu sehen ist, würde für unterschiedliche Aufnahmetage sprechen. Zwar präsentiert sich der Künstler in allen Fotos in einem bürgerlichen Habit und ist mit einem weißen kurzärmligen Hemd mit Krawatte und einer Hose zu sehen, über die er eine dunkle, weiß-gestreifte Schürze gebunden hat, doch trägt er in den Fotografien, die zur Serie LM 120 vom 7. Juli 1950 gehören, unter der langen Arbeitsschürze zusätzlich einen dunklen Pullunder.979

Doch unterscheiden sich die Fotografien vom 7. und 18. Juli 1950 vor allem durch ihre unterschiedlichen Motive, was sich dem Betrachter aber nicht unmittelbar erschließt. Prinzipiell könnten alle Aufnahmen zu einer einzigen Serie gehören, die bei der gleichen Gelegenheit entstanden ist. Doch zeigen bei einer genaueren Überprüfung alle 21 Bilder980 vom 7. Juli den Künstler bei der Arbeit, während Kokoschka in den elf Tage später aufgenommenen 15 Fotos981 vor allem in Pose mit seinem aktuellen Werk – der rechten Tafel aus dem Deckengemälde Prometheus-Saga – zu sehen ist.

978 Auf den im Lee Miller Archive geführten Karteikarten der Fotoserien LM 124 und LM 120A findet sich neben dem Namen des Künstlers und dem Datum der Verweis „(Private)“. 979 Die Kleidung Kokoschkas in den Aufnahmen mit der Inventarnummer LM 124 vom 18. Juli 1950 ist sehr ähnlich und besteht auch aus einem hellen Hemd, das kurze Ärmel hat und das der Künstler ebenfalls mit einer Krawatte trägt, einer dunklen Hose und der Arbeitsschürze, doch fehlt der Pullunder. So bekleidet ist der Künstler bereits in einem 1936 entstandenen Porträt zu sehen. Abb. in: Hülsewig-Johnen 1994, S. 306. 980 SWN LMA, Inv. Nr. LM 120-49 bis LM 120-60, LM 120-73 bis LM 120-81, Negativformat 6 x 6 cm (7.7.1950). 981 SWN LMA, Inv. Nr. LM 124-54 bis LM 124-56, LM 124-58 bis LM 124-59 und LM 124-60 bis 124- 70, Negativformat 6 x 6 cm (18.7.1950). 213

In neun der Fotografien982 vom 18. Juli ist nur ein Ausschnitt aus dieser Bildtafel des Triptychons sichtbar, in dem sich der Künstler – neben seiner Frau Olda – selbst darstellte. Die malerische Ausarbeitung dieses Bereichs ist bereits weit vorangeschritten, so dass es sich um die endgültige Version des Gemäldes handeln könnte. Diese Annahme wird durch den Zeitpunkt der Aufnahme gestützt: Kokoschka arbeitete insgesamt sieben Monate, von Januar bis Ende Juli 1950, an seinem ersten großen, mythologischen Werk und reiste im Anschluss an die Fertigstellung der Arbeit nach Salzburg.

Weniger das Triptychon oder seine einzelnen Tafeln als vielmehr der Künstler und seine Arbeit am Werk stehen im Mittelpunkt der Serie vom 7. Juli 1950. Lee Miller zeigt in diesen Aufnahmen, wie der Malprozess im Einzelnen abgelaufen ist. Folgt man der Nummerierung der Negative und beginnt mit den Fotografien LMA, Inv. Nr. LM 120–49 und LM 120–50, so sieht man Kokoschka, der vor seiner auf einer speziellen Staffelei aufgestellten Leinwand steht. Diese höhenverstellbare Staffelei, deren Rückseite Miller in den beiden Fotografien zeigt, war für großformatige Gemälde konzipiert worden und erlaubte es, das mit Schnüren befestigte, bislang größte Werk983 des Malers in eine beliebige Schräglage zu bringen. Kokoschka konnte so im Stehen an der linken unteren Ecke der Leinwand malen, ohne sich zu bücken oder hinzusetzen.

Neben der speziellen Konstruktion der Staffelei zeigen Millers Aufnahmen auch einen Ausschnitt des Raums, in dem der Künstler arbeitete. Dass es sich bei diesem nicht um das Atelier Kokoschkas handelte, kann man anhand der Fotografien selbst nicht erkennen, da

982 SWN LMA, Inv. Nr. 140-61 bis 140-69, Negativformat 6 x 6 cm. Die Tafel, die nur partiell im Bild sichtbar ist, wird noch auf der Staffelei präsentiert, so dass eine Verbindung zum Entstehungsprozess hergestellt wird. Diese Vermutung wird durch die Erscheinung Kokoschkas, der sich in seiner Arbeitsschürze porträtieren ließ, noch konkretisiert. Einen weiteren Anhaltspunkt für eine zeitliche Nähe zur Werkgenese liefert eine Leiter, die für den Künstler im Malprozess aufgrund der großformatigen Leinwände unerlässlich war und auf der er sich abstützt. In zwei Aufnahmen (SWN LMA, Inv. Nr. LMA LM 124-58 und LM124-59.) leistet Lee Miller Kokoschka Gesellschaft und hat oberhalb von ihm auf der Leiter Platz genommen, was gegen die Verwendung eines Selbstauslösers und für die Existenz einer weiteren Person während der Fotositzung sprechen könnte. Alle neun Fotos wurden vom gleichen Standort aufgenommen (für die Serie ist unter anderem die Verwendung eines Stativs belegt, vgl. SWN LMA, Inv. Nr. LM 124-45 bis LM 124-47) und zeigen Kokoschka vor seinem gemalten Selbstporträt. Die Köpfe des gemalten und des ‘realen’ Kokoschka sowie der im Gemälde sichtbare Kopf seiner Frau Olda sind in allen Aufnahmen auf einer Diagonalen angeordnet worden und werden so eng aufeinander bezogen. Während der Maler seine Pose für die Aufnahmen nur geringfügig modifizierte, spielte er geradezu mit seiner Mimik und erweckte den Eindruck eines ruhigen und besonnenen Menschen oder stellt sich als eine hochmütige Person dar. Auch dreht er seinen Kopf in Richtung seines gemalten Abbildes, das mit einer gewissen Neugier und Verwunderung den Betrachter der Bildtafel zu fixieren scheint. An beiden Aufnahmetagen nutzte Lee Miller die Möglichkeit, einzelne Szenen und Figuren – zum Beispiel eine Eule – aus dem Triptychon aufzunehmen (vgl. SWN LMA, Inv. Nr. LM 120-82 und LM 124-83, Negativformat 6 x 6 cm). 983 Hodin 1968, S. 292ff. Die Mitteltafel misst H/B 230 x 350 cm, die beiden Seitentafeln weisen mit 230 x 230 cm ein quadratisches Format auf. 214 die Gerätschaften, die der Künstler zum Malen brauchte, überall verteilt waren.984 So sieht man eine hohe Leiter, die Kokoschka in einer weiteren Aufnahme985 vor das Gemälde gestellt hat. Miller fotografierte den Künstler und sein Werk in dieser Aufnahme von der rechten Seite her und modifizierte ihre Stellung für die folgenden sechs Fotos986 der Serie nur geringfügig. Das Gemälde, das bisher nur mit einer starken perspektivischen Verkürzung gezeigt wurde, die in diesem Fall eine Identifizierung unmöglich macht, wird in diesen Fotografien aus einem anderen Blickwinkel aufgenommen und kann so als die rechte Tafel des Triptychons Prometheus-Saga angesprochen werden. Kokoschka ist in den Schwarzweißnegativen LMA, Inv. Nr. LM 120–53 bis LM 120–57 auf der Leiter bei der unmittelbaren Arbeit am Werk zu sehen. Dabei ist Miller aber nicht an den Veränderungen, die Kokoschka am Bild vornimmt, oder den unterschiedlichen Werkphasen des Gemäldes interessiert, wie dies andere Fotografen, zum Beispiel bei Picasso, waren.987

Miller hielt während der Aufnahme eine größere Distanz zu Kokoschka ein, so dass der Künstler in ganzer Figur dargestellt und auch die großformatige Leinwand, die in einer fast schon bedrohlich wirkenden Schräglage vor ihm an der Staffelei befestigt wurde, vollständig in die Aufnahme integriert wird. Der Maler ist auf einer Leiter zu sehen, wie er sich vor- und zurückbeugt, um mit dem Pinsel an der rechten Tafel des Triptychons zu arbeiten bzw. die Veränderungen zu kontrollieren oder aber die Farbe von einem neben ihm stehenden Leitertisch aufzunehmen.

984 Obwohl prinzipiell die Möglichkeit bestand, Kokoschka im Atelier von einem erhöhten Standort aufzunehmen, zeigen nur fünf Aufnahmen (SWN LMA, Inv. Nr. LM 124-51 bis LM 124-55, Negativformat 6 x 6 cm) den Künstler und sein Werk von oben, so dass der rechte, quadratische Teil des großformatigen Triptychons (die Tafel maß 230 x 230 cm), der sich während der Aufnahme zudem noch auf der Staffelei befand, in voller Größe gezeigt werden kann. 985 SWN LMA, Inv. Nr. LM 120-51. 986 SWN LMA, Inv. Nr. LM 120-52 bis LM 120-57, Negativformat 6 x 6 cm. 987 So fotografierte David Douglas Duncan den an der Leinwand arbeitenden Picasso aus unmittelbarer Nähe immer von schräg hinten respektive von der Seite, um auf diese Weise die Entstehung des Werks vom ersten bis zum letzten Pinselstrich festhalten zu können (eine Auswahl von Fotografien, die die Entstehungsgeschichte des Werks zeigen, wurde in: Duncan 1996, publiziert). Die unterschiedlichen Werkphasen waren auch für Henri-Georges Cluzot in seinem 1955 in Nizza gedrehten Film Le Mystére Picasso von zentraler Bedeutung. Picasso malte während der Dreharbeiten unter anderem mit Filzstiften auf transparentem Papier, so dass die Kamera die Fortschritte und Veränderungen, die seine Arbeit durchlief, optimal erfassen konnte. Edward Quinn fotografierte nicht nur während dieser Dreharbeiten den Künstler und die einzelnen Stadien seines Werks, sondern dokumentierte auch die Ausschmückung der Chapelle de la Paix in Vallauris durch Picasso (Quinn 1987b, S. 108–141 und S. 96–103. Vgl. auch die Fotografien von André Villers in: Jacques Prévert, Portraits de Picasso, Paris 1981, ohne Zählung). Einen anderen Weg, den Künstler und die Genese des Werks in der Fotografie darstellen zu können, wählte Gjon Mili 1949. Picasso zeichnete seine Formen in diesem Fall nicht mit einem Stift, sondern mit einer Taschenlampe im abgedunkelten Studio. Mili arbeitete mit einem Film mit langer Belichtungszeit, so dass er die nicht nur die mit Licht geschaffenen Figuren und Elemente, sondern auch deren Entstehung in seinen Fotografien festhielt (Abb. in: Gjon Mili, Picasso et La Troisième Dimension, Paris 1970, S. 13–29). 215

Das Anmischen der Farben durch Kokoschka und somit die Arbeitsweise des Malers ist ein weiterer Aspekt, der von Lee Miller in insgesamt acht Fotos (vgl. Fotografie 68)988 dokumentiert wurde. In diesen Aufnahmen wird der Künstler, der von der Mitteltafel des Triptychons hinterfangen wird, fast schon auf Armeslänge gezeigt, so dass sein Arbeitsplatz gut einzusehen ist. Zwischen Pinseln unterschiedlicher Stärken und Materialien, Farbdosen und Farbtuben sowie anderen Gerätschaften ist Kokoschkas Palette gut zu erkennen. Es handelt sich hierbei nicht um eine traditionelle Farbpalette aus Holz, der Maler mischte vielmehr, wie in der Temperamalerei üblich, mit einem Messer oder Spachtel kleine Mengen der von ihm verwendeten Farben auf einem schmalen, rechteckigen Glasstreifen an.989 Kokoschka schuf die Prometheus-Saga in Temperatechnik990, so dass als Bindemittel der Pigmente frisches Eigelb991, das sich in einem Trinkglas neben der Palette befinden könnte, in Frage käme. Über die bereits angemischten Temperafarben hatte Kokoschka während des Prozesses Untertassen oder kleine Schüsseln gestülpt, um sie so vor dem Austrocknen zu bewahren.

Die Darstellung des Arbeitsablaufs vom Anmischen der Farben bis hin zum Bemalen der Leinwand in einer Vielzahl von Aufnahmen suggeriert, dass Miller Kokoschka tatsächlich bei der Arbeit porträtiert habe. Kokoschka scheint ferner völlig in seine Arbeit versunken zu sein und hält nur zweimal bei der Arbeit inne, um mit einem Überraschung zeigenden Gesichtsausdruck in die Kamera Millers zu blicken, die seine Konzentration eventuell durch Zurufe oder das Geräusch des Auslösers gestört hatte.992

4.1.4.2.5 Pablo Picasso beim Töpfern einer Vase (Vallauris, 1956)

Wie Oskar Kokoschka fotografierte Lee Miller auch Pablo Picasso dabei, wie er Hand an eines seiner Werke legte. Lee Miller war, wie mindestens zwei Fotografien (vgl. Fotografie 69)993 aus dem Sommer 1956 zeigen, in der Töpferei Madoura zugegen, als unter Picassos Händen eine Vase aus einem Klumpen Ton entstand.994 Zu den Zuschauern, die den Künstler umringten und mit Begeisterung, Erstaunen oder voller Konzentration die Genese

988 SWN LMA, Inv. Nr. LM 120-73 bis LM 120-81, Negativformat 6 x 6 cm. Abb. von SWN LMA, Inv. Nr. 120-74 in: Calvocoressi 2002, S. 146f (= Fotografie 68). 989 Kurt Wehlte, Werkstoffe und Techniken der Malerei, Ravensburg 1967, S. 613. 990 Kurt Wehlte, Temperamalerei, Ravensburg 1961. 991 Wehlte 1967, S. 604–607, Kap. 8403 „Eitempera“. 992 SWN LMA, Inv. Nr. LM 120-74 (Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 146f) (= Fotografie 68) und LMA, Inv. Nr. LM 120–76. 993 Neue Abzüge vom Original-Schwarzweißnegativ LMA, Inv. Nr. P 0760 und P 0762, Abb. von LMA, Inv. Nr. P 0762 in: Penrose, Roland: Portrait of Picasso, New York 1957, S. 76, Abb. 207. Penrose 1981a, S. 78, Abb. 210 (= Fotografie 69). Die Aufnahme LMA, Inv. Nr. P 0760 wurde 1984 in einer Ausstellung von Lee Millers Fotografien in der Photographers Gallery in London gezeigt und wurde mit folgendem Begleittext versehen: „(L to R) Gary Cooper, Picasso and Maria Cooper (Gary Cooper’s daughter). Madoura Pottery, Vallauris, 1956. Picasso is talking about his ideas for the decoration of the vase. Gary Cooper had met Picasso some years previously, and had a holiday villa nearby.” 994 Vgl. auch: Roland Penrose, Picasso: His Life and Work, London 1958, S. 330–333. 216 des Werks verfolgten, gehörten neben dem amerikanischen Filmschauspieler Gary Cooper und dessen Tochter auch der Töpfer Aga und eine weitere, unbekannte Frau. Bei dieser könnte es sich um die Eigentümerin der Töpferei, Madame Ramié, handeln. Während seine Gäste unterschiedlich von dem Prozess in Bann gezogen wurden, agierte Picasso lässig und mit einem Lächeln im Gesicht. Wenn er auch in seiner Freude und Begeisterung die Anwesenheit der Fotografin vergessen haben könnte, so war er sich der Gegenwart der anderen Personen in der Werkstatt bewusst, da diese sich, wie Miller, in unmittelbarer Nähe Picassos befanden, um ja kein Detail seiner Arbeit zu versäumen. Gary Cooper, der an der Côte d’Azur ein Ferienhaus besaß und zu den Nachbarn Picassos zählte, stützte sich sogar mit seinen Armen auf dem Werktisch auf, um den Werkprozess aus nächster Nähe verfolgen zu können. Sein Gesicht verrät etwas von der Faszination, die er über Picassos Tun empfindet, während sich der fachkundige Töpfer Aga mit einem fast verkniffenen Ausdruck voll auf die Arbeit konzentriert, um so vielleicht dem künstlerischen Geheimnis Picassos auf die Spur zu kommen.

Edward Quinns erste Fotositzung mit Picasso fand 1953 in Vallauris in der Töpferei Madoura von Georges Ramié statt. Der Fotograf hatte an diesem Ort, an dem sich Picasso seit August 1947 intensiv mit der Keramik auseinandergesetzt hatte, auch erstmals die Gelegenheit, Picasso bei der Arbeit zu fotografieren. Picassos Einfallsreichtum und seine Schaffenskraft kamen nicht nur in der Malerei und der Plastik, sondern auch in der Töpferkunst voll zum Einsatz: er variierte die traditionellen Formen und Techniken dieses Handwerks so, dass selbst erfahrene Töpfer von seinen Ergebnissen erstaunt waren, wie auch Millers Foto zeigt. Quinn berichtet, dass das Töpfern Picasso begeisterte, da es nicht die gleiche Konzentration wie das Malen verlangte.995 Vielleicht ließ es Picasso, der sich bei der Entstehung eines Gemäldes gewöhnlich abschottete, aus diesem Grund zu, dass Zuschauer in der Werkstatt zugegen waren. Picasso schuf die Vase zur Freude seiner zum Teil sehr prominenten Besucher, deren Erstaunen ihm selbst – wie man sieht – schmeichelte und höchste Zufriedenheit brachte. Picasso war der absolute Mittelpunkt der Runde.

Bei der Arbeit an einer der unzähligen Keramiken, die Picasso vor allem in Vallauris schuf und zu denen unter anderem Teller, Krüge, Schüsseln und Figuren zählten, wurde der Künstler nicht nur von Besuchern und Freunden umringt, sondern auch von Miller fotografiert. Der Künstler konzentrierte sich allein auf seine Arbeit und modellierte entweder mit seinen Händen oder aber mit einer kleinen Kelle (einer Drehschiebe) an einer Vase, die bereits die ‚typische‘ Gestalt angenommen hatte, aber noch keinerlei Verzierungen trug, sich also noch in einem unvollendeten Zustand befand. Picasso verzierte seine Keramiken entweder direkt beim Modellieren und versah so z. B. Krüge mit einem Gesicht oder gab eigentlich konventionellen Formen wie Tellern oder Vasen, nachdem er das jeweilige Motiv auch in den frischen Ton geritzt hatte, durch eine phantasievolle Bemalung ihren besonderen Reiz.

995 Quinn 1987b, S. 42ff. 217

Die Konzentration Picassos auf und sein Hantieren mit der Arbeit, der unvollendete Zustand der Keramik und der mit unzähligen Materialien wie Ton, Werkzeugen und Schüsseln beladene Werktisch tragen wesentlich dazu bei, dass die Szene als realistische Schilderung einer Phase des Werkprozesses wahrgenommen wird. Gestützt wird dieser Eindruck auch durch den Arbeitskittel, mit dem Picasso während des Töpferns bekleidet war. In Quinns Aufnahmen aus dem Jahr 1953 ist der Künstler nur in einer winterlichen Straßenkleidung zu sehen. Während Miller Picasso beim Modellieren der Keramik fotografierte, zeigt Quinns Porträtserie den Künstler vor allem beim Bemalen seiner Werke. Ein Aspekt findet sich aber sowohl in Quinns als auch in Millers Aufnahmen: Picasso rauchte während der Arbeit eine Zigarette, die er, wenn er seine Hände zum Malen oder Modellieren benötigte, einfach zwischen seinen Lippen festklemmte.

4.1.4.2.6 Pablo Picasso mit Gemälden, u. a. Nature morte au buffet (Vauvenargues, um 1959)

Während Picasso in dieser Fotografie bei der unmittelbaren Arbeit am Werk zu sehen ist, fotografierte ihn Lee Miller rund drei Jahre später dabei, wie er die Wirkung seiner Gemälde überprüft und zeigt ihn so in einer nachbereitenden Phase im Werkprozess.

Lee Miller gibt Picasso in diesen beiden Aufnahmen (vgl. Fotografie 70)996 in einem mit Stuck reich verzierten Raum seines Schlosses Vauvenargues wieder, das er im September 1958 erwarb und zu dessen Grundbesitz auch der von Cezanne in zahllosen Arbeiten festgehaltene Mont St. Victoire in der Nähe von Aix-en-Provence gehörte. In dem riesigen, scheinbar unmöblierten Saal ist Picasso zu sehen, wie er auf einem Stuhl sitzt und drei seiner dort präsentierten Gemälde intensiv betrachtet. Während Picasso am äußersten rechten Bildrand dargestellt ist, sind die Gemälde am linken Bildrand zu sehen, so dass die Protagonisten in dem saalartigen Raum fast verloren wirken. Die Konzentration Picassos auf seine Werke kann nicht nur durch seinen Blick, den er unvermittelt auf die Gemälde richtet, nachvollzogen werden, sondern äußert sich auch in seiner Haltung.

Die Form der Präsentation der drei Stilleben erinnert wieder an die Werkschauen, die Miller während der 1940/50er Jahre in Picassos Ateliers fotografierte: so ist das Gemälde Nature morte au buffet997 (10. – 14. April 1959) auf einer Staffelei zu sehen, während Mandoline, cruche et flacon998 (13. – 14. April 1959) unmittelbar davor auf dem Boden steht. In einiger Distanz zu diesen beiden Werken ist das Stilleben Mandoline, cruche et verre999 vom 11. April 1959 zu sehen. Obwohl diese dritte Arbeit in der hinteren Bildebene dargestellt ist, wird

996 Neue SWA, LMA, Inv. Nr. P 0825 und P 0826, Abb. von LMA, Inv. Nr. P 0826 (= Fotografie 70) in: Calvocoressi, Begegnungen, S. 172–173. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 99. Livingston 1989, S. 101. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 105. 997Abb. in: Zervos XVIII, 435. „Nature morte au buffet. Huile sur toile. 10 avril 1959 (II)–14 avril 1959. 81 x 100 cm.” 998 Abb. in: Zervos XVIII, 440. „Mandoline, cruche et flacon. Huile sur toile. 13–14 avril 1959. 81 x 100 cm.” 999 Abb. in: Zervos XVIII, 436. „Mandoline, cruche et verre. Huile sur toile. 11 avril 1959. 73 x 92 cm.” 218 sie durch eine überreich ornamentierte Konsole, von der sie ‚gerahmt‘ wird, besonders hervorgehoben. Auch wird dieses Gemälde vollständig gezeigt und nicht – wie die beiden anderen Stilleben – vom Bildrand angeschnitten, so dass es nichts von seiner Wirkung verliert.

Dass Lee Miller mit ihren Aufnahmen aber eine typische und nicht von den jeweiligen Fotografen arrangierte Szene aus dem Arbeitsleben Picassos schildert, machen die Fotografien von David Douglas Duncan (Fotografie 71)1000 und Edward Quinn (Fotografie 72)1001 deutlich. Beide porträtierten den Künstler in demselben Raum des Château Vauvenargues wie Lee Miller, beide zeigen ihn, wie er in einem Stuhl sitzt und konzentriert seine vor dem Kamin aufgestellten Werke betrachtet. Doch halten sowohl Quinn als auch Duncan einen größeren Aufnahmeabstand zu Picasso ein und bilden so den Raum, in dem die Fotografien entstanden sind, zu einem weitaus größeren Teil in ihren Bildern ab. Auf diese Weise ist in den Aufnahmen der beiden Fotografen am linken Bildrand ein Tisch sichtbar, auf dem sich zahlreiche Farbdosen und weitere Utensilien, die eine Verbindung zum Werkprozess herstellen, befinden.

Während Picasso in Edward Quinns Aufnahme (Fotografie 72) zwar in dem gleichen Raum in Vauvenargues gezeigt wird und auch in dem gleichen Stuhl wie bei Miller Platz genommen hat, betrachtet er nicht nur unterschiedliche Gemälde, sondern trägt auch unterschiedliche Kleidung. Die Aufnahmen entstanden also zu einem anderen Zeitpunkt als die Fotografien von Lee Miller. Die Porträts von Miller (Fotografie 70) und Duncan (Fotografie 71) weisen aber weitgehende Analogien auf: Picasso ist nicht nur in der gleichen, lässigen Freizeitkleidung mit derben Schuhen zu sehen, sondern hat sich genau den Gemälden1002, die auch in Millers Fotografie wiedergegeben werden, zugewendet. Es wird deutlich, dass Lee Miller und David Douglas Duncan Picasso bei derselben Gelegenheit porträtiert haben, lediglich die (Arm-)Haltung des Künstlers ist leicht verändert1003.

Duncan hat sein Porträt bei der Publikation in seinem Bildband Viva Picasso1004 mit einem kurzen Text versehen, in dem er die Fotografie in das Jahr 1962 datiert und als Aufnahmeort einen „herrschaftlichen Salon, der gleichzeitig Atelier war“ in Vauvenargues anführt. Während Duncan dem Leser noch etwas von der Stimmung im Raum und seinen persönlichen

1000 Fotografie 71 = Abb. in: Duncan 1981, S. 124–125. 1001 Fotografie 72 = Abb. in: Quinn 1987b, S. 225. 1002 Durch den erweiterten Bildraum ist in Duncans Fotografie (Abb. in: Duncan 1981, S. 124–125) zusätzlich das Stilleben Mandoline, cruche et verre (Zervos XVIII, 439) vom 11 April 1959 (IV), 65 x 81 cm, zu sehen. 1003 Vgl. Kap. 4.2, Porträts von 1950–1960. 1004 Duncan 1981, S. 148: “Seite 124–125/Pablo Picasso in Vauvenargues, 1962. Wenn ich den Künstler allein in diesem herrschaftlichen Salon, der gleichzeitig Atelier war, sehe, mit seinen Bildern auf der Staffelei – wovon eines Ähnlichkeit mit Flammen im offenen Kamin zeigt – während die Nachmittagssonne schräg auf die Wände und in den Raum hinter der offenen Tür fiel, fühle ich mich in das 17. Jahrhundert, in die Welt Vermeers, zurückversetzt, der das Licht mit den gleichen Augen betrachtete – der sich an diesem Nachmittag in Vauvenargues heimisch gefühlt hätte.“ 219

Eindrücken schildert, erfährt man nichts über die Situation zur Zeit der Aufnahme, über die Tätigkeit des Porträtierten oder die eventuelle Gegenwart anderer Personen oder Fotografen wie Lee Miller.

Die Aufnahmen Lee Millers wurden im Archiv handschriftlich mit dem Vermerk ‚c. 1960‘ versehen. Zwischen der Datierung von Duncan (1962) und der des Archivs liegen also rund zwei Jahre. Picasso hatte das Schloß im September 1958 gekauft und im Februar 1959 erstmals dort gearbeitet. Die drei Stilleben, die von Duncan und Miller fotografiert worden sind, wurden von Picasso im April 1959 geschaffen und zählen so mit zu den ersten, in Vauvenargues entstandenen Werken. Diese Gemälde befanden sich zum Zeitpunkt der Aufnahme – wie aus Duncans Aufnahmen ersichtlich ist – noch im Atelier, was für die große Aktualität der Werke und somit für eine Datierung der Fotografien in das Jahr 1959 oder 1960 – nicht aber 1962 – sprechen würde. Dass die betreffende Stelle des großen Salons von Vauvenargues, der Picasso als Atelier1005 diente, den aktuellsten Gemälden des Künstlers vorbehalten war, zeigt auch die Aufnahme von Edward Quinn: anstelle der drei Stilleben betrachtet Picasso nun drei Gemälde1006, die er von März 1960 bis April 1961 schuf und von denen das Mittlere nur in einer veränderten Version bei Zervos nachgewiesen werden kann. Dieses Werk, das Picasso von August 1960 bis April 1961 malte, war also zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht vollendet worden. Sicher handelte es sich bei den drei Stilleben, die in den Fotografien von Miller und Duncan präsentiert werden, auch um die neuesten Schöpfungen Picassos, was die die Vermutung stützt, dass der Maler von den beiden Fotografen in einer kontemplativen Phase – bei einer nachbereitenden Tätigkeit im Werkprozess – beobachtet wurde.

Pablo Picasso, der die Wirkung seines gerade vollendeten Gemäldes in sich aufnimmt, zeigt Edward Quinn bereits 1955 während der Filmaufnahmen zu Henri Cluzots Le Mystère Picasso.1007 In dem Nizzaer Studio sitzt der Künstler rauchend und voller Konzentration vor dem Gemälde La Garoupe. Quinn, der die Aufnahme 1987 in The Private Picasso veröffentlichte, zitiert in der Bildunterschrift Picasso, den sein „für den Augenblick“ fertiggestelltes Gemälde scheinbar nicht zufrieden stellt, da er „eine andere Garoupe“ machen werde.

4.1.4.2.7 Joan Miró mit einem Druckstock zu A Toute Epreuve (Paris, 1956)

Das Ergebnis seiner künstlerischen Tätigkeit unterzieht auch Joan Miró (Barcelona, 20.4.1893 – Palma de Mallorca, 25.12.1983) einer genauen Betrachtung, wobei er von Lee Miller fotografiert wurde. Anders als Picasso, der sich zu diesem Zweck fast schon in Klausur begeben hatte, befindet sich Miró in Gesellschaft und blickt zusammen mit Dominique

1005 Quinn 1987b, S. 224. 1006 Linkes Gemälde: Zervos XIX, 385, „Femme et fillettes. Huile sur toile. 20 (II)–21 août 1960. 130 x 97 cm.“ Rechtes Gemälde: Zervos XIX, 204, „Le déjeuner sur l’herbe. Huile sur toile. 3–20 mars 1960. 130 x 195 cm.“ Mittleres Gemälde, vgl. die veränderte Version: Zervos XIX, 463, „Femme et fillettes. Huile sur toile. 20 août–19 avril 1961. 162 x 130 cm.” 1007 Abb. in: Quinn 1987b, S. 126. Vgl. auch: Quinn 1965, ohne Zählung, Kap. La Garoupe 13. 220

Éluard, der Witwe Paul Éluards, auf das Werk, das von beiden gemeinsam in den Händen gehalten wird. Während Miró und Dominique Éluard in vier (vgl. Fotografie 73) der mindestens sechs Aufnahmen1008 der Serie eng beieinander stehen und immer im Vordergrund der Fotografie zu sehen sind, versucht Roland Penrose, der hinter den beiden steht, über die Schultern seiner Freunde hinweg einen Blick auf die Arbeit zu werfen. Auf den ersten Blick scheint es, als ob Miró und Dominique Éluard ein kleinformatiges Gemälde in den Händen halten, was sich aber bei einer genauen Betrachtung des Gegenstandes als falsch erweist. Es handelt sich so nicht um eine Leinwand, die auf einem Spannrahmen befestigt wurde, sondern um eine rechteckige Platte, auf der sich reliefartige Elemente abzeichnen.

Roland Penrose, der seit 1956 die Funktion eines Fine Arts Officers des British Council ausübte und in den folgenden Jahren gemeinsam mit Lee Miller jeweils das Frühjahr und den Herbst in Paris verbrachte, berichtet in seiner Monografie Scrapbook, dass er im Jahr seines Amtsantritts Joan Miró gemeinsam mit Dominique Éluard in der Pariser Druckerei Lacourière besuchte. Der spanische Maler soll zu dieser Zeit – so Penrose – bereits seit langem an dem Gedichtband A Toute Epreuve des Dichters Paul Éluard, seines engen Freundes, gearbeitet haben.1009 Das Resultat der Zusammenarbeit der beiden Künstler, die sich seit ihrer gemeinsamen surrealistischen Jahre in Paris kannten, war ein Buch, das für Penrose eine „wunderbare Harmonie zwischen Dichter und Maler“ und eine der „schönsten Arbeiten des 20. Jahrhunderts“ darstellt.1010

Im April 1947 weckte der Schweizer Verleger Gérard Cramer das Interesse Mirós an einer Zusammenarbeit mit Paul Éluard. Ziel dieser Kooperation, die Miró bereits seit 1941 im Sinn hatte1011, war die Herausgabe eines Malerbuches, in dem Éluards Gedichtsammlung A Toute Epreuve, die 1930 erstmals publiziert worden war, mit den von Miró geschaffenen Illustrationen eine einzigartige Verbindung eingehen sollte.

Das Malerbuch sollte – wie zwischen den Partnern abgesprochen und vertraglich festgelegt worden war – innerhalb eines Jahres vollendet werden. Dies wäre auch leicht möglich gewesen, wenn die Illustrationen in der Technik der Lithographie oder des Kupferstichs geschaffen worden wären, wie Miró Cramer mitteilte.1012 Durch die Wahl des von Miró und Cramer favorisierten Farbholzschnitts1013 als künstlerisches Medium, das den „Erneuerern der Buchkunst im 20. Jahrhundert“ für die Gestaltung einer harmonischen Buchseite als

1008 SWN LMA, Inv. Nr. A 0105, A 0106, A 0107, A 0108, A 0109, A 0110, Format 6 x 6 cm. Abb. von LMA, Inv. Nr. A 0107 in: Penrose 1981b, S. 230, Abb. 572 (= Fotografie 73). 1009 Joan Miró als Buchkünstler: drei wegweisende Werke, Ausst. Kat., Die Deutsche Bibliothek, Deutsches Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Bücherei, Leipzig, 26.3.–23.4.1993, S. 29ff. 1010 Penrose 1981b, S. 232. 1011 Paul Éluard und Joan Miró: A Toute Epreuve, Ausst. Kat., Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 5.5.–30.9.1990 (= Malerbuchkataloge der Herzog August Bibliothek Nr. 3), S. 27. 1012 Brief von Miró an Gérard Cramer vom 25.8.1948, in: Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1990, S. 14. 1013 Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1990, S. 26. 221 besonders geeignet schien1014, gestaltete sich die vorbereitende Arbeit für den Druck aber schwieriger als erwartet und nahm insgesamt zehn Jahre in Anspruch. „Vielleicht finden Sie es übertrieben, wenn ich Ihnen sage, dass ich alles, was auf dem Gebiet des Holzschnitts getan worden ist, für null und nichtig halte, und auch Gauguin hat nicht sein Allerletztes gegeben [...]“, schrieb Miró am 25. August 1948, also noch zu Beginn des Projektes, an seinen Verleger Cramer, der ungeduldig auf erste Ergebnisse wartete, „Ich muß mich daher mit einem Medium an unbegrenzten Möglichkeiten auseinandersetzen und seine Ursprünge wiederfinden.“1015

Die Auswahl des Holzes, das mit seinen Unregelmäßigkeiten Überraschungen bereit hielt und Miró zu seinen Entwürfen inspirierte1016, die besondere Technik des Holzschnitts und das Streben des Künstlers nach einer ausgewogenen Komposition nicht nur der einzelnen Seiten, sondern des gesamten Ensembles verzögerten die Fertigstellung des Buches immer wieder. Das Malerbuch A Toute Epreuve erschien schließlich im April 1958 in einer Auflage von 130 Exemplaren und wurde zu einem Preis von 2000 Schweizer Franken verkauft. Paul Éluard, der die typographische Gestaltung festgelegt hatte, die bei Fequet et Baudier in Paris umgesetzt worden war, starb 1952 und erlebte so die Präsentation des Buches nicht mehr.

An Éluards Stelle betrachtet seine Witwe Dominique, die er erst ein Jahr vor seinem Tod geheiratet hatte, die Entwürfe Mirós. Bei der Platte, die sie gemeinsam mit Miró in den Händen hält und die die beiden aufmerksam ansehen, handelt es sich um einen der insgesamt 233 Holzblöcke, die für den Druck der 79 Holzschnitte, die die 53 Blätter des Malerbuches illustrieren, erforderlich waren.1017 Da die Illustrationen häufig durch die Kombination von mehreren Druckstöcken geschaffen wurden, ist es schwierig, das in der Aufnahme gezeigte Exemplar einem bestimmten Holzschnitt zu zuordnen, zumal er relativ kleinformatig ist und seine Präsentation nicht auf einen virtuellen Betrachter, sondern auf Miró und Dominique Éluard zugeschnitten ist. Durch deren Blicke und die Präsentation in der vorderen Bildebene rückt das Werk aber dennoch in das Zentrum des Interesses. Auch weist Miró, der durch sein Lächeln seine Zufriedenheit mit der Arbeit ausdrückt, Dominique Éluard auf ein Detail der Platte hin, in dem er mit seinem Finger darauf zeigt (Fotografie 73)1018.

Der Druckstock, von dem in einer Aufnahme1019 im Hintergrund noch weitere Exemplare zu sehen sind, ist neben einem an der Wand angebrachten Probeabzug, der von Miró aber weitgehend verdeckt wird, das einzige Element, das auf ein künstlerisch geprägtes Ambiente

1014 Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1990, S. 25. 1015 Vgl. einen Brief Miró an seinen Verleger Gérard Cramer vom 25. August 1948, publiziert in: Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1990, S. 13–14. 1016 Vgl. einen Brief Miró an seinen Verleger Gérard Cramer vom 19. Juni 1948, publiziert in: Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1990, S. 13. 1017 Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1990, S. 25. 1018 SWN LMA, Inv. Nr. A 0107. Abb. in: Penrose 1981b, S. 230, Abb. 572 (= Fotografie 73). 1019 SWN LMA, Inv. Nr. A 0106. 222 schließen lässt. Dies ist auch der Fall in zwei weiteren Aufnahmen1020, in denen sich dem Betrachter die Funktion des Holzblocks offenbart, da eine Druckplatte mit einem anderen Motiv unmittelbar in der Presse zu sehen ist. In einer dieser Fotografien steht Miró zusammen mit dem Drucker André Frélaut1021 direkt vor der Presse, über die er sich beugt, um auch das kleinste Detail des Arbeitsganges wahrzunehmen. Dass Miró in dem Augenblick, in dem die Aufnahmen Millers entstanden, nicht aktiv am Druckprozess teilgenommen hat, kann man anhand seines sehr eleganten, dunklen dreiteiligen Anzugs, der ihn als eine arrivierte Persönlichkeit ausweist und ihn von dem in Arbeitskleidung dargestellten Drucker Frélaut unterscheidet, vermuten. Auch hält Frélaut einen Ballen in der Hand, mit dem der Holzblock in der Presse vor jedem Druckvorgang – nach einer gründlichen Reinigung der Platte – neu eingefärbt werden musste. Trotzdem nahm Miró tatkräftig am Druck des Buches teil, für das schließlich 42000 Druckgänge erforderlich waren. Mit einer kleinen Handpresse, die Cramer für Miró in der Druckerei aufgestellt hatte, stellte der spanische Maler selbst Abzüge der Druckstöcke her.1022

Die Zusammenarbeit zwischen dem Künstler, der sich für die Entwürfe und die Auswahl des Materials und der Technik verantwortlich zeichnete, und anderen, an der Umsetzung beteiligten Handwerkern wie dem Holzschneider – Enrique Tormo leiste die Vorarbeit an den Holzblöcken – oder dem Drucker war für Miró sehr wichtig, da sie „seiner Vision einer Wiederkehr der gemeinschaftlichen Arbeit von anonymen Künstlern des Mittelalters entsprach“.1023

Nur wenige der bisher vorgestellten Porträts von bildenden Künstlern mit einem (eigenen) Kunstwerk stammen, wie die Fotos1024 von Joseph Cornell und Eileen Agar, aus den 1930er Jahren, die Mehrzahl der Arbeiten kann von ca. 1940 bis in die späten 1950er Jahre datiert werden. Zahlenmäßig dominieren in diesem Zeitraum die Porträts von Pablo Picasso, von dem auch in den 1960er Jahren vereinzelt Aufnahmen entstanden. In dieser Phase ihres Lebens fotografierte Lee Miller nur wenig und porträtierte erst 1973 mit Antoni Tàpies wieder einen Künstler im Atelier.1025 Diese Fotoserie zählt mit zu den letzten Künstlerporträts von Lee Miller, die im Juli 1977 auf Farley Farm starb.

4.1.4.2.8 Antoni Tàpies mit Gemälden, u. a. Rideau de fer au violon (Barcelona, 1973)

Die Motive aus den in den 1950er Jahren aufgenommenen Fotoserien1026 von Pablo Picasso und Max Ernst wiederholen sich in einer Serie von Aufnahmen, die rund 15 bis 20 Jahre später entstanden und den katalanischen Maler und Objektkünstler Antoni Tàpies 1973 in

1020 SWN LMA, Inv. Nr. A 0109 und A 0110. 1021 Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1990, S. 32. 1022 Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1990, S. 32. 1023 Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1990, S. 29. 1024 Vgl. Kap. 4.1.1.1 und 4.1.1.2. 1025 Penrose 1985a, S. 207. 1026 Vgl. Kap. 4.1.2.2.5 und 4.1.2.2.4. 223 seinem Haus und Atelier in Barcelona zeigen. Mit mindestens 100 Fotografien – für die Aufnahmen verwendete Lee Miller eine Kleinbildkamera mit einem Schwarzweißfilm im Filmformat von 24 x 36 mm – handelt es sich um eine der umfangreichsten Fotoserien, die die Fotografin von bildenden Künstlern aufgenommen hat.

In Antoni Tàpies1027 (*Barcelona, 23.12.1923) porträtierte Lee Miller einen arrivierten Künstler, der 1973 schon an zahlreichen, internationalen Ausstellungen teilgenommen hatte und mit vielen Preisen ausgezeichnet worden war. Durch Tàpies’ Einzelausstellung in der Pariser Galerie Stadler 1956 war Roland Penrose auf den Künstler aufmerksam geworden, lernte ihn selbst aber – eigener Aussage zufolge – erst einige Jahre später kennen. In dem im Werkkatalog von Agustí1028 veröffentlichten Lebenslauf von Antoni Tàpies wird die erste Begegnung zwischen dem Künstler Roland Penrose und Lee Miller aber bereits in das Jahr 1957 datiert.

