 THEMA JUNGES ENGAGEMENT MIT BLICK AUF DEUTSCHE EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT UND DIE ZUKUNFT EUROPAS

DOSSIER Nr. 8  BBE DOSSIER NR. 8

JUNGES ENGAGEMENT MIT BLICK AUF DEUTSCHE EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT UND DIE ZUKUNFT EUROPAS

Mit dem Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli 2020 hat auch der achte Zyklus des EU-Jugenddialogs begonnen. Im Jugenddialog steht für 18 Monate ein Thema im Mittelpunk: das Youth Goal #9 »Räu- me und Beteiligung für alle«. Dieses Ziel – »Die demokratische Beteiligung und Autonomie junger Menschen stärken und eigene Jugendbereiche in allen Teilen der Gesellschaft schaffen« – war Ausgangspunkt für die Fra- gestellungen des vorliegenden Dossiers: Sind die EU und die europäische Integration für Jugendliche überhaupt ein nennenswertes Thema neben Klimawandel, Pandemie oder der Sorge um die eigene Bildung und beruf- liche Zukunft? Was brauchen Jugendliche, um sich zu engagieren? Was ist dabei wichtig? Junges Engagement und Jugendbeteiligung, deren Chan- cen und Herausforderungen, der Rückblick auf die deutsche EU-Ratsprä- sidentschaft und die Zukunftsperspektiven sowie Impulse für die Weiter- entwicklung der Jugendarbeit in Europa bilden das inhaltliche Gerüst der vorliegenden Ausgabe.

»Wir wollen, dass die Perspektiven und Ideen junger Menschen für das demokratische Miteinander in Europa stärker Gehör finden […] Wir stär- ken das Aufwachsen junger Menschen mit unserer Jugendarbeit, setzen Impulse für die Weiterentwicklung der Jugendarbeit in Europa und stär- ken das Thema Europa in der Kinder- und Jugendhilfe« – so formuliert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend seine Schwerpunkte für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020. Das Dossier möchte dazu einen Beitrag leisten.

ISBN 978-3-948153-10-6 INHALTSVERZEICHNIS

3 Editorial

5 TEIL I: ENGAGEMENT VON JUNGEN MENSCHEN: CHANCEN UND HERAUSFORDERUNG

5 Markus Priesterath: Engagement von jungen Menschen in Zeiten besonderer gesellschaftlicher Situationen – Chancen und Herausforderung für eine moderne Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts! 12 Detlef Dzembritzki: 75 Jahre jung – Jugend und die Vereinten Nationen 16 Marie-Luise Dreber: »Beim physischen Austausch auf Sicht fahren, beim virtuellen Austausch Neues entwickeln.« Corona und die Auswirkungen auf die Internationale Jugendarbeit 20 Christine Maevis/ Marlene Kremer: Die europäische Dimension: Jugendpolitik, EU-Jugendstrategie (2019-2027) und Jugendbeteiligung 24 Jonas Gebauer: Junge Partizipation durch Engagement im Ehrenamt 29 Linda Stein: EU-Jugenddialog: Junge Menschen wirksam beteiligen 32 Frederike Hofmann-van de Poll: EU-Jugendstrategie und Beteiligung der Jugend am demokratischen Leben 38 Üwen Ergün: Engagement: Von Mitarbeit zur Selbst-Organisation 42 Ana-Maria Stuth/ Franziska Wendt: Was junge Menschen brauchen, um sich zu engagieren

46 TEIL II: JUGEND UND ZUKUNFT EUROPAS

46 Carina Autengruber: Jugend und die Zukunft Europas 49 Mathias Albert/ Ulrich Schneekloth: Europa als Anker? 52 Ana-Maria Stuth, Frauke Langhorst, Franziska Wendt: Mal eben kurz die Welt retten? 58 Gabriele Rohmann: Fridays for Future – bürgerschaftliches Engagement der Jugend 61 Unser Vereintes eUropa 2049: Eine Zukunftsvision der Jugendverbände für das Europa in 30 Jahren 70 Naomi Mittelmann Cohen: Jüdische Studenten weltweit vereinen und aktivieren 73 Asmaa Soliman: Haltung statt Herkunft – Postmigrantische Stimmen der Jungen Islam Konferenz 75 Melanie Eberhard: Junges politisches Engagement in der Schweiz 77 Khatuna Tchanturia: Politische Bildung und Jugendbeteiligung in Georgien 81 Nino Kavelashvili: »Wir sind für nichts so dankbar wie für Dankbarkeit« 85 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?« 86 ¾¾Tanasgol Sabbagh: Nichts ist vorgefallen. 89 ¾¾Max Gebhard: Sachliche Entscheidung 92 ¾¾Josefine Berkhol: Jede Beziehung beginnt mit einem Mythos. 95 ¾¾Philipp Herold: erebutation

BBE DOSSIER NR. 8 | 1 Inhaltsverzeichnis

98 TEIL III: »MÄDCHEN/ JUNGE FRAUEN UND BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT«

98 Ulrich Schneekloth/ Prof. Dr. Mathias Albert: Wertorientierungen – Befunde aus der 18. Shell Jugendstudie 102 Gabriele Rohmann: Krasse Töchter? Krasse Söhne? Empowerment, Engagement und Gender in Jugendkulturen 108 Malte Höfeld: Ehrenamt steht jeder Frau 111 Isabel Denz: Rund ein Viertel der Mitglieder der Jugendfeuerwehr sind weiblich! 115 Barbara Blum/ Johanna Stiller/ Ana-Maria Stuth/ Stefan Schönwetter: Stärkeorientierte Förderung von Mädchen und jungen Frauen in der Arbeit der Deutschen Kinder-und Jugendstiftung 120 Audrey Nyirenda: Was wir bewegen! – Eine Beirätin* berichtet 123 Ines Callsen/ Olaf Ebert: Teilhabe durch Engagement junger Migrant*innen in Ostdeutschland

127 TEIL IV: JUGEND UND DIE DEUTSCHE EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT

127 Funda Tekin/ Jana Schubert/ York Albrecht: Befähigung zur Beteiligung: Jugend als Agenda-Setter im Projekt #EngagEUrCouncil 132 Interview with Alexandrina Najmowicz: The EU Council and the german presedency – the obscure institition for the young people? 134 Interview mit Clara Föller: Keine leichte EU-Ratspräsidentschaft 136 Mitgliederversammlung des BBE: Stellungnahme des BBE zum Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020

140 TEIL V: PROJEKTE DES BBE FÜR JUNGES ENGAGEMENT

140 Sally Wilkens: »Das Leben ist mehr als gute Noten« 142 Brigitta Wortmann/ Ansgar Klein: 15 Jahre Civil Academy 146 Denise Malorny/ Christine Sattler/ Anne Trenczek: Engagement internationaler Studierender – Impulse für Hochschulen und Zivilgesellschaft 150 Selia Boumessid/ Roshanak Roshanbin: »Gesellschaft selbstwirksam gestalten – STAEpolSEL*«. Ein Projekt für mehr Diversität in der Zivilgesellschaft 154 MAKING IT MATTER – the impact of on social inclusion: Policy Paper

157 Impressum 158 BBE-Newsletter online

Das BBE hat sich 2018 eine Richtlinie zur gendersensiblen Sprache gegeben und veröf­ fentlicht, die verbindlich für Mitarbeiter*innen der BBE-Geschäftsstelle ist. Wir empfeh- len sie Gastautor*innen für Beiträge in unseren Publikationen als Orientierung. Da die inhaltliche Verantwortung für die Einzelbeiträge bei den Autor*innen liegt, steht Ihnen es frei, wie sie gendern. Eine nachträgliche Harmonisierung findet in unseren Publikationen nicht statt.

2 | BBE DOSSIER NR. 8 EDITORIAL

»Ich schließe das Fenster wieder und denke… kunftsvisionen haben sie für Europa und wie engagieren sie sich? Das Dossier »Jun- – Sag mir Europa! Wo willst du hin? – ges Engagement mit Blick auf die deutsche Ich wünschte, du könntest mir erklären, EU-Ratspräsidentschaft und die Zukunft was schön und gut und wahr ist Europas« soll das Thema aus möglichst wenn mir wieder auffällt, wie viel mir nicht vielen Blickwinkeln betrachten: Teil I ver- klar ist. sammelt die Beiträge, die junges Engage- ment unter der Perspektive der sich bie- Öffne ich die Fenster wieder, vernehme ich tenden Chancen und als Herausforderung Streitigkeiten um Einzelheiten… für eine moderne Zivilgesellschaft des 21. Wer soll welchen Beitrag leisten? Wie viel Jahrhunderts beschreiben. Thematisiert Zeit bleibt einzuschreiten? wird junges Engagement auch im Verhält- Nur wird beim Blick in die Zukunft leider zu nis zu vorhandenen etablierten Struktu- oft die Weitsicht unterschätzt, ren und Verbänden: Welche Gründe gibt denn die Zukunft beginnt nicht erst 2035 – es für eine Distanz zwischen jungen Enga- sondern jetzt!« gierten und etablierten Strukturen? Wel- che Auswirkung hatte die Pandemie auf Philipp Herold, zweimaliger Vizemeister im die internationale Zusammenarbeit? Wie deutschsprachigen Poetry Slam stärken Maßnahmen und Instrumente der europäischen Jugendpolitik die Partizipa- »Junge Menschen sind wichtige Impuls- tion der Jugendlichen? Und überhaupt: geber für die Zukunft unseres Kontinents, Was brauchen junge Menschen, um sich und sie sind in Krisenzeiten besonders zu engagieren? verwundbar. Wir werden die Beteiligung junger Menschen europaweit fördern.« »In der aktuellen Pandemie, in der Sicher- Dieser programmatische Satz steht im heitsmaßnahmen notwendig waren und Arbeitsprogramm der deutschen EU- sind, um unsere Bevölkerung zu schützen, Ratspräsidentschaft (S. 13). Neben der Be- spürten wir auch alarmierende Neben- kämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und wirkungen, die unseren zivilgesellschaftli- dem Einstieg in den Arbeitsmarkt stellt chen Raum betreffen. Einige Regierungen auch die »Teilhabe junger Menschen« ei- haben die Gesundheitskrise genutzt und nen wichtigen Teil des Programms dar, »Demokratie unter Quarantäne« gestellt. »damit Europa ein Kontinent der Chancen Junge Menschen waren unter den Ers- bleibt« (S. 13). ten, die auf die Krise reagiert haben und Freiwillige in ihrer lokalen Umgebung mo- Wie aber sieht für die Jugendlichen »ein bilisiert haben, um Menschen, die Unter- Kontinent der Chancen« aus? Welche Zu- stützung benötigt haben, nicht im Stich zu

BBE DOSSIER NR. 8 | 3 Editorial lassen«, betont Carina Autengruber, Prä- oder Projekte, die den Zugang von Mäd- sidentin des Europäischen Jugendforums. chen zu MINT-Berufen fördern, oder auch Was ist für junge Menschen wichtig? Sind Gremien wie Mädchenbeiräte, die jungen die EU, Europa und die europäische Inte- Frauen Raum geben, ihre eigene Stimme gration für Jugendliche überhaupt nen- zu finden und einzusetzen – es wird in die- nenswerte Themen neben Klimawandel, sem Teil ein Überblick über die vielfältigen Pandemie oder der Sorge um die eigene Ansätze ganz unterschiedlicher Akteure Bildung und berufliche Zukunft? gegeben.

Teil II des Dossiers fragt, was junge Men- Teil IV unternimmt einen Rückblick auf schen bewegt und was sie sehen, wenn die deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Er sie an die Zukunft denken. Was ist für die bietet eine kurze Retrospektive dessen, Weltunion der jüdischen Student*innen was während der vergangenen Monaten (WUJS) wichtig und was steht im Fokus bewegt wurde und was von der Trio-Rats- der Jungen Islam-Konferenz? Der Blick präsidentschaft noch erwartet wird. über die EU-Grenzen hinweg führt in die Schweiz und nach Georgien – in zwei Län- Einen Überblick über die Projekte, die das der, in denen die politische Beteiligung BBE im Bereich junges Engagement durch- der Jugendlichen absolut unterschiedli- führt, bietet der abschließende Teil V des che Formen annimmt. Neben politischen Dossiers. Er führt die Texte zusammen, die stehen in diesem Teil des Dossiers, auch im Rahmen der Arbeit des Bundesnetz- künstlerische Zugänge zu Europa: Die werks Bürgerschaftliches Engagement deutsche EU-Ratspräsidentschaft in die- (BBE) entstanden sind. sem Teil des Dossiers. Junge Autor*innen verfassten zur deutschen Ratspräsident- Die Reihe »Dossiers« verfolgt das Ziel, schaft Texte für einen Poetry Slam-Abend Texte zu einem Themenkomplex zusam- unter dem Motto »Europa...und wir!?«. menzuführen, um die weiteren fachlichen, engagement- und demokratiepolitischen Von den 20 Ländern weltweit, in denen Diskussionen zu dem jeweiligen Thema Frauen die weitreichendsten Rechte und zu vertiefen und voranzubringen. Die Möglichkeiten haben, liegen 17 in Europa.1 meisten Texte sind zu unterschiedlichen Teil III umfasst die Beiträge, die sich spezi- Zeitpunkten in den BBE-Medien zuvor er- fisch auf das Engagement von Mädchen schienen. und jungen Frauen in Deutschland und für sie fokussieren. Seien es Initiativen von PD Dr. Ansgar Klein, Hauptgeschäftsführer Organisationen, die bewusst Teilhabehür- des BBE den senken und so ehemals männerdomi- Dr. Rainer Sprengel, Leiter Arbeitsbereich nierte Engagementbereiche auflockern, Information und Kommunikation in der 1 Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020; Schwer- BBE-Geschäftsstelle punkte und Ziele des Bundesministeriums für Familie, Nino Kavelashvili, Referentin Europakom- Senioren, Frauen und Jugend für die deutsche EU- munikation in der BBE-Geschäftsstelle Ratspräsidentschaft 2020. https://www.bmfsfj.de/blo Anne-Kathrin Gräfe, Mitarbeiterin im Ar- b/161798/30149f63de55bb6726bcaa89e528e832/die- deutsche-eu-ratspraesidentschaft-2020-flyer-deutsch- beitsbereich Information und Kommuni- data.pdf (aufgerufen am 20.11.2020) kation in der BBE-Geschäftsstelle

4 | BBE DOSSIER NR. 8 TEIL I: ENGAGEMENT VON JUNGEN MENSCHEN: CHANCEN UND HERAUSFORDERUNGEINFÜHRUNG

MARKUS PRIESTERATH ENGAGEMENT VON JUNGEN MENSCHEN IN ZEITEN BESONDERER GESELLSCHAFTLICHER SITUATIONEN – CHANCEN UND HERAUSFORDERUNG FÜR EINE MODERNE ZIVILGESELLSCHAFT DES 21. JAHRHUNDERTS!

Die Jahre 2015 ff waren und sind für die besondere Herausforderungen stellte. Engagementlandschaft in Deutschland Vielerorts wurden Menschen im Rahmen von großer Wichtigkeit, vielleicht bedeu- von Organisationen, Verbänden und Ver- ten sie sogar eine Zäsur für traditionelle einen aktiv. Es wurden aber auch neue Engagementstrukturen und einen sicht- bzw. bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der baren Paradigmenwechsel hin auch zu Form in der Öffentlichkeit wahrgenom- »anderen« Engagementformen, die nach- mene Aktivitäten im Bereich des ehren- haltig prägend wirken und bei hinreichen- amtlichen Engagements für unsere Gesell- der Anerkennung und Unterstützung dem schaft erkennbar. Primär handelte es sich Zusammenhalt unserer Gesellschaft über dabei um diverse Formen des informellen, alle Generationen hinweg neues Leben individuellen und nicht an Organisations- einhauchen können. formen gebundenen und/oder von dort koordinierten Engagements und digitalen Wichtig erscheint dafür noch einmal ein Engagements. kurzer Rückblick in die Jahre ab 2015, in denen die Gesellschaft in Deutschland aus Die Entwicklung dieser Jahre hat aber auch verschiedenen Gründen, aktuell auch in deutlich gemacht, dass nicht primär die In- Bezug auf die Herausforderungen der ge- tegration von ab dem Jahre 2015 zu uns samten Gesellschaft im Rahmen der Coro- gekommenen Flüchtlingen im Fokus, son- na-Pandemie, vor große und oft neue He- dern die gesamte Gesellschaft vor großen rausforderungen gestellt wurde und wird. und globaleren Herausforderungen steht. Ausgelöst durch die weltweit begrüßte humanitäre Geste von Bundeskanzlerin Bedingt durch die spürbaren Auswirkun- Angela Merkel im Jahre 2015, die Grenzen gen und Folgen des demographischen nach Deutschland für Flüchtlinge zu öff- Wandels, der zunehmend als ungleich nen, folgte eine starke und in dieser Form empfundenen Lebensverhältnisse zwi- vielleicht auch nicht vorhersehbare Ein- schen Städten/Ballungsgebieten und wanderung von Flüchtlingen primär aus ländlichen Regionen und die noch immer politischen Krisenregionen außerhalb Eu- als unzureichend empfundene Anglei- ropas und innerhalb Europas (Westbalkan) chung der Lebensverhältnisse in Ost- und von Menschen, die für sich und ihre Fami- Westdeutschland werden besonders im lien eine bessere und wirtschaftlich und Bereich der Daseinsvorsorge Herausfor- sozial entspanntere Situation erhofften. derungen und Defizite deutlich. Es folgte über viele Monate eine starke Zuwanderung, die Staat und Gesellschaft Themen wie bezahlbarer Wohnraum, ein sowohl bei Unterbringung, Versorgung lebenswertes Umfeld, Zugang zu gesund- und nachfolgend bei der Integration vor heitlicher Versorgung und Bildung sowie

BBE DOSSIER NR. 8 | 5 Priesterath: Engagement von jungen Menschen die Einbindung von Beruf und Privatleben mentstrukturen einbezogen werden kön- in die persönliche und individuelle Lebens- nen bzw. diese (sinnvoll) ergänzen kann. planung rückten mehr und mehr in den Fokus gesellschaftlicher Diskussionen. Hier Eine nicht vorhersehbare Dynamik hat das geht es nicht mehr alleine um die aktuelle Jahr 2020 und die seit März für jede spür- Daseinssicherung, sondern zunehmend um baren Auswirkungen der Corona- Pande- den Wunsch vieler gerade jüngerer Men- mie und die Aktivitäten zur Eindämmung schen nach Konzepten und Lösungen für der mutmaßlich nur schwer kontrollierba- die zukünftige Gestaltung des Zusammen- ren Ausdehnung erhalten. lebens in einer solidarischen Gesellschaft. Das betrifft die gesamte Gesellschaft und Folglich geht es in einem breiteren Ver- damit natürlich auch viele Bereiche des ständnis von Integration aktuell darum, sozialen und engagierten Lebens und Ge- allen Gruppen in dieser Gesellschaft ein staltens und hat Folgen bzw. Auswirkun- Angebot zur Teilnahme am sozialen und gen auch auf ehrenamtliche Aktivitäten gesellschaftlichen Leben zu unterbreiten unter folgenden Aspekten: und damit auch Herausforderungen im Rahmen der Daseinsvorsorge und, soweit ¾¾Faktor Existenzsicherung möglich, die Herstellung gleichwertiger ¾¾Faktor fehlende oder stark einge- Lebensverhältnisse durch ein flankieren- schränkte Freizeitangebote und soziale des und breites freiwilliges zivilgesell- Begegnungen und Events (Veranstal- schaftliches Engagement zu begleiten. tungen) ¾¾Faktor Zeitmanagement Bei allen diesen Beobachtungen spielt das ¾¾Faktor Bewußtsein der Wichtigkeit eh- Engagement der Zivilgesellschaft und die renamtlicher Aktivitäten gerade auch damit verbundene Kreativität und Bereit- im sozialen Bereich schaft, neue, oft unkonventionelle Wege zu gehen und manchmal etwas mit Risiko Gerade für junge Menschen, die sich noch auszuprobieren, gerade von jungen Men- in Schule und Ausbildung befinden, hat schen und »junges« Engagement (neue, sich ihr persönliches Lehr- und Lernum- oft digitale Ansätze), eine besondere Rolle. feld wenigstens auf Zeit teilweise drama- tisch dadurch verändert, dass im Frühjahr Es gibt dabei natürlich Überschneidungen in teilweise Schulen, Unis etc. geschlossen Zielgruppen, Aktivitäten und Ansätzen, aber werden mussten und inzwischen der Un- »junges Engagement« sollte man nicht allei- terricht teilweise oder in den meisten Fäl- ne auf die Zielgruppe der jungen Menschen len auf unabsehbare Zeit komplett digital zwischen z. B. 14-23 Jahren beschränken, gestaltet werden muss. sondern auf »neue« oder damit auch »jun- ge« Aktivitäten ausweiten (z. B. informelles Dazu kommt gerade bei Studenten oft das Engagement, digitales Engagement). Problem der Finanzierung des Studiums durch Wegfall von Nebenjobs gerade in Diese Entwicklung erfordert selbstver- Gastronomie und Kultur. Darüber hinaus ständlich neben einer genaueren Analyse sind für viele Betroffene u. a. folgende eine Beschäftigung mit der Frage, inwie- Fragen aktuell: weit diese Formen des Engagements, oft recht spontan und in konkreten Situationen ¾¾Was sind die Folgen auch im Hinblick und informell, in eher traditionelle Engage- auf andere Aktivitäten? Mehr Zeit?

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¾¾Gewinnen Freiwilligendienste als Über- Vorbehalte gegenüber bestehenden Ver- brückung an Attraktivität und inwie- bands- und Vereinsstrukturen geht. weit können und müssen Rahmenbe- dingungen geändert werden? Daraus ergibt sich die weitere Frage, was vorhandene Organisationen und Struktu- Eine mögliche Überlegung wären hier Pro- ren tun könnten/sollten, um junge Men- gramme zur Verknüpfung von ehrenamtli- schen in schon vorhandene Strukturen zu chen Aktivitäten und Optionen des Hinzu- integrieren, sie zur Übernahme von Ämtern verdienstes (von Vorstand bis Übungsleiter) zu gewin- nen und wie sie mit den »Neuen« zusam- In den Schulen besteht – nicht erst seit menarbeiten und gestalten können. Corona – die Herausforderung, ehrenamt- liche Aktivitäten mehr und in attraktiver Man sollte sich erst einmal deutlich Form an Jugendliche heranzutragen. machen, wo die (möglichen) Hinde- rungsgründe für Jugendliche und junge Auch sogenannte traditionelle Vereine Aktive liegen, sich in traditionelle und und Organisationen könnten hier Hand in organisierte Engagementformen aktiv Hand mit engagierten Lehrerinnen, Eltern einzubringen. und Schülerinnen ihre Angebote und Zu- gänge öffnen, bei den aktuellen Entwick- Die Gründe sind vielfältig und die folgende lungen gerade auch in den für jüngere Aufzählung bestimmt nicht abschließend: Menschen oft besonders ansprechenden Bereich der Digitalisierung. ¾¾Kein großes Interesse daran (länger- fristige) Verantwortung in etablier- Dabei könnten Jugendliche Vereine fit ten Strukturen und Organisationen zu machen für das digitale Zeitalter und die übernehmen »Überführung« analoger in digitale inter- ¾¾Oft wenig Interesse an der Übernahme ne und externe Strukturen. (notwendiger) bürokratischer Arbeiten (Haushalt, Budget, Abrechnungen etc.) Vereine könnten Jugendliche aus der – Priorität: Nutzung der vorhandenen »Scheinwelt« Digitalisierung herausholen (selbst bestimmten) Zeitfenster für die und durch aktive Einbeziehung ins reale »eigentlichen« Aktivitäten Leben »holen« und das Bewußtsein der ¾¾Oft hoher Altersschnitt und eindeuti- Wichtigkeit von Verantwortung gerade ge Männerdominanz in den Entschei- auch im sozialen Bereich zu schärfen. dungsgremien (Frage der inneren Weiterentwicklung und Öffnung der Junges Engagement und (Selbst-)Organi- Gremien in »traditionellen« Organisa- sation (unabhängig von besonderen Her- tionen – nicht nur in Richtung Einbezie- ausforderungen) hung von Jugendlichen) ¾¾Fehlende Spielräume zur Gestaltung Viele junge oder erst seit kurzer Zeit En- und Partizipation gagierte organisieren sich selber und er- ¾¾Als ungenügend empfundene Nutzung schaffen sich, sollten sie nicht jede Form digitaler Möglichkeiten der etablierten Strukturen ablehnen, teil- weise neue Organisationen, und es stellt Dagegen stehen motivierend folgende As- sich die Frage, ob es daran liegt, dass es pekte u. a. im Fokus/Interesse für junge neue Themen gibt oder ob es primär um Menschen und junge Strukturen:

BBE DOSSIER NR. 8 | 7 Priesterath: Engagement von jungen Menschen

¾¾Digital soziale Medien intensiv zu nut- ¾¾Stärkung des demokratischen Gemein- zen und in die Aktivitäten zu integrie- wesens, wenn sich Menschen dafür ren aktiv einsetzen, sich bewusst und frei- ¾¾Wo möglich Mitwirkungsmöglichkei- willig engagieren. ten (aktive Beteiligung) an etablierten ¾¾»Neue« strategische Ausrichtungen Prozessen, Verfahren, Netzwerken etc. gerade unter Einbeziehung digitaler ¾¾Beibehaltung des Ansatzes: Individu- Möglichkeiten (Option – Interne enge elles und flexibles Engagement für die Zusammenarbeit bei der Umstellung Gesellschaft (nicht unbedingt Einbin- auf z. B. digitale Buchführung und Mit- dung in etablierte Strukturen) gliederdateien zwischen »älteren« und ¾¾Schaffung von Räumen für (persönli- jungen Mitgliedern). che) Begegnungen und Gestaltung ¾¾Intensivierung der Sichtbarkeit und Besonderes Thema: Junge Migrantinnen Wahrnehmung von Jugendengagement und ihre Organisationen ¾¾»Neues« Thema Umwelt Fridays for Future – anders als früher nicht gegen Im Bereich des jungen Engagements etwas zu sein (Protestbewegungen), nimmt die Gruppe der jungen Migrantin- sondern sich aktiv für etwas einzuset- nen noch eine ganz besondere Rolle ein. zen (Schutz und Erhalt der Umwelt). Sie ist eine immer wichtigere und mehr und Wie kann sich dieses junge Engagement mehr im Fokus stehende Gruppe, die sich und Engagement der jungen Menschen einzeln oder oft in Gruppierungen und »jun- auf die gesamte gesellschaftliche Entwick- gen Organisationen« zusammenfindet und lung auswirken und wie können diese An- die Prozesse in der Gesellschaft auch aus sätze und Aktivitäten von Seiten der eta- ihrem Blickwinkel heraus aktiv mitgestalten blierten Gesellschaft flankierend unter- will. Dabei ist u. a. Folgendes festzustellen: stützt werden? 1. Viel zu wenig Beachtung finden bis dato Folgende Aspekte spielen dabei eine wich- häufig die Potentiale junger Migrantin- tige Rolle: nen und Spätaussiedlerinnen, die oft als Kinder nach Deutschland gekommen ¾¾Stärkung und Ausbau der Anerken- sind oder hier geboren wurden und ihre nungskultur von Jugendengagement schulische, berufliche und akademische mit dem Ziel, junge Menschen zu mo- Bildung hier erlangten. tivieren, sich intensiver für die Gesell- 2. Ihre Lebensentwürfe, Ansichten und schaft und deren Zusammenhalt zu Verankerungen in der deutschen Ge- engagieren und damit die Gesellschaft sellschaft unterscheiden sich stark von aktiv mitzugestalten sowie Jugendliche denen der Großeltern- und Elternge- zu unterstützen, die sich bereits enga- neration, deren Vereine für sie zuneh- gieren. mend wenig attraktive Engagement- ¾¾Stärkung des Gemeinwesens durch die und Teilhabemöglichkeiten bieten. Unterstützung junger Engagierter, die 3. Engagement findet oft im näheren und sich zur Verbesserungen der Bedingun- weiteren privateren Umfeld statt und gen im Sozialen, der Umwelt, Kultur wird dort als »selbstverständlich« er- etc. teilweise in etablierten Strukturen achtet. Eine Verlagerung der Aktivitäten oder durch persönliche Initiative ein- in den eher weiteren gemeinwesenori- setzen. entierten Bereich ist oft auch im priva-

8 | BBE DOSSIER NR. 8 Priesterath: Engagement von jungen Menschen

ten Umfeld zu erklären. Dabei benöti- 5. Kooperation mit Migrantinnenorgani- gen die Betroffenen die Unterstützung sationen (gerade auch der jeweiligen aus dem zivilgesellschaftlichen Raum. Es Jugendverbände) durch »traditionelle« gibt z. B. manchmal Erklärungsschwie- Verbände, Vereine und Organisationen rigkeiten in der eigenen Community, 6. »Neue« Programme und Strategien, was und wer sich überhaupt hinter tra- um junge Migrantinnen ohne akademi- ditionellen Organisationen wie z. B. den schen Hintergrund mit entsprechenden »Pfadfindern« verbirgt.1 Durch diese Angeboten anzusprechen (Paradigmen- gezielten Informationen kann z. B. einer wechsel, weg von der sog. »Randgrup- »Abschreckung« davor von jungen Mi- penarbeit«) grantinnen z. B. durch Kleidung, Spra- che, häufige Treffen entgegen gewirkt Möglichkeiten zur Unterstützung von werden, gerade auch unter dem Aspekt, Jugendengagement und jungem dass eine Verlagerung von Aktivitäten in Engagement der Freizeit stattfindet, die traditionell eher mit Familie verbracht wurde. Es muss deutlich gemacht werden, was jun- 4. Besonders auch in Ostdeutschland gibt ge Menschen für diese Gesellschaft leisten, es zwar eine starke Engagementland- wie sie dies realisieren, wie sie sich ihre schaft und -bereitschaft, aber eine ver- Lebenswelt wünschen, aber auch, welche gleichbar niedrige Engagementquote Hindernisse sie bewältigen (müssen). und eine zu geringe Anzahl stabiler zi- vilgesellschaftlicher Organisationen, die Es ist nun zu diskutieren, was Politik, Ver- jungen Migrantinnen Teilhabe durch waltung und die »etablierte« Gesellschaft Engagement ermöglichen. dazu generell beitragen können, um jun- gen Menschen und jungem Engagement Ein Ansatz könnte es gerade auch hier mehr Raum zu bieten und sie in gesell- sein, junge Migrantinnen als Brückenbau- schaftliche Prozesse einzubinden. Dazu erinnen z. B. bei kultureller Öffnung und gehört u. a. der Einbeziehung aller ortsansässigen Be- völkerungsgruppen in gesellschaftliche 1. Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkei- Aktivitäten aktiv einzubeziehen. ten durch Anerkennung und Unterstüt- zung aufbauen Dazu gehört u. a.: 2. Themen und Aktivitäten gerade auch dann ernst nehmen, wenn vielleicht 1. Ausbau der Angebote zur Qualifizierung eher ungewohnte und »neue« Formen 2. Interne Öffnung von etablierten Ver- des Engagements gewählt werden bänden und Organisationen (z. B. Frei- 3. Zu Wort kommen lassen, zuhören und willige Feuerwehr und THW) sich ernsthaft mit den Anliegen ausein- 3. Öffnung von Führungspositionen auch anderzusetzen in traditionellen Organisationen, Ver- 4. Mut zur Entscheidung und ggfs. Para- bänden und Vereinen digmenwechsel in politischen und ge- 4. Anerkennung und Unterstützung von sellschaftlichen Kernbereichen engagierten Einzelpersonen 5. Abbau von Vorurteilen und Hindernis- sen gegenüber jungen Akteurinnen, 1 Praktisches Beispiel Pfadfinder (Nachwuchssorgen) neu entstandenen Organisationen oder im Leitfaden für Vereine und gemeinnützige Organisa- tionen »Wie interkulturelle Öffnung gelingt« von Rita Projekten verbunden mit mehr Bereit- Panesar über ZiviZ 2017, S. 21 schaft zur Kooperation

BBE DOSSIER NR. 8 | 9 Priesterath: Engagement von jungen Menschen

6. Da viele »junge« Initiativen digitaler 14. Auf- und Ausbau von kommunalen Natur sind, gehört dazu auch die Öff- Beteiligungsmöglichkeiten (z. B. Ju- nung der Verwaltung gegenüber diesen gendparlamenten), aber auch stärkere »neuen und jungen« Ansätzen. Einbeziehung z. B. als mündige Bürge- 7. Entwicklung von Strategien zur Förde- rinnen in kommunale Entscheidungs- rung unter Einbeziehung der »neuen« abläufe digitalen Engagementformen (konkret: Änderung von bestehenden Förder- Fazit: Wo kann konkret angesetzt werden? richtlinien und/oder Entwicklung »neu- er« Richtlinien) ¾¾Deutsche Stiftung für Engagement und 8. Verstetigung des gegenseitigen Austau- Ehrenamt mit Sitz in Neustrelitz als ein sches zwischen »neuen (jungen)« digi- Ergebnis aus der entsprechenden FAG 6 talen und sog. traditionellen Engage- der Kommission zur Herstellung Gleich- mentformen – Ziel: vertrauensbildende wertiger Lebensverhältnisse als ein Maßnahmen auf der Basis der Bildung (möglicher) Impulsgeber gerade im Be- gegenseitigen Verständnisses reich der Unterstützung »neuer« junger 9. Ausbau und Weiterentwicklung der Struk- und digitaler Engagementformen tur von Freiwilligenagenturen – stärkere ¾¾Entsprechende Änderung/ Aktualisie- Einbeziehung bei lokalen Aktivitäten zur rung/ Neuformulierung von Förder- Anerkennung, Einbeziehung und (kon- richtlinien mit Fokus auf junges und krete) Förderung von kommunalen und digitales Engagement und »neue« En- regionalen Aktivitäten zur Stärkung des gagementformen wie informelles En- freiwilligen Engagements von Jugendli- gagement chen in und außerhalb von Verbänden, ¾¾Möglichkeiten adäquater Beteiligung Organisationen und Vereinen von Jugendlichen und ihren Ansätzen 10. Förderung von sozialen und inter- primär in Entscheidungsprozessen vor kulturellen Kompetenzen der jungen Ort Menschen und Stärkung des Selbstbe- ¾¾Toleranz und Verständnis für »neue« wusstseins eigene Themen (Umwelt) junger Men- 11. Verstärkte Aktivitäten und Angebote schen und Belassung von Freiräumen in Schulen, um Schülerinnen für zi- zur Artikulation vilgesellschaftliches Engagement zu ¾¾Unterstützung bis zur Bereitstellung motivieren und, wo möglich, darauf von Räumen zur Begegnung und Ge- vorzubereiten und die Schule auch als staltung auf kommunaler Ebene Lern- und Erfahrungsort für Engage- ¾¾Unterstützung und Motivation zur Kre- ment zu gestalten ativität und Entwicklung eigener Enga- 12. Kennenlernen von bestehenden Gre- gementformen und Möglichkeiten in mien im Gemeinwesen, Organisatio- Schulen und Universitäten nen, Vereinen etc. (z. B. Jugendhilfe- ¾¾Öffnung von Führungspositionen in eta- ausschuss, Gemeinderat, politische blierten Strukturen verbunden mit ei- Vertretungen, Vereinsführungen) und ner »neuen« strategischen Ausrichtung Erschließung des Zugangs zu diesen unter Einbeziehung junger Menschen Gremien ¾¾Akzeptanz der globalen Möglichkeiten 13. Durch einen gezielten Ausbau digital und auch Herausforderungen der digi- offen zugänglicher Informationen kön- talen Entwicklung und aktive Nutzung nen Informationsfluss und Vernetzung des Know-Hows und der Kreativität nachhaltig unterstützt werden. junger Menschen

10 | BBE DOSSIER NR. 8 Priesterath: Engagement von jungen Menschen

Diese kurzen Gedanken und Impulse ma- Aktualisiert am 23.11.2020. Zuerst er- chen vielleicht punktuell deutlich, wie wich- schienen im BBE-Newsletter 17/2019 am tig die verstärkte Anerkennung und Unter- 22.8.2019. stützung von »jungem Engagement« und »Engagement von jungen Menschen« mit AUTOR den dargestellten Schnittpunkten ist. Es sollen hiermit Denkanstöße gegeben und Markus Priesterath ist Referent im Bun- mögliche Felder angerissen werden, bei desministerium des Innern, für Bau und denen es aus Sicht des Autors Diskussions-, Heimat (BMI) und beschäftigt sich dort Handlungs- und Entwicklungsbedarf gerade mit dem Thema »Ehrenamt und Bürger- auch unter dem Aspekt, dass die digitale schaftliches Engagement«. Entwicklung auch im Bereich der Engage- mentlandschaft durch die Herausforderun- Weitere Informationen gen in der Corona-Situation noch einmal www.betterplace-lab.org deutlich Fahrt aufgenommen hat, gibt. https://www.ziviz.de/

BBE DOSSIER NR. 8 | 11 DETLEF DZEMBRITZKI 75 JAHRE JUNG – JUGEND UND DIE VEREINTEN NATIONEN

Ein langer Weg zur Mitbestimmung von men. Die Entscheidungsträgerinnen und jungen Menschen -träger müssen den jungen Menschen Mitbestimmung ermöglichen. Die Hälfte Auch 75 Jahre nach Gründung der Verein- der Weltbevölkerung erhebt fast täglich ten Nationen sind die Herausforderungen ihre Stimme und ist bereit, Verantwortung immens. Wir haben weniger als zehn Jah- zu übernehmen: Millionen von Jugendli- re, um die Umsetzung der Agenda 2030 chen fordern entscheidende Maßnahmen, für Nachhaltige Entwicklung zu realisieren, um den Klimawandel zu stoppen und die deren Implementierung das Wohl aller Folgen für alle Menschen beherrschbar Menschen weltweit maßgeblich bestim- zu machen. Junge Menschen sind bereit, men wird. Die heutige Generation von ihren Beitrag zu leisten und Verantwor- Entscheidungsträgerinnen und -trägern tung zu übernehmen. Sie setzen sich für muss Maßnahmen ergreifen, die mindes- die Umsetzung der Sustainable Develop- tens für die nächsten drei Generationen ment Goals (SDGs) auf allen Ebenen ein. eine lebenswerte Welt gewährleisten Die- Die Hälfte der Weltbevölkerung braucht se Beschlüsse sollten nicht nur aufgrund ein aktives Mitspracherecht und den Frei- einer Verantwortlichkeit für die zukünf- raum, um unsere Zukunft mitzugestalten. tigen Generationen gefasst werden, son- Nun sind die Entscheidungsträgerinnen dern auch die Ansichten und Interessen und -träger am Zug: Es braucht Inklusivität der jungen Menschen miteinbeziehen. bei den Maßnahmen auf allen Ebenen, die Im Jahr 2020 ist bereits fast die [Hälfte auch die Betroffenen zum festen Bestand- der Weltbevölkerung1 (laut UNFPA 49,1%, teil der Entscheidungsgremien machen 2020) jünger als 24 Jahre. Schaut man zum muss. Nur durch den Schutz der kommen- Beispiel auf die afrikanischen Staaten, ist den Generationen werden die Vereinten der Anteil der jungen Menschen an der Nationen ihrem Auftrag zur Sicherung von Gesamtbevölkerung höher als 50%. Sie Frieden, Menschenrechten und nachhalti- haben ein Recht darauf, dass ihre Pers- ger Entwicklung gerecht. Wie können die pektiven beachtet werden. Bei zentralen Vereinten Nationen dieser Verantwortung Zukunftsfragen müssen wir deshalb diese nachkommen? Mehrheit der Weltbevölkerung einbinden. Blick zurück: Einbindung junger Menschen Gemeinsam Verantwortung übernehmen in die Arbeit der Vereinten Nationen

Wir müssen zusammen die Verantwortung Die Vereinten Nationen setzten sich be- für unsere gemeinsame Zukunft überneh- reits in der Generalversammlung 1965 1 https://www.unfpa.org/sites/default/files/SWOP- mit einem Beschluss zur Einbindung der Data-2020.xlsx Jugend in ihre Arbeit auseinander. Die

12 | BBE DOSSIER NR. 8 Dzembritzki.: 75 Jahre jung – Jugend und die Vereinten Nationen

Besonderheit dieser Resolution war der der Jugenddelegierten ist jedoch weiter Fokus auf die Einbindung von Nichtregie- abhängig von der Art der Entsendung rungs- und Jugendorganisationen. Somit bzw. Unterstützung des Mitgliedsstaates. eröffneten die Vereinten Nationen bereits Zumeist beschränkt sich die Mitsprache 20 Jahre nach ihrer Gründung nicht nur der Jugenddelegierten auf die Mitarbeit Mitgliedsstaaten die Mitwirkung. Weitere innerhalb der nationalen Delegationen Meilensteine waren u. a. die Resolution und die Teilnahme an verschiedenen Be- der Generalversammlung aus dem Jahr ratungen der Generalversammlung und 1981, die die Mitgliedsstaaten aufforder- der Sozialentwicklungskommission. Trotz te, Jugendrepräsentantinnen und -reprä- Einführung der Jugenddelegiertenpro- sentanten in ihre nationalen Delegationen gramme – die Niederlande waren ab 1970 aufzunehmen sowie das Weltaktions- eines der ersten Länder4 – haben weiter- programm für die Jugend von 1995. Das hin die Mehrheit der Mitgliedsstaaten Weltaktionsprogramm bietet einen nor- kein eigenes Programm. mativen Rahmen für die Jugendarbeit der Vereinten Nationen und internationaler Neben diesem Programm bietet die UN Jugendorganisationen. Eine zentrale For- Major Group for Children and Youth derung dieses Dokuments ist die Anerken- (Gründung 1992) jungen Menschen die nung der Bedeutsamkeit von Jugendpar- Möglichkeit, innerhalb des UN-Systems tizipation als Notwendigkeit, um inklusive ganzjährig an Diskussionen und teilwei- Entscheidungen für die Jugend überhaupt se an Prozessen (z. B. Strategiepapieren, erst zu ermöglichen2. Wo können sich jun- Konferenzdokumenten) mitzuwirken.5 Das ge Menschen konkret für unsere Zukunft Themenspektrum der Major Group bildet engagieren? die Diversität des Systems der Vereinten Nationen ab. Neben diesen Möglichkeiten Aktiv in der Debatte und nah an den gibt es eine Vielzahl an weiteren Möglich- Themen keiten, sich in die Organisationen inner- halb des UN-Systems und deren Program- Eines der Leuchtturmprogramme zur Par- me einzubringen. tizipation junger Menschen stellen die nationalen Jugenddelegiertenprogramme Unter Generalsekretär Ban Ki-Moon wur- zu den Vereinten Nationen dar3. Die UN de die Arbeit mit und für junge Menschen DESA (Abteilung des UN Sekretariat für eine der zentralen Prioritäten der Organi- Wirtschaftliche und Soziale Angelegenhei- sation. Mit der Schaffung der Position des ten) koordiniert die Arbeit der Jugendde- Youth Envoy (Gesandter für Jugend) wur- legierten auf globaler Ebene. Ziel ist es, die de 2013 erstmalig ein hochrangiges Amt jungen Menschen in die Entscheidungsfin- innerhalb des Systems der Vereinten Na- dung in den Schlüsselbereichen der Ver- tionen geschaffen, das sich explizit für die einten Nationen einzubinden. Die Rolle Belange junger Menschen einsetzt. Die Gesandte des Generalsekretärs für Jugend 2 Hannah Birkenkötter, Heidrun Fritze, Ann-Christine – seit 2017 Jayathma Wickramanayke aus Niepelt, Jugendarbeit als Jugendpartizipation – Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen und Sri Lanka – setzt sich als Teil des Sekreta- Jugend, S.157ff in: Norman Weiß, Nikolas Dörr (Hrsg.): riats der Vereinten Nationen für die For- Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen derungen, Beteiligung und Rechte junger (DGVN) Geschichte, Organisation und politisches Wirken, 1952-2017 4 https://www.un.org/esa/socdev/unyin/documents/ 3 https://www.un.org/development/desa/youth/ profiles/Netherlands.pdf what-we-do/youth-delegate-programme.html 5 https://www.unmgcy.org/

BBE DOSSIER NR. 8 | 13 Dzembritzki.: 75 Jahre jung – Jugend und die Vereinten Nationen

Menschen ein. Das Arbeitsprogramm der nächsten Schritte auf diesem Weg aus- Gesandten6 orientiert sich am Weltakti- sehen, damit junge Menschen fester Be- onsprogramm und am Aktionsplan des standteil von Entscheidungen werden? Generalsekretärs. Die Entwicklung der Youth 2030 Strategy ist ein weiterer Mei- Blick nach vorn: Beteiligung an den lenstein, welcher einen Leitfaden für die Entscheidungen Einbindung junger Menschen innerhalb des Systems der Vereinten Nationen und Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 75. deren Partner darstellt. Jubiläum der Vereinten Nationen hat die Zivilgesellschaft verschiedene Ideen für Ein weiterer wichtiger Erfolg von und für die Weiterentwicklung der Vereinten Na- junge Menschen war die Verabschiedung tionen entwickelt. Ein vielversprechender der Sicherheitsratsresolution 2250 zu Ju- Diskussionsvorschlag ist die Einrichtung gend, Frieden und Sicherheit7 (2015). Die- eines »Youth Advisory Body«8 innerhalb sem Beschluss war ein langer Prozess des der Vereinten Nationen. Dieses Gremium Engagements von Jugendorganisationen soll durch die Generalversammlung einge- gemeinsam mit weiteren Organisationen setzt werden und in Kooperation mit re- der Zivilgesellschaft vorausgegangen. Die- gionalen Jugendorganisationen ein Main- se Initiative wurde von den Mitgliedstaa- streaming der Jugendthemen innerhalb ten aufgenommen und hatte somit die der Vereinten Nationen erreichen. In Eu- Chance, innerhalb des Sicherheitsrates als ropa gibt es mit dem Advisory Council on wegweisende Resolution verabschiedet Youth (Beirat zu Jugendfragen des Europa- zu werden. Dieser große Erfolg darf nicht rates) eine mögliche Blaupause für diese darüber hinwegtäuschen, dass ein kla- Form der Mitbestimmung. rer Gestaltungsspielraum für junge Men- schen bei allen Entscheidungen innerhalb Über ein solches Gremium könnten – bei der Vereinten Nationen weiter eine Vision entsprechender Mandatierung – junge darstellt. Menschen institutionell und formal an politischen Entscheidungen beteiligt wer- Um unserem Anspruch einer gemeinsa- den. Die Mitsprache der Mehrheit der men Verantwortung gerecht zu werden, Weltbevölkerung könnte die Legitimität braucht es weitere Schritte zur Verwirk- erhöhen, Ungleichheiten verringern, eine lichung der Einbindung von jungen Men- bessere Repräsentation garantieren und schen in die Entscheidungsfindung, wie globale Krisen verhindern oder nachhaltig z. B. in der Resolution 2250 gefordert lösen. wird. Die Vereinten Nationen haben mit der Position des Youth Envoy bereits die Die Verantwortung, sich für Reformide- Sichtbarkeit junger Menschen erhöht. en – ähnlich wie bei der Resolution 2250 Die Mitgliedstaaten und Organisationen – stark zu machen, liegt bei den Mitglieds- innerhalb des UN-Systems können somit staaten und einer aktiven Zivilgesellschaft. kontinuierlich an ihre Verantwortung ei- ner verbesserten Einbindung junger Men- Die Mitbestimmung junger Menschen ist schen erinnert werden. Wie könnten die grundlegend für unsere gemeinsame Zu- kunft und um die Akzeptanz der Vereinten 6 https://www.un.org/youthenvoy/workplan/ Nationen als globale Institution zur Siche- 7 https://www.youth4peace.info/UNSCR2250/Intro- duction; https://www.un.org/depts/german/sr/sr_15/ sr2250.pdf 8 https://together1st.org/proposals/295

14 | BBE DOSSIER NR. 8 Dzembritzki.: 75 Jahre jung – Jugend und die Vereinten Nationen rung von Frieden, Menschenrechten und ten Nationen (DGVN). Von 1975 bis 1989 nachhaltiger Entwicklung zu erhalten. war Detlef Dzembritzki Bezirksstadtrat für Volksbildung bzw. seit 1981 für Jugend und Wir selbst sind aufgefordert, unseren Teil Sport im Bezirk Berlin-Reinickendorf. An- der Verantwortung einlösen. schließend war er von 1989 bis 1995 Bür- germeister des Bezirks Reinickendorf und Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten von 1994 bis 1999 Landes­vorsitzender der 11/2020 am 26.11.2020. SPD in Berlin. Von 1998 bis 2009 war Det- lef Dzembritzki Mitglied des Deutschen AUTOR Bundestags, ab 2005 Vorsitzender des Un- terausschusses Vereinte Nationen. Detlef Dzembritzki ist Bundesvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Verein- Weitere Informationen https://dgvn.de/

BBE DOSSIER NR. 8 | 15 MARIE-LUISE DREBER »BEIM PHYSISCHEN AUSTAUSCH AUF SICHT FAHREN, BEIM VIRTUELLEN AUSTAUSCH NEUES ENTWICKELN.« CORONA UND DIE AUSWIRKUNGEN AUF DIE INTERNATIONALE JUGENDARBEIT

Internationale Jugendarbeit ermöglicht camps – wieder in den Normalbetrieb es jungen Menschen, als Europäer/-innen übergehen zu können. Inzwischen sind wir und Weltbürger/-innen aufzuwachsen. Sie eines Besseren belehrt worden. Wir wis- leistet einen unverzichtbaren Beitrag für sen nun, dass uns die Corona-Pandemie ein friedliches und respektvolles Mitein- noch lange beschäftigen wird. Die Mitte ander. Dafür sind zwei Dinge essentiell: Oktober ausgebrochene zweite Welle ist Junge Menschen begegnen sich in einem ein sicheres Indiz dafür. anderen Land in einem pädagogischen Setting und sie reisen dafür. Beide Aspekte Sprung in der Anwendung von haben durch die Corona-Pandemie einen Kommunikationsmedien schweren Dämpfer erfahren. Es gilt, das Überleben einer für das Aufwachsen jun- IJAB reagierte damals, wie andere Insti- ger Menschen in einer globalisierten Welt tutionen und Träger der Internationalen wesentlichen Struktur für Austausch und Jugendarbeit auch. Internationale Pro- Zusammenarbeit zu sichern. Es gilt aber gramme mussten abgesagt, Tagungen und auch Innovationspotenziale zu nutzen. Die Begegnungen auf Online-Formate umge- liegen vor allem im Digitalen. stellt werden. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gingen ins Home-Office. Als Der Lockdown im März war ein erheb- Fachstelle standen wir in einer doppelten licher Einschnitt. Jugendbegegnungen Verantwortung: Die eigenen Aktivitäten und Fachkräfteaustausche wurden abge- aufrechterhalten und unsere Mitglieder sagt, Langzeitfreiwillige kurzfristig nach – und alle im Arbeitsfeld Internationale Deutschland zurückgeflogen. Nur weni- Jugendarbeit Tätigen – über aktuelle Ent- ge konnten ihren Aufenthalt als Au-pair, wicklungen, Entscheidungen der Förder- Freiwillige oder im Schulaustausch in mittelgeber, Entwicklungen in anderen Deutschland oder im Ausland fortsetzen. Ländern, Hilfsangebote der Politik und vir- Viele junge Menschen, die sich auf einen tuelle Alternativen zum »analogen« Aus- Sommer mit Gleichaltrigen aus aller Welt tausch informiert halten. Auch wir stan- gefreut hatten oder auf das Kennenler- den vor der Herausforderung, einen tech- nen eines ihnen noch unbekannten Lan- nologischen Sprung vollziehen zu müssen, des, waren enttäuscht. Träger der Inter- um handlungsfähig zu bleiben. nationalen Jugendarbeit fragten sich, wie es nun weitergehen soll. Damals hofften Die Video-Livestream-Serie »At Home die meisten das Phänomen Corona sei Around The World« ist ein gutes Beispiel ein kurzfristiges, und viele Träger rechne- dafür. Engagierte Kolleginnen und Kolle- ten damit, im Sommer – der Hauptsaison gen bauten ein kleines Studio, von dem für Austausche, Begegnungen und Work- aus sie in unregelmäßigen Abständen in-

16 | BBE DOSSIER NR. 8 Dreber: Beim physischen Austausch auf Sicht fahren ternationale Partner zur Situation von blick in die unterschiedlichen Länder zu Jugendarbeit und Jugendinformation in bekommen. Unsere russische Teilnehmerin ihren jeweiligen Ländern befragten und berichtete zum Beispiel über ein Urban diese Interviews live auf Facebook stream- Gardening-Projekt in ihrer Heimatstadt. ten. Dadurch, dass wir für das Workcamp eine Facebook-Gruppe angelegt hatten, geht Solche Kontakte zu unseren Partnern der Austausch weiter.« waren uns besonders wichtig, denn wir wissen, dass in vielen Ländern der Staat Die Stadt Oberhausen führt jährlich die keine oder nur geringe finanzielle Unter- Jugendbegegnung »Multi« durch, an der stützung für die Jugendarbeit leistet. Dort sich mehrere Hundert junge Menschen ist die Situation der Austauschorganisatio- aus der ganzen Welt beteiligen. In diesem nen prekär. Die Partner erhalten vielfach Jahr fand sie erstmals online statt. Vivian keine Strukturförderung und sind projekt- Hagedorn, die als Freiwillige das Event be- bezogen auf europäische Fördermittel an- gleitete, berichtete: gewiesen. Doch wo Corona-bedingt keine Projekte durchgeführt werden können, »Für uns war wichtig, dass wir nichts an- gibt es auch keine Förderung. So wächst bieten, was einfach nur konsumiert wer- die Gefahr, dass Partnerstrukturen weg- den kann. Alles war immer mit der Auffor- brechen. derung verbunden, uns etwas zu schicken, zum Beispiel Fotos oder Videos. Traditio- Chance für die Digital Natives nell haben wir bei der Multi ein Event, das wir Luftballons für den Frieden nennen. In Wo direkte Begegnungen nicht möglich diesem Jahr haben wir dazu aufgerufen, sind, bleiben nur die virtuellen. Viele Trä- Seifenblasen für den Frieden zu pusten und ger haben das frühzeitig erkannt und nicht uns Videos davon zu schicken. Wir haben nur Tagungen und interne Absprachen auf 50 Videos bekommen – das hat uns über- Zoom und Skype umgestellt. Sie haben rascht.« begonnen aktiv zu experimentieren, wie Jugendbegegnungen oder ein Workcamp Solche und andere Beispiele machen Mut. online funktionieren können. Oft war das Wir haben untersucht, welche digitalen die Stunde der Digital Natives in Organisa- Tools sich für welche Projekte besonders tionen – ihr Know-how war wegweisend. eignen, haben Beispiele guter Praxis ge- sammelt und sie in einer Broschüre zu- Liliia und Natalia, zwei ukrainische Lang- gänglich gemacht. Wir wissen aber auch, zeitfreiwillige im Bonner Büro von Service dass eine Broschüre nicht reicht. Viele Civil International, haben beispielsweise Fachkräfte fühlen sich überfordert. Sie ein virtuelles Workcamp entwickelt und brauchen Qualifizierung und Unterstüt- erprobt. Sie sagten uns: zung bei der Anwendung des Erlernten. Schließlich müssen auch Fördermittel- »Wir hatten 11 Teilnehmerinnen und Teil- geber reagieren, ihre Richtlinien flexibler nehmer aus 8 Ländern – aus Spanien, gestalten und digitale Formate explizit zu Russland, der Ukraine, Italien, Deutsch- ihrem Gegenstand machen. Dafür gibt es land, Sri Lanka und der Türkei. Der Kontakt ermutigende Anzeichen. Das Deutsch- untereinander war wirklich sehr eng und Französische Jugendwerk plant eine ei- er ist auch nach dem Ende des Workcamps gene digitale Förderlinie, die Deutsch- nicht abgerissen. Es war schön, einen Ein- Türkische Jugendbrücke hat eine flexible

BBE DOSSIER NR. 8 | 17 Dreber: Beim physischen Austausch auf Sicht fahren

Förderlinie für Kleinstprojekte eingerich- Jenseits der Situation im eigenen Lande tet und auch die Europäische Kommissi- müssen wir unsere Aufmerksamkeit auch on und der Bund möchten dem Digitalen auf unsere internationalen Partner rich- größere Unterstützung zukommen lassen. ten. Aus der Region Suceava in Rumänien Wir arbeiten daran, dass sich all dies zu berichtete uns Katharina Haberkorn vom einer Strategie für eine digitale Interna- Europabüro Schwaben: tionale Jugendarbeit zusammenfügt. Zu- gleich wissen wir, dass digitaler Austausch »Es fehlt dort wirklich an allem. Soziale physische Begegnungen niemals ersetzen, Einrichtungen, die Hausaufgabenbetreu- sondern nur ergänzen kann. ung anbieten und in denen die Kinder eine warme Mahlzeit erhalten, berichten, dass Situation der Träger: zwischen Hoffen und jetzt ganze Familien vor ihrer Tür stünden Bangen und nach Essen fragten. Wie diese Kinder und Jugendlichen wieder in funktionieren- IJAB hat im Frühjahr und Sommer zwei de Strukturen eingefügt werden können, Trägerbefragungen durchgeführt, um die dann auch internationalen Austausch Rückschlüsse zur Situation der Träger zie- möglich machen, ist eine offene Frage.« hen zu können. Die Ergebnisse beider Be- fragungen wurden in Online-Foren disku- Erneut wirft dies die Frage auf, ob nationa- tiert. Zunächst kann festgestellt werden: le Förderstrukturen nicht noch stärker un- Die staatlichen Hilfen waren im Wesent- sere internationalen Partner in den Blick lichen erfolgreich. Bisher hat die Infra- nehmen müssen und nicht nur die Träger struktur der Internationalen Jugendarbeit im eigenen Lande. Diese Frage stellt sich überlebt. Grund, sich zurückzulehnen, ist umso mehr, je mehr wir realisieren, dass dies dennoch nicht, denn die Bedingungen in einer wachsenden Zahl von Ländern, der Träger sind sehr unterschiedlich und auch in Europa, Organisationen der Zivil- bedürfen differenzierter Unterstützungs- gesellschaft mehr und mehr in ihrer Arbeit angebote. Umso länger die Pandemie an- und in ihrem Engagement durch die jewei- dauert, desto größer ist die Gefahr, dass ligen Regierungen eingeschränkt werden. Organisationen nicht überleben. Aber es gibt aktuell noch ein weiteres Pro- Die Hälfte der Organisationen gab an, blem: Internationale Partner außerhalb dass sie keine finanziellen Ausfälle hatten. des Schengen-Raums bekommen derzeit Das sind Träger, die vor allem Mittel aus keine Termine bei deutschen Botschaften, der öffentlichen Förderung beziehen, wie um Visa für Programme der Internatio- dem Kinder- und Jugendplan, Landesmit- nalen Jugendarbeit zu beantragen. Für all tel oder Mittel der Kommunen. Insbeson- diese Hindernisse bedarf es einer breiten dere Organisationen, die viele Individual- politischen Lobbyarbeit. maßnahmen wie Schüleraustausch, Au- pair-Aufenthalte oder auch verschiedene Doch es gibt auch Hoffnungsvolles zu ver- Freiwilligendienste anbieten und deren melden: Im Sommer haben unter strenger Angebot sich auf diesen Bereich fokus- Beachtung der Schutzmaßnahmen wieder siert, geben ein höheres finanzielles Risiko erste Begegnungen stattgefunden. Die an, teilweise bis hin zur existenzbedrohen- individuellen Programmformate sind we- den Lage. Hier ist noch offen, wie weit die niger betroffen als die für Gruppen. Viele Sondermittel der Bundesregierung greifen Träger experimentieren weiter mit digi- können. talen Formaten, und versuchen ein stim-

18 | BBE DOSSIER NR. 8 Dreber: Beim physischen Austausch auf Sicht fahren miges pädagogisches und methodisches AUTORIN Konzept zu entwickeln. Das zeigt uns: Beim physischen Austausch fahren wir auf Marie-Luise Dreber ist Direktorin der Fach- Sicht, beim virtuellen Austausch müssen stelle für Internationale Jugendarbeit der wir noch Vieles neu entwickeln. Bundesrepublik Deutschland e.V. (IJAB).

Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten Weitere Informationen 10/2020 am 12.11.2020. https://ijab.de/

BBE DOSSIER NR. 8 | 19 CHRISTINE MAEVIS / MARLENE KREMER DIE EUROPÄISCHE DIMENSION: JUGENDPOLITIK, EU-JUGENDSTRATEGIE (2019-2027) UND JUGENDBETEILIGUNG

Die Beteiligung junger Menschen an poli- schen Union und der im Rat vereinigten tischen und gesellschaftlichen Prozessen Vertreter der Regierungen der Mitglied- ist ein Thema, das im europäischen Kon- staaten über einen Rahmen für die ju- text in den vergangenen Jahren stetig an gendpolitische Zusammenarbeit in Euro- Bedeutung gewonnen hat und sich in der pa: Die Jugendstrategie der Europäischen jugendpolitischen Zusammenarbeit der Union 2019-2027«1 beschlossen. Für den EU-Mitgliedstaaten an vielen Stellen wi- Zeitraum bis 2027 definiert die Entschlie- derspiegelt. Wir möchten in diesem ein- ßung des Rates Ziele, Arbeitsprinzipien, leitenden Beitrag einen Überblick über Schwerpunkte, Aktionsbereiche und Maß- die Beteiligung junger Menschen am de- nahmen der europäischen jugendpoliti- mokratischen Leben in Europa geben, in- schen Zusammenarbeit. dem wir dieses Thema in einen größeren jugendpolitischen Kontext stellen und dar- Die EU-Jugendstrategie baut auf dem Ver- legen, wie Maßnahmen und Instrumente ständnis auf, dass junge Menschen eine der europäischen Jugendpolitik Partizipa- zukunftsrelevante und gestaltende Rolle tion fördern und stärken möchten. für die EU und ihre Mitgliedstaaten haben. Gleichzeitig wird gesehen, dass sie in der EU-Jugendstrategie (2019-2027) heutigen Zeit komplexen Anforderungen und Unsicherheiten – wie hoher Arbeitslo- Grundlegend formuliert bereits der Vertrag sigkeit trotz guter Bildung, Digitalisierung, über die Arbeitsweise der Europäischen Desinformation und antidemokratischen Union die Partizipation junger Menschen Tendenzen – gegenüberstehen. Die EU-Ju- als ein Ziel der jugendpolitischen Zusam- gendstrategie soll die Jugend und die Ju- menarbeit im Rahmen der Europäischen gendpolitik darin unterstützen, diese He- Union. So heißt es in Art. 165 (2): »Die Tä- rausforderungen positiv zu gestalten. Alle tigkeit der Union hat folgende Ziele: […] jungen Menschen sollen in die Lage ver- verstärkte Beteiligung der Jugendlichen setzt werden, Architekt/-innen ihres eige- am demokratischen Leben in Europa«. nen Lebens zu sein und zu einem positiven Wandel in der Gesellschaft beizutragen. Ein Meilenstein zur Umsetzung dieser vertraglichen Aufforderung bildet die EU- Mit den Handlungsfeldern Beteiligung (En- Jugendstrategie (2019-2027), mit der die gage), Begegnung (Connect), Befähigung EU-Mitgliedstaaten die Eckpunkte ihrer (Empower) formuliert die EU-Jugendstrate- jugendpolitischen Zusammenarbeit fest- legen. Der Rat hat die EU-Jugendstrategie 1 Entschließung über die Jugendstrategie der Euro- päischen Union 2019-2027 (29.11.2018): https://www. am 26. November 2018 unter dem Titel jugendpolitikineuropa.de/downloads/4-20-3999/ »Entschließung des Rates der Europäi- eu_justrat2019_de_rat.pdf

20 | BBE DOSSIER NR. 8 Maevis/Kremer: Die europäische Dimension gie drei Kernbereiche der jugendpolitischen der Entwicklung, der Umsetzung und der Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten. Nachbereitung von sie betreffenden politi- schen Maßnahmen teilzuhaben.« Die europäische Dimension der Jugendbeteiligung Europäische Jugendziele

Im Kernbereich Beteiligung wird die Parti- Ferner bekräftigen die Europäischen Ju- zipation junger Menschen als ein zentraler gendziele (European Youth Goals), die Aspekt der Zusammenarbeit im Jugend- als Anhang zur EU-Jugendstrategie ver- bereich definiert und somit mit einem be- abschiedet wurden, den Stellenwert von sonderen Gewicht ausgekleidet. Hier soll Jugendbeteiligung auch unter jungen mit der EU-Jugendstrategie »eine sinnvolle Menschen selbst. Diese 11 Europäischen gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale, Jugendziele beschäftigen sich mit Themen kulturelle und politische Partizipation jun- und Herausforderungen, die vielen jungen ger Menschen« befördert werden. Zuge- Menschen in Europa wichtig sind. Sie wur- ordnet sind hier Aspekte wie die Stärkung den in einem partizipativen Prozess von einer inklusiven demokratischen Partizipa- Jugendlichen aus ganz Europa gemeinsam tion und einer aktiven Beteiligung an poli- im Dialog mit politischen Verantwort- tischen Gestaltungsprozessen, die Umset- lichen erarbeitet und sollen Politik und zung des neuen EU-Jugenddialogs (vorher Verwaltung auf allen Ebenen als Anregung Strukturierter Dialog) und die Entwicklung dienen, um Politik im Sinne junger Men- von Erfahrungs- und Lerngelegenheiten schen zu gestalten. Damit sind die Europä- für Partizipation. Dabei ist gewünscht, ins- ischen Jugendziele zum einen ein Beispiel besondere auch digitale sowie inklusive für die aktive Einbindung junger Men- Formate der demokratischen Beteiligung schen in politische Prozesse, zum anderen weiterzuentwickeln. können sie als Inspiration für die Beteili- gung junger Menschen dienen, wenn es Das Thema Beteiligung junger Menschen um ihre Verwirklichung geht. Sie bieten stellt aber zugleich auch ein Querschnitts- anschauliche und jugendrelevante Ideen thema dar, das sich als Leitgedanke durch für Projekte, mit denen junge Menschen die gesamte EU-Jugendstrategie zieht. So selbst oder Träger der Jugendarbeit einen wird unter anderem das Ziel vorangestellt, direkten Zugang sowohl zu europäischen junge Menschen zu ermutigen und zu be- Aktivitäten als auch zu (europäischer) Ju- fähigen, sich als aktive und solidarische gendpolitik erhalten. Das Europäische Ju- Bürger/-innen für einen positiven Wandel gendziel Nr. 9 »Räume und Beteiligung für einzusetzen. Zudem stellt die Teilhabe jun- alle« nimmt das Thema Beteiligung sogar ger Menschen eines der Leitprinzipien der eigens auf. europäischen Jugendpolitik und aller im Rahmen der EU-Jugendstrategie durchge- Maßnahmen und Instrumente: Erasmus+ führten Maßnahmen dar: »in Anerkennung JUGEND IN AKTION und Europäisches des Potenzials, dass [sic] alle jungen Men- Solidaritätskorps schen der Gesellschaft zu bieten haben, sollten alle politischen Maßnahmen und Zur Umsetzung der EU-Jugendstrategie Tätigkeiten in Bezug auf junge Menschen benennt diese unterschiedliche Maßnah- ihrem Recht Rechnung tragen, im Wege men und Instrumente, unter anderem die einer substanziellen Teilhabe von jungen EU-Jugendprogramme Erasmus+ JUGEND Menschen und Jugendorganisationen an IN AKTION und Europäisches Solidari-

BBE DOSSIER NR. 8 | 21 Maevis/Kremer: Die europäische Dimension tätskorps. Damit wirkt sich der partizipa- Dialog zwischen Jugendlichen und poli- tive Leitgedanke der EU-Jugendstrategie tisch Verantwortlichen anregen. Dabei soll auch auf die EU-Jugendprogramme aus; der EU-Jugenddialog sicherstellen, dass eine Verbindung, die sich in den legislati- die Positionen und Forderungen junger ven Vorschlägen für die kommende Pro- Menschen zu Themen der europäischen grammgeneration 2021-2027 konkret nie- Jugendpolitik Gehör finden. Im Austausch derschlägt. mit politischen Entscheidungsträger/-in- nen bringen Jugendliche ihre Anliegen vor, So soll die Befähigung junger Menschen die dann von der Politik aufgenommen zur Partizipation in demokratischen Ge- bzw. diskutiert werden. sellschaften zu einem zentralen Ziel der neuen Programmgeneration von Eras- Im EU-Programm Europäisches Solidari- mus+ JUGEND IN AKTION werden. Insbe- tätskorps wird der Partizipationsgedanke sondere der Jugendbereich kann und soll stark mit dem Konzept von Solidarität ver- dazu beitragen, junge Menschen mit den knüpft. Die übergeordneten Ziele des Pro- nötigen Kompetenzen für politische und gramms, die Förderung des Engagements gesellschaftliche Beteiligung und aktive junger Menschen und Organisationen, um Bürgerschaft auszustatten. Auch Europa den sozialen Zusammenhalt, Solidarität soll dabei in den Blick genommen werden, und Demokratie in Europa zu stärken, und europäisches Bewusstsein entwickelt und das besondere Augenmerk auf die Förde- die Beteiligung junger Menschen auf eu- rung der sozialen Inklusion, sollen auch ropäischer Ebene gestärkt werden. Prak- in der kommenden Programmgeneration tisch schlägt sich das vor allem in der Ein- unverändert bleiben. Der Anspruch lautet führung des neuen Formats »Jugendparti- weiterhin, eine zentrale Anlaufstelle für zipationsprojekte« nieder. solidarische Aktivitäten zu bieten und im Einklang mit den Zielen der EU-Jugend- Aber auch schon das laufende Programm strategie junge Menschen dazu anzure- Erasmus+ JUGEND IN AKTION (2014-2020) gen, sich z. B. in Freiwilligenaktivitäten im weist der aktiven Beteiligung junger Men- Ausland und selbstorganisierten Solida- schen sowohl auf der Ebene der Pro- ritätsprojekten in Deutschland als aktive, grammziele als auch der einzelnen Maß- solidarische Bürger/ -innen für einen po- nahmen eine zentrale Rolle zu. So benennt sitiven Wandel der Gesellschaften in ganz das Programmhandbuch 2020 für den Europa einzusetzen. Bereich Jugend die Förderung der Beteili- gung am demokratischen Leben in Europa Die beschriebenen Ansätze und Ziele der als ein spezifisches Ziel des Programms. Beteiligung junger Menschen in den EU- Jugendprogrammen zeigen, dass es nicht Für die Ebene der Maßnahmen verdeutli- die eine Form von Partizipation gibt, son- chen die Ausführungen zu Projekten des dern das Konzept unterschiedliche Ver- EU-Jugenddialogs im Rahmen der Leitak- ständnisse von Beteiligung umfasst. Und tion 3 den Stellenwert der Jugendbeteili- so enthalten auch die EU-Jugendstrategie gung besonders. Diese Projekte sollen die (2019-2027), die Europäischen Jugendziele aktive Beteiligung junger Menschen am und die EU-Jugendprogramme Erasmus+ demokratischen Leben fördern, Diskussio- und Europäisches Solidaritätskorps bisher nen zu den Aktionsbereichen und Themen keine spezifische Definition von Jugend- der EU-Jugendstrategie und den Europäi- beteiligung, sie weisen jedoch in eine be- schen Jugendzielen unterstützen und den stimmte Richtung.

22 | BBE DOSSIER NR. 8 Maevis/Kremer: Die europäische Dimension

Diese nimmt die im September 2020 von Die Jugendbeteiligungsstrategie richtet SALTO Participation & Information Re- sich an Stakeholder, die bei der Unterstüt- source Centre (SALTO PI) veröffentliche zung der Umsetzung der EU-Jugendpro- »Jugendbeteiligungsstrategie - Strategie gramme eine Rolle spielen und möchte zur Förderung von Jugendbeteiligung am dazu beitragen, das volle Potential der demokratischen Leben durch die Pro- Programme Erasmus+ und Europäisches gramme Erasmus+ und Europäisches Solidaritätskorps für Jugendbeteiligung Solidaritätskorps«2 auf. Sie stellt zwei Arten auszuschöpfen. Dazu soll in einem nächs- von Jugendbeteiligung am demokratischen ten Schritt unter anderem ein Handbuch Leben vor, die eng miteinander verbunden zum Thema Jugendbeteiligung für Prak- sind: Beteiligung, um der Jugend eine Stim- tiker/ -innen veröffentlicht werden, um me zur Mitwirkung in Entscheidungen zu auch die konkrete Projektarbeit vor Ort geben und Jugendbeteiligung im Rahmen in diesem Bereich zu unterstützen. Beste- von zivilem Engagement und Aktivismus. hende, praktische Angebote zum Thema Beides soll im Rahmen der europäischen Jugendbeteiligung sind beispielsweise das Jugendpolitik und insbesondere durch die Portal Participation Pool4 (SALTO PI) und EU-Jugendprogramme gefördert werden. die Youth Goals Toolbox5, die sich spezi- Dazu hat die Jugendbeteiligungsstrategie fisch mit den Europäischen Jugendzielen eine Definition von Jugendbeteiligung am befasst. demokratischen Leben erarbeitet, die zum Kontext der Programme passt: »Bei Jugend- Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten beteiligung am demokratischen Leben geht 10/2020 am 12.11.2020. es darum, dass einzelne junge Menschen und Gruppen junger Menschen das Recht, AUTORINNEN die Mittel, den Raum, die Gelegenheit und wenn nötig die Unterstützung haben, ihre Christine Maevis ist Fachreferentin Euro- Ansichten frei zum Ausdruck zu bringen, päische Jugendpolitik im Referat Grund- zur gesellschaftlichen Entscheidungsfin- satzfragen bei JUGEND für Europa. dung in Angelegenheiten, die sie betref- fen, beizutragen und diese zu beeinflussen Marlene Kremer ist Programmreferentin sowie sich aktiv am demokratischen und bei JUGEND für Europa. Dort arbeitet sie bürgerschaftlichen Leben unserer Gemein- zum Thema: Förderung europäischer Ju- schaften zu beteiligen.« 3 gendprojekte.

2 JUGEND für Europa (27.10.2020): Europäische Weitere Informationen Strategie veröffentlicht zur Förderung von Jugend- beteiligung in Erasmus+ JUGEND IN AKTION und https://www.jugendfuereuropa.de/ Europäisches Solidaritätskorps (2021-2027): https:// www.jugendfuereuropa.de/news/10999-europaei- sche-strategie-veroeffentlicht-zur-foerderung-von- jugendbeteiligung-in-erasmus-jugend-in-aktion-und- europaeisches-solidaritaetskorps-2021-2027/ 3 JUGEND für Europa (27.10.2020): Europäische Strate- gie veröffentlicht zur Förderung von Jugendbeteiligung in Erasmus+ JUGEND IN AKTION und Europäisches 4 Participation Pool (SALTO PI): https://participation- Solidaritätskorps (2021-2027) pool.eu/

BBE DOSSIER NR. 8 | 23 JONAS GEBAUER JUNGE PARTIZIPATION DURCH ENGAGEMENT IM EHRENAMT

»Die Freiheit der Meinung setzt voraus, einen Seite, eine Abneigung auf der ande- dass man eine hat.« (H. Heine) ren. Egal ob in der Medienlandschaft oder der Politik selbst: Die Meinungen über die Um als junger Mensch an einer Gesell- jungen Sorgen driften stark auseinander. schaft partizipieren zu können, ist es zum einen wichtig, Möglichkeiten zur Partizipa- Doch auch, wenn sich das öffentliche Bild tion zu erhalten und zum anderen auch ei- der jungen Generation nun gewendet hat, nen eigenständigen Drang zur Teilhabe zu so war es doch auch in vergangener Zeit entwickeln. »Diese jungen Leute«, heißt nicht so schlecht wie dargestellt. Partizipa- es immer, wollen sich gar nicht engagie- tion junger Menschen in Deutschland hat ren, sich einbringen oder mitgestalten. in den vergangenen Jahren täglich stattge- Sie seien unpolitisch, hätten keine Visio- funden, in Jugendparlamenten, Vereinen nen. Und überhaupt: Sie hängen nur an sowie Verbänden in vielfältigen Themen- ihrem Smartphone und laufen in gebück- bereichen. So auch in der Jugendpresse ter Haltung durch die Stadt. Es stimmt, die Deutschland, dem Bundesverband junger Smartphones sind die besten Freunde der Medienmachender in Deutschland. Als jun- heutigen, jungen Generation geworden. ger Medienverband bringen wir monatlich Warum das aber auch Vorteile mit sich viele junge Menschen zusammen – sowohl bringt, davon später mehr. in unterschiedlichen Projekten auf Bundes- ebene als auch in unseren derzeit 14 Lan- Junge Meinungen wollen gehört werden desverbänden. Dort verschaffen wir ihnen einen Zugang zu einer besonderen Form Spätestens seit freitags die Klassenzimmer der Partizipation: dem Journalismus und leer sind, weil »diese jungen Leute« drau- der Medienwelt. Durch Text und Bild, aber ßen auf der Straße sind, um gegen eine auch Ton sowie Video können wir ausdrü- nachlässige Klimapolitik der Bundesregie- cken, was von einer ganzen Gesellschaft re- rung zu demonstrieren und sich für ihre Zu- zipiert wird. Zusätzlich bietet Journalismus kunft einzusetzen, haben die Vorurteile ge- nicht nur die Chance, sich selbst zu äußern, genüber der »jungen Generation« rasch ein sondern auch andere Menschen zu Wort Ende gefunden. Weil ein junges Mädchen kommen zu lassen – was sogar die Haupt- aus Schweden den Anfang machte, mach- aufgabe des Handwerks ist. ten es ihr viele tausende überall auf der Welt nach. Besonders in Deutschland war Partizipation durch Kommunikation in den und ist der Zuspruch der Bewegung enorm. Medien Denn: Die Jugend sorgt sich um Morgen und die Welt, in der wir leben. Die Folge? Auch, wenn der Journalismus in seiner Bewunderung und Unterstützung auf der wohl wesentlichsten Funktion einer ge-

24 | BBE DOSSIER NR. 8 Gebauer: Junge Partizipation durch Engagement im Ehrenamt wissen Objektivität verschrieben ist, Diese Form der Kommunikation schafft so macht sich in der Berichterstattung eine grenzenlose Freiheit, von der wir nicht dennoch ein Unterschied bemerkbar nur persönlich, sondern auch in unserer zwischen den Personen, die einen Text Arbeitswelt erheblich profitieren. Das Jahr verfassen, Themen aufgreifen, auf die 2020 und die Corona-Pandemie haben das Agenda setzen und sie schließlich voran- eindrucksvoll bewiesen. Wer digital nicht treiben. Blickt man in die Redaktionen des auf der Höhe der Zeit ist, hatte immense Landes, so ist die Altersstruktur noch im- Probleme. Ganz weit vorn dabei: Schulen. mer recht hoch. Erst langsam bekommen Durch mangelnde digitale Ausrichtung auch immer häufiger junge Menschen von Lernmaterialien, aber auch schwache eine Möglichkeit, sich einzubringen, sich digitale Ausbildung von Lehrenden waren zu beweisen. Jedenfalls mehr, als nur als junge Menschen auch hier umgehend die »freier Mitarbeiter« bzw. »freie Mitarbei- Leidtragenden. terin« in einem ständig fluktuierenden Berufsfeld. Jugendpresse als Bindeglied zwischen En- gagement, Medienkompetenzbildung und Durch die Arbeit der jungen Medienma- Partizipation chenden in Deutschland schafft die Ju- gendpresse Deutschland vor allem eines: Das Netzwerk der Jugendpresse erreicht Einen immensen Beitrag zur Partizipation, etwa 15.000 Menschen, ermöglicht rund dadurch, dass sie Fläche gibt, insbesonde- 300 Seminare im Jahr und ist angewiesen re für junge Menschen, die gehört werden auf vielfältige, vor allem auch ehrenamtli- müssen, sollen und wollen. Kommunika- che Strukturen. Online-Kommunikation ist tion ist der Schlüssel zur Partizipation in in diesen Abläufen unabdingbar - trennen unserer Gesellschaft. Durch sie können viele Mitglieder, Aktive und Freunde doch wir miteinander interagieren – auditiv, teils erhebliche Distanzen. Egal ob via aber auch visuell. Denn klar ist dabei ei- Mails oder Messenger-Nachrichten – di- nes: Kommunikation findet heute nicht gitale Medien ermöglichen das Vereinsle- mehr nur von einem Gegenüber zum an- ben. Nicht nur bei der Jugendpresse, son- deren statt. Nein, die Wege der Kommu- dern auch bei zahlreichen anderen jungen nikation sind heute vielfältiger denn je ge- Verbänden. worden. Ein notwendiges und inzwischen unabdingbares Hilfsmittel unserer Zeit ist Doch die Verwendung von digitalen Me- das Smartphone, das Fernkommunikation dien setzt insbesondere eines voraus: durch Telefonate ebenso ermöglicht wie Medienkompetenz. Auch in diesem Be- Chats und soziale Netzwerke. Das Smart- reich ist die Jugendpresse als Akteurin phone ist ein Schlüssel, zu unbegrenzten im schulischen Kontext tätig und bietet Möglichkeiten der Information und Be- als einzigartiger Verband ein Angebot für richterstattung, der Verknüpfung und Schülerzeitungen, aber auch für Gruppen Organisation, eben der Kommunikation. zum Medien machen oder eben Medien Es ermöglicht die Zusammenarbeit vieler verstehen. Denn klar ist: Die Digitalisie- Menschen, auch wenn sie sich nicht am rung und damit einhergehende Nutzung selben Ort aufhalten. Das World Wide digitaler Medien – sowohl im schulischen Web hat es möglich gemacht, eine Kom- Kontext als auch privat – bringt erhebliche munikation über weite Strecken hinweg Vorteile mit sich, ist dennoch aber nicht zu ermöglichen – ein Gewinn, gerade für so selbstverständlich und will daher auch junge Menschen. gelernt sein.

BBE DOSSIER NR. 8 | 25 Gebauer: Junge Partizipation durch Engagement im Ehrenamt

Durch das digitale Medienkompetenz- in Polen, in Israel oder auf digitalem Weg projekt zu dem u. a. auch die Mobile mit der Ukraine. Medienakademie gehört, schafft die Ju- gendpresse genau so ein Bildungs- und Der eigene Weg Unterstützungsangebot dort, wo Schulen noch nicht ausreichend Kompetenzen Ein weiteres bedeutendes Projekt und gro- vorweisen können. Junge, ehrenamtlich ßer Bestandteil der Jugendpresse ist das aktive Medieninteressierte lassen sich an Lehr- und Lehrmedium »politikorange«. Ausbildungswochenenden mit didakti- In verschiedenen Redaktionsprojekten schen Methoden zu Teamenden ausbilden zu unterschiedlichen Themen setzen sich und bringen ihre Kompetenzen in einem immer wieder neue Redaktionen zusam- deutschlandweiten Netzwerk bei Einsät- men, betreut von einem festen Projekt- zen vor Ort an Schulen ein. Einsätze, die team, aber in wechselnden redaktionell nur dank ehrenamtlich arbeitender Akti- inhaltlichen Verantwortlichkeiten durch ver ermöglicht werden und zu einer guten variierende Chefredaktionen, Redaktions- Medienkompetenzausbildung im schuli- leitungen und Redakteur*innen. Neben schen Rahmen beitragen. eigenen Projekten und der Entstehung von Online-Beiträgen oder aber einer ei- Auch bei zahlreichen anderen Projekten genen Printausgabe, gehören auch Veran- der Jugendpresse spielen ehrenamtliche staltungsbegleitungen zum Kern der Ar- Helfer*innen eine bedeutende Rolle, ohne beit. So beispielweise die mediale Beglei- die das Verbandsleben nicht ermöglicht tung der JugendPolitikTage, dem größten werden könnte. Bei unseren Großveran- Jugendpolitikevent Deutschlands, durch staltungen wie bspw. der Youth Media das deutschlandweit 450 junge Menschen Convention oder der Preisverleihung des zusammenkommen, um über junge The- Schülerzeitungswettbewerbs unterstützen men zu debattieren und in Austausch ehrenamtlich Aktive tatkräftig und sorgen mit politischen Entscheidungsträgern zu so für das Zustandekommen erfolgrei- kommen. Aufgestellte Forderungen flos- cher Veranstaltungen. Eine wichtige Rolle sen schließlich in die erste gemeinsame spielt dabei die Verknüpfung von ehren- Jugendstrategie der Bundesregierung ein. amtlichen Strukturen und hauptamtlichen Erstmals fand diese die Veranstaltung, ge- Strukturen, die im Bundesbüro als Leitstel- fördert vom Bundesjugendministerium, le die Koordination wesentlich steuern. 2017 statt und wird fortan im Zwei-Jahres- Turnus veranstaltet. Ein besonderes Projekt der jüngsten Ver- gangenheit ist auch die Yalla Media Aka- Der erste Durchlauf dieser JugendPoli- damie, bei der arabischsprachige junge tikTage im Jahr 2017 führte – über Social Menschen gemeinsam mit deutschen Ju- Media Werbung – auch mich schließlich gendlichen Medien machten, Workshops zur Jugendpresse. Durch die Leitung der besuchten, sich dem Berufsfeld Journa- Online-Redaktion als Teil eines insgesamt lismus näherten und oftmals ein Produkt 45-köpfigen Redaktionsteams, lernte ich in deutscher und arabischer Sprache schnell, was junges Engagement in der Ju- entstand. Dadurch entsteht Partizipation gendpresse bedeutet: Vertrauen, Motiva- und Verständnis über die eigene Kultur tion und Unterstützung. Lehren und Ler- hinaus. Ebenso wie bei zahlreichen Inter- nen wird nicht nur innerhalb des Mediums nationalen Begegnungen, bei denen ein politikorange großgeschrieben, sondern ist Austausch vor Ort stattfindet. So zuletzt ein wesentlicher Bestandteil der gesamten

26 | BBE DOSSIER NR. 8 Gebauer: Junge Partizipation durch Engagement im Ehrenamt

Jugendpressephilosophie, die es jungen ne Beteiligung auch der Verband weiter- Menschen stets ermöglicht, sich auszupro- entwickelt wird, ist der Kern der internen bieren und sich zu beweisen. Dabei wer- Philosophie, die neben einer Kultur der den sie aber nie gänzlich allein gelassen, Dankbarkeit für Engagement und Einsatz denn an Unterstützung mangelt es nie. den Kern des Verbandswesens ausmacht.

Diese Kultur der Zusammenarbeit schafft Zu Beginn dieses Beitrags sprach ich von ein Wohlbefinden, welches zum Bleiben den Mobiltelefonverbundenen Digital einlädt. So war es auch bei mir: Ich en- Natives unserer Zeit. Die sich vernetzen, gagierte mich fortan in meinem Landes- lokal, aber auch global, um sich stark zu verband, einem von 14, die das Funda- machen für ihre Interessen. Auch in der ment des Bundesverbandes Jugendpresse Jugendpresse tun das die jungen Men- Deutschland bilden, als Vorstand und lei- schen, die zusammenkommen. Und da- tete weiterhin einige Projekte der politik- rüber hinaus werden sie dazu befähigt, orange. Durch diese Möglichkeiten erhielt anschließend hinaus zu gehen und mit ih- ich zugleich auch die Chance, meine ei- ren Kompetenzen, die sie nebenbei oder gene Entwicklung voranzutreiben. Dieses ganz gezielt erlangten, auch in vielfältigen Entwicklungspotenzial, das durch die Ju- Feldern tätig zu sein und dabei anwenden gendpresse und ihre Aktiven geschaffen und einsetzen können, was sie zuvor ge- wird, verhilft gleichermaßen auch dem lernt oder gelehrt haben. Verband selbst, da er sich so ständig auch wieder intern weiterentwickeln kann. Ex-Bundeskanzler Willy Brandt sagte einst: »Der beste Weg, die Zukunft vor- Die Philosophie – ein Statement für Ent- auszusagen, ist, sie zu gestalten.« Wenn wicklung und Beteiligung ich in die Gegenwart schaue und mei- ne engagierte Generation betrachte, die Besonders herausgestellt wurde bereits nach mehr Partizipation strebt, dann sehe der Charakter des Lernens und Lehrens – ich die Gestalter*innen von morgen – egal voneinander und miteinander. Das Gute ob es um Klima, Demokratiebildung, mehr an dieser offenen, hierarchieflachen Kul- Digitalisierung oder das Überwinden ei- tur ist es, dass auch eingespielte Prozes- ner Krise wie einer weltweiten Pandemie se immer wieder hinterfragt und verän- geht. Als Teil der Jugendpresse Deutsch- dert werden können. Im Netzwerk der land bin ich stolz und froh, ein Teil dieser Jugendpresse Deutschland lehrt nicht nur Generation sein zu können. die erfahrene Person, die weniger erfah- rene, sondern letztere trägt durch ihren Aktualisiert am 23.11.2020. Zuerst er- Lernfortschritt und ihre Fragen eben auch schienen im BBE-Newsletter 17/2019 am dazu bei, dass bereits weiter fortgeschrit- 22.8.2019. tene Personen ihre Arbeits- und Herange- hensweise immer wieder überdenken. AUTOR

Neu denken – das klingt wie eine abgedro- Jonas Gebauer ist ehrenamtlich als ge- schene Parole. Doch auf die Jugendpres- schäftsführender Bundesvorstand der se Deutschland trifft diese Zuschreibung Jugendpresse Deutschland tätig und or- in gewisser Hinsicht zu. Die einladende ganisiert mit dem Lehr- und Lernmedium Kultur, sich selbst entwickeln und entfal- politikorange deutschlandweit Redaktions- ten zu können, während durch die eige- projekte, durch die politische Partizipation

BBE DOSSIER NR. 8 | 27 Gebauer: Junge Partizipation durch Engagement im Ehrenamt junger Menschen durch Medien ermöglicht Weitere Informationen wird. Hauptberuflich ist er bei ZDF Digital Zur Webseite der Jugendpresse Deutsch- tätig und studierte zuvor Politikwissen- land schaften an der Universität Bremen. www.jugendpresse.de

28 | BBE DOSSIER NR. 8 LINDA STEIN EU-JUGENDDIALOG: JUNGE MENSCHEN WIRKSAM BETEILIGEN

Die Europäische Union und die Beteiligung dem EU-Jugenddialog ein Jugendbeteili- von jungen Menschen gungsinstrument geschaffen, das genau das zum Ziel hat. Die Europäische Union steht unter Druck. Neben der Erschütterung durch die Co- Im Jahr 2018 beschloss der Rat der EU rona-Pandemie sieht sich die Union vor eine gemeinsame EU-Jugendstrategie großen Herausforderungen, die tief in ihr für die Jahre 2019-2027. Seitdem bildet Selbstverständnis vordringen und grund- diese Strategie den Rahmen der jugend- sätzliche Fragen aufwerfen. In welcher Eu- politischen Zusammenarbeit in der Euro- ropäischen Union wollen wir leben? Wem päischen Union. Die EU-Jugendstrategie bietet die Union Schutz? Und worauf grün- stellt drei Schwerpunktbereiche in den den ihre Entscheidungen? Das sind nur ei- Mittelpunkt: Beteiligung – Begegnung – nige der Fragen, die sich aufdrängen, blickt Befähigung. Diese Bereiche sollen sek- man auf die aktuellen Entwicklungen und torübergreifend behandelt und mit Hil- das politische Geschehen in der EU. fe verschiedener Instrumente gestärkt werden, sodass sich die Situation junger Auch junge Menschen stellen Fragen wie Menschen verbessert und sich alle jun- diese. Und sie geben Antworten. Sie stellen gen Menschen am demokratischen Le- Forderungen, die sie einbringen wollen und ben der EU beteiligen können. Um den die bei politischen Entscheidungen zum Bereich der Beteiligung junger Menschen Handeln führen müssen. Denn: Es leben zu stärken, stellt die EU-Jugendstrategie nicht nur 142 Millionen Kinder und junge das Jugendbeteiligungsinstrument »EU- Menschen1 in der Europäischen Union. Ihr Jugenddialog« vor. Leben ist direkt von Entscheidungen der EU-Institutionen betroffen. Sie gestalten Im Rahmen des EU-Jugenddialog gibt es in das Zusammenleben in der EU mit. den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene Dialoge zwischen jungen Menschen Um die Forderungen und Antworten jun- und politisch Verantwortlichen. So können ger Menschen bei politischen Entschei- Entscheidungsträger*innen die Anliegen dungen einzubeziehen, hat die EU mit und Forderungen junger Menschen bei ihren politischen und zivilgesellschaftlich 1 Unter Kinder und junge Menschen sind hier Men- schen zwischen dem 0. – 29. Lebensjahr gefasst. Stand relevanten Entscheidungen einbeziehen. ist der 1. Januar 2019. Vgl. Eurostat (2020): »Being Durch die Dialoge haben junge Menschen young in Europe today - executive summary«:https:// die Möglichkeit, ihre Anliegen zu disku- ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index. tieren und in die Politik hineinzutragen. php/Being_young_in_Europe_today__executive_ summary#E2.80.A6_while_its_families_are_develo- Politisch Verantwortliche können jungen ping_and_adapting_to_changes_in_society Menschen zuhören, mit jungen Menschen

BBE DOSSIER NR. 8 | 29 Stein: EU-Jugenddialog: Junge Menschen wirksam beteiligen zusammenarbeiten und ihre Anliegen bei Aktuell läuft die Trio-Ratspräsidentschaft politischen Entscheidungen einbeziehen. von Deutschland, Portugal und Slowenien und damit der 8. Zyklus des EU-Jugenddia- Der EU-Jugenddialog bietet einen nach- logs. Die Europäische Lenkungsgruppe setzt haltigen Prozess der Jugendbeteiligung sich in diesem Zyklus aus Vertreter*innen an. Das bedeutet: Dialoge und Beteili- der Nationalen Jugendringe und gungsprozesse laufen strukturiert ab, Er- Vertreter*innen der Jugendministerien der gebnisse von Jugendbeteiligung werden drei Mitgliedstaaten zusammen. Gemein- gesammelt, gebündelt und in politische sam mit Vertreter*innen des Europäischen Entscheidungsprozesse eingespeist. Aus Jugendforums und der Europäischen Kom- dem Blickwinkel nachhaltiger Beteiligung mission haben sie für diese 18 Monate ei- von jungen Menschen sind diese Aspekte nen Rahmen für Jugendbeteiligung in der EU essentiell und absolut notwendig. Denn gesetzt. Der 8. Zyklus des EU-Jugenddialogs die Versprechen von Beteiligung, bei der trägt den Titel »Europe for YOUth – YOUth de facto keine Ergebnisse erzielt und kei- for Europe. Space for Democracy and Parti- ne Veränderungen zu sehen sind, sind cipation«. Das Fokusthema ist das Europäi- frustrierend. Junge Menschen, die moti- sche Jugendziel #9 »Räume und Beteiligung viert sind, die ihre Zeit, Energie und Ide- für alle«. Im 8. Zyklus des EU-Jugenddialogs en einbringen und am Ende eines Betei- geht es nun überall in der EU darum, zum ligungsprozesses nicht viel mehr als eine Thema »Räume und Beteiligung für alle« in Goodie-Bag mitnehmen können, werden Dialoge zu treten, Probleme und Heraus- durch solch ein falsches Erwartungsma- forderungen zu diskutieren, gemeinsam Lö- nagement demotiviert. sungen zu entwickeln und diese Lösungen in die Tat umzusetzen. So soll das Europäi- Der EU-Jugenddialog hat sich zur Aufgabe sche Jugendziel #9 erreicht werden. gemacht, Beteiligung mit Wirkung zu ge- stalten. Die Beteiligungsprozesse im EU- Das Europäische Jugendziel #9 ist eines Jugenddialog sind in 18-monatige Zyklen von 11 Europäischen Jugendzielen2, die getaktet. Diese Zyklen wiederum sind an von 50.000 jungen Menschen im Rah- die Trio-Ratspräsidentschaften des Rates men des EU-Jugenddialogs (bzw. seines der EU gekoppelt. Während einer Trio- Vorgängers, dem Strukturierten Dialog) Ratspräsidentschaft formen und gestalten erarbeitet und formuliert worden sind. die Mitgliedstaaten des Trios den jeweili- Sie beschreiben die Ziele, die junge Men- gen EU-Jugenddialog-Zyklus mit. Sie finden schen für die Europäische Union sehen sich dafür auf europäischer Ebene in einer und fordern. Die EU-Jugendstrategie, der Europäischen Lenkungsgruppe zusammen, die Europäischen Jugendziele anhängen, die die Parameter und eine inhaltliche Aus- beschreibt sie als Vision junger Menschen, richtung für den EU-Jugenddialog-Zyklus zu deren Verwirklichung die Strategie bei- ihrer Trio-Ratspräsidentschaft vorgibt. Die- tragen soll. Indem der 8. Zyklus des EU- ser Rahmen wird bei der Umsetzung des Jugenddialogs das Erreichen des Europäi- EU-Jugenddialogs in den Mitgliedstaaten schen Jugendziels #9 in den Fokus rückt, berücksichtigt. Durch die Koordination der wird den Forderungen junger Menschen Europäischen Lenkungsgruppe gelingt EU- entsprochen, daran zu arbeiten, »Räume weit ein einheitlicher Beteiligungsprozess, und Beteiligung für alle« zu schaffen. dessen Ergebnisse gesammelt und gebün- 2 Die 11 Europäischen Jugendziele sind auf der Web- delt an politisch Verantwortliche weiterge- site des EU-Jugenddialogs in Deutschland zu finden: geben werden. https://jugenddialog.de/youth-goals/.

30 | BBE DOSSIER NR. 8 Stein: EU-Jugenddialog: Junge Menschen wirksam beteiligen

Der EU-Jugenddialog in Deutschland und politisch Verantwortlichen. Damit sind schon einmal viele Kriterien von wirksamer Der EU-Jugenddialog wird in allen Mitglied- Jugendbeteiligung erfüllt. Jedoch gibt es ein staaten der EU umgesetzt. In Deutschland weiteres Kriterium, das noch ausbaufähig wird er auf allen Ebenen und auf vielen ist: die Wirkung. Durch den EU-Jugenddialog Wegen organisiert. Ob bei bundesweiten haben die Stimmen junger Menschen be- Veranstaltungen, bei regionalen Projekten reits Eingang in Politik gefunden. Ein promi- oder in der Gruppenstunde im Jugend- nentes Beispiel dafür sind die Europäischen verband um die Ecke. Junge Menschen Jugendziele als Teil der EU-Jugendstrategie. können sich auf unterschiedliche Art und Das reicht jedoch nicht. Junge Menschen, Weise beteiligen, politische Forderungen die sich im EU-Jugenddialog beteiligen, wol- formulieren, mit Politiker*innen diskutie- len Wirkung sehen. Ihre Forderungen müs- ren und gemeinsam erarbeitete Lösungen sen von politisch Verantwortlichen ernst umsetzen. Dabei werden sie durch das genommen und umgesetzt werden. Das jump-Team unterstützt3. Die Ergebnisse muss überall passieren: auf lokaler, regiona- verschiedener Beteiligungsformate und ler, nationaler und europäischer Ebene. Der Dialoge werden in Deutschland gesammelt EU-Jugenddialog bietet einen guten Rah- und durch die EU-Jugendvertreter*innen men, muss aber stärker genutzt werden. So auf europäischer Ebene bei den EU- sind junge Menschen, Jugendverbände und Jugendkonferenzen mit politischen demokratische Jugendorganisationen an- Entscheidungsträger*innen diskutiert. So gehalten, sich zu beteiligen. Vor allem aber können die Forderungen junger Menschen sind politisch Verantwortliche angehalten, von überall aus der EU zum Beispiel Ein- jungen Menschen zuzuhören, Dialoge anzu- gang in die jugendpolitischen Schlussfolge- bieten und die Dialogergebnisse dann auch rungen und Entschließungen des Rates der wirklich umzusetzen. Denn nur, wenn junge EU finden und Auswirkungen auf das Han- Menschen ernst genommen werden und deln der Europäischen Kommission haben. Ergebnisse Wirkung entfalten, kann von Durch europaweite Umfragen können jun- wirksamer Jugendbeteiligung die Rede sein. ge Menschen aus Deutschland auch online ihre Forderungen und Ideen einbringen. Der Jugenddialog ist ein Projekt des Deut- Die Möglichkeiten der Beteiligung im EU- schen Bundesjugendrings. Er wird geför- Jugenddialog sind also vielfältig, auf EU- dert vom Bundesministerium für Frauen, Ebene und auch in Deutschland. Doch ist Senioren, Frauen und Jugend und kofinan- die Beteiligung auch wirksam? ziert durch das Programm Erasmus+ der Europäischen Union. EU-Jugenddialog: Junge Menschen wirksam beteiligen Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten 10/2020 am 12.11.2020. Der EU-Jugenddialog ist ein Jugendbeteili- gungsinstrument der Europäischen Union. AUTORIN Er bietet einen Rahmen, in dem strukturiert Anliegen junger Menschen gesammelt und Linda Stein ist Leiterin des Referats Ju- in politische Prozesse eingespeist werden genddialog beim Deutschen Bundesju- können. Er ermöglicht einen Dialog auf gendring. Augenhöhe zwischen jungen Menschen 3 Sämtliche Beteiligungsmöglichkeiten im Jugenddia- Weitere Informationen log sind hier zu finden: https://jugenddialog.de/. www.dbjr.de, www.jugenddialog.de

BBE DOSSIER NR. 8 | 31 FREDERIKE HOFMANN-VAN DE POLL EU-JUGENDSTRATEGIE UND BETEILIGUNG DER JUGEND AM DEMOKRATISCHEN LEBEN

Die Frage, wie sich die Bürger*innen Eu- Die Bedeutung von Jugendbeteiligung in ropas an der politischen Entscheidungs- der EU findung der Europäischen Union (EU) be- teiligen können, beschäftigt die EU schon Die Beteiligung junger Menschen am de- lange. Die Stärkung der Rechte des seit mokratischen Leben hat laut der EU auf 1979 direkt durch die Unionsbürger*innen verschiedenen Ebenen unterschiedliche gewählten Europäischen Parlaments ist Ziele. So stärkt Beteiligung auf der persön- ebenso eine Antwort auf diese Frage wie lichen Ebene u. a. die sozialen Fähigkeiten die Europäische Bürgerinitiative, auf Basis und das Verantwortungsgefühl junger derer die Bürger*innen der EU bewirken Menschen sowie den Respekt gegenüber können, dass sich die Europäische Kom- der Meinung anderer Menschen (Rat der mission mit einem Thema befasst. Beide Europäischen Union 2015). Auf der gesell- Änderungen wurden 2007 im Vertrag von schaftlichen Ebene sind junge Menschen Lissabon festgehalten (Europäische Union »wesentliche Akteure beim Aufbau von 2007). Demokratie, bei der Schaffung friedlicher Narrative, bei der Herstellung des sozialen Nichtsdestotrotz spielt die Realisierung Zusammenhalts und der Förderung euro- von Bürgerbeteiligung in der EU weiter- päischer Werte« (Rat der Europäischen hin eine wichtige Rolle. Sie ist ein wich- Union 2018b). Auf der institutionellen Ebe- tiges Instrument, um das Vertrauen der ne ist Beteiligung in Form des EU-Jugend- Bürger*innen in der EU als Institution zu dialogs ein zentrales Instrument, über das stärken und der wachsenden Euroskep- junge Menschen sich an der Entwicklung sis in Europa zu begegnen. Junge Men- von EU-Politik beteiligen können (Rat der schen haben hier eine Schlüsselrolle inne Europäischen Union 2018a; 2015). (van den Brande 2017, S. 20), indem sie zu einem positiven Wandel in der Gesell- Die jugendpolitische Bedeutung von Parti- schaft beitragen (Rat der Europäischen zipation junger Menschen zeigt sich nicht Union 2018a). Die Beteiligung junger zuletzt auch in der EU-Jugendstrategie, Menschen am demokratischen Leben dem strategischen Rahmen für die ju- Europas ist deshalb eines der Kernele- gendpolitische Zusammenarbeit in der mente europäischer Jugendpolitik und EU (Rat der Europäischen Union 2018a). wurde als eines der Ziele der EU festge- Eines der Leitprinzipien der EU-Jugend- schrieben: »Die Tätigkeit der Union hat strategie ist die Förderung der inklusiven folgende Ziele: […] verstärkte Beteiligung demokratischen Teilhabe. Die EU-Jugend- der Jugendlichen am demokratischen Le- strategie zielt durch die Festlegung ihrer ben in Europa« (Europäische Union 2012, Handlungskompetenzen auf drei jugend- Art. 165(2)). politische Kernbereiche (beteiligen, be-

32 | BBE DOSSIER NR. 8 Hofmann-van de Poll: EU-Jugendstrategie gegnen und befähigen), darauf ab, »dass sie betreffen, einzubeziehen. Außerdem alle jungen Menschen über die notwendi- sollten, bevorzugt auf Basis der Selbst- gen Grundlagen verfügen, um sich an der organisation, Jugendvertretungen einge- Gesellschaft zu beteilige«. Das Prinzip der richtet und entwickelt werden. Mit dem Teilhabe muss darüber hinaus »in allen EU-Jugenddialog und der Förderung von politischen Maßnahmen und Tätigkeiten innovativen und alternativen Formen der in Bezug auf junge Menschen zur Anwen- demokratischen Teilhabe, z. B. durch di- dung kommen« (Rat der Europäischen gitale Demokratieinstrumente, werden Union 2018a). darüber hinaus konkrete Vorschläge für Beteiligungsinstrumente gemacht. In den Kernbereichen begegnen und be- fähigen wird der Bezug zu Partizipation Schließlich wird aktuell unter der deut- insbesondere darüber hergestellt, dass schen EU-Ratspräsidentschaft über Rats- die Aktivitäten und Maßnahmen, die in schlussfolgerungen »zur Förderung des diesen Bereichen durchgeführt werden, demokratischen Bewusstseins und des in ihrer Vorbereitung, Durchführung und demokratischen Engagements junger Evaluation unter Beteiligung junger Men- Menschen in Europa« verhandelt. Die schen stattfinden sollen. Im Kernbereich Ratsschlussfolgerungen sollen Anfang befähigen wird zudem betont, dass junge Dezember vom Jugendministerrat der EU Menschen, um ihr Leben selbst gestalten angenommen werden. Ausgehend von zu können, ein Umfeld brauchen, das be- einem positiven Jugendbild, analog zur reit ist, jungen Menschen wirklich zuzuhö- Jugendstrategie der Bundesregierung, ren. Damit wird auch eine der wesentli- werden wesentliche Gelingens- und Rah- chen Voraussetzungen für ernsthafte Be- menbedingungen für die Gestaltung einer teiligung betont. demokratischen und offenen Gesellschaft diskutiert. Die Teilhabe junger Menschen Besondere Aufmerksamkeit bekommt Ju- an der Gesellschaft an sich und an Ent- gendpartizipation, wie der Name schon scheidungen, die sie selbst betreffen, ha- sagt, im Kernbereich beteiligen. In diesem ben in der Gestaltung einer demokrati- Kernbereich wird die Bedeutung, Betei- schen Gesellschaft eine wesentliche Rolle. ligungsstrategien für junge Menschen zu entwickeln, in zweierlei Hinsicht be- Der EU-Jugenddialog als konkrete Form gründet. Erstens wird betont, dass »jede europäischer jugendpolitischer Beteiligung Entscheidung, die heute getroffen wird, sich auf die derzeitige Generation junger Mit dem EU-Jugenddialog, bis 2019 be- Menschen am längsten auswirken wird«. kannt als Strukturierter Dialog, hat die EU Zweitens haben junge Menschen dadurch, ein konkretes Instrument entwickelt, wie dass sie in politischen Gremien seltener junge Menschen in einem direkten Dialog vertreten sind, im Vergleich zu anderen mit Entscheidungsträger*innen in politi- Altersgruppen weniger Chancen, Einfluss schen Entscheidungsprozesse und die Um- auf Entscheidungsprozesse zu nehmen setzung der EU-Jugendstrategie eingebun- (Rat der Europäischen Union 2018a). Um den werden können (Rat der Europäischen demokratische Teilhabe in Zukunft stärker Union 2018a). Der EU-Jugenddialog, wie zu fördern, schlägt die EU-Jugendstrategie der Strukturierte Dialog auch schon, setzt vor, junge Menschen stärker als zuvor bei sich aus zwei miteinander verbundenen der Entwicklung, Umsetzung und Evalu- Prozessen zusammen. Der eine Prozess be- ierung von politischen Maßnahmen, die steht aus durch das Programm Erasmus+

BBE DOSSIER NR. 8 | 33 Hofmann-van de Poll: EU-Jugendstrategie

JUGEND in Aktion finanzierten Veranstal- unter der Fragestellung Youth in Europe: tungen und Diskussionen, bei denen junge What´s next erarbeitet und beinhalten Menschen mit Entscheidungsträger*innen u. a. Themen wie Gleichberechtigung al- auf lokaler, regionaler und nationaler Ebe- ler Geschlechter, inklusive Gesellschaften, ne über ihre Bedarfe, Anliegen und Forde- psychische Gesundheit und Wohlbefin- rungen diskutieren. Die Ergebnisse dieser den, gute Arbeit für alle und Räume und Diskussionen können von den politischen Beteiligung für alle (vgl. Werkstatt Mit- Entscheidungsträger*innen direkt in ihre Wirkung 2018). Die elf Youth Goals bilden Entscheidungen mit einbezogen werden. eine Vision junger Menschen für Europa Gleichzeitig werden die Ergebnisse auch in und dienen den EU-Mitgliedsstaaten bei den zweiten, europäischen, Prozess einge- der Umsetzung der EU-Jugendstrategie als speist. Inspiration (Rat der Europäischen Union 2018a). Der europäische Prozess besteht aus ei- nem 18-monatigen Zyklus und läuft par- Trotz dieser Erfolge wurde die Ausgestal- allel zu einer Trio-Ratspräsidentschaft. In tung des Strukturierten Dialogs über die einer Trio-Ratspräsidentschaft arbeiten Jahre durchaus kritisch betrachtet (vgl. drei EU-Mitgliedsstaaten zusammen und Friedrich und Hofmann-van de Poll 2019; haben nacheinander den halbjährlichen European Youth Forum 2017). Im Rah- Vorsitz im Rat der EU inne. Für einen EU- men der neuen EU-Jugendstrategie (2019- Jugenddialog-Zyklus werden in einer Eu- 2027) hat das Europäische Jugendforum ropäischen Lenkungsgruppe, zu der auch deshalb konkrete Vorschläge für eine Vertreter*innen der nationalen Jugendrin- Neuausrichtung des EU-Jugenddialogs ge- ge gehören, die Inhalte und der Aufbau des macht (European Youth Forum 2018), die EU-Jugenddialogs festgelegt. Der aktuelle zum Teil von dem Rat der Europäischen 8. Zyklus des EU-Jugenddialogs unter Deut- Union in die Leitlinien für die Steuerung scher, Portugiesischer und Slowenischer des EU-Jugenddialogs übernommen wur- Ratspräsidentschaft geht von Juli 2020 bis den (Rat der Europäischen Union 2019). Dezember 2021 und trägt den Titel Euro- pe for YOUth – YOUth for Europe: Space Dennoch ist auch der EU-Jugenddialog in for Democracy and Participation. Auf drei seiner Ausgestaltung von der jeweiligen EU-Jugendkonferenzen, eine pro Ratsprä- Trio-Ratspräsidentschaft abhängig. So sidentschaft, werden nationale Ergebnisse bestimmte während des vergangenen 7. von EU-Jugendvertreter*innen zusam- Zyklus des EU-Jugenddialogs jede Ratsprä- mengetragen und mit den politisch Ver- sidentschaft ein eigenes Thema, wodurch antwortlichen der EU diskutiert (vgl. Kaya alle sechs Monate ein anderes Thema von und Stein 2020; European Youth Portal). jungen Menschen bearbeitet wurde. Die thematische Kontinuität und inhaltliche Die Ergebnisse der Diskussionen sind als Tiefe, die durch eine langfristige Bear- Forderungen junger Menschen wiederholt beitung im Rahmen einer 18-monatigen in die Entschließungen des Jugendminis- Zyklus eigentlich gewährleistet werden terrates eingeflossen (vgl. Rat der Europä- sollte, war dadurch nur bedingt gegeben. ischen Union 2017; 2020). Besondere Auf- Auch die EU-Jugendkonferenzen dieses merksamkeit haben in den letzten Jahren Zyklus wurden kritisiert, weil sie nur we- dabei die Youth Goals bekommen. Diese nig interaktiv gestaltet waren und sowohl wurden in dem 6. Zyklus des Strukturier- die Austauschmöglichkeiten zwischen ten Dialogs (Juli 2017 – Dezember 2018) EU-Jugendvertreter*innen untereinander

34 | BBE DOSSIER NR. 8 Hofmann-van de Poll: EU-Jugendstrategie als auch der Austausch mit politischen verschiedenen Triopräsidentschaften Entscheidungsträger*innen sich in Gren- ist jedoch festzuhalten, dass die bishe- zen hielt (Kaya und Stein 2020). rigen Verfahrensgrundsätze Spielraum für die Qualität des Dialogs offenlassen. Mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Die Entscheidung der Triopräsidentschaft hat nun der 8. Zyklus des EU-Jugenddialogs Deutschland-Portugal-Slowenien, den angefangen. Unter Corona-Bedingungen EU-Jugenddialog nach dem Thema De- fand Anfang Oktober die EU-Jugendkon- mokratie und Partizipation auszurichten, ferenz als digitale Veranstaltung statt. Zu- kann dazu beitragen, einerseits die Qua- sammen mit dem Bundesministerium für lität des EU-Jugenddialogs als einmaliges Familie, Senioren, Frauen und Jugend lud Jugendbeteiligungsinstrument zu stärken der Deutsche Bundesjugendring rund 300 und anderseits die Bedeutung der Betei- junge Menschen aus Europa ein, über Räu- ligung junger Menschen am demokra- me und Beteiligung für alle (Youth Goal 9) tischen Leben Europas inhaltlich weiter zu diskutieren. Diese Diskussionen mün- auszufüllen und mit neuen Formaten zu deten in sieben Forderungen, die in den festigen. nächsten Monaten von den Jugendlichen weiter diskutiert und bearbeitet werden LITERATURVERZEICHNIS sollen. Zu den Forderungen gehören Mit- entscheidungsprozesse auf allen Ebenen; • Deutscher Bundesjugendring (2020): die von Entscheidungsträger*innen geför- Ergebnisse der EU-Jugendkonferenz an dert werden; passive und aktive Wahl ab Politik übergeben. Online verfügbar unter 16 Jahren; sichere digitale Räume sowie https://www.dbjr.de/artikel/ergebnisse- kritisches Denken als Pflichtfach in Schu- der-eu-jugendkonferenz-an-politik-ueber- len (Deutscher Bundesjugendring 2020). geben/, zuletzt geprüft am 10.11.2020. Einige dieser Forderungen werden in die • Europäische Union (2007): Vertrag von Ratsschlussfolgerungen »zur Förderung Lissabon zur Änderung des Vertrags über des demokratischen Bewusstseins und die Europäische Union und des Vertrags des demokratischen Engagements junger zur Gründung der Europäischen Gemein- Menschen in Europa«, die demnächst im schaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Jugendministerrat der EU verabschiedet Dezember 2007. 2007/C 306/01. In: Amts- werden, einfließen. blatt der Europäischen Union 50 (C 306). Online verfügbar unter https://eur-lex. Ausblick europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?u ri=OJ:C:2007:306:FULL&from=DE, zuletzt Die Beteiligung junger Menschen am de- geprüft am 07.11.2020. mokratischen Leben Europas hat in der • Europäische Union (2012): Vertrag EU einen hohen Stellenwert, der mit den über die Arbeitsweise der Europäischen demnächst zu verabschiedenden Rats- Union. L 112. Online verfügbar unter ht- schlussfolgerungen bekräftigt wird. Der tps://dejure.org/gesetze/AEUV, zuletzt ge- Einsatz des EU-Jugenddialogs und seines prüft am 31.05.2019. Vorgängers, des Strukturierten Dialogs, • European Youth Forum (2017): Propo- zeigt dabei, dass es der EU durchaus ein sal for a new Structured Dialogue. Online Anliegen ist, diesen Stellenwert in der verfügbar unter https://www.youthforum. Praxis umzusetzen. Angesichts der Erfah- org/sites/default/files/publication-pdfs/ rungen mit der unterschiedlichen Ausge- Proposal-for-a-new-Structured-Dialogue. staltung des EU-Jugenddialogs unter den pdf, zuletzt geprüft am 09.11.2020.