Penrose war nicht nur von der neuen Bildsprache des Künstlers begeistert, sondern auch von dem Ambiente, in dem dieser lebte und seine Werke schuf, so dass er bereitwillig zusagte, als Tàpies ihm Jahre später vorschlug, eine Monografie über sein Leben und seine Arbeit zu verfassen.1029 Anders als die großen und reich bebilderten Publikationen, die bereits über Tàpies erschienen waren, war Penroses Buch, das 1977 veröffentlicht wurde und das einen Schwerpunkt auf die künstlerische Ausdrucksweise des Malers legt, vor allem für Studenten konzipiert worden.1030 Wie im Fall von Picasso und Miró wurde die Monografie unter anderem mit Fotografien von Lee Miller illustriert, die ihren Mann nach Barcelona begleitet hatte.

Ungefähr 30 der mindestens 100 Aufnahmen umfassenden Serie1031 zeigen Tapiès in seinem eigentlichen Zuhause: der spanische Maler ist ohne einen künstlerischen Bezug unter anderem in seiner Bibliothek oder im Garten seines Hauses zu sehen, dessen Interieur auch in mindestens 25 Fotografien dargestellt wurde1032. Weitere 29 Fotografien Millers geben den Künstler im Atelier zusammen mit Kunstwerken wieder, während die Fotografin in mindestens 16 Aufnahmen nur das besondere Ambiente des Ateliers darstellen wollte. All diese Aspekte finden sich auch in den Fotoserien, die Miller in den 1950er Jahren während ihrer Besuche bei Picasso aufnahm.

1027 Zur Biografie von Antonio Tàpies siehe: Agustí, Tàpies 1999 1028 Agustí, Tàpies 1999 1029 Penrose 2001, S. 166–167. 1030 Penrose 1981b, S. 278–279. 1031 SWN LMA, Inv. Nr. A 0558 bis 0577, A 0578 bis 0595, A 0596 bis 0615, A 0670 bis 0690, A 0712 bis 0732, Negativformat 24 x 36 mm. 1032 Zum Beispiel LMA, Inv. Nr. A 0721 oder 0722 und LMA, Inv. Nr. A 0723, Abb. in: Penrose 1985b, S. 140, Abb. b und c. 224

Miller fotografierte Tàpies – wie auch schon Picasso1033 – unter anderem dabei, wie er seine Werke, die er im Atelier präsentieren wollte, arrangierte, um dann mit den optimal in Szene gesetzten, großformatigen Leinwänden für die Fotografin zu posieren.1034 Nicht nur die Form der Präsentation, auch die selbstbewusste Haltung des Künstlers erinnert in diesen Aufnahmen an die ca. zwanzig Jahre zuvor entstandenen Aufnahmen seines Künstlerkollegen und spanischen Landsmannes. Tapiès war als ein enger Freund Picassos sicher mit dessen Selbstdarstellung vertraut und könnte so für Millers Fotos ähnliche Posen eingenommen haben – falls ihn die Fotografin nicht zu dieser Inszenierung aufgefordert hat. Tàpies ist in Millers Serie auch – wie Henry Moore in den um 1956/57 aufgenommenen Fotografien – in seinem Atelier im angeregten Gespräch mit Roland Penrose zu sehen.1035 Im Hintergrund dieser Aufnahme wird Tapiès’ Werk Fall Rideau de fer au violon1036 von 1956 gezeigt.

Neben dieser Fotografie wurden aus den ungefähr 100 Aufnahmen für die Monografie, die 1978 in Barcelona veröffentlicht wurde, noch fünf Interieurdarstellungen1037 ausgewählt; zwei weitere Aufnahmen zeigen das Atelier, das Tàpies zusätzlich zu seinem Arbeitsbereich in der Stadt im ländlichen Campins unterhielt.1038 Insgesamt illustrierten also 7 Fotografien Millers die Publikation, was angesichts der großen Zahl von Aufnahmen relativ wenig scheint, aber rund ein Drittel der insgesamt 22 „historischen und dokumentarischen“ Fotos ausmacht, die neben Tàpies Geschwistern, Eltern und Großeltern auch den Künstler in jungen Jahren zeigen.1039 Den weitaus größten Teil der Abbildungen stellen die Reproduktionen der Gemälde und Objekte des Künstlers dar.

Nur eine von Millers in Tàpies veröffentlichten Fotografien zeigt den Künstler scheinbar in einer Arbeitssituation und weist ihn so unmittelbar als einen kreativen Menschen, der seine Ideen gestalterisch umsetzt, aus (Fotografie 74)1040. Der Künstler ist in dieser Aufnahme zu sehen, wie er vor seiner großformatigen, flach auf dem Boden des Ateliers liegenden Arbeit Assemblage aux graffiti1041 (1972) hockt und einen nicht näher identifizierbaren Gegenstand

1033 Vgl. Kap. 4.1.2.2.5 und Kap. 4.1.3.2. 1034 SWN LMA, Inv. Nr. A 0562, A 0563, A 0564, A 0565, Negativformat 24 x 36 mm. 1035 SWN LMA, Inv. Nr. A 0575, A 0576 (Abb. in: Penrose 1985b, S. 140, Abb. a), A 0577. Auch die Aufnahmen LMA, Inv. Nr. A 0672, A 0673, A 0677 sowie A 0726 und A 0670 zeigen Tàpies und Penrose im Gespräch im Atelier oder in der Bibliothek, vgl. Kap. 4.1.2.2.8. 1036 „Rideau de fer au violon. 1956. Assemblage, 200 x 150 x 13 cm”, Abb. in: Tàpies, Catalogue raisonné, Vol. 3, 1969–1975, direction et catalogue Anna Agustí, Köln 1999, Kat. Nr. 547, S. 271. Penrose 1985b, Abb. 106, S. 155. 1037 Abbildungen in: Penrose 1985b, S. 140 und 141, Abb. a (LMA, Inv. Nr. A 0576), b (LMA, Inv. Nr. A 0721 oder 0722), c (LMA, Inv. Nr. A 0723), d (LMA, Inv. Nr. A 0674), e (LMA, Inv. Nr. A 0675) bis f (LMA, Inv. Nr. A 0613). 1038 Abbildungen in: Penrose 1985b, S. 137, Abb. a und b. 1039 Penrose 1985b, S. 278. 1040 Fotografie 74 = SWN LMA, Inv. Nr. A 0613, Abb. in: Penrose 1985b, S. 141, Abb. f. 1041 „Assemblage aux graffiti. 1972. Peinture et assemblage sur toile sans chassis, 208 x 190 x 35 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2463, S. 259. 225 in seinen Händen hält. Tàpies wird in der Darstellung von drei weiteren abstrakten Gemälden hinterfangen, von denen eines, Grande tache orange1042 (1972), ganz traditionell auf einer Staffelei präsentiert wird. Zu sehen sind außerdem noch die großformatige, auf dem Boden stehende Arbeit Bois et marron troué1043 (1972) und das kleinformatige Werk Paille et quatre incisions rouges (1972), das auf dem Fuß der Staffelei aufsteht. Die Form der Präsentation erinnert wieder an die Art und Weise, in der Picasso seine Werke für Besucher und Fotografen arrangierte und könnte die Vermutung nahe legen, dass Tapiès für die Inszenierung selbst verantwortlich war.

Viele von Millers Fotografien zeigen die porträtierten Künstler in ihren Werkstätten, wobei es sich in allen vorgestellten Fällen – unter anderem bei den surrealistischen Künstlern Ernst, Tanguy, Sage, Tanning und Penrose – um eine klassische Ateliersituation handelt1044. Obwohl Miller auch bei den Aufnahmen von Tàpies das bewährte Darstellungsmuster wieder aufnimmt und den Künstler bei der Arbeit zeigt, bietet sich im Fall von Tàpies doch eine etwas andere Situation dar: so sind zwar Staffeleien im Atelier vorhanden, doch schafft der Künstler seine großformatigen Werke auf dem Boden. Auch die Materialien, die Tàpies verwendete und sein Werkzeug erinnern nur noch wenig an die typischen, traditionellen Utensilien eines Malers.

Tàpies konzipierte seine Werke aus den unterschiedlichsten Werkstoffen, zu denen unter anderem Stroh, Holz, Sand, Papier, Teer, Drahtgitter oder auch Stoffe, Schnüre und Kordeln gehörten, und integrierte gewöhnliche Gegenstände, die er in einem anderen Zusammenhang wiederverwendete, in seine Arbeiten. Diese alltäglichen Objekte verloren in Tàpies Händen ihre eigentliche, „begrenzte Identität“ und gewannen eine „symbolische Bedeutung“, wie Roland Penrose in seiner Monografie schreibt.1045 Vielleicht fotografierte Lee Miller eine solche Verwandlung eines alltäglichen Gegenstandes in ein ‚Material mit Symbolgehalt‘?

Die Konzentration, mit der Tàpies dieses Objekt in seinen Händen gestaltet, erweckt beim Betrachter den Eindruck, dass es sich um eine wirklichkeitsnahe Schilderung des Arbeitsprozesses und nicht um eine Inszenierung handelt. Auch der Titel, mit dem die Aufnahme (Fotografie 74) bei der Publikation in Tàpies von Roland Penrose versehen wurde, weist darauf hin, dass der Künstler bei der Arbeit fotografiert wurde: „Tàpies au travail dans son atelier de Barcelone (1973)“. Zudem handelt es sich bei dem Werk nicht um ein traditionelles Gemälde, sondern um eine Assemblage aus bemalter Leinwand, die in einer Ecke umgeschlagen wurde, einer Lattenkonstruktion, die auf das Bild montiert wurde, und verschiedenen weiteren Materialien. Von einem Betrachter, der mit dem Werk Tàpies nicht

1042 „Grande tache orange. 1972. Technique mixte sur toile, 116 x 89,5 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2524, S. 287. Penrose 1985b, S. 189, Abb. 136. 1043 „Bois et marron troué. 1972. Technique mixte sur bois, 331 x 275 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2521, S. 285. 1044 Vgl. Kap. 4.1.2.2.4, 4.1.2.2.3, 4.1.4.1.5, 4.1.4.1.6, 4.1.4.2.3, 4.1.4.1.8. 1045 Penrose 1985b, S. 152. 226 vertraut ist, könnte der Zustand der Arbeit also durchaus als unvollendet angesehen werden. Für die Darstellung des Künstlers in einer Arbeitssituation spricht weiterhin, dass in unmittelbarer Nähe des Künstlers scheinbar sein Werkzeug – zwei Bürsten, einen Pinsel und eine runde Palette – zu sehen ist. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass diese Utensilien auf einer Leinwand angebracht und so Teil einer weiteren Arbeit mit dem Titel Brosses et pinceau1046 (1972) sind. Tatsächlich handelt es sich aber bei der Assemblage, an der Tàpies noch Arbeitsschritte auszuführen scheint, um ein Werk, das – wie die meisten anderen Gemälde im Atelier – bereits 1972 fertiggestellt wurde. Da Lee Miller den Künstler aber erst 1973 porträtierte, handelt es sich eindeutig um eine Inszenierung, die eine unmittelbare Arbeit am Werk vortäuscht und durch die Tàpies als Schöpfer der gezeigten Werke angesprochen werden soll.

Wie bei Oskar Kokoschka (1950) und Roland Penrose (1937) war Lee Miller an der Darstellung einer Arbeitssituation interessiert, nicht aber an den unterschiedlichen Phasen der Bildwerdung1047. So spielt es in diesem Fall keine Rolle, dass ein bereits vollendetes Gemälde oder Objekt in einer vermeintlichen Arbeitssituation zu sehen ist. Zwar wird das Werk, an dem Tàpies gerade zu arbeiten scheint, in der vordersten Bildebene gezeigt, doch verliert es aufgrund der nicht optimalen Präsentation und der nur partiellen Wiedergabe viel von der Bedeutung, die ihm in dieser prominenten Position eigentlich zukommen müsste. Tàpies, der im Mittelpunkt der Komposition steht, und seine Tätigkeit werden zum zentralen Element in der Darstellung, nicht aber die Assemblage selbst.

Dies zeigen auch zwei weitere Fotografien1048, die den Künstler in der gleichen Situation in einer leicht modifizierten Haltung zeigen. Während diese drei Aufnahmen aus einer gewissen Distanz aufgenommen wurden, die die ganzfigurige Darstellung des am Boden hockenden Künstlers erlaubte, wählte Miller für weitere Fotografien – wie auch schon bei ihren Besuchen in Stróbls Atelier in Budapest um 1945 und in der Pariser Werkstatt von Picasso Ende 19441049 – einen erhöhten Standort und bindet den Künstler so in einen weiter gefassten Bildraum ein. Tàpies ist in diesen Darstellungen1050 mit einer größeren Anzahl an aktuellen Werken zu sehen, die als ein Zeichen für seinen derzeitigen Erfolg und seine große Kreativität stehen. Hierzu zählt unter anderem das unmittelbar hinter ihm dargestellte Werk Pantalon sur châssis von 1971.1051 In diesen Fotografien hantiert der Künstler an seinem Werk oder greift nach dem auf der Palette aufbewahrten Pinsel und suggeriert so eine Arbeitssituation, doch blickt er währenddessen direkt auf Miller, so dass die Aufnahmen inszeniert wirken.

1046 „Brosses et pinceau. 1972. Peinture et assemblage sur toile, 73 x 116 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2475, S. 264. 1047 Vgl. Kap. 4.1.4.2.4 und 4.1.4.2.1. 1048 LMA, Inv. Nr. A 0612 und A 0614. 1049 Vgl. Kap. 4.1.2.2.2 und 4.1.2.2.1. 1050 LMA, Inv. Nr. A 0608, A 0609, A 0610, A 0611. 1051 „Pantalon sur châssis. 1971. Peinture et assemblage sur le dos de la toile, 130 x 195 cm, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2317, S. 192. Penrose 1985b, Abb. 107, S. 156. 227

Auch bei den anderen Arbeiten, die im Atelier aufbewahrt wurden und von denen Tàpies umgeben ist, handelt es sich um aktuelle Schöpfungen des Künstlers: so fotografierte Miller Tàpies auch mit Corde et bleu1052 (1971), Chaussette1053 (1971), Porte ficellée1054 (1971), Serviette1055 (1971), Gris aux deux bandes collées1056 (1972), Grands ocre aux empreintes de pieds1057 (1972), Ocre et noir à l’étoffe collée1058 (1972) oder Caisse à la chemise rouge1059 (1972).

Lee Miller fotografierte Tàpies nicht nur bei der scheinbaren Arbeit am Werk, sondern auch in einer vorbereitenden Phase im Werkprozess, wobei der Porträtierte keine Notiz von der Fotografin nahm, so dass die Aufnahmen spontan und ungestellt wirken. Acht Fotografien1060 Millers zeigen den Künstler in einem Bereich seines Ateliers, in dem er augenscheinlich seine Werkstoffe aufbewahrte: Eimer, Dosen mit Pinseln, Pappen, Papier, Säcke, Draht und andere Gegenstände, die nicht zu erkennen sind, lagern scheinbar ungeordnet am Boden. Tàpies ist in diesem Chaos zu sehen, wie er das Material überblickt oder einzelne Dinge in die Hand1061 nimmt und konzentriert betrachtet, um so vielleicht Ideen für neue Werke zu finden. Der betreffende Bereich des Ateliers war aber nicht nur der Lagerung von Materialien vorbehalten: hinter Tàpies ist so eines seiner allgegenwärtigen Werke – das großformatige Gemälde Ocre aux taches bleues1062 von 1972 – zu sehen.

1052 „Corde et bleu. 1971. Crayon et assemblage sur toile, 195 x 170 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2337, S. 201 (vgl. LMA, Inv. Nr. A 0674). „Sofa à l’ovale ou meuble rose. 1972. Technique mixte sur bois, 195 x 170 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2515, S. 281 (vgl. LMA, Inv. Nr. 0575). Penrose 1985b, S. 127, Abb. 92. 1053 „Chaussette. 1971. Peinture et collage sur toile, 66 x 81 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2448, S. 246 (vgl. LMA, Inv. Nr. A 0677). Penrose 1985ab, Abb. 105, S. 154. 1054 „Porte ficellée. 1971. Technique mixte et assemblage sur toile, 200 x 270 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2329, S. 197. (vgl. LMA, Inv. Nr. A 0677). Penrose 1985b, S. 69, Abb. 41. 1055 „Serviette. 1971. Technique mixte sur objet, 76 x 162 x 16,5 cm”, Abb. in Agustí 1999, Kat. Nr. 2380, S. 218. Penrose 1985b, S. 1929, Abb. 95. 1056 „Gris aux deux bandes collées. 1972. Technique mixte sur toile, 89 x 146 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2476, S. 264 (vgl. LMA, Inv. Nr. A 0562 bis 0565) 1057 „Grand ocre aux empreintes de pieds. 1972. Technique mixte sur bois, 200 x 276 cm”, Abb. in Agustí 1999, Kat. Nr. 2545, S. 295 (vgl. LMA, Inv. Nr. A 0562 bis 0565 und A 0575 bis 0577). 1058 „Ocre et noir à l’étoffe collée. 1972. Technique mixte sur bois, 170 x 195 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2460, S. 257 (vgl. LMA, Inv. Nr. A 0608, 0610, 0611). 1059 „Caisse à la chemise rouge. 1972. Assemblage sur bois, 182 x 240 x 26,5 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2457, S. 255 (vgl. LMA, Inv. Nr. A 0615). 1060 LMA, Inv. Nr. A 0566, A 0567, A 0568, A 0569, A 0570, A 0571, A 0572 (Abb. in: Penrose 1985a, S. 209 = Fotografie 75), A 0573. 1061 LMA, Inv. Nr. A 0570, A 0571. 1062 „Ocre aux taches bleues. 1972. Technique mixte sur toile, 130 x 162 cm”, Abb. in: Agustí 1999, Kat. Nr. 2491, S. 271. Penrose 1985b, Abb. 48, S. 76–77. 228

Miller fotografierte Tàpies immer aus einer größeren Distanz und stellte den Künstler so in den acht Fotografien in ganzer Figur – im Stehen oder in der Hocke – im Mittelgrund bzw. Hintergrund des Bildes dar. In der Aufnahme LMA, Inv. Nr. 0572 (Fotografie 75)1063 sind in der vordersten Bildebene Gerätschaften und Materialien zu sehen, wobei es sich um vier Eimer und scheinbar um zerknüllte Papiere oder Leinwände handelte, die vom rechten und vom unteren Bildrand angeschnitten werden. Die Eimer, die im linken unteren Bilddrittel dargestellt sind, werden durch ihre dunkle Farbe noch vor dem rechts im Bild dargestellten hellen Papierknäueln bzw. der zerknüllten Leinwand wahrgenommen. Durch die ähnlichen Farbwerte wird zudem eine Verbindung zwischen den dunklen Eimern und Tàpies’ dunkler Kleidung geschaffen: auf diese Weise wird der Blick des Betrachters vom Vordergrund des Bildes (den Eimern) über einen Leerraum zu dem in der mittleren Bildebene dargestellten Künstler geleitet. Tàpies und die Eimer sind auf einer aufsteigenden Diagonalen dargestellt, die von der linken unteren Ecke des Bildes zur oberen rechten verläuft: Tàpies’ Körperhaltung wirkt so in dieser Aufnahme dynamisch und aufstrebend, obwohl der Künstler in der Hocke zu sehen ist. Tàpies ist zudem im Schnittpunkt der Diagonalen mit der vertikalen Mittelachse dargestellt worden, so dass er in der Aufnahme zusätzlich betont wird. Die Tonwerte der dargestellten Materialien kontrastieren mit denen des Gemäldes Ocre aux taches bleues, das die Komposition in der linken oberen Bildhälfte nach hinten abschließt und das in der Aufnahme fast optimal – unverdeckt und nur mit einer leichten perspektivischen Verkürzung – präsentiert wird. Während die Materialien, die fast überall im Bild zu sehen sind und aus denen der Künstler vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt noch neue Werke schaffen wird, nur eine geringe Ordnung aufweisen, ist das Gemälde als ein Kunstwerk unter ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet worden und lässt so eine größere Ordnung erkennen.

Egal in welcher Situation oder welchem Ambiente Antoni Tàpies dargestellt ist, ob er bei der künstlerischen Arbeit zu sehen ist oder in seiner Bibliothek posiert – er trägt in Millers Fotoserie immer die gleiche Kleidung. Sein dunkles Hemd, das er am Hals lässig offen trug, und seine ebenfalls dunkle Hose wirken zeitlos, zurückhaltend und modisch zugleich und erinnern an den Kleidungsstil von Pablo Picasso, der sich in den fünfziger Jahren von Lee Miller und anderen Fotografen – entgegen der Konvention – nicht in einem repräsentativen Anzug mit Hemd und Krawatte, sondern in Freizeit- oder Alltagskleidung porträtieren ließ. Selbst Joseph Beuys wählte für sein Porträt, das Fritz Getlinger im Sommer 1950 von dem jungen Künstler aufnahm und das ihn in einer gestellten Arbeitssituation im Atelier von Hanns Lamers zeigt, ein elegantes weißes Hemd und ein dunkles Jackett, also eine Kleidung, in der er wohl kaum gearbeitet haben dürfte.1064

1063 Fotografie 75 = Abb. in: Penrose 1985a, S. 209. 1064 Abb. in: Klant 1995, S. 146, Abb. 152 und S. 147, Abb. 153s. 229

4.2 Künstler ohne Werk: der porträtierte Künstler als Jedermann

Lee Miller fotografierte bildende Künstler sehr häufig mit berufstypischen Accessoires und band die Protagonisten so in ein künstlerisches Ambiente ein, das einen mehr oder weniger konkreten Rückschluss auf ein entsprechendes berufliches oder privates Engagement des Dargestellten im Bereich der bildenden Kunst zuließ. Neben diesen traditionellen Künstlerporträts, die einen Großteil von Millers Œuvre ausmachen, stellen aber die Aufnahmen, die die fotografierte Person ohne ein Werk oder entsprechende Utensilien und somit ohne einen Hinweis auf ihre Künstlerrolle zeigen, einen weiteren Schwerpunkt dar. In diesen Fotografien kann der Porträtierte nur anhand seiner äußeren Erscheinung identifiziert und so als Künstler angesprochen werden, was beim Betrachter der Aufnahme aber ein bestimmtes Wissen voraussetzt, wobei Informationen über prominente Künstler natürlich leichter verfügbar sind als über weitgehend unbekannte. Ansonsten unterscheidet die Protagonisten in diesen Darstellungen nichts von den anderen, von Miller porträtierten Nicht-Künstlern: wie diese sind sie in ihrer alltäglichen Lebenswelt nicht nur bei besonderen Anlässen, sondern vor allem bei ihren Freizeit- und Urlaubsaktivitäten sowie der Arbeit in Haus und Garten zu sehen. Da es sich bei diesen Aufnahmen also nicht um Künstlerporträts im konventionellen Sinn handelt, kommt dieser Gruppe von Fotografien in der vorliegenden Arbeit nur eine sekundäre Bedeutung zu.

Die Fotografin war mit den meisten ihrer Modelle – wie Pablo Picasso oder auch Max Ernst – über eine lange Zeit mehr oder weniger eng befreundet, so dass sie bei vielen Gelegenheiten in deren alltäglichem Leben nicht – wie andere Fotografen – als eine Art Eindringling zugegen war, sondern selbstverständlich als Freundin teilnahm. Miller hatte als Insider die Möglichkeit, viele Aspekte des gewohnten Lebens ihrer mehr oder weniger prominenten Freunde und Künstlerkollegen im Bild festzuhalten. Ihre Aufnahmen, die so fast ausschließlich als freie Arbeiten angesehen werden können und sozusagen einen Einblick in Lee Millers privates Fotoalbum bieten, zeigen Pablo Picasso beim Essen, im Kreis seiner Familie, beim Feiern mit seinen Freunden oder beim Musizieren mit Jean Cocteau sowie Max Ernst beim Hausbau, bei der Gartenarbeit oder während eines Urlaubs im sonnigen Süden. Wir sehen Man Ray, Roland Penrose oder Paul Eluard zusammen mit ihren Frauen beim ‚süßen Nichtstun‘, Gino Severini und Henri Moore in Venedig während ihrer Cocktailstunde auf der Piazza San Marco, Dorothea Tanning bei Elektroarbeiten, Renato Guttuso beim Kochen oder Joan Mirò beim Besuch im Zoo. Auffallend ist, dass die Protagonisten auch in dieser meist ungezwungenen und lockeren Atmosphäre fast immer eine Pose einnehmen und nur in wenigen Fällen in einem unbeobachteten Moment fotografiert wurden.

Neben diesen Fotografien, für die die Porträtierten in ihren alltäglichen Aktivitäten jenseits der Kunst inne gehalten haben, um sich für Miller in Positur zu stellen, gibt es Aufnahmen, die als das Ergebnis von fast schon klassisch zu nennenden Porträtsitzungen angesehen 230 werden können. Diese Bilder entstanden aber nur in Einzelfällen in einem Fotostudio1065, als Aufnahmeort dienten die Wohnungen und Häuser der Porträtierten oder die Gegend um ihre Domizile und Urlaubsorte, wobei sie vor einem Landschaftshintergrund oder einer Architekturkulisse aufgenommen wurden. Dieses Ambiente verleiht den Fotografien einen informellen Charakter, obwohl die Künstler, die sich in ihrer Rolle als Jedermann präsentieren und speziell für Miller Modell gestanden haben, in traditionellen Ansichten und konventionellen Ausschnitten zu sehen sind. Durch eine ungewöhnliche Perspektive oder Inszenierung erzielt Miller in einzelnen Aufnahmen überraschende Effekte.

Auch wenn es sich bei den Porträts des Künstlers als Jedermann um herkömmliche, auch bei Amateuren sehr beliebte Motive handelt, darf man doch nie vergessen, dass Lee Miller eine professionelle Fotografin war. Die Mehrzahl ihrer informellen Fotografien ist so sehr sorgfältig arrangiert und komponiert worden.

4.2.1 Porträts von 1929 – 1940

In den Jahren von 1929 bis 1940 sind im Œuvre Millers nur wenige Porträts von bildenden Künstlern nachweisbar. Dies betrifft gleichermaßen die Aufnahmen, in denen die Protagonisten über berufsspezifische Werkzeuge oder die Darstellung im Atelier als Künstler stilisiert werden oder aber ohne die typischen Accessoires, in ihrer Rolle als Jedermann, zu sehen sind.

Während die frühesten erhaltenen Fotografien eines Künstlers mit seinem Werk 1933 in New York aufgenommen worden sind1066, porträtierte Lee Miller schon ca. vier Jahre zuvor, also in ihrer Anfangszeit als Fotografin, in Paris Man Ray1067 (um 1930/31) und Max Ernst1068 (um 1929) als Jedermann. Hierbei handelt es sich um völlig unspektakuläre Studiofotografien, die die Porträtierten in gewohnten Ansichten und Ausschnitten zeigen und die sich nicht von den

1065 Lee Miller standen lediglich von 1930 bis 1934 in Paris und New York zwei eigene Studios zur Verfügung, von 1940 bis in die 1950er Jahre konnte sie als Fotografin der britischen Vogue in den Londoner Ateliers dieser Modezeitschrift arbeiten. Während die Gesellschaftsporträts, die Miller als Auftragsarbeiten in Paris, New York und London aufnahm, in den jeweiligen Studios entstanden sind, sind nur wenige Beispiele nachweisbar, die einen bildenden Künstler mit oder ohne Werk in diesem Ambiente zeigen. Zu diesen gehören, neben den Porträts von Joseph Cornell (vgl. Kap. 4.1.1.1) und Man Ray (Abb. in: Penrose 1985a, S. 23 oben rechts. Livingston 1989, S. 41. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 25. Calvocoressi 2002, S. 19), auch die Aufnahmen, die Max Ernst allein oder zusammen mit Dorothea Tanning (London, 1950) (Einzelporträts Max Ernst: SWA LMA, Inv. Nr. A 0874, A 0877 und in Penrose 1981b, S. 286, Abb. 686 publiziertes Porträt. Doppelporträt Ernst/Tanning: SWA LMA, Inv. Nr. A 0857) respektive seiner Frau Marie-Berthe (Paris, 1929) (Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 63) zeigen. 1066 Porträtserie von Joseph Cornell, vgl. Kap. 4.1.1.1. 1067 Man Ray, LMA, ohne Inv. Nr., Abb. in: Penrose 1985a, S. 23 oben rechts. Livingston 1989, S. 41. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 25. Calvocoressi 2002, S. 19. Vgl. auch die Aufnahme LMA, Inv. Nr. NC 0024, Abb. in: Penrose 2002, S. 31. 1068 Max Ernst und seine damalige Frau Marie-Berthe, LMA, ohne Inv. Nr., Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 63. 231 im gleichen Zeitraum im Studio entstandenen, kommerziellen Gesellschaftsporträts Man Rays unterscheiden.

Nur wenige der Fotografien, die die Protagonisten in ihrer Rolle als Jedermann zeigen, sind in einem Fotostudio aufgenommen worden. Miller fotografierte ihre Freunde und Künstlerkollegen aber sehr häufig im Freien, wo sie vor wechselnden Kulissen posierten. In diesen Aufnahmen sind die Porträtierten in meist herkömmlichen Ansichten und Ausschnitten vor hellen Außenwänden zu sehen oder werden allein vom Himmel hinterfangen, so dass nichts von ihrer Person ablenkt. Andere Aufnahmen zeigen sie vor mit Blattwerk bewachsenen Mauern oder in mediterraner Architektur und Landschaft in leger Kleidung, wodurch deutlich wird, dass die Porträtierten im Urlaub oder in ihrer Freizeit fotografiert wurden.

Die frühesten Aufnahmen, in denen die porträtierten Künstler im Freien in einer ‚lockeren‘ Atmosphäre in ihrer Rolle als Jedermann dargestellt werden, datieren in den Juli 1937. In diesem Jahr hielt sich Lee Miller, die Paris 1932 mit dem Ziel New York verlassen hatte und seit 1934 in Ägypten lebte, erstmals wieder in Europa auf. Für einen kurzen Urlaub war sie nach Paris zurückgekehrt, wo sie mit alten Freunden wie Max Ernst zusammentraf und neue Freunde wie Roland Penrose kennen lernte. Dieser lud sie zu einem ungezwungenen Treffen surrealistischer Künstler, zu denen heute so illustre Dichter, Bildhauer, Fotografen und Maler wie Paul Éluard, Man Ray, Eileen Agar, E.L.T. Mesens, Max Ernst und Leonora Carrington zählten, nach Cornwall, genauer gesagt in einen kleinen Ort namens Lamb Creek, ein. Dort fotografierte Lee Miller im Juli 1937 auch Paul und Nusch Eluard sowie E.L.T. Mesens, Max Ernst und Leonora Carrington, Ernsts neue Liebe, die er erst kurz zuvor in London während einer Ausstellung seiner Werke in der Mayor Gallery kennen gelernt hatte.

In drei der Aufnahmen (vgl. Fotografie 76: Ausschnitt)1069 sind Carrington und Ernst als Halbfiguren Vordergrund des Bildes zu sehen, wobei sie ihre Köpfe und Oberkörper einander zuwenden. Mesens, der sich während der Aufnahme hinter dem Paar befand, wird so weitgehend verdeckt. Nur sein Kopf überragt die Köpfe von Carrinton und Ernst, die etwa auf einer Höhe dargestellt sind. Durch die Nähe Lee Millers zu ihren Modellen und eine leichte Untersicht wird die Landschaft, in der die Porträtierten für Miller posierten, vollständig ausgeblendet, so dass die Gruppe vor einem endlos scheinenden Himmel zu sehen ist.1070

1069 SWN LMA, Inv. Nr. A 0733, A 0734, A 0738 und A 0737, Negativformat 6 x 6 cm. (Abb. von LMA, Inv. Nr. A 0734 in: Berger 2000, S. 132 (= Fotografie 76). LMA, Inv. Nr. A 0737 in: Penrose 1981b, S. 107. Das Negativ LMA, Inv. Nr. A 0735 zeigt Paul und Nusch Éluard in einem Doppelporträt, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 40). Vgl. auch das konventionelle Porträt von Max Ernst, das ihn vor einer Naturkulisse zeigt, LMA, Inv. Nr. A 0881. 1070 Dies ist auch der Fall in einer weiteren Aufnahme, in der zusätzlich zu Carrington, Ernst und Mesens auch Paul Éluard zu sehen ist (SWN LMA, Inv. Nr. A 0737, Negativformat 6 x 6 cm, Abb. in: Penrose 1981b, S. 107. J. Ernst, Erinnerungen 1991, S. 160. Das Negativ LMA, Inv. Nr. A 0735 zeigt Paul und Nusch Éluard in einem Doppelporträt, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 40). Die Nahaufnahme in Verbindung mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Untersicht wurde von Lee Miller nicht nur Ende der 1930er Jahre im Bereich des Künstlerporträts eingesetzt, sondern auch (ff) 232

Lee Miller porträtierte ihre surrealistischen Freunde mit ihrer Spiegelreflexkamera Rolleiflex, die eine bestimmte Kamerahaltung voraussetzte und somit dem Fotografen eine bestimmte Ansicht vorgab.1071 Sowohl Mesens als auch Carrington und Ernst sind von Miller in Untersicht dargestellt worden, was zeigt, dass diese nicht als technische Konsequenz – bedingt durch die spezielle Handhabung der Kamera – angesehen werden kann: Miller hatte vielmehr die Absicht, ihre Modelle in Untersicht abzubilden, was ein entscheidender Faktor für die isolierte Darstellung der Personen vor der Kulisse des Himmels war. Die Fotografin muss für die Aufnahmen also vor ihren Modellen in die Knie gegangen sein.

Obwohl es sich bei diesen Aufnahmen nicht um typische Urlaubsszenen handelt und sie nach formal strengen Kriterien konzipiert worden sind, finden sich witzige Akzente: so führt Mesens im Porträt LMA, Inv. Nr. A 0734 (Fotografie 76: Ausschnitt) die Köpfe des Liebespaares Ernst und Carrington in Art eines Amors eng zusammen. Witzig ist nicht zuletzt auch die Kleidung von Ernst, der scheinbar in einem getupften Bademantel porträtiert wurde, den er über ein Hemd gezogen hatte, während Carrington einen hellen Tweedmantel trug. Eine andere Aufnahme1072, die eher Urlaubsflair vermittelt, zeigt Carrington in dem betreffenden Bademantel, den sie, vielleicht während eines Sonnenbades, weit offen trägt, während Max Ernst ihre nackten Brüste mit seinen Händen bedeckt.

Dass Lee Miller die Nahaufnahme bewusst mit einer mehr oder weniger extremen Untersicht kombinierte und so den umgebenden Raum weitgehend ausblendete, zeigen auch zwei weitere Fotografien, die nur rund einen Monat nach der Fotoserie in Lamb Creek entstanden sind, also in den August 1937 datieren. In Mougins, wo Miller und Penrose im Anschluss an ihren rund einmonatigen Aufenthalt in Cornwall ihren Urlaub in Gesellschaft von Pablo Picasso, Dora Maar1073, Paul Éluard und Nusch Éluard1074 sowie Eileen Agar und Joseph Bard verbrachten, porträtierte Miller die ehemalige Zirkusartistin und surrealistische Muse Nusch in Penroses offenen Automobil vor der Kulisse eines wolkenlosen Himmels. Nur der

Anfang der 1950er Jahre. Die Porträts, die um 1950 oder 1953 in Golfe Juan, also wieder an der französischen Mittelmeerküste während eines Aufenthaltes von Miller und Penrose bei Picasso entstanden sind, zeigen den Dichter und Maler Jean Cocteau (SWN LMA, Inv. Nr. P 0171B, P 0175, P 0176, P 0182, vgl. auch P 0472). Die Serie, die mindestens zwölf Fotos (SWN LMA, Inv. Nr. P 0171B bis P 0182) umfasst, wurde wahrscheinlich mit Millers Rolleiflex aufgenommen, wie aus der Negativgröße von 6 x 6 cm ersichtlich ist. Miller porträtierte die Künstler während eines Essens, das vermutlich in einem Restaurant stattfand, wie der Serienzusammenhang zeigt. Aufgrund der geringen Distanz zwischen Miller und Cocteau und die gewählte Untersicht ist dieser Zusammenhang in den Porträts nicht mehr nachollziehbar. In den Einzelporträts (SWN LMA, Inv. Nr. P 0171B, P 0175, P 0176) ist der französische Künstler vielmehr vor einem hellen, neutralen Hintergrund zu sehen. Vgl. auch die Aufnahme in: Penrose 1981b, S. 206, Abb. 509. 1071 Zur Rolleiflex und ihrer Handhabung vgl. Kap. 4.1.1.2. Da die Rolleiflex während der Aufnahme in Höhe des Oberkörpers gehalten wurde, damit der Fotograf von oben in den Lichtschacht hineinblicken konnte, ergab es sich, dass stehende Modelle in einer leichten Untersicht abgebildet wurden, während sitzende Modelle frontal dargestellt wurden. 1072 SWN LMA, Inv. Nr. A 0736. 1073 Zur Biografie und Persönlichkeit Dora Maars siehe: Ausst. Kat. Chemnitz 2002/03, S. 206 – 215. 1074 Zur Biografie und Persönlichkeit Nusch Éluards siehe: Ausst. Kat. Chemnitz 2002/03, S. 192 – 201. 233

Kopf der Porträtierten ragt in der Fotografie LMA, Inv. Nr. P 1038 (Fotografie 77)1075 aus dem in Nahaufnahme wiedergegebenen Wagen hervor. Auch dieses Foto weist eine klare formale Gliederung, die in diesem Fall vor allem durch ein diagonales und vertikales Liniensystem bestimmt wird, auf. Die ungewöhnliche Perspektive verleiht dieser Aufnahme einen surrealistischen Akzent: der Kopf von Nusch Éluard wird – wie schon in den Porträts von Tanja Ramm (1930)1076 – in der Darstellung vom Körper isoliert, so dass er wie ‚abgehackt‘ wirkt. Diese Isolation des Kopfes wird durch den starken Kontrast zwischen Mensch und Technik, also zwischen Dora Maar und dem Auto, noch gesteigert.

In extremer Untersicht sind Nusch Éluard und der Kühler des Wagens, vor dem sie steht, in der zweiten Aufnahme1077 zu sehen, so dass sie im Bild steil aufragen und fast schon an ‚Wolkenkratzer‘ erinnern. Auch dieses Foto erhält durch die ungewöhnliche Perspektive eine besondere, surrealistische Note, die sich in den nur einen Monat zuvor in Lamb Creek entstandenen, konventionellen Gruppenporträts von Mesens, Ernst und Carrington allerdings nicht findet.

Auch die in Mougins aufgenommenen Fotografien weisen ein ausgeprägtes orthogonales und so sehr statisches Ordnungssystem auf, das sehr viele von Millers späteren Aufnahmen kennzeichnet. In diesen Bildern wird zum Teil nur über die lässige Kleidung der Porträtierten wie beispielsweise Picassos getupften Anzug oder dessen geringeltes T-Shirt (Roland Penrose nannte es ein „Matrosenleibchen“) Urlaubsstimmung verbreitet. Miller porträtierte ihre Modelle, die in Sitzhaltung bis zur Brust oder zur Taille dargestellt sind, zwar aus einer relativ geringen Distanz, ohne sie aber gleichzeitig in Untersicht abzubilden, was dafür spricht, dass Miller vor ihren Modellen stand und ihre Rolleiflex1078 in der für diese Kamera typischen Handhabung vor dem Bauch hielt. Auf diese Weise wird der umgebende Raum nicht ausgeklammert, wie dies bei den Porträts von Carrington, Ernst und Mesens zu beobachten war, sondern ist zu einem großen Teil in der Aufnahme sichtbar. In diesen Einzelporträts posieren Dora Maar (Fotografie 78)1079 und Pablo Picasso (Fotografie 79)1080 in konventionellen Haltungen1081 vor einer durch Blattwerk und Blüten akzentuierten Mauer oder vor der Kulisse des Innenhofs des Hotels Vâste Horizon.

Auch in typischen Urlaubsszenen, zu denen gemeinsame Sonnenbäder am Strand oder Picknicks gehören, waren sich die Künstler der Gegenwart Millers bewusst. In dieser

1075 Fotografie 77 = SWA LMA, Inv. Nr. P 1038, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 45. 1076 Vgl. Kap. 4.1.1.1. 1077 SWA LMA, ohne Inv. Nr., Abb. in: Calvocoressi 2002, Titelblatt. 1078 Vgl. Kap. 4.1.1.2. 1079 Fotografie 78 = Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 46. Ein weiteres Porträt der Künstlerin von Lee Miller findet sich in: Penrose 1981b, S. 88, Abb. 216. Caws 2000, S. 133. 1080 Fotografie 79 = Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 47. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 50. Vgl. auch das Porträt LMA, Inv. Nr, P 0532, Negativformat 6 x 6 cm. 1081 Vgl. ein 1933 in Millers New Yorker Studio aufgenommenens Porträt des Choreographen Frederick Ashton., der in einer ähnlichen Pose wie Picasso 1937 in Mougins dargestellt ist, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 34. 234 gelösten Atmosphäre sind sie zwar nicht in den klassischen Porträthaltungen zu sehen, doch selbst wenn sie am Strand stehen1082, auf einem Handtuch liegen1083 oder - wie Man Ray und seine Freundin Ady Fidelin - Rücken an Rücken am Boden sitzen1084 oder sich zärtlich küssen1085, scheint es, als ob sie in ihren Aktivitäten für ihr Porträt inne halten.

Eine Serie von mindestens drei Fotografien1086 zeigt Paul und Nusch Éluard, Man Ray und Ady sowie Roland Penrose im August 1937 in Mougins während eines Picknicks im Grünen. Eines dieser Fotos, aus denen die pure Lust und Lebensfreude spricht und die Assoziationen an Manets Déjeuner sur l’herbe1087 hervorrufen, zählt mit zu den berühmtesten und häufig publizierten Aufnahmen Millers (Fotografie 80)1088.

Wie in Manets Gemälde haben sich die Künstler auf einem Tuch im Gras ausgestreckt, gruppieren sich aber um einen niedrigen Tisch. Bei Manet wurde durch die Gegenüberstellung von vollständig bekleideten Männern und einer nackten Frau, deren Blöße nicht mythologisch verklärt wurde, ein starker Kontrast evoziert, der zur damaligen Zeit einen Skandal provozierte. Dieser Gegensatz zwischen den in Freizeitkleidung dargestellten surrealistischen Künstlern und ihren halbnackten Musen springt auch in Millers Foto sofort ins Auge. In dem von Savoir-vivre und Laisser-faire geprägten Ambiente liebkost Paul Éluard seine Frau Nusch und wird dabei von Man Ray und Ady mit einem Lächeln beobachtet, während Roland Penrose sein Gesicht der Sonne entgegenstreckt: von der Fotografin nimmt also keiner der Porträtierten Notiz, so dass die Szene spontan und ungestellt wirkt.

Miller stellt ihre Freunde im Vordergrund des Bildes dar: auf der linken Seite des schmalen, länglichen Tisches, der schräg nach links ins Bild hinein verläuft, sind Nusch und Paul Éluard zu sehen, während Man Rays Freundin Ady, Man Ray und Roland Penrose rechts vom Tisch Platz genommen hatten. Es fällt auf, dass Penrose als einziger der Porträtierten direkt in der Sonne dargestellt ist – was der besonderen Bedeutung entspricht, die der surrealistische Künstler für Miller durch ihre gemeinsame Liebesbeziehung zweifellos hatte: Miller und Penrose hatten sich erst kurze Zeit zuvor kennen gelernt und waren sozusagen ‚frisch verliebt‘. Die anderen Personen werden im Halbschatten wiedergegeben und nur partiell von der Sonne beschienen, so dass sich auf ihren Körpern wenige, helle Lichtreflexe

1082 SWN LMA, Inv. Nr. P 1018, 1030, 1039. 1083 SWN LMA, Inv. Nr. P 1016, 1020, 1022, 1023. 1084 SWN LMA, Inv. Nr. P 1032, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 48. 1085 SWN LMA, Inv. Nr. P 0141 (Abb. in: Livingston 1989, S. 57) und P 0143. 1086 SWN LMA, Inv. Nr. P 0146 (Abb. in: Penrose 1985a, S. 76. Penrose 2001, S. 47 unten. Calvocoressi 2002, S. 49. Livingston 1989, S. 55. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 26 (= Fotografie 80). Colvile 1998, S. 137. Hörner 2002, S. 65) und LMA, Inv. Nr. P 0147. In zwei weiteren Porträts, die von Roland Penrose aufgenommen wurden, ist auch Lee Miller dargestellt, Abb. in: Ausst. Kat. London 2002, S. 163, Fig. 151. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 75, Abb. oben rechts. Caws 2000, S. 134–135. 1087 Hans Körner, Edouard Manet: Dandy, Flaneur, Maler, München 1996, S. 62ff, Abb. 49. Kathleen Adler, Manet, London 1986, Taf. 31, vgl. auch S. 45ff. 1088 Fotografie 80 = Abb. in: Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 26. 235

abzeichnen. Das Picknick der Surrealisten fand anscheinend auf einer Wiese statt, die von Bäumen umstanden war. Das Sonnenlicht schien so nicht direkt auf die Grasfläche, sondern auf die unterschiedlich hohen Bäume, die im Hintergrund des Bildes zu sehen sind und deren Kronen helle Reflexe aufwiesen. Diese unregelmäßigen Reflexe des Lichtes akzentuieren in Millers Aufnahme auch einen Weg, der in der mittleren Ebene des Bildes dargestellt ist. Wie das Licht setzen in der Fotografie auch die hellen Teller, die vor den Protagonisten auf dem dunklen Tisch stehen, sowie die helle Schirmmütze Man Rays Akzente und fördern so die ‚scheinbare Zufälligkeit des Eindrucks‘.

Nachdem sich die politische Weltlage Ende der 1930er Jahre dramatisch verschärft hatte und der 2. Weltkrieg drohend bevorstand, waren Lee Miller und Roland Penrose im Sommer 1939 – kurz nach Millers Übersiedlung nach Großbritannien – noch einmal auf den Kontinent gereist, um Picasso und Ernst zu besuchen.

Auf dieser Reise, die die beiden per Auto quer durch Frankreich führte, machten sie zunächst in Saint-Martin d’Ardèche, wo Max Ernst zusammen mit Leonora Carrington seit 1938 in einem kleinen Haus lebte, Station. Lee Miller schuf während dieses mehrtägigen Aufenthaltes, der sicher in den August 19391089 datiert werden kann, eine aus mindestens neun Aufnahmen bestehende Fotoserie (vgl. Fotografien 81 und 82)1090 von Leonora Carrington (*1917). Carrington posiert im Sitzen vor einer hellen Wand, die durch den Putz eine gewisse Struktur erhält, und wird in leichter Aufsicht und in gewohnten Ausschnitten (frontal oder im Dreiviertelprofil, im Brustbild oder bis zur Hüfte) wiedergegeben.

Vor der gleichen Außenwand wurde auch die argentinische Malerin Léonor Fini (Buenos Aires, 1908 – 1996), eine Freundin Carringtons, während Millers Besuch in Saint-Martin porträtiert. Diese Bilder (vgl. Fotografie 83)1091 erinnern durch die Posen der Künstlerin und die Ansichten, in denen sie zu sehen ist, stark an die Fotoserie von Leonora Carrington. Übereinstimmung gibt es auch bei der ungewöhnlichen Kleidung der beiden surrealistischen Malerinnen, die reichbestickte Spitzenblusen mit weiten, langen Ärmeln und

1089 Whitney Chadwick datiert den Besuch in den Juni 1939, doch hielten sich Lee Miller und Roland Penrose wahrscheinlich im August 1939 mehrere Tage in Saint-Martin d’Ardèche auf (Chadwick 1993, S. 80. Den Monat Juni nennt R. Penrose in seinem Scrapbook, S. 122 aber lediglich als Zeitpunkt für Millers endgültige Übersiedlung von Ägypten nach Großbritannien). Im Anschluss an ihren dortigen Aufenthalt trafen Miller und Penrose Dora Maar und Picasso in Antibes, wo der Überfall Hitlers auf Polen am 1. September 1939 und der anschließende Ausbruch des 2. Weltkrieges am 3. September 1939 ihre sofortige Rückreise nach Großbritannien unumgänglich machte. 1090 SWN LMA, Inv. Nr. A 0193, A 0194, A 0195, A 0196, A 0197, A 0198, A 0199, A 0200 und A 201 (Doppelporträts Carrington/Ernst). Abb. von A 193, A 0199, A 0201 in: Chadwick 1993, Abb. 57 (= Fotografie 81), 66, 67. Vgl. auch die Abb. 69. Abbildung von LMA, Inv. Nr. A 0197 in: Colvile 1999, S. 61 (= Fotografie 82). Abbildung von LMA, Inv. Nr. A 0194 und A 0201 in: Penrose 1981b, S. 123, Abb. 299 und 300. Abb. von A 0199 in: Ausst. Kat. London 2002, S. 165, Fig. 156. 1091 SWN LMA, Inv. Nr. A 0212, A 0213, A 0214, A 0215, A 0216 (Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 43) (= Fotografie 83), A 0217. 236

weitschwingende Röcke im folkloristischen Stil trugen. Léonor Fini komplettierte ihren ‚Ethno-Look‘ zusätzlich mit einer großen Feder, die sie sich ins Haar gesteckt hatte, so dass sie – wie Max Ernst in seiner Rolle als Schamane1092 (Sedona 1946) – wie eine Angehörige einer alten Kultur wirkt und auf diese Weise etwas über ihr von den Surrealisten geteiltes Interesse an der Lebensweise dieser Völker verrät.

Die 1939 in Saint-Martin d’Ardèche entstandenen Porträtserien sind über den Stil der Bekleidung der Protagonistinnen kaum datierbar, auch die Komposition und die Inszenierung der Aufnahmen sind konventionell, was man besonders bei einem Vergleich der Fotografien von Leonora Carrington mit einer rund dreißig Jahre später aufgenommenen Serie des spanischen Malers Joan Miró (1893–1983) erkennen kann1093.

4.2.2 Porträts von 1940 – 1950

Im Januar 1940 hatte Lee Miller nach längeren Bemühungen eine Stelle als Fotografin bei der britischen Vogue erhalten. Ihre Tätigkeit konzentrierte sich in dieser Zeit hauptsächlich auf Gesellschaftsporträts und Modeaufnahmen für Vogue sowie auf freie Arbeiten. Zu diesen freien Arbeiten gehören auch die Fotografien, die das durch deutsche Luftangriffe im 2. Weltkrieg zerstörte London zeigen. Diese Bilder, die besonders sorgfältig und harmonisch komponiert wurden und denen – obwohl sie Zerstörung und Vernichtung zeigen – eine besondere Poesie und Symbolik zu eigen ist, wurden in Großbritannien und den USA in einem Fotoband mit dem Titel Grim Glory: pictures of Britain under fire1094 veröffentlicht.

Fotografien von bildenden Künstlern mit oder ohne typische Accessoires sind in dieser Zeit nur vereinzelt nachweisbar, zu den wenigen Beispielen zählen die Porträts1095 von Stanley William Hayter (Ende 1939/Anfang 1940) und Leslie Hurry (1943), die Lee Miller in einer ‚Arbeitssituation‘ beobachtete. Graham Sutherland, Henry Moore1096, Stanley Spencer und Paul Nash, die als offizielle Kriegskünstler in ihren Arbeiten alle Facetten des Krieges in Großbritannien festhalten sollten, wurden von Miller 1943 während der Dreharbeiten zu dem Film Out of chaos fotografiert, der das Leben von Künstlern im Krieg thematisierte und sie unter anderem während der Arbeit an ihren Wirkungsstätten zeigte.

Zu ihren Freunden und Künstlerkollegen auf dem europäischen Kontinent hatten Penrose und Miller in den Jahren des 2. Weltkriegs keinen Kontakt, erst in ihrer Funktion als

1092 Vgl. Kap. 4.3.5. 1093 Vgl. Kap. 4.2.4. 1094 Ernestine Carter (Hrsg.), Grim Glory: pictures of Britain under fire, preface by Edward R. Murrow, London 1941. 1095 Vgl. Kap. 4.1.4.2.2 und 4.1.4.1.1. 1096 Vgl. Kap. 4.1.4.1.3 und 4.1.4.1.4. 237

Kriegskorrespondentin der amerikanischen Streitkräfte (Akkreditierung im Dezember 1942) reiste Miller wieder nach Frankreich und berichtete von dort aus den Hospitalzelten in der Normandie und der Belagerung St. Malos. Picasso, Éluard, Bérard, Cocteau und all ihre anderen Freunde traf Miller erst während der Befreiung von Paris im August 1944 wieder und fotografierte diese in alltäglichen Situationen, zum Beispiel in geselliger Runde während gemeinsamer Restaurantbesuche.1097 Diese Aufnahmen unterscheiden sich nicht von den Fotos Millers, die die anderen, unbekannten Gäste des Restaurants zeigen.

Das Ergebnis einer konventionellen Porträtsitzung ist aber die zeitgleich aufgenommene Fotoserie von Jean Cocteau. Der französische Künstler und Dichter präsentierte sich in äußerst eleganter Kleidung und repräsentativer Haltung in der Kolonnade des Pariser Palais Royale der Kamera Millers (Fotografie 84)1098. Dort besaß er ein Appartement, in dem ihn Miller auch mit verschiedenen Kunstgegenständen fotografierte1099. Auch Picasso, Maar und Carrington hatten wie Cocteau 1944 bereits 1937 bzw. 1939 speziell für Miller Modell gestanden1100. In ihren Porträts sind sie auch in konventionellen Haltungen und traditionellen Ansichten zu sehen, doch waren sie nicht so repräsentativ gekleidet wie Cocteau.

Diesen sorgfältig konstruierten Bildern steht eine reportagehafte Fotoserie (Fotografie 85)1101 gegenüber, die sich unter den Künstlerporträts sehr selten findet. Miller fotografierte Picasso und Paul Éluard in Paris im September 19441102 während einer Gedenkstunde für die Widerstandskämpfer des 2. Weltkriegs auf den Pariser Friedhof Père Lachaise. Die an der Veranstaltung teilnehmenden Menschen, die der Verstorbenen gedenken, wurden von Miller aus einer größeren Distanz aufgenommen, so dass kaum jemand von ihr als Fotografin Notiz nahm. Die Szene wirkt ungestellt, wodurch die Fotografien einen spontanen Charakter erhalten. Picasso begleitete den Zug der Menschen an prominenter Stelle und war für Miller augenscheinlich von besonderem Interesse, da er in vielen Aufnahmen im Mittelpunkt steht.

Auch in Brüssel, wohin Lee Miller als Kriegskorrespondentin und Fotoreporterin für die britische Vogue im Anschluss an ihren Aufenthalt in Paris Mitte November 1944 den amerikanischen Streitkräften gefolgt war, gab es ein Wiedersehen mit langjährigen Freunden wie Olivier Picard, Paul Delvaux oder auch René Magritte, die Miller als ihre „Lieblingsmaler

1097 SWN LMA, Inv. Nr. 5940-20, 5940-25, 5940-28 bis 5940-33. Abb. eines Ausschnitts aus LMA, Inv. Nr. 5940-29 in: Penrose 1992, S. 77. 1098 SWN LMA, Inv. Nr. 5940-34 bis 5940-37, Abb. von 5940-36 (= Fotografie 84) in: Calvocoressi 2002, S. 99. 1099 SWN LMA, Inv. Nr. 5940-38 bis 5940-43, Abb. von 5940-41 in: Livingston 1989, S. 74. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 73. 1100 Vgl. Porträts 1929–1940. 1101 SWN LMA, Inv. Nr. 5996-49 bis 5996-58 und 5996-69. Abb. von LMA, Inv. Nr. 5996-69 (= Fotografie 85) in Penrose 1981a, S. 69, Abb. 180. Vgl. auch eine Abb. in: Warncke 1995, S. 709. 1102 Datierung laut Kartei des Lee Miller Archive. 238 der Moderne“ bezeichnete. Diese porträtierte Lee Miller nicht nur mit ihren Werken1103, sondern – wie kurze Zeit zuvor auch die Künstler in Paris oder 1937 in Cornwall und Mougins – in alltäglichen Szenen, ohne in diesen Fotografien einen Hinweis auf die künstlerische Identität der Dargestellten zu geben Delvaux und Magritte sind so in einer Aufnahme, die im Februar 1945 in Millers Artikel Brussels – more British than London1104 veröffentlicht wurde, zu sehen, wie sie sich im kalten Nachkriegswinter an einem Kanonenofen aufwärmen. Auf Magrittes Schoß sitzt dessen Hund, ein kleiner weißer Spitz, mit dem er auch in weiteren Aufnahmen1105 in einer Art Garderobe für die Fotografin posiert. Ungewöhnlich ist das Porträt (Fotografie 86)1106, das Paul Delvaux im Brustbild hinter einem eisernen Zaun, sozusagen hinter Gittern zeigt.

Von Mitte der 1940er Jahre bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre nimmt die Zahl der Porträts von bildenden Künstlern im Werk Millers stetig zu. Eine Reise in die Vereinigten Staaten, die Miller im Sommer 1946 auf Einladung von Vogue antrat, bot ihr weitere Gelegenheiten, langjährige Freunde wie Man Ray, Max Ernst und Wifredo Lam zu fotografieren, die während des Krieges in die USA emigriert waren. Wie die Aufnahmen von Delvaux und Magritte von 1944 vereint auch die Fotoserie, die Lee Miller 1946 von Wifredo Lam in New York aufnahm, zwei Aspekte: zum einen ist der kubanische Maler mit einem Werk zu sehen und wird so als Künstler stilisiert1107, zum anderen posiert er für Miller als Jedermann in einem eleganten Anzug in einer luxuriösen Wohnung oder in der Küche des Appartements, ohne dass in diesen Aufnahmen aber ein Hinweis auf seine Künstlerrolle geliefert wird.1108 Diese Zweiteilung der Serien findet sich seitdem regelmäßig in Millers Werk.

Für eine Fotografie von Dorothea Tanning war während Millers Aufenthalt in den USA im Sommer 1946 nicht nur das jüngste Gemälde der amerikanischen Malerin für die Fotografin von besonderem Interesse1109, sondern es waren auch die Umstände, unter denen Tanning mit Max Ernst in Sedona, einem Ort mit nur wenigen Einwohnern in der Wüste Arizonas, unter abenteuerlichen Bedingungen zusammenlebte. Während Lee Miller die beiden surrealistischen Künstler in einer speziellen Inszenierung zeigt, durch die die irreale Vision eines gigantischen Max Ernst und einer zwergenhaften Dorothea Tanning geschaffen

1103 Magritte ist mit Werken in den Schwarzweißnegativen LMA, Inv. Nr. 6104-162 (16) bis 6104-166 (16) dargestellt. Vgl. Kap. 4.1.2.2.11 und Kap. 4.1.2.3.1. 1104 Abb. von LMA, Inv. Nr. 6104-161 (16) in: Miller 1945, S. 57. Eine modifizierte Aufnahme (LMA, Inv. Nr. 6104-160 (16)) wurde in: Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 72 publiziert. 1105 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-158 (16) (Abbilddung in: Livingston 1989, S. 141. Calvocoressi 2002, S. 107. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Kat. Nr. 88), 6104-159 (16) und 6104-261 (25). 1106 SWN LMA, Inv. Nr. 6104-258, 6104-259 (25) und 6104-260 (25). Abb. von 6104-258 in: Calvocoressi 2002, S. 100 (= Fotografie 86). 1107 Vgl. Kap. 4.1.2.1.2. 1108 SWN LMA, Inv. Nr. A 0032-A 0035, A 0040 bis A 0047, A 0058 und A 0059. 1109 Vgl. Kap. 4.1.4.1.5. 239 wird1110, posieren die Protagonisten in anderen Aufnahmen in der Landschaft um ihren Wohnsitz für die Fotografin (Fotografie 87).1111 Ihr unkonventionelles Erscheinungsbild, das mehr oder weniger an den ‚Ethno-Look‘ von Carrington und Fini 1939 in Saint-Martin d’Ardèche erinnert und sie zum Beispiel barbusig als indianische Squaw1112 beim Kochen am offenen Feuer oder als Schamanen in der Wüste Arizonas zeigt1113, verrät dem entsprechend vorgebildeten Betrachter der Aufnahme etwas über ihr surrealistisches Interesse an fremden Kulturen und liefert in Verbindung mit dem besonderen Arrangement einen indirekten Hinweis auf ihre Künstlerrolle.

Anders als Dorothea Tanning ist Max Ernst in den 1946 in Sedona aufgenommenen Fotografien nicht mit einem eigenen Werk zu sehen, sondern wird nur zusammen mit Tanning und ihrem Gemälde Maternity gezeigt1114. Miller und Penrose besuchten das Paar in Sedona nur kurze Zeit nach dem Erwerb des Grundstücks, auf dem Ernst ein schlichtes Haus aus Holz errichtete. Max Ernst ist – neben vielen Aufnahmen, in denen er über die Inszenierung indirekt als Künstler stilisiert wird1115 – vor allem beim Bau dieses Holzhauses fotografiert worden, wobei er entweder im Hausinneren bei der Arbeit innehielt, um sich porträtieren zu lassen, oder im Außenbereich auf einer Leiter für Miller posiert. Während sich Max Ernst im Freien befand, hielt sich Miller zeitweise im Inneren des Hauses auf und fotografierte den Künstler durch das Fenster hindurch (Fotografie 88).1116 Auf diese Weise integrierte sie die Gitterstruktur des Fensters in ihre Aufnahmen, und schuf – wie auch schon bei Paul Delvaux (Brüssel, 1944) – ein eher ungewöhnliches Porträt von Max Ernst.

Vielleicht nahmen Max Ernst die Arbeiten am Haus, das er eigener Aussage zufolge „fast ganz alleine, nur mit Hilfe eines Handwerkers“ errichtete, so in Anspruch, dass er zunächst keine Zeit (und keinen Raum?) zum Malen oder Modellieren hatte? Auch war das Steingebäude, das den Baukomplex in späteren Jahren ergänzte und das Max Ernst wie seine Domizile in Saint-Martin d’Ardèche und in Huismes bis 1948 mit Plastiken und Friesen reich ausschmückte1117, noch nicht errichtet worden, so dass Miller den Künstler nicht mit seinen (plastischen) Werken darstellen konnte. Die Dokumentation des Bauschmucks war 1939 in Saint-Martin d’Ardèche ein zentrales Anliegen der Fotografin: durch die

1110 Vgl. Kap. 4.3.4. 1111 Vgl. zum Beispiel die SWA LMA, Inv. Nr. A 0882A 0863 und A 0865, vgl. auch die Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 184, Kat. Nr. 127 (= Fotografie 87). 1112 SWA LMA, Inv. Nr. A 0344, Abb. in: Tanning 1995, S. 349, Fig. 50. 1113 Vgl. Kap. 4.3.5. 1114 Vgl. Kap. 4.1.4.1.5. 1115 Vgl. Kap. 4.3.4, 4.3.5. 1116 SWN LMA, Inv. Nr. A 0231 bis A 0236 und A 0238, A 0297, Abb. von A 0236 in: Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 95. Abb. von A 0297, in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 172, Kat. Nr. 116). Vgl. auch die Abb. in Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 173, Kat. Nr. 117 (= Fotografie 88). Penrose 1981b, S. 141 Abb. 353. 1117 Vgl. Ausst. Kat. Paris 1998, S. 257ff und Chronologie S. 289. 240

kontinuierliche Demontage des Ensembles seit 1983 kommt ihren Aufnahmen nun leider eine besondere Bedeutung zu.1118

Bei den bisher vorgestellten Aufnahmen der 1940er Jahre fällt auf, dass Miller neben der Darstellung des Künstlers mit seinem Werk auch immer daran interessiert war, Szenen aus dem alltäglichen Leben der Porträtierten wiederzugeben und sie so als Jedermann zu zeigen. Diese beiden Aspekte finden sich auch zusammen in einer Fotoserie, die Lee Miller um 1947/48 in London von dem britischen Graphiker und Bildhauer Eduardo Paolozzi aufnahm. Paolozzi ist in den mindestens zwölf Aufnahmen (Fotografie 89)1119 nicht nur mit einer seiner neuesten Arbeiten – einer Zeichnung1120 – zu sehen, sondern posiert für Miller in lässiger Kleidung im Freien.

Während diese Fotografien als freie Arbeit Millers angesehen werden können, entstanden im Sommer 1948 die Porträts der an der 24. Biennale von Venedig teilnehmenden Künstler als Auftrag für Vogue und illustrierten zum Teil den von Miller selbst verfassten Artikel Venice Biennale.1121 Zwar gibt die Mehrzahl der veröffentlichten Porträts die Künstler zusammen mit ihren Werken im Ausstellungsraum wieder1122, doch zeigen drei der insgesamt zehn publizierten Fotografien die Protagonisten außerhalb eines künstlerischen Umfelds.

Nur Millers Artikel macht den Lesern von Vogue klar, dass hier Künstler dargestellt sind: die Autorin geht in ihrem Text auf die Retrospektive, in der Moores Werke aus 20 Jahren präsentiert werden, ein. Sie beschreibt den Künstler, der seine Arbeiten selbst zur Präsentation arrangierte und der den mit 500.000 Lire dotierten Preis als bester ausländischer Bildhauer erhielt, als stämmigen, ernsten und schlichten Menschen.1123

1118 Ausst. Kat. Paris 1998, S. 247ff. Lee Millers Fotografien wurden im Juni 1940 im London Bulletin publiziert. 1119 SWN LMA, Inv. Nr. 1455-37 A, 1455-40 A bis 1455-48 A, Negativformat der Serie 6 x 6 cm. Abb. eines Ausschnitts aus LMA, Inv. Nr. 1455-46 in: Calvocoressi 2002, S. 142 (= Fotografie 89). 1120 Vgl. Kap. 4.1.2.1.4. 1121 Lee Miller, Venice Biennale, (britische) Vogue (August 1948), S. 66–67, 88–90. 1122 Vgl. Kap. 4.1.1.3, 4.1.1.4, 4.1.1.5, 4.1.1.6, 4.1.2.1.5, 4.1.2.1.6, 4.1.2.1.7, 4.1.3.1. 1123 Lee Miller, Venice Biennale, (britische) Vogue (August 1948), S.66f: „[...] The three front rooms of the British Pavilion contain a magnificent selection of Turners sent from the recent show in Paris [...] The other rooms are a retrospective show of Henry Moore; twenty years of his work. Massive and small sculpture, abstract and representational. Leading up to his most recent style of grouped figures such as the one in Battersea Park. After the dazzling flatness of sun and sea the volume of his sculptures was calming and reassuring. Gradually the stones, the wood and the bronzes took on colour and the sketches on the wall resumed their brilliance…He left for London before the announcement that he had been awarded the prize of half a million lire as the best foreign sculptor, but he’d had a week in Florence and a few days in Venice arranging his work. He prowled around, stocky, un-latin, serious and simple. He talked with Italian-speaking artists and critics, sculpting his inarticulate verbal intentions with his hands like an Italian and being interpreted by his fans. He liked the sun, Americanos (a vermouth and soda drink) and a bronze statuary group at the right edge of St. Mark’s.” 241

Severini war für Miller der „große, alte Mann des Futurismus“, der von den jüngeren Künstlern auf der Biennale geehrt wurde.1124

Wie die Künstler in Paris im August 1944 fotografierte Miller den Futuristen Gino Severini und Henry Moore in geselliger Runde im Florian’s auf der Piazza San Marco, wo die beiden nicht nur die Sonne, sondern auch Americanos (ein Cocktail aus Vermouth und Soda) genossen haben, wie der Leser aus der einzeiligen Bildunterschrift erfährt (Fotografie 90)1125. Moore und Severini, die beide im Profil dargestellt sind, wenden sich einander zu und scheinen völlig im Gespräch vertieft zu sein. Zwischen Severini, der in der linken Bildhälfte dargestellt ist, und Moore, der rechts im Bild zu sehen ist, wird der Blick des Betrachters auf eines der Wahrzeichen Venedigs gelenkt: die Kirche San Marco ist im Hintergrund der Aufnahme vollständig sichtbar.

Auch auf Oskar Kokoschkas künstlerische Rolle liefert das in Venice Biennale publizierte Porträt1126, in dem er im Brustbild zu sehen ist und in einen eng gefassten Bildausschnitt eingebunden wird, keinen Hinweis. Lediglich die Bildunterschrift – im Artikel selbst wird der österreichische Maler nicht erwähnt – weist Kokoschka als einen bedeutenden Expressionisten aus, der jetzt in London lebe und dessen Retrospektive auf der Biennale in einem eigenen Pavillon präsentiert werde.

Nicht nur in den späten 1930er Jahren fotografierte Lee Miller ihre Freunde und Bekannten in Mougins und Cornwall während gemeinsam verbrachter Urlaube, auch im Sommer 19491127 hielt sie während eines Besuchs bei Picasso und seiner Lebensgefährtin Françoise Gilot im südfranzösischen Saint Tropez das heitere und unbeschwerte Strandleben im Bild fest.1128 Picasso präsentierte sich auch am Strand in seiner altbekannten, souveränen Pose, die er bereits seit mindestens 1916 für seine Porträts wählte und die er in Millers Aufnahmen1129 schon bewusst zu karikieren scheint. Dies wird durch die Szenerie – er

1124 Lee Miller, Venice Biennale, (britische) Vogue (August 1948), S. 89: “Severini, the grand old man of Futurism, and his wife, came from Paris. He was ‘chaired’ in front of his paintings by the ‘youngsters.’ (sic) He’s frail and sweet and their daughter is married to the young Roman sculptor Nino Franchina, whose white elemental naiads are in such contrast to his own ‘lean and hungry’ looks.” 1125 Fotografie 90 = Abb. in: Lee Miller, Venice Biennale, (britische) Vogue (August 1948), S. 67 oben links. „’Futurist’ Severini and Henry Moore sun themselves and sip Americanos at Florian’s in the Piazzo San Marco.” Eine andere Fotografie, die Henry Moore in Gesellschaft von Roland Penrose und Peter Gregory im Florian’s zeigen, findet sich in: Matrix (Winter 2002), No. 22, S. 81. Vgl. auch eine Aufnahme in: Penrose 1981b, S. 144, Abb. 359. 1126 Lee Miller, Venice Biennale, (britische) Vogue (August 1948), S. 88 oben. 1127 Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 173. Die Kontaktabzüge sind fälschlicherweise auf 1948 datiert worden. 1128 SWN LMA, Inv. Nr. P 0026 bis P 0047, Negativformat 6 x 6 cm. 1129 SWN LMA, Inv. Nr. P 0039 und P 0043, Negativformat 6 x 6 cm. 242

überwacht in dieser Haltung, wie sein ca. zweijähriger Sohn Claude angezogen wird – noch gesteigert. Doch ist es Miller – wie Robert Capa1130 – auch gelungen, Picasso unbemerkt als normalen Familienvater zu fotografieren.1131

4.2.3 Porträts von 1950 – 1960

Lee Miller und Roland Penrose waren während der 1950er Jahre häufig bei Picasso in Südfrankreich zu Gast, während der spanische Maler nur selten ins Ausland reiste.1132 Im November 1950 nahm Picasso, der seit 1944 Mitglied der kommunistischen Partei war, aber am Weltfriedenskongress im englischen Sheffield teil. Von Seiten der britischen Regierung stellte dieser Kongress „eine gefährliche Form der Propaganda“ dar, so dass viele der Delegierten – wie auch der Präsident der Tagung, der französische Atomphysiker Joliot-Curie – nicht nach Großbritannien einreisen durften. In dieser gespannten Situation sollte Picasso, dessen neueste Keramiken und Gemälde zur gleichen Zeit in London in einer vom Arts Council organisierten Ausstellung präsentiert wurden, von der Presse abgeschirmt werden. Roland Penrose, der seit 1947 mit Lee Miller auf Farley Farm in Chiddingly lebte, lud Picasso deshalb dorthin ein.1133

Picasso interessierte sich während seines kurzen Besuchs auf dem Land nicht nur für das Atelier von Roland Penrose, in dem er mit Pinseln in der Hand fotografiert wurde (Fotografie 91)1134, sondern inspizierte unter anderem in Gesellschaft von Antony Penrose, der wie Picassos eigener Sohn drei Jahre alt war, auch die Stallungen und ist so in der mindestens zwölf Aufnahmen umfassenden Serie (vgl. Fotografie 92)1135 als Jedermann und Freund der Familie zu sehen. Keinen Hinweis auf seine künstlerische Identität und seinen Ruhm liefern auch die Aufnahmen, die ihn in einem Anzug und mit Baskenkappe beim Streicheln eines Pferdes zeigen. Seine Tätigkeit nimmt Picasso so in Anspruch, dass er die Fotografin scheinbar vergessen hat, was allerdings eher selten geschah: so posiert er in anderen Aufnahmen wie Saul Steinberg mit der Galionsfigur Iris1136 und vor einem Straßenkreuz, das den Weg nach Chiddingly weist.

1130 Vgl. die Aufnahme in: Penrose 1981a, S. 72. 1131 SWN LMA, Inv. Nr. P 0026, P 0029, P 0030, P0031, P 0033, P 0034 und P 0043, Negativformat 6 x 6 cm. In den Aufnahmen LMA, Inv. Nr. P 0027, P 0036 und P 0037 posiert Picasso, der Claude im Arm hält und im Meer steht, für Miller. Vgl. hierzu auch Penrose 1961, S. 337. 1132 Vgl. die Karte in: Penrose 1981a, S. 125. 1133 Penrose 1961, S. 333–336. 1134 Fotografie 91 = SWN LMA, Inv. Nr. LM 133-24, Negativformat 6 x 6 cm, Abb. in: Penrose 1981b, S. 208, Abb. 512. 1135 Mindestens zwölf Schwarzweißnegative, LMA, Inv. Nr. LM 133-13 bis LM 133-24, Negativformat 6 x 6 cm. Abb. von LMA, Inv. Nr. LM 133-24 in: Penrose 1981b, S. 208, Abb. 512. Lee Miller ist in den Aufnahmen LM 133-13 und 133-19 (Abb. in: Penrose 1981b, S. 209, Abb. 513 (= Fotografie 92) respektive Abb. 515) mit Picasso zu sehen, so dass diese Fotos nicht von ihr stammen können. 1136 Vgl. Kap. 4.1.2.4.1. 243

Zu Ehren von Picassos 70. Geburtstag veröffentlichte die britische Vogue im November 1951 einen von Miller verfassten Artikel, in dem sie nicht nur auf die Londoner Retrospektive Picassos im Institute of Contemporary Arts eingeht, sondern auch ein sehr persönliches Bild des Künstlers zeichnet. Ihren Text, der unter der Überschrift Picasso ... Lee Miller writes an affectionate tribute on his seventieth birthday1137 veröffentlicht wurde, illustriert neben einer Zeichnung Picassos eine Fotografie1138, die ein Jahr zuvor als freie Arbeit Millers entstand und die keinen Hinweis auf seine künstlerische Identität gibt. In dieser Aufnahme ist Picasso 1950 während seines Besuchs auf Farley Farm zusammen mit Antony Penrose zu sehen, der sozusagen auf Onkel Picassos Schoss sitzt.

Auch die Fotografien, die im Juli 1953 Lee Millers letzten Artikel Working Guests in der britischen Vogue illustrieren, entstanden aus Jux1139 und waren ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen. In Working Guests beschreibt die Autorin, wie sie ihre zahllosen prominenten Gäste auf Farley Farm zur Mitarbeit in Haus und Garten motiviert. Von den mehr als 69 Aufnahmen1140, mit denen sie von ca. 1950 an die sklavische Beschäftigung ihrer Besucher dokumentierte, wurden insgesamt 19 Fotografien1141 zur Illustration des Artikels ausgewählt. Unter den Porträtierten finden sich viele bildende Künstler, die nicht bei

1137 Miller 1951, S. 112, 113, 160, 165. 1138 Abb. in: Miller 1951, S. 112. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 79, oben links. Penrose 2002, S. 72. Penrose 2001, S. 116 unten. Penrose 1981b, S. 209, Abb. 516. 1139 Penrose 2002, S. 79. 1140 Mindestens 69 Schwarzweißnegative und neue Abzüge im Negativformat von 6 x 6 cm, LMA, Inv. Nr. LM 132-22, LM 122-8 und 122-26, F.F. 0443 bis F.F. 0451, F.F. 0537 (Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 154. Penrose 2002, S. 78, unterste Reihe, rechtes Bild) (= Fotografie 94), LM 120a-61 bis 120a- 73, F.F. 0252-0257 (Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 159), LM 120-85 bis LM 120-96 (Abb. von LM 120-95 in: Calvocoressi 2002, S. 157), F.F. 0130 bis F.F. 0131 (= Fotografie 93), F.F. 0132 bis F.F. 0138, F.F. 0216, F.F. 0202 bis F.F. 0206, F.F. 0225, F.F. 0266 (Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 153. Penrose 2002, S. 78, oberste Reihe, mittleres Bild), F.F. 0432 bis F.F. 0438, F.F. 0285, F.F. 0698, F.F. 0619, Negativformat 6 x 6 cm. Vgl. auch die Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 150, 152, 156 (Bezug zu F.F. 0202 bis 0206), 158. Penrose 2002, S. 78. 1141 Miller 1953, S. 54–57, 90, 92. Publiziert wurden insgesamt 21 Fotografien: Roland und Antony Penrose beim Mähen von Gras, Reg Butler (Bildhauer) und seine Frau Jo beim Einsalzen von Bohnen, Vera Lindsay (Lady Barr) beim Ernten von Kürbissen, Saul Steinberg (Karikaturist) beim Kampf mit dem Gartenschlauch, Katherina Wolpe (Pianistin und Frau des Bildhauers William Turnbull) beim Streichen des Gewächshauses (LMA, Inv. Nr, F.F. 0130, vgl. auch LMA, Inv. Nr. F.F. 0132 bis 0134), Alfred Barr (Direktor des New Yorker Museum of Modern Art) beim Füttern der Schweine (= Fotografie. 94), H. D. Molesworth (Londoner Victoria & Albert Museum) und seine Frau beim Polstern von Stühlen (Abb. in: Penrose 2002, S. 78, mittlere Reihe, mittleres Bild), Matta beim Hantieren mit einer Leiter, Susana Gamboa (Archivarin der Londoner Tate Gallery) beim Bemalen der Galionsfigur, Magde Garland (Professorin am Royal College of Art) beim Zerreiben von Majoran (vgl. eine ähnliche Abb. in: Penrose 2002, S. 78, oberste Reihe, linkes Bild), Peggy Bernier (Schriftstellerin), Timmy O’Brien (britische Vogue) und Cynthia Thompson beim Abkuppen von Bohnen, Dennis Cohen (Direktor der Cresset Press) beim Schneiden von Hecken, Renato Guttuso als Chefkoch, Ernestine und John Carter beim Bekämpfen von Holzwürmern, Henry Moore beim Positionieren seiner Skulptur auf dem Rasen, John Craxton (Maler) beim Pflücken von Pflaumen, Dorothea Tanning als Elektrikerin, Max Ernst beim Pflanzen von Rabatten im Garten, Stella Houghton (Nachbarin) im Gewächshaus. Die 20. und die 21. Fotografie zeigen das Betätigungsfeld der Gäste (Abb. in: Penrose 1985a, S. 187) sowie die Autorin und Gastgeberin während ihres Mittagsschlafs auf dem Sofa (Abb. in: Penrose 2002, S. 79). 244 ihrer eigentlichen künstlerischen Arbeit, sondern bei handwerklichen Tätigkeiten dargestellt sind, so dass nichts auf ihre besondere Rolle verweist: so salzte der Bildhauer Reg Butler1142 zusammen mit seiner Frau Bohnen ein, während der amerikanische Karikaturist Saul Steinberg1143 mit einem Wasserschlauch ‚kämpfte‘1144, der südamerikanische Maler Matta1145 wurde mit einer riesigen Leiter bei der Gartenarbeit fotografiert, seine italienischen respektive britischen Kollegen Renato Guttuso (Fotografie 95)1146 und John Craxton1147 übten sich mit der typischen Haube als Chefkoch am Herd oder pflückten Pflaumen, Dorothea Tanning1148 fungierte als Elektrikerin, Max Ernst1149 pflanzte Gartenrabatte und die britischen Bildhauer Richard Hamilton1150 und William Turnbull (Fotografie 93)1151 wurden beim Nähen von Vorhängen oder bei der Gartenarbeit aufgenommen.

Diese Fotografien von Künstlern bei der Arbeit unterscheiden sich nicht von den Darstellungen, die andere Prominente wie Alfred Barr (Fotrografie 94)1152, den Direktor des New Yorker Museum of Modern Art, beim Füttern der Schweine, Sonia Orwell, die Witwe von George Orwell, beim Haken von Gras, Professor Peter Gregory beim Vergiften der Schnecken im Garten, Vera Lindsay (Lady Barry)1153 beim Ernten von Kürbissen oder Menschen der Gegend wie Millers Nachbarin Stella Houghton bei Arbeiten im Gewächshaus zeigen und stellen sie so als Jedermann dar. Allein bei Henry Moore1154, den Miller dabei fotografierte, wie er die Position seiner Skulptur Mutter und Kind auf dem Rasen von Farley Farm veränderte, könnte man über das Werk zumindest auf ein künstlerisches Interesse des Dargestellten schließen1155.

1142 Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 158. Vgl. auch die Abb. in: Penrose 2002, S. 78, mittlere Reihe, linkes Bild. 1143 LMA, Inv. Nr. F.F. 0285, Abb. in: Penrose 1985a, S. 192. Penrose 2002, S. 78, unterste Reihe, linkes Bild. 1144 Vgl. Kap. 4.3.7. 1145 LMA, Inv. Nr. LM 120-95, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 157. Vgl. auch: LMA, Inv. Nr. LM 120-85 bis LM 120-94 und LM 120-96. 1146 Vgl. LMA, Inv. Nr. LM 120-68 bis LM 120-72. In den Aufnahmen LMA, Inv. Nr. LM 120-61 bis LM 120-67 ist Guttuso beim Ernten von Salat zu sehen. Fotografie 95 = Abb. in: Penrose 2002, S. 94 unten (Guttuso als Chefkoch am Herd). 1147 LMA, Inv. Nr. F.F. 0443. Vgl. auch F.F. 0444 und F.F. 0445 bis 0451. 1148 LMA, Inv. Nr. LM 133-8. 1149 Vgl. LMA, Inv. Nr. LM 132-22. 1150 LMA, Inv. Nr. F.F. 0252 bis F.F. 0257, vgl. die Abb. von Richard Hamiltons Frau Terry, in: Penrose 2002, S. 78, mittlere Reihe, rechtes Bild. 1151 Fotografie 93 = LMA, F.F. 0131, Abb. In: Penrose 2002, S. 78, oberste Reihe, rechtes Bild. 1152 Fotografie 94 = LMA, Inv. Nr. F.F. 0537, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 154. Penrose 2002, S. 78, unterste Reihe, rechtes Bild. 1153 LMA, Inv. Nr. F.F. 0137, Abb. in: Penrose 2002, S. 78, unterste Reihe, mittleres Bild. 1154 LMA, Inv. Nr. F.F. 0619, Abb. eines Ausschnitts in: Penrose 2002, S. 119. 1155 Vgl. Kap. 4.1.3.3. 245

Während Lee Miller seit 1953 nicht mehr als Autorin tätig war, begann Roland Penrose in dieser Zeit seine Karriere als Schriftsteller: 1954 bekam er vom Verleger Victor Gollancz den Auftrag, eine Biographie über Picasso zu schreiben; diese wurde 1958 unter dem Titel Picasso: His Life and Work veröffentlicht. In der Folge suchte Penrose den Künstler, dessen Einverständnis zu diesem Vorhaben er eingeholt hatte, zwei- bis dreimal im Jahr in Picassos wechselnden Wohnsitzen an der französischen Mittelmeerküste auf. Lee Miller begleitete ihren Mann bei diesen Besuchen1156, bei denen eine große Zahl von Aufnahmen entstanden ist. Doch wurden beispielsweise zur Illustration der deutschen Erstausgabe Picasso: Leben und Werk 1961 nur zwei Porträts des Künstlers1157 von Lee Miller verwendet, bei der Mehrzahl der Abbildungen (195 von insgesamt 208) handelt es sich um kleinformatige, fotografische Reproduktionen von Picassos Werken. Außerdem nutzte Penrose Porträtaufnahmen Picassos von Dora Maar1158, Robert Capa1159, Robert Doisneau1160 und Gjon Mili1161.