BBE DOSSIER NR. 8 | 35 Hofmann-van de Poll: EU-Jugendstrategie

• European Youth Portal: Have your say! 8:456:FULL&from=EN, zuletzt geprüft am EU Youth Dialogue. Online verfügbar unter 09.11.2020. https://europa.eu/youth/EU/have-your- • Rat der Europäischen Union (2018b): say/eu-youth-dialogue_en, zuletzt geprüft Schlussfolgerungen des Rates zur Rolle am 09.11.2020. junger Menschen beim Aufbau einer si- • Friedrich, Patricia; Hofmann-van de cheren, von Zusammenhalt geprägten Poll, Frederike (2019): Partizipation als Mei- und harmonischen Gesellschaft in Euro- nungsabfrage oder Beteiligungsmechanis- pa. 2018/C 195/05. In: Amtsblatt der Eu- mus? Eine Analyse des Strukturierten Dia- ropäischen Union 61 (C 195). Online ver- logs in Deutschland und der Europäischen fügbar unter https://eur-lex.europa.eu/ Union. In: Deutsche Jugend 67 (2), S. 72–79. legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:C:201 • Kaya, Royda; Stein, Linda (2020): Struk- 8:195:FULL&from=DE, zuletzt geprüft am turierter Dialog versus Jugenddialog - was 09.11.2020. hat sich verändert? In: Forum Jugendhilfe • Rat der Europäischen Union (2019): Ent- (3), S. 25–30. schließung des Rates und der im Rat verei- • Rat der Europäischen Union (2015): nigten Vertreter der Mitgliedstaaten zur Entschließung des Rates zur Förderung der Erstellung von Leitlinien für die Steuerung politischen Teilhabe junger Menschen am des EU-Jugenddialogs – EU-Jugendstrategie demokratischen Leben in Europa. 2015/C 2019-2027. 2019/C 189/01. In: Amtsblatt 417/02. In: Amtsblatt der Europäischen der Europäischen Union 62 (C 189). Online Union 58 (C 417). Online verfügbar unter verfügbar unter https://eur-lex.europa.eu/ https://eur-lex.europa.eu/legal-content/ legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:420 DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:42015Y1215(02) 19Y0605(01)&qid=1605007616639&from= &qid=1604950815088&from=DE, zuletzt EN, zuletzt geprüft am 09.11.2020. geprüft am 09.11.2020. • Rat der Europäischen Union (2020): • Rat der Europäischen Union (2017): Entschließung des Rates und der im Rat Entschließung des Rates zum strukturier- vereinigten Vertreter der Regierungen der ten Dialog und zur künftigen Entwicklung Mitgliedstaaten zu den Ergebnissen des des Dialogs mit jungen Menschen im Zu- siebten Konsultationszyklus im Rahmen sammenhang mit politischen Maßnahmen des EU-Jugenddialogs EU-Jugendstrategie für die jugendpolitische Zusammenarbeit 2019-2027. 2020/C 212 I/01. In: Amtsblatt in Europa nach 2018. 2017/C 189/01. In: der Europäischen Union 63 (C212). Online Amtsblatt der Europäischen Union 60 verfügbar unter https://eur-lex.europa. (C189). Online verfügbar unter https:// eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELE eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/ X:42020Y0626(01)&qid=1605005457149& PDF/?uri=OJ:C:2017:189:FULL&from=DE, from=DE, zuletzt geprüft am 09.11.2020. zuletzt geprüft am 09.11.2020. • van den Brande, Luc (2017): Reaching • Rat der Europäischen Union (2018a): out to EU citizens: A new opportunity. Entschließung des Rates und der im Rat »About us, with us, for us«. European vereinigten Vertreter der Regierungen der Union. Luxembourg. Online verfügbar Mitgliedstaaten zu einem Rahmen für die unter https://ec.europa.eu/commission/ jugendpolitische Zusammenarbeit in Eu- sites/beta-political/files/reaching-out-to- ropa: die EU-Jugendstrategie 2019-2027. citizens-report_en.pdf, zuletzt geprüft am 2018/C 456/01. In: Amtsblatt der Euro- 08.11.2020. päischen Union 61 (C 456). Online ver- • Werkstatt MitWirkung (2018): Youth fügbar unter https://eur-lex.europa.eu/ Goals - Europäische Jugendziele. Online legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:C:201 verfügbar unter https://mitwirkung.dbjr.

36 | BBE DOSSIER NR. 8 Hofmann-van de Poll: EU-Jugendstrategie de/prozesse/du-europa-wir/youth-goals- europäische Jugendpolitik am Deutschen europaeische-jugendziele/, zuletzt geprüft Jugendinstitut tätig. Die Arbeitsstelle eu- am 09.11.2020. ropäische Jugendpolitik bearbeitet wis- senschaftlich und politisch relevante Fra- Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten gestellungen und berät jugendpolitische 10/2020 am 12.11.2020. Akteure der Politik und Praxis. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte von Frederike Hof- AUTORIN mann-van de Poll sind (europäische) Ju- gendpolitik, Youth Work, Governance und Dr. Frederike Hofmann-van de Poll ist europäische Jugendberichterstattung. Politikwissenschaftlerin und als wissen- schaftliche Referentin an der Arbeitsstelle Weitere Informationen www.dji.de/aejp

BBE DOSSIER NR. 8 | 37 ÜWEN ERGÜN ENGAGEMENT: VON MITARBEIT ZUR SELBST-ORGANISATION

Junges Engagement Während es in erster Linie darum geht, zu helfen oder etwas beizutragen, hilft Junges Engagement in Deutschland und freiwilliges Engagement z. B. während Europa steigt. Mehr Jugendliche engagie- der Studienzeit auch bei der gesellschaft- ren sich für gemeinnützige Zwecke. Das ge- lichen Integration und der Weiterent- schieht sowohl im ehrenamtlichen Bereich wicklung von individuellen Kompetenzen. als auch bei der späteren Studienwahl Besonders wichtig ist laut der Studie von oder Jobsuche. Laut einer Studie der Uni- Christina Möller und Heike Rundnagel, die versität Tübingen und dem Comenius Ins- bereits im vorigen Newsletter rezensiert titut engagiert sich sogar fast jeder zweite wurde, hierbei auch der Wissenstransfer junge Erwachsene ehrenamtlich. Von de- und die Verbindung zwischen Hochschu- nen, die sich nicht ehrenamtlich engagie- len und Zivilgesellschaft. Da das Studium ren, gibt zumindest die Hälfte an, dass sie oft sehr theoretisch ist, wagt man mit dazu bereit wären. Möller und Rundnagel seinem Engagement einen Blick über den (2019) erwähnen Daten vom Deutschen Rand seiner Bücher. Freiwilligensurvey (FWS) vom Jahr 20141, dessen Ergebnisse zeigen, dass rund 46% Grund für das Engagement ist vielleicht in der Altersgruppe 14-29-Jährigen sich auch die Dringlichkeit einiger gesellschaft- freiwillig engagieren (s. 12). licher Themen. Junge Menschen haben gemerkt, dass für einen Lösungsansatz für Die häufig propagierten Millennial-Kli- aktuelle Krisen wie die Flüchtlings- oder schees besagen, dass junge Leute auf eine Klimakrise scheinbar nicht ohne eigene An- schnelle Karriere und großes Freizeitver- stöße gesorgt wird. Für viele beinhaltet das gnügen fixiert sind. Stattdessen sind sie Engagement auch Spenden. Leider fehlt aber nicht nur an einem Job interessiert, oft die Nähe zu größeren, internationalen der die Rechnungen bezahlt, sondern set- Organisationen, die sich z. B. häufig für zen auch den Sinn ihrer Arbeit sehr hoch Entwicklungshilfe engagieren. Damit geht auf ihre Kriterienliste. oft eine Unsicherheit einher – Wo gehen meine Spendengelder eigentlich hin und 1 Diese Umfrage, die als »wesentliche Grundlage der wie viel davon wird für bürokratische Ab- Sozialberichterstattung zum freiwilligen Engagement« läufe genutzt? Besonders auf lokaler Ebene bezeichnet wird, wird alle fünf Jahre durchgeführt. Auf der Website vom Deutsches Zentrum für Altersfragen kommt dann die Frage auf: Für wen enga- (DZA), die die Studie durchführt, steht aber, dass die giere ich mich überhaupt? Oft hört man in Corona-Krise zu einer Veränderung des Zeitplans in den Nachrichten von Verschwendung von der Publikation des Freiwilligensurveys 2019 geführt. Spendengelder und unkoordinierter bzw. Somit sind die ersten Ergebnisse zum Freiwilligensur- vey 2019 erst Anfang 2021 zu erwarten, der Hauptbe- unnötiger Hilfe, auch das schwächt das richt soll im Sommer 2021 veröffentlicht werden. Vertrauen in etablierte Organisationen.

38 | BBE DOSSIER NR. 8 Ergün: Engagement: Von Mitarbeit zur Selbst-Organisation

Die Bertelsmann Stiftung hat gezeigt, dass Die Motivation und Unterstützung jun- das Engagement von jungen Menschen ger Menschen, ihre eigenen Projekte auf- im Schulalter vor allem auf lokaler Ebene zubauen und durchzuführen, bildet den stattfindet, wie z. B. in Sportvereinen. Kern des Bereichs Engagementförderung. Hierbei gilt, dass mit größerem Gestal- Beispielsweise durch Jugendgipfel werden tungsfreiraum der Jugendlichen auch ihre die Kinder und Jugendlichen über Engage- Identifikation mit der Tätigkeit wächst ment aufgeklärt, dazu motiviert ihre Inte- und sie bereit sind, mehr und schwierige- ressen zu vertreten und eigene Ideen zu re Aufgaben zu übernehmen. Dieses En- entwickeln. gagement endet häufig, wenn die Schule vorbei ist und die Jugendlichen aus ihrem Leider lassen sich persönliche Idealvorstel- vertrauten Umfeld wegziehen. Die Mo- lungen manchmal aufgrund der begrenz- tivation zum Engagement sinkt, wenn es ten finanziellen Mitteln nicht umsetzen. nicht mehr sinnvoll mit aktuellen Lebens- Trotzdem bietet sich mit einer eigenen Or- verhältnissen verknüpft werden kann. Das ganisation die Möglichkeit einer autono- gilt auch besonders mit Hinblick auf die men Arbeitsweise, die man in etablierten verkürzte Schulzeit und das fordernde Ba- Organisationen schlichtweg nicht hat. Die chelor- und Master-Studium. Unabhängigkeit von Dachverbänden oder verschiedenen Vereinen ermöglicht, sich Während viele sich zu Beginn für lokale von festgefahrenen Strukturen zu lösen Zweige von größeren Organisationen enga- und Aspekte neu zu denken. Neben den gieren, geschieht es immer häufiger, dass strukturellen Vorteilen hat man auch die junge Erwachsenen ihre eigene Organisa- Chance zur Selbstverwirklichung und zur tion gründen. Junge Engagierte möchten Weiterentwicklung seiner eigenen Fähig- ihre eigenen Ideen mit einbringen und ihre keiten. Das Gründen einer Organisation konkreten Vorstellungen verwirklichen. Es bietet eine unvergleichliche Berufs- und ist vor allem der Wunsch nach direkten, Lebenserfahrung. Des Weiteren bietet übersichtlichen und schnell umsetzbaren eine eigene Organisation eine Nähe zu Lösungen, der in anderen Organisationen relevanten Themen, die man von Organi- nicht erfüllt worden ist. Diese Motivation sationen mit einem hohen Level von Bü- hat mich auch dazu geführt ,das KRF (Kin- rokratie und Aufgaben-Delegation nicht derRechteForum) zu gründen. kennt. Es ist schön, den Effekt seiner eige- nen Arbeit direkt beobachten zu können. Selbst-Organisation Das Gefühl von Leidenschaft und Begeis- terung für die eigene Arbeit ist nicht zu Als ich nach meinem Engagement bei unterschätzen. Diese Nähe entsteht be- UNICEF das KRF gegründet habe, wollte sonders wenn man sich als Organisation ich vor allem aus klassischen Strukturen nicht auf internationale Hilfe konzentriert, ausbrechen und freier und flexibler in sondern sich lokal engagiert. Eine eigene meiner Arbeitsweise sein. Das KRF ist eine Organisation bietet die Möglichkeit, etwas gemeinnützige Organisation mit Sitz in Einzigartiges zu schaffen und man wird Köln und setzt sich seit 2014 für die Ver- angetrieben von der eigenen Motivation. wirklichung von Kinderrechten ein. Heute unterstützen rund 25 Mitarbeiter diese Aufgewachsen mit sozialen Medien und Vision. Individuelle Hilfe, Förderung von der Schnelllebigkeit des Internets, schaf- Engagement und Lobbyarbeit sind dabei fen es junge Gründer schnell, die Sichtbar- die drei Grundpfeiler unserer Tätigkeit. keit und Popularität ihrer Organisation zu

BBE DOSSIER NR. 8 | 39 Ergün: Engagement: Von Mitarbeit zur Selbst-Organisation vergrößern. Auch wenn größere Organisa- großen und bekannten Namen. Dies er- tionen gelernt haben, sich auf sozialen Me- höht die Sichtbarkeit und Wichtigkeit der dien eine Plattform zu erschaffen, schaffen Spende. Darum ist es häufig notwendig, es junge Engagierte schneller, den Dschun- sich größeren Verbänden anzuschließen. gel aus Apps und Accounts zu ihrem Vor- Es handelt sich beim Umgang mit anderen teil und dem Vorteil der Organisation zu Organisationen in meiner Erfahrung vor nutzen. Während größere Organisationen allem um einen Lernprozess. Ab einem ge- oft hohe Ausgaben für Werbung jeglicher wissen Grad muss man feststellen, dass es Art haben, nutzen junge Leute online An- ohne den Zusammenschluss mit und die gebote, die gratis sind und bleiben dabei Unterstützung von Anderen schlichtweg auch zum großen Teil digital. Neue Medien nicht funktioniert. Trotz des Wunsches helfen auch, die Arbeit in einer immer mo- nach vollständig eigenständiger Arbeit ha- biler werdenden Arbeitswelt zu vereinfa- ben wir selbst nun beschlossen, Teil der chen und Personal zu koordinieren. Mit ei- Arbeiterwohlfahrt (AWO) zu werden. Dies ner modernen Herangehensweise werden eröffnet uns Möglichkeiten mit Bezug auf vor allem auch junge potentielle Engagier- Fördermittel, Netzwerk, Glaubwürdigkeit te oder Spender erreicht. Studien zeigen, und Reputation, die eine kleine Organi- dass 44% aller Spenden von Menschen die sation alleine nicht hat. Schön wäre es, älter als 50 Jahre sind, geleistet werden. wenn sich Förderer die Zeit nähmen, um Das erklärt natürlich auch, weshalb es klas- sich nach anderen Möglichkeiten umzu- sischen Organisation oft am Willen zur In- schauen, statt die Spenden an den nächst- novation mangelt. größeren Namen zuzuteilen.

Das Gründen einer eigenen Organisation Ich möchte anderen jungen Engagierten war und ist für mich eine große Herausfor- mitgeben, dass man oft beharrlich sein derung, die es sich lohnt anzugehen. Man muss. Ich habe zum Beispiel beim BBE auf erfährt eine Freiheit zur Umsetzung, die der Mitgliederversammlung im November man in größeren Organisationen nicht hat, 2018 einen Antrag gestellt, ein neues The- kann seine eigenen Projekte auswählen, menfeld Junges Engagement einzurichten bearbeiten, und auch umgesetzt sehen. und auch sofort für die Themenpaten- schaft kandidiert. Auch wenn es eine Wei- Kooperation und Förderung le gedauert hat, ist der Antrag schlussend- lich bearbeitet und angenommen worden. Trotz der Vorteile, die eine eigene Orga- Man muss konkrete und genaue Vorschlä- nisation mit sich bringt, gibt es auch gute ge liefern und etwas Geduld für deren Gründe, weshalb Verbände und Vereine Umsetzung mitbringen. Auch wenn es zu und größere Organisationen eine wichtige Beginn mehr Arbeit für einen selbst be- Rolle spielen. Zum einen bringen sie über deutet, lohnt es sich, für neue Impulse bei Jahre gesammelte Erfahrung mit sich. größeren Organisationen zu sorgen. Größere Verbände bieten auch oft ein tol- les Netzwerk und man erfährt viel gegen- Oft ist der Altersdurchschnitt in solchen seitige Unterstützung. Sie repräsentieren Organisationen allerdings relativ hoch. außerdem eine Kontrollinstanz und geben Um das zu ändern, habe ich nun auch be- einem einen gewissen Rahmen seiner ei- schlossen, für eine Mitgliedschaft im er- genen Möglichkeiten. Besonders was die weiterten Vorstand der National Coalition Förderung angeht, verlassen sich größere Deutschland (Netzwerk zur Umsetzung Spender und Unterstützer oft auf einen der UN-Kinderrechtskonvention) zu kan-

40 | BBE DOSSIER NR. 8 Ergün: Engagement: Von Mitarbeit zur Selbst-Organisation didieren. Es wäre wünschenswert, dass leistet, bin aber auch der festen Über- mehr junge Menschen sich trauen, Teil zeugung, dass man zur stetigen Weiter- dieser Organisationen zu werden und Mut entwicklung Unterstützung von außen zur Veränderung mitbringen. Auf der an- braucht. deren Seite müssen diese Organisationen auch den Raum für Neues bieten und In- Aktualisiert am 20.11.2020. Zuerst er- novation unterstützen. schienen im BBE-Newsletter 17/2020 am 22.8.2019. Und in Zukunft? AUTOR Sowohl kleine, unabhängige als auch gro- ße, etablierte Organisationen haben ihre Üwen Ergün ist Gründer und Geschäfts- Vor- und Nachteile. Während kleinere Or- führer des KRF KinderRechteForum. Seit ganisationen sich oft lokal engagieren, sind 2014 berät er neben seinen Aufgaben beim größere oft internationaler aufgestellt. KRF Ministerien, Regierungen, Kommunen, Junge Leute engagieren sich oft zuerst sonstige politische Organe und Institutio- auf lokaler Ebene und es ist wichtig, die- nen. Seit 2019 ist er außerdem gemeinsam se Ebene auch in Zukunft zu betonen und mit Elisabeth Kaneza Themenpate für das zu erhalten, um Engagement in Zukunft Themenfeld »Junges Engagement im BBE«. sicherzustellen. Auch in größeren Verbän- den und Organisationen wird junges Enga- Weitere Informationen gement in Zukunft gebraucht werden, um Die Website des KRF: https://kinderrechte- Innovation voranzutreiben und vorwärts forum.org/ zu denken. Während auf der einen Seite Bertelsmann Stiftung: Zivilgesellschaft und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung Junge Engagierte: http://bit.ly/2KPbm7p und Umsetzung der eigenen Ideen natür- Sonderpressespiegel zu Comenius Stu- lich wichtig ist, sollte man trotzdem nicht die: https://comenius.de/wp-content/ vergessen, dass eine zu extreme Verstreu- uploads/2018/06/2018_Sonderpresse- ung und Aufsplittung der Organisationen spiegel_Studie_Engagement_Jung_Evan- potenziell zu einem Mangel an Effektivität gelisch.pdf in der Umsetzung der im Grundsatz doch Christina Möller & Heike Rundnagel: Frei- ähnlichen Ziele führen kann. Ich bin stolz williges Engagement von Studierenden auf die eigenständige Arbeit, die das KRF (Springer Verlag, 2019)

BBE DOSSIER NR. 8 | 41 ANA-MARIA STUTH/ RANZISKA WENDT WAS JUNGE MENSCHEN BRAUCHEN, UM SICH ZU ENGAGIEREN

Ergebnisse und Handlungsempfehlungen ment und Freiwilligendiensten dienen aus dem Programm u_count können.

Viele Vereine klagen: Ihnen fehlt der Nach- Insgesamt diskutierten bei u_count 1.187 wuchs. Aber lässt sich daraus wirklich ab- Jugendliche und junge Erwachsene in 48 leiten, dass Engagement in gemeinnützi- Zukunftswerkstätten und Jugendhearings gen Organisationen für junge Menschen über ihr Verständnis von Engagement und unattraktiv ist? Und das Interesse, sich zu ihre Motive, sich einzusetzen. Sie entwi- engagieren generell sinkt? ckelten Ideen, wie freiwilliges Engage- ment gefördert werden kann und formu- Die Ergebnisse der vorliegenden Befra- lierten Handlungsempfehlungen für Poli- gung zeigen: Junge Menschen wollen sich tik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Die gesellschaftlich einbringen und mitgestal- Teilnehmenden nutzten die Formate aber ten. Was sie dafür brauchen? Informatio- auch zum Erfahrungsaustausch und ließen nen zu den vielfältigen Engagementmög- sich inspirieren und motivieren, selbst ers- lichkeiten sowie die richtigen Rahmenbe- te Schritte im freiwilligen Engagement zu dingungen. Der nachfolgende Beitrag gibt gehen oder innerhalb ihres Engagements Einblicke in junges Engagement und leitet Veränderungen anzustoßen. daraus Handlungsempfehlungen ab: Wie können gemeinnützige Organisationen Die Ergebnisse von u_count die Generationen Y und Z noch besser er- reichen? Junge Menschen wollen sich engagieren und möchten ihr Umfeld und die Gesell- Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung schaft mitgestalten, dies bestätigen die (DKJS) hat im Rahmen des Programms von der DKJS im Rahmen von u_count u_count von Juni bis November 2019 durchgeführten Jugendhearings. Dabei engagierte und nicht engagierte junge wollen sich die Jugendlichen und jungen Menschen im Alter von 15 bis 27 Jahren Erwachsenen für die Themen und Belan- befragt. Im Auftrag des Bundesjugend- ge engagieren, die sie selbst beschäftigen. ministeriums hat sie so erkundet, wel- Hierfür wünschen sie sich Unterstützung, che Rahmenbedingungen junge Men- wie zum Beispiel jugendgerechte Informa- schen für (ihr) freiwilliges Engagement tionen zum Engagement sowie Anerken- brauchen. Damit liegen nun Erkenntnis- nung für das, was sie leisten. Sie möchten se über diese Zielgruppe vor, die bis- außerdem in ihrem Engagement mitbe- her noch nicht systematisch erhoben stimmen und wünschen sich ein besseres wurden und die zur bedarfsgerechten Ansehen für bürgerschaftliches Engage- Ausgestaltung von freiwilligem Engage- ment in unserer Gesellschaft.

42 | BBE DOSSIER NR. 8 Stuth/Wendt: Was junge Menschen brauchen, um sich zu engagieren

¾¾hohe Engagementbereitschaft ¾¾Anerkennung aus dem direkten Umfeld

65,8 % der befragten jungen Menschen Für ihr Engagement wünschen sich die engagieren sich bereits freiwillig. Von den Teilnehmenden mehr Anerkennung, ins- noch nicht Engagierten gaben – nachdem besondere Lob und Zuspruch aus dem ihnen erläutert wurde, was freiwilliges Freundeskreis, von Lehrkräften oder der Engagement im Sinne der u_count-Befra- Familie, aber auch Qualifikationsnachwei- gung bedeutet und welche Möglichkeiten se und Zertifikate als wichtige Bausteine es bietet – 58,9 % an, sich eine solche Tä- für ihren Lebenslauf. Von der Schule wün- tigkeit vorstellen zu können. schen sie sich, dass ihr Engagement als Lernort anerkannt wird und sie deshalb ¾¾fehlende Informationen dafür freigestellt werden.

31,8 % der Teilnehmenden geben an, sich ¾¾junge Menschen wollen im Engage- nicht zu engagieren, weil sie nicht wissen, ment mitbestimmen und mitgestalten welche Stärken sie in ein Engagement ein- bringen können. Öffentliche Informationen Insgesamt scheinen sich viele junge Men- über Möglichkeiten sich freiwillig zu engagie- schen in ihrem Engagement noch nicht ren, erreichen junge Menschen häufig nicht. hinreichend gehört und beteiligt zu füh- Von den nicht engagierten Teilnehmenden len. 56,3 % der Befragten engagieren sich, geben 45,5 % an, dass sie nicht wissen, wie weil sie mitbestimmen und ihr Umfeld und wo sie sich freiwillig engagieren können. mitgestalten wollen. Viele wünschen sich Zu der Frage, was gegen einen Freiwilligen- von Erwachsenen mehr Vertrauen und dienst spricht, sagen 26,0 % ebenfalls, ihnen Kommunikation auf Augenhöhe, und sie fehle Wissen über das Format. Junge Men- wollen echte Entscheidungsspielräume in schen wünschen sich deshalb insbesondere ihrem Engagement. an Schulen mehr Informationen zu freiwilli- gem Engagement und Freiwilligendiensten. ¾¾zwischen Verein und Selbstorganisation Auch soziale Medien, vor allem Instagram und YouTube, bieten Potenziale, um für frei- 51,5 % der befragten Jugendlichen und williges Engagement zu werben. jungen Erwachsenen engagieren sich ganz klassisch – im Verein. Es ist aber eine Ten- ¾¾Ansehen in der Gesellschaft stärken denz zu selbstorganisiertem Engagement zu erkennen: 47,4 % der befragten Teil- Als besonders hemmenden Faktor be- nehmenden engagieren sich in anderen schreiben die Befragten das teilweise ne- Formaten, wie z. B. in Projektgruppen. gative Ansehen von freiwilligem Engage- ment in unserer Gesellschaft. Gerade bei ¾¾großes Interesse an den Engagement- nicht engagierten Gleichaltrigen stoßen feldern Schule, Jugendarbeit und Umwelt- die Teilnehmenden punktuell auf abwei- schutz sende Reaktionen, die sie davon abhalten, sich zu engagieren oder ihr Engagement Die jungen Menschen engagieren sich am öffentlich zu kommunizieren. Deshalb re- liebsten in folgenden Bereichen: Schule, gen die jungen Menschen an, Maßnah- außerschulische Bildungs- und Jugendar- men und Kampagnen durchzuführen, die beit sowie Felder, in denen man andere das Ansehen von freiwilligem Engagement unterstützt, wie etwa bei der Obdachlo- in unserer Gesellschaft stärken. senhilfe. Auch herrscht großes Interesse

BBE DOSSIER NR. 8 | 43 Stuth/Wendt: Was junge Menschen brauchen, um sich zu engagieren am Umweltschutz, vor allem bei den noch Schulen aufbauen und nutzen, um Infor- nicht Engagierten. mationsveranstaltungen zu organisieren, Materialien bereitzustellen oder Projekt- ¾¾Junge Menschen engagieren sich, um tage zum Engagement anzubieten. Lokale anderen zu helfen Engagementinfrastrukturen (wie Freiwil- ligenagenturen, Mehrgenerationshäuser) Die Hauptgründe, warum sich junge Men- könnten als Vermittlungsinstanz zwischen schen engagieren, sind anderen helfen zu Schule und Zivilgesellschaft bei dieser Auf- wollen und Spaß zu haben. gabe unterstützen.

¾¾Freundeskreis ist wichtigster Zugang zu Ein weiteres Feld, auf dem die organisier- Engagement te Zivilgesellschaft junge Menschen errei- chen könnte, ist die offene Jugendarbeit. Über die Hälfte der bereits Engagierten Dabei lohnt es sich für Vereine, sich mit wurde von Freundinnen und Freunden Orten und Angeboten der Freizeitgestal- dazu inspiriert, ein Engagement aufzu- tung wie Jugendclubs und Jugendfreizei- nehmen. Darüber hinaus spielten weitere ten zu vernetzen und dabei nicht enga- persönliche Kontakte aus dem Umfeld wie gierten jungen Menschen Engagement- Lehrkräfte und Familie eine entscheiden- möglichkeiten näherzubringen. de Rolle für den Zugang zum Engagement. Ein weiterer Kooperationspunkt zwischen ¾¾hohe Bereitschaft einen Freiwilligen- Schule, Jugendarbeit und Zivilgesellschaft dienst zu absolvieren könnten Projekte zur Ausarbeitung von Stärken und zum Sichtbarmachen von Die Bereitschaft, einen Freiwilligendienst Kompetenzen sein, die dann im freiwilligen zu absolvieren, ist hoch: Engagement eingesetzt, reflektiert und ausgebaut werden könnten. 56,3 % der jungen Menschen können sich vorstellen, einen Freiwilligendienst aufzu- Damit die Angebote gemeinnütziger nehmen. Dabei wollen sie sich vor allem Organisationen Jugendliche und jun- persönlich weiterentwickeln, anderen hel- ge Erwachsene erreichen, sollten diese fen oder etwas Neues erleben. Gegen ei- prüfen, ob sie jugendgerechte Informa- nen Freiwilligendienst sprechen aus Sicht tionskanäle, insbesondere Social-Media- der Jugendlichen aber attraktivere Alter- Kanäle wie Instagram und YouTube, nut- nativen, wie Studium oder Ausbildung, so- zen können. wie die finanziellen und zeitlich nicht aus- reichend flexiblen Rahmenbedingungen. Wenn gemeinnützige Organisationen jun- ge Menschen gewinnen und binden wol- Handlungsempfehlungen für die len, müssen sie noch mehr Möglichkeiten Nachwuchsgewinnung zur Mitbestimmung anbieten und Parti- zipation ermöglichen. Auch Länder und Die befragten Jugendlichen und jungen Kommunen sollten reflektieren, inwiefern Erwachsenen sehen Schule als zentralen junge Menschen an den politischen Ver- Informationsort, um mehr über freiwil- änderungsprozessen – etwa an der Erar- liges Engagement und Freiwilligendiens- beitung von Engagementstrategien, kom- te zu erfahren. Vereine und Verbände munalen Leitbildern oder Entwicklungs- könnten (intensiver) Kooperationen mit konzepten – beteiligt werden.

44 | BBE DOSSIER NR. 8 Stuth/Wendt: Was junge Menschen brauchen, um sich zu engagieren

Für ihr Engagement wünschen sich die Ju- Den vollständige Ergebnisbericht von u_ gendlichen und jungen Erwachsenen An- count und weitere Informationen finden erkennung aus ihrem direkten Umfeld. Sie auf der Webseite der Deutschen Kin- Persönliches Lob und Zuspruch spielen hier der- und Jugendstiftung. eine besonders wichtige Rolle. Aufgabe der https://www.dkjs.de/u_count/ Organisationen sollte es also sein, ihre Kul- tur der Anerkennung zu stärken. Hier gilt Erschienen im BBE-Newsletter 22/2020 es, Anerkennungsformate anzubieten, die am 5.11.2020. individuell passen und jugendgerecht sind. Dafür bedarf es einer Kultur, in der Dank AUTORINNEN und Wertschätzung zum Engagementalltag gehören. Junge Menschen wünschen sich Ana-Maria Stuth hat Politikwissenschaf- jedoch auch Zertifikate als Nachweis ihrer ten, Romanistik und Psychologie studiert Tätigkeit sowie Erwachsene, die mit ihnen und ist Abteilungsleiterin Programme der reflektieren, was sie in ihrem Engagement Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Sie gelernt haben, um diese Fähigkeiten für verantwortet dort die Themen freiwilliges den späteren Beruf nutzbar zu machen. Engagement, Jugendbeteiligung, Inklusi- on und Entrepreneurship Education. Seit Mit Blick auf die Ressourcen der jungen über 15 Jahren arbeitet sie im Bereich En- Menschen ist den Organisationen folgen- gagementförderung, Jugendengagement des zu empfehlen: Es sollten Angebote für und Freiwilligendienste. das knappe Zeitbudget der Jugendlichen und jungen Erwachsenen entwickelt wer- Franziska Wendt hat einen Masterab- den. Die zu erledigenden Aufgaben sollten schluss in Erziehungswissenschaften und in Aufgabenpakete geteilt werden, die in ist bei der Deutschen Kinder- und Jugend- ein bis zwei Stunden in der Woche erledigt stiftung im Bereich des jungen Engage- werden können. Digitale Tools können ments und der Jugendfreiwilligendienste hierbei entscheidend unterstützen. tätig.

BBE DOSSIER NR. 8 | 45 TEIL II: JUGEND UND ZUKUNFT EUROPAS

CARINA AUTENGRUBER JUGEND UND DIE ZUKUNFT EUROPAS

Die größten Gefahren für unsere nicht ein zweites Mal in diese Falle tappen Demokratien und junge Menschen im Stich lassen, denn Ungleichheiten sind eine der größten Ge- Seit Jahresbeginn dominiert Covid-19 un- fahren für unsere Demokratien. sere Leben und wird dies auch noch in den kommenden Monaten tun. Während Gleichberechtigung als Kompass wir uns alle an eine neue Lebensrealität anpassen mussten, ist das auffallendste Gleichberechtigung ist das Fundament Merkmal an der Pandemie, dass diese – einer nachhaltigen, funktionierenden wie auch bereits vorangegangene Krisen – und progressiven demokratischen Gesell- sich besonders negativ auf vulnerable Per- schaft. Und jetzt, wo die Welt angesichts sonen in unserer Gesellschaft auswirkt. dieser Krise beginnt, sich neu zu formie- Bereits zuvor bestehende Ungleichheiten ren und Regierungen diskutieren, welchen haben sich durch die Pandemie verschärft. Weg sie beschreiten werden, muss Gleich- Als junge Generation mögen wir nicht am berechtigung unser leitender Kompass stärksten von der Gesundheitskrise be- sein. troffen sein, aber ihre Konsequenzen wer- den die Nachteile junger Menschen für die Junge Menschen sind verstärkt von der kommenden Dekaden sein, wenn keine Krise betroffen. Für uns, die junge Genera- entsprechenden Maßnahmen getroffen tion, ist es am wahrscheinlichsten unseren werden. Arbeitsplatz zu verlieren und nicht vom sozialen Schutznetz aufgefangen zu wer- Keine Region in der Welt war vorberei- den. Laut Daten der Internationalen Ar- tet auf diese Pandemie, Europa inklusive. beitsorganisation (ILO) hat einer von sechs Während der Lockdown eine notwendi- jungen Menschen seinen Arbeitsplatz auf- ge Maßnahme war, um Menschenleben grund wirtschaftlicher Konsequenzen im zu retten und unser Gesundheitssystem Zusammenhang mit Covid-19 verloren. nicht zu überlasten, ließ es tausenden Menschen und vor allem junge Menschen Bereits vor der Pandemie befanden sich ohne ein stabiles Einkommen. Was wird junge Menschen in prekären Arbeitsbe- die bevorstehende wirtschaftliche Rezes- dingungen, welche uns jetzt in eine noch sion bringen, wenn nicht in die sozialen vulnerablere Position drängen. Seit 2008 Rechte von Bürgerinnen und Bürgern in- ist Jugendarbeitslosigkeit konsequent vestiert wird? Wozu Austerität und feh- höher; mehr als zweimal so hoch als die lende Solidarität führen können, hat sich allgemeine Arbeitslosenrate in der Euro- in der vorangegangen Finanzkrise gezeigt. päischen Union. Prekäre Arbeitsverträge, Europa und die einzelnen Länder dürfen die oft nicht einmal ein selbstständiges

46 | BBE DOSSIER NR. 8 Autengruber: Jugend und die Zukunft Europas

Überleben gewährleisten, sind eine Re- chen müssen, ob sie ein Dach über dem alität vieler junger Menschen. Mit dieser Kopf haben, bleibt oft kein Platz, um sich neuen Krise werden wir erneut sehen, wie aktiv in der Gesellschaft einzubringen. vor allem die junge Generation ihre Jobs Wenn Ungleichheit regiert, ist unsere De- verliert. Einer von drei jungen Menschen mokratie in Gefahr. ist in Bereichen wie zum Beispiel dem Handel beschäftigt, die am stärksten von Unsere Demokratien brauchen eine den ökonomischen Konsequenzen der Kri- lebendige Zivilgesellschaft se betroffen sind. In der aktuellen Pandemie, in der Sicher- Die prekäre Situation am Arbeitsmarkt heitsmaßnahmen notwendig waren und wirkt sich zudem im Zugang zu sozialen sind, um unsere Bevölkerung zu schützen, Rechten aus, die vermehrt beitragsbasie- spürten wir auch alarmierende Neben- rend aufgebaut sind. Wie können junge wirkungen, die unseren zivilgesellschaftli- Menschen darauf zugreifen, wenn ein Sys- chen Raum betreffen. Einige Regierungen tem von prekären Arbeitsverträgen dies haben die Gesundheitskrise genutzt und nicht zulässt? »Demokratie unter Quarantäne« gestellt. Während Zeichen eines immer kleiner Die Pandemie wirkt sich aber auch auf werdenden öffentlichen Raums bereits Bereiche wie Bildung und Training aus. vor Covid-19 zu erkennen waren, so hat die Bereiche, die wiederum von besonde- Pandemie diesen Trend verstärkt und un- rer Relevanz für junge Menschen sind. sere Zivilgesellschaft stärker unter Druck Schulen und Universitäten waren ge- gesetzt. Die Arbeit von Jugendorganisati- schlossen, Lehrausbildungen und Prak- on, beispielsweise in der Organisation von tika wurden unterbrochen, verschoben Austauschprogrammen, aber auch die Ge- oder fanden online statt. Während ler- staltung von Aktivitäten auf lokaler Ebe- nen auf Distanz Vorteile mit sich bringen ne, ist massiv beeinträchtigt. Bei vielen Ju- kann, so sind wiederum einige Gruppen gendorganisationen basiert die Arbeit auf benachteiligt betroffen. Wie lernt es sich Projekten, die in der aktuellen Krise nicht in einer kleinen Wohnung, wenn die gan- durchgeführt werden können und somit ze Familie zuhause ist? Wer kann am Un- ist die finanzielle Stabilität dieser Organi- terricht teilnehmen, wenn es daheim nur sationen gefährdet. Doch was würde un- (k)einen Computer gibt? Zudem bringt sere Gesellschaft ohne diesen wertvollen ein Ausbildungsabschluss während einer Partizipationsraum bedeuten? Jugendor- Rezession signifikante Konsequenzen für ganisationen und junge Menschen waren das Leben junger Menschen und Karrie- unter den Ersten, die auf die Krise reagiert reaussichten. Schon jetzt steigt die Zahl haben und Freiwillige in ihrer lokalen Um- junger Menschen ohne Obdach. In den gebung mobilisiert haben, um Menschen, kommenden Monaten können Einkom- die Unterstützung benötigt haben, nicht mensverluste die Situation weiterhin ver- im Stich zu lassen. schärfen. Aber für Europa muss Jugendpartizipa- Wo Ungleichheit regiert, gibt es keine tion ein Schlüsselelement sein. Was wir Hoffnung für ein starkes demokratisches von dieser Pandemie und ihrer Wirkung System, welches auf Menschenrechten lernen können, ist, dass eine lebendige und einer lebendigen Zivilgesellschaft auf- Zivilgesellschaft, in der Respekt für Men- baut. Wenn Menschen sich Sorgen ma- schenrechte Realität sind, das Fundament

BBE DOSSIER NR. 8 | 47 Autengruber: Jugend und die Zukunft Europas für eine funktionierende Demokratie sind. größten Plattform von Jugendorganisatio- Der Aufbau nach Covid-19 muss Men- nen und die repräsentative Stimme junger schenrechte in den Vordergrund stellen Menschen in Europa. Als Vorsitzende der und muss unterschiedliche zivilgesell- Organisation bringt sich Carina Autengru- schaftliche Akteure wie Jugendorganisa- ber für die Rechte von jungen Menschen tionen einbeziehen. Gemeinsam können auf europäischer und globaler Ebene ein. wir unsere Demokratien stärken! Carina Autengruber hat an der Universität Wien Internationale Entwicklung und Po- Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten litikwissenschaften studiert. Derzeit lebt 10/2020 am 12.11.2020. sie in Portugal, wo sie an der Nova School of Business and Economics als Summer AUTORIN School Managerin beschäftigt ist.

Carina Autengruber ist Präsidentin des Eu- Weitere Informationen ropäischen Jugendforums, der weltweit https://www.youthforum.org/

48 | BBE DOSSIER NR. 8 MATHIAS ALBERT/ ULRICH SCHNEEKLOTH EUROPA ALS ANKER?

Jugendliche in Deutschland und die EU fehlender Zusammenhalt in Fragen des Umgangs mit Migration sowie auch ak- Welche Rolle spielt die Europäische Uni- tuell bei der Bewältigung der Folgen der on heute für Jugendliche in Deutschland? Corona-Pandemie; Uneinigkeit in Wirt- Wie haben sich ihre Einstellungen bei eu- schafts-, Finanz- und Außenpolitik und ropabezogenen Themen in den letzten Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit in Jahren gewandelt? Ist die EU, sind Europa einigen Mitgliedstaaten; und schließlich und die europäische Integration für Ju- der Brexit. Um das in der EU versinn- gendliche überhaupt ein nennenswertes bildlichte Projekt der europäischen Inte- Thema neben Klimawandel, Pandemie, gration scheint es nicht zum Besten be- oder der Sorge um die eigene Bildung und stellt. Aber gerade der Brexit erinnert in berufliche Zukunft? diesem Zusammenhang auch daran: die Einstellungen zur EU variieren bisweilen Im vorliegenden Beitrag wollen wir diesen stark nach Nationalität, nach Geschlecht, Fragen auf Grundlage der Ergebnisse der nach sozialer Schicht und nach Alter – 18. Shell Jugendstudie nachgehen. Bereits und gerade der Austritt der Vereinigten seit 1953 widmet sich dieses sozialwissen- Königreichs aus der Europäischen Union schaftliche Langzeitprojekt den Entwick- geschah entgegen der überwiegenden lungen bei den Lebenslagen und den ty- Mehrheitsmeinung seiner jüngeren Bür- pischen Lebensentwürfen der jeweiligen gerinnen und Bürger. jungen Generation in Deutschland. Zuletzt haben wir im Frühjahr 2019 im Rahmen Wir nehmen im Folgenden zunächst in der Studie etwas über 2.500 junge Men- den Blick, was Jugendliche mit Europa schen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren verbinden. Dabei interessieren uns ins- auf repräsentativer Basis befragt. besondere auch relevante Unterschiede etwa nach sozialer oder auch siedlungs- Der Schwerpunkt dieses Beitrages liegt strukturell-geographischer Herkunft, nach darauf, zum Thema Jugend und die EU Geschlecht, oder nach sozialem Status. einige längerfristige Entwicklungen in Spezifisch fragen wir dann nach dem Ver- den Blick zu nehmen und die Sichtwei- trauen Jugendlicher in Bezug auf die EU, sen Jugendlicher fachlich einzuordnen. bevor wir hieraus den vorherrschenden Eine solche unvoreingenommene Einord- Grundtypus des bzw. der »vertrauten Eu- nung ist vor allem auch deshalb vonnö- ropäers/in« destillieren, um in diesem Zu- ten, da in den letzten Jahren vielfältige sammenhang mit einigen Überlegungen Krisendiagnosen insbesondere das (me- zur aktuellen Rolle der EU im Einstellungs- diale) Erscheinungsbild der Europäischen gefüge der Jugendlichen in Deutschland Union prägten und auch aktuell prägen: zu schließen.

BBE DOSSIER NR. 8 | 49 Albert/Schneekloth: Europa als Anker?

Freizügigkeit, kulturelle Vielfalt, Frieden, und innere Sicherheit kompensiert wird. Demokratie Deutlich weniger Jugendliche verbinden im Jahre 2019 »Mehr Kriminalität« bzw. Die Shell Jugendstudien haben Jugendliche »Nicht genug Kontrollen an den Grenzen« im Abstand von dreizehn Jahren 2006 und mit der EU als noch im Jahre 2006. 2019 anhand von 13 Begriffen danach be- fragt, was sie mit der EU verbinden. Bemer- Insgesamt positives Bild kenswert ist dabei zunächst, dass es in über einem Jahrzehnt keine Veränderungen auf Die Frage danach, was Jugendliche mit der den ersten fünf Plätzen – oder in deren Rei- EU verbinden, weist auf ein positives Ge- henfolge – sowie auf dem letzten Platz gab. samtbild hin. Diese Diagnose erhärtet sich 2006 wie 2019 verbinden die Jugendlichen, bei der direkten Frage nach dem Bild, wel- mit ebenfalls nur geringen Veränderungen ches die EU bei Jugendlichen hervorruft: in den jeweiligen Prozentzahlen, mit der EU Bei insgesamt 50% der Jugendlichen ist an erster Stelle »Freizügigkeit (reisen, stu- das Bild »sehr positiv« oder »positiv« und dieren, arbeiten)«, gefolgt von »kultureller nur bei 8% »negativ« oder »sehr negativ«. Vielfalt«, »Frieden«, »Demokratie« und Hier lässt sich jedoch eine Reihe bedeut- »Bürokratie«. An letzter Stelle und damit samer Unterschiede beobachten. So spielt nur bei einer Minderheit rangiert, 2006 das Geschlecht für die Einschätzung der EU noch deutlich stärker ausgeprägt als 2019, praktisch keine Rolle. Ausgeprägt sind Un- »Verlust der eigenen Heimatkultur«. terschiede bei einer Differenzierung nach Migrationshintergrund und nach Ost-West: So bedeutsam wie die Stabilität in der so haben etwa 57% der Jugendlichen ohne Rangreihe der Bewertungen sind aber deutsche Staatsbürgerschaft ein sehr posi- auch die Veränderungen: 2006, also vor tives oder positives Bild von der EU, bei den der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise Jugendlichen ohne Migrationshintergrund bzw. der »Eurokrise«, verbanden 47% der sind es 50%. Auch ist das positive Bild in Jugendlichen mit Europa »wirtschaftlichen den westlichen Bundesländern etwas stär- Wohlstand«, aber 56% »Arbeitslosigkeit«. ker ausgeprägt als in den östlichen. 2019 hatten sich diese Bewertungen um- gekehrt: 70% verbanden mit der EU »wirt- Viel mehr als diese leicht unterschiedli- schaftlichen Wohlstand«, aber nur 30% chen Akzentuierungen in der Bewertung »Arbeitslosigkeit«. Gleichzeitig verbanden der EU fallen jedoch die Unterschiede 54% die EU im Jahre 2019 mit »sozialer Ab- nach Siedlungsform und besonders nach sicherung« (nach 33% in 2006). Insgesamt sozialer Herkunft ins Auge: während 54% lässt sich hier im Verlaufe der Zeit eine der Jugendlichen aus den Kernen städti- deutlich positivere Bewertung Europas scher Ballungsgebiete ein sehr positives durch die junge Generation beobachten. oder positives Bild von der EU haben, ist Als »Grundleistung« werden Freizügigkeit, dies bei nur 36% der Jugendlichen aus kulturelle Vielfalt und Frieden wertge- dem ländlichen Raum der Fall. Die stärks- schätzt, daneben steigt das Ansehen der ten Unterschiede zeigen sich jedoch bei ei- EU in Bezug auf ihre wirtschaftlichen und ner Differenzierung nach sozialer Schicht: sozialen Funktionen. Vor allem bemer- Fast uneingeschränkt gilt: je höher die so- kenswert erscheint dabei jedoch auch, ziale Schicht, umso positiver das Bild der dass diese zunehmend positive Einschät- Europäischen Union. So haben etwa 70% zung nicht etwa durch negativere Assozi- der Jugendlichen aus der oberen sozialen ationen etwa in den Bereichen Migration Schicht ein sehr oder ziemlich positives

50 | BBE DOSSIER NR. 8 Albert/Schneekloth: Europa als Anker?

Bild, aber nur 31% aus der unteren sozia- Corona-Pandemie in Deutschland, Europa len Schicht. und in der ganzen Welt auch für Jugendli- che mit sich bringt, dürften auch diesbe- Bemerkenswert hinsichtlich dieser Unter- züglich nicht ohne Folgen bleiben. Sicher schiede ist, dass sie in weiten Teilen ver- erscheint dabei jedoch, dass ein mögli- schwinden, wenn man die Jugendlichen cher Wandel eng damit zusammenhängen etwa danach fragt, ob sich die Europäi- wird, inwieweit sich die EU in den Augen sche Union zu einem gemeinsamen Staat der Jugendlichen in den nächsten Jahren zusammenschließen sollte (dies lehnt die als relevanter und erfolgreicher Akteur in überwiegende Mehrzahl ab). Das, was Ju- den für Jugendliche bedeutsamen gesell- gendliche mit der Europäischen Union ver- schaftlichen Zukunftsfragen positionie- binden, spiegelt insofern kaum grundsätzli- ren kann: dies betrifft auf der einen Seite che Einstellungen für ein gesamtstaatliches Maßnahmen gegen den Klimawandel, auf Integrationsprojekt wider. Dieses Projekt der anderen Seite die Rolle der EU bei der erscheint weniger als einheitsstaatliches Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen Ziel, sondern vielmehr als vorausgesetzter der globalen Pandemie, mit ihren erwart- Rahmen für Möglichkeiten der individuel- baren unmittelbaren Auswirkungen für len Entfaltung: in diesem Sinne deuten die die Chancen auf Ausbildungsplätze und angesprochenen Unterschiede vor allem den Berufseinstieg auch in Deutschland. darauf hin, dass es je nach Bildungsstatus und Wohnort deutlich unterschiedliche Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten Möglichkeiten gibt, die individuellen Per- 10/2020 am 12.11.2020. spektiven, welche etwa die hoch wertge- schätzte Freizügigkeit bietet, für sich selber AUTOREN in der Praxis auch zu nutzen. Prof. Dr. Mathias Albert ist seit 2001 Pro- »Vertraute« Europäer/innen fessor für Politikwissenschaft an der Fa- kultät für Soziologie der Universität Biele- Es herrscht bei der weit überwiegenden feld. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland sowohl verschiedene Bereiche der inter- keine »Europa-Euphorie«, aber eine hohe nationalen Politik als auch die Jugend- Wertschätzung für das, was einem die Eu- forschung. Prof. Albert ist als Leiter des ropäische Union ermöglicht. Etwas über- Autorenteams für die Shell Jugendstudie spitzt ausgedrückt: Jugendlichen schätzen verantwortlich. die EU eher dafür, was sie bislang geleistet hat, und weniger dafür, was sie noch wer- Ulrich Schneekloth ist Sozialwissenschaft- den könnte. Jugendliche in Deutschland ler und ist bei Kantar Public Senior Direktor erscheinen in diesem Sinnen gegenwärtig und Leiter des Forschungsbereichs »Fami- als eine Art »vertraute Europäer/innen«, lie, Bildung, Bürgergesellschaft«. Er leitet denen durchaus etwas an der Bewahrung das Kantar Public-Team für die Jugend- des Erreichten liegt, ohne dass allerdings studie und forscht zu Lebenslagen, Fami- von ihnen zuletzt ein größerer Impetus lie, Kindheit, Generationenbeziehungen, für eine weitere Integration ausgegangen und Methoden der empirischen Sozialfor- wäre. Dabei lässt sich nicht voraussagen, schung. inwieweit sich diese Einstellung in Zukunft möglicherweise wandeln wird. Die tief- Weitere Informationen https://www.shell. greifenden Änderungen, die die aktuelle de/ueber-uns/shell-jugendstudie.html

BBE DOSSIER NR. 8 | 51 ANA-MARIA STUTH/ FRAUKE LANGHORST/ FRANZISKA WENDT MAL EBEN KURZ DIE WELT RETTEN? ERKENNTNISSE AUS DEN PROGRAMMEN DER DEUTSCHEN KINDER- UND JUGEND- STIFTUNG ZUM ENGAGEMENT JUNGER MENSCHEN

Gefühlt wurde noch nie so viel über (frei- gibt, in denen es einer besonderen Beglei- williges) Engagement junger Menschen tung im Engagement bedarf: der ländliche gesprochen, wie im letzten halben Jahr. und der digitale Raum. Im Folgenden wer- Fridays for Future zeigen: Jugendliche den die wesentlichen Erkenntnisse zum haben eine Meinung, wollen Verantwor- freiwilligen Engagement junger Menschen tung übernehmen und ihre Zukunft aktiv aus diesen und anderen Programmen der mitgestalten. Die Demonstrationen sind DKJS vorgestellt. gleichermaßen Protestbewegung und En- gagementort, denn sie müssen organisiert Keine Zeit! Das bringt doch eh nix! Warum und koordiniert werden. Sie scheinen die ich? − Jugendliche geben Aufschluss hohe Engagementbereitschaft junger Menschen zu bestätigen. Fridays for Fu- In den letzten Monaten hat die DKJS ers- ture zeigen jedoch nur eine von vielen Fa- te Zukunftswerkstätten1 im Rahmen des cetten jungen Engagements. Programms u_count durchgeführt. In diesem Rahmen haben sich ca. 250 junge Trotz der hohen Engagementbereitschaft, Menschen zwischen 15 und 27 mit ihrem ist nur etwa die Hälfte auch tatsächlich Verständnis von freiwilligem Engagement freiwillig tätig. Die Gründe dafür sind viel- sowie mit ihren Erwartungen daran aus- fältig: Engagement ist stark von sozio-öko- einandergesetzt und Wünsche an Engage- nomischen und kulturellen Merkmalen mentförderung geäußert. abhängig. Nicht alle Jugendlichen kennen Möglichkeiten, sich einzubringen bzw. be- Was ist Engagement für junge Menschen? klagen die ungünstigen Rahmenbedingun- gen seitens Schule, gemeinnütziger Orga- Das Verständnis von Engagement ist bei nisationen oder Politik und Verwaltung. den, an den Zukunftswerkstätten teilneh- Um herauszufinden, was junge Menschen menden, Jugendlichen sehr unterschied- für Erwartungen an ihr Engagement haben, lich: »Was ist Engagement? Ist das etwas, befragt die Deutsche Kinder- und Jugend- wofür man Geld bekommt oder nicht?«; stiftung (DKJS) im Programm »u_count - »Ich weiß aber nichts zu Engagement«; gemeinsam Gesellschaft gestalten« junge Menschen zu ihren Vorstellungen, Wün- 1 Die Veranstaltungen finden bundesweit in städti- schen und ländlichen Regionen statt, beispielsweise schen und Erwartungen an freiwilliges En- in Hamburg und Berlin sowie in Torgau (Sachsen), gagement. Dabei finden auch die Jugendli- Altenburg (Thüringen), Mölln (Schleswig-Holstein) und chen Gehör, die sich (noch) nicht engagie- Oberviechtach (Bayern) . Die Zukunftswerkstätte wer- ren. Andere Programme der DKJS – »Think den in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern durchge- führt, z. B. Schulen, Tanz- und Musikvereine, Vereine Big«, »jugend.beteiligen.jetzt« und »Stark zur Förderung interkulturellen Jugendaustausches, im Land« - zeigen, dass es zwei »Räume« Feriencamps etc.

52 | BBE DOSSIER NR. 8 Stuth/Langhorst/Wendt: Mal eben kurz die Welt retten? fragten sie oder »Ich weiß nicht, ob das lich helfen?« Die jungen Menschen fühlen auch als Engagement zählt, aber im Fuß- sich verantwortlich dafür ihren Beitrag zu ball bin ich manchmal Schiedsrichter.«, leisten: »Es nimmt einen persönlich mit, »Ist das Leiten eines Motocross-Vereins wenn man sieht, dass es einem selbst gut ehrenamtliches Engagement?« Einige Teil- geht und anderen nicht.«; »Es ist wichtig nehmende verstehen das Mitmachen als in vielen Bereichen die Mängel aufzuzei- freiwilliges Engagement: Ausüben von gen, damit sie behoben werden können. Sportarten, Mitwirken in einer Musik- Damit gestaltet man die Gesellschaft.« gruppe. Spannend ist auch, dass die Mehrheit der Andere Jugendliche haben hingegen ein Jugendlichen neben Spaß auch anderen sehr klares Konzept vom freiwilligem En- helfen als einen wichtigen Grund für ihr gagement: »Anderen Menschen helfen ist (potenzielles) Engagement angegeben hat. soziales Engagement«; »Projekte mit an- Mitbestimmung wird ebenfalls als Motiva- deren für andere entwickeln und durch- tor angesehen: »Wir sind die Erwachsenen zuführen ist Engagement«; »Vertreten der von morgen/ der Zukunft. Viele Entschei- eigenen Meinung und Interessen in der dungen betreffen uns, deswegen wollen Freizeit«; »Wenn man sich in seiner Frei- wir auch Mitspracherecht.« zeit mit gesellschaftlichen Problemen be- schäftigt und über seine Verpflichtungen Die Themen, die junge Menschen bewe- hinausgeht« oder »Engagement ist, wenn gen oder für die sie sich engagieren, sind man der Trainer ist und nicht das normale so vielfältig, wie die Engagementland- Hobby!«, »Für mich ist Engagement nicht schaft selbst - von Sport über Feuerwehr nur in der Schule [nicht nur Beteiligung an hin zu Kultur und Sozialem sind auch alle schulinternen Projekten], sondern man gängigen Themen im Engagement der Ju- sollte dann auch außerhalb der Schule ak- gendlichen wiederzufinden. Das Thema tiv sein«. Umweltschutz sticht jedoch hervor. Es wird in den meisten Zukunftswerkstätten Das sozialwissenschaftliche Konstrukt des Programms genannt, was sicherlich »freiwilliges«, »bürgerschaftliches Enga- nicht zuletzt auf die starke mediale Prä- gement« ist jungen Menschen, auch de- senz der Fridays for Future und des Kli- nen, die engagiert sind, selten bekannt. mawandels zurückzuführen ist. Aber auch Sie trennen nicht dezidiert zwischen nach- soziale Themen, Menschenrechte und barschaftlicher Hilfe, freiwilligem Engage- Diskriminierung sowie Mobilität spielen ment und Partizipation oder Protest. Viel- immer wieder eine Rolle. Jugendliche im leicht ist die Anregung des letzten Enga- ländlichen Raum bzw. geflüchtete Teilneh- gementberichtes sinnvoll, den Begriff auf mende beschäftigten sich hingegen vor den Prüfstand zu stellen. allem mit sozialen Themen oder aber mit Kultur und Musik, Sport oder Unfall- und Warum engagieren sich junge Menschen Rettungsdiensten. (nicht)? Die Gründe für Nicht-Engagement sind Unabhängig davon, ob sie sich schon en- vielfältig: fehlende Information, keine Zeit gagieren oder nicht, beschäftigt die Teil- wegen der Ganztagsschule, die weiten nehmenden von u_count die Frage, wie Wege und der fehlende öffentliche Nah- sie etwas verändern können: »Wie kann verkehr, ein Teilnehmer sagt aber auch ich denn als Jugendlicher anderen wirk- »ich bin einfach faul«. Andere wiederum

BBE DOSSIER NR. 8 | 53 Stuth/Langhorst/Wendt: Mal eben kurz die Welt retten? haben den Eindruck, dass sie nicht gehört ten kennen, bemängeln sie, dass Enga- werden oder sagen »man kann nichts be- gement bei einem Teil der Gesellschaft wirken«. Sie würden sich gerne politisch nicht bekannt ist: »Ich musste meinen engagieren, sagen aber, dass es keine Par- Großeltern erstmal erklären, was ein tei gibt, die sie überzeugt. Ein Teilnehmen- Freiwilligendienst ist. Das muss in der der sagt »Ich finde, dass wir in unserem gesamten Gesellschaft bekannter wer- Alter nicht viele Möglichkeiten haben uns den.« zu engagieren, vor allem in der Politik.« Überraschend ist, wie stark die Jugendli- Es bestätigt sich, dass freiwilliges Engage- chen sich wünschen, dass Engagementthe- ment vom sozio-ökonomischen und kultu- men und -bereiche stärker im öffentlichen rellen Status abhängt. Ein Beispiel ist die Raum sichtbar sind, damit sie sich über Gruppe junger Geflüchteten, die an einer Angebote besser informieren können. Es der Werkstätten teilnahmen. Für sie spielt solle mehr »Werbung« für Engagement das Thema Engagement bisher noch keine geben und auch die Schule solle vermehrt große Rolle. Andere existenzielle Fragen: über Engagementbereiche informieren. der Aufenthaltsstatus, die angespannte Sinnvoll wäre es ihrer Meinung nach, re- Wohnungsmarktsituation oder ihre be- gelmäßig Expertinnen und Experten aus rufliche Zukunft stehen im Vordergrund. verschiedenen Institutionen (in die Schu- Aber auch sie möchten (mehr) Mitsprache le) einzuladen, die ihr Feld und ihre Tätig- in Bezug auf die eigene Lebenswelt haben, keitsbereiche vorstellen. Auch Aushänge z. B. möchten sie noch mehr ihrer eigenen und Informationsmaterial in Schulen oder Ideen in die Gestaltung ihrer Einrichtung Jugendzentren könnten Zugänge zu Enga- und ihrer Freizeit einbringen. Auch ist ihr gement bekannter machen. Interesse anderen zu helfen sehr groß, zurzeit sind sie jedoch vor allem Nutznie- Es gibt den Wunsch nach zentralen Stel- ßer des ehrenamtlichen Engagements. len, die koordinieren und vernetzen oder nach einer App. Infrastrukturen des frei- Wie könnte das Engagement junger Men- willigen Engagements – Freiwilligenagen- schen noch stärker unterstützt werden? turen, Bürgerstiftungen etc. – scheinen Sie geben uns Hinweise nicht bekannt zu sein.

Die Jugendlichen haben unterschiedliche ¾¾Anerkennung und Wertschätzung des Wünsche: mehr Information, mehr Aner- Engagements in Schulen und bei (künfti- kennung und mehr Zeit. Sie wünschen sich gen) Arbeitgebenden. Akzeptanz dafür, aber auch Unterstützung, wenn sie nicht dass dieses auch mal in der Schul-/Ar- allein wissen, wie sie Probleme angehen beitszeit liegt: Nicht jedes Engagement können: wird anerkannt. Demonstrationen bei Fridays for Future gelten als Fehlstun- ¾¾Viel mehr öffentliche Informationen den. Das Engagement in einer Trom- über Möglichkeiten des freiwilligen melgruppe wird als »Spaß« abgetan Engagements: Jugendlichen, die sich oder die Gruppe wird despektierlich noch nicht engagieren, mangelt es oft- »die, die Krach machen« bezeichnet. mals an der Information: »Ich wüsste gar nicht, wo ich hingehen sollte, wenn Jugendliche wünschen sich, dass ihr Enga- ich wo freiwillig arbeiten will…«. Aber gement mehr Akzeptanz und Wertschät- auch wenn sie Engagementmöglichkei- zung erfährt. Die Schule solle mit einem

54 | BBE DOSSIER NR. 8 Stuth/Langhorst/Wendt: Mal eben kurz die Welt retten?

Attest die Fehlzeiten aufgrund von gesell- Wie ist es da möglich, junge Menschen schaftlichem Engagement anerkennen. dazu anzuregen, ihre Gemeinde aktiv mit- Auch sollten alle Arbeitgeber Ehrenamts- zugestalten? Wie sieht eine kinder- und ju- tage anbieten. gendgerechte Kommune überhaupt aus? Die DKJS macht die Erfahrung, dass dort Sie wünschen sich aber auch ein besseres wo Ideen der Kinder und Jugendlichen mit Image des Engagements: »…nicht, dass alle Geld gefördert und durch fachliche Beglei- denken, ich mache das nur, weil ich keine tung unterstützt werden, sie sich gerne Freunde habe oder nichts Besseres zu tun einbringen und ihre Nachbarschaft mit- habe…« oder »Es wird so hingestellt, als prägen. So übernehmen beispielsweise ob man naiv/ dumm wäre, wenn man sich Jugendhilfeträger gemeinsam mit jungen für andere engagiert und die eigene Zeit Menschen die Gestaltung von Aktionsflä- dabei verschwendet.« Die ausgeprägte chen oder Jugendräumen und beziehen Sorge vor dem negativen Bild des Enga- in ihre Projekte sowohl die Nachbarschaft gements ist überraschend und vielleicht als auch die lokale Wirtschaft ein. Die Er- auch einer der Hinderungsgründe für, die- fahrung, selbst etwas in ihrer Umgebung jenigen, die sich noch nicht engagieren. zu verändern, stärkt das Selbstbewusst- Jugendliche schätzen es zudem, für ihr sein der Jugendlichen und eröffnet ihnen Engagement Anerkennung zu erhalten: neue Freiräume. Jugendliche sagen: »Je- durch Zertifikate, Berichterstattungen in der konnte seine eigenen Ideen einbrin- der Presse, Erwähnung in der Schülerzei- gen.« oder »Wir haben uns wichtig gefühlt tung, gesellschaftliche Vergünstigungen und waren stolz auf die erworbene Sum- bei Freizeitangeboten etc. me von Spenden.«

Insgesamt scheinen junge Menschen sich Digitales Engagement und digitale Beteili- noch nicht hinreichend gehört und betei- gung - Engagement der Zukunft? ligt zu fühlen. Die meisten Teilnehmenden waren dankbar, dass sie im Programm u_ Fast alle Jugendlichen sind heute online count gefragt wurden und ihre Meinungen unterwegs, digitale Tools sind aus ihrem einbringen konnten. Ähnliche Erfahrun- Alltag nicht mehr wegzudenken. Nutzen gen macht die DKJS in ländlichen Räumen sie diese Tools auch für ihr Engagement mit dem Programm Stark im Land. und ihre gesellschaftliche und politische Teilhabe? Im Rahmen der DKJS Program- Herausforderung ländlicher Raum me gibt es spannende Beispiele für solche Einsätze: Im ländlichen Raum gestalten sich Enga- gement und Beteiligung besonders her- ¾¾Think Big hat z. B. das Handicap-Le- ausfordernd. Schwindende Angebote im xikon gefördert. Zwei Jugendliche Freizeitbereich, lange Schulwege oder haben dieses als Website gegründet eine rückläufige Zahl von Gleichaltrigen und bespielen intensiv YouTube, Face- in der Nachbarschaft sind nur einige der book und Twitter. Sie möchten über spürbaren Merkmale ländlicher Regionen. Behinderungen aufklären und z. B. Die Jugendlichen beklagen, dass sie durch Teilnehmende für Runde Tische zur fehlende Freizeitangebote, Jugendclubs Selbstbestimmung von Menschen mit und öffentliche Verkehrsmittel keinen Zu- Behinderungen erreichen. gang zu Freizeit, Engagement und Mitge- ¾¾Das Programm jugend.beteiligen. jetzt staltung haben. qualifiziert Fachkräfte in Kommunen

BBE DOSSIER NR. 8 | 55 Stuth/Langhorst/Wendt: Mal eben kurz die Welt retten?

und Jugendhilfe, etwa in Berlin-Lich- fizite, sondern mit ihren Stärken wahr- tenberg. Dort waren Versuche, ein genommen werden. In Programmen und Jugendparlament einzurichten, wie- Projekten macht die DKJS ihnen Mut, ihr derholt gescheitert. Mit der digital ge- Leben couragiert in eigene Hände zu neh- stützten Methode Barcamp konnten men und stößt Veränderungsprozesse im jedoch Jugendliche in den Dialog mit Bildungsalltag an: in Kindergärten und der Bezirkspolitik eingebunden wer- Schulen, beim Übergang in den Beruf, in den. der Engagement-, Familien- oder Jugend- politik. www.dkjs.de Die Erfahrung zeigt, dass es zwei unter- schiedliche Gruppen von Jugendlichen Erschienen im BBE-Newsletter 17/2019 gibt: So weiß die eine Gruppe genau, wie am 22.8.2019. sie digitale Werkzeuge für ihr Engagement einsetzen kann und sucht punktuelle Un- AUTORINNEN terstützung im Sinne von Spezialwissen, Hardwareressourcen und/oder Geldmit- Ana-Maria Stuth ist Abteilungsleiterin Pro- tel. Für eine größere Zahl von Jugendli- gramme bei der Deutschen Kinder- und chen hingegen erscheint die Umsetzung Jugend Stiftung und verantwortet dort digitaler Engagementprojekte eine Her- das Thema freiwilliges Engagement. Sie ausforderung. Diese zweite Zielgruppe be- arbeitet seit über 15 Jahren im Bereich En- nötigt Unterstützung, um für sich heraus- gagementförderung, Jugendengagement zuarbeiten, wo und wie sie sich engagieren und Freiwilligendienste. und beteiligen können. Sofern sie digitale Tools für ihr Engagement nutzen sollen, Frauke Langhorst verantwortet seit neun benötigen sie Anregungen und Begleitung Jahren die Kommunikation für Program- bei der Umsetzung, so die Erkenntnis aus me im Bereich Jugend & Zukunft der Deut- dem Programm Think Big. schen Kinder- und Jugendstiftung.

Grundsätzlich gibt es für beide Gruppen Franziska Wendt ist Mitarbeiterin im Pro- noch wenig adäquate Unterstützung rund gramm »u_count – gemeinsam Gesell- um Campaigning, Projektmanagement schaft gestalten« bei der Deutschen Kin- oder etwa die passende Tool-Auswahl der- und Jugendstiftung. für digitale Projekte. Die Unterstützung kommt zumeist von Peers oder einzelnen Weitere Informationen digitalaffinen Fachkräften aus der Jugend- hilfe. Auch da kann es künftig noch mehr Die Erkenntnisse in diesem Artikel beru- Angebote geben. hen auf der Erfahrung aus verschiedenen Programmen der DKJS: Über die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung ¾¾u_count - gemeinsam Gesellschaft ge- stalten: Befragt junge Menschen im Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung Alter von 15 bis 27 zur Neuausrich- (DKJS) setzt sich für Bildungserfolg und tung und Stärkung von Engagement, Teilhabe junger Menschen ein. Sie enga- Ehrenamt und Freiwilligendiensten im giert sich dafür, dass Kinder in unserem Rahmen von rund 50 regionalen Zu- Land gute Chancen zum Aufwachsen und kunftswerkstätten und Hearings. Die Lernen erhalten und nicht über ihre De- Ergebnisse werden mit dem BMFSFJ

56 | BBE DOSSIER NR. 8 Stuth/Langhorst/Wendt: Mal eben kurz die Welt retten?

sowie Fachleuten für Engagement und Tools bereit. Mit dem Curriculum »Pra- Freiwilligendienste diskutiert. Das Pro- xis Digitale Jugendbeteiligung« zeigt gramm wird durch das Bundesministe- jugend.beteiligen.jetzt, mit welchen In- rium für Familie, Senioren, Frauen und halten Jugendengagement unterstützt Jugend sowie der Bildungs-Chancen- werden kann. www.jugend.beteiligen. Lotterie gefördert. www.dkjs.de/u_ jetzt | facebook.com/Jugendbeteili- count | facebook.com/ucountdkjs | gung.de | Twitter: @jugendbeteiligt | Instagram: @u_count_dkjs Instagram: @jugendbeteiligung.de ¾¾Think Big hat über 10 Jahre junge Men- Alle Ergebnisse wurden 2020 veröffent- schen bei der Entwicklung ehrenamt- licht und sind unter www.dkjs.de/u_count licher Projekte unterstützt und u. a. abrufbar. freiwilliges Engagement mit digitalen Technologien verknüpft. www.think- ¾¾jugend.beteiligen.jetzt ist ein Koope- big.org rationsprojekt mit dem Deutschen ¾¾Das Programm Stark im Land – Lebens- Bundesjugendring und IJAB, der Fach- räume gemeinsam gestalten verknüpft stelle für Internationale Jugendarbeit, praxiserprobte Ansätze und Instru- initiiert vom BMFSFJ. Es bietet Hilfe für mente, um Kinder- und Jugendbetei- die Praxis digitaler Jugendbeteiligung ligung im ländlichen Raum in Sachsen und stellt Know-how zu Prozessen und voranzubringen. www.starkimland.de/

BBE DOSSIER NR. 8 | 57 GABRIELE ROHMANN FRIDAYS FOR FUTURE – BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT DER JUGEND

Die Jugend ist sauer und sie hat Angst um der Welt. Inzwischen haben sich Schulter- ihre Zukunft. Das artikuliert sie deutlich schlüsse mit Netzwerken und Gruppen wie seit den ersten Schulstreiks von Fridays den Scientists, Parents, Entrepreneurs, for Future (FFF) im Herbst 2018. Dabei Writers oder Artists for Future ergeben, geht es überwiegend sehr gemäßigt und und es gibt Diskussionen über Teilnahmen fokussiert auf ein Thema zu: Es geht um an der doch eher älteren und radikaler das Klima. auftretenden Extinction Rebellion, einer Protestbewegung ursprünglich aus Eng- Auffällig ist: Es sind überwiegend junge, land kommend, die mit Aktionen des zivi- überwiegend weiße Jugendliche auf der len Ungehorsams wie der Besetzung von Straße, viele Mädchen* und junge Frau- Plätzen oder Straßen etwas mehr Sand ins en* – und sie haben das Zepter in der gesellschaftliche Getriebe streuen will als Hand, nicht ältere meist weiße männli- die gemäßigteren FFF. che soziale Bewegungs- und Politprofis, die Veranstaltungen mit geplanten und Wechsel der Generationen abgestimmten Redebeiträgen steuern. Die Jugendlichen möchten schnelle, kon- Studien und Analysen über diese neue krete und deutliche Schritte sehen, um Protestgeneration ist gemein, dass sie die Klimakrise zu überwinden. Das ist ih- das auffallend junge Alter und die hohe nen wichtiger als Schule, denn wem nützt weibliche* Repräsentanz von überwie- braves Lernen, wenn die eigene Zukunft gend gut gebildeten, überwiegend weißen absehbar mit einer Vielzahl von exis- Jugendlichen feststellen. Klimaproteste tentiellen Einschränkungen verbunden also der Privilegierten? Wer ist diese »Kli- ist, zum Beispiel der, zwangsläufig und majugend«, wie sie gern von älteren Men- weitgehend unverschuldet Zeug*in und schen genannt wird? Der Begriff, 2019 in Betroffene*r eines rasanten destruktiven der Deutschschweiz zum Wort des Jahres Weltklimawandels zu sein. gekürt, suggeriert eine vereinheitlichen- de Generation, ähnlich denen der »Skep- Wachsende Unterstützung tische Generation« der 1950er Jahre, der 1968er, Flower Power, Hippies und No Fu- Seit dem erstem »Skolstrejk för klimatet« tures der 1970er Jahre oder diverser Gene- der damals 15jährigen Greta Thunberg rationsbezeichnungen wie Baby Boomer, am 20. August 2018 und ihrer Ausrufung Generation @, x, y, z, Millennials, Prag- des Hashtags #fridaysforfuture ist viel Be- matischen, Optimistischen und weiteren wegung in die Proteste gekommen. Ihren Zuschreibungen von jugendlichen »Kohor- Streiks folgten viele weitere von tausen- ten« der letzten Jahrzehnte. Diese wurden den junger Menschen in vielen Ländern von diversen Jugendforscher*innen mit

58 | BBE DOSSIER NR. 8 Rohmann: Fridays for Future bestimmten Einstellungen, Lebensgefüh- hin, dass die Jugendlichen zwar für sich len und stilistischen Vorlieben beschrie- Protestautonomie beanspruchen, aber ben. Nun also die »Klimajugend«. um des gemeinsamen Zieles wegen auch ein gemeinsames Auftreten mit anderen Aufbruch Protestgruppen zu schätzen wissen. Das legten die großen Klimastreiks im Sep- FFF-Jugendliche organisieren ihre Veran- tember und November 2019 nahe. staltungen und Proteste selbst, haben mit Greta Thunberg eine eigene noch junge Corona und das Klima: #FightEveryCrisis Ikone als beeindruckendes Role Model, verschaffen sich laut, multimedial ver- Welche Herausforderungen haben diese netzt Gehör und haben eine beachtliche neu politisierten und sozial bewegten Ju- Aufmerksamkeitsspanne zwischen aktiver gendlichen? Die Faszination und Wirkung Unterstützung, Anteilnahme, Zuspruch, von Schulstreiks lassen auf Dauer nach. passiver Unterstützung, arroganter Ab- Auch das hohe Mobilisierungspotential wehr (von Liberalen), Empörung (von für punktuelle globale Klimastreiks wird Konservativen) und offenem Hass (von sich nicht ständig aufrechterhalten las- Klimawandelleugner*innen wie Recht- sen können. Zudem hetzt die rechte Sze- extremen und Rechtspopulist*innen). ne gegen Greta Thunberg und andere Sie bringen Sorgen und Ängste zum Aus- Aktivist*innen – nach Geflüchteten sind druck, die eine weltweite akute und of- Klimaaktivist*innen ein weiteres Hate fensichtliche Berechtigung haben und Speech-Lieblingsthema in rechten Social- beschweren sich über Ältere, auch Alter- Media-Kreisen. Die Jugendlichen werden native, die nicht zum Wohl der Jüngeren also zwangsläufig mit weiteren politischen handeln oder aber mit ihrem Engagement Themen, Strukturen und Inhalten kon- bisher nicht genug ge- und bewirkt ha- frontiert, zu denen sie sich auch absehbar ben. Sie legen den Finger in eine akute verhalten müssen. Und nun ist auch FFF, Wunde, zu deren Heilung es mit ein paar wie die ganze Welt, von der Coronakri- Pflastern nicht getan ist. Das klingt nach se absorbiert – beinahe. Die Bewegung Generationenaufbruch – und zwar ange- hat anstatt zum vor Ausbruch der Coro- sichts eines immer deutlicher sicht- und nakrise geplanten weitgehend analogen spürbaren Klimawandels und einer sich Weltklimastreik am 24. April 2020 unter rasant verändernden Welt- nach einem den Hashtags #NetzstreikFürsKlima bzw. längst überfälligen. Dieser Aufbruch be- #FightEveryCrisis zu überwiegend digita- schreibt eine kollektive Stimmung einer len Aktionen, zur »größten Videokonfe- gleichgestimmten Menge, die dabei ist renz der Welt« ins Internet mobilisiert. sich zu einer sozialen Bewegung zu for- Offline-Aktionen wie das u. a. tausendfa- mieren; mehr als zu einer Jugendkultur, che Ablegen von Transparenten vor dem denn FFF-Aktivist*innen definieren sich Bundestag fanden in enger Abstimmung weniger über einen bestimmten und mit Ordnungsbehörden und alle Corona- Soundtrack als über ihre Haltung. Seit der Auflagen beachtend statt. FFF will sich zweiten Jahresshälfte 2019 bezeichnen vor allem darauf vorbereiten, sich laut- sich die Jugendlichen denn auch selbst stark zu Wort zu melden, wenn es um als basisdemokratische Graswurzelbe- die Verabschiedung von Konjunktur- und wegung. Auch ihre Zusammenarbeit mit Hilfspaketen vor allem für die Wirtschaft älteren Aktivist*innen vor allem aus der geht. Das Klima soll hier einen zentralen Umweltschutzbewegung deutet darauf Stellenwert einnehmen. Die Coronakrise

BBE DOSSIER NR. 8 | 59 Rohmann: Fridays for Future sieht die Bewegung auch als Chance: für im Zugeständnis und der Stärkung von Au- einen konstruktiven Dialog zwischen den tonomie und im Schutz vor rechter Hetze Generationen und einen Welt-Neustart und Bedrohungen. zum Schutz von Klima und Gesundheit. Die Entwicklung der »Klimajugend« bleibt Erschienen am 9.6.2020 auf der Website also spannend, wenn sie nicht in Resigna- von »Engagement-macht-stark«. https:// tion – nun auch angesichts eigener viel- www.engagement-macht-stark.de/aktu- leicht schlechterer Zukunftsperspektiven elles/detail/fridays-for-future-buerger- für Ausbildung und Erwerbsarbeit in der schaftliches-engagement-der-jugend/ kommenden Wirtschaftskrise, Bevor- mundung und Vereinnahmung endet. Das AUTORIN weitere Engagement der »Klimajugend« können wir unterstützen – Unterstützung Gabriele Rohmann ist Sozialwissenschaft- besteht im Ernstnehmen und der Refle- lerin, Journalistin, Mitgründerin und Lei- xion der Anliegen, in emanzipatorischer terin des Archivs der Jugendkulturen e. V. und diversitätsorientierter Partizipation, Berlin.

60 | BBE DOSSIER NR. 8 UNSER VEREINTES EUROPA 2049: EINE ZUKUNFTSVISION DER JUGENDVERBÄNDE FÜR DAS EUROPA IN 30 JAHREN

Präambel: Ein Europa, in dem es keine Aus diesem Grund ist die europäische Per- Grenzen mehr gibt spektive ein selbstverständlicher Bestand- teil jeglicher politischer Entscheidung und Europa 2049. Rund 425 Millionen prägt damit die Lebensrealität vieler Men- Europäer*innen aus 34 Ländern waren schen auf allen Ebenen, auch jenseits von aufgerufen, an der 15. Direktwahl des Eu- Orten politischer Entscheidungsfindung. ropäischen Parlamentes teilzunehmen. Ein europäisches Fest gelebter Demokratie, bei Die Europäische Union ist zu einer wirkli- dem Kandidat*innen aus ganz Europa nach chen »union of the European citizens, by den Bestimmungen einer europäischen the European citizens and for the Euro- Wahlgesetzgebung auf einem europaweit pean citizens« gewachsen. einheitlichen Wahlzettel zur Wahl stehen. Fast 80% der Unionsbürger*innen gingen ¾¾Im Europa 2049 werden Probleme ge- zur Europawahl, da für sie Europa selbst- samteuropäisch gelöst: verständlich ist und sie die Ausrichtung der ¾¾in einer gelebten Demokratie, in der Rat EU auch weiterhin mitgestalten möchten. der EU und EP in Bürger*innenvertretung und nach Regionalprinzip entscheiden Die Europäische Union ist mit ihren 90 und die Gesetze transparent gestaltet Jahren auch weiterhin für die Menschen werden ein Garant für Frieden, Freiheit, Demokra- ¾¾unter Beteiligung der Zivilgesellschaft tie, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliche und indem vor allem junge Menschen, Prosperität. Sie verbinden mit ihr die Wer- die auf europäischer Ebene te Gleichheit in kultureller Vielfalt, Solida- ¾¾strukturell eingebunden sind, mitre- rität, Gerechtigkeit und Wohlstand sowie den und Europa aktiv mitgestalten die Achtung und den Schutz der Men- ¾¾indem soziale Rechte der schenrechte. Doch im Gegensatz zu damals Europäer*innen geschützt sind, der kennt das Europa 2049 keine, durch natio- europäische Arbeitsmarkt fair gestal- nale Interessen geprägten, mentalen und tet wird und es keinen Wettbewerb physischen Grenzen. Die EU hat sie erfolg- zwischen den Mitgliedstaaten um die reich überwunden. Nationalstaaten haben niedrigsten Sozialstandards gibt verstanden, dass sie die Souveränität eu- ¾¾ indem wirtschaftliche und soziale Kon- ropäisch ausbauen müssen, wenn sie ihre vergenz zusammen gedacht werden eigene nicht verlieren wollen. Die Regionen und die Schieflage zwischen Europas spielen sowohl in der Entschei- ¾¾wirtschaftlicher und sozialer Integrati- dungsfindung als auch in der Kommunika- on überwunden ist tion als Bindeglied zwischen den Ebenen ¾¾indem Kreativität und die künstleri- eine tragende Rolle innerhalb der EU. sche Entfaltungsfreiheit eines jeden

BBE DOSSIER NR. 8 | 61 Unser Vereintes eUropa 2049: Eine Zukunftsvision der Jugendverbände

Menschen mitbedacht werden indem konstanten und festen europapolitischen europäische Politik und europapoliti- Dialog war nicht nur wesentlich für die sches Engagement überall sichtbar ist, Entstehung einer europäischen Öffent- ungeachtet von Herkunft, lichkeit. Sie hat vor allem geholfen, dieses ¾¾Alter, Bildung, finanziellem oder sozia- Europa zu verwirklichen: Unser Europa lem Hintergrund 2049. ¾¾indem der ländliche Raum politisch stark an- und eingebunden ist Demokratie: Ein Europa, in dem Entschei- ¾¾indem, nach wirtschaftlicher Konver- dungen transparent, demokratisch und genz strebend, der europäische Bin- gleichberechtigt zwischen Rat und EP nenmarkt in allen Dimensionen voll- getroffen werden endet ist und die EU als starke, aber gleichzeitig auch faire und verantwor- Im föderalen System ist das EP als direkte tungsbewusste Handelspartnerin auf- Vertretung der Bürger*innen als eine von tritt zwei Kammern gleichberechtigt für die ¾¾mit einer gemeinsamen Asyl- und Mi- Gesetzgebung verantwortlich. Als direkte grationspolitik, die solidarisch, huma- Vertretung der Bürger*innen ist das Euro- nitär und gegen Rassismus verfasst ist päische Parlament gesetzgeberisch mit al- mit einer gemeinsamen Umwelt- und len legislativen Kompetenzen ausgestattet Nachhaltigkeitspolitik, deren ambitio- und hat das alleinige Haushaltsrecht. Der nierte Ziele ressortübergreifend einge- Rat der EU vertritt die Interessen der Regi- halten werden onen im Sinne eines Senats. ¾¾mit einem gemeinsamen Bildungs- raum, in dem formale und non-formale Die Europawahlen, an denen alle Men- Bildung zusammen gedacht wird und schen ab 14 Jahren mit Lebensmittel- in dem Zugangsvoraussetzungen und punkt Europa teilnehmen dürfen, sind grundlegende Lerninhalte aufeinander durch eine einheitliche Wahlgesetzge- abgestimmt sind bung, europäische Wahlkreise und ge- ¾¾mit einer gemeinsamen Außenpolitik, meinsame Kandidat*innen europäisiert. die ihrer globalen Verantwortung ge- Das Spitzenkandidat*innen-System ist recht wird vollumfänglich eingeführt worden. Die demokratischen Beteiligungsmöglichkei- Das selbstverständliche Mitdenken der ten im politischen Entscheidungsprozess europäischen Perspektive in jeder politi- sind auf allen Ebenen möglich, einfach schen Entscheidung führt dazu, dass sie in zugänglich und werden transparent do- allen Ebenen automatisch präsent und die kumentiert. So gibt ein verbindliches Arbeit der Europäischen Union im Alltag Lobbyregister für alle EU-Institutionen sichtbar ist. Die Europäer*innen genießen Auskunft über politische Gespräche und als Unionsbürger*in die europaweit gel- deren Auswirkungen auf die europäische tenden Vorteile und Rechte und schät- Gesetzgebung. zen die dafür erzielten Errungenschaften wert. Sie identifizieren sich mit der EU Das vermeintliche Demokratiedefizit, das und entwickeln eine europäische Identi- der EU lange Zeit angehaftet hatte, wur- tät, die sich komplementär zu ihren regi- de mit zusätzlichen Transparenzmaß- nah- onalen Identitäten verhält. Das unermüd- men ausgeräumt. In allen Phasen ist der liche Engagement seitens der aktiven und Gesetzgebungsprozess transparent und partizipativen Zivilgesellschaft durch den nachvollziehbar.

62 | BBE DOSSIER NR. 8 Unser Vereintes eUropa 2049: Eine Zukunftsvision der Jugendverbände

Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die tiv zu organisieren. In Verbindung mit den Kopenhagener Kriterien auch innerhalb Förderprogrammen verbessert die Strate- der EU anzuwenden, hat sich der einge- gie die Lebenssituation junger Menschen. führte europäische Rechtsstaats-TÜV be- Auch der EU-Jugenddialog hat als etablier- währt. Außerdem gibt es ein Anreizsystem tes und von der Politik ernstgenommenes für Rechtsstaatlichkeit innerhalb der För- sowie beachtetes Beteiligungsinstrument derprogramme der EU. Mitgliedstaaten, dazu beigetragen, dass die Interessen jun- die besondere Fortschritte machen, wer- ger Menschen in die politischen Entschei- den zusätzlich gefördert. dungsprozesse erfolgreich mit einbezogen werden. Die im Jugenddialog erarbeiteten Vor dem Hintergrund der Digitalisierung EU-Jugendziele wurden über die Jahre stellen demokratisch legitimierte öffent- fortlaufend über breite und inklusive Be- liche Institutionen die staatliche Hand- teiligungsrunden aktualisiert und bilden lungsfähigkeit bei der Überwachung un- die Grundlage der strategischen Ausrich- serer europäischen Rechte und Werte tung von jugendpolitischen Entscheidun- wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Minder- gen der EU. heitenschutz, aber auch öffentliche Da- seinsvorsorge im digitalen Raum gegen- Die politischen Parteien als Fundamen- über privatwirtschaftlichen Systemen und te der Demokratie sind 2049 inhaltlich Technologien sicher. und strukturell jugendfreundlich gewor- den und der Anteil – insbesondere junger Jugend: Ein Europa, in dem junge Frauen – im Europäischen Parlament (EP) Menschen aktiv mitgestalten ist seit Langem selbstverständlich 50-50.

Die EU erkennt Jugendverbände und -rin- Wirtschaft und Finanzen: Ein Europa, das ge als Werkstätten der Demokratie an. Ju- so viel investiert wie möglich und so viel gendverbände und -ringe werden als Orte spart wie nötig gelebter Demokratie und freier Zivilge- sellschaft wertgeschätzt, weshalb ausrei- Die EU ist und bleibt eine starke Handels- chend Freiräume für Ehrenamt europaweit partnerin. Der europäische Binnenmarkt selbstverständlich sind. Jugendverbände ist in allen Dimensionen verwirklicht. und -ringe tragen u. a. durch ihre inklu- Hemmnisse für den innereuropäischen sive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Handel sind abgeschafft, bspw. im Bereich zu Demokratieerziehung und politischer der Besteuerung durch die Harmonisie- Bildung bei. Die Arbeit von Jugendverbän- rung der Unternehmenssteuern. Durch den wird aufgrund ihres unbestrittenen ihre besondere Verantwortung als größter und gemeinnützigen Wertes strukturell Markt bekennt sich die EU auf internatio- und breit gefördert. Außerdem wirken sie naler Ebene zu einem multilateralen Han- über gemeinsame Entscheidungsstruk- delssystem mit offenen Märkten und ei- turen bei der Vergabe von Fördermitteln ner starken WTO. Die faire EU-Handelspo- und den Entscheidungen im Rahmen der litik trägt außerdem zu einer nachhaltigen europäischen Jugendpolitik mit. Entwicklung in den Ländern des Globalen Südens und einem globalen Verbot von Die EU-Jugendstrategie hat sich als ver- Kinderarbeit bei, indem im Rahmen der bindliche, gemeinsame Strategie bewährt, handelspolitischen Zusammenarbeit de- um die Jugendpolitik strukturell und res- mokratische und sozialstaatliche Modelle sortübergreifend mitzudenken und proak- gefördert und lokale, nachhaltige Wirt-

BBE DOSSIER NR. 8 | 63 Unser Vereintes eUropa 2049: Eine Zukunftsvision der Jugendverbände schaftsstrukturen unterstützt werden. nenmarkt ist für technologie- und wis- Der Export subventionierter EU-Produkte sensbasierte Unternehmen ein weltweiter oder die Anwendung von Handelsbarrie- Innovationshub, in der digitale Geschäfts- ren wie Strafzöllen, um Handelsverträge modelle mit guten Arbeitsbedingungen oder Vertragsbestandteile durchzusetzen, wachsen können. Ein europaweites Aus- gehören der Vergangenheit an. und Weiterbildungssystem mit einheitli- chen Inhalten bildet Fachkräfte aus und Die Ausläufer und Konsequenzen der Fi- weiter und sorgt für den Ausbau ihrer di- nanz- und Schuldenkrisen wurden seit gitalen Kompetenzen. Längerem endgültig behoben. Für die wei- tere Verzahnung zwischen Wirtschafts- Neben der finanziellen Ausstattung wur- und Währungspolitik gibt es eine*n Wirt- den auch die gesetzlichen Grundlagen schafts- und Finanzminister*in, der u. a. überarbeitet, um den europäischen Stand- die Haushalts- und Wirtschaftspolitik in ort für Unternehmen und Innovator*innen der vollendeten Eurozone koordiniert. zu stärken und gute sowie faire Arbeits- Der europäische Haushalt verfügt über bedingungen in ganz Europa zu schaffen. europäische Ressourcen aus der Steuer- So ist der Zugang zu Fördermitteln durch erhebung und ist in seiner Ausgabenpo- eine vereinfachte Antragsstellung und litik auf ein nachhaltiges Wirtschaften im schnelle Bewilligungsverfahren über digi- Sinne der 17 Ziele der Vereinten Nationen tale Plattformen erleichtert worden. Nati- für nachhaltige Entwicklung (SDG) und ih- onale und europäische Förderprogramme rer Nachfolgemaßnahmen ausgerichtet. besser aufeinander abgestimmt. Bei der Dabei werden alle drei Aspekte der nach- Entwicklung von Produkten wird der Er- haltigen Entwicklung bei der Planung von halt der Ressourcen im Sinne einer funk- handelspolitischen Maßnahmen gleich- tionierenden Kreislaufwirtschaft mit be- wertig bedacht, sodass ökologisches, dacht. Nachhaltige Geschäftsmodelle wie soziales und wirtschaftlich nachhaltiges »sharing economy« tragen dazu bei, den Wirtschaften unterstützt wird. Der EU- gesamten Lebenszyklus von Produkten ef- Haushalt ist an die politischen Prioritäten fizient zu nutzen. der EU angepasst, und es gibt keine na- tionalen Rabatte. Die allgemeinen wirt- Sozialpolitik: Ein Europa, in dem Arbeit schafts- und finanzpolitischen Überlegun- und soziale Absicherung solidarisch gen auf europäischer Ebene gehen über zusammen gedacht werden ein reines Wirtschaftswachstum mit soli- den Finanzhaushalten hinaus und unter- Der EU ist es 2049 gelungen, europaweit stützen durch eine öffentliche und private verbindliche Maßnahmen in der Sozial-, Investitionsoffensive vor allem die Förde- Wohlfahrts- und Beschäftigungspolitik zu rung von Forschung, Bildung, physischer schaffen. Hierfür wurde ein europäischer und psychischer Gesundheit, Entwicklung Mindestlohn eingeführt und ein sozialer und digitaler Infrastruktur (sowohl im ur- Stabilitätspakt verabschiedet, um Un- banen als auch im ländlichen Raum) sowie gleichgewichte innerhalb der EU auszu- Maßnahmen zum Erhalt der natürlichen gleichen. Die sozialen Rechte wurden mit- Lebensgrundlagen. tels eines Sozialprotokolls mit den wirt- schaftlichen Rechten gleichgestellt. Durch diese Offensive gehört die EU zu den wettbewerbsfähigsten Wirtschafts- Die Union hat aus den Konsequenzen der räumen der Welt. Der digitale EU- Bin- Wirtschafts- und Finanzkrise gelernt und

64 | BBE DOSSIER NR. 8 Unser Vereintes eUropa 2049: Eine Zukunftsvision der Jugendverbände die Schieflage zwischen wirtschaftlicher len Fluchtwegen, können Menschen in und sozialer Integration ausgeglichen. Europa Zuflucht finden. Im Rahmen des Der europäische Arbeitsmarkt ist gekenn- gemeinsamen und kohärenten Einwan- zeichnet durch gemeinsame Regeln und derungssystems werden die ankommen- Mindeststandards für faire Arbeitsbedin- den Menschen durch die Koordinierung gungen und soziale Sicherungssysteme im der europäischen Asylbehörde solidarisch Rahmen eines europäischen Wohlfahrts- und fair verteilt. Seenotrettung ist somit staates. Es gibt keinen Wettbewerb um das nicht mehr notwendig. Die schrecklichen billigste Sozialsystem zwischen den Mit- Ereignisse an den EU-Außengrenzen der gliedstaaten. Die Arbeiternehmer*innen zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts wa- bewegen sich ungezwungen und aus frei- ren ein Versagen der europäischen Mit- en Stücken innerhalb der EU, um dort zu gliedstaaten, in dieser entscheidenden arbeiten, wo sie wollen. Situation handlungsfähig und solidarisch zu sein. Daran erinnert ein europäischer 2049 ist die Chancengerechtigkeit mit Gedenktag. Blick auf Geburtsort, Geschlecht, Religion, sexuelle Orientierung oder körperliche Die EU hat anerkannt, dass viele Fluchtur- Beeinträchtigungen vollumfänglich erfüllt. sachen sowie die Ungleichheit zwischen Mithilfe einer umfassenden Gleichstel- dem Globalen Norden und dem Globalen lungsstrategie sorgt die EU für Parität und Süden die Konsequenzen ihrer bzw. der hat es erfolgreich geschafft, Lohngleich- Politik ihrer Mitgliedstaaten sind. Im Sinne heit und die Vereinbarkeit von Familie und der globalen Verantwortung Europas setzt Beruf umzusetzen. Darüber hinaus hat die sich die EU deshalb auf allen Ebenen für EU Inklusion auf allen Ebenen vollumfäng- die nachhaltige Bekämpfung von Fluchtur- lich umgesetzt. sachen ein. Dazu gehört auch eine ambiti- onierte Klimapolitik, da Auswirkungen des Auftretende Fälle psychischer Gesund- Klimawandels Fluchtursachen schaffen heitsprobleme, wie z. B. extremer Stress, und verstärken. Angstzustände oder Depressionen sind dank formaler und non-formaler Sensibili- Das kohärente Migrations- und Einwande- sierungs- und Aufklärungsprogramme über rungssystem umfasst zusätzlich gemein- Ursachen, Umgang und Vorsorge stark zu- same, allumfassende Regelungen, die die rückgegangen, entstigmatisiert und wer- legale Einwanderung in die EU durch ein den durch eine inklusive und finanziell gut einheitliches und vereinfachtes Verfahren ausgestattete Gesundheitsversorgung eu- fördert und sicherstellt. ropaweit erfolgreich behandelt. Umwelt und Nachhaltigkeit: Ein Europa, Ein Europa, das humanitären Anspruch in dem nicht mehr Ressourcen verbraucht gerecht wird werden als vorhanden sind

Die EU konnte eine offene, solidarische Nach Anfangsschwierigkeiten sind alle und menschenwürdige europäische EU-Mitgliedstaaten ihren national festge- Flüchtlings-, Asyl- und Migrationspoli- legten Beiträgen (»Nationally Determined tik etablieren, die sowohl nach innen als Contributions«, »NDCs«) unter dem Pari- auch nach außen die Menschenrechte ser Abkommen und den Folgeabkommen respektiert. Durch ein humanitäres Auf- gerecht geworden. Durch ihre verbindli- nahmeprogramm mit sicheren und lega- che, langfristige und generationengerech-

BBE DOSSIER NR. 8 | 65 Unser Vereintes eUropa 2049: Eine Zukunftsvision der Jugendverbände te Klimaschutzstrategie wurde das interna- grundlegende Ziel der europäischen Land- tional vereinbarte Klimaziel von 1,5° C im wirtschaftspolitik. Dazu gehören auch Vergleich zu 1990 erfolgreich erfüllt und hohe Tierschutz- und Umweltstandards, ein ökologischer, ökonomischer, struktur- die auf EU-Ebene einheitlich festgelegt und sozialverträglicher Wandel im Sinne und ohne nationale Alleingänge umgesetzt der Nachhaltigkeit vollzogen. Dieser Wan- sind sowie die Gültigkeit von Luftreinhal- del hat in der breiten Öffentlichkeit eine tungs- und Klimagesetzgebung und ein hohe Akzeptanz erlangt, da es gelungen zielgerichteter Einsatz von Pflanzenschutz- ist, diesen vor allem als Chance und nicht mitteln. Diese ökologischen Maßnahmen als Verzicht zu begreifen. Besonders dazu der Landwirt*innen werden seit mehr als beigetragen hat die ganzheitliche Integ- 20 Jahren durch die gemeinsame Agrarpo- ration des Stellenwertes naturbezogener litik der Europäischen Union unterstützt. Aktivitäten und der Umweltbildungsarbeit in die Bildungssysteme. Als stärkster Förderer investiert die EU massiv in Forschung und Entwicklung Die Energie wird ausschließlich aus erneu- nachhaltiger »blauer« und »grüner« Wirt- erbaren Energieträgern gewonnen – seit schaftssektoren. Neue Technologien und 2035 ist die EU CO2-neutral; der EURA- umweltschonende Alternativmaterialien TOM-Vertrag wurde damit obsolet. Der gewährleisten ein nachhaltiges Produk- »Earth Overshoot Day« wurde erfolgreich tions- und Konsummuster innerhalb der an das Jahresende verschoben: Europa hat planetaren Grenzen und sorgen für mehr eingesehen, dass es ein unendliches Wirt- Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. schaftswachstum, das auf Ressourcenver- brauch basiert, auf Dauer nicht geben kann. Bildung: Ein Europa, in dem gemeinsames Damit verknüpft die EU eine sozial gerech- Lernen europaweit möglich ist te Lebenswelt mit dem Schutz natürlicher Lebensgrund- lagen bzw. dem Erhalt der Der Europäische Bildungsraum ist Realität. biologischen Vielfalt. Die Auswirkungen Denn Bildung ist der Schlüssel für mehr des eigenen Handelns auf die Länder des Teilhabe und grundlegende Voraussetzung globalen Südens und die SDG sowie die da- für eine soziale, gerechte und demokrati- rauffolgenden, ambitionierten Ziele nach sche Gesellschaft. Besonderes Augenmerk 2030, werden von den EU-Institutionen in gilt dabei der politischen Bildung, die eu- all ihre politischen Entscheidungsprozesse ropaweit gestärkt und gefördert wird. Sie strukturell einbezogen. So stellt z. B. ein befähigt vor allem junge Menschen, den Klimavorbehalt sicher, dass alle politischen gesellschaftlichen Diskurs auf europäi- Vorhaben auf ihre Auswirkungen auf Um- scher Ebene entsprechend der europäi- welt und/oder Klima untersucht werden. schen Werte zu denken und zu leben. Vor diesem Hintergrund wurden umwelt- und klimaschädliche Subventionen im Jahr Aus diesem Grund sind die europäischen 2025 abgeschafft und illegaler Holzein- Mobilitäts- und Austauschprogramme, wie schlag eingedämmt, bzw. übermäßige Ab- Erasmus+ und das Europäische Solidaritäts- holzung untersagt. korps, strukturell ausgebaut und finanziell so ausgestattet worden, dass Projektan- Eine umwelt- und tiergerechtere Land- träge nicht aus finanziellen Gründen abge- wirtschaft mit möglichst regionalen Wert- lehnt werden. Die europaweite Einführung schöpfungsketten und strukturreichen des dualen Berufsausbildungsmodells mit Agrarlandschaften ist nach wie vor das europäischen Standards, das die starken

66 | BBE DOSSIER NR. 8 Unser Vereintes eUropa 2049: Eine Zukunftsvision der Jugendverbände nationalen Traditionen in Bildung und Aus- Mehrsprachigkeit ist eine Selbstverständ- bildung berücksichtigt, hat dazu geführt, lichkeit: Minderheiten- und Regionalspra- dass alle Menschen in der beruflichen Aus- chen werden weiterhin gesprochen und und Weiterbildung wie selbstverständlich staatlich gefördert. von Erasmus+ profitieren können. Auch die Ausweitung der Programmstruktur auf Angesichts der zunehmenden Digitalisie- Schüler*innen durch kurz- und langfristige rung unterstützt die EU ihre Mitgliedstaa- Austauschangebote trägt dazu bei, schon ten durch ein umfangreiches Bildungspro- früh ein europäisches Bewusstsein zu för- gramm, das Medienkompetenzen vermit- dern. Europäische Begegnungen spielen telt und den sicheren Umgang mit und eine große Rolle, um jungen Menschen richtige Bewertung von sozialen Medien Raum für den gegenseitigen Austausch im digitalen Raum sicherstellt. und das gemeinsame Lernen zu geben. In diesem Zusammenhang wurden schritt- Mobilität: Ein Europa, in dem Menschen weise EU-weite Schulabschlüsse einge- europäisch vernetzt aufwachsen führt und die Zugangsvoraussetzungen zu weiterführenden Bildungseinrichtungen Offene Binnengrenzen reichen nicht aus: angeglichen. Diese Änderungen haben zu Die Bewegungsfreiheit aller Menschen einer deutlichen Steigerung der Lernmobi- wird konsequent, gezielt und sozial ge- lität geführt. recht unterstützt. In einem Europa ohne Grenzen ist die freie Mobilität im Sinne Die verstärkte Europabildung in der for- der Freizügigkeit von entscheidender malen und non-formalen Bildung, bei Bedeutung. Auch sie ist nun nach um- der Schüler*innen die grundlegenden weltverträglichen Kriterien strukturell Kenntnisse über Geschichte, Aufbau und ausgebaut und gefördert worden: Grenz- Grundwerte der EU vermittelt bekommen, werte für PKWs wurden eingeführt, der ist ein wichtiger Pfeiler des Europäischen Gütertransport von der Straße auf die Bildungsraums. Die Jugendverbände und Schiene und Wasserwege verlagert, ein -ringe leisten insbesondere im non-forma- EU-weiter kostenloser ÖPNV und insbe- len und informellen Bildungsbereich einen sondere sein Ausbau im ländlichen Raum entscheidenden Beitrag. Denn vor allem sind vollendet. Die Inbetriebnahme eines non-formale Bildung befähigt, die eigene echten europaweiten Streckennetzes Lebenswelt im Kontext gesellschaftlicher mit einer transeuropäischen Eisenbahn und historischer Zusammenhänge begrei- zu günstigen Bahntickets erhöht den fen zu lernen. Als originäre Lernorte mit ih- Austausch und die Anzahl an Begegnun- ren vielfältigen Bildungsleistungen sind die gen und markiert das Ende des Individu- Jugendverbände in Europa gesellschaftlich alverkehrs. Es gibt nur noch klimaneut- und politisch anerkannt und entsprechend rale Verkehrsmittel, die alle nachhaltig strukturell gefördert, um ihren selbstbe- betrieben werden. Dafür sorgt u. a. auch stimmten Auftrag zu erfüllen. ein dichtes Netz an Nachtzugverbindun- gen – und wer mobil in Europa unter- Die im fachdidaktischen Curriculum fest wegs ist, kann auch bequem ihre*seine verankerten Europäischen Projektwochen Lieblingsserien und Filme anschauen, wo arbeiten europaweit europapolitische sie*er will. Die Abschaffung des Geoblo- Thematiken entlang der Lebensrealität ckings und die europaweite Einrichtung junger Menschen bzw. ihrer Chancen und von freiem und unlimitiertem WLAN ma- Möglichkeiten innerhalb der EU auf. chen dies möglich.