Aufnahmen dieser Fotografen illustrieren unter anderem auch die 1956 erschienene Publikation Portrait of Picasso1162. Das von Roland Penrose verfasste Buch beinhaltet Material, das ursprünglich für die von Penrose organisierte Ausstellung Picasso Himself zusammen getragen worden war. Die Anzahl der Illustrationen variiert in den verschiedenen Ausgaben der Publikation erheblich: in der Ausgabe New York 1957 stammen zwölf der insgesamt 257 Abbildungen von Lee Miller, in der deutschen Ausgabe Zürich 1957 sind es 5 von 191, und in der Ausgabe London 1981 24 von 332 Abbildungen.

„Das Buch beschränkt sich nicht“, so Alfred H. Barr im Vorwort von Portrait of Picasso, „auf Aufnahmen von Picasso. Bilder seiner Vorfahren und Verwandten, seiner vielen Ateliers, seiner Freunde, der Frauen, die er geliebt hat, seiner Kinder veranschaulichen gemeinsam Hintergrund und Vordergrund seines Lebens [...]“.1163 Picasso als Künstler und als Mensch mit einer faszinierenden Persönlichkeit bestimmt auch Lee Millers Œuvre von Mitte der 1950er Jahre bis ca. 1958. 1962, 1965 und 1970 entstanden weitere Porträtserien.1164 In

1156 Penrose 2001, S. 149–150. Penrose 2002, S. 89–90. 1157 Penrose 1961, im Abbildungsnachweis werden die Abb. 5 und 12 genannt. Allerdings wird die Abb. 5 (ein Foto des Geburtshauses des Künstlers in Malaga) gleichzeitig Jacqueline Roque zugeschrieben. Von Lee Miller stammt wahrscheinlich die Abb. 1, ein Porträt, das Picasso 1957 in seiner Villa La Californie in Cannes zeigt und das eine freundschaftliche Widmung an Roland Penrose trägt. Bei der Abb. 12 handelt es sich um ein Porträt, das Lee Miller 1954 von Picasso und Braque, die sich im Atelier des spanischen Künstlers in Vallauris über dessen Keramiktauben unterhalten (vgl. Kap. 4.1.2.2.6), aufgenommen hat. 1158 Penrose 1961, Abb. 8 und 9. 1159 Penrose 1961, Abb. 10. 1160 Penrose 1961, Abb. 11. 1161 Penrose 1961, Abb. 15. 1162 Originalausgabe: R. Penrose, Portrait of Picasso, London 1956. 1163 Penrose 1957, S. 7. 1164 Lee Miller besuchte und fotografierte Picasso in Südfrankreich 1954, 1955, 1956, 1958, 1962, 1965 und 1970, vgl. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 173–174. 246 diesen Fotografien ist Picasso vor allem im Kreise seiner Familie, Freunde und Besucher in seinen mit Kunst und Krempel überladenen Häusern zu sehen, deren Interieur Miller allein schon zu zahlreichen Fotografien1165 inspirierte. Obwohl es in diesem Ambiente sicherlich schwierig gewesen ist, Picasso ohne seine allgegenwärtigen Gemälde, Skulpturen, Keramiken und Arbeitsgeräte zu porträtieren – unmöglich war es nicht, wie Aufnahmen Millers zeigen. Der Künstler wurde von ihr nicht nur zusammen mit seinen verschiedenen Werken porträtiert1166, sondern wird auch ohne einen künstlerischen Bezug als Jedermann dargestellt.

Picasso hatte bereits in frühen Jahren ein bestimmtes Bild von seiner Person entworfen, wie fotografische (Selbst-)Porträts von 1915/16 zeigen. Die sehr selbstbewusst wirkende Pose1167 mit gegrätschten Beinen, vor der Brust verschränkten Armen und dem direkten Blick in die Kamera findet sich auch in vielen späteren Fotografien des Künstlers. Picasso posierte, sobald er sich der Gegenwart eines Fotografen bewusst war, was für einige Fotografen, die wie Edward Quinn1168, David Douglas Duncan und Franz Hubmann1169 möglichst ungestellte Aufnahmen des Künstlers machen wollten, ein Problem darstellte. Erst wenn Picasso die Anwesenheit des Fotografen vergaß, war es möglich, ihn in spontanen Situationen zu fotografieren.

Auch Lee Millers Fotoserien1170 von Pablo Picasso vereinen beide Aspekte und zeigen den Porträtierten nicht nur posierend, während er für die Fotografin Modell sitzt (vgl. Fotografie 96)1171, sondern auch in unbeobachteten Momenten. Picasso wurde von Miller in den unterschiedlichsten Situationen porträtiert, etwa als Trauzeuge bei der Hochzeit von Paul Éluard und Dominique Laure (Fotografie 99)1172, bei der Zubereitung einer Paella, des spanischen Nationalgerichts, im Garten, umringt von seinen Freunden (Fotografie 97)1173, im

1165 Vgl. zum Beispiel die Fotografien LMA, Inv. Nr. P 0732, P 0736, P 0740, P 0749, P 0923 bis P 0925, P 0940, P 0996, P 0997. Abb. von LMA, Inv. Nr. P 0924 in: Penrose 1957, S. 79, Abb. 216, vgl. auch die Abb. 231, 232 (= LMA, Inv. Nr, P 0740), 233, 234, 235, 236 (= LMA, Inv. Nr. P 0749) bis 237. 1166 Vgl. Kap. 4.1.1.7, 4.1.1.8, 4.1.1.9, 4.1.1.10, 4.1.2.2.1, 4.1.2.2.5, 4.1.2.2.6, 4.1.2.2.7, 4.1.2.3.4, 4.1.4.2.6, 4.1.3.2, 4.1.4.2.5. 1167 Vgl. Lucien Clergue, Photographers on Picasso, in: Baldassari 1997, ohne Zählung: „ […] He [Picasso] posed somewhat systematically, arms folded, eyes looking straight into the lense […]” 1168 Quinn 1977, S. 16. 1169 Vgl. Ausst. Kat. München 1997a, S. 10. 1170 Vgl zum Beispiel die Schwarzweißnegative LMA, Inv. Nr. P 0088, P 0081 bis P 0092, Abb. von P 0084 in: Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Taf. 97. Penrose 2002, S. 90 oben. Penrose 1985a, S. 203. Livingston, Photographer, S. 160. 1171 LMA, Inv. Nr. P 0078, Abb. in: Penrose 1981b, S. 216, Abb. 535 (= Fotografie 96). LMA, Inv. Nr. P 0098, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 149. 1172 Fotografie 99 = Neuer SWA, LMA, Inv. Nr, NC 0147-4, Abb. in: Penrose 2002, S. 75 oben. Vgl. auch die Abb. in: Penrose 1981b, S. 211, Abb. 523. 1173 Fotografie 97 = SWN LMA, Inv. Nr. P 1070, Abb. in: Penrose 1981b, S. 246, Abb. 600. 247

Gespräch mit Penrose über dessen Bücher (Fotografie 98)1174, beim Verkleiden1175 oder dem Besuch von Gästen. Roland Penrose berichtet, dass seine Frau bei diesen Gelegenheiten „wie gewöhnlich“ dazugekommen sei und in ausgewählten Momenten fotografiert habe.1176

Vom Motiv her entsprechen sich die Aufnahmen Lee Millers und die Fotografien, die während der Besuche von Edward Quinn und David Douglas Duncan bei Picasso entstanden sind, sehr oft – gleich ob sie den Künstler mit oder ohne Werke darstellen1177. Dies zeigt, dass Picasso der agierende Part bei der Aufnahme gewesen sein muss, der von Miller, Quinn und Duncan nur minimal beeinflusst wurde, der aber zumindest von Quinn eigener Aussage zufolge von Zeit zu Zeit auch zu bestimmten Posen aufgefordert wurde.1178 Die Fotos machen deutlich, dass sich Picasso für die unterschiedlichen Fotografen immer wieder in der selben Weise in Szene setzte und über ein bestimmtes Repertoire an Posen und Inszenierungsarten verfügte.

Von einem gemeinsamen Aufenthalt bei Picasso zeugen auch die Fotografien, die Lee Miller (Fotografie 100)1179 und David Douglas Duncan (Fotografie 101)1180 1956 in Cannes aufgenommen haben. Picasso empfing in seiner Villa La Californie nicht nur die beiden Fotografen, sondern auch seinen langjährigen Freund Jean Cocteau. Mit diesem wetteiferte er beim Spielen auf einer Marimba, einem xylophonähnlichen, afrikanischen Musikinstrument. Miller und Duncan porträtierten Picasso und Cocteau während ihrer musikalischen Darbietung, doch zeigen sie jeweils andere Szenen auf. Das künstlerische Ambiente tritt in diesen Aufnahmen fast vollständig in den Hintergrund, so dass Picasso und Cocteau vor allem als Jedermann zu sehen sind.

Bei einem Vergleich der Porträts, die Picasso bei der Überprüfung seiner Gemälde in Vauvenargues zeigen1181, gewinnt man den Eindruck, dass es sich um eine bewährte

1174 LMA, Inv. Nr. P 0093 bis P 0099 (vgl. eine ähnliche Abb. in: Penrose 1981b, S. 217, Abb. 541. S. 223, Abb. 559 (= Fotografie 98 = Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 23, rechte Abb.), P 0686, P 0687, P 0921, P 0922. 1175 SWN LMA, Inv. Nr. P 0998, P 0999, P 1001. Vgl. auch die Abb. in: Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 23, obere, rechte Abb. 1176 Penrose 1981b, S. 213–214. 1177 Vgl. auch Kap. 4.1.2.2.7 und 4.1.4.2.6. 1178 Anlässlich der Ausstellung Picasso vu par les photographes 1991 im Paris Musée Picasso (Ausst. Kat. Paris 1991, ohne Pag.) wurden einige Fotografen gefragt, ob sie Picasso zu Posen aufgefordert hätten. Nur André Ostier verneinte dies generell, während Lucien Clegue, Denis Colomb, Robert Doisneau, André Villers und auch Edward Quinn antworteten, dass sie Picasso oft respektive von Zeit zu Zeit hätten posieren lassen. 1179 Fotografie 100 = SWN und neuer Abzug, LMA, Inv. Nr. P 0988, Abb. in: Penrose 1981b, S. 216, Abb. 536. Vgl. auch die Aufnahmen LMA, Inv. Nr. P 0986 bis P 0995, vgl. Kap. 4.1.2.3.4. 1180 David Douglas Duncan, Picasso und Cocteau beim Marimbaspiel Abb. in: Pan Spezial, Pablo Picasso, Sonderheft zum 100. Geburtstag, S. 23. Vgl. eine weitere Abb. in: Wertenbaker 1972, S. 180. David Douglas Duncan, Picasso und Jacqueline, Stuttgart 1988, S. 92 und 93. David Douglas Duncan, The private world of Pablo Picasso, New York 1958, S. 52 unten (= Fotografie 101). 1181 Vgl. Kap. 4.1.4.2.6. 248

Inszenierung des Künstlers handelt. Viel spontaner agieren die Protagonisten aber in den Fotografien, in denen sie beim Marimbaspiel zu sehen sind. Diese Aufnahmen erinnern so an das fröhliche Spiel Picassos mit der Babyskulptur aus dem Ensemble Frau mit Kinderwagen1182. Zwar müssen sich die beiden ‚Musiker‘ der Anwesenheit von Miller und Duncan bewusst gewesen sein, da diese sie aus einer kurzen Distanz zeigen, doch scheinen sie sich gegenseitig zu immer neuen Aktionen zu ermuntern. In Duncans Aufnahmen (Fotografie 101) spielen Picasso und Cocteau mit großer Freude und großem Elan abwechselnd auf der Marimba, während Miller (Fotografie 100) allein Picasso beim noch gemäßigten Spiel auf dem Instrument fotografierte.

Wie Picasso porträtierte Miller Mitte der 1950er Jahre auch Max Ernst und Dorothea Tanning in ihrer gewohnten Umgebung. Bereits 1946 hatte die Fotografin die beiden surrealistischen Künstler während ihrer USA-Reise in ihrem Domizil in der Wüste Arizonas aufgesucht1183. Miller hielt damals nicht nur den ‚Kampf von David gegen Goliath‘ – der ‚zwergenhaften‘ Tanning und dem ‚Giganten‘ Ernst – in einer Fotoserie fest und dokumentierte das alltägliche, aber dennoch sehr exzentrische Leben der beiden Surrealisten, sondern porträtierte Tanning mit ihrer aktuellsten Arbeit, dem Gemälde Maternity.1184 Aus dieser Zeit sind keine Fotografien nachweisbar, die auch Max Ernst mit einem seiner Werke zeigen.

Auch im französischen Huismes, wo Ernst und Tanning sich erst kurze Zeit zuvor niedergelassen hatten, entstand während des Besuchs von Miller und Penrose um 1956 eine Fotoserie, die wieder zwei Aspekte in sich vereint und in der nicht nur das alltägliche Leben von Ernst und Tanning jenseits der Kunst gezeigt wird, sondern in der die Künstler auch mit ihren Werken im Atelier dargestellt sind1185. Allerdings bot sich Miller und Penrose in Huismes eine andere Situation dar als rund elf Jahre zuvor in Sedona, wo Ernst und Tanning, die als surrealistische Künstler ein starkes Interesse an der Kunst und Kultur der einheimischen Indianerstämme hatten, als Schamane oder als Squaw für Miller posierten und so etwas von ihrer Rolle als Künstler der Avantgarde erahnen ließen. In den Fotografien1186 aus Huismes sind sie vielmehr in praktischer und schmuckloser Kleidung, die sie sowohl bei der Arbeit im Garten als auch im Atelier trugen, zu sehen. Wie in den Serien von Pablo Picasso war für Miller auch in Huismes die Umgebung, in der die beiden Künstler lebten von Interesse, wie mehrere Fotografien zeigen.1187

1182 Vgl. Kap. 4.1.1.7. 1183 Vgl. Porträts von 1940–1950. 1184 Vgl. Kap. 4.3.4, 4.3.5, 4.1.4.1.5. 1185 Vgl. Kap. 4.1.2.2.4, 4.1.4.1.5, 4.1.4.1.6. 1186 Mindestens 22 Schwarzweißnegative LMA, Inv. Nr. A 0363 bis 0366, A 0370, A 0371, A 0414 bis A 0424, Negativformat 6 x 6 cm. Abb. von LMA, Inv. Nr. A 0414 in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 244, Kat. Nr. 188. Abb. von LMA, Inv. Nr. A 0366, in: Kat. Brühl 1991, S. 245. 1187 SWN LMA, Inv. Nr. A 0367 bis 0369. 249

4.2.4 Porträts von 1960 – 1973

Zu den wenigen Künstlern, die während der sechziger und siebziger Jahre von Lee Miller porträtiert wurden, zählt – neben Pablo Picasso1188 und Antoni Tàpies – Joan Miró.

Joan Miró (1893 – 1983) war im September 1964 anlässlich seiner großen Retrospektive, die vom Arts Council und Roland Penrose organisiert worden war und die von Ende August bis Anfang Oktober in der Tate Gallery präsentiert wurde, nach London gereist. Während dieses Besuches entstand eine Serie von mindestens 21 Aufnahmen, die Miró nicht als prominenten Maler, sondern als normalen Menschen in einem Restaurant, aus dem er den Ausblick auf London genoss, oder auf Farley Farm, wo er sich ins Gästebuch eintrug (Fotografie 102)1189, zeigen.

Besondere Freude schien ihm aber der Besuch im Londoner Zoo zu bereiten. Antony Penrose, der mit seinem Vater Roland, Desmond Morris und Ian Baker1190 Miró in den Zoo begleitete, erinnert sich, dass der Künstler vor allem an „Schlangen, kleinen Vögeln und den Kreaturen der Nacht“1191 interessiert gewesen sei. Und so zeigen Lee Millers Fotografien den Maler aus nächster Nähe im Reptilienhaus, wo ihm Morris eine gewaltige Schlange, bei der es sich um eine Python gehandelt haben soll, auf die Schultern legte (Fotografie 103)1192. Miró, der die Musterung der Schlange, ihre Augen und ihr Züngeln genau untersucht haben soll, war hiervon begeistert. Zwar beschäftigte sich Miró im Vogelhaus auch mit kleineren Vögeln1193, doch fühlten sich der Künstler und ein riesiger Nashornvogel spontan „zueinander hingezogen“ (Fotografie 104)1194. Miró strahlte vor Freude über das ganze Gesicht und blickte unvermittelt auf den Vogel, der auf seinem Arm saß und sich dem Künstler zuwendete, wodurch beide in eine Art von Dialog treten. Der Nashornvogel riss fotogen seinen Schnabel auf oder frass Miró, der ihn fütterte, aus der Hand.

Miró war während seines Aufenthaltes in London sehr elegant in einen dunklen Anzug gekleidet und bot eine repräsentative Erscheinung. Ganz anders präsentierte er sich der Kamera Millers aber in seinem Haus in Palma de Mallorca, wo ihn die Fotografin und

1188 Vgl. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 173–174. Vgl. auch Kap. 4.2.2 und 4.2.3. 1189 Fotografie 102 = Abb. in: Penrose 1981b, S. 277, Abb. 671. Vgl. auch die Abb. in: Penrose 2001, S. 122, obere linke Abb. = Abb. in: Penrose 2002, S. 117 oben. 1190 SWN LMA, Inv. Nr. A 0119, Negativformat 6 x 6 cm, Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 167. 1191 Penrose 2001, S. 156. 1192 SWN LMA, Inv. Nr. A 0117 und A 0118, Negativformat 6 x 6 cm. Vgl. die Abbildung einer weiteren Aufnahme in: Desmond Morris, The secret surrealist: the paintings of Desmond Morris, Oxford 1987, S. 101, Abb. 117 (= Fotografie 103). 1193 SWN LMA, Inv. Nr. A 0111 und A 0112, Negativformat 6 x 6 cm. 1194 SWN LMA, Inv. Nr. A 0113 bis A 0116, Negativformat 6 x 6 cm. Abb. von A 0116 (= Fotografie 104) in: Calvocoressi 2002, S. 166. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 100. Penrose 1985a, S. 208. Livingston 1989, S. 155. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 108. Penrose 1981b, S. 277, Abb. 670. 250

Penrose 1970 besuchten (vgl. Fotografie 105)1195. Dort trug er lässige Freizeitkleidung, die aus einem kasackähnlichen Hemd und einer Hose bestand. Dass es sich um eine typische Kleidung, die Miró oft in seinen vier Wänden trug, zeigen auch Aufnahmen, die Walter Erbens Buch über Mirós Leben und Werk illustrieren.1196

Anlass der Reise nach Palma de Mallorca war vor allem die Biographie, die Roland Penrose über seinen langjährigen Freund verfasste und die im gleichen Jahr erschien. Lee Miller begleitete Penrose – wie in den 1950er Jahren bei Picasso und 1973 bei Antoni Tàpies – auf dieser Reise und porträtierte Miró (und seine Frau) in mindestens 18 Aufnahmen1197, von denen aber keine zur Illustration der Biographie verwendet wurde. In sechs dieser Fotografien posiert der Künstler hinter einem Liegestuhl vor einem Fries mit kleinen Puppen, während er in drei weiteren Aufnahmen in ganzer Figur vor einem gemalten Porträt, das sein Haus in Palma schmückte und wahrscheinlich seinen Vater1198 darstellt, zu sehen ist. Dieses traditionelle Porträtgemälde, das in keinem Fall als ein Werk Mirós angesehen werden kann, liefert in diesen Aufnahmen einen Hinweis auf das generelle Interesse, das der Dargestellte für Kunst hegte, nicht aber auf seine besondere Rolle als Künstler1199.

Die Carrington-Porträts1200, die mit zu den wenigen nachweisbaren Künstlerporträts der 1930er Jahre zählen, und einige der Fotografien, die Lee Miller 1970 von Miró aufnahm und die neben den nur drei Jahre später entstandenen Porträts von Tàpies am Ende ihrer Karriere stehen, entsprechen sich weitgehend, so als wären sie am gleichen Tag und am gleichen Ort entstanden. Wie Carrington posiert Miró im Sitzen in konventioneller Haltung und lässiger Kleidung, die über ihren Stil keine genaue chronologische Einordnung der Aufnahmen zulässt, vor einer hellen, strukturierten Außenwand. Auch die Ansichten und die Ausschnitte, in denen die beiden Porträtierten wiedergegeben werden, stimmen so weit überein, dass man eine enge zeitliche Verbindung zwischen den beiden Serien herstellen könnte, obwohl zwischen den Aufnahmen rund dreißig Jahre liegen. Nur wenn man die Porträtierten erkennt, kann man aufgrund des großen Altersunterschiedes – Leonora Carrington (*1917) war bei der Aufnahme ca. 22, Joan Miró (1893 – 1983) 73 Jahre alt – auch einen enormen zeitlichen Abstand zwischen den Bildern vermuten.

Lee Miller schuf ihre letzten Künstlerporträts 1973 in Barcelona, als sie den katalanischen Maler Antoni Tàpies fotografierte. Penrose, der sich bereits seit 1956 für den Künstler und sein Werk interessierte, war von Tàpies gebeten worden, über dessen Kunst zu schreiben, so dass er zusammen mit Lee Miller nach Barcelona reiste.1201 Wie bei Pablo Picasso

1195 SWN LMA; Inv. Nr. A 0131–A 0141, A 0142–A 0149. Fotografie 105 (ohne Inv. Nr.) = Abb. in: Penrose 1981b, S. 272, Abb. 664. 1196 Abb. in: Walter Erben, Miró, Köln 1988, S. 247, obere linke und untere mittlere Abb. 1197 Vgl. Fußnote 11955. 1198 Vgl. die Abbildung in Pere Gimferrer, The roots of Joan Miró, Köln 1997, S. 18, Abb. a. 1199 Vgl. Kap. 4.1.2.3.1, 4.1.2.3.2, 4.1.2.3.3. 1200 Vgl. Kap. 4.2.1. 1201 Über den Besuch bei Tàpies berichtet Roland Penrose in: Penrose 1981b, S. 278–279. 251

(Serien von 1954 bis 1972) und Max Ernst1202 interessierte sich Miller nicht allein für den Künstler Tàpies, den sie mit seinen Werken im Atelier fotografierte1203, sondern auch für den Menschen Tàpies und die Umgebung, in der er lebte. Von den mindestens 100 Aufnahmen der Serie1204 zeigen so rund 30 Fotografien den Porträtierten als Jedermann in seinem gewohnten Lebensraum. Tàpies posierte wie Bérard und Topolski1205 in seiner Bibliothek1206 für die Fotografin oder wurde im Garten1207 seines Hauses – dessen Interieur allein Miller schon für bildwürdig hielt, wie mindestens 25 Aufnahmen1208 zeigen – porträtiert.

Die Monografie, die Roland Penrose über den katalanischen Maler verfasste, erschien unter dem Titel Tàpies erstmals 1977 in Barcelona und wurde im folgenden Jahr in Paris und London veröffentlicht. Die französische Ausgabe enthielt insgesamt 22 von Penrose als „dokumentarische Fotografien“ bezeichnete Aufnahmen, zu denen ein Kinderfoto des Künstlers von 1930 und Fotos von dessen Eltern und Großeltern von 1908 und 1919 gehören. Penrose verwendete auch in seiner Picasso-Biographie historische Fotografien, die das Geburtshaus des Künstlers oder auch dessen Familie zeigen. Wie in seinen Monografien über Picasso handelte es sich bei der Mehrzahl der Abbildungen um Reproduktionen der Werke des Künstlers. Von den rund 100 Aufnahmen, die Miller während ihres Besuchs von Tapiès aufnahm, wurden ‚nur‘ sieben1209 in Tàpies publiziert, was aber immerhin rund ein Drittel der dokumentarischen Fotografien ausmacht. Zwar griff Penrose für die französische Ausgabe von Tàpies auch auf sechs Fotografien zurück, die den Künstler in den 1950er und 1960er Jahren darstellen, doch findet man im Abbildungsnachweis keinen Hinweis auf den oder die jeweiligen Fotografen. Anders als in seinen Büchern über Picasso, für die er zum Beispiel auch Fotografien von David Douglas Duncan oder Edward Quinn verwendete, wird in seinem Buch über Tàpies allein Lee Miller namentlich als Fotografin aufgeführt.

1202 Vgl. Kap. 4.1.2.2.4. 1203 Vgl. Kap. 4.1.4.2.8. 1204 SWN LMA, Inv. Nr. A 0558 bis 0577, A 0578 bis 0595, A 0596 bis 0615, A 0670 bis 0690, A 0712 bis 0732, Negativformat 24 x 36 mm. 1205 Vgl. Kap. 4.1.2.3.2 und 4.1.2.3.3. 1206 SWN LMA, Inv. Nr. A 0719, A 0670, A 0671. 1207 SWN LMA, Inv. Nr. A 0585 A 0595, A 0598 bis A 0607. 1208 Zum Beispiel LMA, Inv. Nr. A 0721 oder 0722 und LMA, Inv. Nr. A 0723, Abb. in: Penrose 1985b, S. 140, Abb. b und c. 1209 Vgl. Kap. 4.1.4.2.8. 252

4.3 Künstler ohne Werk: ‚Indirekte‘ Stilisierung der Porträtierten als Künstler

Eine geringe Zahl der Fotografien, die die dargestellten Künstler als Jedermann zeigen, stellt indirekt einen Bezug zum künstlerischen Œuvre oder zur Künstlerrolle des Porträtierten her. Die Künstler werden auch in diesem Fall ohne Werke oder die traditionellen berufstypischen Werkzeuge gezeigt, die Fotografin nähert sich aber über das Bildmotiv oder die Aufnahmetechnik der Kunst der porträtierten Künstler an. So können in der Fotografie zum Beispiel bestimmte Motive oder stilistische Elemente, die sich auch im Werk des betreffenden Künstlers finden, umgesetzt werden.

Mit ihren zum Teil aufwändig inszenierten Fotografien verweist Lee Miller in jedem Fall, auch ohne einen direkten Werkbezug, auf die Besonderheit und den Charakter der von ihr porträtierten Personen, sie verweist auf das Interesse, die Neugier und die Freude der Protagonisten an solchen Inszenierungen und somit indirekt auf die Rolle des Künstlers selbst.1210 Nicht nur für Edward Quinn steht dieses Interesse am „Verkleiden und Schauspielern“ in engem Zusammenhang mit der Rolle des Künstlers. Quinn wertet sie als „wichtige Ausdrucksmittel, Teile seines Verlangens, etwas zu schaffen, ständig Neues und Unerwartetes hervorzubringen“.1211 Auch für Alexander Liberman sind „[...] der Sinn für Humor, für das Theater und die kindliche Freude am Spiel [...] verborgene Eigenschaften vieler Künstler.“1212 Für Jürgen Pech schließlich steht die Bereitschaft des Künstlers, an Inszenierungen teilzunehmen, in direkten Zusammenhang zu dessen Selbstverständnis und der dadaistischen Aufhebung von Konventionen.1213

4.3.1 Solarisiertes Porträt Man Ray (Paris, um 1929)

Eine enge Verbindung zum fotografischen Stil und Œuvre Man Rays stellt Lee Miller in der ca. 1929 entstandenen Fotografie Man Ray – shaving (Fotografie 106)1214 her. Dieses Porträt zählt nicht nur zu den frühesten erhaltenen Aufnahmen Millers, sondern ist – neben dem

1210 „Wie er die Bestandteile seiner Gemälde anordnete, um eine ‚andere Welt’ entstehen zu lassen, so vergnügte sich Magritte an freien Tagen damit, Menschen – seine Frau, seine Freunde – in erfundene Situationen zu stellen, um sie dann von dem einen oder anderen seiner Umgebung ‚abkonterfeien’ zu lassen“, berichtet Scutenaire in seiner Einführung zu Fotografien René Magrittes (Die truglosen Bilder, René Magritte, Biskop und Photographie, Brüssel 1976). 1211 Quinn 1977, o. Pag., vgl. Kapitel „Modell und Pose – ‚gestellte Fotos’“. 1212 Liberman 1961, S. 33. 1213 Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 56: „Viele Schnappschüsse, die von Max Ernst erhalten sind, dokumentieren eine selbstbewusste Ungezwungenheit und eine spielerische Lebendigkeit... Mit diesen spontanen und für die Fotografie bewusst improvisierten Inszenierungen vermitteln sie neben dem Selbstverständnis des Künstlers auch eine dadaistische Aufhebung von Konventionen.“ 1214 Fotografie 106 = Abb. in: Livingston 1989, Abb. S. 26. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, Abb. S. 10. Calvocoressi 2002, S. 7. 253 experimentellen Porträt Joseph Cornells1215 und den konventionellen Porträts1216 von Max Ernst und Dorothea Tanning – auch eines der wenigen Beispiele, die einen bildenden Künstler im Fotostudio zeigen.1217 Zudem wurde das Positiv oder das Negativ von Miller technisch manipuliert und stellt im Werk der Fotografin auch aus diesem Grund eine Ausnahme dar.

Diese Manipulation in der Technik der Pseudosolarisation sowie das ungewöhnliche Motiv – Man Ray wurde von Miller beim Rasieren fotografiert – verleihen der ansonsten konventionellen Fotografie einen besonderen Reiz. Konventionell ist die Wahl des Ausschnitts und der Ansicht Man Rays, der im Brustbild und strengen Profil vor einem neutralen Hintergrund porträtiert wurde. Dieser Hintergrund zeichnet sich durch eine Polarisierung der Helligkeits- und der Dunkelwerte, die jeweils auf die obere bzw. die untere Hälfte der Fotografie beschränkt sind, aus. Die dunklen Haare und die nackte Brust des Dargestellten können so kaum gegen den Hintergrund abgegrenzt werden und sind nur schemenhaft zu erkennen. Auch Man Rays Gesicht wird durch einen starken Hell-Dunkel- Kontrast quasi in zwei Partien geteilt: so weisen seine Stirn, sein Auge und seine Nase tiefe Schatten auf, während seine Wange und sein Kinn mit weißem Rasierschaum bedeckt sind. Allein die Kontur des Gesichts wird durch eine dunkle Linie, die charakteristisch für eine solarisierte Fotografie ist, betont.

Man Ray selbst verwendete für diese fotografische Manipulation fälschlicherweise den Begriff Solarisation1218, obwohl es sich im technisch korrekten Sinn um eine Pseudosolarisation handelt.1219 Grundsätzlich haben beide Verfahren eine Umkehrung der

1215 Vgl. Kap. 4.1.1.1. 1216 Einzelporträts Max Ernst: SWA LMA, Inv. Nr. A 0874, A 0877 und bei in Penrose 1981b, S. 286, Abb. 686 publiziertes Porträt. Doppelporträt Ernst/Tanning: SWA LMA, Inv. Nr. A 0857. 1217 Leider haben sich von den frühen Fotografien Millers aufgrund ihrer ständigen Reisen und Ortswechsel nur wenige Aufnahmen erhalten. Der Mangel an Porträts von bildenden Künstlers im Fotostudio könnte so zum einen damit erklärt werden, dass Lee Miller diese Form der Darstellung in ihrer fotografischen Praxis nur sehr selten anwendete, zum anderen könnten sich eventuelle Aufnahmen in diesem Kontext aus unterschiedlichen Gründen nicht erhalten haben. Anzumerken ist, dass Lee Miller nach 1934 kein eigenes Atelier mehr führte, aber aufgrund ihrer Tätigkeit für Vogue seit Januar 1940 die Möglichkeit hatte, in London in den Studios von Vogue zu arbeiten. Dort entstanden beispielsweise 1946 die Porträts von Dylan Thomas (LMA, Inv. Nr. 857-1 bis 857-22 und 857-24) sowie zahllose Society-Porträts (z. B. LMA, Inv. Nr. 5555, 1-2 und 5697, 1-12 von 1944). Wahrscheinlich sind auch die Porträts von Max Ernst und Dorothea Tanning in den Vogue Studios entstanden (LMA, Inv. Nr. A 0874, A 0857). 1218 Ecotais/Sayag 1998, S. 121. 1219 Zur Abgrenzung der Begriffe siehe: Felix Freier, DuMont’s Lexikon der Fotografie: Kunst – Technik – Geschichte, DuMont Taschenbücher, Bd. 160, Köln 1992, S. 290 („Sabattier-Effekt“), S. 313 („Solarisation“), S. 275 („Pseudosolarisation“). Solarisation: „Belichtungseffekt, bei dem beim Überschreiten hoher Belichtungsintensitäten die Schwärzung einer fotografischen Schicht (nach Erreichen eines Maximums) wieder abnimmt. Die dabei auftretende Bildumkehrung wird aus dem Verlauf der klassischen Schwärzungskurve ersichtlich. Auf früheren Filmemulsionen wurde dieser Effekt bei überbelichteten Aufnahmen der Sonne erkannt, die im Negativ überraschender weise eine geringere Dichte aufwiesen als der sie umgebende Himmel (Solarisation nach lat.: Sol = Sonne). Die eigentlichen Ursachen für seine (ff) 254

Tonwerte des Bildes zur Folge. Bei der Solarisation tritt diese Bildumkehr durch eine extrem hohe Belichtungsintensität bei der Erstbelichtung des Filmmaterials – also des Negativs – in der Kamera auf, während dieser Effekt bei der Pseudosolarisation durch eine diffuse Zweitbelichtung des Negativs oder des Positivs im Entwicklerbad hervorgerufen wird. Doch während die Bildumkehr bei der Solarisation als ein unerwünschtes Phänomen angesehen wurde, das durch die früheren Filmmaterialien begünstigt wurde und fehlerhafte Fotografien hervorrief, war der besondere Effekt der Pseudosolarisation das Ziel von Fotografen wie Man Ray und Lee Miller.

Wie Man Ray unterscheidet auch Michel Frizot begrifflich nicht zwischen Solarisation und Pseudosolarisation, deren besonderes Ergebnis er in seinen Ausführungen darstellt: „Ohne die Kenntlichkeit der Formen aufzuheben, bewirkte die Solarisation eine Verfremdung und machte die Identifizierung der Bereiche von Licht und Schatten ungewiß. Der grafische Aspekt der Solarisation, die an manchen Stellen die Kontraste betonte und sie ansonsten verwischte, brachte die Fotografie in die Nähe zur Zeichnung [...]“.1220 Dieser Effekt, dessen Erfindung durch Armand Sabattier in die Jahre 1860 – 62 zurückgeführt werden kann1221 und der deshalb auch als Sabattier-Effekt bekannt ist, wurde 19291222 durch Lee Miller und Man Ray wiederentdeckt und als künstlerisches Gestaltungsmittel erkannt, während der Erfinder selbst nur ein neuartiges fotografisches Verfahren entwickeln wollte: „Sabattier wollte diese Methode zur direkten Herstellung positiver Bilder auf der Glasplatte anwenden, was aber die Kenntnis des richtigen Zeitpunktes, zu dem man das im Entwicklungsprozess befindliche Negativ anstrahlen musste, voraussetzt. Bei zu kurzer Belichtung wurde nur eine teilweise Umkehrung erzielt.“1223 Genau diese wurde aber von Miller und Man Ray intendiert.

Bis heute herrscht Unklarheit darüber, welchem der beiden Fotografen der Ruhm der Wiederentdeckung zukommt. Lee Miller beschreibt, dass ihr eines Tages in der Dunkelkammer etwas über den Fuß gelaufen sei und sie vor Schreck das Licht angemacht

Entstehung sind zwar immer noch umstritten, jedoch tritt der Effekt bei modernen Fotomaterialien sowieso kaum mehr auf. Der Begriff S. wird fälschlicherweise oft mit der Pseudosolarisation (Sabattier-Effekt) gleichgesetzt.“ Pseudosolarisation: „Wird ein belichtetes Positiv oder Negativ während der Entwicklung im Fotolabor einer diffusen Zweitbelichtung ausgesetzt, so tritt in Bildpartien ab mittlerer Helligkeit eine Bildumkehrung ein. Sie entsteht durch die abgelagerten Oxidationsprodukte des Entwicklers, der an diesen Stellen inaktiv wird. Durch die Zweitbelichtung werden gleichzeitig die bisher unbelichteten Keime entwicklungsfähig gemacht. Durch ein Fortschreiten der Entwicklung entstehen in ein und derselben Emulsion Schwärzungen mit negativer und positiver Bildeinwirkung. Dazwischen verlaufen, besonders in Bereichen mit hohem Kontrast, helle Trennlinien... Will man die P. gezielt als Technik der Fotografik nutzen, sind neben der Gradation weitere Einflussfaktoren zu berücksichtigen: Material/Entwicklerkombination, Intensität der Erstbelichtung, Dauer der Erstentwicklung, Zustand und Farbe des Entwicklers, Intensität und Dauer der Zweitbelichtung und die Gesamtentwicklungszeit [...]“. 1220 Frizot 1998, S. 448. 1221 Helmut Baier, Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie, München 1977, S. 172f. 1222 Ecotais/Sayag 1998, S. 121. 1223 Peter Tausk, Die Geschichte der Fotografie im 20. Jahrhundert, Köln 1977, S. 97. Vgl. auch: Freier 1992, S. 290 („Sabattier-Effekt“), S. 313 („Solarisation“), S. 275 („Pseudosolarisation“). 255 habe, so dass die Negative im Entwicklerbad einem starken Licht ausgesetzt worden seien. Man Ray habe daraufhin versucht, diese Negative zu retten, in dem er sie in Fixiersalz legte. „Als er sich die Negative betrachtete, sah er, dass der unbelichtete Teil, der dunkle Hintergrund, von dem plötzlich angeschalteten Licht belichtet worden war und direkt an den Rand des weißen nackten Körpers angrenzte. Aber der Hintergrund und der Körper gingen nicht wirklich ineinander über, so dass eine Linie zurückblieb, die er Solarisation nannte.“1224 Diese Version Lee Millers wird oft bezweifelt, da sie zu dieser Zeit eine Anfängerin auf dem Gebiet der Fotografie gewesen sei und Man Ray weitaus mehr Erfahrung besessen habe.1225 Lucien Treillard weist in einem Interview aber daraufhin, dass „Lee Miller, die oft als Neuling hingestellt wird, immerhin Photographentochter war und sich mit dem Photo auskannte; sie ist nach Paris gekommen, um sich bei Man Ray fortzubilden. Sie haben an zahlreichen Bildern gemeinsam gearbeitet; herauszufinden, was dem einen und was dem anderen zukommt, wäre vielleicht eine Untersuchung wert.“1226

Man Ray und Lee Miller verwendeten die Pseudosolarisation auch auf dem Gebiet der Porträtfotografie. Unter Verwendung dieser fotografischen Technik entstanden Porträts, deren besonderer Reiz „in einer Art Materialisierung der Aura einer Person bestand. Indem Man Ray die berühmtesten Künstler seiner Zeit (Picasso, Braque, Duchamp, Breton, Max Ernst) photographierte und anschließend solarisierte, unterstützte er auf augenfällige Weise die Theorie, der zufolge manche Künstler Genie und damit eine Aura besitzen“.1227

In Man Rays Œuvre finden sich die solarisierten Porträts von Lee Miller1228 und André Breton1229. Der Fotograf wählte zur Darstellung seiner Assistentin und seines Freundes einen konventionellen Ausschnitt und eine traditionelle Ansicht und zeigt beide im Brustbild und im strengen Profil. Der experimentelle Charakter resultiert im Fall dieser Porträts allein aus der technischen Manipulation der Aufnahmen. Lee Miller geht in ihrem Porträt von Man Ray aber einen Schritt weiter: In ihrer Fotografie kombiniert sie den Effekt der Solarisation mit einem für das Porträt eher ungewöhnlichen Motiv, der „Materialisierung der Aura einer Person“1230 wird der unspektakuläre, alltägliche Vorgang des Rasierens gegenübergestellt. Durch diese Konfrontation, diesen „Einbruch des Geheimnisvollen in die Banalität“1231, wird eine surreale Wirkung evoziert.

1224 Lee Miller in einem Interview mit Mario Amaya, in: Apropos Lee Miller, Frankfurt 1995, S. 102. 1225 Ecotais/Sayag 1998, S. 121. 1226 Ecotais/Sayag 1998, S. 245. 1227 Ecotais/Sayag 1998, S. 125. 1228 Lee Miller wurde 1929 von Man Ray im strengen Profil porträtiert und die Aufnahme anschließend solarisiert, Abb. in: Penrose 1985a, S. 23. 1229 Das solarisierte Porträt André Bretons wurde von Man Ray ca. 1930 hergestellt, Abb. in: Timothy Baum, Man Ray’s Paris Portraits: 1921–39, Washington, DC, 1989, Abb. 53. 1230 Ecotais/Sayag 1998, S. 125. 1231 Edouard Jaguer, Surrealistische Photographie: Zwischen Traum und Wirklichkeit, Köln 1984, S. 161. 256

Man Ray war Ende der zwanziger Jahre, als sein solarisiertes Porträt entstand, einer der gefragtesten Fotografen seiner Zeit. Obwohl die Fotografie zur damaligen Zeit nicht von allen als Kunst betrachtet wurde, war es vielleicht die Intention Lee Millers, den glorifizierenden Effekt der Solarisation speziell im Bereich des Künstlerporträts sozusagen ad absurdum zu führen, in dem sie diese Technik in Verbindung mit einem, auch für das Künstlerbildnis, ungewöhnlichen Motiv anwendete und Man Ray mit einer Art Heiligenschein beim Rasieren zeigte, was die surrealistische Aussage des Bildes deutlich steigerte.