BBE DOSSIER NR. 8 | 67 Unser Vereintes eUropa 2049: Eine Zukunftsvision der Jugendverbände

Außenbeziehungen: Ein Europa, das als Als Instrument zur weltweiten Beseitigung geeinte Stimme für Demokratie und von Armut, zur Förderung und Verteidi- Frieden in der Welt wahrgenommen wird gung von Demokratie und Menschenrech- ten und zur gemeinsamen Bewältigung Die EU nimmt ihre globale Verantwor- von Umwelt- und Klimaherausforderun- tung zur Friedenssicherung und Demo- gen verfolgt die EU eine ambitionierte und kratieförderung wahr und richtet ihr transparente Entwicklungspolitik. Diese außenpolitisches Handeln danach aus. findet in allen Bereichen auf Augenhöhe Durch die Überwindung des Einstimmig- mit den Partnerländern statt. Bedarfsab- keitsprinzips in außenpolitischen Belan- stimmungen verhindern die Entstehung gen ist es Europa gelungen, international von Ungleichheiten im Rahmen der ent- handlungsfähiger zu werden. Einzelne wicklungspolitischen Zusammenarbeit. Nationalstaaten können durch ihre Stim- Zivilgesellschaftliche Organisationen und me keine Mehrheitsentscheide blockie- Nichtregierungsorganisationen sind als ren. Dadurch wird die EU international Projektträger*innen vor Ort wichtige als glaubwürdige Partnerin und Media- Partner*innen der EU. Ein einheitlicher torin wahrgenommen. Stellvertretend Code of Conduct sowie ein lebendiger für die gesamte EU befürwortet der*die und beständiger Austausch zwischen die- EU-Außenminister*in gewaltfreie und zi- sen externen Akteur*innen und der EU vile Krisenpräventionen und setzt sich für fördern die nachhaltige und effiziente Zu- verbindliche Abrüstungsbemühungen im sammenarbeit. Rahmen der Vereinten Nationen ein. Vor diesem Hintergrund sind Waffenlieferun- Europa ist gemeinschaftlich bei den Ver- gen an diktatorische und Menschenrecht einten Nationen und in anderen interna- unterdrückende Regimes mit der EU un- tionalen Gremien vertreten. Die Einigung vereinbar und werden selbstverständlich auf einen gemeinsamen EU-Sitz hatte das abgelehnt. Eis für eine Reform des UN-Sicherheitsrats gebrochen. Die EU ist als »1 Entity « Mit- Unter voller Berücksichtigung der Kopen- glied in der NATO. hagener Kriterien wurden die Länder des Westbalkans erfolgreich in die EU integ- Zum Schluss: Ein Europa, das jetzt die rich- riert. Die starke Stimme zivilgesellschaft- tigen Weichen für die Zukunft stellen muss licher demokratischer Kräfte im Beitritts- prozess, erzielt über eine strukturelle Angesichts der derzeitigen Entwicklungen Förderung, hatte irgendwann auch die inner- und außerhalb Europas betrachten letzten Vertreter*innen nationaler Eigen- wir Jugendverbände mit großer Sorge die interessen überzeugt. zunehmende Rückkehr zu nationalen Al- leingängen. Immer stärker versuchen na- Auch innerhalb des Schengen-Abkom- tionalistische Kräfte an den Grundwerten mens gibt es keine nationalen Vorbehal- zu zerren, die das Fundament der europä- te und Ausnahmen. Alle EU-Länder sind ischen Ideen darstellen. Sie zielen darauf automatisch Teil des Abkommens. Mit ab, die Grenzen des bislang Sagbaren zu dem Ziel, den Austausch zwischen den verschieben und spalten das geeinte Eu- europäischen Gesellschaften zu fördern, ropa. Mit dem Ziel, dieser negativen Spi- ist visumfreies Reisen innerhalb des euro- rale zu entkommen, haben wir unsere Zu- päischen Kontinents auf zivilgesellschaftli- kunftsvision als pro-europäisches Gegen- cher Ebene grundsätzlich möglich. stück formuliert. Wir wollen verhindern,

68 | BBE DOSSIER NR. 8 Unser Vereintes eUropa 2049: Eine Zukunftsvision der Jugendverbände dass das Europa von heute, das für Frie- »Zeichner der Vision«: den, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat- lichkeit, Wohlfahrt und wirtschaftliche Deutscher Bundesjugendring Prosperität steht, aufhört zu existieren. AEGEE Berlin e.V. Im Gegenteil: Wir wollen, dass zukünftige Junge Europäischen Föderalisten Deutsch- Generationen in einem ökologisch nach- land haltigen Europa aufwachsen, in dem die Wirtschaftsjunioren Deutschland e.V. Europäer*innen im Zentrum der europä- WWF Jugend ischen Politik stehen. Die nationalistische Perspektive ist endgültig überwunden, Ein Projekt der Europäischen Bewegung und die europäische Öffentlichkeit und Deutschland e.V. Souveränität gehören selbstverständlich zur Lebensrealität. Erschienen im November 2019 auf der Website der Europäischen Bewegung Die europäische Integration ist noch nicht Deutschsand (EBD). beendet. Europa ist die Institutionalisie- rung der Überzeugung, dass die Proble- https://www.netzwerk-ebd.de/wp-con- me unserer Zeit gemeinsam besser gelöst tent/uploads/2019/11/191125-Zukunfts- werden können als alleine. vision-2049.pdf

BBE DOSSIER NR. 8 | 69 NAOMI MITTELMANN COHEN JÜDISCHE STUDENT*INNEN WELTWEIT VEREINEN UND AKTIVIEREN

Die Weltunion der jüdischen dann erfolgreich, als er die Unterstützung Student*innen (WUJS) ist die, demokra- von Albert Einstein erhielt. Einstein, der tisch gewählte, internationale Dachor- damals Dozent in Berlin war und als Jude ganisation jüdischer Studentenvereini- bei seinen Vorträgen häufig verbalen An- gungen, die von Student*innen und für griffen ausgesetzt war, war gleicherma- Student*innen geleitet wird. Jeder Mit- ßen besorgt über den wachsenden Anti- gliedsverband ist durch einen designierten semitismus in ganz Europa. 1925 nahm Abgeordneten in der Weltunion vertre- Einstein die Einladung von Lauterpacht an, ten. Zusammen bilden diese Delegierten der erste Präsident der Weltunion jüdi- die WUJS-Generalversammlung. Mit 43 scher Student*innen zu werden. nationalen Verbänden und 2 regionalen Verbänden (Lateinamerika und Europa) Leider ist Antisemitismus bis heute eine Re- vertritt WUJS jüdische Student*innen aus alität auf der ganzen Welt, mit der unsere über 55 Ländern, mit einer Reichweite von Student*innen täglich konfrontiert werden, rund 800,000 Studierenden. egal aus welchem Land sie kommen. Dieses globale Netzwerk von Student*innen er- Es ist das Ziel die kulturelle Identität der möglicht den Austausch von »Best Practi- jüdischen Student*innen weltweit zu stär- ces«, Informationen sowie moralischer und ken und die Kontinuität des religiösen, praktischer Unterstützung bei der Organi- ethischen und geistigen Erbes zu bewah- sation von nationalen und internationalen ren. Darüber hinaus ist WUJS bestrebt, Kampagnen gegen Antisemitismus, Anti- sich für die Studierende aller Völker, un- zionismus, Holocaustleugnung und Revisi- abhängig von Religion, ethnischer Zuge- onismus sowie gegen Rassismus und allen hörigkeit und sexueller Orientierung, zu Formen von Diskriminierung. Wir möch- engagieren und Unterstützung zu geben, ten jüdischen Studierenden die Möglich- wo sie nötig ist. keit geben, in einem sicheren, integrativen und fairen Umfeld zu studieren. Notwendigkeit schafft Aktivismus Werte, die uns antreiben Das Konzept eines international organisier- ten Weltunion jüdischer Student*innen In allen unseren Aktivitäten beziehen wir wurde 1924 von Hersch Lauterpacht, ei- uns auf die folgenden Grundwerte: nem österreichischen Juden, ins Leben gerufen als Reaktion auf das gegen Juden Demokratie und Pluralismus diskriminierende Quotensystem, das an allen europäischen Universitäten herrsch- WUJS ist in seiner Struktur und Überzeu- te. Die Union entwickelte sich jedoch erst gung demokratisch und besteht auf der

70 | BBE DOSSIER NR. 8 Mittelmann Cohen: Jüdische Studenten weiltweit vereinen

Grundlage demokratischer Beteiligung schen Prozesse eingebunden. Bei Bedarf und pluralistischer Werte. Daher ist WUJS mobilisieren wir unsere Mitglieder und offen für alle Student*innen unabhängig koordinieren ihre Aktivismusbemühungen von ihrer religiösen und politischen Über- auch auf globaler Ebene. zeugung, sexuellen Orientierung und eth- nischen Zugehörigkeit. »Wir sind alt genug, um Erfahrung zu ha- ben, jung genug, um Träume zu haben.« Da die Leitung der WUJS demokratisch gewählt wird, ist die WUJS international Der WUJS-Kongress ist das Flaggschiff der als die einzige Organisation anerkannt, Weltunion der jüdischen Student*innen. die berechtigt ist, die globale jüdische Die Veranstaltung bringt jedes Jahr jüdi- Student*innenschaft vor internationalen sche Anführer*innen der Studierenden- Behörden zu ver treten, wie z. B. in UNESCO schaft aus über 40 Ländern zusammen, aus und UNHRC, und sie wird häufig als glo- Europa, Nord- und Lateinamerika, Afrika, bale jüdische Student*innenvertretung zu Australasien und Israel. Der jährliche Kon- internationalen Konferenzen eingeladen. gress ist der Ort, wo Student*innen sich über die Realitäten und Herausforderun- Als Gegenstimme zu dem Anstieg von Ex- gen jüdischen Student*innenlebens in ver- tremismus, Menschenrechtsverletzungen, schiedenen Ländern austauschen können. Diskriminierung, Rassismus, Hassrhetorik und Antisemitismus hat WUJS am »Inter- Die Generalversammlung findet eben- nationaler Tag der Demokratie« das am falls während des Kongresses statt, und 15. September 2020 stattfand, eine Video studentische Delegierte aus der ganzen Kampagne1 organisiert in dem Teilneh- Welt haben die Möglichkeit, verschiede- menden aus 5 Kontinenten betonten was ne Vorschläge einzubringen und darüber Demokratie für sie bedeutet und war- abzustimmen, die ihre Vision für das kom- um WUJS weiterhin unermüdlich für ihre mende Jahr aktualisiert werden könnten. Werte eintritt. Beispiele für verabschiedete Anträge bei früheren Generalversammlungen: Peer-Leadership und Repräsentation ¾¾Sensibilisierung für den Völkermord an Wir glauben, dass jüdische Studierende den Yazidi ihren Anliegen und Interessen sowohl auf ¾¾Mental Health - Verbesserung der Wis- lokaler, nationaler und internationaler senslage und des Bewusstseins für psy- Ebene Gehör verschaffen sollen und sich chische Gesundheit und Wohlbefinden im Namen von Demokratie, Gleichheit, ¾¾Antrag gegen die Normalisierung und Gerechtigkeit und Frieden engagieren sol- Akzeptanz des Rechtsextremismus len. WUJS unterstützt die Initiativen der ¾¾Antrag auf Einführung eines Monats gewählten Student*innen Repräsentanten zur Hebung des Bewusstseins von und bietet seinen Mitgliedern Seminare, weltweitem Antisemitismus Workshops und Konferenzen an, die einen ¾¾Antrag zur Verpflichtung zur Bekämp- globalen Austausch von Ansichten und In- fung des Klimawandels formationen ermöglichen und Führungs- und Kompetenztraining anbieten. Auf WUJS ist eine wichtige internationale Stim- diese Weise wird das politische, kulturelle me, die sowohl in der Gegenwart wie auch und soziale Engagement der jungen Men- in der Zukunft Veränderungen bewirkt schen gestärkt, und sie in die demokrati- und bewirken kann. Oft wird gesagt, dass

BBE DOSSIER NR. 8 | 71 Mittelmann Cohen: Jüdische Studenten weiltweit vereinen

Student*innen die Anführer*innen von arbeitete und durch Workshops und Kon- morgen sind, aber wir in der WUJS glau- ferenzen zum gesellschaftlichen Ausgleich ben, dass Studenten die Anführer*innen und zur demokratischen Teilhabe der Zi- von heute sind. vilgesellschaft in Israel beitrug. Darüber hinaus initiierte und schuf sie zukunfts- Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten gerichtete bilaterale politische und päda- 11/2020 am 26.11.2020. gogische Projekte zwischen Deutschland und Israel, um eine nachhaltige Verbesse- AUTORIN rung des gegenseitigen Meinungsbildes in den deutsch-israelischen Beziehungen zu Naomi Mittelmann Cohen ist Geschäfts- fördern. 2012 erhielt Naomi das Internati- führerin der World Union of Jewish Stu- onalen Parlaments Stipendium (IPS) beim dents seit Mai 2020. Davor hat sie über ein Deutschen Bundestag, wo sie im Büro von Jahrzehnt an der Förderung der deutsch- Gitta Connemann MdB (CDU) arbeitete israelischen Beziehungen gearbeitet. Von und sich auf die deutsch-israelischen Be- 2013 bis 2020 war sie Projektmanagerin ziehungen spezialisierte. bei der Hanns Seidel-Stiftung in Jerusa- lem, wo sie mit lokalen NGOs zusammen- Weitere Informationen https://wujs.org.il/

72 | BBE DOSSIER NR. 8 ASMAA SOLIMAN HALTUNG STATT HERKUNFT – POSTMIGRANTISCHE STIMMEN DER JUNGEN ISLAM KONFERENZ

Die Junge Islam Konferenz (JIK) wurde der Einwanderungsgesellschaft aufgreift. 2011 in Ergänzung zur Deutschen Islam Konferenz und als Reaktion und progres- Unsere Arbeit sive Antwort auf die Sarrazin Publikation »Deutschland schafft sich ab« gegründet. Gemeinsamkeiten stärken und Vorurteile Das Buch verankerte eine islamfeindliche abbauen – darum geht es in allen Forma- Stimmung in der öffentlichen Debatte, ten der Jungen Islam Konferenz. Wir rich- die sich jedoch bereits im Post 9/11 Nar- ten uns mit unseren Angeboten vor allem rativ manifestierte. Diskurse um Islam an junge Menschen im Alter von 17 bis 25 und Muslim*innen in Deutschland sind Jahren. Darunter fallen vor allem die jähr- auch heute noch immer wieder von Aus- liche Bundeskonferenz, die Sommerakade- schlüssen und Stereotypen geprägt, die mie und die Medienakademie. Das junge Muslim*innen immer zu »den Anderen« Netzwerk veranstaltet zusätzlich dezent- machen und eine weitere Spaltung un- ral Vernetzungsveranstaltungen und trifft serer Gesellschaft vorantreiben. Ein ge- sich monatlich bei dem Community-Event sellschaftliches Klima, das insbesondere »Yallah, lass reden!«. Die Formate sind junge Menschen dazu bewegt, dem ent- Empowerment-Räume, die aber auch zur gegenzuwirken. Professionalisierung des jungen Netzwerks beitragen. Haltung statt Herkunft – Das ist der Leit- satz der Jungen Islam Konferenz. Dahin- Angelehnt an das Konzept der TED Talks ter steht der Gedanke, dass es die Werte haben wir für eine breitere Öffentlichkeit einer pluralistischen Gesellschaft sind, die JIK Talks Reihe entwickelt. Sie basieren die uns verbinden, egal welche Herkunft, auf Ideen und Vorschlägen des Bundesgre- Religionszugehörigkeit oder kultureller miums und richten sich an die breite Öf- Hintergrund der oder die Einzelne mit fentlichkeit, mit dem Ziel islambezogene sich bringt. Seit seiner Gründung hat sich Debatten unterschiedlich zu beleuchten die Junge Islam Konferenz zu einer ei- und konstruktiv weiterzuführen. Es geht genständigen Dialogplattform für junge darum, jenseits von Klischees, stereoty- Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen pen Bildern und gefühlten Wahrheiten entwickelt, die den Diskurs einer post- neue Impulse zu setzen und auf Augenhö- migrantischen Gesellschaft mitgestalten he miteinander zu sprechen. möchten. Wir verstehen uns daher nicht als religiöses Projekt, sondern als Dialog- Allen unseren Formaten und Veranstaltun- forum für alle jungen Menschen, wel- gen gemein, ist der teilhabeorientierten ches Fragen zu einem konstruktiven und Austausch zu unterschiedlichen Themen gleichberechtigten Zusammenleben in rund um Pluralität und Zugehörigkeit.

BBE DOSSIER NR. 8 | 73 Soliman: Haltung statt Herkunft

Das große Ganze mer wegzuschauen. Auch das ist ein Privi- leg, das ich als weißer Mann habe. Men- Wir wollen junge Menschen dazu zu befä- schen, die tagtäglich Rassismus erleiden, higen, an gesellschaftlichen und politischen können das nicht.« Diskursen teilzunehmen und eine inklusive und pluralistische Gesellschaft mitzugestal- Als Dialogplattform verändert sich die Jun- ten und ihnen dabei ein positives Selbst- ge Islam Konferenz mit jeder neuen Per- verständnis einer vielfältigen Gesellschaft spektive aus dem jungen Netzwerk weiter. vermitteln, das Pluralität als Normalität Wir bestärken die jungen Menschen in begreift. Ganz elementar ist es dabei, den ihrem Engagement, sich für eine inklusive- Perspektivwechsel zu ermöglichen. re und diversere Gesellschaft einzusetzen und sind Verstärker ihrer Stimmen im ge- Die jungen Teilnehmenden starten von sellschaftlichen Diskurs. verschiedenen Punkten und kommen mit unterschiedlichen Biografien und Erfah- Erschienen im BBE-Newsletter 10/2020 rungen zu unseren Veranstaltungen. Durch am 26.11.2020. den persönlichen Kontakt und intensiven Austausch werden die Teilnehmenden AUTORIN mit ihren eigenen Vorurteilen und auch Privilegien konfrontiert, was dazu führt, Dr. Asmaa Soliman ist seit April 2020 die dass sie ihre eigenen Sichtweisen hinter- Leiterin der Jungen Islam Konferenz so- fragen. Dabei entwickeln sie eine Ambi- wie auch Co-Leiterin des Kompetenznetz- guitätstoleranz, also das Aushalten diver- werks Zusammenleben in der Einwande- gierender Meinungen und Lebensweisen. rungsgesellschaft. Erik schildert seine Erfahrungen durch die Teilnahme an einer Bundeskonferenz so: Die Sozialwissenschaftlerin hat in Maas- tricht und in London studiert, wo sie »Ich wurde ziemlich rabiat aus meiner auch promovierte. Hieraus entstand ihr badischen Wohlfühlblase herausgerissen Buch European Muslims Transforming the und vielleicht das erste Mal mit realen Public Sphere, worin sie das Engagement Rassismuserfahrungen konfrontiert. […] junger Muslim*innen in der Öffentlichkeit Ich habe etwas gelernt, was so nahelie- untersucht. Sie hat zu ihren Schwerpunk- gend erscheint, worüber ich aber vorher ten Islam in Europa, Diversität und inter- doch nie nachgedacht habe: Ich werde von kulturelle Verständigung sowohl geforscht der Gesellschaft als weißer Mann wahrge- und gelehrt als auch Projekte koordiniert. nommen und genieße damit Privilegien. Frau Soliman leitet die JIK mit dem Ziel, die Von diesem Zeitpunkt an habe ich begon- Bereiche Peer Education und den Europa- nen, meinen Weg zu dieser Einsicht auf In- Fokus noch weiter voranzubringen. stagram zu dokumentieren, und versuche damit, andere Menschen zu erreichen […] Weitere Informationen War es richtig, sich das Leben schwerer zu www.junge-islam-konferenz.de machen? Definitiv! Was bringt es uns, im- www.schwarzkopf-stiftung.de

74 | BBE DOSSIER NR. 8 MELANIE EBERHARD JUNGES POLITISCHES ENGAGEMENT IN DER SCHWEIZ

Das politische System der Schweiz weist ei- form engage.ch1 können sie ihre Anliegen nige Eigenheiten auf. So wird die Bevölke- und Wünsche für ihre Wohngemeinde, rung viermal jährlich zu unterschiedlichen den Kanton oder für die gesamte Schweiz Sachthemen im Rahmen von Abstimmun- direkt und digital an die Politik richten. gen befragt, es gilt das Subsidiaritätsprin- Durch posten, liken und kommentieren zip, wonach der kleinsten Verwaltungs- verschaffen Jugendliche und junge Er- einheit die höchst möglichen politischen wachsene ihren politischen Anliegen Ge- Kompetenzen zufallen und die Politik hör. Also genau auf die gleiche Art und wird als Miliztätigkeit verstanden. Die Mi- Weise wie sie auch in ihrem Alltag kom- lizarbeit von vielen Menschen auf allen munizieren. Der DSJ stellt dadurch eine politischen Ebenen bildet denn auch die jugendgerechte Form der politischen Mit- Grundlage für das politische System der wirkung zur Verfügung, die sowohl von Schweiz. Die Strukturen der Parteien und Jugendlichen mit und ohne Schweizer politischen Gremien entsprechen jedoch Staatsbürgerschaft sowie vor dem Errei- nur selten den Vorstellungen und Bedürf- chen der Volljährigkeit genutzt werden nissen der jüngeren Bevölkerung. Diese kann. Das Projekt engage.ch agiert dabei engagieren sich deshalb immer seltener als Bindeglied zwischen der digitalen Ju- in den klassischen politischen Organisa- gend und der sich erst langsam damit ver- tionen und Strukturen, sondern suchen traut machenden Politik. neue Wege zur politischen Partizipation. Der easyvote-Politikmonitor (Golder et al. Wirkungsvolle Mitsprache für Jugendliche 2019) unterstreicht diese Entwicklung und legt dar, dass knapp die Hälfte (47 %) der Die Jugendlichen und jungen Erwachse- Jugendlichen sich mehr Mitbestimmung nen werden mit engage.ch über ihre ei- und neue Formen der politischen Partizi- genen Anliegen und Wünsche digital ab- pation in der Schweiz wünscht. geholt. Sie können durch das posten ihres Anliegens, diesem zu mehr Sichtbarkeit Jugendgerechte Partizipation mit engage.ch verhelfen und durch das »Matching« mit politischen Entscheidungsträgerinnen und Der Dachverband Schweizer Jugendpar- Entscheidungsträger die Umsetzung der lamente DSJ bietet seit 2015 eine solche eigenen Idee auch aktiv voranbringen. In neue Form der politischen Partizipation. den vergangenen Jahren sind auf diese Durch sein Projekt engage.ch haben Ju- Weise über 3‘500 Anliegen von Jugendli- gendliche und junge Erwachsene einen chen und jungen Erwachsenen auf enga- niederschwelligen und zeitlich ungebun- ge.ch eingereicht worden. Mehr als 100 denen Zugang zur traditionellen politi- schen Partizipation. Über die Onlineplatt- 1 www.engage.ch

BBE DOSSIER NR. 8 | 75 Eberhard: Junges politisches Engagement in der Schweiz

Politikerinnen und Politiker haben Anlie- und wählen je eines der Anliegen aus um gen gemeinsam mit Jugendlichen ausge- dieses durch parlamentarische Vorstösse, arbeitet, woraus über 120 konkrete Pro- Diskussionen in den Kommissionen oder jekte entstanden sind. Das Projekte enga- auf anderen Wegen in die nationale Politik ge.ch führt durch die Ermöglichung eines einzubringen. jugendgerechten Zugangs zur Politik auch zu einem stärkeren Verständnis für das Durch mehr als 20 kommunale und regi- politische System der Schweiz und trägt onale Projekte konnte engage.ch in den dadurch zu dessen Fortbestand bei. Viele vergangenen Jahren eine Vielzahl an An- der Jugendlichen sehen durch engage.ch liegen umsetzen; durch das engage-Ate- wie die Politik funktioniert und entwickeln lier, einem vierstündigen Workshop für ein Interesse für Themen und Abläufe. Schulklassen der Sekundarstufe I, vermit- Oftmals engagieren sie sich in der Folge telt engage.ch auf partizipative Art politi- langfristig politisch oder gesellschaftlich sche Bildung. in den klassischen Strukturen und politi- schen Gremien. Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten 11/2020 am 26.11.2020. Facts & Figures AUTORIN Mit dem Projekt engage.ch fördert der Dachverband Schweizer Jugendparlamen- Melanie Eberhard hat an den Universitä- te DSJ das politische Engagement von Ju- ten Bern, Fribourg/Freiburg und Budapest gendlichen. Im Zentrum steht dabei die Kommunikations- und Politikwissenschaf- Onlineplattform www.engage.ch, auf der ten studiert und sich dabei insbesondere Jugendliche ihre Anliegen, Wünsche und mit politischer Partizipation beschäftigt. Ideen zu politischen Themen einbringen Von 2014 bis 2020 war sie beim DSJ für können. Jugendliche können so ganz ein- das Projekt engage.ch verantwortlich und fach in politische Strukturen einbezogen hat dieses konzipiert und realisiert. Als Be- werden . reichsleiterin von engage.ch war sie Mit- glied der Geschäftsleitung des DSJ und als Im Rahmen der seit 2017 jährlich statt- stellvertretende Geschäftsleiterin tätig. findenden Kampagne »Verändere die Sie ist selber seit vielen Jahren auch gesell- Schweiz!« wurden bisher über 1.500 natio- schaftlich und politisch in Organisationen nale Anliegen und Ideen von Jugendlichen und engagiert. zwischen 14 und 25 Jahren aus der ganzen Schweiz auf der Onlineplattform www. Weitere Informationen engage.ch eingereicht. Die jeweils 10-15 www.melanieeberhard.ch jüngsten nationalen Parlamentarierinnen www.dsj.ch und Parlamentarier sind Teil des Projektes www.engage.ch

76 | BBE DOSSIER NR. 8 KHATUNA TCHANTURIA POLITISCHE BILDUNG UND JUGENDBETEILIGUNG IN GEORGIEN

Von der Gesellschaft als Kollektiv zu Zielkatalog steht die »Entfaltung der frei- Bürger*in als Individuum en Persönlichkeit« basierend auf demo- kratischen Werten, die Fähigkeit, sich eine Im 20. Jahrhundert, in den Jahren zwi- eigene Meinung zu bilden, Entscheidun- schen 1921 und 1990, erlebte Georgien gen zu treffen und einen eigenen Platz in eine klare sozialistisch motivierte ideologi- der Gesellschaft einnehmen zu können im sche Erziehung, der in den 1990er Jahren Vordergrund. Diese Reformen stehen im ein Vakuum in dieser Hinsicht folgte. Es Zeichen des neuen Nation Building nach entwickelte sich ab Mitte der 1990er Jah- der »Rosenrevolution« in Georgien und re jedoch eine rege und lebendige Land- haben die Modernisierung und Anknüp- schaft der Bürgergesellschaft in Form von fung an europäischen Standards zum Ziel. Nichtregierungsorganisationen und freien Medien in Georgien. Grundlegende Refor- Die Analyse der gesellschaftspolitischen men im Bildungsbereich wurden bereits Rahmenbedingungen in Bezug auf die po- Ende der 1990er Jahren eingeleitet. Nach litische Bildung zeichnet ein Bild der Ge- 2003 folgten radikalere Reformen, insbe- sellschaft in Georgien, die sich auf einer sondere im Schulsystem. U. a. wurde das Gratwanderung zwischen Tradition und Fach »Bürgerkunde« eingeführt. Dadurch Zukunftsvision befindet. Welche Kon- hat in Georgien, ähnlich wie in den mit- sequenzen daraus für 14- bis 15-jährige tel- und osteuropäischen Ländern, bei der Jugendliche auf der Einstiegsebene und inhaltlichen Ausgestaltung der politischen welche tatsächlichen Partizipationsmög- Bildung zumindest auf der Ebene der Ziel- lichkeiten sich für sie ergeben, soll nach- setzung eine bewusste Verschiebung von folgend dargelegt werden. der Gesellschaft als Kollektiv hin zum Bür- ger als Individuum stattgefunden. Forschungslage

Im Rahmen des langjährigen Bildungspro- Sowohl theoretische als auch empirische jekts »Ilia Tschawtschawadse« (Durch- Untersuchungen im Bereich der Politischen führungszeitraum 2004-2017) wurden zu- Bildung und Jugendbeteiligung bzw. zivilge- dem in Georgien mit Bezug auf politische sellschaftliches Engagement von jungen Er- Bildung andere neue Fächer wie »Staat, wachsenen in Georgien sind sehr rar. Nach- Recht und Ökonomie«, »Toleranzkunde« folgend greife ich auf meine empirische Un- und demokratische Schulstrukturen wie tersuchung über die Demokratieerziehung Schülervertretung, Schulrat und Wahl des in Georgien zurück (Erhebungszeitraum Schuldirektors eingeführt. Auf der Geset- 2009-2013), in der, analog zur Civic Educa- zesebene wurden 2006 »Nationale Ziele tion Study von IEA, 14 -jährige Jugendliche der Allgemeinbildung« verabschiedet. Im zu unterschiedlichen Themenfelder der po-

BBE DOSSIER NR. 8 | 77 Tchanturia: Politische Bildung und Jugendbeteiligung in Georgien litischen Bildung anhand von standardisier- Wahrscheinlich spiegeln die georgischen ten Fragebögen befragt wurden. Neben ei- Jugendlichen an dieser Stelle die Gesell- nem Wissenstest, in dem politische Bildung schaft gut wieder, die den politischen Par- erfasst wurde, wurden Fragen über gesell- teien misstraut und die Bedeutung von schaftspolitisch wichtige Themen wie Poli- gemeinnützigen Organisationen und Ver- tik, Staat und Demokratie gestellt. Die Er- eine für eine funktionierende Demokratie fahrungen der Jugendlichen in der eigenen aus unterschiedlichen Gründen nicht gut Schule und im Klassenzimmer sind ebenfalls genug einschätzen kann. zum Ausdruck gekommen. Demokratische (Selbst)Beteiligung in der Ausgewählte Ergebnisse der empirischen Schule Untersuchung Georgische Jugendliche befürworten die Politisches Wissen demokratische Beteiligung der Schülerin- nen und Schüler in der Schule im hohen Im Wissenstest beantworten die georgi- Maße. Sie finden es gut, wenn Schülerin- schen Jugendlichen Fragen, welche in Ge- nen und Schüler zusammenarbeiten, um orgien eine tagespolitische Aktualität be- die Probleme der Schule zu lösen oder po- sitzen. Dazu gehören die in Medien und der sitive Veränderungen in der Schule herbei- Gesellschaft viel diskutierte Pressefreiheit zuführen. Sie partizipieren in Schülerver- oder Merkmale einer undemokratischen tretungen, in der Schülerzeitung, in der Kir- Regierung sowie Geschichtsmanipulation, che. Die meisten sind in Sportvereinen und die sie sehr gut bis überdurchschnittlich in kulturellen Vereinigungen wie Kunst-, gut identifizieren können. Weniger gut Musik- und Theater integriert. In den ge- können sie in den Bereichen punkten, zu meinnützigen Vereinen und Organisatio- denen sie weniger Bezug herstellen kön- nen wie Menschenrechts- und Jugendorga- nen, z. B. wenn es darum geht die Bedeu- nisationen sind hingegen nur sehr wenige tung von Vereinen und Organisationen für beteiligt. Vermutlich liegt es zum größten eine Demokratie zu erkennen. Teil auch daran, dass es in Georgien wenig solche Vereine und Organisationen gibt Politische Handlungsbereitschaft und die Bestehenden sich hauptsächlich in der Hauptstadt konzentrieren und in länd- Bezüglich ihrer politischen Handlungsbe- lichen Regionen so gut wie nicht vertreten reitschaft geben die georgischen Jugendli- sind. Darüber hinaus ist der elitäre Charak- chen ein ambivalentes Bild ab. Im sozialen ter der Nichtregierungsorganisationen in Bereich zeigen sie außerordentlich hohes Georgien zu erwähnen: Sie sind wenig über Engagement und im konventionellen poli- ihr unmittelbares Umfeld hinaus bekannt tischen Bereich eine umso niedrigere Be- und bieten kaum Möglichkeiten und Anrei- reitschaft zur Selbstbeteiligung. Sie sind ze zu bürgerschaftlichem Engagement. Der überdurchschnittlich stark bereit, armen entscheidende Aspekt könnte jedoch darin oder älteren Menschen zu helfen; zudem bestehen, dass in Georgien die Bedeutung sind sie ebenso überdurchschnittlich stark des bürgerschaftlichen Engagements für bereit »klassische demokratische Pflich- eine funktionierende Demokratie dem An- ten« zu erfüllen wie bspw. zur Wahl zu schein nach nicht ausreichend erkannt wird gehen. Beim konventionellen politischen und es (noch) keine flächendeckend etab- Engagement, wie in eine Partei einzu- lierte Kultur der Selbstbeteiligung auf der treten, sinkt die Zustimmung hingegen. institutionellen Ebene gibt.

78 | BBE DOSSIER NR. 8 Tchanturia: Politische Bildung und Jugendbeteiligung in Georgien

Vertrauen in das politische System soziale Themen ihres Landes sind. Das, was im Land passiert, geht anscheinend nicht Georgische Jugendliche haben weder zu spurlos an ihnen vorbei, sondern prägt den gesellschaftlichen noch zu den politi- sie. Themen, die die Gesellschaft bewe- schen Institutionen Vertrauen. Sie weisen, gen, bewegen auch die Jugendlichen. Sie insbesondere im Vergleich zu Deutsch- stehen in dieser Hinsicht mitten im Leben land, sehr niedrige Vertrauenswerte auf. und sind weder politisch naiv noch apa- Damit folgen sie jedoch dem Trend in den thisch. Sie erkennen die Bedeutung von ehemals sozialistischen Ländern, welche Wahlen und sind für Meinungsfreiheit, sie in der internationalen Untersuchung, im sind in der Lage, die negativen Folgen der Vergleich zu den reichen Industrieländern, Korruption, Pressekonzentration in einer ebenfalls durch niedrige Vertrauenswerte Hand oder den Einfluss von mächtigen aufgefallen waren. Damit bestätigt sich Lobbygruppen auf die Politik angemessen die Annahme, dass das gestörte Verhält- einzuschätzen und lehnen dies entspre- nis zwischen dem Staat, seinen Strukturen chend ab. Sie wissen, warum Geschichte und dem Bürger in den ehemals sozialis- manipuliert werden kann, sie erkennen tischen Ländern nach wie vor vorhanden und schätzen die Bedeutung der Schüler- ist und seinen Schatten weit vorauswirft. vertretungen in der Schule, sie messen Eine Ausnahme stellt das Vertrauen zur dem Bürgerkundeunterricht eine große Polizei dar, welche im Zuge der Staats- Rolle beim Erhalt von politischen Kennt- reformen nach 2004 in Georgien stark nissen sowie einem offenen Diskussions- erneuert wurde und ihr Ansehen in der klima im Unterricht bei. Sie interessieren Bevölkerung daraufhin deutlich steigern sich für große soziale und gesellschaftliche konnte. Themen wie Umweltschutz und Atom- kraft und wollen in der Schule mehr da- Antizipierte Autonomie rüber erfahren. In vielen diesen Punkten zeigen sie sich sogar politisch sensibilisier- Zugleich zeigen sich georgische Jugendli- ter und aufgeklärter als die Gleichaltrigen che optimistisch. Sie glauben daran, dass aus westlichen Industriestaaten. Schließ- durch politisches Engagement des Einzel- lich sind die Folgen der Abwesenheit von nen etwas erreicht werden kann. Schließ- demokratischen Gütern und Strukturen lich können sie in diesem Zusammenhang für die Jugendliche in Georgien greifbar auf gute Erfahrungswerte zurückgreifen: nah. Es liegt nahe zu sagen, dass sie die Sowohl sie selbst (die »Rosenrevolution« Demokratie schätzen, nicht, weil sie die im Jahr 2003) als auch ihre Elterngene- Vorteile einer funktionierenden Demokra- ration (das Ende der Sowjetunion, Ende tie gut genug kennen, sondern weil sie die der 1980er Jahren) haben miterlebt, dass negativen Konsequenzen, die Bürgerinnen durch den bürgerschaftlichen Widerstand und Bürger in einer nichtdemokratischen bedeutende politische Veränderungen Gesellschaftsordnung tragen müssen, er- herbeigeführt werden können. lebt haben.

Politische Orientierungen und Einstellun- Handlungsfelder für die Politik gen zur Demokratie Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse Zusammenfassend kann festgestellt wer- eröffnen sich für die Schule in Georgien den, dass Jugendliche in Georgien politisch und speziell für den Bürgerkundeunter- sensibilisiert und offen für politische und richt oder auch für den Unterricht in ande-

BBE DOSSIER NR. 8 | 79 Tchanturia: Politische Bildung und Jugendbeteiligung in Georgien ren Schulfächern wie Geschichte, die die Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten gesellschaftspolitisch aktuellen Themen 11/2020 am 26.11.2020. im Unterricht gut aufgreifen können, neue Perspektiven. Ebenso ist die (Bildungs)Po- AUTORIN litik gefragt, auf unterschiedlichen Hand- lungsfeldern aktiv zu werden. U. a. sind Dr. Khatuna Tchanturia ist Erziehungswis- Vermittlung von politischem Wissen, Er- senschaftlerin, freiberufliche Dozentin weiterung des Politikverständnisses und und arbeitet als Qualifizierungs- und Be- Förderung der politischen Handlungsbe- rufsberaterin bei der Stadt Stuttgart. Ihre reitschaft, Etablierung eines offenen Dis- Promotionsarbeit »Erziehung zur Demo- kussionsklimas im Unterricht sowie Leh- kratie in Georgien: kritische Bestandsauf- rerqualifizierung einige der drängendsten nahme, Analyse, Perspektiven; eine em- Themen und Bereiche der politischen Bil- pirische Untersuchung« wurde durch die dung in Georgien. Heinrich-Böll-Stiftung gefördert.

80 | BBE DOSSIER NR. 8 NINO KAVELASHVILI »WIR SIND FÜR NICHTS SO DANKBAR WIE FÜR DANKBARKEIT«

Bürgerschaftliches Engagement ist ein schuss (EWSA) in einer Stellungnahme2, sichtbarer Ausdruck der Förderung von wie wichtig es wäre, ein Europäisches Solidarität, Inklusion, aktiver Bürgerschaft Jahr der Freiwilligen auszurufen, um für und gelebter Demokratie. »Und Demo- das Thema Aufmerksamkeit zu gewinnen, kratie kann anstrengend sein« — sagte Diskussionen anzustoßen und zum Um- dazu Dieter Rehwinkel, der beim Bundes- denken anzuhalten: »Würde — wie vom netzwerk Bürgerschaftliches Engagement EWSA vorgeschlagen — auf europäischer (BBE) die bundesweite Anerkennungskam- Ebene ein Jahr der Freiwilligen ausgeru- pagne »Woche des Bürgerschaftlichen fen, würde dies dazu beitragen, das En- Engagements« leitet. »Viele Engagierte gagement unzähliger Freiwilliger vor Ort kümmern sich um Bereiche, in denen auf europäischer Ebene zu würdigen und Mangel herrscht, weil der Staat oder das zu fördern; außerdem würde dadurch bei Gemeinwesen nicht genügend Angebote den Freiwilligen ein europäisches Zugehö- bereithalten. Oft wollen sie diese Angebo- rigkeitsgefühl hervorgerufen.«3 Die Erfah- te auch qualitativ ergänzen. Das ist nicht rung, das Engagement zu einem thema- immer einfach für die Einzelnen. Bei En- tischen Fokus eines internationalen Jah- gagement zur Stärkung der europäischen res zu machen, gab es schon einmal: Die Idee wird es noch schwieriger. Transnati- Vereinten Nationen hatten das Jahr 2001 onales Engagement für eine lebendige eu- zum Internationalen Jahr der Freiwilligen4 ropäische Zivilgesellschaft verdient darum (IJF) ausgerufen – ein Jahr, das gezeigt alle Unterstützung«.1 Spricht man über die hat, wie wichtig öffentlichkeitswirksame Unterstützung des »europäischen« Enga- und staatlich unterstützte Programme in gements, darf man also die Relevanz der diesem Bereich sind. Im Fokus stand u.a., grundsätzlichen Anerkennung und Würdi- die Öffentlichkeit für den Wert und die gung von Engagement nicht ausklammern. Möglichkeiten des Freiwilligenwesens zu sensibilisieren. Zehn Jahre später hat die Wie sagt man »Danke« auf Europäisch? EU 2011 zum »Europäischen Jahr der Frei- willigentätigkeit« erklärt: Bereits im Jahr 2006 unterstrich der Eu- 2 Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und ropäische Wirtschafts- und Sozialaus- Sozialausschusses zum Thema »Freiwillige Aktivitä- ten, ihre Rolle in der europäischen Gesellschaft und ihre Auswirkungen« (2006/C 325/13) https://eur-lex. europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2006:3 25:0046:0052:DE:PDF 1 Rehwinkel, Dieter (2018): »Warum ein europäischer (aufgerufen am 27.11.2020) Thementag in einer nationalen Kampagne?« In: »Enga- 3 A.a.O. gement feiern; Kampagnen zur Anerkennung des frei- 4 Resolution 55/57 https://www.un.org/depts/ willigen Engagements im internationalen Vergleich«, german/gv-55/band1/ar55057.pdf (aufgerufen am hgg. vom BBE, Berlin, S. 7. 27.11.2020).

BBE DOSSIER NR. 8 | 81 Kavelashvili: Wir sind für nichts so dankbar wie für Dankbarkeit

»Die Europäische Kommission sieht die tion«. Zur Anerkennung gehört auch ein Freiwilligentätigkeit als gelebte Bürgerbe- standardisiertes und möglichst vergleich- teiligung, die gemeinsame europäische bares System der Engagementnachweise Werte wie Solidarität und sozialen Zusam- und Kompetenzbilanzierungen. Ein Katalog menhalt stärkt. Freiwilliges Engagement der Instrumente der Anerkennung für die bietet auch die Chance, etwas hinzuzu- Praxis7, herausgegeben von der Landes- lernen, denn im Rahmen der ausgeübten freiwilligenagentur Berlin, listet über 80 Tätigkeiten können neue Fähigkeiten und verschiedene Formen der Anerkennung in Kompetenzen erworben werden, wodurch 14 Kategorien auf, darunter auch politische sogar die Möglichkeiten auf dem Arbeits- Instrumente der Anerkennung wie z.B. markt verbessert werden können. Dies ist Ehrenamtskarten/-pässe/-zertifizierungen, angesichts der derzeitigen Wirtschaftskri- einen Jugend-Kompetenzpass oder die se besonders wichtig« – so die Europäi- »Juleica – Jugendleiter/inCard«. Im Klei- sche Kommission damals.5 Die EU hatte nen fängt es manchmal an: mit der Dank- für das Jahr vier Hauptziele formuliert: sagung in den Initiativen und Organisatio- Neben der Schaffung günstiger Rahmen- nen, in denen die Freiwilligen tätig sind bedingungen für Freiwilligentätigkeiten, oder mit sogenannten »anlassbezogenen der Stärkung der Freiwilligenorganisatio- Aufmerksamkeiten« — kleinen und gro- nen sowie der Verbesserung der Qualität ßen Aufmerksamkeiten zu Jubiläen oder von Freiwilligentätigkeiten waren dies: Geburtstagen. Und nicht zuletzt ist eine auszeichnende Anerkennung beim Enga- ¾¾die Sensibilisierung für den Wert und gement wichtig, mit Spass und Freude, die Bedeutung von Freiwilligentätigkei- denn: »Was bei allem Engagement nicht zu ten kurz kommen darf, ist der Spaß. Freiwillige, ¾¾und die Honorierung und Anerkennung die ihre ehrenamtliche Tätigkeit nicht mit von Freiwilligentätigkeiten. Herz ausüben und gerne kommen, bleiben nicht dabei. Für Spaß sollte Zeit und Raum Warum diese Bestrebungen wichtig sind, geschaffen werden.«8 fasst Gabriela CIvico, Direktorin des Eu- ropäischen Freiwilligenzentrums (CEV), in And the price goes to… einem Satz zusammen: »Recognition and public support is a central component for Die Liste der Preise für das bürgerschaft- reaching the maximum potential of volun- liche Engagement/ volunteer ist teering as a choice for change and gaining viel länger und vielfältiger, als es ein Wiki- the true value of all those helping hands«6. pedia-Artikel9 darstellt. Auch wenn einige dieser Preise mehr mediale Aufmerksam- Nun gibt es selbstverständlich viele For- keit auf sich ziehen als andere, ist es kaum men der Anerkennung der »helfenden möglich, einen Preis zu nennen, der »bes- Hände«: monetäre, geldwerte, infrastruk- seres« oder »wichtigeres« Engagement turelle und ideelle Anerkennung, zusam- mengefasst unter dem Begriff »Gratifika- 7 Landesfreiwilligenagentur Berlin e.V. (2015): Instru- mente der Anerkennung – Ein Katalog für die Praxis. 5 Europäische Kommission/ EU-Bürgerschaftsportal: https://landesfreiwilligenagentur.berlin/files/2015/10/ Europäisches Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011 htt- InstrumenteAnerkennung_Katalog.pdf (aufgerufen am ps://ec.europa.eu/citizenship/european-year-of-volun- 27.11.2020). teering/index_de.htm (aufgerufen am 27.11.2020). 8 A.a.O., S. 57 6 Engagement feiern; Kampagnen zur Anerkennung 9 Vgl. Wikipeida: List of volunteer awards. https:// des freiwilligen Engagements im internationalen Ver- en.wikipedia.org/wiki/List_of_volunteer_awards (auf- gleich, hgg. vom BBE, Berlin, S. 5. gerufen am 27.11.2020).

82 | BBE DOSSIER NR. 8 Kavelashvili: Wir sind für nichts so dankbar wie für Dankbarkeit sichtbar macht als die anderen Preise. Ob Der Preis »beste Ehrenamtliche*r des Jah- europäische, nationale oder die von der res« 2020 Georgiens wird Lika Bedinashvili UN vergebenen Engagementpreise welt- verliehen. Sie ist eine 17-jährige aus Tschi- weit: Sie alle zeigen, wie vielfältig das En- atura, einer Stadt in Georgien mit etwa gagement ist. 12.000 Einwohner*innen, die sich seit zwei Jahren für die Etablierung einer gesunden Der Preis für den*die »Junge*n Lebensweise, einer inklusiven Gesellschaft Europäer*in des Jahres« etwa wird an jun- und für Menschenrechtsschutz einsetzt. ge Europäer*innen im Alter von 18 und 26 Als beste Ehrenamtliche des Jahres wird Jahren verliehen, die sich in herausragen- sie vor allem für ihr Engagement im Rah- der Weise für ein friedliches, vielfältiges men einer Kampagne gegen Klimawandel und inklusives Europa engagiert haben. ausgezeichnet, die in vier Dörfer 1500 Der Preis ist nicht nur mit 5.000€ dotiert, Ahornbäume pflanzte. Der Preis wurde in sondern die Preisträger*in wird außerdem Georgien im Rahmen der Georgien Civil Teil eines europäischen Netzwerks und Society Sustainability Initiative11 verge- der Jury des Schwarzkopf-Europa-Preises. ben, einem europäischen Projekt, das u.a. auch von der Konrad-Adenauer-Stiftung Maria Atanasova aus Bulgarien ist die unterstützt wird und darauf abzielt, das Junge Europäerin des Jahres 2020. Ausge- Umfeld für die regionale Zivilgesellschaft zeichnet wird sie für ihr herausragendes in Georgien zu verbessern, die Organisa- Engagement zur Unterstützung der Roma- tionen der Zivilgesellschaft zu stärken, Jugend und zur Schaffung von Chancen- ihre Verantwortung und Rechenschafts- gleichheit. Als junge Romni in Bulgarien pflicht gegenüber den Begünstigten zu er- erlebte Maria schon früh Diskriminierung. höhen und Verbindungen zu anderen Ak- »Romnja sind in Bulgarien oft gezwungen, teuren zu verbessern. – eine Zielsetzung, in einem separaten Raum zu gebären. Die die die georgische Engagementlandschaft Diskriminierung von Roma beginnt also stärken soll. schon mit der Geburt«10, erklärt sie. »Als junge Romni glaube ich an meine Com- Als Georgierin in Europa und Europare- munity und daran, dass junge Roma zu ferentin des Bundesnetzwerks Bürger- denjenigen gehören, die Veränderungen schaftliches Engagement (BBE) beobach- bewirken. Die gegenseitige Unterstützung te ich diesen Preis mit einer besonderen innerhalb unserer Gemeinschaft ist der Anteilnahme. Die Engagementlandschaft Weg zu sozialem Wandel. Ich freue mich, im postsowjetischen Georgien bekommt als Junge Europäerin des Jahres ausge- erst gegenwärtig klare institutionelle Kon- zeichnet zu werden und möchte den Preis turen. Noch vor wenigen Jahren wurde nutzen, um junge Roma in Europa sichtba- der Wert des bürgerschaftlichen Engage- rer zu machen«, so die Preisträgerin. Der ments in der Gesellschaft nicht anerkannt, Preis wird von der Schwarzkopf-Stiftung auch von einer rechtlichen Definition von Junges Europa und der Vertretung der Eu- Freiwilligenarbeit war keine Rede. Schlim- ropäischen Kommission in Deutschland in mer noch: Der Begriff der »Freiwilligen- Zusammenarbeit mit dem Europäischen arbeit« war sogar sprachlich nicht immer Jugendforum verliehen. positiv konnotiert.

10 Junge Europäerin des Jahres 2020 verschafft Roma Jugendlichen in Europa Gehör. https://schwarzkopf- 11 Georgian Civil Society Sustainability Initiative stiftung.de/junge-europaeerin-des-jahres/ (aufgeru- https://eu4georgia.ge/georgian-civil-society-sustaina- fen am 27.11.2020). bility-initiative/ (aufgerufen am 27.11.2020).

BBE DOSSIER NR. 8 | 83 Kavelashvili: Wir sind für nichts so dankbar wie für Dankbarkeit

Es sind junge Menschen, die das Phäno- rum ist das wichtig? Weil das #Together- men des Ehrenamts »entdeckten« und so- WeCan ein vielbewegendes Gefühl ist; ziale Medien nutzten, um eine Kultur der weil der Wunsch nach Anerkennung ein Freiwilligenarbeit unter jungen Menschen menschliches Bedürfnis ist; weil Lob und einzuführen, um Begriffe zu definieren, Würdigung »eine geradezu anthropolo- eine Anerkennungskultur zu etablieren gische Dimension des Sozialkontaktes und vor allem Diskurse zu eröffnen. Wie zwischen Menschen«13 sind und nicht zu- eine Freiwillige es formulierte: »Die älte- letzt, weil: »Wir sind für nichts so dankbar re Generation schaut manchmal skeptisch wie für Dankbarkeit« (Marie von Ebner- zu; sie glauben, man muss sich gegenseitig Eschenbach). helfen, denn es gilt: ›Was immer du gibst – kommt zurück, was auch immer du nicht Dieser Beitrag wurde im November 2020 gibst – geht verloren‹, und dafür braucht für das vorliegende Dossier verfasst. man keine neue Worte auszudenken und keine Preise zu vergeben.«12 AUTORIN

Am 5. Dezember 2020, am Internationalen Nino Kavelashvili ist Referentin im Bereich Tag des Ehrenamtes, wird die Würdigung Europa des BBE und Redakteurin der BBE und Anerkennung des ehrenamtlichen Europa-Nachrichten. Geboren in Tiflis Engagements großgeschrieben. Neben (Tbilisi) ist sie seit 2013 in der Europaar- dem Motto des Jahres »Together We Can beit des BBE tätig. Through Volunteering« werden auch »Po- 13 Carola Schaaf-Derichs (2015): Dimensionen der sitive feeling, solidarity, and compassion Anerkennung. Zu den Ergebnissen der qualitativen toward volunteers« im Fokus stehen. Wa- Forschung nach Instrumenten der Anerkennung – unter besonderer Berücksichtigung der gesell- 12 Ein Aphorismus aus dem Nationalepos »Der Ritter schaftlichen Vielfalt https://anerkennungskulturen. im Tigerfell« von Shota Rustaveli aus dem hohen Mit- de/einfuehrungsworte/#Grusswort (aufgerufen am telalter, das jedes Kind in Georgien kennt. 27.11.2020)

84 | BBE DOSSIER NR. 8 EUROPÄISCHE AKADEMIE BERLIN: »EUROPA...UND WIR!?«

Die Erwartungen an die deutsche EU-Rats- »Gute Gedanken brauchen Raum« – nach präsidentschaft waren einerseits schon diesem Motto schafft die Europäische vor der Pandemie übergroß, die Aufgaben Akademie Berlin im Rahmen der Reihe vielfältig – Green Deal, Brexit, Digitalisie- »Made for Europe« einen Raum für vier rung, EU-Afrika Strategie. Andererseits jungen Autor*innen, die für einen Poetry denken nicht Wenige – »Reine Prestigesa- Slam1 zur deutschen Ratspräsidentschaft che«, wenn es um die EU-Ratspräsident- Texte verfasst und am 15. Oktober 2020 schaft geht. Doch der Platz im Chefsessel präsentiert haben: Tanasgol Sabbagh, Max ist keineswegs nur eine Frage des nationa- Gebhard, Josefine Berkholz, Philipp He- len Images. Es bedeutet auch jede Menge rold, zum Thema »Europa...und wir!?«. Verantwortung, denn die Liste der Proble- me, die Deutschland einer Lösung zufüh- Weitere Informationen ren soll, ist lang. Und jedes einzelne Thema »Europa...und wir!?« Der Poetry Slam ist es wert, ausgiebig diskutiert zu werden. Abend in der Europäischen Akademie Ber- »Made for Europe« – die Aktionsreihe, die lin zum Nachschauen: https://www.youtu- mit freundlicher Unterstützung durch das be.com/watch?v=cdqtr8UHjxc&t=129s Auswärtige Amt stattfindet – liefert nicht nur einen Überblick darüber, welche Fra- Künstler- und Veranstaltungskollektiv gen die Agenda der deutschen Ratspräsi- »Edellauchs«: dentschaft prägen, und welche Positionen https://edellauchs.jimdosite.com/ sich dabei gegenüberstehen. Es wird auch darüber diskutiert, welche Erwartungen Ergebnisse der Aktionsreihe: https:// und Wünsche die Bürger*innen und die www.eab-berlin.eu/en/made-europe-die- Zivilgesellschaft an Europa haben: Wofür ergebnisse soll die EU ihre Haushaltsmilliarden aus- geben? Welche Werte repräsentieren am Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten besten Europa? Welche Visionen sind für 11/2020 am 26.11.2020. die jungen Menschen am wichtigsten? Welche Rolle soll Europa in der Welt spie- len – und wie kommen wir dorthin? Wie können wir dafür sorgen, dass Demokra- 1 Die Veranstaltung fand in Kooperation mit dem Künstler- und Veranstaltungskollektiv »Edellauchs« tie und Rechtsstaatlichkeit in Europa nicht sowie mit freundlicher Unterstützung durch das Aus- unter die Räder kommen? wärtige Amt statt.