Mit ihrem Porträt von Man Ray verweist Lee Miller nicht nur auf dessen spezielles Interesse an fotografischen Inszenierungen und Experimenten, sondern lässt sich von den von ihm entwickelten (Bild-)Ideen und Techniken inspirieren, die sie aber letztendlich nach ihren eigenen Vorstellungen und Ideen weiterentwickelte, um den zu den surrealistischen Künstlerkreisen zählenden Man Ray in perfekter surrealistischer Manier zu porträtieren.1232

Lee Miller stand den surrealistischen Künstlerkreisen – unter anderem durch ihren Kontakt zu Man Ray, der sich der surrealistischen Bewegung schon früh, um 1924, angeschlossen hatte – sehr nahe, ohne aber jemals ein aktives Mitglied der Bewegung um André Breton zu sein. Der große Einfluss, den diese künstlerische Richtung auf sie ausübte, blieb nicht auf die Jahre in Paris von 1929 – 1932 beschränkt: Millers ‚surrealistisch geschultes Auge‘, ihr Sinn für surrealistische Thematik ist immer wieder auch in Teilen ihres späteren Œuvres zu erkennen. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle in einem kurzen Exkurs auf den Surrealismus und die surrealistische Fotografie eingegangen werden.

1232 In Lee Millers Werk aus den Jahren von 1929/30 (Wiederentdeckung des Sabattier-Effekts durch Man Ray und Lee Miller) bis 1934 (Aufgabe des Porträtstudios in New York) finden sich weitere solarisierte Porträts, die aufgrund der technischen Komponente der experimentellen Fotografie zuzuordnen sind. Als Beispiele können die solarisierten Fotografien einer unbekannten Frau (Tanja Ramm?, Paris, ca. 1930) (LMA, Inv. Nr. NC 0058-5, Abb. in: Penrose 1985a, S. 35. Livingston 1989, S. 34. Calvocoressi 2002, S. 18) und Dorothy Hills (New York, ca. 1933) (LMA, Inv. Nr. NC 0030-8, Abb. in: Penrose 1985a, S. 47. Livingston 1989, S. 44 und S. 107. Calvocoressi 2002, S. 26 (vgl. auch S. 27)) angeführt werden. Leider ist nicht bekannt, ob es sich bei den Dargestellten um Künstlerinnen handelte, so dass nicht eindeutig zu klären ist, ob die Solarisation auch außerhalb der Künstlerfotografie Anwendung fand. Bei den meisten dieser Aufnahmen handelt es sich bei den Dargestellten aber um enge Freunde Millers, so dass diese solarisierten Porträts im Kontext ihrer freien Arbeiten zu sehen sind. Das Porträt der Schauspielerin Lilian Harvey (LMA, Inv. Nr. NC 0050-1, Abb. in: Penrose 1985a, S. 50. Calvocoressi 2002, S. 32–33) zeigt, dass Miller die Solarisation in bestimmten Fällen auch im Bereich der Auftragsarbeit einsetzte. Lilian Harvey soll ca. 1933 mehrere Porträts bei Miller in Auftrag gegeben haben. Diese Fotografien im Stil der sog. Starporträts oder Glamourporträts (Vgl. auch das in Auftragsarbeit entstandene und von Miller signierte Porträt der Schauspielerin Gertrude Lawrence, New York, ca. 1933, Abb. in: Penrose 1985a, S. 53. Livingston 1989, S. 119. Calvocoressi 2002, S. 29) wurden von ihrem Agenten als Werbematerial bei der Besetzung von Rollen verwendet (Penrose 1985a, S. 49). Ob die solarisierte, experimentelle Fotografie von Lee Miller auch diesem Zweck diente, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Einige Kriterien könnten aber für eine solche Nutzung der Fotografie sprechen, vgl. Fußnote 12422. 257

Im Oktober 1924 veröffentlichte André Breton sein Manifeste du Surréalisme1233, in dem er die neue Geisteshaltung des Surrealismus folgendermaßen definierte: „ – Surrealismus. Subst. m., reiner psychischer Automatismus, durch den man den wirklichen Ablauf des Denkens mündlich, schriftlich oder auf jede andere Weise auszudrücken sucht. Diktat des Denkens ohne jede Kontrolle durch die Vernunft und außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen. – Philos. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die übergeordnete Wirklichkeit bestimmter, bis heute vernachlässigter Assoziations-Formen, an die Allgewalt des Traums, an das absichtsfreie Spiel des Denkens. Er zielt darauf hin, alle anderen psychischen Mechanismen zu zerstören und ihre Stelle bei der Lösung der wichtigsten Lebensprobleme einzunehmen.“

Obgleich die Fotografie in Bretons Manifesten kaum Erwähnung findet, spielte sie bei der Darstellung surrealistischer Ideen eine große Rolle. Dieses Zusammenspiel von Fotografie und Surrealismus scheint zunächst ein Widerspruch zu sein. Denn während die Malerei grundsätzlich geeigneter schien, die Bilderwelt des Surrealismus zu visualisieren, die auf dem Ausfall des Bewusstseins, der Überwindung der Logik in bestimmten Zuständen wie im Traum, im Wahn, in Hypnose und im Rausch basierte, galt die Fotografie als ein Medium zur Abbildung des ‚Realen‘.1234 Doch gerade dieser Widerspruch zwischen der Visualisierung surrealer Bilderwelten und der der Fotografie seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert immer wieder implizierten Funktion der tatsächlichen Wiedergabe der vermeintlichen Wirklichkeit, machte ihre Stärke aus: Das, was man auf einer Fotografie sah, wurde als real existent angesehen.1235 „Der scheinbare Gegensatz zwischen der Verankerung des Mediums in der Wirklichkeit [...] und den Bestrebungen der Surrealisten, das ‘Unbekannte zu realisieren’ konnte als Paradoxon die gesteckten Ziele nur unterstützen.“1236

Die von surrealistischen Künstlern geschaffenen Werke zeichnen sich nicht durch einen homogenen Stil, sondern eine Vielfalt an unterschiedlichen künstlerischen Stilen aus, die auf dem einer Varietät von Strömungen und persönlichen Einflüssen unterworfenen Gedankengut dieser Bewegung basieren. Nicht nur in der Malerei traten die Auswirkungen

1233 “SURRÉALISME, n., m. Automatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par l’écrit, soit de toute autre matière, le fonctionnement réel de la pensée. Dictée de la pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale. ENCYCL. Philos. Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certain formes d’associations négligées jusqu’à lui, à la toute-puissance du rêve, au jeu désintéressé de la pensée. Il tend à ruiner définitivement tous les autres mécanismes psychiques et à se substituer à eux dans la résolution des principaux problèmes de la vie. (Jean Jacques Pauvert (Hrsg.), André Breton, Manifestes du Surréalisme, [Montreuil 1962], S. 40). Deutsche Übersetzung in: José Pierre, DuMont’s kleines Lexikon des Surrealismus, Köln 1976, S. 147. 1234 Rosalind Krauss, Jane Livingston, L’Amour fou, photography & surrealism, Ausst. Kat., Corcoran Gallery of Art, Washington, D.C., Sept.–Nov. 1985, S. 15. 1235 Herta Wolf (Hrsg.), Der fotografische Akt: Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam [u. a.] 1998 (= Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie der Fotografie, Bd. 1), S. 31–40. 1236 Monika Faber (Hrsg.), Das Innere der Sicht, Surrealistische Fotografie der 30er und 40er Jahre, Ausst. Kat., Museum des 20. Jahrhunderts Wien, 14.4.–21.5.1989, S. 25. 258 dieser Stilpluralität besonders zutage, auch in der Fotografie fanden die unterschiedlichen Anschauungen ihre Umsetzung: so kann nicht von ‚der’ surrealistischen Fotografie gesprochen werden, es muss vielmehr eine Differenzierung der einzelnen Richtungen und Entwicklungen vorgenommen werden.1237

Technisch manipulierte Aufnahmen (Abzüge wie Negative) finden sich in Lee Millers Werk nur selten, bei den wenigen Beispielen handelt es sich um solarisierte Fotografien. Die Technik der Pseudosolarisation fand im Werk Millers nicht speziell im Bereich der Porträts von bildenden Künstlern Anwendung, wofür die Bildnisse, die Miller unter anderem von ihrer Freundin, der Schauspielerin Dorothy Hill (New York, ca. 1933), schuf, als Beispiele angeführt werden können.1238 Lee Miller setzte die Pseudosolarisation vor allem im Bereich ihrer freien Arbeiten ein, zu denen auch die Porträts ihrer Freunde zu zählen sind. Bei diesen handelte es sich aber meistens, wie im Fall von Man Ray und Dorothy Hill, um kreative und künstlerisch tätige oder zumindest interessierte Personen.

1237 Vgl. hierzu: Uwe M. Schneede (Hrsg.), Begierde im Blick, Surrealistische Photographie, Ausst. Kat., Hamburger Kunsthalle, 11.3.–29.5. 2005. Einen Bereich der surrealistischen Fotografie stellen die so genannten direkten Aufnahmen (Ausst. Kat. Washington, 1985, S. 24) dar: die Motive für diese Bilder entdeckten die Fotografen im Alltag. Fotografiert wurden gewöhnliche Objekte und Szenen, die allein durch ungewöhnliche Zusammenstellungen, das Verschmelzen von Wirklichem und Unwirklichem und ohne spezielle Inszenierungen oder technische Bildmanipulationen surreale Eindrücke wiedergeben. Diese direkten Aufnahmen, die in Entsprechung zu Plastik und Objektkunst auch als Objéts trouvés bezeichnet werden, stellen den Hauptteil von Millers surrealistischen Fotografien dar. Einen Randbereich dieser direkten Fotografie nehmen die Bilder ein, die von den Fotografen speziell für die Aufnahme inszeniert wurden. Für diese Fotografien wurde von Faber der Begriff des objets trouvés aidés geprägt (Ausst. Kat. Wien 1989, S. 15 und S. 19). Im Gegensatz zu diesen direkten Bildern stehen Fotografien, deren surreale Wirkung mittels technischer Manipulationen bei der Aufnahme oder in der Dunkelkammer erreicht wurde. Innerhalb dieses Bereichs können verschiedene Verfahrensweisen wie zum Beispiel die Lichtmontage, der Automatismus und die Pseudosolarisation unterschieden werden. Bei der Lichtmontage handelt es sich nach Freier um eine „Technik der Fotomontage, bei der Elemente aus mehreren Fotografien zusammengefügt werden, wobei allerdings im Unterschied zur Klebemontage nicht Teile von fertigen Papierabzügen verwendet werden, sondern Bildelemente aus unterschiedlichen Negativen oder Dias; diese werden bereits bei der Bildbelichtung (im Fotolabor) kombiniert. Dabei können die einzelnen zu montierenden Bildpartien entweder nacheinander (Belichtungsmontage) oder gleichzeitig als Sandwich (Filmmontage) auf Planfilm oder Fotopapier aufbelichtet werden... Anders als bei der Klebemontage sind bei der Lichtmontage auch fließende Übergänge zwischen den einzelnen Bildteilen möglich“ (Freier 1992, S. 217). Dem Automatismus, den André Breton in seinem ersten surrealistischen Manifest propagierte, werden fotografische Techniken zugeordnet, deren Ablauf nicht bis ins letzte Detail kontrollierbar war und die zufällige Fotografien schufen. Als Beispiele können die Rayogramme Man Rays, kameralose Photogramme, bei denen die Objekte direkt auf das Photopapier gestellt und dann dem Licht ausgesetzt wurden, und die Brûlages von Raoul Ubac angeführt werden, bei denen die Bilder durch das Schmelzen der Negativemulsion modifiziert wurden. (Ausst. Kat. Washington 1985, S. 24–25.). 1238 LMA, Inv. Nr. NC 0030-8 (Abb. in: Penrose 1985a, S. 47. Livingston 1989, S. 44) sowie eine weitere Aufnahme von Hill im New Yorker Studio 1933 ohne Inv. Nr. (Abb. in: Livingston 1989, S. 107). 259

Auch von Lilian Harvey existiert ein solarisiertes Porträt1239. Die Schauspielerin soll um 1933 mehrere Porträts bei Miller in Auftrag gegeben haben. Diese Fotografien im Stil der sogenannten Starporträts oder Glamourporträts1240 wurden von Harveys Agenten bei der Vermittlung seiner Klientin an Regisseure oder Produzenten, die für die Besetzung von Rollen verantwortlich sind, verwendet.1241 Lee Miller solarisierte mindestens eine Fotografie der im Auftrag aufgenommenen Porträtserie. Ob diese solarisierte Fotografie mit dem Wissen Harveys (also als Auftrag) entstand und von ihr auch eventuell an die Presse oder an ihre Fans als Autogrammkarte ausgegeben wurde, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Einige Kriterien könnten aber für eine solche Nutzung der Fotografie sprechen.1242

4.3.2 Porträt Eileen Agar (Brighton, 1937)

Lee Miller wählte nur für wenige Fotografien, die den Porträtierten in indirekter Weise als Künstler stilisieren, – wie im Fall des solarisierten Porträts von Man Ray – eine Innenraumkulisse, die Mehrzahl der Aufnahmen entstand im Freien, wo die Porträtierten entweder vor einem Architektur- oder Naturhintergrund dargestellt sind.

Von der britischen Malerin, Objektkünstlerin und Fotografin Eileen Agar finden sich im Werk Millers nicht nur die Fotografien, die sie zusammen mit der von ihr geschaffenen? Plastik Golden Tooth zeigen und somit einen unmittelbaren künstlerischen Zusammenhang herstellen1243, sondern auch ein weiteres Porträt (Fotografie 107)1244, in dem die Dargestellte

1239 LMA, Inv. Nr. NC 0050-1, Abb. in: Penrose 1985a, S. 50. Calvocoressi 2002, S. 32–33. 1240 Vgl. auch das in Auftragsarbeit entstandene und von Miller signierte Porträt der Schauspielerin Gertrude Lawrence, New York, ca. 1933, Abb. in: Penrose 1985a, S. 53. Livingston 1989, S. 119. Calvocoressi 2002, S. 29. Felix Freier schreibt zum Stichwort ‚Glamour-Fotografie’ (Freier 1992): „Stilbereich zwischen Mode- und Porträtfotografie, in dem die abgebildeten Personen als bewundernswerte Idole fotografiert werden. Demzufolge liegt das Hauptarbeitsgebiet im Showbuisiness und den Lebensweisen der gesellschaftlichen Oberschicht (vornehmlich zwischen 1920 und 1955 in den USA). Die kommerziellen Starbilder der Fotografen der Filmstudios, besonders aber die Aufnahmen des Fotografen der ‚feinen’ Gesellschaft, Cecil Beaton, spiegeln die illusionistische Denkweise einer Epoche.“ 1241 Penrose 1985a, S. 49. 1242 Das Porträt Lilian Harveys unterscheidet sich so deutlich von den bisher angeführten solarisierten Fotografien. Miller stellte die Schauspielerin in einer ‚lasziven‘, ausgesteckten Körperhaltung bis zum Knie dar und wählte nicht, wie beispielsweise im Fall Man Ray – shaving oder den Porträts von Dorothy Hill, den deutlichen begrenzteren Ausschnitt des Kopfes im Profil oder in Frontaldarstellung. So war es möglich, die Figur, den Schmuck und das exklusive Abendkleid Harveys optimal zur Geltung zu bringen, Elemente, die für ein Starporträt von großer Bedeutung waren. Die Aufnahme vereint die Merkmale eines Starporträts mit denen einer experimentellen, solarisierten Fotografie, die bereits von Man Ray zur Betonung des Genies, der Aura eines Künstlers eingesetzt wurde, und setzt sich somit deutlich von einer ‚normalen‘ Glamourfotografie ab. 1243 Vgl. Kap. 4.1.1.2. 1244 Fotografie 107 = SWA LMA, Inv. Nr. A 0007, Abb. in: Penrose 1985a, S. 79. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 43. Calvocoressi 2002, S. 39. Michel Remy, Surrealism in Britain, Aldershot [u. a.] 1999, Abb. 63. Abb. der Fotografie auf der Internetseite der Redfern-Gallery: >http://www.redfern- gallery.co.uk/pages/artistinfo/121.html<. 260 indirekt als Künstlerin stilisiert wird und das ebenfalls in den Sommer 1937 datiert werden kann. Zu dieser Zeit lebte Miller in Ägypten und verbrachte ihren Urlaub in Europa. Eileen Agar und Lee Miller hatten sich wahrscheinlich erst kurz zuvor bei einem von Roland Penrose initiierten Treffen surrealistischer Künstler in Cornwall kennen gelernt. Miller begleitete die britische Objektkünstlerin und Fotografin vermutlich auf einer ‚fotografischen Entdeckungstour‘ an die britische Küste.

Dort, genauer gesagt in Brighton (Sussex), einem Badeort an der Südküste Englands, nahm Miller Ende Juli/Anfang August 1937 als freie Arbeit ein eher ungewöhnliches Porträt Agars auf. Der besondere Reiz und irreale Effekt der Aufnahme resultiert in diesem Fall nicht – wie bei Man Ray – aus einer technischen Manipulation, sondern ist das Ergebnis einer speziellen Inszenierung. Lee Miller porträtierte so nicht unmittelbar die Person Eileen Agars, sondern ihren Körperschatten, der sich bis in Höhe der Oberschenkel auf der Basis und dem Schaft einer riesigen Säule des Marine Pavilion1245 in Brighton abzeichnete.

Diese Säule ist fast formatfüllend dargestellt, nur im linken Bereich der Fotografie ist ein schmaler Ausschnitt des Raumes mit einem eisernen? Gitterstab zu sehen. An dieser Stelle fällt ein weiterer Schatten, der zweifellos der Fotografin zugeordnet werden kann, partiell auf die Säulenbasis. Während es sich hierbei um die Silhouette einer gebückten Person handelt – Lee Miller beugte sich während der Aufnahme über den Lichtschacht ihrer Spiegelreflexkamera Rolleiflex1246 – ist der Schattenriss Eileen Agars absolut vertikal ausgerichtet und wird so als eine menschliche Gestalt wahrgenommen.

Es war sicher nicht leicht, den Körperschatten von Eileen Agar auf den plastischen Formen der Säule relativ unverzerrt wiederzugeben. Denn die Umrisslinie des Schattens und seine Fläche erfahren durch die den Säulenschaft strukturierenden, plastischen Blattelemente und die Rundung der Säule eine Verfremdung.1247 Diese verfremdende Tendenz wird durch verschiedene, für einen menschlichen Körper eher untypische Verläufe in der Schattenkontur noch gesteigert: Agars Kopf wird so durch einen zur damaligen Zeit sehr modischen, spitz

1245 Dieses architektonische Element ist Teil des Marine Pavilion, auch Brighton Pavilion oder Royal Pavilion genannt, den der spätere König Georg IV. in den Jahren 1786–87 von Henry Holland als seinen Wohnsitz errichten ließ. Seit einem 1815–1822 erfolgten Umbau im indischen Mogulstil durch John Nash weist der Pavillon eine große Stilpluralität auf: klassische und orientalisch-indische Architekturelemente vereinen sich zu einem wahrhaft ‚phantastischen‘ Ensemble (vgl. Nikolaus Pevsner, Ian Nairn, Sussex, The Buildings of England, BE 28, Harmondsworth 1965, S. 438–442). Die dem gezeigten Säulenelement in wesentlichen Punkten entsprechenden Säulen, als deren Vorbilder altägyptische Lotos- oder Papyrussäulen anzusehen sind, finden sich als monumentale Dreiviertelsäulen an der Westfassade des Pavillons und wurden zur Akzentuierung der Ecken der Querflügel zur linken und zur rechten Seite des Grand Entrance eingesetzt (vgl. John George Bishop, The Brighton Pavilion and its Royal and Municipal Associations, 10. Aufl., o.O., 1900, Abb. ist zwischen S. 166 und 167 eingefügt). 1246 Vgl. Kap. 4.1.1.2. 1247 Dies betrifft besonders den oberen Blattkranz: hier befinden sich zwischen den einzelnen ‚Blättern‘ schmale Eintiefungen, die die Umrisslinie brechen, so dass sie besonders im Kopfbereich vor- und zurückspringt. In den eingetieften Bereichen wirkt der Schatten auch dunkler als auf den erhabenen Flächen. 261 zulaufenden Hut unnatürlich verlängert, während ihr Unterkörper durch ihre in Bauchhöhe getragene Rolleiflex eine besonders bizarre Ausformung erhielt. Pablo Picasso war, wie Eileen Agar in ihren Memoiren1248 berichtet, von der Vorstellung, dass Agar „mit ihrer Kamera schwanger sei“ so begeistert, dass er Lee Miller während ihres gemeinsamen Urlaubs im südfranzösischen Mougins um einen Abzug bat.

Der Schattenwurf von Agars Gesicht zeichnet sich im strengen Profil auf einem der selbst unverzierten Blattelemente ab und gibt ihre Physiognomie weitgehend unverzerrt wieder, so dass die Porträtierte von einem Betrachter, der mit ihrem Gesicht vertraut war, durchaus identifiziert werden kann.1249 Dies lässt an die Bildnissilhouetten denken, die sich in Europa seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts – auch bei Goethe und seinem Kreis1250 – bis zum Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert einer besonderen Beliebtheit erfreuten. Auch hier war es der besonders prägnante Profilschatten, der, nachdem er aus schwarzem Papier ausgeschnitten und auf einen kontrastfarbenen Träger aufgeklebt worden war, einen Eindruck vom Aussehen und Charakter einer Person vermitteln sollte.1251

Lee Miller schnitt nicht nur den Profilschatten der Künstlerin aus dem fotografischen Porträt von Eileen Agar aus, sondern verwendete die gesamte Fotografie neben einer Ansichtskarte der Côte d’Azur und der Darstellung eines Holzflachreliefs von Sophie Taeuber-Arp als Teil einer Collage1252, die sie vielleicht noch unmittelbar in Mougins zusammenstellte. Dort, in einem Zimmer des Hotels Vaste Horizon, entstanden zum Beispiel auch die ersten Postkarten-Collagen von Roland Penrose, an die Lee Millers Arbeit erinnert.1253 Die Porträtfotografie von Eileen Agar wird so nicht nur durch ihr ungewöhnliches Motiv zu etwas Besonderem, sondern stellt auch durch ihre Wiederverwendung in einer Collage in Millers Schaffen eine Ausnahme dar.

Eileen Agar wird in ihrem Porträt nicht unmittelbar in einem künstlerischen Umfeld gezeigt: sie ist weder in ihrer Rolle als surrealistische Künstlerin noch als Fotografin dargestellt worden. Indirekt könnte aber über ihre Bereitschaft, sich in dieser speziellen Art fotografieren zu lassen, unter Umständen ein Rückschluss auf ihre Künstlerrolle gezogen werden. Dass Eileen Agar die Fotografie 1989, also über dreißig Jahre nach deren Entstehung, als eine

1248 Agar 1988, S. 139 und Abb. 14a. 1249 Cecil Beaton porträtierte Eileen Agar 1927, also zehn Jahre vor Miller. Diese Aufnahme, die Agar im strengen Profil zeigt, eignet sich so hervorragend für einen Vergleich und kann zur Identifizierung der Porträtierten herangezogen werden (Abb. in: Agar 1988, Abb. 4). 1250 Elmar Mittler, Elke Purpus und Georg Schwedt, “Der gute Kopf leuchtet überall hervor”: Goethe, Göttingen und die Wissenschaft, Göttingen 1999, S. 204, Kat.-Nr. J.7. 1251 Vgl. Sue MacKechnie, British Silhouette Artists and their work: 1760–1860, London 1978. Marion Ackermann, Schattenrisse: Silhouetten and Cutouts, Ausst. Kat., Lenbachhaus, München, 3.2.– 6.5.2001, Ostfildern-Ruit 2001. 1252 Abb. in: Chadwick 1993, Abb. 65, „Lee Miller, collage of Eileen Agar, including wood bas relief Sophie Taeuber-Arp, 1937. 8 1/2 x 11 (21,5 x 28 [cm]). Collection of the late Sir Roland Penrose.“ 1253 Penrose 2002, S. 38–39. Vgl. Kap. 4.1.4.2.1. 262 von nur wenigen Aufnahmen zur Illustration ihrer Autobiographie auswählte, zeigt, welche Bedeutung dieses ‚Porträt‘ für die Künstlerin hatte.

4.3.3 Porträt Leslie Hurry mit Teekanne (London, 1943)

Während Lee Miller 1937 das Schattenbild Eileen Agars fotografierte, nahm sie im Mai 1943 in London das Spiegelbild des britischen Malers und Theaterdesigners Leslie Hurrys1254 auf. Dieses Spiegelbild, das neben Hurry auch noch einen weiteren, unbekannten Mann und die Fotografin selbst zeigt, wird in Form eines Bildes im Bild1255 präsentiert. Das Konzept, das dieser Aufnahme zugrunde liegt, könnte Lee Miller bereits um 1930 in Paris kennen gelernt haben. So publizierte die seit Beginn 1928 wöchentlich erscheinende Illustrierte Vu, die einen besonders starken Akzent auf Fotografie setzte und in der auch Aufnahmen von Man Ray erschienen, in der Nummer 129 vom 30. September 1930 den Artikel Chez les marchands d’avenir, den Aufnahmen des ungarischen Fotografen André Kertész illustrierten. In diesen Fotografien zeigt Kertész, der seit 1925 in Paris lebte, Wahrsagerinnen mit ihren Arbeitsmaterialien, riesigen, hochglänzenden Kugeln, in denen sich die Frauen selbst und/oder ihr Umraum spiegeln.1256 Diese Kugeln sind aber nicht bildfüllend dargestellt, sondern nehmen in der Komposition mehr oder weniger Raum ein, so dass deutlich wird, dass sie in ein anderes Bild integriert sind.

Eine Fotografie von Albert Renger-Patzsch, ein Selbstporträt1257 aus dem Jahre 1926/27, wurde ebenfalls nach dem Prinzip eines Bildes im Bild aufgebaut: das die Szene wiederspiegelnde Objekt, in diesem Fall ein chromglänzender Autoscheinwerfer1258, füllt aber

1254 Neuer SWA, LMA, Inv. Nr. 5037-17, Format H/B 17,8 x 17,8 mm. In der Kartei des Lee Miller Archive in Chiddingly wird als Zeitpunkt der Aufnahme der 18. Mai 1943 genannt. Unter der Inventar- Nummer 5037 sollen sich insgesamt 36 Negative (3 Kontaktbogen) im Archiv befinden. Zu diesen gehören z. B. LMA, Inv. Nr. 5037-36, das Leslie Hurry vor seiner Staffelei zeigt (vgl. Kap. 4.1.4.1.1) und LMA, Inv. Nr. 5037-8. 1255 Eine Spiegelung kann ein Bild im Bild sein, ein Bild im Bild muss nicht in jedem Fall durch eine Spiegelung entstehen. Als ein Beispiel für eine Spiegelung kann im Werk Millers ein 1944 entstandenes Modefoto (Abb. in: Livingston 1989, S. 70) und das 1946 entstandene Porträt von Roland Penrose und Man Ray (Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 127) angeführt werden. 1256 Sandra S. Phillips, David Travis, Weston J. Naef (Verf.), André Kertész: of Paris and New York, Ausst. Kat., The Art Institute of Chicago, 10.5.–14.7.1985, The Metropolitan Museum of Art, New York, 19.12.1985–23.2.1986, S. 48, Abb. 41, S. 269, Kat. Nr. 87, Abb. S. 183, siehe auch die Abb. in: FOTOGESCHICHTE 20 (2000) 77, S. 40 oben. Nach dem gleichen Prinzip schuf bereits um 1910 ein namentlich nicht bekannter Fotograf eine Aufnahme einer im Freien versammelten Gruppe: er fotografierte nicht unmittelbar die Gruppe, sondern deren Spiegelbild, das sich auf einer großen, glänzenden (Garten-)Kugel abzeichnete (und verewigte somit natürlich auch sein Spiegelbild), Abb. in: Frizot 1998, S. 8. 1257 Ann Wilde, Jürgen Wilde, Thomas Weski (Hrsg.), Albert Renger-Patzsch: Meisterwerke, Ausst. Kat. Sprengel Museum Hannover, 13.4.–22.6.1997, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 10.7.– 7.9.1997, Fotomuseum Winterthur, 22.11.1997–18.1.1998, Haus der Kunst München, 30.1.–13.4. 1998, S. 164. 1258 Auch Umbo nahm um 1930 ein Selbstporträt im Autoscheinwerfer auf, das in Die neue Linie, Heft 5, Januar 1931, publiziert wurde. Abb. in: Herbert Molderings, Umbo: Otto Umbehr 1902–1980, Düsseldorf 1996, S. 139, Abb. 116. 263 den gesamten Bildraum aus und wird sogar vom oberen Bildrand angeschnitten. Der sehr eng gefasste Bildausschnitt lässt aber kaum eine Möglichkeit, den Kontext, in den das Bild im Bild integriert wurde, darzustellen, so dass dem Betrachter eine Orientierung nicht so leicht möglich ist; Renger-Patzsch verfremdet die Wirklichkeit durch den gewählten Ausschnitt stärker und trägt auf diese Weise nachhaltiger zur Verwirrung des Betrachters bei.1259

Die Stelle der Kugeln und des Autoscheinwerfers in den Fotos von Kertész und Renger-Patzsch nimmt in der 1943 entstandenen Fotografie von Lee Miller eine Teekanne ein, die bei der Aufnahme selbst aber nicht bildfüllend dargestellt, sondern in einen weiteren Bildraum eingebunden wurde. Die Kanne wird in der Darstellung sicher von Lesley Hurry in den Händen gehalten, da sein Spiegelbild, das ihn bis zur Brust zeigt, am größten wiedergegeben wird und er sich so in unmittelbarer Nähe des Objektes befunden haben muss. Außer der Teekanne hielt Hurry, dessen Unterarme und dessen Knie unmittelbar fotografiert worden sind, die beinahe schon obligatorische Zigarette in der Hand1260.

Die Szene spielt im Freien, wie der sich in der Kanne reflektierende Himmel zeigt. So hatte man sich vielleicht im Garten des Hauses von Roland Penrose, mit dem Lee Miller seit 1939 in Downshire Hill 211261 in Hampstead zusammen lebte, zum Teetrinken zusammengesetzt. Neben der Teekanne sind im Hintergrund noch zwei weiße Tassen auf einem Tisch zu erkennen, während die übrige Umgebung nicht spezifiziert werden kann.

Die drei Personen, deren Reflexionen sich in der linken Seitenfläche der Kanne (die Tülle ist in der Fotografie nach links ausgerichtet, der Henkel zur rechten Seite hin) abzeichnen, werden durch Spiegelung selbst, die Lichtreflexe in der glänzenden Lasur und besonders durch die Rundung des Gefäßes verzerrt wiedergeben. Dies hat vor allem Auswirkung auf die im Vordergrund dargestellten Personen, deren Gesichter unnatürlich in die Länge gezogen werden. Lee Miller stand nicht nur hinter den beiden Männern, sondern beugte sich auch über ihre Rolleiflex, so dass sie zwar über ihre Gestalt und ihre Tätigkeit, nicht aber über ihre Physiognomie identifiziert werden kann.

Trotz der Verzerrung ist es möglich, die beiden männlichen Porträtierten zu erkennen: während an der Identität Hurrys keine Zweifel bestehen1262, konnte die andere männliche Person bis jetzt noch nicht namentlich ermittelt werden, obwohl Lee Miller bei der gleichen

1259 Auch im Werk Man Rays findet sich eine Fotografie von einer vom Bildrand angeschnittenen und bildfüllend wiedergegebenen glänzenden Kugel, in der sich nicht nur eine Häuserfront spiegelt, sondern auch der Fotograf selbst (Abb. in: Man Ray 1980, S. 15). 1260 Vgl. Kap. 4.1.2.1.5. 1261 Penrose 1981b, S. 146. 1262 Zum Vergleich der Porträtähnlichkeit kann ein ca. 1943, also im gleichen Jahr entstandenes, heute in der National Portrait Gallery in London aufbewahrtes Selbstporträt des Künstlers herangezogen werden: „NPG 5421, Leslie Hurry by Leslie Hurry, Oil on Cardboard, circa 1943“. Das Porträt kann über die Homepage der National Portrait Gallery >http://www.npg.org.uk<, last updated: 31. January 2000, abgerufen werden. 264

Gelegenheit noch ein Einzelporträt1263 dieses Mannes (Dave Sherman?) geschaffen hat. Während dieser sehr konventionell gekleidet ist und einen dunklen Anzug mit Krawatte trägt, ist Hurry – wie in dem Porträt, das ihn vor der Staffelei zeigt1264– mit einem hellen, offenen und legeren Hemd, dessen Ärmel aufgekrempelt wurden, zu sehen, so dass zwischen beiden Aufnahmen eine enge zeitliche Verbindung hergestellt werden kann.

Das Ambiente, das sich in den Aufnahmen dem Betrachter darbietet, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Bilder in einer spontanen Inszenierung aufgenommen worden sind. Der Aufenthalt im Freien und der Tisch mit den Tassen sind zwei Punkte, die den Schluss zulassen, dass man sich nicht zu einer experimentellen Fotosession zusammengesetzt, sondern sich vielmehr getroffen hatte, ‚um zu plaudern und Tee zu trinken‘. Im Laufe dieses Treffens nahm Miller schließlich – neben anderen Aufnahmen – die Fotografie der Teekanne als freie Arbeit auf, der durch die Wahl des Motivs ein irrealer Akzent verliehen wird. Die ungewöhnliche und experimentelle Inszenierung, an der Hurry teilnimmt, könnte einen Hinweis auf seine künstlerische Rolle liefern. Dies trifft auch auf die Fotografien von Dorothea Tanning und Max Ernst zu, die Miller drei Jahre nach Hurry porträtierte.

4.3.4 Porträts Max Ernst und Dorothea Tanning als ‚Gigant und Zwerg‘ (Sedona, 1946)

Lee Miller schuf die betreffende Fotoserie im Sommer 1946 während ihrer Reise in die USA. Dorthin kehrte die Fotografin, der wegen ihrer journalistischen Leistung als Kriegsberichterstatterin ein triumphaler Empfang bereitet wurde, zusammen mit Roland Penrose nach einer mehr als zwölfjährigen Abwesenheit zurück. Miller und Penrose bereisten das Land, um alle ihre Freunde, die im 2. Weltkrieg nach Amerika emigriert waren und überall verstreut lebten1265, zu besuchen und – wie Wifredo Lam, Yves Tanguy, Kay Sage und Max Ernst – natürlich auch zu fotografieren1266.

Bei Ausbruch des 2. Weltkrieges lebte Max Ernst1267 mit der britischen Malerin Leonora Carrington in Saint-Martin d’Ardèche, wo er als ‚feindlicher Ausländer‘ zunächst von den französischen Behörden zweimal interniert und schließlich als entarteter Künstler von der Gestapo verfolgt wurde. Ernst beschloss, Europa zu verlassen und emigrierte 1941 in die USA. Im gleichen Jahr wurde Peggy Guggenheim seine dritte Frau, von der er sich 1943 nach kurzer Ehe scheiden ließ, um mit der amerikanischen Malerin Dorothea Tanning zusammenzuleben, die er 1942 kennengelernt hatte. 1946 kaufte Max Ernst in Sedona, einem kleinen Dorf in Arizona, ein Grundstück und errichtete darauf zunächst ein Holzhaus. Lee Miller, die Max Ernst während ihrer USA-Reise mit Roland Penrose in Sedona besuchte,

1263 Neuer SWA, LMA, Inv. Nr. 5037-8. 1264 Vgl. Kap. 4.1.4.1.1. 1265 Penrose 2001, S. 134f. 1266 Vgl. Kap. 4.1.2.1.2, 4.1.4.2.3, 4.1.2.2.3. 1267 Zur Biografie von Max Ernst siehe zum Beispiel: Ausst. Kat. Paris 1998, S. 278–306. 265 dokumentierte den Bau dieses Hauses in zahlreichen Fotografien und hielt auch das alltägliche Leben von Ernst und Tanning in Sedona im Bild fest1268.

Eine nicht alltägliche Fotografie (Fotografie 110)1269 zeigt Max Ernst und Dorothea Tanning in der Wüste Arizonas, einer Landschaft, „die mit ihren phantastischen Gebirgsformationen, ihrer unendlichen Weite und einer zeitlos-nachdenklichen Stille zahlreichen seiner visionären Landschaften der dreißiger Jahre entsprach“.1270 Max Ernst steht inmitten dieser kargen, endlos scheinenden Landschaft, die nur aus Felsen, Sträuchern und Gräsern zu bestehen scheint. Zwischen einem Hochplateau und zerklüfteten Felsformationen eröffnet ein Tal einen Blick auf den Horizont, dessen Linie das Bild in zwei Hälften teilt: die Berge und der mit Wolken verhangene Himmel treffen dort aufeinander.

Vor dieser Kulisse, die sich in unmittelbarer Nähe des Hauses fand1271, spielte sich eine dramatische und phantastische Szene ab: ein gigantisch wirkender Max Ernst griff einer wild gestikulierenden, zwergenhaften Dorothea Tanning in die Haare und hielt sie mit seiner Faust fest. Max Ernst hatte seinen Blick nach vorn gerichtet, ohne von Tanning überhaupt Notiz zu nehmen. Seine Haltung wirkte entschlossen, trotz ihres augenscheinlichen Widerstandes schien es ihm keinerlei Mühe zu bereiten, Tanning nur mit der zur Faust geballten linken Hand am Schopf zu packen. Obwohl die Künstlerin dagegen aufbegehrte und ihre rechte Hand erhoben hatte, um Ernst, zu dem sie aufblicken musste und dem sie nicht einmal bis zur Hüfte reichte, abzuwehren, hatte sie keine Chance gegen den surrealistischen Maler, der eindeutig die Situation beherrschte.

Auf den ersten Blick scheint diese Fotografie das Ergebnis einer technisch perfekten Fotomontage1272 zu sein, doch erreichte Lee Miller den surrealen Effekt, wie das Negativ zeigt1273, durch ein sorgfältiges Arrangement. Die Diskrepanz im Größenverhältnis von Ernst

1268 Vgl. Kap. 4.2, Porträts von 1940–1950. 1269 Fotografie 110 = LMA, Inv. Nr. A 0227, Abbildungen in: Penrose 1985a, S. 180. Chadwick 1993, S. 94, Abb. 78. Livingston 1989, S. 98. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 103. 1270 Ausst. Kat. Paris 1998, S. 258. 1271 Vgl. der Landschaften auf der Fotografie LMA, Inv. Nr. A 0227 (Fotografie 110) und der Fotografie von Henri Cartier-Bresson, die Tanning und Ernst vor ihrem Haus in Sedona zeigt, Abb. in: Tanning 1990, [Abb. o. Zählung]. Vgl. auch: Ausst. Kat. London 1991, S. 324, Abb. 82. 1272 Livingston 1989, S. 96. 1273 Lee Miller machte diese Aufnahmen mit ihrer Rolleiflex und dem zugehörigen Filmmaterial im Mittelformat von 6 x 6 cm. Wäre diese Fotografie das Ergebnis einer technischen Manipulation der Negative in der Dunkelkammer (bei der Belichtung), so müssten zwangsläufig zwei Negative existieren, die jeweils Ernst oder Tanning zum Motiv haben müssten. Diese Negative wären dann mittels Lichtmontage entweder zusammen (Filmmontage, sog. Sandwichmethode) oder nacheinander (Belichtungsmontage) auf Fotopapier kopiert worden. Sicherlich bestände von der technischen Seite her noch die Möglichkeit, dass Miller zwei eventuell existierende Negative nicht auf Fotopapier, sondern auf Planfilm umkopiert haben könnte. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass das Negativ ein anderes Format (Planfilm hat ein Aufnahmeformat von mindestens 9 x 12 cm) hätte. Die Möglichkeit einer Doppelbelichtung des gleichen Filmstücks in der Kamera ist nicht in Betracht zu ziehen, da diese Technik nicht ein so präzises Ergebnis erbracht hätte. Das Negativ LMA, Inv. Nr. A 0227 kann also nur, da es, wie alle anderen bei der gleichen Gelegenheit (ff) 266 und Tanning wird von Miller, die als einzige der Beteiligten die Szenerie überblicken konnte, unter Beachtung perspektivischer Regeln1274 konstruiert: so schneiden sich bei der Zentralperspektive alle eigentlich parallelen, in die Tiefe verlaufenden Linien in einem Punkt, was eine Verkleinerung von weiter entfernten Personen und Gegenständen zur Folge hat.1275 Dorothea Tanning wurde von Lee Miller räumlich weit hinter Max Ernst platziert, wodurch sie der perspektivischen Verkleinerung unterworfen wurde und durch diesen Kunstgriff bei der Aufnahme in der Realität nur halb so groß wie Ernst wirkte. Dieser Eindruck wird durch die geologische Situation begünstigt, da der Boden in Richtung Tannings abfällt, so dass sie ein Stück tiefer steht als Ernst, wodurch die Größe ihrer Person noch zusätzlich verringert wird.

Diese Fotografie zählt wohl mit zu den bekanntesten Aufnahmen Lee Millers, was neben der ungewöhnlichen Bildkonstruktion und der Popularität der Porträtierten auch auf die scheinbar leicht zu entschlüsselnde Aussage des Bildes zurückzuführen ist: Max Ernst als der in Partnerschaft und Kunst Dorothea Tanning dominierende Gigant. „Lee Miller sah Max Ernst als die alles überragende Persönlichkeit gegenüber der viel kleiner dargestellten Dorothea“ bemerkt Susanne Grieshaber zu dieser Fotografie und vergleicht sie mit einem 1947 entstandenen Studioporträt Irving Penns, der „[...] ein gleichberechtigtes und eher modisch geprägtes Künstlerpaar“ zeigt.1276 Jane Livingston schließt in ihrer Bildanalyse auf eine starke emotionale Beteiligung der Fotografin, die sich ihrer Meinung nach selbst in die Situation zwischen Ernst und Tanning hineinprojizierte. Für sie ist dieses Foto ein Ausdruck von Millers damaligen Lebensumständen, dem Schwinden ihrer Unabhängigkeit und Kreativität und ihrem Gefühl der Schwäche, die sie intuitiv im Bild umgesetzt haben soll1277 – was aber kaum nachvollziehbar ist und wofür es keinen Beweis gibt.

Im Gegenteil: „Wäre ihr Werk bekannter, ihre Vita geläufiger, Lee Miller wäre ohne Frage längst zu einer Kultfigur weiblicher Emanzipation geworden“1278, schreibt Michael Koetzle 1992 in Vogue. Millers Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit war unbändig, geradezu ein Zwang, der sie schon seit frühester Kindheit begleitete und von ihrem Vater immer gefördert wurde.1279 Ein Zwang, unter dem nicht nur Man Ray in den Jahren ihrer Beziehung

entstandenen Aufnahmen (vgl. LMA Inv. Nr. A 0226, 0228–0230, 0262), das Format 6 x 6 cm hat, das Ergebnis einer sehr sorgfältigen Inszenierung bei der Aufnahme sein. 1274 Günter Metken, Herbert List, Fotografia Metafisica, hrsg. von Max Scheler, München 1980, S. 37: „Durch Benutzung verschiedener Objektive, ja schon durch Neigung des Apparates läßt sich die Perspektive völlig verwandeln [...] Läßt man Vergleichsmöglichkeiten fehlen, so verschieben sich alle Größenverhältnisse. Aus einer Fliegeraufnahme wird ein Stoffmuster, aus einem rauchenden Dunghaufen ein Vulkan.“ 1275 Freier 1992, S. 261–262: „Das Maß der Verkleinerung erfolgt proportional zur Entfernung. Ein z. B. 15 Meter von der Kamera entfernter Gegenstand ist immer doppelt so groß abgebildet wie ein gleichgroßer in 30 Metern Entfernung. Dies gilt nicht nur bei einer Frontalansicht eines Motivs, sondern auch bei extremer Obersicht (Vogelp.) und extremer Untersicht (Froschp.) [...]“. 1276 Mißelbeck 1995, S. 52–54. Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 134, S. 193. 1277 Livingston 1989, S. 96. 1278 Michael Koetzle, Fotografie in Uniform und Haute Couture, in: (deutsche) Vogue (1992) 10, S. 150. 1279 Penrose 1985a, S. 12–13. 267 zu leiden hatte, auch ihr erster Ehemann und viele ihrer Freunde versuchten vergeblich, sie zu halten. Lee Miller unterschied in einer Partnerschaft nicht zwischen einer dominierenden (männlichen) oder einer unterlegenen (weiblichen) Rolle, für sie war Gleichberechtigung in jeder Beziehung eine zwingende Voraussetzung. Antony Penrose berichtet, dass sie sich das Prinzip der freien Liebe, das die Surrealisten propagierten und lebten, zu eigen machte, ein Lebensentwurf, der nach deren Auslegung aber eigentlich nur für Männer Gültigkeit haben sollte.1280 Auch Millers Verbindung zu Roland Penrose kann als sehr offen bezeichnet werden, beide sollen vor und auch während ihrer Ehe Affären ihres Partners toleriert haben, wenn es auch gelegentlich zu Spannungen gekommen sein soll.1281 Unabhängig davon hatten sich Dorothea Tanning und Lee Miller vor ihrer Begegnung in der Wüste Arizonas nie zuvor gesehen, so dass Miller nur wenig Zeit gehabt hätte, eventuell existierende hierarchische Strukturen zwischen Tanning und Ernst zu erkennen und zu analysieren. Daher sind die von Susanne Grieshaber formulierte Interpretation und die von Livingston auf einem ähnlichen Gedankengang basierende Analyse zu relativieren oder ganz abzulehnen, da im Fall der Aufnahme aus Sedona die bei einer Bildanalyse zu berücksichtigenden Faktoren komplexer sind und nicht allein auf die Lebensumstände der Protagonisten zum Zeitpunkt der Aufnahme beschränkt werden können.

In ihren Lebenserinnerungen, die sie Birthday nannte (denen sie also den Titel gab, den Max Ernst bei ihrem ersten Zusammentreffen für eines ihrer Gemälde fand1282) berichtet Dorothea Tanning über die fast 34 Jahre, die sie und Max Ernst gemeinsam verbrachten. Der Leser erfährt hier nicht nur etwas über die Lebensumstände, das alltägliche Leben der beiden Künstler, die zum Beispiel in getrennten Ateliers arbeiteten und sich dort gegenseitig nur mit Anmeldung besuchten. Er erfährt auch, wie Dorothea Tanning ihre eigene Situation empfand, wenn sie schreibt „Verliert eine Frau durch die Gemeinsamkeit des Ziels denn ihre Imagination? Oder ihre Hände? Ist es beklagenswert, ist es unfair, in einer verzauberten Sphäre leben zu müssen, wo das beifallheischende Streben anderer, manchmal kaum wahrnehmbarer Menschen nicht mehr ist als fernes Geraune, töricht wie Tischerücken? Daß ich in gewisser Weise Gehilfin eines so wunderbaren und rätselhaften Menschen gewesen bin, war zwar kein besonderer Vorzug (wer will schon bloß Gehilfin sein?), aber es war in keiner Weise schmerzlich oder entwürdigend.“1283 Dorothea Tanning sah sich selbst also nicht als den unterlegenen und von Ernst dominierten Part an: es war vielmehr die Umwelt des Paares, die ihre Rolle im Leben von Max Ernst in dieser Weise definierte.1284 Für diese „Besucher“, wie Tanning sie nennt, findet sie in ihren Lebenserinnerungen nur wenig

1280 Penrose 1985a, S. 23. 1281 Penrose 2002, S. 80. 1282 Tanning 1990, S. 17. 1283 Tanning 1990, S. 161–163, S.165–169. 1284 Ausst. Kat. Paris 1974, S. 51 und S. 56. 268 schmeichelhafte Worte.1285 Selbstverständlich war es auch diese Umwelt, die immer wieder bestrebt war, den künstlerischen Einfluss Max Ernsts auf das Werk Tannings zu artikulieren.

Diese Kriterien spielen aber im Rahmen einer Bildanalyse eine untergeordnete Rolle, für eine Interpretation ist die Kontextualisierung der Fotografie mit der Inventarnummer LMA, Inv. Nr. A0227 (Fotografie 110) von entscheidender Bedeutung: In der Wüste Arizonas entstand bei dieser Fotositzung nicht nur eine einzelne Aufnahme, sondern eine mindestens aus vier Aufnahmen bestehende, narrative Bildfolge: Die ‚Geschichte‘ beginnt mit einer Fotografie (Fotografie 108)1286, die Ernst und Tanning in der aus Sträuchern, Steinen und Bergen bestehenden Landschaft unweit ihres Hauses in Sedona zeigt. Unter einem düsteren, wolkenverhangenen Himmel, vor der dramatischen Kulisse einer Bergkette, sieht man ein Paar, dessen Größenverhältnis zueinander ausgeglichen ist, auch das Verhältnis Mensch – Landschaft weist keine Diskrepanz auf, die Personen sind harmonisch in die Umgebung eingebunden.

Dorothea Tanning, auf allen Fotos mit einem weißen, folkloristischen Rock und einem dunklen Oberteil zu sehen, hat den Blick auf den rechts von ihr stehenden Max Ernst gerichtet, scheinbar in der Absicht, Ernst und seine Kleidung, die auf allen vier Fotos aus einem dunklen Hemd mit weißen Streifen, einer unterschiedlich gekrempelten, dunklen Jeans und Sandalen besteht, einer genauen Prüfung zu unterziehen. Was sie sah, schien sie nicht zufrieden zu stellen, wie ihr kritisch-resignierender Blick und ihre vor die Stirn geschlagene Hand zeigen. Tanning wirkte in dieser Fotografie mit ihrer resolut in die Hüfte gestützten Hand sehr selbstsicher, sie schien die agierende Person zu sein, während Ernst die Kritik an seiner Person scheinbar kommentarlos, aber mit einem finsteren Blick über sich ergehen ließ.

Die folgende Fotografie (Fotografie 109)1287 unterscheidet sich hinsichtlich des Größenverhältnisses und des Landschaftsausschnitts kaum von der ersten Aufnahme, sie zeigt nun aber deutlich Dorothea Tannings Unzufriedenheit mit dem Aussehen Ernsts und ihr daraus resultierendes Handeln: mit einem Lächeln und einem überlegenen Blick knöpfte sie Max Ernst das Hemd zu, was dieser sich mit einem geduldigen Ausdruck gefallen ließ. Dorothea Tanning schreibt in ihrer Biographie, dass sie sich in ihrer Beziehung zu Max Ernst

1285 Tanning 1990, S. 163 und 165–166: „Was von außen kam, war dagegen ein nicht enden wollender Überfall, schlimm wie eine Seuche, lauter glitzernde Basilisker, maskiert als Freundschaft, Bewunderung, Verständnis... Geschwätz und Plattitüden konnten die Absichten nur unvollkommen kaschieren [...] Seiner Frau, auch Künstlerin, das bin ich, kommt das Verdienst zu, den Umsatz der Pariser Flohmärkte, Parfümerien, Läden und Boutiquen für preiswerten Modeschmuck belebt zu haben. Denn unweigerlich brachten die Freunde mir etwas mit, wie man dem Hund einen Knochen hinwirft, damit er nicht bellt [...] War eine Geste angezeigt, dann war es amüsant, eine Arbeit von ihr zu überreichen und den kleinen, scheelen Blick der Enttäuschung zu registrieren, weil sie von ihr war und nicht von ihm. Da die Höflichkeit es gebot, lächelten alle. Damit habe ich also zu meinem Platz in der Welt der Besucher etwas gesagt.“ 1286 Fotografie 108 = Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 122, S. 180 = Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 42, S. 495. 1287 Fotografie 109 = LMA, Inv. Nr. A 0864. Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 123, S. 181. 269 niemals von diesem unterdrückt gefühlt habe, dass sie im Gegenteil manchmal sogar Mitleid mit Ernst verspürte, weil dieser von ihr ein Handeln in bestimmten Dingen erwartete1288 – vielleicht ist es ein solcher Augenblick, den Miller in ihrer Fotografie festgehalten hat.

Die dritte Fotografie (Fotografie 111)1289 zeigt schließlich die Verwandlung Dorothea Tannings in ein zwergenhaftes Wesen, fast so, als sei sie ‚zur Strafe‘ für ihre zur Schau gestellte Überlegenheit von Ernst, dem Magier1290, geschrumpft worden. Doch während Tanning sich größenmäßig weiterhin perfekt in die Landschaft einfügt, überragt Ernst nicht nur sie, sondern auch die die Szene hinterfangenden Berge. Bei einem Vergleich der Bergformationen im Hintergrund der Aufnahmen (Fotografien 108 bis 111) wird deutlich, dass der Ort der Aufnahmen (Fotografien 110 und 111), von der Fotografin aus gesehen, weiter nach links verlagert worden war. Ob dieser (nur geringfügige) Wechsel des Aufnahmeortes eine Verbesserung der Aufnahmesituation mit sich brachte, so dass Lee Miller ihre Vorstellung von einer ‚zwergenhaften‘ Dorothea aufgrund des dort abfallenden Geländes besser realisieren konnte, kann nicht endgültig bestätigt werden. Dass das Gelände an dieser Stelle aber für die Aufnahmen sehr geeignet war und zusätzlich zur perspektivischen Verkleinerung Tannings Größe weiter reduzierte, ist augenscheinlich. Tanning blieb für die Aufnahme etwa auf der gleichen Höhe wie in den Fotografien 108 und 109, während Max Ernst und Lee Miller im Gelände weiter nach vorn rückten. In den Aufnahmen 108 und 109 sind Tanning und Ernst in leichter Aufsicht wiedergegeben, während der Kamerapunkt in den Fotografien 110 und 111 sehr tief liegt. Lee Miller bediente sich zur Monumentalisierung Ernsts in diesen Fotografien der Untersicht und hat diese Aufnahmen wahrscheinlich im Knien gemacht. Durch die Verwendung der Spiegelreflexkamera Rolleiflex kann diese Untersicht noch gefördert worden sein1291.

Dorothea Tanning erweckt in der Fotografie 111 den Eindruck, als sei sie von der Größe Ernsts noch unbeeindruckt, spielerisch, vielleicht um ihn zu ärgern, versuchte sie, Ernsts ausgestreckte Hand mit ihren Fingerspitzen zu erreichen, wozu sie sich in die Höhe reckte. Ernst selbst schien diese Berührung unangenehm zu sein, wie im Schmerz verzog er sein Gesicht. Wie die ‚Geschichte‘ endet, wissen wir bereits: auf der vierten und letzten Fotografie (110) wird Max Ernst gezeigt, wie er alle Aktivitäten Dorothea Tannings unterband, in dem er ihre Haare griff und sie festhielt, eine Situation, auf die Tanning nur protestierend mit erhobener Faust reagieren konnte. Die Bildserie bietet aber auch die Möglichkeit für ein ‚Happyend‘. Bei einem Austausch der Fotografien 111 und 110 würde die Geschichte einen etwas anderen Verlauf nehmen, Dorothea Tanning könnte sich so aus dem in der Fotografie 110 dargestellten Griff Ernst befreien und würde in der Aufnahme am Ende (Fotografie 111) über Ernst triumphieren.

1288 Tanning 1990, S. 162. 1289 Fotografie 111 = Ausst. Kat. Paris 1974, Abb. S. 12. 1290 Der Magierbezug resultiert aus einem Zitat des jungen, aus dem 1. Weltkrieg heimkehrenden Max Ernst (Max Ernst Gemälde und Graphik 1920–1950, Ausst. Kat., Brühl 1951, S. 93): „Max Ernst starb am 1. August 1914. Er kehrte zum Leben zurück am 11. November 1918 als junger Mann, der ein Magier werden und den Mythos seiner Zeit finden wollte.“ 1291 Vgl. S. 47. 270

Im Katalog der 1985 in Brühl gezeigten Ausstellung Max Ernst im fotografischen Porträt werden die Fotografien, die Lee Miller 1946 in Sedona aufnahm, in einem anderen Zusammenhang gezeigt: eine Aufnahme (Fotografie 108) der narrativen Bildfolge wird mit zwei weiteren Fotografien1292 (Fotografien 113 und 114) kombiniert. Alle drei Aufnahmen zeigen Ernst und Tanning oder Ernst allein vor dem Hintergrund der Bergkulisse, harmonisch eingebunden in die Wüstenlandschaft Sedonas und in einem ausgewogenen Größenverhältnis zueinander. Jürgen Pech stellt zwischen den einzelnen Fotografien einen narrativen Zusammenhang her und interpretiert die auf diese Weise entstandene ‚Bildserie‘ mit folgenden Worten: „Eine mehr poetische und auf das Werk von Max Ernst bezogene Variante stellt die fotografische Folge dar, die Lee Miller 1946 in Sedona, Arizona, aufnahm (Kat. Nr. 42 – 44) [...] Die Fotosequenz beginnt mit dem Auftauchen der Frau, die mit einer grauen und zerlumpten Jacke bekleidet ist. Durch die gegenseitige Entdeckung (Kat. Nr. 42) enthüllt sich die Schönheit der Frau und kehrt der Mann zum Naturzustand zurück (Kat. Nr. 43, 44).“1293 Auch im Katalog der Ausstellung Max Ernst: Fotografische Porträts und Dokumente von 1991 werden die beiden Fotografien 108 und 109 der bereits vorgestellten, experimentellen Bildfolge in den gleichen Kontext1294 wie 1985 gestellt, die Folge wurde aber durch zwei Leihgaben1295 noch erweitert.

Die Zusammenstellung der drei respektive fünf oben aufgeführten Fotografien zu einer narrativen Bildreihe kann nur vor dem Hintergrund gesehen werden, dass dem Max-Ernst-Kabinett bei den Ausstellungen nicht alle Aufnahmen der experimentellen Bildfolge Lee Millers bekannt waren. Bei der Ausstellung im Jahr 1985 wurde eins von mindestens vier Bildern gezeigt, 1991 zwei Aufnahmen. Der Zusammenhang zwischen den von Pech kombinierten Aufnahmen beruht auf geographischen (gleicher Aufnahmeort: Wüstenlandschaft um Ernsts Haus in Sedona mit Bergkette im Hintergrund) und chronologischen (gleiche Aufnahmezeit, vielleicht sogar gleicher Aufnahmetag: während Millers Besuch im Sommer 1946) Übereinstimmungen. Doch schon bei einem Vergleich der Kleidung von Ernst und Tanning auf den jeweiligen Aufnahmen stellt man Unterschiede fest. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig ein Kriterium für die Zuordnung zu einer fotografischen Serie sein, begründet aber auch nicht sofort das Gegenteil.

Im Lee Miller Archive und in einer Publikation über Dorothea Tanning1296 fanden sich weitere Fotografien, die während Lee Millers Aufenthalt in Arizona entstanden sind. Diese

1292 Die ‚Bildfolge‘ besteht hier aus der Aufnahme (Fotografie 108 = Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 42, S. 495 = Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 122, S. 180) und den in den o.g. Ausstellungskatalogen abgebildeten Fotografien (Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 43, S. 496 = Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 124, S. 182), (Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 44, S. 497 = Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 125, S. 183 = LMA, Inv. Nr. A 0226 = Fotografie 114). 1293 Ausst. Kat. Brühl 1985, S. 472. 1294 Abb. der Bildfolge in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 121–125, S. 179–183. 1295 Ausst. Kat. Brühl 1991. Es dürfte sich um die Aufnahmen auf S. 179, Kat. Nr. 121 (= LMA, Inv. Nr. A 0229 = Fotografie 113) und auf S. 181, Kat. Nr. 123 (= LMA, Inv. Nr. A 0864 = Fotografie 109) handeln. 1296 Fotografie 111 = Ausst. Kat. Paris 1974, Abb. S. 12. 271

Aufnahmen zeigen in eindeutiger Weise, dass die von Pech zu einer Bildserie zusammengestellten Fotografien eine Kombination von Aufnahmen aus zwei verschiedenen fotografischen Serien sind: aus der oben beschriebenen, experimentellen Bildserie1297 und eine weiteren, die aus mindestens vier Fotografien1298 besteht und Max Ernst in der Wüste Arizonas als indianischen Schamanen zeigt1299.

Doch nun zurück zu der experimentellen Fotoserie Lee Millers: der fotografische Trick der perspektivischen Verkleinerung einer Person wurde von Miller nicht speziell im Bereich des experimentellen Künstlerbildnisses angewendet. Bereits in der Zeit, in der sie in Ägypten lebte, setzte sie dieses Prinzip in ihren Fotografien um: bei einem Ausflug in die Wüste entstand eine Aufnahme1300, die zwei ihrer Reisebegleiter, bei denen es sich um Guy Pereira und Charles Wingate handelt, in einer witzigen Szene zeigt. In dieser Darstellung nimmt Wingate die Rolle ein, die Max Ernst ca. 8 Jahre später in den Fotografien Millers innehaben wird. Er wird von Miller als ein riesenhaft wirkender, Landschaft und Vegetation überragender Gigant gezeigt, der sich anschickt, seinem wesentlich kleiner dargestellten ‚Opfer‘ Peireira einen Fußtritt zu versetzen.

Die Anordnung der Szene ist die gleiche wie auf den Fotografien, die Miller von Ernst und Tanning machte: Wingate wird von Miller in Untersicht wiedergegeben, um so zu dessen Monumentalisierung beizutragen, während Peireira räumlich weit hinter Wingate platziert wurde. Unterstützt wird diese Tendenz noch durch den durch seinen Wuchs an einen Baum erinnernden Strauch hinter Wingate, den er in der Darstellung mühelos überragt. Der Größenunterschied zwischen Peireira und Wingate ist aber nicht so extrem, wie auf den beiden Fotografien, die Miller von Ernst und Tanning machte.

Diese Fotografie könnte ein weiteres Indiz dafür sein, dass Miller durch die Monumentalisierung Ernsts und die Verkleinerung Tannings in ihren Fotografien nichts über eventuell existierende hierarchische Strukturen innerhalb dieser Beziehung aussagen wollte, sondern dass es ihre Intention gewesen sein könnte, die beiden surrealistischen Künstler in sorgfältig arrangierten Fotografien in einer witzigen, surrealen und ihrer Person und Kunst adäquaten Bildsprache zu porträtieren – Fotografien, von denen Sarah Wilson schreibt: „Die Photos, die Lee Miller auf dieser Reise im Jahre 1946 machte, gehen aufs neue weit über

1297 Fotografie 108 = Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 122, S. 180. Fotografie 109 = LMA, Inv. Nr. A 0864, Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 123, S. 181. Fotografie 111 = Abb. in: Ausst. Kat. Paris 1974, Abb. S. 12. Fotografie 110 = LMA, Inv. Nr. A 0227 = Abb. in: Penrose 1985a, S. 180. Chadwick 1993, S. 94, Abb. 78. 1298 Fotografie 114 = LMA, Inv. Nr. A 0226 [identisch mit Inv. Nr. A 0230!]. Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 125, S. 183 = Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 44, S. 497. Fotografie 113 = LMA, Inv. Nr. A 0228. Fotografie LMA, Inv. Nr. A 0229. Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 121, S. 179 und die Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 43, S. 496. 1299 Vgl. Kap. 4.3.5. 1300 SWA LMA, Inv. Nr. E 0157. 272 das rein Dokumentarische hinaus, erlangen den Status eigenständiger surrealistischer Dokumente“.1301

Jürgen Pech berichtet, dass Max Ernst immer besonderen Spaß an Inszenierungen hatte, wovon zahlreiche Fotografien – zum Beispiel von Bob Towers – zeugen.1302 Der Fotograf besuchte Ernst und Tanning 1948 in ihrem Domizil in der Wüste Arizonas. Eine der Fotografien (Fotografie 112)1303, die bei diesem Besuch entstanden sind, zeigt die beiden Künstler im Rohbau ihres Steinhauses beim Schachspielen. Max Ernst war – wie auch Marcel Duchamp1304 und Man Ray1305 – seit langer Zeit ein begeisterter Schachspieler, der in Sedona dreimal in der Woche ein Spiel mit seiner Frau Dorothea ausgetragen haben soll1306: Bob Towers fotografierte ein solches (inszeniertes) Schachduell zwischen Max Ernst und Dorothea Tanning. Das von Ernst entworfene Schachspiel steht auf Brettern, die als Gerüst für den Hausbau dienten und die in das Bild hineinlaufen1307: Ernst und Tanning, die beide ins Spiel vertieft zu sein scheinen, befinden sich an den Seiten der Brettkonstruktion. In diese Szene wurde ein großer, leerer Bilderrahmen1308 integriert, den Max Ernst mit seiner rechten Faust festhält, so dass mittels des Rahmens ein Bild im Bild geschaffen wird. In diesem Bild im Bild ist das Schachspiel aufgrund seiner zentralen Position das dominierende Motiv, die beiden Spieler werden von dem Rahmen und somit den Rändern des im Bild dargestellten Bildes angeschnitten.

In der Ausgabe der Zeitschrift Life vom 21. Januar 1952 wurde ein Porträt von Max Ernst publiziert, das Towers bei seinem Besuch im Jahr 1948 aufgenommen haben muss: auch diese Fotografie zeigt Ernst vor seinem selbst entworfenen Schachspiel im Rohbau seines Hauses in Sedona, jedoch ohne einen in die Szene integrierten Bilderrahmen. Aufgrund der zeitlichen Differenz von ca. vier Jahren, die zwischen der Aufnahme und der Veröffentlichung in Life liegen, stellt sich die Frage, ob die Fotografien, die Towers von Ernst und Tanning in Arizona machte, im Auftrag der Zeitschrift entstanden sind. Leider war es bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, Informationen über das Leben und das Werk von Bob Towers zu erhalten.

1301 Ausst. Kat. London 1991, S. 371. 1302 Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 56. 1303 Fotografie 112 = Abb. in: Ausst. Kat. Paris 1998, S. 148. Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 196. 1304 Robert Lebel, Marcel Duchamp, Köln 1962, S. 57–60. Man Ray, Man Ray – Selbstporträt, München 1983, S. 225f. 1305 Roland Penrose, Man Ray, London 1989, S. 173 u. Abb. 117. 1306 Dies wird in der Bildunterschrift eines der in Life vom 21. Januar 1952 publizierten Fotos ausgesagt, zitiert nach: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 197. Über Ernsts Leidenschaft für Schach äußert sich auch seine Frau, in: Tanning 1990, S. 17–18 und S. 30. 1307 Ausst. Kat. Paris 1998, S. 148f. 1308 Man Ray integrierte bereits um 1922 einen leeren Bilderrahmen in seine Porträtaufnahme von Jean Cocteau (Abb. in: Man Ray 1890–1976: Sein Gesamtwerk, Ausst. Kat., National Museum of American Art, Smithonian Institution, Washington D.C., 2.12.1988–20.2.1989, S. 189, Abb. 160). 273

Die experimentelle Bildserie von Lee Miller und die Aufnahme von Bob Towers zeigen in folgenden Punkten eine Übereinstimmung: die Fotografien wurden nicht technisch manipuliert, sondern inszeniert. Diese Art der Inszenierung, beide Fotografen arbeiten mit perspektivischen oder illusionistischen Gestaltungsmitteln und kreieren so irreale Visionen, und das daraus resultierende, ungewöhnliche Motiv begründen den experimentellen Charakter der Aufnahmen. Durch die Vermischung der Wirklichkeitsebenen stellen Towers und Miller die Realität infrage und verleihen ihren Fotografien so eine surrealistische Wirkung, die perfekt zur Darstellung der beiden Surrealisten Dorothea Tanning und Max Ernst geeignet scheint.

4.3.5 Max Ernst als Schamane (Sedona, 1946)

Im Zusammenhang mit der Fotoserie, die 1946 während des Besuchs von Lee Miller in der Wüste Arizonas entstand und die die phantastische Vision eines gigantischen Max Ernsts und einer zwergenhaften Dorothea Tanning darstellt, wurde bereits auf die nun folgende Serie von Aufnahmen verwiesen.

Allein schon die chronologischen und geographischen Übereinstimmungen lassen auf einen engen Zusammenhang zwischen den Fotoserien schließen. Diese Analogien, zu denen neben weiteren Details auch die fast identische Kleidung von Ernst und Tanning zu zählen ist, rechtfertigen aber nicht die Zusammenstellung der Fotografien in nur einer narrativen Bildserie, im vorliegenden Fall handelt es sich vielmehr um zwei verschiedene Serien.

Max Ernst stellte sich der Kamera in mindestens drei Fotografien1309 in der Art eines Schamanen und betonte so seine enge Naturverbundenheit und sein von den Surrealisten geteiltes Interesse an der Kunst und der Kultur primitiver Völker. Der Künstler ist in diesen Aufnahmen Millers in der Landschaft um seinen Wohnort Sedona zu sehen, eingebunden in eine Wüsten- und Bergkulisse, die auch schon den Schauplatz für die surrealistische Inszenierung Ernsts und Tannings bot1310.

Ernst stellt mit seinem von der Sonne Arizonas dunkel gebräunten Körper, seinem schneeweißen Haar und seinem schlanken Wuchs eine sehr asketische Erscheinung dar und passt sich perfekt in diese karge Landschaft ein. Um seinen nackten Oberkörper – er trägt nur eine dunkle, aufgekrempelte Hose – hat er ein großes, folkloristisches Tuch geschlungen, das wie der Armschmuck1311 indianischen Ursprungs zu sein scheint. Ruhig

1309 Fotografie 114 = SWN LMA, Inv. Nr. A 0226 [identisch mit LMA, Inv. Nr. A 0230!], Format 6 x 6 cm, Abb. eines Abzugs in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 125, S. 183 = Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 44, S. 497. Fotografie SWN LMA, Inv. Nr. A 0228, Format 6 x 6 cm. Fotografie 113 = SWN LMA, Inv. Nr. A 0229, Format 6 x 6 cm, Abb. eines Abzugs in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 121, S. 179 und die Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 43, S. 496. 1310 Vgl. Kap. 4.3.4. 1311 Ein indianisches Armband trägt der Künstler noch 1950 zu einem konventionellen Anzug, vgl. die Aufnahme von Kay Bell, Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 211. 274 und würdevoll steht (Fotografie 113)1312 er in der Wüstenlandschaft oder sitzt (Fotografie 114)1313 auf großen Steinen und lässt seinen Blick in die Ferne schweifen. Von Ernsts introvertierter Stimmung zeugt auch die Haltung seiner Hände, die ineinander verschlungen sind und auf seinem Schoss ruhen. Der Eindruck von Ruhe und Unbewegtheit wird auch durch die klare und formal strenge Komposition geschaffen, die auf horizontalen und vertikalen Linien basiert und die die für Miller fast schon typische Gliederung aufweist.1314

Den Eindruck eines Menschen, der mit der Natur und der indianischen Kultur eins ist, gewann nicht nur Lee Miller, wie ihre Fotografien zeigen, sondern auch Patrick Waldberg, der Ernst 1946 und 1947 in Arizona besuchte und dessen Leben in der Wüste wie folgt beschrieb: „Max Ernst, der sich inmitten dieser ungewöhnlichen Größe wohl fühlte, ähnelte mit seinen weißen, vom Wind verwehten Haaren und seiner in den Kupfertönen der Erde gebräunten Haut einem Schamanen, Anrufer verborgener Geister, Mitwisser bedeutender Geheimnisse.“1315 Waldberg berichtet weiter, dass die Einsamkeit gelegentlich durch Besuche von Freunden wie Lee Miller und Roland Penrose sowie Frédéric Sommer zerstreut wurde.

Der amerikanische Fotograf Frédéric Sommer, der seit 1931 mit gelegentlichen Unterbrechungen in Prescott (Arizona) lebte, schuf im gleichen Jahr wie Lee Miller ein sehr bekanntes Einzelporträt von Max Ernst1316. Sommer war seit 1941 mit Ernst befreundet1317 und kann – berücksichtigt man die gewaltigen Ausmaße des Landes und die geringe Siedlungsdichte – fast schon als dessen Nachbar angesehen werden.1318 Sommers Fotografie ist nicht, wie die in Sedona aufgenommene Fotoserie von Lee Miller, das Ergebnis einer Inszenierung: sein die Wirklichkeit manipulierender Eingriff findet auf der technischen Ebene statt. Er fotografierte Max Ernst mit unbekleidetem Oberkörper vor der Wand des

1312 Fotografie 113 = SWN LMA, Inv. Nr. A 0229, Format 6 x 6 cm, Abb. eines Abzugs in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 121, S. 179. Max Ernst wird in dieser Aufnahme in Rückenansicht im Dreiviertelprofil nach links gezeigt. 1313 Fotografie 114 = SWN LMA, Inv. Nr. A 0226 [identisch mit LMA, Inv. Nr. A 0230!], Format 6 x 6 cm, Abb. eines Abzugs in: Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 125, S. 183 = Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 44, S. 497. Fotografie SWN LMA, Inv. Nr. A 0228. Die Haltung des Künstlers ist in diesen Aufnahmen bis auf den fast frontal respektive im Profil gezeigten Kopf nahezu identisch, auch der in die Aufnahme integrierte Bildraum ist keinen Modifikationen unterworfen. 1314 Max Ernst ist in allen Aufnahmen im Vordergrund zu sehen und besetzt die Mittelachse, wodurch er eine besondere Betonung erfährt. Diese Hervorhebung des Porträtierten wird aber durch seine Einbindung in einen weit gefassten Ausschnitt der unendlich scheinenden Wüsten- und Berglandschaft, deren unterschiedliche Partien durch ihren Verlauf die horizontale Ausrichtung der Komposition betonen, relativiert, so dass das Verhältnis zwischen der Darstellung des Bildraums und der Darstellung des porträtierten Künstlers in der Fotografie ausgeglichen ist. 1315 Waldberg, Ernst 1958, S. 363: „A l'aise au milieu de cette insolite grandeur, Max Ernst, ses cheveux blancs agités par le vent, le teint hâlé dans les tons des terres cuivreuses, ressemblait à quelque shaman, invocateur d'esprits cachés, dépositaire des lourds secrets.“ 1316 Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 188–189. 1317 Sheryl Conkelton (Hrsg.), Frederick Sommer: Selected Texts and Bibliography, Oxford 1995, S. 111. 1318 Waldberg, Ernst 1958, S. 363. 275

Holzhauses in Sedona und kombinierte diese Aufnahme mit der Abbildung einer unregelmäßig verputzten Wand. In der so entstandenen Doppelbelichtung scheint Ernst mit der Wand zu verschmelzen, sein Körper wird in der Aufnahme verfremdet, wird zu einer halb menschlichen, halb steinernen, „halluzinatorischen Erscheinung, wobei die Kombination von fotografierten Wirklichkeitsfragmenten gleichzeitig Monumentalität und Mystifikation suggeriert“. Jürgen Pech, von dem diese Worte stammen, verweist auch auf den Zusammenhang zwischen dem Motiv der Fotografie und einem Ratschlag Leonardo da Vincis, den Ernst 1936 in seiner Geschichte einer Naturgeschichte wiedergab. Leonardo wies die Maler an, zur Entdeckung neuer Bildformen „die Flecken an der Mauer, in der Herdasche, in den Wolken oder im Rinnstein“ aufmerksam zu betrachten, denn „diese wirren Dinge wecken den Geist zu neuen Erfindungen [...]“1319. Werner Spies verweist auf „die für Max Ernst so grundlegende Fähigkeit [...] in Amorphes (in Wolken und Wasser) präzise Vorstellungen hineinzuprojizieren“1320, eine besondere Fähigkeit des Künstlers, auf die Frederick Sommer in seinem fotografischen Porträt von Max Ernst anspielen könnte.

Auch die Aufnahmen Lee Millers können indirekt auf die Kunst Max Ernsts bezogen werden. So findet sich ‚die‘ Landschaft, mit der Ernst in der Serie Lee Millers eine perfekte Symbiose eingeht, bereits um 1936 in seinen Gemälden.1321 Max Ernsts Sohn Jimmy erinnert sich an den Moment, in dem der Künstler seine visionären Landschaften während eines Aufenthaltes in Arizona in natura entdeckte. Peggy Guggenheim und Max Ernst reisten, kurz nach seiner Emigration in die USA im Jahr 1941, auf der Suche nach einem geeigneten Ort für ein Museum außerhalb New Yorks zunächst nach Kalifornien. Es fand sich aber kein geeignetes Gebäude, so dass sie die Heimreise per Auto antraten.1322 Dabei soll sich nach Jimmy Ernst folgende Szene abgespielt haben: „Eines Spätnachmittags stiegen wir aus dem Wagen, um eine riesige Klapperschlange zu beobachten, die kurz vor Flagstaff, Arizona, die US-Bundesstraße 66 überquerte. Als Max hinaufsah zum nahen San Francisco-Peak, wurde er sichtbar bleich, seine Gesichtsmuskeln spannten sich. Die grüne Gipfellinie des Berges wurde unvermittelt unterbrochen durch ein Band hellroten Gesteins unter einer von der Sonne geschaffenen Gipfelhaube aus purem Magentarot. Er starrte auf genau dieselbe phantastische Landschaft, die er in Ardèche, Frankreich, vor gar nicht langer Zeit wiederholt gemalt hatte, ohne zu ahnen, daß es sie wirklich gab [...] Dieser eine Blick sollte die Zukunft seines Lebens in Amerika verändern. In einem Handelsposten für Touristen in Grand Canyon sahen wir beide uns in dem normalerweise geschlossenen Dachgeschoß des Gebäudes

1319 Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 188–190. 1320 Ausst. Kat. London 1991, S. 38. Vgl. auch: Einiges aus Max Ernst Jugend, von ihm selbst erzählt, in: Max Ernst, Gemälde und Graphik 1920–1950, Brühl 1951, S. 92–93: „...Und später verschaffte er sich freiwillig ähnliche Halluzinationen, indem er häufig auf Holzpaneele, Wolken, Tapeten, ungestrichene Wände schaute, um seine Vorstellungskraft spielen zu lassen. Wenn jemand ihn fragte: ‚Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?‘ antwortete er stets: ‚Sehen!‘ Ähnliche Anfechtungen brachten Max Ernst später dahin, weiter in solche Vorstellungen einzudringen und dadurch technische Möglichkeiten für Zeichnung und Malerei zu entdecken, verbunden mit Prozessen von Inspiration und Offenbarung...“ 1321 Spies/Metken, Bd. 4, S. 364, Nr. 2256 und 2257, S. 365, Nr. 2258. 1322 John Russell, Max Ernst: Leben und Werk, Köln 1966, S. 120, 122. 276 plötzlich von einer Flut alter Katchinapuppen der Hopi und Zuni umgeben [...] Max kaufte die Katchinas fast bis zur letzten für fünf Dollar das Stück und sieben Dollar für die größeren Zuni-Puppen.“1323

Die ‚primitive‘ Kunst und die Kultur der indianischen Bevölkerung Süd- und Nordamerikas waren von großem Interesse für die Künstler des Surrealismus.1324 Bei den im Norden des Kontinents beheimateten Stämmen der Pueblo-Indianer wurden die Katchina-, Hopi- und Zuni-Puppen im Rahmen religiöser Praxis verwendet, um den Indianern die „für ihr Leben fundamentalen Kosmogonien vor Auge zu halten“.1325 Roland Penrose berichtet, dass die Indianer diesen Puppen eine solche Kraft zusprachen, dass sie eine Präsentation der Objekte in der Öffentlichkeit nicht erlaubten, selbst nicht in einem Museum.1326

Im Mittelpunkt des religiösen Lebens standen bei den indianischen Stämmen die Schamanen, die durch Geister in ihr Amt berufen wurden und als „Mittler zwischen der Welt der Toten und der menschlichen Gemeinschaft“ fungierten. Die von ihnen vollzogene „Himmels- oder Seelenreise“, das Eintreten der Geister in den Körper des Schamanen fand in Trance oder Ekstase, die durch Tänze, Musik oder auch Rauschmittel herbeigeführt wurde, statt.1327 Die indianischen Riten und Gebräuche bargen für die surrealistischen Künstler, die auch in ihren Werken auf eine Vermischung der Wirklichkeitsebenen durch eine Erweiterung des Bewusstseins in tranceähnlichen Zuständen wie im Traum und im Rausch abzielten, bekanntlich eine große Faszination.

Max Ernst erinnert in Lee Millers Fotoserie durch seine äußere Erscheinung und die dadurch erzielte, perfekte Einbindung in die Landschaft Sedonas an einen solchen Schamanen. Antony Penrose berichtet, dass Lee Miller und Roland Penrose während ihres Aufenthaltes unter der Führung von Tanning und Ernst ein Dorf der Hopi-Indianer im 80 Meilen entfernten Reservat besucht und einen Regentanz des Stammes beobachtet haben sollen. Max Ernst soll die ganze Zeremonie bereits bekannt gewesen sein, so dass er seine Begleiter rechtzeitig vor dem schließlich eintretenden Wolkenbruch zum Aufbruch veranlasste.1328 Dies lässt vermuten, dass Max Ernst mit den Riten und Traditionen der Indianer sehr vertraut war,

1323 Ernst 1991, S. 352–358, besonders S. 357. Die Darstellung Max Ernsts in Gesellschaft seiner Katchina-Puppen war für viele Fotografen ein beliebtes Motiv (vgl. Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 148– 151). 1324 Ausst. Kat. Paris 1998, S. 158–159. 1325 Pierre 1976, S. 16. 1326 Penrose 1981b, S. 140. 1327 Brockhaus – Die Enzyklopädie: in vierundzwanzig Bänden, 20. überarb. und aktualisierte Auflage, Leipzig [u. a.] 1996–1999, Bd. 19, S. 234, Stichwort: Schamanismus. Vgl. auch: Klaus E. Müller. Schamanismus: Heiler – Geister – Rituale, München 1997 (= Beck’sche Reihe; 2072: C. H. Beck Wissen). 1328 Penrose 1985a, S. 180–181. Penrose 2001, S. 134. 277 auch weist Roland Penrose daraufhin, dass Ernst mit den Hopi-Indianern Freundschaft geschlossen hatte.1329

Mit ihren Aufnahmen stellt Lee Miller über das Element der Landschaft nicht nur einen motivischen Zusammenhang zu Gemälden Ernsts her, so dass es scheint, als wäre eine seiner visionären Landschaften als Kulisse für das Porträt des Künstlers ausgewählt worden. Die Darstellung des Künstlers als indianischen Schamanen verweist auch auf das spezielle Interesse Max Ernsts an Maskierungen und Inszenierungen und somit indirekt auf seine Rolle als Künstler. Über diese Art der Präsentation werden schließlich auch Parallelen zwischen der surrealistischen Ideologie und den bei den indianischen Stämmen im Kultzusammenhang praktizierten traditionellen Gebräuchen impliziert, die eine mittelbare Verbindung zwischen dem Porträtierten und seiner Rolle als surrealistischer Künstler schaffen.

Lee Miller nahm von Ernst und Tanning 1946 in der Wüste Arizonas noch weitere Fotografien1330 auf, in denen die beiden surrealistischen Künstler in unkonventionellen Inszenierungen und Maskeraden zu sehen sind und so etwas über ihr außergewöhnliches Denken und Handeln verraten. Zu diesen Aufnahmen zählt auch ein Foto1331, das Dorothea Tanning im Freien beim Kochen am offenen Feuer zeigt. Wie Max Ernst ist Tanning in der Wüste Arizonas zu sehen: in dieser kargen und felsigen Landschaft fotografierte Lee Miller die surrealistische Malerin als eine Squaw, die mit nacktem Oberkörper, einem kurzen Rock und zu Zöpfen gebundenen Haaren am Lagerfeuer steht und in einem Kochtopf rührt. Auch aus dieser Aufnahme Millers spricht, wie im Fall von Max Ernst, die Verbundenheit mit der Natur und der Kultur und den Lebensformen ‚primitiver‘ Völker, in diesem Fall indianischer Stämme. Die Fotografie, die dem Betrachter eine romantische und surrealistischen Künstlern adäquate Form der Inszenierung suggeriert, wurde von Tanning bei der Publikation mit den

1329 Penrose 1981b, S. 140. 1330 Zu diesen Aufnahmen zählen auch Fotografien, die Max Ernst bei handwerklichen Arbeiten an seinem Holzhaus in Sedona zeigen (Neuer Schwarzweißabzug und –negativ LMA, Inv. Nr. A 0239, Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 185, Kat. Nr. 128 und SWN LMA, Inv. Nr. A 0232). Der Künstler wurde von Lee Miller dabei beobachtet, wie er im Inneren des Hauses auf dem Boden kniete und die blanken Holzbohlen mit einer Art Fußbodenbelag kaschierte. Zu diesem Zweck hielt Ernst? einen Hammer und Nägel in seinen Händen. Seine äußere Erscheinung war diesem Anlass weniger angepasst, trug er doch nicht nur Shorts und Sandalen, sondern auch eine Indianermaske, die sein Gesicht und seinen Hals vollständig verbarg, so dass er über seine Physiognomie nicht zu erkennen war und Zweifel an seiner Identität berechtigt sind. Diese Maske war nur mit kleinen Sehlöchern ausgestattet, so dass Ernst? wahrscheinlich nicht besonders viel sah und seine Tätigkeit nur eingeschränkt verrichten konnte, was dafür spricht, dass er sich nur für die Aufnahmen maskiert haben könnte. Mit dieser Maske ist Max Ernst in einem anderen Porträt am Ufer des Oak Creek zu sehen, doch verändert er in diesem Fall nicht sein Aussehen mit diesem magischen Kopfschmuck, sondern hält die Maske nur in seinen Händen (Neuer Abzug, LMA, Inv. Nr. A 0878, Abb. in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S 185, Kat. Nr. 129). 1331 LMA, Inv. Nr. A 0344, Abb. in: Tanning 1995, S. 349, Fig. 50. 278

Worten kommentiert: „In Sedona kochten wir auf Steinen im Freien, schlugen ein Feuer aus kümmerlichem Wüstengestrüpp. Wir spielten ‚Zuhause’.“1332

Es handelt sich bei dieser Aufnahme also um eine fotografische Schilderung der Lebensumstände der beiden Künstler, die in Sedona unter bescheidensten Bedingungen lebten und dabei Elemente der Lebensform der indianischen Bevölkerung übernahmen, was sicherlich wieder als ein Hinweis auf das Interesse der Künstler an den kulturellen Bräuchen der Ureinwohner Amerikas verstanden werden kann. Dieses Interesse visualisieren auch andere Fotografien Lee Millers, die bereits 1939 während eines Besuches von Max Ernst und seiner damaligen Lebensgefährtin Leonora Carrington im südfranzösischen Saint-Martin d’Ardèche entstanden sind und die die surrealistische Künstlerin Léonor Fini zeigen1333 (vgl. Fotografie 83).