BBE DOSSIER NR. 8 | 85 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?«

TANASGOL SABBAGH

Nichts ist vorgefallen. Man hat sich einfach gehen lassen. Und da sind wir eben mitgegangen. Wir legten uns die Tarnwesten des Westens an, es waren Nike Schuhe und Chanel No°5 gut, das konnte sich niemand leisten, es waren Aldihosen, Deichmannschuhe und der Bus Nummer 5 Richtung Ausländer- behörde. Irgendetwas am Rückwärtsfahren macht mich schwindelig das war als Kind schon so irgendwas am Rückwärtsfahren ob es nur die vorbeiziehende Landschaft der entstehende Druck, wenn man am rücken gezogen wird- irgendetwas passiert wenn es rückwärts geht das war im Geschichtsunterricht schon so die Bücher waren vergilbt und fielen in Teilen auseinander man warf den Blick weit nach hinten, nahm etwas Neues bezog das dann bisweilen aufeinander ich konnte mir nicht helfen da ging ein Sog von den Geschichten aus- nur Geschichten, mehr konnten sie ja für mich noch nicht sein damals, hier ich noch knopfgroß im Kopf bloß ein diffuses Gefühl für Nähe und Distanz und dann dieser wahnsinnige Schwindel angesichts der Größe der Welt und mein Gott war sie groß! Soundsovielkilometer Radius mit soundsovielmilliardenkilometern Wasserfläche dazwischen soundsovielhundert Länder bewohnt von Soundsovielmilliarden Menschen auf soundsovielhundertmillionen Städten verteilt und dann was? Ein duzend Schuljahre um wenigstens den Ort an dem meine Füße Land berührenden-

86 | BBE DOSSIER NR. 8 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?« eigenen Standpunkt- halbwegs korrekt bestimmen zu können Der eigene Standpunkt also der Punkt an dem ich stehe ist ein behutsam von Grenzen umzäuntes Stück Erde ist 1848, ist 1914, ist 1933, 1934, 1935, 1936, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, neunzehnhundertfünfund- vierzig ist ein unersättlicher, brennender Ofen, und auch als später niemand die Absicht hatte, ist eine auseinanderklaffende Wunde mit Maschendraht und Landesgrenzen, die ihm quer durch‘s Herz gehen der Kniefall 1970, die Bitte um Vergebung ist der große Jubel 1989 endlich vereint und ist aber auch brennende Asylbewerberheime in den 90er Jahren brennende Asylbewerberheime in den 00er Jahren ist AFD und NSU und so weiter, und so weiter und neulich erst...! Der Punkt an dem ich stehe ist der Ort an dem ich verstanden habe, was der Unterschied zwischen Geschichten und Geschichte ist und dass man nur eines davon problemlos wiederholen kann... aber pssshh... NICHTS IST VORGEFALLEN. MAN HAT SICH EINFACH GEHEN LASSEN. Man hat nach einem langen Arbeitstag die Schultern nach hinten kreisen lassen, hat tief durch die Nase eingeatmet »und beim Ausatmen geräuschvoll durch den Mund« man hat der Natur zu Liebe Produkte in braunen Pappverpackungen gekauft sich morgens die Milch noch selbst aufgeschäumt man hat Bier getrunken und Techno gehört bei Freunden man hat Bier getrunken und Techno gehört in Nachtclubs man hat Bier getrunken und Techno gehört auf Demonstrationen für oder gegen »ach hab‘ ich vergessen!« Die Standpunkte sind unklar, man hat sich halt ein bisschen gehen lassen man hat ein paar Selfies gemacht und sie mit verschiedenen Apps bearbeitet: so sähe ich als Mann aus so sähe ich alt aus so sähe ich aus, wenn ich glücklich wäre so sähe ich aus, wenn mich irgend-etwas-noch angehen würde WIR WIRKEN ALLE WIE GLEICHGÜLTIGE IN EINEM TRAUERHAUSE. NUN SIND WIR ZWAR NICHT GLEICHGÜLTIG.

BBE DOSSIER NR. 8 | 87 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?«

ICH RUFE IHRER ALLER GEFÜHLE ZU ZEUGEN AN, DASS WIR NICHT GLEICHGÜLTIG SIND. ALLEIN DA WIR UNS NICHT RÜHREN, SCHEINEN WIR GLEICHGÜLTIG. Gut. Zugegeben. Meine Gesellschaftskritik schmeckt so abgestanden wie die Preiselbeersaftschorle, die du mir bei unserem ersten gemeinsamen Ikea-Be- such vorgesetzt hattest. Weißt du noch? Wir haben aus dem selben Glas getrunken und es immer wieder aufgefüllt und uns darüber unterhalten welche Bedeutung das Malen der Weltkarte an die eige- ne Zimmerwand eigentlich hat, die gesamte Weltkarte im Zimmer zur Zierde, welche Bedeutung, na was soll das denn ausdrücken? Die Verbundenheit mit der Erde? die Reisefreiheit mit dem Deutschen Pass? sag mal ist es dir auch aufgefallen: Die Europäische Union sieht auf der Karte aus wie ein sich öffnender Körper / wie ein liegender Körper mit sich öffnenden Beinen mit einer Aussparung an der Stelle, wo die Schweiz sitzt gut der Reiz ist ja trotz allen Friedens-und Einheitswünschen in der Abgrenzung, ne: die einen dürfen nicht mitspielen, die anderen wollen nicht mitspielen wieder welche spielen mit, aber nur wenn sie austeilen dürfen Aber Herrgottnocheins. NICHTS IST VORGEFALLEN MAN HAT SICH EINFACH GEHEN LASSEN man hat sie eben zurückgehen lassen, wo sie herkommen man hat sie gar nicht erst kommen lassen man hat sie/ man lässt sie ertrinken, zu Tausenden an den offenen Grenzen des europäischen Friedens und mano, ich versteh einfach nicht, warum wir nicht alle diese egalgewordenen Gren- zen vergessen können und uns auf unsere Menschlichkeit und Liebe zurückbesin- nen können und einfach zusammenhalten können, so als ein großes Team der Weltenbürger*innen... Es ist schon seit einer Weile so, dass mir vom vorwärtsfahren schwindelig wird ich weiß nicht, was es ist irgendwas am vorwärtsfahren. Ob es nur das Verstreichen der Zeit ist oder der entstehende Druck, wie wenn man am Kragen gepackt und mitgezerrt wird

88 | BBE DOSSIER NR. 8 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?« irgendwas am vorwärts fahren macht mich schwindelig, mir wird regelrecht schlecht Ist ja nichts vorgefallen also hier. Alles cool. Wir haben uns einfach gehen lassen. Ich will auch manchmal gehen.

AUTORIN Tanasgol Sabbagh studierte Orientwissenschaften in Marburg und seit 2018 verglei- chende Literaturwissenschaft an der Freien Universität zu Berlin. Sie ist seit 2011 als freischaffende Bühnenpoetin auf vielzähligen Bühnen im deutschsprachigen Raum unterwegs, unter anderem an der Volksbühne Berlin und der Elbphilharmonie in Ham- burg. Tanasgol Sabbagh wurde mehrfach zu den deutschsprachigen Poetry Slam Meis- terschaften eingeladen, wo sie 2019 Finalistin war. Seit 2016 leitet sie Schreibwork- shops für Jugendliche und Schüler*innen. Sie ist Mitglied der Berliner Kultlesebühne Spree vom Weizen und Gründungsmitglied der politischen Lesebühne parallelgesell- schaft in Berlin Neukölln.

MAX GEBHARD

Gebhards teilweise Depression-induzierenden, nicht Klischee-befreiten und stets be- deutungsschwangeren Gedanken zur Frage nach den Herausforderungen der deut- schen Ratspräsidentschaft in 17 Haikus und einer Homage.

Sachliche Entscheidung (von Erich Kästners »Sachliche Romanze«) Als sie einander 23 Jahre kannten, und man muss sagen sie kannten sich gut, kam ihre Liebe plötzlich abhanden, wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren entschlossen, der Diskurs wurde hitzig, man versuchte noch Handel, als ob nichts sei, der Rest von uns fand es noch kurzzeitig witzig. Da entschieden sie schließlich. Und wir standen dabei. Vom Fenster aus konnte man Schiffe versenken, man hatte beschlossen, jetzt wurde getrennt, und Zeit, das Einreiserecht zu beschränken. Und irgendwo spukte ein blondes Gespenst. Sie gingen zum kleinsten Plenarsaal vor Ort, und rührten in den Verträgen, nach vier Jahren saßen sie immer noch dort, sie saßen zusammen und sie sprachen kein Wort und konnten sich einfach nicht lösen. Social Distancing

Der Winter ist hier.

BBE DOSSIER NR. 8 | 89 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?«

Das Klima war schon besser. Wir sehen uns dann. Ästhetik der Pandemie So hell das Lachen, während du von Sommer sprichst Unter deiner Maske. Hochleistungsabbau »Her mit der Kohle!« schreit wer und hört nicht den Tod in seiner Stimme.

Viel Wind um Nichts

Die Räder im Feld, sie rollen dahin, rollen dahin. Häßlich halt. Für uns alle nur Neuland Appetit vergeht. Da wo das Virus herkam, da wartet noch mehr. 99%

Ein Gespenst geht um, doch nicht nur in Europa. Armut steht ins Haus. 1%

Ein Gespenst geht um, doch nicht nur in Europa. Wer soll das zahlen. Unmissverständliche Wunschvorstellung

Ein Gespenst geht um, doch nicht nur in Europa Na ihr, blöde Frage. Steuermänner und -frauen

Scheinbar verlernt ist die Steuerung der Steuern. Nur Nadeln im Heu. Tägliches Fenster zum Abgrund Meine Damen und

90 | BBE DOSSIER NR. 8 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?«

Herren, Herzlich Willkommen bei der Tagesschau. Kalter Krieg Zwei alte Riesen wo bleiben die Geschenke? sind doch Scheidungskind. Wenn zwei sich streiten, freut sich der, mit dem man eigentlich auch streiten müsste

Neue Orientierung. Duisburg hing davor schon am seidenen Faden. Verantwortung ergreifen in Zeiten der Krise

Den Rat zu führen, ist hoffentlich auch möglich ohne viel raten. Zu Erwartungsdruck und den Realitäten der Demokratie Nun ruft das System, nach Tat und nach Vorsicht, dem Widerspruch blind. Rechts-Links-Schwäche Zerstrittenes Haus. Zwei Seiten einer Münze. Nur eine Münze. Gewissensflüchtlinge Was dachten wir uns Wohlstand gegen Mut zu handeln mit dem Teufel selbst? Würde So sorgt euch doch nicht. Wir wollen nur das Beste. Pokemontrainer.

AUTOR Max Gebhard lebt in Berlin und ist Kleinkunstveranstalter und Slampoet. Er ist seit 2012 in der deutschsprachigen Slamszene aktiv und organisiert zahlreiche Veranstal- tungen wie den Guerilla-Slam, den Neukölln-Slam und die Berlin-/ Brandenburg-Meis- terschaften im Poetry Slam. 2019 veranstaltete er als Teil des Kollektives Edellauchs die deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam in Berlin.

BBE DOSSIER NR. 8 | 91 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?«

JOSEFINE BERKHOLZ

Jede Beziehung beginnt mit einem Mythos. Mit einer Geschichte der Gründung die rund ist gut zu erzählen irgendwas Das man auf Partys gerne auspackt und ausbreitet Was kleines zu Lachen dabei ein Funken von Vorbestimmung vielleicht etwas Schicksal und das Banale zum Gegenkrachen wie: Eigentlich Wollt ich nur nochmal Rosmarin nachkaufen gehen. Es war Winter die Wege gefroren Ich in Eile, ihr kennt mich gedankenverloren, den Kopf in den Wolken und eh ich mich abstützen konnte oder versah War mein Knöchel gebrochen und eure Mutter stand da. Wie aus dem Nichts. Sanitätszeug in Händen und Spott im Gesicht und sagte Freund- chen es ist Weihnachtsgeschäft da kann man auch mal ein bisschen aufpassen wo man hintritt kannst du dir vorstellen wie voll die Notaufnahme auch ohne so Vollidioten wie dich jetzt schon ist nein, kannst du nicht – Wir erzählen uns solche Dinge, auch wenn wir uns eigentlich über Tinder kennenge- lernt haben. Was lange Kraft abstrahlen soll, braucht eine Gründungsgeschichte. 1. Ursprung: Eine Geschichte des Eindringens

Es beginnt wenig glorreich. Europa, die reizende Tochter der Telephassa die sicher noch mehr war, aber von der nur ihre Schönheit und ihr Schicksal in Überlieferung blieben, wird vom Vater der Götter Den die Menschen nach ihrem Ebenbild schufen, ausgetrickst, auf einen fremden Kontinent verschleppt und vergewaltigt. Im Anschluss verwandelt Zeus sie in eine Kuh und verschenkt sie an seine Ehefrau. Aber das ist nur zu ihrem Besten. So hat das also angefangen hier. Das ist die Geschichte, die wir noch immer erzählen Betrachtet man was später so kam, könnte man meinen, der Kontinent gibt seit seinem Bestehen dieses Trauma weiter. Auch wenn das erst so nach und nach in der Therapie rausgekommen ist. Auch wenn das immer noch strittig ist ob man das wirklich so nennen Ob das nicht auch sein Gutes, wir haben wirklich erst angefangen das so zu bezeichnen. Wir sind uns ehrlich gesagt auch noch nicht ganz einig ob man das wirklich so schonungslos ob man das nicht auch anders Ich meine es waren andere Zeiten, ich meine man kann

92 | BBE DOSSIER NR. 8 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?« die Geschichte unserer Anfänge auch wirklich ganz anders Erzählen Ich meine da sind auch Handelswege entstanden, Verkehrssysteme Ich meine wir sind doch glücklich. Inzwischen. Einen Vertrag macht man, wenn man sich die Einhaltung der eigenen hehren Ziele selbst nicht ganz zutraut oder wenn die Geschichte einen soeben gelehrt hat das in re- gelmäßigen Abständen passiert wovon man noch Wochen zuvor gesagt haben würde das wäre nicht einmal denkbar. Einen Vertrag macht man, wenn einen das Leben ge- lehrt hat sich selber zu kennen und etwas wichtiger wird als der Wunsch sich selbst zu erzählen man wäre besser. Ein Vertrag ist Misstrauen gegen den Ist-Zustand aus Liebe. 2. Gründung

Es beginnt in erneuten Trümmern. Mit einem Sieg und dem Verlust jeglicher Gewissheit, es beginnt mit dem Ende der Poesie In einer Stunde die die vorherige Zeitrechnung löscht, es beginnt auch mit Pragmatismus man muss sich nicht mögen, um einander zu brauchen, das hat seine ganz eigene Romantik. Manchmal kommt die Liebe später. Manchmal ist Liebe zu viel. Es beginnt als Wirtschaftsgemeinschaft. Mit dem Beschluss gemeinsam wieder hochzukommen, Weil alles am Boden und nun mal kein anderer da ist Es beginnt mit dem Wissen, dass uns das da Nicht noch einmal passieren darf. Egal wie viel Lust wir bekommen Uns erneut eine reinzugeben, es beginnt mit der Einigung darauf Das nicht möglich sein zu lassen, mit dem Schaffen von Abhängigkeiten von Verbindungslinien und Schienen, die Brüche darum werden langsam verheilen. Die offenen Stellen hoffentlich noch zusammenwachsen. Auf die Werte darin werden wir mit der Zeit schon noch einig. Es beginnt mit einem allerersten Schritt In eine irgendwie gemeinsame Richtung. Große Liebe Beginnt mit einer Frage Und als Antwort mit einer Erzählung Wer bist du? Was ist deine Geschichte? Was magst du trinken? Wo wollen wir noch hingehen Was hörst denn du für Musik Ist dir mal aufgefallen Dass man, wenn man sich frisch verliebt Sich zunächst über alles einig scheint -

BBE DOSSIER NR. 8 | 93 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?«

Ja ich mag auch My Chemical Romance Ja ich hasse auch das System Ja ich geh auch total gern ins Theater Ja ich esse auch häufig Müsli zum Frühstück und hast du das mal probiert wenn man da morgens noch so frisches Obst reinschneidet ja was hast du auch ist das nicht unglaublich? Wie das alles zusammenpasst. Ist das nicht erstaunlich? Wie mein Leben, wie so eine Hand die die andere fasst in deines hineingreift und das Das sind dann wir. 3. Honeymoon

Als ich in die Welt und ein halbes Jahr später in die EU kam War sie schon so lange da, dass man als Heranwachsende In Deutschland beinah vergessen konnte, dass es sie gab. Und vor allem, dass es sie einmal nicht gegeben hatte Ich wuchs auf in direkter Nachbarschaft zu den vier besten Käsenationen der Welt und ich konnte in sie alle ohne Pass einreisen Ich hatte mit dreizehn geförderte Sprachaufenthalte, mit 15 einen Interrailpass Mit siebzehn sagte ich nach meiner Nationalität gefragt ich sehe mich eher als Europäerin mit vierundzwanzig hoffte ich dass ein Verbund freier Staaten die Möglichkeit wäre Probleme zu lösen die das Konzept von Staatsgrenzen ignorieren Ich hab das so sehr geglaubt, ich hab mich selbst so sehr darin geglaubt Die Insel auf der ich aufwuchs erschien mir die ganze Welt Ohne Vergangenheit, ohne Verhältnis zum Außen. Eine ehrliche Beziehung beginnt irgendwann neu mit dem freiwilligen Vorzeigen der hässlichsten Stellen am eigenen Körper, mit den Geschichten die man auf keiner Party jemals erzählt, damit das rauskommt, was man geheim halten wollte. Wenn die Hände nicht mehr nahtlos ineinander sondern manchmal ins Leere greifen und man vielleicht den Mut finden muss zu sagen: hier Hier ist wo ich stehe. Das ist inzwischen ein Stück von dir Weg.

Wenn man sich weiterhin liebt beginnt die Heilung damit dass man sich schonungslos selbst betrachtet und die Differenz zwischen dem, was man sich selbst und dem an- deren versprochen hatte zu sein und dem was man wirklich ist vor sich auf den Tisch aufstapelt und anschaut.

Wenn man sich eingestanden hat, dass es ein Problem gibt, aber es nach wie vor ernst genug meint um nicht aufzugeben beginnt 4. Therapie

AUTORIN Josefine Berkholz ist eine Poetin, die vor allem Lyrik, Performatives, Essayistik und Theatertexte verfasst. Von 2013 bis 2017 studierte sie am Deutschen Literaturinsti-

94 | BBE DOSSIER NR. 8 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?« tut Leipzig, seit 2018 ist Studentin der Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Teil der deutschsprachigen Poetry Slam-und Spokenwordszene und trat bereits für das Goethe Institut, das ZDF Kultur, MDR und Arte auf. Josefine Berkholz führt Schreibwerkstätten (etwa für die BpB, Deutschland- funk, Lyrix e.V.) durch und kooperiert häufig mit Künstler*innen anderer Sparten. Auf diesem Weg sind inzwischen Projekte entstanden, wie ein Poesiefilm mit der Filmema- cherin Brenda Lien, ein Theaterstück mit dem Armstrong Kollektiv oder eine szenische Lesung in einer Fabrik in Wolgograd mit Lena Vöcklinghaus und Tilman Severin.

PHILIPP HEROLD

Seit 1988 sind ca. 100 Unternehmen verantwortlich für über 70 Prozent der weltwei- ten CO2-Emissionen (Carbon Majors Report 2017) »Die Welt kann sich unseren Konsum nicht leisten. Sie wird nicht satt davon und schon gar nicht glücklich.« Fatima Moumouni erebutation Ich öffne das Fenster und lese… Mindestens 55 Prozent weniger – Bedenken in Bellevue – »In all diesen Momenten braucht es unser klares Nein« – Über 366 Seiten – Vierfache Auslastung – »Wir müssen so schnell wie möglich handeln« – Patienten in Not, Zeitmangel – Der Familienstreit eskaliert – »Jetzt sind die anderen gefragt« Ich schließe das Fenster wieder und denke… – Sag mir Europa! Wo willst du hin? – Ich wünschte, du könntest mir erklären, was schön und gut und wahr ist wenn mir wieder auffällt, wie viel mir nicht klar ist. Abseits des historischen Zufalls hier in diese Welt geboren zu sein, in Sicherheit und Geld geboren zu sein – als weißer Mann wohlstandbemerkt – will ich weitsichtig sein und lernen. Zuhören und verstehen, worum es in Zukunft geht. Selbst wenn ich oft zu passiv und gemütlich bin in dem betäubten Wissen, wie privilegiert und naiv ich bin. Aber brauchen wir nicht viel mehr politischen Willen, zur konsequenten Einhaltung von selbstgesteckten Zielen? Sollte nicht schon jetzt sofort so viel mehr passieren um Erderwärmung und Emissionen zu reduzieren? Müssen wir nicht alle Maßnahmen intensivieren um Energie- und Industriesysteme zu transformieren? Die Lüfte und Straßen, sie dünsten Benzin, die Meere und Strände, sie waschen den Abfall, nur ob wir es schaffen, uns umzuer- ziehen, bleibt fragwürdig, denn wir denken zu langsam. Klar! Das Bewusstsein haben wir schon irgendwie entwickelt

BBE DOSSIER NR. 8 | 95 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?«

es mangelt uns nur noch an ausgeprägter Achtsamkeit die eigenen Entscheidungen zu reflektieren tiefergehend zu recherchieren, sich auch mal die Zeit zu nehmen eigene Möglichkeiten einzugestehen und im stetigen Wandel die Chance zu sehen schon jetzt entscheidende Schritte weiter zu gehen. Nicht erst dann, wenn es wirklich zu spät ist denn das Zeitfenster zum Handeln verkleinert sich stetig. Die Straßen und Meere, sie heizen sich auf hier wo Luft bald nicht mehr zum Atmen taugt zwischen Überfluss und Mangel brechen Virus und Panik aus Und mittendrin gehen Menschen immer noch auf die Straße stellen Forderungen und berechtigterweise die Frage: Wieso ist die Erde dem Burn-Out so nah, obwohl die Chance zum Handeln längst greifbar war? – Sag mir, was du siehst, wenn du an die Zukunft denkst! – Ölverklebte Pinguine, Plastikpost im Ozean? Atemmasken-Abendball, Strandurlaub mit Restmüll-Charme? Oder erreichte Klimaziele und meeresblaue Tiefe? Plastik-Prevention? Grüne Gesellschaftsutopien? Bewusste Produktion in Unternehmensphilosphien? »Jetzt neu! Fairtrade – Bio – zertifiziert gut für die Umwelt – unbedingt probieren!« Nachhaltigkeit hier und Nachhaltigkeit da ist dann mal schnell, was der Markt sich so denkt Nachhaltigkeits-Bier in der Nachhaltigkeits-Bar Lässt sich easy umsetzen und liegt voll im Trend Denn: Greenwashing ist in! macht n guten Eindruck und vervielfacht den Gewinn Aber verbietet es sich nicht von selbst mit dem Gedanken zu spielen Nachhaltigkeit nur einzusetzen um Vorteile im Wettbewerb zu erzielen? Sie muss ernst genommen, organisatorisch verankert werden in politischen Denkstrukturen und im Abbau unserer Erde Erst wenn sich Unternehmen wirklich als »nachhaltig« verstehen und ökonomische, ökologische und soziale Verantwortung übernehmen sich in der Führung die Grundidee und die Überzeugung verfestigen profitiert nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Beschäftigten Und selbstverständlich wird in der Praxis auch klar Integration von Nachhaltigkeit stellt eine Herausforderung dar Aber es gilt die ihre Dringlichkeit von Grund auf neu zu verstehen und sie als Antreiber von Innovationsprozessen zu sehen – Sag mir, was du siehst, wenn du an die Zukunft denkst! – Ich weiß, es klingt pathetisch, aber es ist höchste Zeit und auch die letzte Möglichkeit die Ausmaße unseres Handelns ernsthaft einzuschätzen alte Denkmuster aus- und neue Konzepte einzuwechseln um Großes zu verändern durch Einhalten von kleinsten Versprechen

96 | BBE DOSSIER NR. 8 Europäische Akademie Berlin: »Europa...und wir!?« und endlich Weichen zu stellen, voranzugehen und Zeichen zu setzen Jeder Morgen sehnt sich nach einer Tat, jeder Tag nach Durchdringung der Routine aber nur, wenn er sich stets hinterfragt bleibt der Mensch wichtiger als die Maschine – Also erklär mir Europa! Wo führt das hin? – Neuaufbau im Wartestand Hinauszögern der Laufzeit ereb wird’s im Abendland und überhört der Aufschrei Öffne ich die Fenster wieder vernehme ich Streitigkeiten um Einzelheiten… Wer soll welchen Beitrag leisten? Wie viel Zeit bleibt einzuschreiten? Nur wird beim Blick in die Zukunft leider zu oft die Weitsicht unterschätzt denn die Zukunft beginnt nicht erst 2035 – sondern jetzt!

AUTOR Philipp Herold ist Texter, Sprecher und Moderator. Als gelernter Rap MC und studier- ter Kulturwissenschaftler ist er einer der vielseitigsten Bühnenpoeten seiner Genera- tion. Er ist zweimalige Vizemeister im deutschsprachigen Poetry Slam. Im Herbst 2018 feierte er die Premiere seines Soloprogramms Kulturensohn und die Veröffentlichung seines ersten Albums Alles zu seiner Zeit.

BBE DOSSIER NR. 8 | 97 TEIL III: MÄDCHEN/ JUNGE FRAUEN UND BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT

ULRICH SCHNEEKLOTH/ MATHIAS ALBERT WERTORIENTIERUNGEN – BEFUNDE AUS DER 18. SHELL JUGENDSTUDIE

»Eine Generation meldet sich zu Wort« Handlungsaufforderung, die an die älte- ren Generationen gerichtet ist, insbeson- Die 18. Shell Jugendstudie trägt den Un- dere an die Politikerinnen und Politiker. tertitel »Eine Generation meldet sich zu Wort«. Bereits seit 1953 widmet sich die- Die Haltung der jeweiligen jungen Genera- ses sozialwissenschaftliche Langzeitpro- tion beschreiben wir anhand von zentra- jekt den Entwicklungen bei den Lebens- len Wertorientierungen. Hierunter verste- lagen und den typischen Lebensentwür- hen wir in der Shell Jugendstudie drei kon- fen der jeweiligen jungen Generation in stitutive und dabei alltagsnahe Aspekte: Deutschland. Zuletzt haben wir im Früh- jahr 2019 etwas über 2.500 junge Men- 1. Angestrebte Lebensziele, wie etwa Un- schen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren abhängigkeit, ein hoher Lebensstand auf repräsentativer Basis befragt, ihre prä- oder Partnerschaft und Familie; genden Einstellungen erkundet und dann 2. Tugenden als normative Ideale, die man verglichen, inwieweit sich die heutigen Ju- für sich als wichtig empfindet, wie etwa gendlichen in ihren Haltungen von denje- Fleiß und Ehrgeiz oder ein gutes Famili- nigen unterscheiden, die in den vorange- enleben führen; sowie gangenen Studien in den früheren Jahren 3. spezifische Haltungen, mit denen man einbezogen waren. sich gegenüber gesellschaftlichen oder alltagspraktischen Fragestellungen po- Trotz des auch weiterhin prägenden prag- sitioniert, wie etwa Umweltbewusst- matischen Grundmusters in den Einstel- sein, die eigene Phantasie und Kreativi- lungen und Haltungen lassen sich inzwi- tät entfalten oder auch sozial Benach- schen wichtige Veränderungsprozesse teiligten zu helfen. feststellen. Die gegenwärtige junge Ge- neration benennt wieder nachdrücklicher Diese Wertorientierungen bilden zusam- eigene Ansprüche, insbesondere hinsicht- men genommen den Wertekanon, der als lich der Gestaltung der Zukunft der Gesell- Kompass für die eigenen Einstellungen, schaft, und fordert aktiver als früher ein, Bewertungen und das Handeln dient. dass bereits heute dafür die aus ihrer Sicht erforderlichen Weichenstellungen vorge- Familie und Beziehungen bleiben die nommen werden. Als zukunftsrelevante zentralen Orientierungspunkte Themen haben vor allem Umweltschutz und Klimawandel erheblich an Bedeutung Partnerschaft, Familie und der Wunsch gewonnen. Sie bilden Kristallisationspunk- nach guten Freunden sind nach wie vor te sowohl für die Artikulation der Forde- die mit Abstand wichtigsten Wertorien- rung nach Mitsprache als auch für die tierungen, die so gut wie alle Jugendliche

98 | BBE DOSSIER NR. 8 Schneekloth/Albert: Wertorientierungen für sich gewährleistet sehen wollen. Diese können. Die Konturen dieses Grundmus- Lebensziele sind sogar noch etwas wichti- ters haben sich in den letzten Jahren aller- ger als Eigenverantwortlichkeit und Unab- dings erkennbar hin zu einer bewussteren hängigkeit, diese benennen aber ebenfalls Lebensführung und einer Artikulation von mehr als vier von fünf Jugendlichen und eigenen Ansprüchen an eine nachhaltige damit ebenfalls die große Mehrheit als für Gestaltung der Zukunft der Gesellschaft sich und ihre Lebensführung wichtig. Auch verschoben. an der Betonung von Tugenden, wie etwa der Respektierung von Gesetz und Ord- Bewusste Lebensführung und eigener nung, fleißig und ehrgeizig zu sein oder Gestaltungsanspruch nach Sicherheit zu streben, hat sich seit 2002 nichts geändert. Auch hier sind es Die deutlichste Veränderung im Werteka- etwa vier von fünf Jugendlichen, die dies non von Jugendlichen zeigt sich bei den für sich selbst als wichtig bezeichnen. Fa- Wertorientierungen, die für eine bewuss- milie stellt einen »sicheren Heimathafen« te Lebensführung stehen. Gesundheitsbe- dar, der jungen Menschen Halt und Un- wusstsein ist vier von fünf Jugendlichen terstützung gibt, wohingegen die Orien- wichtig, und damit ungefähr gleich wichtig tierung am Tüchtigkeitsideal für das »Ver- wie der Wunsch nach Unabhängigkeit, die sprechen« steht, dadurch gesellschaftli- Bedeutung von Fleiß und Ehrgeiz sowie che Anerkennung zu finden und am Leben der Lebensgenuss. Der Schutz der Umwelt teilhaben zu können. Gesellschaftliche liegt 71 % am Herzen und ist damit inzwi- Konformität und Leistungsnormen wer- schen sogar wichtiger als ein eigener ho- den demnach auch von der gegenwär- her Lebensstandard (63 %). Der Trend und tigen jungen Generation akzeptiert und die damit verbundenen Veränderungen nicht in Frage gestellt. Dass Jugendliche sind an dieser Stelle klar ersichtlich: Im gleichzeitig aber auch offen für Neues sind Jahr 2002 haben noch 60 % der Jugend- und die Bereitschaft vorhanden ist, eine lichen Umweltbewusstsein als wichtigen Rolle als Träger von Veränderungen zu Wert benannt, inzwischen trifft dies für übernehmen, zeigt sich hingegen daran, fast drei von vier Jugendlichen zu. Das ist dass ebenfalls vier von fünf »die eigene ein ungewöhnlich hoher Bedeutungsan- Phantasie und Kreativität entwickeln« als stieg, es gibt, mit nur einer Ausnahme, kei- ähnlich wichtiges Lebensziel benennen. nen anderen Bereich, der seitdem ähnlich stark an Relevanz gewonnen hat. Diese Nach wie vor kennzeichnend für die Ju- Ausnahme bildet interessanterweise das gendlichen in Deutschland ist ihre prag- politische Engagement, dessen Bedeutung matische Grundorientierung. Die Jugend- aus der Sicht der Jugendlichen, wenn auch lichen sind, wie auch schon in den letzten auf einem niedrigeren Niveau, sogar noch Shell Jugendstudien beschrieben, bereit, etwas stärker angestiegen ist. Umwelt-, sich in hohem Maße an Leistungsnormen Klima- und Gesundheitsbewusstsein so- zu orientieren und hegen gleichzeitig den wie eine bewusste Lebensführung gehen Wunsch nach stabilen sozialen Beziehun- Hand in Hand mit der Haltung, sich bei den gen im persönlichen Nahbereich. Sie pas- eigenen Entscheidungen auch von seinen sen sich auf der individuellen Suche nach Gefühlen leiten zu lassen, drei von vier Ju- einem gesicherten und eigenständigen gendlichen stufen dies als wichtig ein. Gut Platz in der Gesellschaft den Gegeben- in dieses Bild passt auch, dass auch die Re- heiten so an, dass sie Chancen, die sich spektierung von Vielfalt bei etwas mehr auftun, dadurch möglichst gut ergreifen als vier von fünf Jugendlichen mit an der

BBE DOSSIER NR. 8 | 99 Schneekloth/Albert: Wertorientierungen

Spitze der Werteliste steht. Die große Be- prägt. Noch 2015 hatte es den Anschein, deutung, die damit einer bewussten und dass die traditionsbezogenen Wertemus- achtsamen Lebensführung beigemessen ter leicht ansteigen würden. Dies hat sich wird, dürfte auch eine wesentliche Trieb- aktuell allerdings wieder umgekehrt. kraft dafür sein, dass Jugendliche das ei- gene politische Engagement wieder höher Junge Frauen als Trendsetter einer bewerten: aktuell sind dies 34 %. bewussteren Lebensführung

Für junge Menschen haben demnach die Junge Frauen repräsentieren die Verände- idealistischen, also die eher sinnstiftenden rungen im Wertekanon besonders deut- Wertorientierungen an Bedeutung ge- lich. Ihnen liegen insbesondere die Orien- wonnen. Gegenläufig ist die Entwicklung tierungen aus dem Wertemuster Bewuss- bei eher materialistischen Orientierun- te Lebensführung häufiger am Herzen. gen, die darauf abzielen, die persönliche So halten es fast vier von fünf weiblichen Macht- und Durchsetzungskraft zu stei- Jugendlichen im Vergleich zu etwas mehr gern. Nur jeder dritte Jugendliche betont als zwei von drei männlichen Jugendlichen den Stellenwert, selbst Macht und Einfluss für wichtig, sich unter allen Umständen zu haben. Dies sind damit deutlich weni- umweltbewusst zu verhalten. Auch die ger als diejenigen, denen es wichtig ist, so- soziale Orientierung ist bei ihnen stärker zial Benachteiligten zu helfen (62 %). Sich ausgeprägt. Hier sind es zwei von drei jun- und seine eigenen Bedürfnisse gegen an- gen Frauen – im Vergleich zu etwas mehr dere durchzusetzen ist für jeden zweiten als jedem zweiten jungen Mann –, die es wichtig, und damit ebenfalls für weniger wichtig finden, sozial Benachteiligten zu Jugendliche als diejenigen, die Toleranz helfen. Die Bedeutung eines eigenen po- gegenüber anderen Meinungen betonen litischen Engagements ist bei jungen Frau- (59 %). Dies hat nichts mit fehlender eige- en ebenfalls angestiegen (34 %) und wird ner Zielstrebigkeit zu tun. Fast alle Jugend- von ihnen jetzt genauso hoch wie von jun- lichen (87 %) reklamieren für sich, die ei- gen Männern bewertet. genen Ziele und Erfolgsvorstellungen auch in die Tat umsetzen zu wollen, und knapp Junge Männer orientieren sich weniger ebenfalls zwei von drei Jugendlichen hal- gefühlsbetont und stärker materialistisch ten es für wichtig, mehr zu leisten als die als junge Frauen. Deutlich ausgeprägter anderen. ist vor allem ihr Wunsch, selbst Macht und Einfluss zu haben. Immerhin mehr als je- Ein hoher Lebensstandard bleibt für zwei der dritte junge Mann, aber nur etwa jede von drei Jugendlichen ein relevantes Le- vierte junge Frau halten dies für wichtig. bensziel. Im Vergleich zur Shell Jugendstu- Beim hohen Lebensstandard gehen die die von 2015 ist auch hier ein Rückgang Vorstellungen jedoch wieder zusammen: feststellbar, allerdings war die Bedeutung Junge Männer benennen dies zu 65 % und dieser Orientierung ab 2010 stärker ange- junge Frauen zu 61 %. Junge Frauen las- stiegen. Aktuell hat sich diese materielle sen es dabei auch keinesfalls an Durchset- Anspruchshaltung wieder auf das Niveau zungsanspruch mangeln. Sie schätzen sich der Studien von 2002 und 2006 einge- als genauso zielstrebig ein wie junge Män- pendelt. Wertemuster, die Tradition und ner (88%) und finden es für ihre Lebens- Konformität kennzeichnen, verlieren an führung ebenfalls genauso wichtig, sich Bedeutung. Es ist der Non-Konformismus, und ihre Bedürfnisse gegenüber anderen der nach wie vor die Lebensphase Jugend durchzusetzen (49 %).

100 | BBE DOSSIER NR. 8 Schneekloth/Albert: Wertorientierungen

Diese teilweise unterschiedlich ausge- studie von 2019 beschriebenen Verände- prägten Akzentuierungen im Werteka- rungen in den Wertorientierungen lassen non sollten jedoch nicht so verstanden allerdings eher Gegenteiliges vermuten. werden, dass es zwischen weiblichen und Auch die Corona-Pandemie rückt die be- männlichen Jugendlichen eine grundle- reits im Kontext der Debatte um den Kli- gend andere Orientierung im Sinne eines mawandel aufgekommene Frage in den »tiefen Grabens« geben würde. Die an- Vordergrund, welche Lebensführung un- gesprochene pragmatische Grundorien- ter den heutigen globalen Bedingungen tierung charakterisiert die Mehrheit aller eigentlich verträglich ist und wie man sein Jugendlichen. Die aufgezeigten Unter- Leben entsprechend gestalten muss. Nach schiede verweisen aber darauf, dass die wie vor offen ist allerdings, ob dies dann in der gesamten Gesellschaft spürbaren auch in der Breite der Jugendlichen zu ei- Trends einer bewussteren Lebensführung nem nachhaltigen Engagement, sei es ge- im Kontext mit der gestiegenen Sorge um sellschaftspolitisch oder auch einfach nur den Klimawandel erkennbar stärker durch im eigenen Umfeld zum Wohle anderer junge Frauen als durch junge Männer be- Menschen, führt. fördert werden. Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten Eine neue Kultur des Engagements? 10/2020 am 12.11.2020.

Die beschriebenen Veränderungen in den Weitere Informationen zur Shell Jugend- Wertorientierungen von Jugendlichen studie https://www.shell.de/ueber-uns/ bilden wichtige Anknüpfungspunkte für shell-jugendstudie.html eigenes gesellschaftliches und auch poli- tisches Engagement. Insbesondere letzte- AUTOREN res wurde vor allem beim sogenannten Kli- maprotest von »Fridays for Future« in der Ulrich Schneekloth ist Sozialwissenschaft- jüngsten Vergangenheit sichtbar. Seit dem ler und ist bei Kantar Public Senior Direktor weltweiten Ausbruch der Corona-Pande- und Leiter des Forschungsbereichs »Fami- mie zu Beginn des Jahres 2020 hat sich der lie, Bildung, Bürgergesellschaft«. Er leitet Fokus allerdings geändert. Der mit erheb- das Kantar Public-Team für die Jugendstu- licher medialer Resonanz vorgetragene die und forscht zur Lebenslagenforschung, Protest dieser vor allem von Jugendlichen Familie, Kindheit, Generationenbeziehun- und dabei von auffällig vielen weiblichen gen, und zu Methoden der empirischen Protagonistinnen getragenen Bewegung Sozialforschung. ist seitdem öffentlich deutlich rückläufig, was natürlich auch an den im Zuge der Co- Prof. Dr. Mathias Albert ist seit 2001 Pro- rona-Krise ausgesprochenen Kontaktbe- fessor für Politikwissenschaft an der Fa- schränkungen liegt. Inwieweit Corona und kultät für Soziologie der Universität Biele- die damit verbundenen Einschränkungen feld. Zu seinen Forschungsgebieten zählen an dieser Stelle zu einem Bruch bis hin zu sowohl verschiedene Bereiche der inter- einem neuerlichen Wandel in den prägen- nationalen Politik als auch die Jugend- den Einstellungen führt, kann momentan forschung. Prof. Albert ist als Leiter des noch nicht abschließend beurteilt werden. Autorenteams für die Shell Jugendstudie Die von uns in der letzten Shell Jugend- verantwortlich.

BBE DOSSIER NR. 8 | 101 GABRIELE ROHMANN KRASSE TÖCHTER? KRASSE SÖHNE? EMPOWERMENT, ENGAGEMENT UND GENDER IN JUGENDKULTUREN

Jugendkulturen – differenzierter als viele ›Pop- und Rockwelten‹ nie aus den Augen denken verloren - wenngleich ihr die daraus resul- tierenden Anfragen für Podiumsdiskussi- »Baby, baby, baby / dies ist deine Zeit / die onen, Interviews und Berichte als eman- du verlierst / und ich weiß nicht einmal / zipierte und engagierte »Vorzeigefrau« ob du ein Rock‘n‘Roll oder ein Techno-Girl eher lästig als lieb waren. wirst. / Ein mathematisches Naturtalent / oder eine, die allen ihr Herz verschenkt? Viele Jugendkulturen sind auf den ersten / Wer wirst du in dieser Welt / und ob Blick immer noch Jungenkulturen. Das dir einmal alles leicht fällt? ... Baby, baby, gilt für die ersten seit Ende des 19. Jahr- baby / wo ist das Vorbild für das Leben hunderts entstandenen, wie Wander- / das ich meine? / Wo sind die Role Mo- vogel oder Wilde Cliquen, bis in die Ge- dels / die mir zeigen, wie es geht / viel- genwart. Männliche bzw. maskulin und leicht gibt es welche / ich kenne keine ...«, meist cisgeschlechtlich oder heteronorm singt die Künstlerin Bernadette La Hengst ausgerichtete Skater, Hip-Hopper, Metal- in ihrem Song »Rockerbraut & Mutter« ler, Skinheads, Hardcorler, Punks oder DJs (Album »La Beat«, Trikont 2005) und ver- scheinen die einzelnen kulturellen Sze- arbeitete damals musikalisch die Situa- nen immer noch zu dominieren, geben tion von Mädchen und jungen Frauen in mehrheitlich Zeitschriften und Fanzines Jugendkulturen und in der Gesellschaft heraus, treten öffentlichkeitswirksamer generell. Die Begründerin und Leaderin in Erscheinung, sind sichtbarer und wer- der Band »Die Braut haut ins Auge« weiß, den mehr beachtet – immer noch sowohl wovon sie spricht. Mit ihrer Band ver- von den Jugendlichen als auch von einigen zeichnete sie auch in popkulturellen Seg- Medien oder einem Teil der Forschung. menten mehr als zehn Jahre beachtliche Erfolge, firmiert seit Jahren unter dem Ein genauer Blick hinter die Kulissen zeigt Namen Bernadette La Hengst als Musike- ein etwas differenzierteres Bild der Aktivi- rin, Schauspielerin und Politaktivistin und täten von Jungen, Mädchen oder sich queer ist bürgerschaftlich außerordentlich en- gebenden und mehrheitlich von jungen gagiert. Als Künstler*in hat sie sich über Menschen gestalteten und konsumierten viele Jahre im Popbusiness zu behaupten Szenen. In allen genannten Kulturen gab gelernt, sowohl in All-Female-Bands ge- und gibt es auch engagierte und mehr als spielt als auch mit Künstler*innen zusam- ›Freundin von‹-Frauen, die mit ganz unter- mengearbeitet, in der ersten Dekade der schiedlichen Strategien und Rollen in die- 2000er Jahre eines der ersten Lady Fes- sen Szenen ›Doing‹ und ‚Undoing Gender‘- te in Deutschland mitbegründet und da- und Kommunikations-Prozesse in Gang bei das Thema Mädchen und Frauen in gesetzt oder mitgestaltet haben – auffällig

102 | BBE DOSSIER NR. 8 Rohmann: Krasse Töchter? Krasse Söhne? oft im Medienbereich als Fotograf*innen, Komponente Cosplay - für Costume Play Webdesigner*innen, Modemacher*innen, - spielt eine zentrale Rolle. Anfangs trafen Filmer*innen, Fanzine-Schreiber*innen sich hauptsächlich Mädchen zu Conven- oder Redakteur*innen für kommerzielle tions oder Visual-Treffen. Gewinnerin war Off- und Online-Szene-Magazine. Und sie nicht, wer das teuerste Kostüm trug, son- werden immer sichtbarer. dern wer japanische Gothic-Lolita-Styles oder J-Rock-Stars mit möglichst selbstge- Manga, Visual kei und Cosplay – schneidertem Kostüm relativ nah am Ori- internetgenerierte Jugendkulturen ginal abbildete. Im Cosplay, das sich seit- her in Deutschland deutlich ausgeweitet Mädchen und junge Frauen* nutzen das hat, nimmt das Spiel mit Geschlechterkon- Internet gleichermaßen intensiv wie Jun- struktionen, etwa über das Crossplay – die gen, sie informieren sich über Musik und Imitation männlicher oder weiblicher Cha- Künstler*innen in zahlreichen On- und raktere durch das je andere Geschlecht-, Offline-Publikationen, surfen im Web 2.0 oder das Genderbending - die Verände- oder nutzen andere Internet-Angebote rung einer ursprünglich männlichen oder oder -Plattformen zu ihrer jugendkultu- weiblichen Lieblingsfigur oder ihre spiele- rellen Bildung und Entfaltung. Jüngere rische Transformation in ein geschlechts- Beispiele sind in Deutschland bekannt und neutrales Wesen – eine große Rolle ein. beliebt gewordene japanische Jugendkul- Auch wenn sich auf den ersten Blick im turen wie Manga oder Visual kei. Visual Cosplay wenig politisches oder bürger- kei war quasi die erste über das Internet schaftliches Engagement ablesen lässt, generierte Jugendkultur in Deutschland, zeigt sich auf den zweiten Blick, wie sehr die vor rund 20 Jahren hauptsächlich von Rollenspiele bzw. das sich Ausprobieren in Mädchen im Alter zwischen 13 und 19 anderen Rollen einen wichtigen Beitrag zu Jahren belebt wurde. Ursprünglich kommt einer vielschichtigen und multiperspekti- Visual kei aus Japan. Junge Japaner*innen vischen Wahrnehmung von Gesellschaft begannen in den 1990er-Jahren den and- beitragen kann. Ähnliches gilt auch für das rogynen Style so genannter J-Rock-Bands Gaming. zu kopieren. J-Rock oder -Pop ist ein Sam- melbegriff für japanische Musik, die viele Riot-Grrrl- und Ladyfest-Szenen unterschiedliche Stile zusammenbringt. Dazu zählen Pop, Glam, Rock, Punk, Me- Einige andere der wenigen Szenen, in der tal oder Gothic. Einer der bekanntesten J- sich mehrheitlich Mädchen, Frauen und Rock-Sänger, Mana, nutzte diesen Trend, sich nicht binär verortete Personen be- um seinen Fans gleich eigene Kollektionen wegen, sind diverse queere und queer- via Internet anzubieten. Zunächst nur Insi- feministische Szenen, wie die ursprünglich dern bekannt, kursierten Styles und Musik Ladyfest-Szenen, die sich aus Riot-Grrrl- hauptsächlich im Web, damals noch auf Szenen weiterentwickelt hatten. 1991 Plattformen wie MySpace, und kam als riefen in Olympia, Washington, Mädchen »vollständig medial generierte, gerade- und Frauen, die der Punk-, Hardcore- oder zu als eine internetgenerierte Szene«, so Grunge-Szene nahestanden, die Riot- der Kulturwissenschaftler Marco Höhn, Grrrl-Bewegung ins Leben, die das kon- nach Deutschland. Die Szene besteht aber servative Frau- und Mädchensein sowie längst aus mehr als originalgetreuem Ko- die binäre sexuelle Zuordnung männlich – pieren von Images und stundenlangem weiblich radikal infrage stellte. Dazu heißt Sitzen vor dem Computer. Die Szene- es im Riot-Grrrl-Manifest:

BBE DOSSIER NR. 8 | 103 Rohmann: Krasse Töchter? Krasse Söhne?

»WEIL wir mädchen uns nach platten, Zehnjährigen in uns wieder aufzuwecken, büchern und fanzines sehnen, die UNS die wir waren, bevor uns die Gesellschaft ansprechen, in denen WIR uns mit einge- klar machte, daß es an der Zeit sei, nicht schlossen und verstanden fühlen. mehr laut zu sein und Jungs zu spielen, sondern sich darauf zu konzentrieren, ein WEIL es für uns mädchen einfacher wer- »girl« zu werden, das heißt eine anständi- den soll, unsere arbeiten zu hören/sehen, ge Lady, die die Jungs später mögen wür- damit wir unsere strategien teilen und uns den.« (Gilbert & Kile 1997, S. 221) gegenseitig kritisieren/applaudieren kön- nen. Aktiv gegen Diskriminierungen, Vereinnahmungen und Kommerzialisierung WEIL wir die produktionsmittel überneh- men müssen, um unsere eigenen bedeu- Schnell wurde die Riot-Grrrl-Bewegung tungen zu kreieren ... gesellschaftlich entschärft und erlangte als popkultureller Ausdruck mit Etikettie- WEIL wir wege finden wollen, wie wir an- rungen wie »Girlpower« oder »Girlies« tihierarchisch sein und musik machen, und Bands wie den Spice Girls weltweit freundschaften und szenen entwickeln Beachtung – allerdings der radikalen po- können, die auf kommunikation und ver- litischen Inhalte entledigt. Die weltweite ständnis basieren und nicht auf konkur- Vernetzung vor allem über Fanzines, das renz und kategorisierungen von gut und Internet, Konzerte und Festivals ist aber böse ...« (Baldauf & Weingartner 1998, S. bis heute virulent geblieben und münde- 26 f.) te zunächst in den Ladyfesten, später all- gemeiner in queer-feministische Kontex- Die Riot Grrrls orientierten sich im Out- te. Das erste dieser Feste veranstalteten fit an der Grunge-Ikone und Ehefrau des die (Ex)Riot Grrrls im Jahr 2000 ebenfalls Nirvana-Sängers Kurt Cobain, Courtney in Olympia, Washington. Auch hier wur- Love. In Babydoll-Kleidchen, kantigen Stie- de ein Begriff, der lange Zeit konservativ feln und mit alles andere als smartem Auf- konnotierte der »Lady«, umgedeutet in treten forderten sie ihr Recht auf sexuelle »lady«, »ladyzzz« oder »ladiez«. Ladyfes- Befreiung, die freie Wahl von Geschlecht te als Events verschiedener feministischer, jenseits der heternormativen Vorstellun- vielgeschlechtlicher Szenen fanden seit- gen, also Schwul-, Lesbisch-, Trans- und her weltweit statt. Die einzelnen Feste, Queersein, und einen öffentlichen Diskurs die mehrtägig als eine Kombination von über die sexuelle Unterdrückung der Frau- Konzerten, Workshops, Demonstrationen, en ein (vgl. Groß 2007). Theater- oder Filmvorführungen abgehal- ten wurden, setzten ihre Schwerpunkte Zahlreiche Riot-Grrrl-Fanzines und -Bands und Inhalte jeweils selbst. So lautete das entstanden, die international bekanntes- Selbstverständnis des Frankfurter (a. M.) ten sind Bikini Kill und Tribe 8. Ladyfests im Jahr 2005: »Klar, dieses Fest will alles sein: feministisch, queer und Umdeutungen und neue Begriffe spiel(t) unkommerziell, sich gegen Kapitalismus, en bei den Riot Grrrls eine wichtige Rolle. Rassismus und Antisemitismus wenden, Das verdeutlicht schon der Name: »Grrrl will öffentliche Freiräume schaffen und bringt das Knurren zurück in unsere Mie- gegen Zweigeschlechtlichkeit, Zwangshe- zekatzekehlen. Grrrl zielt darauf, die unge- terosexualität, Konkurrenzdenken, Schön- zogenen, selbstsicheren und neugierigen heitsideale und Alltagszwänge einen

104 | BBE DOSSIER NR. 8 Rohmann: Krasse Töchter? Krasse Söhne?

Raum bieten. Ist dieser Anspruch nicht Rap-Duo SXTN oder Lady Bitch Ray, die etwas zu hoch? Wie Luka Skywalker (DJa- den maskulin-sexistischen Attitüden der ne) in einem Interview mal sagte: ›Weil ich Gangster- und Porno-Rapper ein weibli- aber eine Frau bin, muss ich außer Kunst ches Pendant gegenüberstellte. Auch for- zu machen, auch noch den Kapitalismus derte sie mit ihren zehn Thesen zum »Va- abschaffen, neue Lebensformen finden, gina-Style« feministisch bewegte Frauen mein konstruiertes Geschlecht und das wie am Machismo orientierte Männer zu der anderen reflektieren (...) und immer heftigen Diskussionen heraus und sorgte wieder mich selbst in Frage stellen‹. Des- bundesweit auch mit ihren Bücher »Bit- halb haben wir bisher einige Schwerpunk- chism. Emanzipation, Integration, Mastur- te gesetzt, die für uns besonders wichtig bation« (2012) und »Yalla, Feminismus!« sind.« (Groß 2007, S. 75) (2019) für Aufmerksamkeit.