4.3.6 Porträt Max Ernst im Maisfeld (Farley Farm, um 1950)

Der surrealistische Künstler Max Ernst hegte ein besonderes Interesse an spontanen Inszenierungen, wie schon die Fotografien, die Lee Miller 1937 in Cornwall und 1946 in Sedona aufnahm1334, zeigten. So präsentierte sich Ernst auch in einer wahrscheinlich im August 19501335 in Chiddingly entstandenen Aufnahme (Fotografie 115)1336 in einer eher ungewöhnlichen Art und Weise.

Max Ernst stattete Lee Miller und Roland Penrose auf seiner ersten Europareise1337 (seit seiner Emigration in die USA) einen Besuch auf deren Wohnsitz Farley Farm in East Sussex ab. Auf dem landwirtschaftlich genutzten Anwesen des Paares fand sich so wahrscheinlich auch das Maisfeld, in dem sich Max Ernst während der Aufnahme mehr verbarg als zur Schau stellte. Nur das Gesicht des Künstlers, der seinen Blick unmittelbar auf die Fotografin

1332 Tanning 1990, S. 15. 1333 Vgl. Kap. 4.2, Fotografien 1929–1940. 1334 Vgl. Kap. 4.3.4, 4.3.5. 1335 Die Fotografie (NC 0176-9) wurde im Lee Miller Archive mit Max Ernst, Farley Farm, England 1949 by Lee Miller bezeichnet. Die Datierung der Fotografie in den August 1950 erfolgte nach: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 215, Abb. 152. Die Datierung in den August 1950 ist wahrscheinlicher als der vom Archiv angegebene Zeitraum, da Max Ernst erst Ende des Jahres 1949 zu seiner Reise aufbrach. Zu dieser Zeit dürfte es in Großbritannien jahreszeitenbedingt noch keine Maisfelder gegeben haben. In seinen biografischen Erinnerungen berichtet Max Ernst über sein Wiedersehen mit seinen Freunden im Jahr 1950, Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 219: „Wiedersehen von Paris. Gemischte Gefühle. M.E. war froh, seine alten Freunde begrüßen zu können: Arp, Joe Bousquet, Patrick Waldberg, Robert Lebel, André Pieyre de Mandiargues, Georges Bataille, Giacometti, Balthus und Penrose. Auch Paul Éluard, trotz einiger Schwierigkeiten (der Dichter der Freiheit von einer erbarmungslosen Disziplin gefangengenommen).“ 1336 Fotografie 115 = SWA LMA, Inv. Nr. NC 0176-9, Format 8 x 8 cm, Abb. des Abzugs in: Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 215, Kat. Nr. 152. 1337 Die Reise führte ihn von Ende 1949 bis Oktober 1950 nach Europa. Dorothea Tanning berichtet, dass das Schiff im August 1949 in Antwerpen anlegte, in: Tanning 1990, S. 105. 279 richtet, ragt aus dem undurchdringlichen Gewirr an Maispflanzen hervor, die fast formatfüllend dargestellt sind. Der Wuchs der Pflanzen erinnert an die phantastischen, dschungelähnlichen Vegetationen, die Max Ernst in seinen Gemälden aus dem Jahr 1936, Jardin peuplé de chimères1338 und La joie de vivre1339 darstellte, das zur Sammlung Roland Penroses gehörte. Der Schöpfer dieser visionären Pflanzenwelten scheint in Millers witziger Fotografie gleichsam in eine solche versetzt worden zu sein, wodurch auch über das Motiv ein Bezug zur Kunst von Max Ernst, besonders zu den in seinen Gemälden der 1930er Jahre häufig dargestellten Wäldern und Gärten, hergestellt werden kann.

4.3.7 Saul Steinberg mit Gartenschlauch (Farley Farm, um 1953)

Saul Steinberg1340 wurde von Lee Miller um 1953 unter anderem mit dem jahrhundertealten Felsbild des Wilmington Giant fotografiert. Über das Spiel mit der Perspektive wurde in dieser Fotoserie der Eindruck erweckt, dass der amerikanische Karikaturist den Umriss der männlichen Gestalt mit dem Stift, den er in seiner Hand hielt, gerade erst auf dem grasbewachsenen Hügel festgehalten hätte1341. Während in dieser Aufnahme nicht nur über die gestellte Arbeitssituation, sondern gerade auch über das besondere Arrangement ein Hinweis auf Steinbergs Nähe zur bildenden Kunst gegeben wird, ist es in einem weiteren, zeitgleich entstandenen Porträt (Fotografie 116)1342 vor allem die witzige Inszenierung, die auf seine Rolle als Künstler verweisen könnte.

Steinberg geht in diesem Fall nicht einer künstlerischen Betätigung nach, sondern macht sich – wie alle Gäste Lee Millers – in Haus und Garten nützlich. Ihm kam in diesem Fall aber nicht die Aufgabe zu, die Schweine zu füttern, den Salat zu ernten oder auch Bohnen einzusalzen, wie dies zum Beispiel andere prominente Gäste auf Farley Farm wie Alfred Barr, der Direktor des New Yorker Museum of Modern Art, oder der Bildhauer Reg Butler taten. Auch erwies er sich nicht – wie Dorothea Tanning – als ein begabter Elektriker.1343

Der Cartoonist ist in Millers Fotografie vielmehr im Garten von Farley Farm beim ‚Kampf‘ mit einem langen Schlauch zu sehen, den er mit Händen und Füßen auszurollen versucht. Steinberg ist hierbei fast in der gleichen Kleidung wie in der Aufnahme mit dem Wilmington Giant zu sehen und hat lediglich auf den Hut, die Krawatte und das Jackett verzichtet. Er ist in der vorderen Bildebene und auf der Mittelachse des Bildes dargestellt worden und hält

1338 Spies/Metken, Bd. 4, S. 368, Kat. Nr. 2264. 1339 Spies/Metken, Bd. 4, S. 367, Kat. Nr. 2263. Penrose kaufte „La joie de vivre“ 1936 von Ernst, noch bevor das Bild endgültig fertiggestellt war, vgl. Ausst. Kat. London 1991, S. 363 und Tafel 198. 1340 Zur Biografie Steinbergs vgl. Kap. 4.1.2.4.1. 1341 Vgl. Kap. 4.1.4.1.9. 1342 Fotografie 116 = Neuer Abzug LMA, Inv. Nr. F.F. 0285, Abb. in: Penrose 2002, S. 78, unten links. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 96. Penrose 1985a, S. 192 (die Fotografie wird hier in das Jahr 1959 datiert, illustrierte aber bereits im Juli 1953 Millers in der britischen Vogue erschienen Artikel Working guests). 1343 SWN LMA, Inv. Nr. LM 133-8, Format 6 x6 cm. 280 den Schlauch in seinen weit nach oben bzw. zur Seite ausgestreckten Händen; seinen Fuß hatte er auf die Schlauchtrommel gestellt. Der bereits abgerollte Teil des Schlauches formte vor seinem Körper unmittelbar über der Trommel eine große Schlaufe oder wurde von ihm schwungvoll in großem Bogen über seinem Kopf gehalten. Der sich ornamentartige rollende, Bewegung und Dynamik vermittelnde Schlauch wurde von Miller so aufgenommen, dass er das Format der Fotografie in der Höhe vollständig und in der Breite bis zum rechten Bildrand zu rund 2/3 ausfüllt. Im Hintergrund der Fotografie sind Büsche und Sträucher zu sehen, während am linken Bildrand ein Baum dargestellt ist, der die Komposition abschließt.

Der von Miller fotografierte ‚Kampf‘ Steinbergs mit dem Schlauch lässt an den Kampf des trojanischen Priesters Laokoon mit zwei Seeschlangen denken, von dem Vergil1344 in der Äneis schreibt. Die wohl berühmteste Darstellung dieses Kampfes wurde von den griechischen Bildhauern Hagesandros, Polydoros und Athenodoros im 1. Jahrhundert nach Christus mit der sogenannte Laokoon-Gruppe1345 geschaffen. Für Antony Penrose waren Steinbergs Bemühungen aber eher eine Art Persiflage, mit der sich der Cartoonist, der anlässlich seiner Ausstellung im ICA nach Großbritannien gekommen war, selbst verspottete.1346

Wie bereits bei einem Porträt von Henry Moore angeführt wurde1347, hielt Lee Miller, soweit sie ihren Mittagsschlaf beendet hatte, die sklavische Beschäftigung ihrer Gäste in zahlreichen Fotografien fest. Diese dienten eigentlich nur dem eigennützigen Zweck, die Freunde und Besucher auf Farley Farm auf ihre kommenden Tätigkeiten einzustimmen, doch wurde auch eine Auswahl von 21 Fotografien, zur der auch die Aufnahme von Steinberg mit dem Gartenschlauch zählt, im Juli 1953 in Millers humorvollen, aber letzten Artikel Working Guests in der britischen Vogue publiziert.1348

4.3.8 Lynn Chadwick im Adamskostüm (Farley Farm, 1953)

Zu den Porträts der „arbeitenden Gäste“ kann wahrscheinlich auch eine Fotografie des Bildhauers Lynn Chadwick gezählt werden. Auch dieses Foto (Fotografie 117)1349, dem – anders als Millers Porträts von Steinberg – kein besonders ausgefallener Bildaufbau zugrunde liegt und dessen Originalität vor allem auf die äußere Erscheinung des Künstlers zurückzuführen ist, wurde während eines Besuchs des Bildhauers auf Farley Farm aufgenomen.Chadwick war im Rahmen der Gästearbeit die Aufgabe zugekommen, Lee

1344 Publius Vergilius Maro, Aeneis, bearb. von Hans-Joachim Glücklich, Göttingen 2004 (= Exempla ; 6). 1345 Abbildung in: Hugh Honour und John Fleming, Weltgeschichte der Kunst, München 1983, S. 170, Abb. 383. „Hagesandros, Polydoros und Athenodoros, Laokoon und seine Söhne, 1. Jhr. n. Chr., Marmor, 244 cm. Vatikanische Museen, Rom.“ 1346 Penrose 2002, S. 79. 1347 Vgl. Kap. 4.1.3.3. 1348 Miller 1953, S. 54–57, 90, 92. Die Aufnahme findet sich auf S. 55 oben links. 1349 Fotografie 117 = Abb. in: Penrose 2002, S. 118 unten. 281

Millers Küchenmesser zu schärfen, was er auch tat: in der Aufnahme ist er mit einem Messer und einem Schleifstein in der Hand zu sehen, während weitere Messer und Utensilien auf einem Tablett neben ihm auf dem Rasen stehen. Lynn Chadwick hatte sich zu diesem Zweck im Garten unter einem Kirschbaum niedergelassen, an den er sich mit dem Rücken anlehnte. Wenn auch all diese Umstände nicht unbedingt dazu beitragen, den Porträtierten als einen Künstler anzusprechen, so könnte seine ungewöhnliche Erscheinung – Chadwick war zu diesem Zeitpunkt splitternackt, rauchte eine Zigarre und blickte eher grimmig in Millers Kamera – auf eine doch sehr unkonventionelle (Künstler-)Persönlichkeit verweisen. Antony Penrose erinnert sich, dass es keinen auf Farley Farm störte, „wenn sich die Besucher an heißen Sommertagen die Freiheit nahmen, ihre Kleider abzulegen“.1350

4.3.9 Jean Dubuffet und Georges Limbour (Farley Farm, 1956)

Der französische Maler Jean Dubuffet und sein Landsmann, der surrealistische Dichter und Schriftsteller Georges Limbour, entledigten sich zwar nicht ihrer Kleider, doch nahmen sie wie auch schon Eileen Agar, Leslie Hurry oder Max Ernst1351 an einer ungewöhnlichen, fotografischen Inszenierung teil und verraten dem Betrachter der Aufnahme so etwas über ihre künstlerische Lebensart.

Lee Miller fotografierte Jean Dubuffet und Georges Limbour im März 1955 während eines Wochenendbesuchs (26. bis 27./28. März 1955)1352 der beiden Künstler auf Farley Farm. Dubuffet war in Begleitung seines langjährigen Freundes Limbour1353 nach Großbritannien gereist, um am 29. März 1955 an der Eröffnung einer Retrospektive1354 seines Werks in dem von Roland Penrose mitbegründeten Institute of Contemporary Art in London teilzunehmen.1355 Von dem Aufenthalt der beiden Künstler in Chiddingly zeugen heute zwei

1350 Penrose 2002, S. 118. 1351 Vgl. Kap. 4.3.2, 4.3.3, 4.3.4, 4.3.5, 4.3.6. 1352 Der Zeitraum von Dubuffets und Limbours Aufenthalt auf Farley Farm konnte anhand des Gästebuches festgestellt werden. 1353 Dubuffet und Limbour kannten sich schon seit 1908, dem Jahr ihrer Einschulung, und waren ein Leben lang enge Freunde (vgl. Alfred Pacquement, Francoise Bonnefoy (Hrsg.), Jean Dubuffet, les dernières années, Ausst. Kat., Galerie nationale du Jeu de Paume, Paris, 20.6.–22.9.1991, S. 236). 1354 Die Ausstellung wurde vom 29. März bis zum 30. April 1955 gezeigt, vgl. René Micha, Jean Dubuffet: Culture et subversion, in: L’Arc; 35, S. 103. 1355 Dubuffet und Limbour erreichten Newhaven mit der Fähre am 26.3.1955. Antony Penrose berichtet, dass Dubuffet, der kein Englisch sprach und sich bei seiner Ankunft in Großbritannien nicht verständigen konnte, von einem Taxifahrer direkt von der Fähre aus nach Chiddingly gebracht wurde, da die Ankunft exzentrischer Personen in Newhaven längst zur Routine geworden war und unmittelbar mit Farley Farm und dem dortigen unkonventionellen Leben in Verbindung gebracht wurde (Penrose 1985a, S. 191). Nachdem sie das Wochenende in Chiddingly verbracht hatten, fuhren die beiden Künstler am Sonntag, den 27.3.1955 oder Montag, den 28.3.1955 zusammen mit Roland Penrose im Auto nach London, wo sie sich noch bis zum folgenden Donnerstag, den 31.3.1955 aufhielten. Die Modalitäten dieses Besuchs waren vom Sekretariat Dubuffets im Vorfeld schriftlich festgelegt worden, freundliche schriftliche Mitteilung von Frau Sophie Webel von der Fondation Dubuffet, Paris vom 11.3.2002. (ff) 282 originale Schwarzweißnegative (Fotografien 118: Ausschnitt und 119)1356, die im Lee Miller Archive aufbewahrt werden.

In den beiden Aufnahmen sind Limbour und Dubuffet zu sehen, wie sie neben respektive hinter einer partiell verglasten Außentür posieren, die zu einem Gebäude auf Farley Farm gehörte. Die beiden Künstler, die mit ihren Anzügen eine konventionelle Erscheinung bieten, hielten sich im Inneren des Gebäudes auf und wurden von Miller, die sich im Freien befand, aus unmittelbarer Nähe fotografiert. Der gewählte Ausschnitt erlaubte die Darstellung der Köpfe respektive der Oberkörper von Limbour und Dubuffet.

Die Außentür, bei der es sich um eine Schiebetür handelt, ist in der Aufnahme LMA, Inv. Nr. F.F. 0705 geöffnet, so dass die Porträtierten, die in der rechten Bildhälfte zu sehen sind, weitgehend unverdeckt dargestellt sind. Sie legen nur die Innenflächen und die gespreizten Finger ihrer rechten Hand an die Glasscheibe, die durch schmale Leisten gegliedert ist. Durch die Teilung der Aufnahme in zwei gleichgroße Bereiche, in denen jeweils die Hände oder die Oberkörper Dubuffets und Limbours sichtbar sind, und die Darstellung der Handflächen hinter der Scheibe werden diese fast schon isoliert wahrgenommen. Den Händen der Porträtierten und ihren ungefähr auf gleicher Höhe dargestellten Gesichtern, die frontal der Kamera zugewendet sind und in leichter Aufsicht bei Dubuffet oder Untersicht bei Limbour zu sehen sind, kommt in der Fotografie eine hervorgehobene Bedeutung zu.

Noch stärker in den Mittelpunkt als in der bisher vorgestellten Aufnahme treten die Köpfe und die Hände der Porträtierten in der zweiten Fotografie (Fotografie 119)1357, die Miller von Dubuffet und Limbour aufnahm. Die ehemals geöffnete Tür ist für diese Aufnahme geschlossen worden, so dass der Maler und der Dichter unmittelbar hinter der formatfüllend dargestellten Fensterscheibe zu sehen sind, in der sich Lee Miller und die Landschaft spiegeln. Von der Tür ist in LMA, Inv. Nr. F.F. 706 (Fotografie 119) außer dem Fensterkreuz, das die Scheibe in jeweils zweimal zwei gleichgroße Rechtecke teilt, nichts mehr sichtbar. Dubuffet und Limbour sind jeweils in einem der beiden größeren Felder zu sehen, so dass

Auch Martine Colin-Picon berichtet in ihrer Biografie über Limbour von einem Aufenthalt der beiden Künster auf Farley Farm, doch datiert sie den Aufenthalt fälschlicherweise in das Jahr 1956 (vgl. Martine Colin-Picon, Georges Limbour, in: Le Songe autobiographique, Arles 1994 (= Collection Pleine Marge; 4), S. 216. „1956: Limbour et Jean Dubuffet se rendent chez Roland Penrose à Farley Farm en Angleterre“). Die unkorrekten Jahreszahlen 1956 und 1959 finden sich auch als Datierung auf den Abzügen im Lee Miller Archive und dem bei Livinston, Photographer 1989, S. 162 publizierten Porträt. 1356 Fotografie 119 = SWN LMA, Inv. Nr. F.F. 0705 und F.F. 0706, Format 6 x 6 cm. Abb. von LMA, Inv. Nr. F.F. 0706 (= Vintage Print in der Fondation Dubuffet, no de cliché 1956/21 01, Format H/B 9 x 9 cm) in: Calvocoressi 2002, S. 1. Penrose 2002, S. 85. Livingston 1989, S. 162. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 109. Fotografie 118 = Abb. von Ausschnitten aus LMA, Inv. Nr. F.F. 0705 in: Penrose 1981b, S. 187, Abb. 470. Laurent Danchin, Jean Dubuffet, Lyon 1988, Abb. ohne Zählung, entspricht S. 75 (= Vintage Print in der Fondation Dubuffet, no de cliché 1956/22 01, Format H/B 10,8 x 5,5 cm). 1357 Fotografie 119 = SWN LMA, Inv. Nr. F.F. 0706, Format 6 x 6 cm (= Vintage Print in der Fondation Dubuffet, no de cliché 1956/21 01, Format H/B 9 x 9 cm), Abb. in: Calvocoressi 2002, S. 1. Penrose 2002, S. 85. Livingston 1989, S. 162. 283 sie fast wie gerahmt erscheinen. Hatten sich die beiden Porträtierten für die Aufnahme LMA, Inv. Nr. F.F. 705 (Fotografie 118: Ausschnitt) hintereinander aufgestellt, so befinden sie sich nun unmittelbar nebeneinander und werden in einem absolut gleichberechtigten Verhältnis gezeigt. Die Porträtierten pressen ihre Fingerkuppen an die Scheibe, wodurch nicht nur diese, sondern auch ihre Hände in den Vordergrund der Darstellung treten und besonders hervorgehoben werden. Die Gesichter Dubuffets und Limbours, die in einem geringen Abstand hinter der Scheibe zu sehen sind, stellen ein weiteres, bildbestimmendes Element dar.

Jean Dubuffet besaß von den beiden Aufnahmen Lee Millers originale Schwarzweißabzüge, die heute in der Fondation Dubuffet1358 in Paris aufbewahrt werden: Dubuffets Abzug von LMA, Inv. Nr. F.F. 0705 wurde auf der linken Seite stark beschnitten, so dass das Format der Fotografie auf das ungewöhnliche Maß von H/B 10,8 x 5,5 cm halbiert wird.1359 Warum dies geschah und durch wen, ist auch Sophie Webel, die für das Archiv Dubuffets verantwortlich ist, nicht bekannt, aber die Aufnahme zeigt nun nur noch die ehemals in der rechten Bildhälfte dargestellten Künstler, nicht aber ihre Hände, die sie an die Fensterscheibe gelegt hatten. Man könnte vermuten, dass bei einer Publikation dieses Abzugs nur die Physiognomie Limbours und Dubuffets von Interesse war, nicht aber ihre Hände, die so aus dem Bild eliminiert wurden.

Dies verwundert, denn bei der Entstehung eines Kunstwerks sind neben den Augen eines Künstlers in der Regel seine Hände von besonderer Bedeutung: das, was er sieht, kann Ideen für neue Werke liefern, die er dann mit seinen Händen gestalterisch umsetzt. Die isolierte Darstellung von Künstlerhänden stellt seit der Renaissance ein beliebtes Motiv dar: so soll auf die entscheidende Rolle verwiesen werden, die diesen Händen im Werkprozess zukommt, gleich ob sie bei der künstlerischen Arbeit oder einer anderen Tätigkeit gezeigt werden.1360 Lee Miller fotografierte 1956 nicht nur die Hände Dubuffets und Limbours und

1358 Freundliche schriftliche Mitteilung von Frau Sophie Webel, Fondation Dubuffet vom 11.3.2002. Frau Webel kann nicht mit Sicherheit sagen, auf welchem Wege die Fotografien in den Besitz des Künstlers gelangten. Sie vermutet, dass Lee Miller ihren Freunden die Abzüge zur Erinnerung an deren Aufenthalt auf Farley Farm geschickt haben könnte. Frau Webel bestätigt aber, dass sich auf der Rückseite des Abzugs vom Negativ LMA, Inv. Nr. F.F. 0705 (= Fondation Dubuffet no 1956/22 01) die Anmerkung „Avec Georges Limbour, à Vence, vers 1956“ findet. Diese falschen Angaben zum Aufnahmeort und zur Aufnahmezeit sollen vom Sekretariat Dubuffets hinzugefügt worden sein. Ein Hinweis auf den Fotografen oder die Fotografin wird, so Webel, nicht gegeben. Ausschnitt aus dem Schwarzweißnegativ LMA, Inv. Nr. F.F. 0705 = Abzug Fondation Dubuffet, no de cliché 1956/22 01, Abb. in: Danchin 1988, Abb. ohne Zählung, entspricht S. 75. Ein anderer Ausschnitt des Negativs wurde bei Penrose 1981b, S. 187, Abb. 470 publiziert. Schwarzweißnegativ LMA, Inv. Nr. F.F. 0706 = Fondation Dubuffet, no de cliché 1956/21 01.

1359 Wahrscheinlich waren es layouttechnische Gründe, die bei der Publikation dieser Aufnahme in Roland Penroses Scrapbook, S. 187, Abb. 470, zu einer Reduzierung des ursprünglichen Formats des Abzugs führten. Doch wurde die Fotografie nicht einseitig, sondern rundum gleichmäßig beschnitten, so dass das Bild nichts von seiner Wirkung einbüßt (Fotografie 118). 1360 Vgl. hierzu: Sabine Flach, Das Auge: Motiv und Selbstthematisierung des Sehens in der Kunst der Moderne, in: Benthien 2001, S. 49–65. Burkhard Oelmann, Auslösen/Abtrennen: Fotografierende und fotografierte Hände, in: Benthien 2001, S. 461–483. Babette Krimmel, Die Künstlerhand, in: la (ff) 284 machte diese zum Mittelpunkt ihrer Aufnahmen, sie porträtierte auch Pablo Picasso1361, der seine Augenpartie mit einer Fotografie seiner Augen verdeckte und so eines seiner hervorstechendsten Merkmale noch zusätzlich betonte und verweist in ihren Porträts – neben der speziellen Inszenierung der Fotografien – auf die künstlerische Rolle von von Picasso, Dubuffet und Limbour.

mano: Die Hand in der Skulptur des 20. Jahrhunderts, Heilbronn 1999 (= Heilbronner Museumskatalog ; Nr. 48), S. 121–131. Klant 1995, S. 205f. Johannes Denker, Die Hand als Bildmotiv, Oldenburg 1982. 1361 Vgl. Kap. 4.1.1.9. 285

5 Abschließende Betrachtung

Lee Millers fotografisches Werk, das sie von 1929 bis 1973 schuf, ist sehr vielfältig: sie ließ sich vom Surrealismus inspirieren, experimentierte mit neuen Techniken, fotografierte für das Hochglanzmagazin Vogue die neueste Mode in Paris und London, berichtete als Kriegskorrespondentin der US-Streitkräfte im 2. Weltkrieg von den europäischen Kriegsschauplätzen und hielt auf ihren zahlreichen Reisen in Europa, Afrika und Amerika die Landschaft im Bild fest. Porträts oder Genre-Fotografien von mehreren Menschen stellen aber, so Richard Calvocoressi1362, mit rund „zwei Dritteln von Millers Produktion“, von der heute ungefähr 40.000 Schwarzweißnegative und 500 Originalabzüge im Lee Miller Archive aufbewahrt werden, mit Abstand die größte Gruppe von Fotografien dar.

Insgesamt sind ca. 305 der von Miller porträtierten, mehr oder weniger prominenten Personen namentlich bekannt. Bei fast der Hälfte der Protagonisten (ca. 153 von ca. 305) handelt es sich um Menschen, die über ihren Beruf eng mit der Kunstszene verbunden waren und von denen ungefähr 581363 als bildende Künstler tätig waren. Diese Zahlen vermitteln einen Eindruck von dem großen Interesse, das Lee Miller bereits frühzeitig (die ersten nachweisbaren Aufnahmen eines Künstlers mit einem Kunstwerk datieren in das Jahr 1933) der Person und dem Werk von Malern, Bildhauern, Graphikern und Objektkünstlern, also dem Kreis, in dem sie lebte, entgegenbrachte.

Lee Miller ist in diesem Punkt wahrscheinlich von Man Ray beeinflusst worden, dessen Schülerin und Assistentin sie in Paris in den Jahren von 1929 bis 1932 war: Man Ray fotografierte bereits seit 1922 nicht nur die Gemälde oder Skulpturen seiner befreundeten Künstlerkollegen zu Reproduktionszwecken, sondern nahm im Anschluss daran zu seinem eigenen Vergnügen Porträts der Künstler selbst auf. Auch war Lee Miller bereits während ihres ersten Paris-Aufenthaltes von 1925 bis 1926 mit der künstlerischen Szene in Kontakt gekommen und hatte während ihrer Zeit mit Man Ray zahlreiche neue Freunde kennen gelernt, zu denen vor allem avantgardistische Künstler wie Max Ernst und die Gruppe der Surrealisten um André Breton zählten, so dass ihr viele Künstler als Modelle zur Verfügung standen.

Lee Miller porträtierte, von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, vor allem surrealistische und avantgardistische Maler, Bildhauer und Objektkünstler. Heute gelten diese Künstler, die fast alle zu den engen Freunden Millers zählten, als Ikonen des 20. Jahrhunderts, doch zu der Zeit, als die ersten Fotos aufgenommen wurden, wurde die Qualität und die künstlerische Bedeutung ihrer Arbeiten nur von einem kleinen Kreis Gleichgesinnter erkannt und gewürdigt. Obwohl es sich bei Lee Miller und den von ihr fotografierten Protagonisten um die Vorkämpfer neuer künstlerischer Ideen handelte, findet sich in ihren Porträts in den meisten

1362 Calvocoressi 2002, S. 9. 1363 Vgl. Fußnote 3 286

Fällen keine Entsprechung dazu: die Künstler sind in diesen Fotografien in einer überraschend klassischen Inszenierung zu sehen.

Bereits in der Frühzeit der Fotografie (um 1840) entstanden die ersten Künstlerporträts, in denen sich die Protagonisten mit traditionellen künstlerischen Accessoires wie Kunstwerken und den typischen Werkzeugen präsentierten und so einen Hinweis auf ihr künstlerisches Wirken geben wollten. Diese Art der fotografischen Darstellung von Malern und Bildhauern steht in der Tradition von gemalten Künstlerporträts seit dem 16. Jahrhundert. Zu den überlieferten Elementen der Künstlerdarstellung, die sich auch in Millers Fotografien finden, zählen – neben den charakteristischen Accessoires – ebenfalls die klassischen, repräsentativen Posen, die dem Modell eine gewisse Sicherheit vor der Kamera geben und zu denen der tradierte Melancholiegestus oder der Blick des arbeitenden Künstlers aus dem Bild gehören. Auch die konventionelle, den gesellschaftlichen Normen angepasste äußere Erscheinung der porträtierten Maler und Bildhauer, mit der sie ihrem künstlerischen Erfolg und dem damit verbundenen sozialen Status Ausdruck verleihen wollten, gehört zu diesem Repertoire. Nur selten finden sich bei Miller Aufnahmen, die die Künstler nicht in repräsentativer Garderobe, sondern in typischer Arbeitskleidung zeigen: mit diesen Fotografien soll auf die Ernsthaftigkeit verwiesen werden, mit der sich der Protagonist seinem künstlerischen Schaffen widmete.

Die Diskrepanz zwischen dem revolutionären Gedankengut der porträtierten Avantgardekünstler und der zumeist konventionellen Inszenierung der Aufnahmen lässt natürlich die Frage aufkommen, inwieweit die Fotografin respektive die jeweiligen Künstler an der künstlerischen Gestaltung beteiligt waren. Viele der Surrealisten wie Magritte oder Mesens machten den konventionellen, eleganten Anzug zu ihrer täglichen Garderobe und lebten ein normales Leben, so dass sie auch an einem traditionellen Arrangement der Aufnahmen interessiert gewesen sein könnten. Während bei den meisten Künstlern, die von Lee Miller porträtiert wurden, über die Art und den Umfang der Beeinflussung durch die Fotografin nur Vermutungen angestellt werden können, ist es bei Picasso wegen der enormen Menge an Fotografien vergleichsweise einfach, seinen Anteil an der Inszenierung festzustellen.

Im Lee Miller Archive werden rund 1000 Porträts aufbewahrt, die Lee Miller in der Zeit von 1937 bis ca. 1965 von Picasso und seinem Kreis aufnahm.1364 Der spanische Maler und Bildhauer faszinierte zahllose Fotografen und zählt mit zu den meistfotografierten Künstlern seiner Zeit, so dass eine große Zahl von Porträts existiert und somit ein entsprechendes Vergleichsmaterial zur Verfügung steht. Picasso soll sich der Gegenwart eines Fotografen fast immer bewusst gewesen sein, wie einige von ihnen leidvoll zu berichten wissen, so dass es nur wenigen gelungen ist, ihn in einem unbeobachteten Moment zu fotografieren.

Nach Roland Penrose soll dies auch das Ziel Lee Millers gewesen sein: so soll Picasso bei den Aufnahmen, die Lee Miller 1954 von ihm und der Skulptur des Babys aus dem Ensemble

1364 Calvocoressi 2002, S. 9. 287

Frau mit Kinderwagen machte, der agierende Part gwesen sein, während Lee Miller „wie gewöhnlich“ dazu gekommen sei und in „ausgewählten Momenten“ fotografiert habe. Diesen eher spontan aufgenommenen Fotografien stehen in Millers Werk aber die Künstlerporträts gegenüber, die sorgfältig nach einem konventionellen Schema konzipiert worden sind.

Ein Indiz dafür, dass Picasso sich weitgehend selbst inszenierte, ist vor allem die Pose, in der sich der Künstler der Kamera unterschiedlicher Fotografen wie Lee Miller, David Douglas Duncan oder auch Edward Quinn präsentierte. Diese Stellungen, die sich fast unverändert in Picassos Porträts finden, lassen auf ein extremes Selbstbewusstsein des spanischen Künstlergenies schließen. Dass Picasso die Posen, in denen er sich selbst wahrnahm bzw. von anderen wahrgenommen werden wollte und die ihm Sicherheit vor der Kamera gaben, bereits frühzeitig entwickelt hatte und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten beibehielt respektive nur geringfügig modifizierte, zeigen fotografische Selbstporträts, die der Maler um 1915/16 in seinem Pariser Atelier aufnahm.

Auch die Haltung, die Mimik und die Gestik, in der Wifredo Lam, Isamu Noguchi, Max Ernst oder Dorothea Tanning für Miller posierten und die ihnen die Aura einer selbstsicheren und erfolgreichen oder einer introvertierten Künstlerpersönlichkeit verlieh bzw. verleihen sollten, finden sich zum Teil in den Porträts, die andere Fotografen zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt von ihnen aufgenommen haben. Dies lässt den Schluss zu, dass auch diese Künstler bestimmte Posen, in denen sie sich der Kamera Millers und anderer Fotografen weitgehend unbeeinflusst präsentierten, einstudiert hatten, um so ein vorab definiertes Bild von ihrer Person zu liefern.

Doch finden sich in Millers Werk auch Aufnahmen, an deren Arrangement die Fotografin maßgeblich beteiligt gewesen sein muss. Hierbei handelt es sich vor allem um Fotografien, die die Künstler in unkonventionellen, witzigen Inszenierungen zeigen. Alberto Viani hätte ohne detaillierte Instruktionen Millers wohl kaum eine völlig deckungsgleiche Stellung zu seiner Skulptur einnehmen können, so dass der Eindruck erweckt wird, dass er zu einem Teil seines Werkes wird. Auch die Illusion eines gigantischen Max Ernst und einer zwergenhaften Dorothea Tanning, die sich in der Wüste Arizonas im wahrsten Sinne des Wortes ‚in die Haare‘ geraten, hätte ohne Millers Mitwirkung am Arrangement der Aufnahmen nicht geschaffen werden können. Gleiches gilt auch für die Fotografien von Saul Steinberg, der sich mit seinem Stift in der Hand so vor einem jahrhundertealten Felsbild aufgebaut hatte, dass man meint, er habe es gerade erst auf die hügelige Landschaft gezeichnet.

In den Porträts, die Lee Miller von bildenden Künstlern aufgenommen hat, spielt das Kunstwerk, mit dem die Protagonisten vor unterschiedlichen Kulissen posieren und durch das sie unmittelbar in ein künstlerisches Umfeld eingebunden werden, immer eine große Rolle. Die Werke werden in diesen Aufnahmen durch ihre Größe und ihre zumeist optimale Präsentation an hervorgehobener Stelle dem porträtierten Künstler als ein gleichberechtigtes, die Aufnahmen teilweise sogar dominierendes Bildelement zur Seite gestellt. Bei der Darstellung vor einem neutralen Hintergrund oder im Wohnraum des Porträtierten sind fast ausschließlich nur einzelne, ausgewählte Werke zu sehen, während im Atelier, wo die Gemälde und Skulpturen geschaffen und oft auch aufbewahrt werden und das als Genius Loci traditionell eine wichtige Rolle im Bereich des gemalten oder fotografierten Künstlerporträts spielt, fast immer eine große Zahl von Kunstwerken präsentiert wird. Der 288

Künstler und sein(e) Werk(e) stehen in Millers Aufnahmen, die sich fast immer durch eine eher statische Linienführung mit einer starken Betonung der Horizontalen und/oder der Vertikalen auszeichnen, meist im Mittelpunkt. Nur in wenigen Fällen wollte die Fotografin auch etwas von der besonderen Atmosphäre, die die Künstler in ihren Ateliers geschaffen hatten, festhalten: die Porträtierten wurden von ihr aus einer größeren Distanz aufgenommen, so dass ein größerer Ausschnitt des Raums dargestellt wird. Doch war für Miller auch allein das Ambiente der Werkstätten und Häuser der porträtierten Künstler von besonderem Interesse, wie zahlreiche Interieurszenen zeigen.

Bei den präsentierten Gemälden und Skulpturen handelt es sich zumeist um die neuesten Werke, die etwas über den augenblicklichen und den zukünftigen Ruhm des porträtierten Künstlers aussagen. Wenn – wie im Atelier – eine Vielzahl von Werken dargestellt ist, finden sich auch ältere Arbeiten des Protagonisten, die von der Kontinuität seines Schaffens, seiner Kreativität und Produktivität zeugen. Die Mehrzahl der Künstler wurde mit eigenen Werken fotografiert, nur wenige Aufnahmen zeigen zum Beispiel Bérard, Topolski oder auch Picard mit Kunstwerken, die Bildhauer und Maler in zurückliegenden Epochen geschaffen haben und die stilistisch nicht mit der Kunst der Dargestellten in Verbindung gebracht werden können.

Bei der Wiedergabe eines Kunstwerkes in einer Fotografie sollte man immer berücksichtigen, dass eine interpretationsfreie, objektive Wiedergabe von Gemälden und Skulpturen nicht möglich ist. Wie sehr die Wahl der Beleuchtung, des Aufnahmeabstands und der Perspektive besonders die Darstellung eines plastischen Werks beeinflusst, zeigt nicht nur Millers Aufnahme von Alberto Viani, sondern besonders ihre Fotoserie von Isamu Noguchi eindrucksvoll. In dieser Serie, in der sich die allansichtige Skulptur von einem ‚völlig flächigen‘ in ein dreidimensionales Werk verwandelt, gewinnt man den Eindruck, dass nicht nur eine einzige, sondern vielmehr drei unterschiedliche Plastiken Noguchis präsentiert werden.

Die porträtierten Künstler sind in Lee Millers Aufnahmen, in denen sie in unmittelbare Verbindung zur Kunstszene gesetzt werden, immer mit Kunstwerken zu sehen: nur im Atelier kommt auch den typischen Utensilien und Gerätschaften wie Staffeleien, Pinseln und Paletten zur Charakterisierung der Dargestellten eine große Bedeutung zu. Während in Ersteren ein mehr oder weniger konkreter Hinweis auf das private oder berufliche Interesse der Protagonisten an bildender Kunst gegeben werden soll, soll die Darstellung der Porträtierten in Arbeitsszenen, die sich von 1937 (Roland Penrose in Mougins) bis 1973 (Antoni Tàpies in Barcelona) in Lee Millers Werk finden, entscheidend zur Identifizierung als bildende Künstler beitragen. Hierbei ist zwischen den Fotografien zu unterscheiden, die die Künstler in gestellten bzw. spontan aufgenommenen, Wirklichkeitsnähe suggerierenden Arbeitssituationen zeigen. Miller war aber nicht an den unterschiedlichen Phasen der Werkgenese, sondern vor allem am Künstler und am künstlerischen Vorgang interessiert.

Um eine porträtierte Person eindeutig als Künstler identifizieren zu können, ist aber nicht nur die unmittelbare Einbindung in ein künstlerisches Umfeld über entsprechende Accessoires oder die Darstellung im Werkprozess von Bedeutung, sondern auch, dass der Betrachter der Fotografie die Physiognomie des Porträtierten erkennt und ihr ein bestimmtes, bereits vorhandenes Wissen zuordnen kann. Dies zeigt sich besonders in den Fällen, in denen nicht 289 nur bildende Künstler mit Kunstwerken zu sehen sind, sondern auch andere Personen, die beruflich wie privat mit der künstlerischen Szene verbunden waren. So finden sich in Millers Œuvre auch die Porträts von Kunstbuchverlegern, Kunsthistorikern oder Mäzenen, die mit Gemälden und Skulpturen dargestellt sind und somit über die gleichen bildimmanenten Faktoren wie bildende Künstler als kunstinteressierte Menschen ausgewiesen werden. Da das Foto aus sich heraus also keine eindeutige Aussage zulässt, ob es sich bei dem Porträtierten um einen Künstler handelt oder nicht, ist der Betrachter einer Fotografie auf weitere Informationen angewiesen, die bei der Veröffentlichung einer Aufnahme durch einen begleitenden Text vermittelt werden können. So kann der Dargestellte zum Beispiel über die Bildunterschrift als Maler, Bildhauer oder Graphiker ausgewiesen werden.

Bereits 1933 porträtierte Lee Miller in ihrem New Yorker Studio mit Joseph Cornell und seinem Jouet surréaliste einen avantgardistischen Künstler mit seinem Werk. Doch sind aus der Zeit von 1929 bis 1937 nur wenige Fotografien nachweisbar, die bildende Künstler darstellen, gleich ob mit oder ohne Kunstwerk. Bei den wenigen Beispielen der 1930er Jahre handelt es sich hauptsächlich um Fotografien, die während gemeinsam verbrachter Urlaube aufgenommen worden sind und die die Porträtierten nicht in ihrer Künstlerrolle, sondern als Jedermann beim Savoir vivre zeigen. Eine Aussage, ob Lee Miller bereits in ihrer Anfangszeit als Fotografin ein bestimmtes Schema zur Darstellung von Malern, Bildhauern oder auch Objektkünstlern wie Cornell ausarbeitete und im Lauf ihrer Karriere immer weiterentwickelte, ist deshalb nicht möglich.