Zentrale Aktionsformen, die auf den La- Der stärkeren Wahrnehmung und Wert- dyfesten (weiter)entwickelt und diskutiert schätzung von Frauen widmete sich auch wurden, waren Bühnenperformances, ein Berliner Internetprojekt. FemaleHip- Straßentheater, »pink & silver«-Demonst- hop.net wurde 2004 von Clara Völker, rationen und das »radical cheerleading«, Redakteurin bei der Zeitschrift »De:Bug bei denen schrill gekleidete Frauen*, Män- - Magazin für elektronische Lebensas- ner* bzw. generell im Geschlecht kaum pekte, Musik, Medien, Kultur, Selbstbe- zu unterscheidende Menschen öffentli- herrschung« initiiert und bot Frauen die che Räume beispielsweise mit spontanen Möglichkeit, auf dieser Plattform ihre Straßenparties (zurück)eroberten. Die Aktivitäten vorzustellen und sich zu ver- Riot-Grrrl-/Ladyfest-Szene bot und bietet netzen. Trotz der insgesamt stärker wer- Mädchen (und Jungen) neue alternative denden medialen Aufmerksamkeit auf Räume der Umdeutung und Selbstdarstel- weibliche oder *-MCs, -DJs, -Writer oder lung. In ihr werden gängige Rollenbilder -Breaker ist die HipHop-Kultur aber immer und Geschlechteridentitäten reflektiert noch davon entfernt, überwiegend eman- und/oder politisch aufgeladen und be- zipatorisch zu sein. Das hat sie mit Metal-, kämpft – und das weltweit, offline und Hardcore-, nicht-rechten Skinhead- oder online gut vernetzt. Skatboarding-Szenen gemein, in denen es ebenfalls aktive Frauen gibt, die nach au- Umgang mit Sexismus im HipHop und in ßen in Kleidung und Habitus an maskuline der Gothic-Szene Inszenierungen angepasster erscheinen als sie sind. Auch in diesen Szenen fühlen Aktive Frauen und Medienplattformen sich Frauen, die sich mit Szene-Wissen gibt es aber auch in männerdominierten und -Engagement wie Fotografieren oder Szenen wie dem HipHop. Der Umgang der Mitarbeit an einem Fanzine, Blog oder mit sexistischen Attitüden in dieser Szene, Vlog einbringen, trotz der manchmal star- die sich vor allem aus den Kunstformen ken Übernahme von maskulinen Verhal- Rap, DJing, Graffiti, Tanz und Beatboxing tenscodes emanzipiert. zusammensetzt, ist unterschiedlich. Vie- le B-Girls und Rapperinnen reagieren auf In der so genannten Gothic-Szene (Selbst- Nachfragen zu ihrer Stellung in der Szene bezeichnung wegen der Farbe Schwarz empfindlich, setzen sich über vorhandene »Schwarze Szene«), die neben der Tech- Sexismen hinweg und machen ›ihr Ding‹ no/Electro-Szene zu den wenigen Szenen – Beispiele dafür waren das erfolgreiche gehört, in der Geschlechterverhältnisse

BBE DOSSIER NR. 8 | 105 Rohmann: Krasse Töchter? Krasse Söhne? zahlenmäßig beinahe ausgeglichen sind, reichen. Mädchen* und junge Frauen* täuscht der erste Blick auf die Szene eben- sind gegenwärtig aktiver, selbstbewusster falls: Das Frauenideal der zerbrechlichen, und sichtbarer geworden. Diskussionen zarten, langhaarigen Frau und das andro- über Sexismus, Gender, sexuelle und ge- gyne Auftreten der Männer mit Rüschen, schlechtliche Vielfalt, LSBTIQ*, Intersek- Röcken, Schmuck und Schminke täuscht tionalität, Jugendkulturen und gruppen- letztlich nicht über eine Hyperfeminität bezogene Menschenfeindlichkeiten sind hinweg, die Frauen dem gleichen Druck in allen Jugendkulturen angekommen. aussetzt, als Frau gesellschaftlich nur an- Gleichzeitig finden aber auch (Re)maskuli- erkannt zu sein, wenn sie vor allem jung nisierungsprozesse statt, und auch die Un- und schön sind. So klagte die 25-jährige terwanderung von rechtsextremen und Satyria aus Berlin über Attraktivitätshier- rechtspopulistischen Strömungen zeigt archien in der Szene: »An der Spitze der vermeintlich neue rechte Mädchen und Hierarchie sind natürlich die sehr feminin Frauen, vielfältigere Repräsentationen aufgemachten Frauen, die, ja, möglichst und Aktionsformen, aber bei genauerem freizügig gekleidet sind, ja. Und je weni- Hinsehen altbackene reaktionäre Rollen- ger man dem klassischen Schönheitsideal und Machtverständnisse. entspricht, das eigentlich auch im Main- stream gilt – das unterscheidet sich dann LITERATUR UND QUELLEN nicht groß, höchstens in der Farbe der Sa- chen, die man anhat – also wenn man vom • Baldauf, Annette/Weingartner, Katha- Schönheitsideal abweicht, dann ist man rina (Hg.) (1998): Lips, Tits, Hits, Power? auch in der Gothic-Szene nicht so attrak- Popkultur und Feminismus. Wien/Bozen: tiv, genau wie in der anderen Gesellschaft Folio (...) ich styl mich nicht so, ich versuch zwar • Brill, Dunja (2007): Fetisch-Lolitas oder auch, was aus mir zu machen, aber nicht in Junge Hexen? Mädchen und Frauen in der der Form, ich zieh mich nicht so freizügig Gothic-Szene. In: Rohmann, Gabriele (Hg.): an. Und allein deshalb also entsprech’ ich Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkultu- schon nicht dem Ideal und hab also nicht ren. Berlin: Archiv der Jugendkulturen Ver- so große Chancen, und ja, bin ich in der lag KG, S. 55-70 Hierarchie der Attraktivität schon mal ’ne • Gilbert, Laurel/Kile, Chrystal (1997): Stufe drunter.« (Brill 2007, S. 60). SurferGrrrls. In: SPoKK (Hg.): Kursbuch Ju- gendkultur. Stile, Szenen und Identitäten Vielfältige Rollen von Mädchen* und vor der Jahrtausendwende. Mannheim: jungen Frauen* in Jugendszenen Bollmann Verlag, S. 220-226 • Groß, Melanie (2007): Riot Grrrls und Der kleine Einblick in verschiedene Ju- Ladyfeste - Angriffe auf die heterosexuelle gendszenen zeigt, dass pauschale Aus- Matrix. In: Rohmann, Gabriele (Hg.): Kras- sagen darüber, welche Rollen Mädchen se Töchter. Mädchen in Jugendkulturen. und junge Frauen darin einnehmen, nicht Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag möglich sind. Vielmehr gibt es ganz unter- KG, S. 71-81 schiedliche Strategien und Verhaltenswei- • Höhn, Marco (2007): Visual kei. Eine sen, die in Geschlechterverhältnissen und mädchendominierte Jugendkultur aus Gender über Anpassung, Abkopplung, Japan etabliert sich in Deutschland. In: »vorwegnehmenden Sexismus« im Sinne Rohmann, Gabriele (Hg.): Krasse Töchter. des Konzepts der Kommunikationsgue- Mädchen in Jugendkulturen. Berlin: Archiv rilla, Behauptungen und Empowerment der Jugendkulturen Verlag KG, S. 45-54

106 | BBE DOSSIER NR. 8 Rohmann: Krasse Töchter? Krasse Söhne?

Erschienen im BBE-Newsletter 22/2020 Sie hat zahlreich über Jugendkulturen pu- am 5.11.2020. bliziert, u. a. den Sammelband »Krasse Töchter. Mädchen und junge Frauen in Ju- AUTORIN gendkulturen«, erschienen im Archiv der Jugendkulturen Verlag KG. Gabriele Rohmann ist Sozialwissenschaft- lerin, Journalistin, Mitbegründerin und Website des Archiv der Jugendkulturen: Leiterin des Archiv der Jugendkulturen. https://www.jugendkulturen.de/

BBE DOSSIER NR. 8 | 107 MALTE HÖFELD EHRENAMT STEHT JEDER FRAU

Frühe Förderung innerhalb der erster Linie die Bundesanstalt. Das THW THW-Familie verfügt über drei Ausbildungszentren an den Standorten Hoya, Brandenburg an Das Technische Hilfswerk (THW) ist die Zi- der Havel und in Neuhausen. Die Möglich- vil- und Katastrophenschutzorganisation keiten in der Jugendarbeit sind vielfältig. des Bundes mit ehrenamtlichen Helferin- Das verbindende Element verschiedener nen und Helfern sowie hauptamtlichen gesellschaftspolitischer und freizeitorien- Beschäftigten im Geschäftsbereich des tierter Tätigkeiten ist die schrittweise He- Bundesministeriums des Innern, für Bau ranführung an die praktischen Tätigkeiten und Heimat. Seit 70 Jahren leistet das im aktiven Dienst. Mädchen und Jungen THW Amtshilfe bei Überschwemmungen, können im Rahmen der Jugendausbildung Erdbeben, Bränden oder auch in der Coro- verschiedene Leistungsabzeichen ablegen na-Pandemie im In- und Ausland. und anschließend mit ihrer Grundausbil- dung aktive Einsatzkräfte im THW werden. Zur THW-Familie gehört neben der THW- Bundesvereinigung und der THW-Stiftung Teilhabehürden abbauen, auch die THW-Jugend e.V., die sowohl Berührungsängste überwinden Nachwuchsorganisation der Bundesan- stalt THW, als auch eigenständiger Ju- Neben dem stetig wachsenden Frauen- gendverband ist. Unter dem Motto »spie- anteil in Haupt- und Ehrenamt, wird seit lend helfen lernen« führt der Verband 2019 ein bundesweiter Fokus auf die Ak- Kinder und Jugendliche spielerisch an die quise von bis zu 2.000 Bundesfreiwilligen- Aufgaben des THW heran. Sie wachsen dienstleistenden (»Bufdis«) gelegt. Diese zu einer starken Gemeinschaft und erhal- Option wird als weiteres Bindeglied zwi- ten die Möglichkeit, sich in vielen unter- schen THW-Jugend und aktivem Dienst schiedlichen Bereichen zu bilden und fort- gesehen. Die Lebensphasen junger Men- zuentwickeln. Die Arbeit mit Kindern und schen sind zunehmend von beruflicher Jugendlichen fußt auf den fünf Säulen: Bil- Orientierung geprägt, wobei das Engage- dungsarbeit, internationale Zusammenar- ment im THW als ehrenamtlich getrage- beit, fachtechnische Ausbildung, soziales ner Organisation oft zunächst das Nach- Engagement und aktive Freizeitgestaltung. sehen hat. Das THW hat erkannt, dass in einem optimierten Übergang in den Die Ausbildung von Kindern und Jugendli- aktiven Dienst aufgrund der stabilen Zu- chen wird in enger Zusammenarbeit zwi- nahme an Junghelferinnen und Junghel- schen der Bundesanstalt THW und der fern eine wichtige Zukunftsaufgabe liegt. THW-Jugend e. V. gestaltet. Insbesonde- Die Möglichkeiten, einen Bundesfreiwilli- re die fachtechnischen Anteile steuert in gendienst im THW zu leisten, sind vielfäl-

108 | BBE DOSSIER NR. 8 Höfeld: Ehrenamt steht jeder Frau tig und werden individuell abgestimmt. Girls Day die Möglichkeit zum Reinschnup- Während ihrer Dienstzeit durchlaufen pern. Auch auf Landesebene gibt es in der die Bundesfreiwilligen eine Grundausbil- THW-Jugend gezielte Aktionen für die- dung und sind so leicht in das Ehrenamt se Zielgruppe. Die THW-Jugend Bremen zu integrieren. So wird die Begeisterung beispielsweise organisiert jedes Jahr ein für die Arbeit des THW in heterogenen Mädchenwochenende, bei dem sich die Bevölkerungsgruppen geweckt. Mädchen und Junghelferinnen austau- schen können und Jugendleiterinnen für Heutzutage ist es die Ausnahme, wenn ein den Umgang mit Geschlechterfragen sen- Ortsverband ausschließlich Männer be- sibilisiert werden. herbergt. Frauen und Mädchen bringen sich in allen Bereichen der THW-Familie Diese Öffnung der Organisation äußert ein. Auch so hat sich das ehemals män- sich neben den Helferinnengewinnungs- nerdominierte THW in eine diverse Orga- strategien auch in einer Anpassung der nisation des 21. Jahrhunderts entwickelt, Sprachkultur (Gendern). Zudem bietet das die sich den Herausforderungen dringend THW vielfältige Aus- und Fortbildungs- notwendiger gesellschaftlicher Entwick- möglichkeiten nach Interesse, Bedarf und lungen annimmt und diese konzeptionell Fähigkeiten der Helfenden. Hier kann für antizipiert. alle eine passgenaue Funktion gefunden werden. Kein Platz für Klischees und Stereotypen Mit der neuen Vizepräsidentin Sabine Im Rahmen der Umsetzung der Marke- Lackner gewinnt die Gleichstellung eine tingstrategie 2020+ werden aktuell ge- neue Präsenz, die sich auch in strategi- zielt (junge) Frauen als eine mögliche schen Entscheidungen wiederfindet. Der Zielgruppe direkt angesprochen. Technik Anteil von Frauen im hauptamtlichen Sek- und handwerkliche Arbeit sind keine reine tor des THW wächst stetig an und auch Männersache. Klischees und Stereotypen die Zahl von Frauen in Führungspositionen haben im THW keinen Platz. steigt. Der Frauenanteil unter den Helfe- rinnen und Helfern hat sich in der Zeit von Es ist ein gesellschaftlicher Umstand, 2018 bis 2020 von 8.486 auf 9.209 erhöht. dass die für das THW interessanten Stu- Mit dieser Entwicklung konnten die anvi- diengänge und Ausbildungen im MINT- sierten Zielgrößen sogar übertroffen wer- Bereich eine hohe Anzahl an männlichen den. Im Jugendbereich liegt der Anteil an Studierenden aufweisen. Doch auch hier weiblichen Mitgliedern mit aktuell 18,8 % ist ein Trend des Umdenkens zu erken- - das sind knapp 3.000 Junghelfer/innen – nen, den das THW unterstützt. Hierzu sogar höher als bei den erwachsenen Ein- kooperiert das THW mit verschiedenen satzkräften. Hochschulen unter Anerkennung von ECTS für bestimmte Studienfächer. Dies Das THW treibt eine stärkere Beteiligung soll sowohl die Attraktivität für ein Eh- von Mädchen und Frauen auch zukünftig renamt als auch für MINT-Fächer stei- weiter voran. Dabei werden die gesell- gern. Darüber hinaus ist das THW Mit- schaftlichen Hemmnisse erkannt und Be- glied im Pakt »Nationaler Pakt für Frauen rührungsängste abgebaut. Die Begeiste- in MINT-Berufen«. rung für ein Engagement für die Gemein- Je nach den örtlichen Umständen bieten schaft ist in jedem Fall das zentrale und einige Ortsverbände am sogenannten universelle Motiv für die Unterstützung

BBE DOSSIER NR. 8 | 109 Höfeld: Ehrenamt steht jeder Frau des THW – hierbei spielt das Geschlecht AUTOR keine Rolle. Malte Höfeld ist Sachbearbeiter Jugend in Erschienen im BBE-Newsletter 22/2020 der THW-Leitung. am 5.11.2020.

110 | BBE DOSSIER NR. 8 ISABEL DENZ RUND EIN VIERTEL DER MITGLIEDER DER JUGENDFEUERWEHR IST WEIBLICH!

Früh übt sich: Von der Jugendfeuerwehr Nachwuchs und bringen ihre Erfahrungen zur Freiwilligen Feuerwehr der Jugendfeuerwehr erfolgreich in die Praxis ein. In den Jahren 2017 und 2018 Rote Feuerwehrautos, Blaulicht und das sind etwa 9 % der Mitglieder der Jugend- ertönende Signalhorn – gerade für Kin- feuerwehren in den aktiven Dienst über- der sind die Männer und Frauen der Feu- getreten. Das heißt in absoluten Zahlen: erwehr echte Vorbilder. So möchten sie Im Jahr 2017 wechselten 23.129 Mitglie- auch sein, wenn sie groß sind. Wenn man der (davon 5.300 Mädchen) in die aktive kleine Jungen fragt, was sie werden wol- Wehr, im Jahr 2018 waren es 23.327 Mit- len, hört man oft den Berufswunsch Feu- glieder (davon 5.488 Mädchen). erwehr. Aber seit einigen Jahren finden immer mehr Mädchen und junge Frauen Das Ziel: Ein ausgeglichenes Verhältnis von ihren Weg zur (Jugend-)Feuerwehr – und Männern und Frauen zu schaffen bleiben. In der Statistik der Deutschen Ju- gendfeuerwehr (DJF) werden für das Jahr Frauen engagieren sich heute überall in 2018 insgesamt 270.741 Kinder und Ju- Deutschland in den unterschiedlichsten Auf- gendliche erfasst. Von diesen handelt es gabenbereichen ehrenamtlich für die All- sich bei 195.425 (72,18 %) um Jungen und gemeinheit. Dass sie sich dabei längst nicht 75.316 (27,82 %) sind Mädchen. mehr auf überkommene Rollenbilder festle- gen lassen, ist ein Gewinn für die gesamte Die Feuerwehr löscht aber keineswegs nur Zivilgesellschaft. Zehntausende weibliche Brände aller Art (das macht inzwischen Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren, nur einen kleineren prozentuellen Teil ih- die zuverlässig, belastbar und professionell rer Einsätze aus), sondern sie kommt – un- ausgebildet ihre Frau stehen, sind dafür der ter dem Motto »Retten, Löschen, Bergen, beste Beweis. Aber die allgemeine Wahr- Schützen« – bei vielerlei Notfällen zum nehmung bestätigt, dass die meisten Feu- Einsatz. Sie ist bei Verkehrsunfällen zur erwehren weiterhin überwiegend in Män- Stelle, rettet Menschen und Tiere, pumpt nerhand sind. Dieser Trend ist besonders bei kleineren wie größeren Überschwem- in Führungspositionen zu beobachten. Von mungen Keller aus und ist selbstverständ- den 16 Bundesländern hat nur eins eine Lan- lich bei jedem Katastrophenalarm sofort desjugendfeuerwehrwartin: Brandenburg. einsatzbereit. Jedes Bundesland hat sei- Hier steht seit 2020 Anja Lehmann kommis- nen eigenen Landesfeuerwehrverband, sarisch an der Spitze des Verbands. Seit den jede Kommune ihre eigene Wehr. Viele Wahlen des Bundesjugendforums im Okto- Kinder und Jugendliche wechseln nach ber desselben Jahres ist mit Anna Rink aus ihrer Zeit bei der Jugendfeuerwehr in die Baden-Württemberg auch wieder eine Bun- Freiwillige Feuerwehr und sichern so den desjugendsprecherin bei der DJF im Amt.

BBE DOSSIER NR. 8 | 111 Denz: Rund ein Viertel der Mitglieder der Jugendfeuerwehr ist weiblich!

Auch in den Jugendfeuerwehren oder den immer schnellere gesellschaftliche Wan- Freiwilligen Feuerwehren der Bundesre- del und die sich ständig ändernden ökono- publik entspricht der Frauenanteil, trotz mischen Rahmenbedingungen lassen ver- kontinuierlicher Steigerung in den letzten änderte Bedürfnisse und damit auch eine Jahren, noch nicht dem Schnitt der Gesell- veränderte Bereitschaft zu ehrenamtli- schaft. Es gibt sie aber, die Mädchen und chem Engagement entstehen. Zu den ver- jungen Frauen, die sich in der Jugendfeu- änderten Rahmenbedingungen zählen vor erwehr als Mitglied, als Betreuerin oder allem die Auflösung traditioneller Milieus, als Jugendwartin engagieren. Die, die sich die veränderte Arbeitswelt und das konsu- in der Freiwilligen Feuerwehr als Einsatz- morientierte Freizeitverhalten. Durch letz- oder Führungskraft tagtäglich im Einsatz teres konkurriert das Hobby Feuerwehr behaupten. In der Jugendfeuerwehr ist besonders in städtischen Regionen mit rund ein Viertel der Mitglieder weiblich. einer Vielzahl an Freizeitangeboten. Ein So steigt der Anteil von Mädchen in den jahrelanges, zeitintensives ehrenamtliches Jugendfeuerwehren seit 1990 – damals Engagement, wie es beispielsweise beim noch 14,1 % – bis heute auf 27,82 % an. Einsatz für die Feuerwehr erwartet wird, Zurückblickend ist der Mädchenanteil im steht zunehmend in Konkurrenz zu wech- Vergleich zum Vorjahr in 2018 um 2.744 selnden Konsumbedürfnissen. Auch die weibliche Jugendliche auf insgesamt Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahren 75.316 gestiegen. stark gewandelt. Von Arbeitnehmer*innen wird immer mehr Flexibilität und Mobilität Damit die Mädchen der Feuerwehr über erwartet. Dies führt zu einer mangelnden die Grenzen der Jugendfeuerwehr hinaus Planbarkeit von freiwilligen Tätigkeiten. treu bleiben und es zum Übertritt, anstatt zum Austritt, kommt, unterstützt die DJF Zur Debatte steht aber, auch im Hinblick die (Jugend-) Feuerwehren mit Hand- auf die Freiwillige Feuerwehr, inwiefern lungshilfen. So will die Deutsche Jugend- die Auflösung traditioneller städtischer feuerwehr ihren Beitrag zur Sicherung der Milieus durch die erhöhte Mobilität und Einsatzabteilung leisten und die Wehren das Schwinden familiärer Bindungen da- vor Ort unterstützen. ran beteiligt ist, dass sich die herkömm- lichen Rekrutierungskanäle zunehmend Freizeitangebote vs. ehrenamtliches verschließen. Nur in vielen ländlichen Be- Engagement reichen, in denen mangels Alternativen die Gemeindestrukturen und die familiären Die Gründe für das Fernbleiben von Mäd- Bindungen noch weitgehend intakt sind, chen und jungen Frauen in den Feuerweh- können die bewährten Rekrutierungsme- ren des Landes wurden 2005 auch im Rah- chanismen, die bei der Feuerwehr bislang men des Forschungsprojektes »Mädchen vor allem über Familienmitglieder und und Frauen in der Freiwilligen Feuerwehr« Freunde funktionieren, noch für ausrei- vom Deutschen Feuerwehrverband (DFV) chenden Nachwuchs sorgen. und der Deutschen Jugendfeuerwehr un- tersucht. Diese lagen beispielsweise in der Das »beste Hobby der Welt« immer mehr mangelnden Vereinbarkeit von Ehrenamt Mädchen zugänglich machen und Familie, aber auch in den Umgangs- formen sowie in der mangelnden Sicht- Der DFV und die DJF haben Gender Main- barkeit von Feuerwehrfrauen als ein ganz streaming bereits im Jahre 2003 als Leit- normaler Bestandteil der Feuerwehr. Der prinzip in der verbandlichen Arbeit veran-

112 | BBE DOSSIER NR. 8 Denz: Rund ein Viertel der Mitglieder der Jugendfeuerwehr ist weiblich! kert. In der Praxis musste dieses Prinzip am Zug«. »Die Kampagne macht den Bei- allerdings noch mit mehr Leben gefüllt trag von Frauen in der Feuerwehr sicht- werden. So ist im Auftrag des Fachbe- bar und trifft den richtigen Ton! Ich freue reichs »Mädchen- und Jungenarbeit« der mich, dass wir als Bundesfamilienministe- Deutschen Jugendfeuerwehr im Jahre rium dabei mit am Zug sind«, so von der 2006 ein Arbeitsheft mit dem Titel »Gen- Leyen bei der Vorstellung der Kampagne der Mainstreaming in der Jugendfeuer- in Berlin. wehr« herausgekommen. Dieses soll aus- drücklich das Geschlechterbewusstsein Das Projekt des Deutschen Feuerwehr- bei den Betreuer*innen schärfen und auf verbandes wurde im Rahmen des Modell- diese Weise Chancengleichheit für Mäd- programms »Generationen übergreifende chen und Jungen herstellen. Freiwilligendienste« durch das Bundes- ministerium für Familie, Senioren, Frauen Die Feuerwehren möchten Mädchen und und Jugend über drei Jahre gefördert. Frauen verstärkt für bürgerschaftliches Engagement gewinnen. Langfristig stre- Im Jahr 2018 hat die DJF einen Fachtag or- ben der DFV und die DJF an, den jetzigen ganisiert, der sich mit der Gleichstellung Mitgliederstand der Feuerwehrfrauen von Frauen und Männern in der (Jugend-) dem Schnitt der Gesellschaft anzupas- Feuerwehr beschäftigte. Es sollte darum sen und ein ausgeglichenes Verhältnis gehen »Hürden und Chancen für Frauen von Männern und Frauen zu schaffen. in der (Jugend-)Feuerwehr« herauszuar- Um mehr weibliche Mitglieder für die Ju- beiten. Ein Impuls zum Thema »Frauen in gendfeuerwehr und den Einsatzdienst an- Leitungsfunktionen« vermittelte Ansätze, zusprechen, gab es in der Vergangenheit, wie es möglich sein kann, Strukturen für neben vielen Broschüren und Arbeitshef- Mädchen und Frauen zu öffnen und zu ten, auch einige große Kampagnen und verändern. Danach wurde gemeinsam de- Aktionen. finiert, welche Veränderungen und Maß- nahmen es braucht, um Mädchen und Der Deutsche Feuerwehrverband startete Frauen zu stärken und zu fördern. Wel- im Jahr 2007 beispielsweise die bundes- che Unterstützungsmaßnahmen müssen weite Kampagne »Frauen am Zug«, die greifen oder welche Hindernisse müssen neben Plakaten, Postkarten-Flyern und beseitigt werden, damit die weibliche Ziel- einer Informationsbroschüre auch einen gruppe ihren Weg sowohl verbandlich als Internetauftritt: https://www.feuerwehr- auch in der Feuerwehrlaufbahn leichter verband.de/kampagnen/frauen-am-zug/ findet? umfasste. Ziel der Kampagne war es, mit klischeehaften Vorstellungen von Frauen Es gibt aber nicht nur bundesweite Aktio- aufzuräumen, indem starke Frauen prä- nen, die von der DJF oder dem DFV orga- sentiert wurden. So sollte es zu einer Er- nisiert werden. Auf vielen Ebenen gibt es neuerung von Rollenleitbildern, auch im verschiedene Aktionen und Herangehens- eigenen Verband, kommen. weisen, um das »beste Hobby der Welt« immer mehr Mädchen zugänglich zu ma- »Diese Kampagne ist witzig, spritzig und chen. Abschließend geht es darum mitzu- zukunftsweisend, wie das wichtige The- bestimmen und darum eigene Handlungs- ma, das sich dahinter verbirgt«, lobte die schritte herzuleiten. Im Kleinen wie im damalige Bundesfamilienministerin Ursu- Großen müssen Fortschritte bei der (Ge- la von der Leyen die Jahresaktion »Frauen schlechter-) Öffnung der Jugendfeuerwehr

BBE DOSSIER NR. 8 | 113 Denz: Rund ein Viertel der Mitglieder der Jugendfeuerwehr ist weiblich! erzielt werden, doch dafür bedarf es auf voranbringen: https://jugendfeuerwehr. allen Ebenen Aktionen bzw. Änderungen. de/fileadmin/user_upload/DJF/Bildung/ Seminarinfos/Heft6-2018.pdf QUELLEN UND WEITERE INFORMATIONEN Netzwerk Feuerwehrfrauen e.V.: https:// www.feuerwehrfrauen.de/ »Mädchen & Frauen bei der Feuer- wehrEmpirische Ergebnisse – praktische »Gender Mainstreaming in der Jugendfeu- Maßnahmen« von Angelika Wetterer & erwehr. Eine Arbeitshilfe zur Umsetzung Margot Poppenhusen unter Mitarbeit von von Chancengleichheit von Mädchen und Anja Voss: https://www.bmfsfj.de/blob/ Jungen in der Jugendfeuerwehr«: https:// 94246/25a8e9cdebbc5120345e265ce616 jugendfeuerwehr.de/fileadmin/user_up- d5eb/maedchen-und-frauen-bei-der-feu- load/DJF/Downloadcenter/Arbeitshefte_ erwehr-forschungsband-data.pdf Broschueren/ArbeitsheftGender-low.pdf

»Frauen am Zug« - Bundesfamilienminis- Papier der Jugendfeuerwehr zu Gender terium stellt Feuerwehr-Kampagne vor: Mainstreaming: https://jugendfeuerwehr. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/ de/fileadmin/user_upload/DJF/Down- alle-meldungen/-frauen-am-zug----bun- loadcenter/Vielfalt_und_integration/Gen- desfamilienministerium-stellt-feuerwehr- der_Mainstreaming_01.pdf kampagne-vor/99864?view=DEFAULT Erschienen im BBE-Newsletter 22/2020 Projekt »Mädchen und Frauen in der Freiwil- am 5.11.2020. ligen Feuerwehr«: https://www.feuerwehr- verband.de/kampagnen/frauen-am-zug/ AUTORIN

Mädchen und Frauen im Ehrenamt in der Isabel Denz ist als Referentin für die Pres- Jugendfeuerwehr. Ein Fachtag der Deut- se- und Öffentlichkeitsarbeit der Deut- schen Jugendfeuerwehr will die Förderung schen Jugendfeuerwehr zuständig.

114 | BBE DOSSIER NR. 8 BARBARA BLUM/ JOHANNA STILLER/ ANA-MARIA STUTH/ STEFAN SCHÖNWETTER STÄRKEORIENTIERTE FÖRDERUNG VON MÄDCHEN UND JUN- GEN FRAUEN IN DER ARBEIT DER DEUTSCHEN KINDER- UND JUGENDSTIFTUNG

Die Stärkung von Mädchen und jungen gerinnen sind eine Selbstverständlichkeit. Frauen Seit dem Programmende 2009 sind diese Erfahrungen in das Programm Willkom- Seit vielen Jahrzehnten gibt es zahlrei- men im Fußball übertragen worden. Das che Aktionen und Programme zivilgesell- Programm ermöglicht jungen Geflüch- schaftlicher sowie staatlicher Akteure, teten bis 27 Jahren durch niedrigschwel- um Mädchen und junge Frauen dabei zu lige Angebote den Zugang zu Sport und unterstützen strukturelle Diskriminierun- unterstützt so die Integration und das gen abzubauen, selbstbestimmt die ei- gesellschaftliche Miteinander, auch über gene Lebensbiografie zu gestalten sowie den organisierten Fußball hinaus. Das Pro- selbst in berufliche Führungsfunktionen gramm setzt dabei auf Bündnisse. Dahin- aufzusteigen. Auch die Deutsche Kinder- ter steht die Kooperation eines Clubs der und Jugendstiftung (DKJS) ist seit länge- Bundesliga oder 2. Bundesliga mit lokalen rem Akteurin in diesem Feld und legt ei- Bildungsträgern, bürgerschaftlichen Initia- nen Fokus auf die Stärkung von Mädchen tiven oder kommunalen Akteuren sowie und jungen Frauen. Eigene Kompetenzen Amateurfußballvereinen. werden identifiziert, unterstützt und in geschützten Räumen gefördert. Dezidiert Mädchen über den Sport zu fördern ist hat die DKJS das Thema 2003 das erste eine wichtige Komponente, um beispiels- Mal aufgenommen. Zusammen mit dem weise Selbstvertrauen aufzubauen. Jun- Partner Nike wurde das Programm Mäd- ges weibliches Engagement bedarf jedoch chen Stärken gestartet. Über den Sport zunehmend auf anderen Themenfeldern wurden Mädchen motiviert, sich den oft wie der Digitalisierung einen Fokus. männlich dominierten öffentlichen Sport- raum zurückzuholen. Das Aufbrechen des Mädchen profitieren nicht automatisch Klischees, dass Mädchen am Seitenrand vom Digitalen Wandel stehen, wurde durch die gezielte Unter- stützung, Begleitung sowie Förderung von Es zeigt sich, dass die digitale Transforma- lokalen Initiativen der Mädchenförderung tion nicht nur entlang der Frage entschie- realisiert. Ein zentraler Pfeiler war schon den wird, wie wohlhabend ein Elternhaus damals die Einbindung von Rolemodels, ist. In der Digitalen Bildung sowie der da- wie etwa der Schirmfrau Astrid Kumber- mit verknüpften Berufsorientierung wer- nuss. Weibliche Vorbilder können Mäd- den Ungleichheitsstrukturen zwischen chen und junge Frauen inspirieren und Geschlechtern manifest. Mädchen sind konkret beraten, wie mit strukturellen viel häufiger schon durch die familiäre Barrieren umgegangen werden kann, und Erziehung von digitalen Phänomenen ab- vor allem zeigen: Frauen als Leistungsträ- gekoppelt. Noch immer inspirieren Eltern

BBE DOSSIER NR. 8 | 115 Blum/Stiller/Stuth/Schönwetter: Stärkeorientierte Förderung eher Jungen mit der Anschaffung von Vi- Technovation Girls Germany deospielkonsolen, der Anschaffung von PCs oder ganz grundsätzlich der natur- Die DKJS setzt seit 2017 das Programm wissenschaftlich-mathematischen Förde- Technovation Girls in Deutschland um. rung, um beispielsweise logarithmisches An den Standorten Hamburg und Mün- Denken zu trainieren. Hinzu kommt, dass chen realisiert die DKJS, zusammen mit das mediale Bild einer Informatikfachkraft den Partnern Adobe und Salesforce, ein immer noch sehr männlich geprägt ist. in Deutschland einzigartiges Unterstüt- Nach wie vor gibt es einen digital gender zungsangebot für Mädchen und junge gap. Frauen und junge Mädchen haben Frauen zwischen 10 und 18 Jahren. Die weniger Zugang zu digitalen Angeboten, Teilnehmerinnen schließen sich dabei in erfahren sich seltener als Gestalterinnen Teams zusammen und entwickeln eine digitaler Räume und haben generell eine Mobile-App zur Lösung eines lokalen Pro- niedrigere Offenheit mit Blick auf die digi- blems. Dies kann etwa die Vermeidung tale Transformation (D21, 2020, S. 7). Das von Lebensmittelverschwendung, die Be- schlägt sich auch darin nieder, wer derzei- seitigung von Straßenmüll, die Gründung tig die Workforce in Software- und Hard- von Fahrgemeinschaften oder eine An- waredesign bildet. Weiterhin sind dort wendung für die Erhöhung der Sicherheit Frauen unterrepräsentiert (17%, STATISTA von Mädchen und Frauen sein. Auf dem 2018). Weg hin zur App-Entwicklung werden die Teilnehmerinnen von Lehrkräften und Die Sinus 6c für eine zeitgemäße Bildung Mentorinnen und Mentoren der Partner- unternehmen begleitet. In regelmäßigen Durch die Sinus-Studie 25Next – Bildung wöchentlichen Terminen wird das gesell- für die Zukunft haben das Sinus-Institut schaftliche Problem analysiert, Lösungs- und die DKJS gemeinsam geprüft, wel- ansätze entwickelt und abschließend die che Zukunftskompetenzen Kinder und Ju- App programmiert. gendliche benötigen, um an der künftigen Gesellschaft teilzuhaben. Herausgebildet Coding lebensweltbezogen einbinden wurden durch die repräsentative Studie sechs Kompetenzen zur Beschreibung von Um den Prozess strukturiert zu absolvie- Future Readiness: Communication, Colla- ren, steht den Teilnehmerinnen das Tech- boration, Critical Thinking, Creativity, Cha- novation Curriculum zur Verfügung. Dabei risma und Coolness. Neben den bekannte handelt es sich um Online-Lernmaterial zu 4c der 21st-century skills wurden mit Cha- den Feldern Ideation, Coding, Entrepre- risma und Coolness zwei neue Aspekte neurship und Pitching. hinzugefügt, die vor allem jungen Men- schen wichtig sind. So beschreibt Charis- Im Lernfeld Ideation werden Grundlagen ma die Fähigkeit, Ideen gut präsentieren geschaffen, um ein gestaltbares Problem zu können und sich auch zu trauen, vor identifizieren und entsprechende Lö- anderen Menschen zu sprechen, Coolness sungsansätze erarbeiten zu können. So hingegen beschreibt die Kompetenz, in ei- führen die Inhalte in die Umfeldanalyse, ner digitalisierten und unsteten Welt auf zirkuläre Ideenentwicklung, paper proto- sich achtzugeben: Wie manage ich meinen typing und das Konzept des minimum vi- Stress? Wie teile ich meine Zeit gut auf? able product ein. Teilnehmerinnen lernen Einen kühlen Kopf in stressigen Situatio- ihre Ergebnisse der Ideation am Ende in nen behalten. einem Business Canvas zu strukturieren.

116 | BBE DOSSIER NR. 8 Blum/Stiller/Stuth/Schönwetter: Stärkeorientierte Förderung

Im Lernfeld Entrepreneurship liegt der Aber ich war ziemlich glücklich darüber, Fokus darauf, eine Idee zu entwickeln, dass wir das Programmieren übernom- die langfristig funktioniert und strukturell men haben. Wir haben sehr viele Erfah- abgesichert ist. Dazu gehört, eine klare rungen gemacht.« (Teilnehmerin) Marken- und Bildsprache für die App zu entwickeln. Ebenso ist ein Businessplan zu Technovation Girls wird derzeitig in der erstellen, der exemplarisch zeigt, wie sich dritten Saison in Deutschland umgesetzt. die App finanziell selbst tragen könnte. Das Konzept, Programmierkenntnisse mit Teilnehmerinnen verstehen hier oft zum der Bearbeitung konkreter lokaler Proble- ersten Mal, welche Kosten die Erstellung men zu verknüpfen, zahlt sich aus. In Ham- und der Betrieb einer professionellen Mo- burg werden überwiegend Teilnehmerin- bile-App beinhaltet. nen aus benachteiligenden Lebenslagen erreicht, was im Feld der digitalisierten Die Inhalte der Rubrik Coding führen in die Bildung keine Selbstverständlichkeit ist. Grundlagen des algorithmischen Denkens Durch die Herausforderung, eine selbst- ein und nutzen dafür das System Thunka- gewählte Problemlage zu bearbeiten, ent- ble. Als Blockbased-Coding-Tool bietet die stehen Motivation und Interesse sowie Thunkable-Umgebung einen guten Kom- Ausdauer, sich auch mit komplexen In- promiss aus Zugänglichkeit für unerfahre- halten zu befassen. Die Mentorinnen und ne Teilnehmerinnen und der Möglichkeit, Mentoren im Programm können sich ganz komplexe Anwendungen zu erstellen. in eine begleitende Rolle zurückziehen: Weiterführend lernen die Teilnehmerin- Im Projektprozess haben sie die Aufgabe, nen die Konzepte von Cloud-Computing, Teilnehmerinnen zu motivieren, neue Zu- Artificial Intelligence, Workflows und Feh- gänge zu den Lerninhalten zu öffnen und lerbereinigung von Code. die Transferleistung zu erbringen, das Ge- lernte in den Zusammenhang der moder- Mit Hilfe von Materialien, Anleitungen und nen Arbeitswelt zu setzen. Informationen im Feld Pitching lernen die Teilnehmerinnen, ihre App gut zu erklären, Zentral für die Akquise der Teilnehmerin- ein Marketing-Video zu erstellen und im nen ist die Schule. Nur durch die Koope- Generellen eine komplexe Anwendung mit ration mit engagierten Lehrkräften kann einfachen Botschaften zu versehen. Ziel ist Technovation Girls Teilnehmerinnen Mäd- aber vor allem der Aufbau von Selbstbe- chen und junge Frauen aus benachteiligen- wusstsein bei den Teilnehmerinnen. den Lebenslagen erreichen. Es zeigt sich, dass diejenigen Mädchen, die sich unab- Die Kombination dieser vier Lernfelder hängig von Schulteams bei Technovation macht Technovation Girls Germany, neben Girls als Teilnehmerinnen anmelden, eher vielen anderen Coding Schools, Hacking- aus besser situierten Umfeldern kommen. und Making-Projekten, einzigartig in der Sie sehen bereits aus eigenem Antrieb die deutschen Projektlandschaft. Notwendigkeit, sich mit algorithmischem Denken zu befassen. Ein weiteres Learning Strukturen schaffen, die ist: Angebote und Formate im Rahmen von Chancengerechtigkeit befördern Technovation Girls funktionieren, wenn Mädchen Zeit haben, sich digital auszu- »Ich dachte am Anfang, dass das Program- probieren, ihr Umfeld zu erkunden, eige- mieren komplett anders ist und deshalb ne Ideen mit ihren Freundinnen umsetzen unsere Mentoren das meiste machen. und Selbstwirksamkeit, wertschätzende

BBE DOSSIER NR. 8 | 117 Blum/Stiller/Stuth/Schönwetter: Stärkeorientierte Förderung

Momente sowie Feedback erfahren. Da- ¾¾Fit für neue Ausbildungsberufe: Schü- her ist die Begleitung der Mentorinnen lerinnen lernen berufliche Möglichkei- und Mentoren und Lehrkräfte durch die ten in zukunftsorientierten Branchen DKJS ein wichtiger Bestandteil des Pro- kennen. gramms. In einem Mentoring-Workshop ¾¾Fit für MINT-Berufe: Schülerinnen wis- werden Mentorinnen und Mentoren aus- sen um die Vielfältigkeit von MINT-Be- führliche Kenntnisse zur Gestaltung einer rufen und sehen in ihnen eine berufli- guten Begleitung vermittelt: Kernelemen- che Perspektive für sich selbst. te dabei sind Empathie, Wertschätzung und Kongruenz, sowie die Fähigkeit, kom- Dabei unterstützt die DKJS teilnehmende plexe Sachverhalte einfach darstellen zu Schulen mit einer finanziellen Förderung können. sowie einer Beratung und Online-Semina- ren für teilnehmende Lehrkräfte. Teams, die besonders erfolgreich waren, werden bei einem Celebration-Event ge- Anstehende Herausforderungen würdigt. Weiterhin haben diese Teams die Möglichkeit, am internationalen Techno- Zunehmend relevanter wird für die DKJS vation-Girls-Wettbewerb, der Technovati- dabei auch die Frage kritisch zu prüfen, on Challenge teilzunehmen und ihre Apps wer genau die Zielgruppe von Aktivitäten mit denen von über 20.000 anderen Mäd- der Mädchenförderung ist. Die Program- chen weltweit zu messen. me sollen allen sichere Räume bieten, die sich als Mädchen oder junge Frau verste- Auswertungen zeigen, dass sich alle Teil- hen. Das schließt auch queere Jugend- nehmerinnen nach der Teilnahme bei liche explizit mit ein. Die Begleitung der Technovation Girls Germany sicherer im Aktivitäten erfordert hier eine gestärkte Umgang mit digitalen Technologien so- Sensibilität für bestehende Ungleich- wie der eigenen Gestaltung von Projekten heitsstrukturen. Die Deutsche Kinder- zeigen. Dies wird ebenfalls von allen Lehr- und Jugendstiftung will mit Wir stärken kräften bestätigt, die feststellen, dass die Mädchen lernen, in dieser geänderten ge- Teilnehmerinnen nach der Teilnahme in schlechterpolitischen Lage sichere Räume der Lage sind, Probleme digital zu lösen. aufzubauen. Besonders erfreulich ist ebenso, dass 62% der Teilnehmerinnen nach einer Teilnah- Seit dem 12. Oktober ist die Registration me angeben, sich einen informatikbezo- an der kommenden Technovation Saison genen Berufsweg vorstellen zu können. 2020/21 möglich. Haben sie Interesse an Technovation teilzuhaben, wenden Sie Wir stärken Mädchen sich an [email protected]

Seit 2020 ist Technovation Girls Germa- Erschienen im BBE-Newsletter 22/2020 ny Teil der DKJS-Dachmarke Wir Stärken am 5.11.2020. Mädchen. Hier bündelt die DKJS verschie- dene Aktivitäten zur Mädchenförderung AUTOR*INNEN auch über das Technovation-Angebot hin- aus. So werden an den Standorten Berlin, Barbara Blum ist Programmmitarbeiterin Köln und Trier in Kooperation mit Schulen in Technovation Girls Germany und ver- Angebote entwickelt, die insbesondere antwortlich für die Umsetzung des Pro- auf die folgenden Bereiche einzahlen: gramms in Bayern.

118 | BBE DOSSIER NR. 8 Blum/Stiller/Stuth/Schönwetter: Stärkeorientierte Förderung

Johanna Stiller ist Programmmitarbeiterin Sie verantwortet dort die Themen freiwilli- in Technovation Girls Germany und ver- ges Engagement, Jugendbeteiligung, Inklu- antwortlich für die Umsetzung des Pro- sion und Entrepreneurship Education. gramms in Hamburg. Stefan Schönwetter ist Mitglied der Ge- Ana-Maria Stuth ist Abteilungsleiterin Pro- schäftsleitung in der Deutschen Kinder- gramme und Mitglied der Geschäftsleitung und Jugendstiftung. Er ist verantwortlich der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. für das Thema Digitale Kompetenzen.

BBE DOSSIER NR. 8 | 119 AUDREY NYIRENDA WAS WIR BEWEGEN! – EINE BEIRÄTIN* BERICHTET

Sich als Gestalter*in des eigenen Lebens und Frauen* Mut fassen und sich als erleben Gestalter*innen ihres Lebens erleben.

Was fällt Dir/Ihnen zum Wort Feminismus Der Mädchenbeirat wählt die zu ein? Spricht man dieses Thema an, merkt fördernden Projekte aus man schnell, dass es einigen Menschen kein persönliches Anliegen zu sein scheint, In Deutschland fördert filia seit 2012 Pro- tatsächlich für Frauenrechte zu kämpfen. jekte von mehrfachdiskriminierten Mäd- Besonders online scheint es oft eher um chen* und jungen Frauen* – und seit 2019 erfüllte Quoten, Klicks und Likes auf Soci- zusätzlich auch Projekte von geflüchteten al Media zu gehen. Auf diese Weise kann Frauen*. Das Besondere dabei ist, dass schnell der Eindruck entstehen, dass es z. nicht die Frauen* der filia-Geschäftsstelle B. bei dem Hashtag #MeToo eher darum oder des Stiftungsrats die Entscheidung geht, Follower*innen zu gewinnen, als um treffen, welche Projekte ausgewählt und das tatsächliche Thema… finanziert werden, sondern dass diese Entscheidung von filias Beiräten getroffen Aber wofür steht Feminismus denn ei- werden, welche aus Mädchen* und Frau- gentlich? Geht es nicht um viel mehr als en* bestehen, die selbst zur Zielgruppe die bloße Gleichstellung? Geht es nicht der beiden Empowerment-Programme darum, dass Mädchen* und Frauen* ihr gehören. Das Besondere daran ist, dass eigenes Leben gestalten können, wie sie uns eine Plattform geboten wird, unsere es möchten? Unabhängig von ihrer eige- Stimme zu äußern. nen Sexualität oder der geschlechtlichen Identität? Geht es nicht darum, sich frei Der Mädchenbeirat wurde vor 9 Jahren als Individuum entfalten zu können und gegründet, da die Frauen* bei filia erkannt gleichzeitig dafür wertgeschätzt und ernst haben, dass junge Frauen* und Mädchen* genommen zu werden? Für mich gibt es besser einschätzen können, was in unse- dies bei filia. rem Alter, aber auch mit unseren unter- schiedlichen Perspektiven gebraucht wird. filia die frauenstiftung ist eine Gemein- Der Mädchenbeirat ist ein ehrenamtliches schaftsstiftung und die größte Frauen- Gremium aus aktuell 12 Mitgliedern in stiftung in Deutschland. Sie hat es sich einer Alterspanne von 15-25 Jahren. Wir zur Aufgabe gemacht, mit dem ihr zur sind eine diverse Gruppe junger Frauen* Verfügung stehenden Geld, weltweit Pro- und kommen aus ganz Deutschland. Jedes jekte zu fördern, die sich für strukturellen Jahr kommen wir für ein Wochenende zu- Wandel und Fortschritt einsetzen, um sammen und diskutieren über Projektan- Räume zu schaffen, in denen Mädchen* träge von und für mehrfachdiskriminierte

120 | BBE DOSSIER NR. 8 Nyirenda: Was wir bewegen! – Eine Beirätin* berichtet

Mädchen* und junge Frauen*, oder anders bare, starke Projekte gefördert – darun- ausgedrückt: Mädchen* und Frauen*, die ter Projekte wie »Say no to FGM (Female intersektional von Diskriminierung betrof- Genital Mutilation)! Mein Körper gehört fen sind. Dabei folgen wir unseren selbst mir!«, wo Mädchen* of colour zusam- erstellten Regeln und unserem Kriterien- menkommen und ausgebildet werden, katalog. Aufklärungsarbeit zu leisten, um in ihrer Community Gesundheitsmediatorinnen* Räume schaffen, in denen sich marginali- und Vorbilder zu werden. Auch hatten sierte Gruppen empowern können wir Projekte zur Selbstverteidigung, Pro- jekte, um Selbstbewusstsein zu stärken, Auch in Deutschland fehlen Plattformen, verschiedene Ansätze für Mädchen*, die die Mädchen* und jungen Frauen* die an einer Essstörung leiden, Projekte, in Gelegenheit geben, ihre eigenen Visionen denen Mädchen* lernen, dass sie auch in und Ideen zu äußern. Wir haben jedoch handwerklichen Berufen gut sein können Stimmen und möchten ernst genommen und vor allem auch dürfen. Das Ziel der werden! meisten Projekte ist es, einen Schutzraum für Mädchen* zu schaffen, wo sie unter Der Mädchenbeirat ist für mich daher et- sich sind, sich sicher fühlen und Werkzeu- was Besonderes, weil deutlich gemacht ge an die Hand bekommen, damit ihr Le- wird, dass unsere Meinung zählt und weil ben in der Gesellschaft leichter und selbst- uns das Vertrauen geschenkt wird, dass bestimmter wird. wir über hohe Fördersummen – in der Re- gel 50.000 € bis 100.000 € pro Förderzy- Ein Generationenwechsel steht bevor! klus – selbstständig entscheiden können und auf diese Weise das Leben vieler jun- Gesellschaftliche Umbruchprozesse, Co- gen Frauen* und Mädchen* positiv beein- vid-19 sowie ein bevorstehender Gene- flussen können. Wir können sie empow- rationswechsel innerhalb der Stiftung be- ern und wenn wir dann sehen, was durch einflusst auch uns als Mädchenbeirat. Wir das Geld möglich wird, bedeutet das wie- befinden uns in einer Umbruchphase und derum Empowerment für uns! beschäftigen uns vor allen mit den Fragen:

Ich selbst war 13 Jahre alt, als ich das erste Wer sind wir? Mal am Mädchenbeirat teilnahm und hat- Wo wollen wir hin? te damals die Chance ergriffen, weil ich in Wer kann zukünftig mitmachen und wen einem Land geboren bin, in dem Frauen* schließen wir auch eventuell aus? systematisch unterdrückt werden. Bevor Ist ein Raum, in dem sich »alle« wohlfüh- ich nach Deutschland kam, kannte ich dies len, überhaupt möglich? nicht anders. Es war für mich die Norm, mich meinem Land und meiner Familie zu Es geht auch um Positionen und struktu- fügen: Keine Stimme, keine Rechte. relle Fragen:

Mich hat filia und das MädchenEmpow- Wer darf wie lange am Beirat teilnehmen? ermentProgramm sehr stark beeinflusst. Welche Projekte möchten wir anspre- Jetzt bin ich 22 Jahre alt und mit einigen chen? Unterbrechungen immer noch mit dabei. Wie verändert sich durch gesellschaftliche In meiner Zeit bei filia hat sich sehr viel im Bedingungen und Diskurse unsere Ziel- Mädchenbeirat getan. Wir haben wunder- gruppe?

BBE DOSSIER NR. 8 | 121 Nyirenda: Was wir bewegen! – Eine Beirätin* berichtet

Das sind Fragen, die immer häufiger im selbst weiterzubilden, um auf diese Weise Gremium aufkommen. Wir befinden uns in aufgeklärte Räume schaffen zu können, in Prozessen und arbeiten daran, gemeinsam denen sich marginalisierte Gruppen em- und partizipativ Antworten auf diese Fra- powern können und lernen, dass sie eine gen zu finden. Wir haben uns weiterentwi- Stimme haben, die zählt! Räume, in denen ckelt als Individuen, aber auch als Gruppe. sich Menschen wohlfühlen können, um So wie auch der heutige Feminismus nicht in ihre Kraft zu kommen, um Gesellschaft mehr das ist, was er im 19. Jahrhunder t oder mitzugestalten. auch Ende der 1970er Jahre in Deutschland war. Wir haben viel erreicht und ich bin un- In welche Richtung wir uns als »Mädchen- seren Vorkämpferinnen* sehr dankbar. Die beirat« per se bewegen, ist noch ungewiss. Arbeit ist aber noch nicht vollbracht. Die Fakt ist: Wir möchten Weiterentwicklung Welt ist in einem steten Wandel. Verände- und Fortschritt, und wir bewegen uns, rungen und Prozesse gehören zu diesem und das ist das Wichtigste! Wandel dazu. Somit muss sich auch der Feminismus immer wieder neu erfinden Erschienen im BBE-Newsletter 22/2020 und sich den gegebenen Machtstrukturen am 5.11.2020. anpassen, Menschen miteinbeziehen, die vorher nicht mitgedacht wurden, um nicht AUTORIN mehr auszugrenzen oder nach Regeln zu gehen, die vom Patriarchat vorgeben wer- Audrey Nyirenda ist Beirätin* in filias Mäd- den. Es geht darum, zu integrieren und sich chenbeirat.