Bei der surrealistischen Fotoserie von Joseph Cornell von 1933 und den 1937 aufgenommenen Porträts von Eileen Agar fällt aber auf, dass die Protagonisten über ihren Blick, ihre Körperhaltung und/oder eine Berührung in eine Art Dialog mit ihren Skulpturen und Objekten treten, wodurch ein Hinweis auf ihre Urheberschaft an der dargestellten Kunst geliefert werden könnte. Diese spezielle Inszenierung blieb nicht auf die 1930er Jahre beschränkt und findet sich ungefähr von 1948 bis 1962/63 immer wieder in Millers Werk. Ein absolut konträres Verhältnis zwischen den Künstlern und ihren Werken kann aber in den traditionell arrangierten Porträts beobachtet werden. Die Protagonisten posieren in diesen Fotografien völlig unbeteiligt neben ihren Skulpturen und Gemälden und wenden ihnen zum Teil sogar den Rücken zu, ohne Notiz von ihren Arbeiten zu nehmen.

Die Zahl der Künstlerporträts in Millers Œuvre stieg seit Mitte der 1940er Jahre kontinuierlich an und erreichte bis Ende der 1950er Jahre ihren Höhepunkt: In dieser Zeit entstanden die meisten Fotografien von bildenden Künstlern. Einige dieser Porträts wurden im britischen Hochglanzmagazin Vogue, für das Miller von 1940 bis 1953 als Fotografin und Autorin tätig war, veröffentlicht oder illustrierten die Bücher, die Roland Penrose über befreundete Maler und Bildhauer verfasste. Lee Miller publizierte – anders als David Douglas Duncan und Edward Quinn – ihre Aufnahmen von Künstlern aber nicht in speziellen Bildbänden.

Ab Mitte der 1940er Jahre lässt sich in Millers fotografischem Werk nicht nur eine steigende Zahl von Künstlerporträts feststellen, es entstanden auch vermehrt Fotoserien, die die porträtierten Künstler in einer Serie unter zwei Aspekten – mit Werken und somit mit einem engen Bezug zur Kunstszene und gleichzeitig völlig losgelöst von einem künstlerischen Zusammenhang als Jedermann – zeigen. Millers Interesse für die Fotografie ließ von Anfang der 1960er Jahre kontinuierlich nach, so dass sich bis 1973, als die Fotografin mit der 290

Fotoserie von Antoni Tàpies ihre Karriere beendete, nur wenige Porträts von Künstlern wie Miró und Picasso finden. In dieser Zeit wandte sich Lee Miller verstärkt neuen Leidenschaften wie Reisen, Kochen und klassischer Musik zu.

Die Vielfalt, die Lee Millers komplettes Œuvre kennzeichnet, findet sich auch im Bereich des Künstlerporträts. In den über 40 Jahren ihrer Karriere stellten die Fotografien von bildenden Künstlern immer einen besonderen Aspekt ihres Schaffens dar. Zwar finden sich von Anfang der 1940er bis in die 1. Hälfte der 1970er Jahre generell sehr viele Aufnahmen, in denen die porträtierten Künstler in einer eher klassischen Inszenierung zu sehen sind und mit ihrem Werk vor unterschiedlichen Kulissen in konventionellen Haltungen posieren oder im Atelier im Werkprozess wiedergegeben werden. Doch verfolgte Miller parallel zu dieser traditionellen Inszenierung auch immer innovative Konzepte und stellte die Protagonisten mit oder ohne Werk in witzigen, zum Teil surrealistischen Arrangements dar, wobei der humorvolle Akzent in den Aufnahmen entweder durch eine ungewöhnliche Kombination der Elemente oder durch das Spiel mit der Perspektive, aber nur selten durch eine technische Manipulation in der Dunkelkammer erzielt wurde. Auch die Fotografien, die die porträtierten Künstler in ihrer Rolle als Jedermann zum Beispiel während gemeinsamer Urlaube oder in ihrer gewohnten Umgebung zeigen, sind über einen langen Zeitraum – von 1937 bis ca. Mitte der 1960er Jahre – in Millers Werk kontinuierlich nachweisbar. Eine Abgrenzung zwischen Auftragsarbeit und freier Arbeit der Fotografin ist bei den traditionellen respektive unkonventionellen Inszenierungen nicht immer möglich.

In Millers Aufnahmen sind die Protagonisten nicht nur in Pose mit den traditionellen Accessoires eines Künstlers oder im Werkprozess zu sehen und werden so direkt als Künstler ausgwiesen. Es existieren auch Fotografien, in denen sich Miller über das Motiv oder die Aufnahmetechnik der Kunst der Porträtierten annähert: in diesen ungewöhnlichen und humorvollen Aufnahmen wird die porträtierte Person über ihr spezielles Interesse an innovativen Inszenierungen aber grundsätzlich als ein künstlerisch begabter Mensch angesprochen und so indirekt als Künstler stilisiert.

Die Geringschätzung, die Lee Miller ihrem eigenen fotografischen Œuvre entgegenbrachte, überrascht. Miller gehört zweifellos zu den herausragenden Fotografen des 20. Jahrhunderts. Sie beherrschte ihr Metier von Anfang an meisterhaft und schuf in den über 40 Jahren, in denen sie – mit Unterbrechungen – als Fotografin tätig war, Aufnahmen von großer künstlerischer Qualität und motivischer Vielfalt. Nicht nur ihren Kriegsfotografien kommt als Zeitdokumenten eine besondere kulturhistorische Bedeutung zu, sondern auch den Porträts, die sie in großer Zahl von den heute zu Ikonen des 20. Jahrhunderts stilisierten Künstlern aufnahm. Millers Fotografien liefern uns nicht nur wichtige Informationen darüber, wie sich Künstler wie Pablo Picasso, Max Ernst, Isamu Noguchi, Joseph Cornell, Eileen Agar oder die Surrealisten um André Breton selbst sahen oder gesehen werden wollten, sie erlauben auch einen Einblick in deren Ateliers sowie Rückschlüsse auf den Produktionsprozess ihrer Werke. Ihre Aufnahmen des Künstlers als Jedermann verraten uns schließlich, wie diese jenseits ihrer künstlerischen Welt lebten, sie zeigen sie in ihrem gewohnten Umfeld als normale Menschen, die sich in Urlaub und Freizeit dem Dolcefarniente hingaben, ihre Haus- und Gartenarbeit erledigten oder auch den 2. Weltkrieg erlebten. Lee Millers Fotografien offenbaren auf diese Weise viel von der Persönlichkeit der jeweiligen Künstler. 291

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Ausst. Kat. Karlsruhe 2004/2005 Entlarvt! Von Masken und Maskeraden, Ausstellungskatalog, Badisches Landes- museum Karlsruhe, Museum beim Markt für angwandte Kunst bis 1900, 18.12.2004 – 28.3.2005

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Lamer 1989 Hans Lamer, Wörterbuch der Antike, Stuttgart 1989 (= Kroeners Taschenausgabe: Bd. 96)

Laurin-Lam, Lou Wifredo Lam, Catalogue Raisonné of the Painted Work, Volume I, 1923 – 1960

Lebel, Robert Marcel Duchamp, Köln 1962

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Liberman 1961 Liberman, Alexander: Künstler im Atelier, Hannover 1961

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MacKechnie, Sue British Silhouette Artists and their work: 1760 – 1860, London 1978

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Mahlberg (Hrsg.), Hermann J. Topoi. Beiträge zu einer kulturarchäologischen Ortsbestimmung, Festschrift für Rainer K. Wick zum 60. Geburtstag, Wuppertal 2004

Man, Felix H. Felix H. Man: Photographien aus 70 Jahren, München 1983

Man Ray 1980 Man Ray: Photographien Paris 1920 – 1934, München 1980

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Man Ray Selbstportrait/Eine illustrierte Autobiographie, München 1983

Marini 1974 XXe siècle, Hommage à Marino Marini, Numéro Spéciale, Paris 1974

Martin, Dieter Spaziergang durch die Geschichte der Fotografie, Hamburg 1996

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Maywald, Wilhelm Portrait + Atelier, Zürich 1958

Metken, Günter Herbert List, Fotografia Metafisica, hrsg. von Max Scheler, München 1980

Micha, René Jean Dubuffet: Culture et subversion in: L’Arc; 35 309

Mili, Gjon Picasso et la troisième dimension, o. O. 1970

Mili, Gjon Photographs & Recollections, Boston 1980

Miller, Lee Der Krieg ist aus: Deutschland 1945, Berlin 1996, darin: Karin Wieland, Ein modernes Leben: Lee Miller 1907 – 1977 (ursprünglich erschienen in: Merkur 2/1994)

Miller 1944 Miller, Lee: Paris – Its Joy ... Its Spirit ... Its Privations, in: (britische) Vogue (Oktober 1944), S. 26 – 27, 78, 95 (Abdruck des ergänzten Originalmanuskripts in: Penrose 1992, Kap. 3)

Miller 1945 Miller, Lee: Brussels – more British than London, in: (britische) Vogue (Februar 1945)

Miller 1946 Miller, Lee: Hungary, in: (britische) Vogue, (April 1946)

Miller 1948 Miller, Lee: Venice Biennale, in: (britische) Vogue (August 1948)

Miller 1953 Miller, Lee: Working Guests, in: (britische) Vogue (Juli 1953)

Mißelbeck 1995 Mißelbeck, Reinhold (Hrsg.): Celebrities – Celebrities, Photographische Portraits aus der Sammlung Gruber im Museum Ludwig, Köln 1995

Molderings, Herbert Umbo: Otto Umbehr 1902 – 1980, Düsseldorf 1996

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Müller, Klaus E. Schamanismus: Heiler – Geister – Rituale, München 1997 (= Beck’sche Reihe; 2072: C. H. Beck Wissen)

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Noguchi 1987 Noguchi, Isamu: The Isamu Noguchi Garden Museum, New York 1987 310

Otero, Roberto Forever Picasso: An intimate look at his last years, New York o. J.

Ovid Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, übers. und hrsg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1997

Pan Spezial Pablo Picasso, Sonderheft zum 100. Geburtstag

Pauvert, Jean Jacques (Hrsg.) André Breton, Manifestes du Surréalisme, [Montreuil 1962]

Penn, Irving Passage, with the collaboration of Alexandra Arrowsmith and Nicola Majocchi, New York 1991

Penrose 1956 Penrose, Roland: Portrait of Picasso, London 1956 (= amerikanische Ausgabe: 1957)

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Penrose 1960 Penrose, Roland: Picasso, London 1960 (weitere Ausgabe: 1971)

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Penrose 1981a Penrose, Roland: Portrait of Picasso, London 1981 (= 3. erw. Aufl.)

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Penrose 1985a Penrose, Antony: The Lives of Lee Miller, London 1985

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Penrose 1992 Penrose, Antony (Hrsg.): Lee Miller’s war: photographer and correspondent with the allies in Europe 1944 – 45, Boston [u. a.] 1992 (Originalausgabe: London 1989) 311

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Pevsner, Nikolaus Berkshire, The Buildings of England, BE 30, Middlesex 1966

Pevsner, Nikolaus und Nairn, Ian Sussex, The Buildings of England, BE 28, Harmondsworth 1965

Picasso and Braque A Symposium, organized by William Rubin, New York 1992

Pierre 1976 Pierre, José: DuMont’s kleines Lexikon des Surrealismus, Köln 1976

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Quinn 1965 Quinn, Edward: Picasso: Werke und Tage, Zürich 1965

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Quinn 1977 Quinn, Edward: Fotos 1951 – 1972, Köln 1977

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Ragghianti, Carlo Ludovico Giacomo Manzù, Sculptor, Mailand 1957

Rau 1981 Rau, Bernd (Hrsg.), Hans Arp: die Reliefs; Œuvre-Katalog, Stuttgart 1981 312

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Read 1967 Read, Herbert: Henry Moore, München/Zürich 1967

Reinle, Adolf Das stellvertretende Bildnis: Plastiken und Gemälde von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Zürich [u. a.] 1984

Remy, Michel Surrealism in Britain, Aldershot [u. a.] 1999

Rewald 1966 John Rewald, Giacomo Manzù, Salzburg 1966

Richter, Gisela M. A. Kouroi: Archaic Greek Youths, a study of the development of the Kouros type in Greek sculpture, London 1960 und New York 1988

Rollei 80 Years 1920 – 2000, Braunschweig 2000

Roncoroni, Luca E. A. Der Geschmack der grossen Welt. Semiotisch-diachrone Analyse der Zigarettenwerbung, Zürich, Diss, Univ., 1996

Rosengart 1957 Rosengart, Angela: Besuche bei Picasso, Luzern 1957

Rothenstein, John Die Tate-Galerie, Berlin [u. a.], 1963

Rougemont 1947 Rougemont, Denis de: There are also people in Switzerland, in: (britische) Vogue (Mai 1947)

Rubin 1972 Rubin, William: Picasso in the Collection of The Museum of Modern Art, New York 1972

Rubin, William (Hrsg.) Pablo Picasso: Retrospektive im Museum of Modern Art, New York, München 1980

Rubin 1990 Rubin, William: Picasso und Braque: die Geburt des Kubismus, München 1990

Rüegg, Walter Hans Erni, Das malerische Werk/Peintures/Paintings, Zürich, o. J.

Russell, John Max Ernst: Leben und Werk, Köln 1966 313

Santini 1990 Santini, Pier Carlo: Alberto Viani, Mailand 1990

Scharf, Aaron Art and Photography, London 1968

Schiemann, Jürgen Die deutsche Währung in der Weltwirtschaftskrise 1929 – 1933, Hamburg 1979

Schmidt, Diether Otto Dix im Selbstbildnis, Berlin 1978

Schmidt 1994 Schmidt, Marjen: Fotografien in Museen, Archiven und Sammlungen: konservieren, archivieren, präsentieren, München 1994 (= Museums-Bausteine ; Bd. 2),

Schnell, Werner Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980

Schnell 1994 Schnell, Werner: Georg Friedrich Kersting (1785 – 1847); das zeichnerische und malerische Werk mit Œuvrekatalog, Berlin 1994

Schnell, Werner „Das rote Atelier“ des Henri Matisse – ein Bild und seine Verwandten, Berlin 2001

Sima [1959] Sima, Michel: 21 Pariser Künstler, Berlin [1959]

Spalding, Frances (Hrsg.) The Dictionary of British 20th Century Painters and Sculptors, Dictionary of British Art, Volume VI, 1991

Spielmann, Heinz Oskar Kokoschka: Leben und Werk, Köln 2003

Spies 2000 Spies, Werner: Picasso: Skulpturen, Ostfildern 2000

Spies/Metken Spies, Werner, Sigrid und Günter Metken (Bearb.): Max Ernst: Oeuvrekatalog, Bde. 1 – 6, Houston [u. a.] 1975 – 1998

Steingräber, Erich Santomaso, Langenhagen, 1990

Le Surréalisme au Service de la (1930), Nr. 2 Révolution 314

Suther Suther, Judith D.: A House of Her Own, Kay Sage, Solitary Surrealist, Lincoln [u. a.] , o.J.

Sylvester 1993 Sylvester, David (Hrsg.), René Magritte, Catalogue raisonné, Bd. II: Oil Paintings and Objects 1931 – 1948, Antwerpen 1993

Tanning 1990 Tanning, Dorothea: Birthday: Lebenserinnerungen, Köln 1990

Tanning 1995 Tanning, Dorothea: Dorothea Tanning, texts by Jean Christophe Bailly und Robert C. Morgan, New York 1995

Tausk, Peter Die Geschichte der Fotografie im 20. Jahrhundert, Köln 1977

Tikkanen, J. J. Die Beinstellungen in der Kunstgeschichte. Ein Beitrag zur Geschichte der künstlerischen Motive, Helsingfors 1912 (= unveränderter Abdruck aus: Acta Societatis scientarum Fennicae ; 42,1)

Torres 2000 Torres, Ana Maria: Isamu Noguchi: a study in space, New York 2000

Vogue 1948 Five Modern Italian Artists, in: (amerikanische) Vogue incorporating Vanity Fair (November 1, 1948)

Waldberg, Patrick Max Ernst, Paris 1958

Waldberg 1970 Waldberg, Patrick: Marino Marini, L’Œuvre Complet, Paris 1970

Waldmann 1995 Waldmann, Susann: Der Künstler und sein Bildnis im Spanien des 17. Jahrhunderts: ein Beitrag zur spanischen Porträtmalerei, Frankfurt am Main 1995 (= Ars Iberica ; 1) (Zugl.: München, Univ., Diss., 1994)

Warncke 1995 Warncke, Carsten-Peter: Pablo Picasso 1881 – 1973, hrsg. von Ingo F. Walther, Köln 1995

Wehlte 1967 Wehlte, Kurt: Werkstoffe und Techniken der Malerei, Ravensburg 1967

Wehlte, Kurt Temperamalerei, Ravensburg 1961 315

Wertenbaker 1972 Wertenbaker, Lael: Picasso und seine Zeit, o. O., 1972

Westerbeck, Colin (Hrsg.) Irving Penn: eine Retrospektive, München [u. a.] 1997

Whitford, Frank Oskar Kokoschka – A Live, London 1986

Wilkinson 1984 Wilkinson, Alan G.: The Drawings of Henry Moore, New York [u. a.] 1984

Wingler, Hans Maria Oskar Kokoschka, Das Werk des Malers, Salzburg 1956

Wolf, Herta (Hrsg.) Der fotografische Akt: Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam [u. a.] 1998 (= Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie der Fotografie, Bd. 1)

Yochelson, Bonnie Berenice Abbott: Changing New York, New York 1997

Zervos Zervos, Christian: Pablo Picasso, Bde I – XXXIII, Paris 1957 – 1978 316

7 Liste der von Lee Miller porträtierten Künstler

Die porträtierten Künstler in alphabetischer Reihenfolge:

Eileen AGAR, britische Malerin und Objektkünstlerin (1899–1991)

Jean ARP, französischer Bildhauer (1887–1966)

Christian BÉRARD, französischer Maler (1902–1949)

Georges BRAQUE, französischer Maler (1882–1963)

Reg BUTLER, britischer Bildhauer (1913–1981)

Alexander CALDER, amerikanischer Bildhauer (1898–1976)

Carlo CARRÀ, italienischer Maler (1881–1966)

Leonora CARRINGTON, britische Malerin (*1917)

Lynn CHADWICK, britischer Bildhauer (*1914)

Jean COCTEAU, französischer Dichter, Filmregisseur, Graphiker (1889–1963)

William COPLEY, amerikanischer Maler (1919–1996)

Joseph CORNELL, amerikanischer Objektkünstler (1903–1972)

John CRAXTON, britischer Maler (*1922)

Paul DELVAUX, belgischer Maler (1897–1994)

DRIAN = Etienne Adrien, französischer Maler und Illustrator (1885–1961)

Jean DUBUFFET, französischer Maler (1901–1985)

Hans ERNI, schweizer Maler (*1909)

Max ERNST, deutscher Maler und Bildhauer (1891–1976)

Léonor FINI, argentinische Malerin (1908–1996)

Renato GUTTUSO, italienischer Maler (1912–1987)

Richard HAMILTON, britischer Maler (*1922)

Stanley William HAYTER, britischer Maler und Graphiker (1901–1988) 317

Philipe HIQUILY, französischer Bildhauer (*1925)

Leslie HURRY, britischer Maler und Bühnendesigner (1909–1978)

Oskar KOKOSCHKA, österreichischer Maler (1886–1980)

John LAKE, (?–?)

Wifredo LAM, kubanischer Maler (1902–1982)

Dora MAAR = Theodora Markovic, russische Malerin und Fotografin (1907–1997)

René MAGRITTE, belgischer Maler (1898–1967)

Giacomo MANZÙ, italienischer Bildhauer (1908–1991)

Marino MARINI, italienischer Bildhauer (1901–1980)

André MASSON, belgischer Maler (1896–1987)

Roberto MATTA, chilenischer Maler (1911–2002)

E.L.T. MESENS, belgischer Collagist und Dichter (1903–1971)

Joan MIRÓ, spanischer Maler (1893–1983)

Henry MOORE, britischer Bildhauer (1889–1986)

Giorgio MORANDI, italienischer Maler (1890–1964)

Desmond MORRIS, britischer Maler (*1928)

Paul NASH, britischer Maler (1889–1946)

Isamu NOGUCHI , japanisch-amerikanischer Bildhauer (*1904)

Jean OBERLÉ, französischer Maler und Illustrator (1900–1961)

Eduardo PAOLOZZI, italienischer Bildhauer (1924–2005)

Olivier PICARD, belgischer Maler (1897–1974)

Pablo PICASSO, spanischer Maler und Bildhauer (1881–1973)

Man RAY, amerikanischer Fotograf und Maler (Emmanuel Rudnitzky, 1890–1976)

Kay SAGE, amerikanische Malerin (1898–1963)

Giuseppe SANTOMASO, italienischer Maler (1907–1990) 318

Gino SEVERINI, italienischer Maler (1883–1966)

Stanley SPENCER, britischer Maler (1891–1959)

Saul STEINBERG, amerikanischer Cartoonist (1914–1999)

Sigismond STRÓBL, ungarischer Bildhauer (1884–1975)

Graham SUTHERLAND, britischer Maler (1903–1980)

Yves TANGUY, französischer Maler (1900–1955)

Dorothea TANNING, amerikanische Malerin (*1912)

Antoni TÀPIES, spanischer Maler (*1923)

Feliks TOPOLSKI, polnischer Graphiker (1907–1989)

William TURNBULL, britischer Maler (*1922)

Alberto VIANI, italienischer Bildhauer (1906–1989)

319

8 Literatur über Lee Miller

Monographien und Ausstellungkataloge:

Antony Penrose: The Lives of Lee Miller, London 1985.

Antony Penrose (Hrsg.), Lee Miller’s war: photographer and correspondent with the Allies in Europe 1944-45, London 1989.

Antony Penrose, Apropos Lee Miller, Berlin 1995.

Antony Penrose, The Home of the Surrealists: Lee Miller, Roland Penrose and their circle at Farley Farm, London 2001 (= dt. Ausgabe: Das Haus der Surrealisten: Der Freundeskreis um Lee Miller und Roland Penrose, Berlin 2002).

Jane Livingston, Lee Miller Photographer, London 1989.

Lee Miller: An Exhibition of Photographs 1929–1964, Los Angeles 1991.

Lee Miller, Der Krieg ist aus: Deutschland 1945, Berlin 1996, darin: Karin Wieland, Ein modernes Leben: Lee Miller 1907–1977 (ursprünglich erschienen in: Merkur 2/1994).

The Surrealist and the Photographer, Roland Penrose and Lee Miller: Ausst. Kat., Dean Gallery and the Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh, 19.5.–9.9.2001.

Richard Calvocoressi, Lee Miller: Portraits from a Life, London 2002 (dt. Ausgabe Lee Miller: Begegnungen, Berlin 2002).

Einzelne Artikel in Zeitschriften, Sammelwerken oder Ausstellungskatalogen:

Atelier Man Ray: Berenice Abbott, Jacques-André Boiffard, Bill Brandt, Lee Miller 1920– 1935, Ausst. Kat., Centre Georges Pompidou, Musée national d’Art moderne, 2.12.1982– 23.1.1983, Paris 1982, S. 54-62.

Lee Miller in het Stedelijk, in: Foto, 48 (1993) 3, S. 31-33.

Amy J. Lyford, Lee Miller’s Photographic Impersonations 1930–1945: Conversing with Surrealism, in: History of Photography, 18 (1994) 3, S. 230-241.

Renée Riese Hubert, The Model & the Artist: Lee Miller & Man Ray, in: Magnifying Mirrors: Women, Surrealism & Partnership, Lincoln & London 1994, S. 199-229.

Jeana K. Foley, Artikel über Lee Miller in: Delia Gaze (Hrsg.), Dictionary of Women Artists, London [u. a.] 1997, S. 953-955. 320

La cométe blonde – Égérie de Montparnasse devenue photographe de guerre, Lee Miller aura vécu sur le fil des extrémes. Entretiens par Violaine Binet et Camille Labro. Portrait par Marc Lambron, in: Vogue, (1997), 778, S. 132-137.

Melody D. Davis, Lee Miller: Bathing with the Enemy, in: History of Photography, 21 (1997), 4, S. 314-318.

Antony Penrose, Lee Miller, muse et artiste surréaliste, in: La femme s’entête, La part du féminin dans le surréalisme, Textes réunis par Georgina M. M. Colvile et Katharine Conley, Arles 1998, S. 126-145.

Georgina Colvile, Scandaleusement d’elles: Trente-quatre femmes surréalistes, Paris 1999, S. 196-205.

Sense and sensuality – Charles Darwent reassesses the work, life and sexuality of Lee Miller, model, surrealist and war photographer, in: New statesman & society, (1999) (05.03), S. 41.

Charlotte Higgins, Living with Lee – Surrealist photographer Lee Miller’s life was anything but conventional. The home she created in the Sussex heartland is no exeption, in: The world of interiors, (1999), S. 92-101.

Linda Hentschel, Das Paar, das nie eins war: Lee Miller und Man Ray (1929–1932), in: Renate Berger (Hrsg.), Liebe macht Kunst: Künstlerpaare im 20. Jahrhundert, Köln [u. a.] 2000, S. 249-262.

Francine Prose, Death in Perspective – Lee Miller and Margaret Bourke-White photographed the same Nazi suicide scene, but told diffrent stories, in: Art news, 100 (2001), 2, S. 144-145.

Lee Miller: Snapshot of an Icon Arts, in: Guardian Weekly, 165 (2001), 7, S. 16-17.

The Surrealists at Home – Antony Penrose introduces the astonishing English farmhouse of US photographer Lee Miller and her artist husband Roland Penrose, in: Orient-Express magazine, 19 (2002), 1, S. 50-57.

Lee Miller – Lady photographe, in: Elle, (2002), 2966, S. 171-176.

Unda Hörner, Madame Man Ray: Fotografinnen der Avantgarde in Paris, Berlin 2002, S. 55- 66.

Johannes M. Fox, Lee Miller: Lee Lady Penrose 1907–1978, in: Ingrid Mössinger, Beate Ritter, Kerstin Drechsel (Hrsg.), Picasso et les femmes, Ausst. Kat., Kunstsammlungen Chemnitz, 22.10.2002–19.1.2003, S. 202-205.

Francine Prose, Das Leben der Musen, Müchen [u. a.] 2004, S. 259-304.

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Jean-Claude Marceau, Éthique et esthétique dans l’œuvre de Lee Miller, in: Melusine, XXV (2005), S. 247-254.

Image du mois: Lee Miller, in: L’œil (2005) 566, S. 6-7.

Maria Grazia Meda, Fatti Volti Tendenze – Fotografia – Lee Miller, in: Vogue Italia (2005), 654, S. 68–71.

Wissenschafltiche Arbeiten:

Mary Daniel Hobson, Horror Through the Eyes of Beauty. Lee Miller’s Photographs of World War II., Ph.D. Thesis, Vassar College, 1991.

Katharina Menzel-Ahr, Lee Miller. Kriegskorrespondentin für Vogue, Fotografin aus Deutschland 1945, 2005 (Zugl.: Trier, Univ., Diss. 1999, unter dem Titel Menzel: Lee Millers Fotografien aus Deutschland 1945. Kriegsberichterstattung für "Vogue").

Josh R. Rose, When reality was surreal: Lee Miller’s World War II war correspondence for Vogue, Denton, Texas, Univ., Thesis (M.A.), 2003.

Sarah J. Trees, Images of post-war Germany: a discussion of the photographs of Lee Miller and Yevgeny Khaldei, St. Austin, Univ., Honours Dissertation. 322

9 Abbildungsnachweis der Fotografien 1 bis 119

Zur Wahrung des Urheberrechts werden in der vorliegenden Arbeit keine Fotografien abgebildet. Die in der Dissertation ursprünglich abgebildeten Fotografien 1 bis 119 sind in den folgenden Publikationen veröffentlicht worden:

Fotografie 1 Klant 1995, S. 17. History of Photography 1 (1977), S. 85–87

Fotografie 2 Klant 1995, Abb. 4.

Fotografie 3 Klant 1995, S. 24, Abb. 15

Fotografie 4 Klant 1995, S. 38, Abb. 33.

Fotografie 5 Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 279, Abb. 197.

Fotografie 6 Livingston 1989, Abb. S. 116. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 40. Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 263, Abb. 178. Chadwick 1998, S. 50, Abb. 9. Calvocoressi 2002, S. 30

Fotografie 7 Penrose 1985a, Abb. S. 35.

Fotografie 8 Ausst. Kat. Philadelphia 1998/99, S. 279, Abb. 198

Fotografie 9 Internetseite der Redfern-Gallery: http://www.redfern- gallery.co.uk/pages/artistinfo/121.html

Fotografie 10 Colvile 1999, S. 25

Fotografie 11 Miller 1948, S. 67

Fotografie 12 Miller 1948, S. 67

Fotografie 13 Vogue 1948

Fotografie 14 Miller 1948, S. 89

Fotografie 15 Santini 1990, Abb. S. 240 oben

Fotografie 16 Livingston 1989, S. 102. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 107. Penrose 1981b, S. 214, Abb. 530. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 133 323

Fotografie 17 Penrose 1981b, S. 214, Abb. 533

Fotografie 18 Penrose 1981b, S 213, Abb. 527

Fotografie 19 Penrose 1981b, S. 219, Abb. 548

Fotografie 20 Penrose 1981a, S. 89, Abb. 246

Fotografie 21 Penrose 1981a, S. 102, Abb. 275

Fotografie 22 Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 106 (falsche Bildunterschrift!)

Fotografie 23 Quinn 1994, Abb. S. 123

Fotografie 24 Calvocoressi 2002, S. 75

Fotografie 25 Calvocoressi 2002, S. 129

Fotografie 26 Rougemont 1947, S. 66. Calvocoressi 2002, S. 134

Fotografie 27 Calvocoressi 2002, S. 135

Fotografie 28 Rougemont 1947, S. 65ff

Fotografie 29 Miller 1948, S. 89. Vogue 1948

Fotografie 30 Vogue 1948

Fotografie 31 Miller 1948, S. 66. Livingston 1989, S. 154. Calvocoressi 2002, S. 147

Fotografie 32 Miller 1948, S. 67

Fotografie 33 Calvocoressi 2002, S. 133

Fotografie 34 Penrose 1985a, S. 179

Fotografie 35 Grove/Botnick 1980, Abb. Nr. 204 324

Fotografie 36 Calvocoressi 2002, S. 105. Penrose 1981b, S. 137, Abb. 341. Barr 1974, S. 244

Fotografie 37 Ausst. Kat. New York 1996, S. 141

Fotografie 38 Penrose 1985a, S. 164 (Ausschnitt)

Fotografie 39 Penrose 1981a, S. 73, Abb. 227

Fotografie 40 Penrose 1981b, S. 250, Abb. 606

Fotografie 41 Penrose 1985a, S. 189. Penrose 1981b, S. 214, Abb. 532. Penrose 1981a, S. 76, Abb. 203. Penrose 1957, Abb. S. 60 unten rechts. Penrose 1961, Abb. 12. Calvocoressi 2002, S. 169

Fotografie 42 Quinn 1987a, S. 69. Quinn 1975, S. 134 oben rechts

Fotografie 43 Calvocoressi 2002, S. 144

Fotografie 44 Astruc 1945, S. 80

Fotografie 45 Miller 1945, S. 57

Fotografie 46 Miller 1945, S. 57, mittlere Abb.

Fotografie 47 Calvocoressi 2002, S. 106. Sylvester 1993, S. 105, Fig. 81

Fotografie 48 Lesley Blanch, Feliks Topolski, Britische Vogue (November 1944), S. 150

Fotografie 49 Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 98

Fotografie 50 Penrose 1981b, S. 189, Abb. 477

Fotografie 51 Miller 1948, S. 88

Fotografie 52 Vogue 1948

Fotografie 53 Calvocoressi 2002, S. 170 325

Fotografie 54 Penrose 2002, S. 119 (Ausschnitt)

Fotografie 55 Calvocoressi 2002, S. 104 (Ausschnitt)

Fotografie 56 Blanch 1944

Fotografie 57 Calvocoressi 2002, S. 63

Fotografie 58 Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 176, Kat. Nr. 120

Fotografie 59 Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 177 oben

Fotografie 60 Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 178, Kat. Nr. 126. Tanning 1995, S. 50, Fig. 15

Fotografie 61 Rougemont 1947, S. 65 oben

Fotografie 62 Penrose 2002, S. 60

Fotografie 63 Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 30

Fotografie 64 Calvocoressi 2002, S. 160–161. Livingston 1989, S. 99. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 104

Fotografie 65 Penrose 2002, S. 38. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 65

Fotografie 66 Calvocoressi 2002, S. 70

Fotografie 67 Klant 1995, S. 62, Abb. 62

Fotografie 68 Calvocoressi 2002, S. 146f

Fotografie 69 Penrose, Roland: Portrait of Picasso, New York 1957, S. 76, Abb. 207. Penrose 1981a, S. 78, Abb. 210

Fotografie 70 Calvocoressi 2002, S. 172–173. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 99. Livingston 1989, S. 101. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 105

Fotografie 71 Duncan 1981, S. 124–125

Fotografie 72 Quinn 1987b, S. 225 326

Fotografie 73 Penrose 1981b, S. 230, Abb. 572

Fotografie 74 Penrose 1985b, S. 141, Abb. f.

Fotografie 75 Penrose 1985a, S. 209

Fotografie 76 Berger 2000, S. 132

Fotografie 77 Calvocoressi 2002, S. 45

Fotografie 78 Calvocoressi 2002, S. 46

Fotografie 79 Calvocoressi 2002, S. 47. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 50

Fotografie 80 Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 26

Fotografie 81 Chadwick 1993, Abb. 57

Fotografie 82 Colvile 1999, S. 61

Fotografie 83 Calvocoressi 2002, S. 43

Fotografie 84 Calvocoressi 2002, S. 99

Fotografie 85 Penrose 1981a, S. 69, Abb. 180

Fotografie 86 Calvocoressi 2002, S. 100

Fotografie 87 Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 184, Kat. Nr. 127

Fotografie 88 Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 173, Kat. Nr. 117. Penrose 1981b, S. 141, Abb. 353

Fotografie 89 Calvocoressi 2002, S. 142 (Ausschnitt)

Fotografie 90 Miller 1948, S. 67 oben links

Fotografie 91 Penrose 1981b, S. 208, Abb. 512 327

Fotografie 92 Penrose 1981b, S. 209, Abb. 513

Fotografie 93 Calvocoressi 2002, S. 157. Penrose 2002, S. 78, oberste Reihe, rechtes Bild.

Fotografie 94 Calvocoressi 2002, S. 154. Penrose 2002, S. 78, unterste Reihe, rechtes Bild

Fotografie 95 Penrose 2002, S. 94 unten

Fotografie 96 Penrose 1981b, S. 216, Abb. 535

Fotografie 97 Penrose 1981b, S. 246, Abb. 600

Fotografie 98 Ausst. Kat. Edinburgh 2001, S. 23, rechte Abb.

Fotografie 99 Penrose 2002, S. 75 oben

Fotografie 100 Penrose 1981b, S. 216, Abb. 536

Fotografie 101 David Douglas Duncan, The private world of Pablo Picasso, New York 1958, S. 52 unten

Fotografie 102 Penrose 1981b, S. 277, Abb. 671

Fotografie 103 Desmond Morris, The secret surrealist: the paintings of Desmond Morris, Oxford 1987, S. 101, Abb. 117

Fotografie 104 Calvocoressi 2002, S. 166. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 100. Penrose 1985a, S. 208. Livingston 1989, S. 155. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 108. Penrose 1981b, S. 277, Abb. 670

Fotografie 105 Penrose 1981b, S. 272, Abb. 664

Fotografie 106 Livingston 1989, Abb. S. 26. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, Abb. S. 10. Calvocoressi 2002, S. 7

Fotografie 107 Penrose 1985a, S. 79. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 43. Calvocoressi 2002, S. 39. Michel Remy, Surrealism in Britain, Aldershot [u. a.] 1999, Abb. 63. Internetseite der Redfern-Gallery: http://www.redfern- gallery.co.uk/pages/artistinfo/121.html

Fotografie 108 Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 122, S. 180. Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 42, S. 495 328

Fotografie 109 Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 123, S. 181

Fotografie 110 Penrose 1985a, S. 180. Chadwick 1993, S. 94, Abb. 78

Fotografie 111 Ausst. Kat. Paris 1974, Abb. S. 12

Fotografie 112 Ausst. Kat. Paris 1998, S. 148. Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 196

Fotografie 113 Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 121, S. 179

Fotografie 114 Ausst. Kat. Brühl 1991, Kat. Nr. 125, S. 183. Ausst. Kat. Brühl 1985, Kat. Nr. 44, S. 497

Fotografie 115 Ausst. Kat. Brühl 1991, S. 215, Kat. Nr. 152

Fotografie 116 Penrose 2002, S. 78, unten links. Ausst. Kat. Edinburgh 2001, Abb. 96. Penrose 1985a, S. 192

Fotografie 117 Penrose 2002, S. 118 unten

Fotografie 118 Penrose 1981b, S. 187, Abb. 470. Danchin 1988, Abb. ohne Zählung, entspricht S. 75

Fotografie 119 Calvocoressi 2002, S. 1. Penrose 2002, S. 85. Livingston 1989, S. 162. Ausst. Kat. Los Angeles 1991, S. 109

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10 Lee Miller – biografische Notizen1365

1907 23. Juli: Elizabeth (Lee) Miller wird als 2. Kind von Theodore und Florence Miller in Poughkeepsie, New York, geboren.

Mai 1925 – Januar 1926 1. Parisaufenthalt

1927 Fotomodell für die amerikanische Vogue und andere Magazine von Condé Nast: Miller studiert Bühnendesign und -beleuchtung an der Art Students League, New York.

Mai 1929 – Oktober 1932 2. Parisaufenthalt: Lee Miller wird im Sommer Man Rays Schülerin, Assistentin und Geliebte. Unterhält ab 1930 ein eigenes Fotostudio in Paris. Besucht in Paris die École Medygès pour la Technique du Théâtre. Februar bis März 1932: Teilnahme an der Ausstellung Modern European Photographers in der Julien Levy Gallery, New York. Eröffnet ein Porträtstudio in New York.

Dezember 1932 – Januar 1933 Lee Miller erste und einzige Soloausstellung zu ihren Lebzeiten wird in der Julien Levy Gallery in New York gezeigt. Fotografiert Joseph Cornell.

1934 Lee Miller heiratet den ägyptischen Geschäftsmann Aziz Eloui Bey und lebt seit Herbst 1934 in Alexandria. Schließt ihr Fotostudio in New York.

1937 Miller lernt in Paris ihren späteren Ehemann Roland Penrose kennen und verbringt mit ihm und Pablo Picasso, Max Ernst und anderen illustren Surrealisten den Sommer in Paris, Cornwall und Mougins. Kehrt im Herbst nach Kairo zurück.

1365 Die biografischen Notizen wurden auf der Grundlage der Chronologie in: Kat. Edinburgh 2001, S. 169–174, erstellt. 330

1939 Juni: verläßt Aziz Eloui Bey und lebt mit Roland Penrose in London. Fotografiert bei ihren Besuchen in Saint-Martin d’Ardèche und Antibes Max Ernst und Leonora Carrington bzw. Pablo Picasso und Dora Maar.

1940 Miller wird Fotografin für die britische Vogue: fotografiert Mode und berühmte Persönlichkeiten.

1941 Mai: Millers Aufnahmen des durch deutsche Bombenangriffe zerstörten Londons werden in dem Fotoband Grim Glory: Pictures of Britain under Fire veröffentlicht.

1942 Miller wird Kriegskorrespondentin der US-Armee. Beginn der Zusammenarbeit mit David E. Sherman, US-Kriegskorrespondent für Life.

1944 Miller folgt der US-Armee durch Europa: fotografiert während der Befreiung der französischen Städte Saint-Malo und Paris von deutscher Besatzung.

1945 Mai: fotografiert die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau. September: bereist Zentral- und Osteuropa. Porträtiert in Budapest den ungarischen Bildhauer Sigmund Stróbl.

1946 Februar: Rückkehr nach London. Mai: erste USA-Reise nach mehr als 12 Jahren, porträtiert alte und neue Freunde und Künstlerkollegen wie Wifredo Lam, Max Ernst, Dorothea Tanning, Isamu Noguchi, Yves Tanguy und Kay Sage.

1947 Winter: fotografiert im Auftrag von Vogue in der Schweiz berühmte Persönlichkeiten wie Jean Arp und Hans Erni. Mai: Heiratet Roland Penrose. September: Geburt ihres Sohnes Antony.

1948 Juni: fotografiert auf der 24. Biennale von Venedig die teilnehmenden Künstler wie Renato Guttuso, Giacomo Manzù, Carlo Carrà, Marino Marino. 331

1949 Miller lebt seit dem Frühjahr abwechselnd in London und auf Farley Farm in Chiddingly, East Sussex. Besucht im Sommer Pablo Picasso in Saint Tropez.

1950 Max Ernst und Dorothea Tanning werden während ihres Besuchs auf Farley Farm von Miller porträtiert.

1954 Miller fotografiert Picasso für Penroses Buch Portrait of Picasso (1956).

1955 Miller nimmt mit einer Fotografie ihres Sohnes an der Ausstellung The Family of Man im Museum of Modern Art in New York teil.

1955–1958 Miller porträtiert Pablo Picasso bei verschiedenen Besuchen in Paris und Cannes für Penroses Picasso, His Life and Work (1958).

1960/70er Jahre Miller verliert das Interesse an der Fotografie und wendet sich neuen „Leidenschaften“ wie Kochen und klassischer Musik zu. Bereist Europa und die USA.

1970 Miller fotografiert Joan Miró in Palma de Mallorca für Penroses Buch Miró (1970).

1973 Miller beendet mit den Porträts von Antoni Tàpies, die zum Teil in Peroses Tàpies (1978) veröffentlicht werden, ihre Karriere als Fotografin

1977 Lee Miller stirbt am 27. Juli auf Farley Farm