122 | BBE DOSSIER NR. 8 INES CALLSEN/ OLAF EBERT TEILHABE DURCH ENGAGEMENT JUNGER MIGRANT*INNEN IN OSTDEUTSCHLAND

Zur Stärkung von Vielfalt und Toleranz Die Stiftung Bürger für Bürger, Trägerin des Modellprojekts, bringt dabei das große In- Halle (Saale), 9. Oktober 2020: Kein Tag teresse an gesellschaftlichem Diskurs zu wie jeder andere. Denn an diesem Tag bürgerschaftlichem Engagement mit, der gedenkt Halle der Opfer und Betroffenen Kooperationspartner DaMOst - Dachver- des Anschlags im Jahr zuvor. Ein Tag der band der Migrant*innenorganisationen schmerzlich zeigt, wie wichtig die Stär- Ostdeutschlands - bereichert JUGEND- kung von Vielfalt und Toleranz in unserer STIL* mit Expertise und Erfahrungen für Gesellschaft ist. Auch hier. Gerade hier? migrantische Selbstorganisationen und Verbandsstrukturen. Ich rede mir zwar immer ein, wenn du ge- nug Leistungen erbringst und immer die Ausgangssituation und Handlungsbedarf Anforderungen erfüllst, dann bekommt man eine gute Arbeitsstelle. Aber ich habe Die gesellschaftliche Situation ist in Ost- aufgrund meines Erscheinungsbildes die deutschland von widersprüchlichen Ent- Angst, dass ich nicht dorthin komme wo wicklungen geprägt: Einer Vielzahl von ich hinwill. Aber ich denke da positiv, das Menschen und Organisationen, die sich wird schon und da hat sich ja schon Einiges für Demokratie engagieren, stehen viele getan. Sarah, 19 Jahre Menschen gegenüber, die lautstark gegen Zuwanderung demonstrieren, Hass und Das Modellprojekt »JUGENDSTIL* – Hetze unterstützen und teilweise gewalt- Teilhabe und Mitgestaltung junger tätig gegen Zugewanderte vorgehen. Migrant*innen in Ostdeutschland« hat sich zum Ziel gesetzt, das Engagement Durch die lange Zeit kaum vorhandene Ar- vielfältiger, junger Menschen sichtbarer beitsmigration fehlt es hier häufig an in- zu machen, Jugendinitiativen und den terkulturellen (Alltags-)Erfahrungen, inter- Aufbau Neuer Deutscher Organisatio- kulturell offenen Organisationen. Zudem nen in Ostdeutschland zu unterstützen. ist der Anteil der Migrant*innen hier stark Gefördert durch das Bundesprogramm durch nachziehende Familienangehöri- »Demokratie leben!« und die Bundes- ge, Asylbewerber*innen und Geflüchtete integrationsbeauftragte stellt sich JU- geprägt, es wird die Vielfalt in der Zuwan- GENDSTIL* der Herausforderung junge, derung verkannt. Nach 30 Jahren gesell- engagierte Menschen mit und ohne Mi- schaftlicher Transformation haben sich grationsgeschichte einzuladen, gemein- in Ostdeutschland spezifische zivilgesell- sam neue Ansätze, Methoden und Stra- schaftliche Strukturen entwickelt: ehema- tegien zur gesellschaftlichen Partizipa- lige DDR-Vertragsarbeiter entwickelten für tion zu erkunden. sich und ihre Familienangehörigen nicht

BBE DOSSIER NR. 8 | 123 Callsen/Ebert: Teilhabe durch Engagement junger Migrant*innen nur neue Existenzgrundlagen, durch Mi- Die Zivilgesellschaft ist in Ostdeutschland grantenselbstorganisationen stärkten sie stark fragmentiert, Migrantenorganisatio- zugleich auch den Zusammenhalt unterei- nen sind zu wenig, Neue Deutsche Orga- nander und unterstützen das Ankommen nisationen gar nicht etabliert, anerkannt in der auch für sie neuen Gesellschaft. Eine und in zivilgesellschaftliche Netzwerke vor bedeutende Rolle spielte auch die Zuwan- Ort eingebunden. Zudem werden viele derung aus den Ländern der ehemaligen Migrant*innen hier vergleichsweise häufi- Sowjetunion. Durch die sogenannten »Jüdi- ger diskriminiert, bedroht oder Opfer von schen Kontingentflüchtlinge« wuchsen die Gewalt. bis dahin sehr kleinen jüdischen Gemein- den in Ostdeutschland zahlenmäßig stark, Das Vertrauen in die Demokratie und die sie veränderten oft auch ihren Charakter. Überzeugung, durch die Entwicklung und In Neugründungen fand die Vielfalt der Wahrnehmung von Teilhabechancen an Strömungen ihren Niederschlag. Die »Deut- dieser gestaltend mitwirken zu können, schen aus Russland« gründeten eigene Ver- sind in vielen Regionen rückläufig. einigungen, die sich in ihren Zielen und ihrer Zusammensetzung von den westdeutschen Gleichzeitig entwickeln junge Menschen »Landsmannschaften« unterscheiden. mit eigener oder familiärer Migrationsge- schichte, unter Anerkennung ihrer Wurzeln, So entstanden auch in Ostdeutschland ein neues Selbstbewusstsein, betrachten über 270 Migrantenorganisationen, die je- sich, auch im Ergebnis ihrer häufig erfolg- doch vor vielfältigen Herausforderungen reichen Bildungsbiographien, selbstver- in ihren rein ehrenamtlich getragenen Or- ständlich als Deutsche – und suchen nach ganisationsstrukturen stehen. den Gründen für Ablehnung und Ausgren- zung, die sie besonders in Ostdeutschland Teilhabe durch Engagement – ein Thema immer noch viel zu oft im Alltag erleben. in Ostdeutschland?! Zum Gedenktag in Halle am 9. Oktober Viel zu wenig Beachtung finden bislang 2020 lud JUGENDSTIL* engagierte junge die Potentiale der jungen Migrant*innen, Gesellschaftsgestalter*innen und die Inte- die als Kinder nach Ostdeutschland kamen grationsbeauftrage des Landes Sachsen- oder hier geboren wurden und ihre schuli- Anhalt Susi Möbbeck zum Austausch ein. sche, berufliche oder akademische Bildung Nicht nur Berichte von der Erfahrung und hier erlangten. Ihre Lebensentwürfe, An- dem Umgang mit Alltagsdiskriminierung sichten und ihre Verankerung in der deut- fand Raum, sondern auch die Selbstver- schen Gesellschaft unterscheidet sich stark ortung der Teilnehmenden in der ostdeut- von der Großeltern- und Elterngeneration, schen Gesellschaft: deren Vereine für sie wenig attraktive Enga- gement- und Teilhabemöglichkeiten bieten. Ich habe manchmal Angst, dass ich irgend- wie nicht durchkomme, ich bin so eine In Ostdeutschland gibt es zwar eine starke Minderheit, meine Eltern kommen aus Vi- Engagementbereitschaft, aber eine ver- etnam und ich bin ein Mädchen. Vielleicht gleichsweise niedrige Engagementquote sehen mich die Menschen als schwaches und eine zu geringe Anzahl stabiler zivil- Mitglied der Gesellschaft und das ist na- gesellschaftlicher Organisationen, die jun- türlich nicht schön, ich bemerke das oft im gen Migrant*innen Teilhabe durch Enga- Alltag und ich möchte nicht, dass es noch gement ermöglichen. weiter ausartet. Mai, 21 Jahre

124 | BBE DOSSIER NR. 8 Callsen/Ebert: Teilhabe durch Engagement junger Migrant*innen

Auffällig in diesem und vielen anderen Gesellschaftsgestalter*innen aus Bran- Gesprächen ist, dass das gesellschaftli- denburg, Mecklenburg-Vorpommern, che Engagement von jungen Menschen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen insbesondere Mädchen und Frauen mit unkompliziert Geldmittel beantragen, um Migrationsgeschichte, selbst oft gering Ideen weiterzudenken oder eigene Vor- geschätzt und zu wenig anerkannt wird. haben umzusetzen. Ausgewählt werden Dies geschieht insbesondere vor dem die Ideen von einem Netzwerk aus jun- Hintergrund globaler Bewegungen wie gen Expert*innen für (post)migrantisches Fridays For Future u. a.. Als weitere Hür- Engagement – DIE GESTALTER*INNEN. den für Teilhabe durch Engagement wur- Diese Projektmacher*innen lassen ihr Er- den beispielsweise Zeitknappheit, Resig- fahrungswissen aus der Praxis in die Ent- nation gegenüber politischen Entschei- scheidung über Förderungen und die Be- dungsprozessen und die Abwertung ihrer gleitung der Projektideen einfließen. Meinung durch die älteren Generationen benannt. Anknüpfend u. a. an den Ideenfonds sol- len lokale Beteiligungsprozesse begleitet Als Bedarfe hingegen werden u. a. werden. Sie werden gemeinsam mit loka- Mitstreiter*innen finden, Erfahrungsaus- len Mentor*innen-Netzwerken gestaltet tausch, unkomplizierte Finanzierung von und mit Qualifizierungs- und Beratungs- Projektideen, Ansprechpartner*innen zu angeboten unterstützt. Diese werden in Themen wie beispielsweise Vereinsgrün- Kooperation mit Partner*innen, idealer- dung, Selbstorganisation von Gruppen weise in einem peer-to-peer-Ansatz, rea- und thematische Fortbildungen formu- lisiert. liert. Die Digitale Beteiligungsplattform macht JUGENDSTIL* - Verstärker für junges, mi- Jugendinitiativen und aktuelle Projektent- grantisches Engagement in Ostdeutschland wicklungen sichtbar, kann aber auch als Inspirationsquelle sowie zum Austausch JUGENDSTIL* setzt hier an und möchte als und als Vernetzungsplattform genutzt Verstärker von jungem, migrantischem werden. Engagement in Ostdeutschland wirken: Überregionale Beteiligungswerkstätten sol- Die JUGENDSTIL*-Beteiligungswerkstätten len Engagierten und Multiplikator*innen dienen als Orte des Erfahrungsaustausch Raum für Erfahrungsaustausch und und der Vernetzung. Hier können Visio- Vernetzung geben. Gemeinsam mit nen ausgetauscht, Pläne geschmiedet und Kooperationspartner*innen werden diese Kompliz*innen gefunden werden. Darüber in einem offenen Format gestaltet, sodass hinaus bieten die Beteiligungswerkstätten eigene Themen und Diskussionen platziert die Möglichkeit sich das Handwerkzeug werden können. anzueignen, das gebraucht wird, um die eigenen Ideen gemeinsam mit Anderen Die Vision von JUGENDSTIL*: In den nächs- umzusetzen. ten vier Projektjahren bis 2024 starke junge, zivilgesellschaftliche Strukturen Der JUGENDSTIL*-Ideenfonds setzt schaffen, die ihren Platz in einer (post) am Bedarf nach niedrigschwelliger, di- migrantischen, ostdeutschen Gesellschaft rekter Förderung an und soll im Ja- behaupten und durch starke Vorbilder nuar 2021 starten. Hier können junge zum Nachmachen inspirieren:

BBE DOSSIER NR. 8 | 125 Callsen/Ebert: Teilhabe durch Engagement junger Migrant*innen

Ich habe früher an der Schule immer Vor- AUTOR*INNEN bilder vermisst. Alle Lehrer waren weiße Deutsche und ich habe immer nach Be- Ines Callsen ist Leiterin des JUGENDSTIL*- zugspersonen gesucht, mit denen ich mich Projekts. https://www.instagram.com/ju- identifizieren kann. Und das ist mein Ziel gendstilprojekt/ für die Zukunft, dass ich so eine Person für Kinder und junge Menschen später sein Olaf Ebert ist Geschäftsführender Vor- kann. Lea, 19 Jahre stand der Stiftung Bürger für Bürger. https://www.buerger-fuer-buerger.de Erschienen im BBE-Newsletter 22/2020 am 5.11.2020. Weitere Informationen zum Projekt http://jugendstil-projekt.de/

126 | BBE DOSSIER NR. 8 TEIL IV: JUGEND UND DIE DEUTSCHE EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT

FUNDA TEKIN/ JANA SCHUBERT/ YORK ALBRECHT BEFÄHIGUNG ZUR BETEILIGUNG: JUGEND ALS AGENDA-SETTER IM PROJEKT #ENGAGEURCOUNCIL

Die EU-Institutionen sind sich einig: Junge gen des 21. Jahrhunderts ein: Klimaschutz, EU-Bürger:innen sollen besser in politische Migration oder Digitalisierung. Prozesse integriert werden.1 Im Jahr 2019 sind junge Menschen mit ihrem Engage- Aus diesen beiden Gedanken folgt, dass ment beispielsweise für Klimaschutz, Inter- weder von »der Jugend« im Sinne ei- netkultur oder Seenotrettung und Unter- ner einheitlich bestimmbaren Zielgrup- stützung von Geflüchteten europaweit als pe noch von einer eng abgegrenzten Agenda-Setter:innen besonders in Erschei- »Jugendpolitik« gesprochen werden nung getreten. Gleichzeitig muss einerseits sollte. Stattdessen sollten politische hervorgehoben werden, dass die Inter- Entscheidungsträger:innen, Jugendver- essen und Anliegen Jugendlicher ähnlich bände und Wissenschaftler:innen die the- divers sind wie sie selbst. Schüler:innen, menspezifischen Anliegen Jugendlicher als Studierende oder Auszubildende haben relevante Perspektiven in demokratischen sowohl individuelle als auch gruppenspe- Aushandlungsprozessen an- und ernst- zifische Bedürfnisse, die auch in Verbin- nehmen.2 Dieses Verständnis von »junger« dung mit ihrer staatsbürgerschaftlichen Partizipation – in Abgrenzung zur bloßen Identität stehen. Während beispielsweise Meinungsabfrage – liegt dem zweijähri- junge Menschen aus Slowenien den EU- gen Projekt #EngagEUrCouncil zugrunde, Beitritt ihres Landes 2004 als prägendes das vom Institut für Europäische Politik Ereignis erlebt haben können, sind jungen e.V. (IEP) im Januar 2020 initiiert wurde.3 Portugies:innen womöglich besonders die Folgen der Eurozonenkrise mit hoher Ju- Lösungsorientiertes Projektdesign: gendarbeitslosigkeit in Erinnerung. Es zeigt Befähigung zur Beteiligung sich bei den Anliegen, für die sich junge Europäer:innen einsetzen und demonstrie- Ziel von #EngagEUrCouncil ist es, jun- ren, aber auch, dass es sich häufig nicht um ge Menschen aus Deutschland, Portugal eigene Partikularinteressen im Sinne einer etwa auf Bildungsfragen fokussierten »Ju- 2 Vgl. Friederike Augustin/Jana Schubert: Vision oder Utopie? Junge Ideen für die Zukunft Europas, in: integ- gendpolitik« handelt. Jugendliche fordern ration 2/2019, S. 149-157. viel mehr aktiv eine Berücksichtigung ihrer 3 Das Projekt #EngagEUrCouncil: Jugendbeteiligung Interessen bei den großen Herausforderun- und -begegnung wird gefördert durch die Stiftung Mercator. Das Projekt wird durchgeführt vom Institut für Europäische Politik e.V. (IEP) in Berlin in Koope- 1 Europäische Kommission: Mitteilung der Kom- ration mit dem Instituto Português de Relações mission an das Europäische Parlament, den Rat, den Internacionais, Lissabon, dem Centre of International Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und Relations, Ljubljana. Um eine europaweite Reichweite den Ausschuss der Regionen. Beteiligung, Begegnung des Projekts zu garantieren, kooperiert das Projekt und Befähigung: eine neue EU-Strategie für junge darüber hinaus mit der Trans European Policy Studies Menschen, 22.5.2018, COM(2018) 269 final. Association (TEPSA) in Brüssel.

BBE DOSSIER NR. 8 | 127 Tekin/Schubert/Albrecht: Befähigung zur Beteiligung und Slowenien anlässlich der Triopräsi- Formate inklusiver gestaltet werden kön- dentschaft der drei Länder im Rat der nen. So steht z. B. der Strukturierte Dialog Europäischen Union zu vernetzen und der EU, der Jugendliche in den Austausch politische Ideen – so genannte Youth mit Entscheidungsträger:innen über für Ideas – zu erarbeiten, die konkret an sie relevante Themen bringen soll, in der Entscheidungsträger:innen adressiert wer- Kritik: Er sei auf europäischer Ebene durch den. Dabei versucht das Projekt, bekann- die Vorauswahl von Themen und Teilneh- ten Herausforderungen von Jugendparti- menden mehr »top-down« gestaltet und zipationsprojekten4 lösungsorientiert und wirke eher wie eine Meinungsabfrage, aktiv zu begegnen. anstatt Mitgestaltungsmöglichkeiten zu bieten.6 #EngagEUrCouncil setzt hier mit So haben Initiativen zur Jugendbeteiligung einer ganzheitlichen Strategie an, deren häufig das Problem, dass in der Akquise Kern die Befähigung der Teilnehmenden von Teilnehmenden keine zufriedenstel- ist: Sie sollen nicht einfach »jugendpoliti- lende Repräsentativität gewährleistet sche« Themen bearbeiten, sondern viel- werden kann. Oft sind es – besonders im mehr ihre Perspektive zu aktuellen eu- europapolitischen Bereich – gut ausgebil- ropapolitischen Themen zur Diskussion dete und bereits in anderen Verbänden bringen und im Projektverlauf in konkrete organisierte Jugendliche, die erreicht wer- Umsetzungsideen transformieren. Anstatt den. So machen beispielsweise viele Stu- diffuser, von aktuellen politischen Agen- dierende positive Erfahrungen über das den losgelöste Forderungen formulieren Erasmus+-Austauschprogramm, während Jugendliche so klar adressierbare Umset- deutlich weniger Auszubildende mobili- zungsstrategien, mit denen sie über ihre siert werden können,5 sodass europapo- Rolle als Agenda-Setter:innen hinaus zu litisches Interesse und Bereitschaft zur Agenda-Gestalter:innen in europapoliti- Beteiligung unterschiedlich verteilt sein schen Prozessen werden können. Wich- kann. #EngagEUrCouncil versucht hier, die tigste Voraussetzung hierfür ist eine in- angestrebte Repräsentativität der Teilneh- formationsbasierte Diskussion, für die den menden kontinuierlich zu verbessern, in- Teilnehmenden detaillierte und zielgrup- dem mit verschiedenen Netzwerken und pengerecht aufbereitete Informationsma- Schulen kooperiert wird. terialen zu EU-Ratspräsidentschaften und Politikbereichen wie Klima-, Handels- oder Eine zweite Herausforderung für Partizipa- Außenpolitik zur Verfügung gestellt wer- tionsprojekte mit Jugendlichen ist, wie die den. Zudem integriert das Projekt (Nach- 4 Vgl. Patrizia Friedrich/Frederike Hoffmann-van de wuchs-)Expert:innen aus Wissenschaft Poll: Partizipation als Meinungsabfrage oder Beteili- und Praxis, die den Teilnehmenden zum gungsmechanismus?, in: deutsche jugend 2/2019, S. niedrigschwelligen Austausch und bei der 72-79. Ausarbeitung eigener Ideen zur Seite ste- 5 Vgl. European Commission: Erasmus+ Annual Report 2017, abrufbar unter:https://op.europa. hen. eu/en/publication-detail/-/publication/4e5c3e1c- 1f0b-11e9-8d04-01aa75ed71a1 (letzter Zugriff: Die Bedingungen der COVID-19-Pandemie 26.10.2020); Nationale Agentur beim Bundesinstitut für Berufsbildung: Mobilitätsstudie Auslandsauf- hat Auswirkungen auf die Art und Weise, enthalte in der Berufsbildung 2017, abrufbar unter: wie Jugendliche ihre Ideen gemeinsam dis- https://www.na-bibb.de/fileadmin/user_upload/na- kutieren und gezielt an ihre Adressat:innen bibb.de/Dokumente/06_Metanavigation/02_Service/ Publikationen_Warenkorb/Studien_impuls/NA_Mo- 6 Friedrich/Hoffmann-van de Poll: Partizipation als bilitaetsstudie_WebV3_180706-2.pdf (letzter Zugriff: Meinungsabfrage oder Beteiligungsmechanismus?, 26.10.2020). 2019, S. 75

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übermitteln können. Somit wurde eine im Rahmen von #EngagEUrCouncil Ver- kurzfristige Umstrukturierung auch im netzungstreffen geplant sind, wenn Kon- Projekt erforderlich, wobei Präsenzwork- takt- und Reisebeschränkungen einmal shops durch digitale Kollaborationsmög- der Vergangenheit angehören. lichkeiten ersetzt wurden. Herzstück des Ideenerarbeitungsprozesses ist nun ein Eine dritte Herausforderung für Jugendbe- so genannter Virtual Think Tank, der die teiligungsprojekte ist der Umstand, dass Teilnehmenden durch verschiedene Pha- häufig erarbeitete Forderungen oder Ide- sen von ersten Einfällen über deren Aus- en von Entscheidungsträger:innen zwar arbeitung zu ausformulierten Ideen, die zur Kenntnis genommen werden, eine Entscheidungsträger:innen überzeugen nachhaltige Wirkung jedoch ausbleibt. sollen, begleitet. Die Befähigung von Ju- Neben der Befähigungskomponente, die gendlichen schließt zuletzt auch die För- Teilnehmenden relevantes Wissen über derung gewählter Rapporteur:innen ein, die Europäische Union, Ratspräsident- die stellvertretend für die Teilnehmen- schaften und spezifische Politikbereiche den die finalen Youth Ideas einem brei- vermittelt, liegt ein besonderes Augen- teren Publikum und Stakeholdern prä- merk des Projektes auf der Stärkung teil- sentieren. Flankiert wird die Jugendbe- habespezifischer Soft Skills wie Verhand- fähigung einerseits durch die Einbettung lungs- und Präsentationstechniken. So von #EngagEUrCouncil in das Format der sollen die Teilnehmenden einerseits selbst Trio-Ratspräsidentschaft Deutschlands, als Multiplikator:innen die erarbeiteten Portugals und Slowenien, die eine wich- Ideen in ihr soziales Umfeld – beispiels- tige Agenda-Setting-Funktion für die Eu- weise über Social Media-Kanäle – hinein- ropäische Union einnimmt, und somit tragen. Andererseits werden die gewähl- die Einspeisung der Youth Ideas in den ten Rapporteur:innen »bottom-up« als politischen Prozess durch die Verknüp- Gesichter des Projekts in relevante For- fung mit einem konkreten politischen mate eingebunden, beispielsweise in die Anlass erleichtert. Andererseits wird vor Wechseln in der Ratspräsidentschaft eine nachhaltige Vernetzung der Teilneh- stattfindenden »Pre-Presidency Confe- menden angestrebt, die jedoch durch rences« der Trans-European Policy Studies die Pandemie-Auswirkungen und die di- Association (TEPSA), deren Mitglied das gitale Durchführung des Projektes eine IEP ist, oder bei einem Diskussionsforum besondere Herausforderung für die Zu- mit Bundespräsident Frank-Walter Stein- kunft darstellt. So zeigen beispielsweise meier.8 Aus institutioneller Sicht bietet die Aktivitäten von »Fridays for Future« auch die aufgrund der COVID-19-Pan- während der Pandemie, dass Jugendli- demie vertagte Konferenz zur Zukunft che nicht nur partizipationswillig bleiben, Europas Spielraum, die Youth Ideas wir- sondern mit Protestformen über soziale kungsvoll in den politischen Prozess auf Netzwerke weiterhin Aufmerksamkeit ge- europäischer Ebene einzuspeisen. Wichtig nerieren und die Beteiligungsmöglichkei- für #EngagEUrCouncil wird bleiben, eine ten digital sogar niedrigschwelliger sein nachhaltige Vernetzung der Teilnehmen- können.7 Dennoch bleiben persönlicher den zu fördern und ihnen andere europa- Austausch oder Druck von Demonstratio- politische Netzwerke und Initiativen näher nen auf der Straße wichtige Bestandteile zu bringen, bei denen sie ihre Bereitschaft demokratischer Willensbildung, weshalb zur Beteiligung weiter einbringen können. 7 Benjamin Dierks: Wie sich Corona auf die Klimakrise auswirkt, in: Deutschlandfunk, 1.11.2020. 8 Augustin/Schubert: Vision oder Utopie?, S. 154.

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Ausblick Berichterstattung oft wenig thematisier- ten Ratspräsidentschaften als relevantes Zum Stand Ende Oktober 2020 ist ein Politikereignis der Europäischen Union Projektzyklus von #EngagEUrCoun- verstehen und nachverfolgen zu können. cil zur deutschen Ratspräsidentschaft abgeschlossen,9 während sich ein zweiter Für #EngagEUrCouncil wird es im weite- Zyklus zur portugiesischen Ratspräsident- ren Projektverlauf von großer Bedeutung schaft kurz vor der Vollendung befindet, sein, nicht nur die nachhaltige Vernetzung sodass eine zweite Ausgabe der Youth der Teilnehmenden weiter zu fördern, Ideas Ende November 2020 im Rahmen ei- sondern auch durch die wissenschaft- ner virtuellen Pre-Presidency Conference liche Begleitung und Auswertung des in Lissabon einem breiten Publikum vor- Projekts Erkenntnisse zu gewinnen, wie gestellt wird.10 2021 wird dann die slowe- junge Europäer:innen ihre Perspektive nische Ratspräsidentschaft in den Fokus auf aktuelle Themen fruchtbar, nachhal- rücken. tig und wirkungsvoll in europäische Ent- scheidungsprozesse einbringen können. Es kann festgehalten werden, dass sich Ob die Europäische Union dringenden die pandemiebedingte Umstellung auf Herausforderungen der Zukunft etwa in digitale Formate und die Nutzung des der Bekämpfung der Auswirkungen der Virtual Think Tanks bewährt hat und die COVID-19-Pandemie und des Klimawan- Teilnehmenden auch ohne persönliche dels begegnen kann, hängt auch von ihrer Treffen vor Ort befähigt werden, aus ers- Fähigkeit ab, zukunftsgerichtete Politik ten Vorschlägen konkret an politische zu betreiben. Hierfür muss einerseits die Entscheidungsträger:innen adressierbare Union bessere Voraussetzungen zur In- Ideen zur Zukunft Europas zu erarbeiten. tegration und Teilhabe junger Menschen Pandemie, Reise- und Kontaktbeschrän- schaffen, andererseits sind auch junge EU- kungen scheinen die jungen Engagierten Bürger:innen gefordert, sich mit ihren In- nicht abzuhalten, gemeinsam die Zukunft teressen, Stärken und Kompetenzen noch Europas weiterzudenken – eher im Ge- stärker zu beteiligen. genteil. Der starke Fokus des Projekts auf die Befähigung der Jugendlichen zur Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten informierten Debatte bietet zudem den 10/2020 am 12.11.2020. nachhaltigen Vorteil, die in der medialen AUTOR*INNEN 9 Institut für Europäische Politik: Online-Work- shopsstatt Seminare: Jugendbeteiligung in Zeiten von Kontakt-und Reisebeschränkungen. Abschluss- Dr. Funda Tekin ist promovierte Politikwis- bericht über den ersten Projektzyklus (03-06/2020), senschaftlerin und Direktorin am Institut abrufbar unter: http://iep-berlin.de/wp-content/up- für Europäische Politik in Berlin loads/2020/07/EngagEUrCouncil-Projektbericht-Zyk- lus-1.pdf (letzter Zugriff: 30.10.2020); vgl. für die Youth Weitere Informationen http://iep-berlin. Ideas des ersten Zyklus: #EngagEUrCouncil: Youth de/en/team/dr-funda-tekin/ Ideas for EuropeSetting the Scene for the German EU Council Presidency, abrufbar unter:https://www. german-ppc-2020.eu/en/youthideas.html (letzter Jana Schubert ist wissenschaftliche Mitar- Zugriff: 3.11.2020). beiterin am Institut für Europäische Politik 10 Abrufbar ab Ende November 2020 unter der in Berlin und koordiniert dort das Jugend- Projektseite: http://iep-berlin.de/forschung/debatte- beteiligungsprojekt für die Trio-EU-Rats- zur-zukunft-der-europaeischen-union/engageurcoun- cil-jugendbeteiligung-und-begegnung-fuer-die-trio- präsidentschaft Deutschlands, Portugals eu-ratspraesidentschaft/ und Sloweniens #EngagEUrCouncil.

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Weitere Informationen: http://iep-berlin. teiligungsprojekt für die Trio-EU-Ratsprä- de/blog/team/jana-schubert/ sidentschaft Deutschlands, Portugals und Sloweniens #EngagEUrCouncil. York Albrecht ist Projektassistent am Ins- Weitere Informationen: http://iep-berlin. titut für Europäische Politik im Jugendbe- de/blog/team/york-albrecht/

BBE DOSSIER NR. 8 | 131 THE EU COUNCIL AND THE GERMAN PRESIDENCY – THE OBSCURE INSTITUTION FOR YOUNG PEOPLE? INTERVIEW WITH ALEXANDRINA NAJMOWICZ, DIRECTOR OF THE EUROPEAN CIVIC FORUM

BBE: Germany has held the Presidency of campaigning1, we are very happy about the Council of the EU since July 1, 2020. the deal brokered between the European How do you experience the German Presi- Parliament and the German EU Presiden- dency of the Council of the EU? cy, foreseeing a significant increase in the budget for the Justice, Rights and Values Alexandrina Najmowicz: We usually inter- programme, raising from 0.8 to €1.6 billi- act with the EU Presidencies through the on for the 2021-2027 period. so-called Civil Society forums. Initiated by the European Civic Forum back in 2008 After a sour victory in July, when we mo- under the French EU Presidency, these bilised against an inexplicable 20% budget events form a central place for exchange, cut proposed by the Commission, we are debate, position finding and agenda set- particularly happy now to see this historic ting as well as a political dialogue with deal for civil society. Over the last years, the respective Presidencies. The latest sources of funding for CSOs became incre- Civil Society Forum took place in Bucha- asingly scarce – a process which accele- rest 3/4 June 2019. Within Germany’s rated with the outbreak of the pandemic Presidency 2020, we were planning to and which will be analysed in the upco- co-organise such a Forum together with ming Civic Space Watch report 2020. the National Network for Civil Society Germany (BBE) in digital form, adapting The announced agreement sends out a ourselves to the constraints of the global most welcome positive signal in these Covid19-pandemic. But unfortunately dark times, a long waited recognition of we were bound to cancel this event at the role played by civil society actors in the very last moment, due to exceptio- protecting and strengthening our core EU nal circumstances related to the current values. sanitary crisis and the way it affects also institutional agendas… This cancelation BBE: As Germany’s EU Council presiden- comes after several unfruitful attemps cy begins, experts have assessed the high to engage in dialogue with the German expectations and demands of European Presidency, and naturally it leaves a bit member states. What hopes and expecta- of a bitter taste…, as we had high hopes tions did you have? regarding this EU Presidency and the ex- tent to which it could have contributed to Alexandrina Najmowicz: We were expec- raise the profile of the role of European ting important progress on European me- civil society in social and democratic life. 1 https://civic-forum.eu/publications/open-let- But on a more positive note, after intense ter/letter-to-eu-and-national-leaders

132 | BBE DOSSIER NR. 8 Interview with Alexandrina Najmowicz chanisms, including budget conditionality, more professionalized civil society. Despi- to protect the rule of law and European te some progress that has been made in values. The rule of law backsliding that the the last years, transparency and access to European Union member states are expe- the information is still an important issue riencing reflects tensions that are present and a barrier in establishing real bridges in our societies, including the crisis of trust with the citizens and their organisations. in democracy, the growth of inequalities As said, the German EU Presidency was and vulnerabilities, the sense of competi- not particularly accessible from this per- tion between people for the effective ac- spective. cess to basic rights. While states have sole responsibility over the implementation of BBE: When you look back on the German rule of law nationally, these societal ten- EU Council Presidency 2020, what do you sions in member states are not the sole think of first? responsibility of the decision-making of national authorities. They are exacerbated Alexandrina Najmowicz: Unfortunately, by the effects – in each country – of the the strong impression that we have, as economic and financial rules that are the civil society actors, is inaccessibility of in- responsibility of the European Union ins- formation, contact with representatives, titutions. consultations. This can be partly explai- ned by the pandemic crisis and the way it The EU actions are key to rebuild trust transformed our working conditions, but and confidence in democracy and rule of in the same time, we felt at the early sta- law as tools for addressing the diversity of ges of the crisis that contacts with a lot of needs for the effective access to rights for EU leaders were easier to establish, due to all. In doing so, the economic and financial the digitalization. policies are long-term tools at the disposal of EU institutions to diminish the stress in The interview was conducted in writing by society and, in this way, are strong drivers the editor of the »BBE Europa-Nachrich- to contribute to limit negative pressures ten« for this publication on November 26, on the rule of law. 2020.

BBE: Do you believe the »German EU Further Information Council Presidency« is an issue for young The European Civic Forum (ECF) is a trans- people in Europe? national network that brings together over 100 associations and NGOs across 27 Alexandrina Najmowicz: The EU Council countries in Europe, actively working on is probably the most obscure institution issues such as citizenship education, de- to the general public, including the young fence of Human Rights and the advocacy people, and the hardest to reach also for of Democracy. https://civic-forum.eu/

BBE DOSSIER NR. 8 | 133 KEINE LEICHTE EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT INTERVIEW MIT CLARA FÖLLER, BUNDESVORSITZENDE DER JUNGEN EUROPÄISCHEN FÖDERALISTEN (JEF) DEUTSCHLAND

BBE: Seit dem 1. Juli 2020 hat Deutschland se sagen: angesichts der gegebenen Aus- den Vorsitz im Rat der EU. Wie erleben Sie gangslage, läuft es ganz gut. diese Ratspräsidentschaft? BBE: Die hohen Erwartungen an die deut- Clara Föller: Zweifelsohne wird man rück- sche EU-Ratspräsidentschaft waren von blickend sagen: das war keine leichte EU- Anfang an spürbar. Die Medien haben oft Ratspräsidentschaft! Denn insgesamt war betont, dass EU-Mitgliedstaaten große (und ist) #EU2020DE für alle Beteiligten Hoffnungen darin setzen. Welche Hoff- eine echte Kraftanstrengung. Einerseits nungen und Erwartungen hatten Sie? thematisch: schließlich geht es gerade um nicht weniger, als Europa durch die Clara Föller: Wir haben von Anfang an schwerste Krise seit der Nachkriegszeit ganz klar gefordert: die deutsche Bun- zu manövrieren. Dabei war die Agenda desregierung muss sich ihrer verantwor- auch ohne Covid19 schon sehr anspruchs- tungsvollen Position innerhalb der EU voll, mit dem Mehrjährigen Finanzrahmen bewusst werden und als Motor und Mo- 2021-27, Brexit, entwicklungspolitischen deratorin des Rats agieren. Es wurde oft Neustrukturierungen, längst überfälligen davor gewarnt, zu viel zu erwarten. Und Maßnahmen in den Bereichen Klima- das stimmt auch, schließlich kann nicht schutz, Asyl- und Migration, Rechtsstaat- ein Mitgliedstaat allein sechs Monate lang lichkeit… Andererseits ist #EU2020DE aber einfach bestimmen, wo es lang geht. Den- auch eine organisatorische Herausforde- noch muss man durchaus klare Erwartun- rung, denn es wurde ja der allergrößte Teil gen formulieren dürfen. Wir befinden uns der Gespräche in den digitalen Raum verla- in Europa gerade an einer wichtigen Weg- gert. Das erschwert nicht nur die Verhand- marke. Es stellt sich die Frage: wo wollen lungen unter den Minister*innen, sondern wir eigentlich hin, als europäische Gemein- schränkt leider auch stark die Beteiligung schaft? Als JEF haben wir dabei ein sehr der Zivilgesellschaft ein, die damit ihrer konkretes Ziel, nämlich den europäischen Rolle im politischen Tauziehen nicht wie Bundesstaat. Damit wir dort aber langfris- gewünscht gerecht werden kann. Dass die tig hinkommen, kommt es jetzt darauf an, Ratssitzungen selbst dann auch noch un- die nötigen Weichen dafür zu stellen, also ter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfin- eben auch institutionell längst überfällige den, schafft zusätzliche Distanz zwischen Reformen anzustoßen. Das ist die Aufgabe »Brüssel« und den Bürger*innen. Nichts- des Motors. Gleichzeitig aber ist es eben destotrotz: auch wenn wir, als Junge Eu- auch entscheidend, dass wir auf dem Weg ropäische Föderalisten uns in manchen in ein geeintes Europa alle, oder wenigs- Themen mehr Mut und Entschlossenheit tens die, die wollen, mitnehmen. Das ist gewünscht hätten, muss man fairerwei- die Aufgabe der Moderatorin. Krisen las-

134 | BBE DOSSIER NR. 8 Interview mit Clara Föller sen sich nur gemeinsam bewältigen. Wer- dass Online-Formate die Möglichkeit bie- te lassen sich nur gemeinsam verteidigen. ten, unkompliziert auch räumliche Dis- Und gerade weil wir sehen, dass europäi- tanzen zu überwinden. Mindestens diese sche Solidarität in Europa bröckelt, gilt es Erkenntnis sollten wir auch über die Rats- zuallererst, diese Gemeinsamkeit wieder präsidentschaft und über Corona hinaus zu stärken. Deswegen lautet auch das Leit- erinnern. motiv unserer gemeinsamen Kampagne mit der Europa-Union Deutschland anläss- BBE: Welche Ziele müssen noch erreicht lich der EU-Ratspräsidentschaft: #Besser- werden, damit man später sagen kann: Zusammen. Diese Trio-Präsidentschaft war ein Erfolg?

BBE: Wie war der Start der deutschen EU- Clara Föller: Der Erfolg dieser Trio-Prä- Ratspräsidentschaft für Junge Europäische sidentschaft lässt sich nicht an klar ab- Föderalisten Deutschland? grenzbaren Zielen bemessen. Damit mei- ne ich, dass wir zwar natürlich die Trio- Clara Föller: Die Herausforderungen, die Präsidentschaft anhand ihres eigenen Corona dieses Jahr stellt, haben sich na- Programms bewerten können und auch türlich auch unmittelbar auf unsere ur- sollten und dass sie ganz bestimmt dies sprüngliche Planung, etwa die Ratsprä- auch selber tun werden. Aus meiner Sicht sidentschaft auch regional zu begleiten, aber kann Erfolg im Kontext europäischer ausgewirkt. Einer der Markenkerne der Politik immer nur das Ergebnis einer ge- JEF ist das Engagement unserer Kreis- und meinsamen Anstrengung sein. Erst wenn Landesverbände, die Europa nicht nur im wir uns alle auf den Weg zu einem demo- Herzen, sondern auch von Berlin bis an kratischen Europa gemacht haben, das in den Bodensee tragen. Gerne hätten wir Krisenzeiten und auch sonst niemanden die informellen Räte in den verschiedene zurücklässt, können wir sagen: Das war Städten im ganzen Bundesgebiet dazu ge- ein Erfolg. nutzt, die Diskussion über die EU-Ratsprä- sidentschaft auch mit den Bürger*innen Das Interview wurde von der Redaktion der austragenden Städte zu führen. Da der BBE Europa-Nachrichten für das vor- das aus nachvollziehbaren Gründen nicht liegende Dossier am 26. November 2020 mehr ging, war es natürlich schwieriger, schriftlich geführt. die von uns gewünschte Debatte mit Le- ben zu füllen. Folglich mussten wir, wie Clara Föller ist seit Oktober 2020 Bun- alle anderen Akteur*innen in der EU-Rats- desvorsitzende der Jungen Europäischen präsidentschaft auch, unsere Planungen Föderalisten (JEF) Deutschland, einem anpassen. Blicke ich auf unsere regionalen Jugendverband, der seit über 70 Jahren Europamacher*innen, kann ich aber fest- überparteilich und überkonfessionell für stellen, dass hier mit viel Kreativität der den Europäischen Bundesstaat streitet. Situation begegnet wurde: ob PubQuiz, Online-Podiumsdiskussion oder ein Insta- Weitere Informationen Live mit Politiker*innen, die Debatte war https://www.jef.de/bundesvorstand/cla- da! Und mehr noch, wir alle haben erlebt, ra-foeller/

BBE DOSSIER NR. 8 | 135 MITGLIEDERVERSAMMLUNG DES BUNDESNETZWERK BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT, 19. NOVEMBER 2020 BESCHLUSS DES BBE ZUM PROGRAMM DER DEUTSCHEN EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT 2020

Das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Das BBE begrüßt grundsätzlich, dass die Engagement hält neue Impulse für ein an Achtung der gemeinsamen europäischen Rechten und Werten orientiertes, partizi- Werte ein zentraler Bestandteil des Pro- patives und nachhaltiges Europa für drin- gramms der deutschen EU- Ratspräsident- gend geboten und hat dies in der Vergan- schaft ist. Es bereitet aber große Sorge, genheit in unterschiedlichen Stellungnah- dass diese Werte in einigen EU- Mitglied- men unterstrichen. Mit der Berlin Agenda staaten akut gefährdet sind. hat das BBE zuletzt anlässlich der Europa- wahl 2019 entsprechende Empfehlungen Rechtsstaatlichkeitsprinzip: Hervorzuhe- und Forderungen der europäischen Zivil- ben im Arbeitsprogramm der Bundesregie- gesellschaft zusammengefasst. rung ist das Eintreten »für eine Verknüp- fung von EU-Haushaltsmitteln mit der Ein- Mit der Ratspräsidentschaft der EU trägt haltung rechtsstaatlicher Standards in den Deutschland derzeit eine große Verant- Mitgliedstaaten« (Kap. V). Da das Prinzip wortung, Europa in Zeiten großer Heraus- der Rechtsstaatlichkeit die Grundvoraus- forderungen richtungsweisende Impulse setzung für individuelle Rechte, Freihei- zu geben. Im Austausch mit den europäi- ten und den Schutz gemeinsamer Werte schen zivilgesellschaftlichen Kooperations- in den Mitgliedstaaten ist, scheint es zu- partnern des BBE zeigen sich große Erwar- gleich fraglich, dessen Einhaltung durch tungen und Hoffnungen an Deutschland. jährliche Aussprachen der Mitgliedstaaten selbst (peer-review) überprüfen zu wollen. Die Mitgliederversammlungsdes BBE be- Hier wäre der Einsatz einer unabhängigen grüßt grundsätzlich das am 30. Juni 2020 Expert*innenkommission (Rechtsstaats- veröffentlichte Arbeitsprogramm der kommission) der geeignetere Weg. deutschen Bundesregierung zur EU- Rats- präsidentschaft 2020. Sie bedauert aber Förderung einer europäischen Zivilgesell- zugleich, dass dieses Programm viele für schaft: Es steht außer Frage, dass »Kul- die europäische Zivilgesellschaft zentrale tur und Medien eine tragende Rolle bei Punkte nur erwähnt bzw. ganz ausklam- der Vermittlung unserer europäischen mert. Identität, unserer Geschichte und Werte [spielen]« (Kap. V) und sich die deutsche I. Rechte und Werte in der EU Ratspräsidentschaft daher für die Fort- setzung des EU-Programms »Kreatives Zu den zentralen Grundwerten der Euro- Europa« einsetzt. Es ist allerdings enttäu- päischen Union gehören die Achtung der schend, die Rolle der Zivilgesellschaft und Menschenwürde, Demokratie, Gleichheit ihres Engagements bei der Vermittlung der Geschlechter und Rechtsstaatlichkeit. und Stärkung der europäischen Werte in

136 | BBE DOSSIER NR. 8 Beschluss zum Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 diesem Kapitel V unerwähnt zu lassen. der Aufnahme von Geflüchteten eine Ver- Das BBE unterstreicht, dass der Aspekt knüpfung mit der Vergabe von EU-Haus- der Grundwerte und insbesondere der haltsmitteln herzustellen. Rechtsstaatlichkeit in Verknüpfung mit der Förderung zivilgesellschaftlicher Or- II. Engagement und Beteiligung in Europa ganisationen existentiell ist und bedauert das Fehlen eines entsprechenden Bezugs Die BBE-Mitglieder begrüßen ausdrück- in Kapitel III. Unverständlich ist zudem, lich, dass die deutsche EU- Ratspräsi- dass der von der Europäischen Kommis- dentschaft die Förderung einer aktiven sion im Mai 2018 vorgeschlagene Fonds Zivilgesellschaft für die Aufrechterhaltung für Justiz, Rechte und Werte, der vor al- des gesellschaftlichen Zusammenhalts in lem auch durch die Unterstützung zivil- Europa für unabdingbar hält und die Not- gesellschaftlicher Organisationen auf den wendigkeit einer europäischen Öffent- Schutz und die Förderung der in den EU- lichkeit sowie Partizipation einer aktiven Verträgen verankerten Rechte und Werte Zivilgesellschaft betont, die auch von kul- abzielt, keine Erwähnung findet. Das ist tureller und medialer Vielfalt lebt (Kap. umso bedauerlicher, als die Bundesregie- III). Die deutsche Ratspräsidentschaft rung (Drucksache 19/12720) für die För- muss aber zur Kenntnis nehmen, dass in derung der Zivilgesellschaft als zentralem vielen Teilen Europas die Mitsprache und Akteur in der Wertediskussion, für die Teilhabechancen einer proeuropäischen Umsetzung des Programms sogar einen aktiven Bürgergesellschaft in Gefahr sind vierten Strang »Union Values Strand« zu und der gesellschaftliche Raum zur Mit- den Werten der EU vorschlägt. Wir for- gestaltung einer pluralistischen Demokra- dern daher die ausdrückliche Berücksich- tie sich mehr und mehr politischen Ein- tigung des für die Zivilgesellschaft wichti- schränkungen ausgesetzt sieht (shrinking gen Programms space).

»Rechte und Werte« in der deutschen Konferenz zur Zukunft Europas: Die BBE- Ratspräsidentschaft sowie die Zurverfü- Mitglieder begrüßen die Unterstützung gungstellung ausreichender Mittel zur der Bundesregierung für eine Konferenz Umsetzung des Programms. zur Zukunft Europas. Damit der Prozess der Konferenz zur Zukunft Europas erfolg- Schutz von Geflüchteten: Gegenwärtig reich ist, muss die Beteiligung der Akteu- kann nicht von der Existenz einer euro- re der organisierten Zivilgesellschaft ge- päischen Migrations- und Asylpolitik ge- mäß ihrer gesellschaftlichen Bedeutung sprochen werden. Das BBE begrüßt daher sichergestellt werden. In diesem Zusam- ausdrücklich das Bemühen der Bundes- menhang verweist das BBE auf seinen Be- regierung, das Gemeinsame Europäische schluss zur Konferenz zur Zukunft Europas Asylsystem (GEAS) derart zu reformie- vom 26.03.2020, in dem die Bedingungen ren, dass es zu einer gerechten Verteilung für den Erfolg einer solchen Konferenz be- Schutzsuchender kommen kann. Unter nannt werden. den gegenwärtigen Vertragsbedingungen der EU scheint dies jedoch sehr fraglich zu Frauenorganisationen: Durch antide- sein. Daher böte sich hier das gleiche Mit- mokratische, antipluralistische und an- tel wie bei der Verletzung der Rechtsstaat- tifeministische Entwicklungen werden lichkeit durch einzelne Mitgliedstaaten an. den demokratischen Prozessen wichtige Das hieße konkret, auch bei Verweigerung zivilgesellschaftliche Kräfte entzogen.

BBE DOSSIER NR. 8 | 137 Beschluss zum Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020

Die zunehmende Infragestellung von und wirtschaftliche Dimension beziehen. Frauenrechten macht es insbesonde- Insbesondere die ökologische Nachhaltig- re Akteur*innen auf diesem Feld immer keit sollte jedoch stärker als bisher zum schwerer, sich politisch zu beteiligen. Zur verbindlich geltenden Grundsatz aller Erreichung des Ziels der Europäischen Entscheidungen werden. So werden bei- Union der Gleichstellung von Frauen und spielsweise im freien Wirtschaftsmarkt Männern ist neben der Umsetzung der Entscheidungsprozesse von monetärer Gleichstellungsstrategie 2020-25 die ro- Effizienz dominiert und als »wirtschaftli- buste Finanzierung von Frauenorganisati- che Nachhaltigkeit« deklariert. Artikel 191 onen und Netzwerken notwendig. Denn bis 193 des Vertrags über die Arbeitswei- die Stärkung des gesellschaftlichen Zusam- se der Europäischen Union (AEUV), greift menhalts kann nur gelingen, wenn Frauen zwar das Prinzip der Nachhaltigkeit auf, gleichberechtigt mitgestalten können. beschreibt aber nur Absichten, ohne ope- rationale Ziele und konkrete Strukturen Jugend und Demokratie: Das BBE hält es zu definieren. Im Rahmen der Konferenz für notwendig, neben der Teilhabe der zur Zukunft Europas sollte entschieden Jugendlichen am demokratischen Leben werden, wie die (ökologische, soziale und gemäß Artikel 165 des Vertrags über die wirtschaftliche) Nachhaltigkeit zur Grund- Arbeitsweise der Europäischen Union den lage aller politischen Entscheidungspro- Schwerpunkt auf soziales und bürger- zesse festgeschrieben werden kann. Das schaftliches Engagement der Jugendlichen BBE unterstützt die Forderung des Rates zu legen und dies im Programm entspre- für Nachhaltigkeit, das Prinzip der Nach- chend zu betonen. Das BBE weist auf die haltigkeit ins deutsche Grundgesetz auf- Notwendigkeit der Reform der Empfeh- zunehmen und damit eine Vorbildfunktion lung zur Mobilität junger Freiwilliger von für Europa zu übernehmen. 2008 hin und fordert einen Konsultations- prozess, in den die Zivilgesellschaft ange- Institutionalisierung von zivilgesellschaft- messen eingebunden wird. licher Beteiligung an politischen Entschei- dungsprozessen, insbesondere auf der III. Ein nachhaltiges Europa Ebene der Kommunen: Das BBE erinnert daran, dass die Bedeutung der Kommu- Verwendung des Begriffs »Nachhaltig- nen erstmals in der Agenda 21, dem Ak- keit«: Die Verwendung des Begriffs Nach- tionsprogramm der Vereinten Nationen, haltigkeit sieht das BBE als ungeeignet an, Rio de Janeiro (1992): Kapitel 28 »Initiati- da er einen »Endzustand« oder eine ven der Kommunen zur Unterstützung der »Zielvorstellung« beschreibt und nicht ei- Agenda 21«; Motto »Global denken – lo- nen dynamischen Prozess, wie es in der kal handeln!« sowie in der Nachfolgever- Verwendung des Begriffs in »nachhaltiges einbarung Agenda 2030 herausgehoben Europa« impliziert ist. Das BBE empfiehlt wurde. daher die Verwendung »nachhaltige Ent- wicklung von Europa«. Weltweit haben Kommunen den Auf- trag umgesetzt und gemeinsam mit Juristische Verankerung der Nachhaltigkeit Bürger*innen , Vertreter*innen der Wirt- als Grundlage gesellschaftlichen Handelns schaft und Vertreter*innen des kulturel- von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft: len und sozialen Bereiches an »runden Nachhaltigkeit soll sich dabei im Sinne der Tischen« oder in so genannten »Zukunfts- Agenda 21 auf die ökologische, soziale werkstätten« oder »Barcamps« eigene

138 | BBE DOSSIER NR. 8 Beschluss zum Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020

Agenden entwickelt und den Gremien Schaffung einer verbindlichen Struktur er- der Legislative zur Verfügung gestellt. Die möglicht werden. Runden Tische, Zukunftswerkstätten und Barcamps haben meist nur temporär be- Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten standen. Ihre Fortführung sollte durch die 11/2020 am 26.11.2020.

BBE DOSSIER NR. 8 | 139 TEIL V: PROJEKTE DES BBE FÜR JUNGES ENGAGEMENT

SALLY WILKENS »DAS LEBEN IST MEHR ALS GUTE NOTEN«

Annalena Stöger ist Botschafterin des En- schwärmt. Auch davon wie viel sie selbst gagements für Klimaschutz. Die vom Bun- gelernt hat – »wie ich vor Menschen spre- desnetzwerk Bürgerschaftliches Engage- che, wie ich wirke, wie ich Menschen ment BBE ausgezeichnete 22-Jährige stärkt begeistere und mitreiße. Ich wusste gar mit dem Projekt »Schule·Klima·Wandel« nicht, dass ich das kann – bevor ich mich Jugendliche, sich einzusetzen und die Kli- engagiert habe.« mawende voranzubringen. Engagement macht nicht nur stark sondern auch Spaß, Ihre Eltern, eine Verwaltungsbeamtin und meint Stöger, die durch ihren Einsatz viel ein KFZ-Mechaniker hatten ihr nur eines über sich erfahren hat. mitgegeben: »Du kannst machen, was du möchtest und du kannst dich auch ument- So richtig was fürs Leben lernte Annalena scheiden, Hauptsache du bringst eine Sa- Stöger erst nach der Schule. Die 22- jäh- che fertig.« rige Frankfurterin tauschte sich während ihres Bundesfreiwilligenjahres beim SV- Stöger bringt nun Beides fertig: Sie stu- Bildungswerk in Berlin mit jungen Enga- diert Politikwissenschaft in Frankfurt am gierten aus und staunte. »Da waren an- Main und besucht als Klima-Botschafterin dere, die so viel weniger auf gute Noten Schulen und vermittelt, was im normalen fokussiert waren als ich, die schon so viel Haupt- und Nebenfächer-Stundenplan oft coolere Dinge erlebt hatten. Jenseits gu- zu kurz kommt: Wie kann ich mich enga- ter Zeugnisse hatten die sich für eine Sa- gieren? che stark gemacht, die ihnen wichtig war, das hat mich beeindruckt«, sagt Stöger. Was kann ich für den Klimaschutz tun »Das Leben ist mehr als gute Noten.« Sie und wie selbst Klimagerechter leben? lässt sich zur Klima-Botschafterin aus- Inzwischen hat Stöger eine regionale bilden, besucht quer durch die Republik »Schule·Klima·Wandel«-Gruppe in Hessen Schüler*innen und ist fasziniert. aufgebaut und es sollen weitere folgen. »Junge Menschen, die noch zur Schule ge- Sie ist Vorstandsmitglied des SV- Bildungs- hen, haben schon super viel Wissen und werks e.V. und wurde für ihr Engagement es macht so viel Spaß einander dieses nun vom Bundesnetzwerk Bürgerschaft- Wissen cool und auf Augenhöhe zu ver- liches Engagement BBE als Botschafterin mitteln, interaktiv, partizipativ«, Stögers des Engagements ausgezeichnet. sonst ruhige Stimme nimmt Fahrt auf, wenn Sie davon spricht. Ein Jahr lang wird sie dem Ehrenamt in Deutschland ein Gesicht geben. Eine jun- »Unsere jüngste Klimabotschafterin ist ge Engagierte, die viel gelernt hat über 15 Jahre alt, ist das nicht irre cool?« Sie sich, weil sie sich für andere, für das Klima

140 | BBE DOSSIER NR. 8 Wilkens: Das Leben ist mehr als gute Noten einsetzt. »Ich bin durch mein Engagement werden dort ermutigt sich zu engagie- viel selbstständiger. Das zu realisieren war ren oder sie werden daran gehindert. Ich ein echter Wow-Moment für mich und wünsche mir, dass junge Menschen sich das habe ich weder in der Schule, noch nicht entmutigen lassen auch in digitalen in der Uni gelernt«, sagt Stöger und führt Zeiten die Welt nachhaltiger zu machen.« aus: »Engagement wird eben maßgeblich durch die Institutionen bestimmt, in de- Erschienen am 26.11.2020. nen junge Erwachsene viel Zeit verbringen und dadurch geprägt werden. Schule ist Sally Wilkens, TEMPUS CORPORATE GmbH ein solcher Ort – entweder Schüler*innen – Ein Unternehmen des ZEIT Verlags

BBE DOSSIER NR. 8 | 141 BRIGITTA WORTMANN/ ANSGAR KLEIN 15 JAHRE CIVIL ACADEMY

Partnerschaft von BBE und BP zur fe der Qualifizierung dabei Erfolgserleb- Förderung von jungem Engagement nisse zu ermöglichen. Engagement sollte als wichtige Erfahrung und Bestandteil der »Geballte Lern- und Netzwerkwochenen- Gesellschaft positiv erlebt und die Aner- den mit wahnsinnig viel konkret auf un- kennung von bürgerschaftlichem Engage- sere Projekte ausgerichtetem Input, en- ment in der Gesellschaft gestärkt werden. gagierten, freundlichen und kompetenten Und dies wurde erreicht durch die Kom- Trainer*innen und inspirierende anderen bination von Wissen und Methoden aus jungen Aktivist*innen. Sie bringt mich per- Wirtschaft und Zivilgesellschaft. sönlich wie projektbezogen sehr weiter und hat mich bestärkt.« (Inkeri, 27. Runde). Für das BBE war bei der Civil Academy auch die Entwicklung des Engagementfeldes »Ein Ort zur Vernetzung, Weiterentwick- »Junges Engagement« im Netzwerk hand- lung und voller Tatendrang.« (Üwen, 22. lungsleitend. Seitens bp kam noch hinzu, Runde) dass das Unternehmen mit seinen spezifi- schen Kompetenzen als Wirtschaftsunter- 15 Jahre – 31 Academy-Runden – 92 nehmen einen Beitrag in der Gesellschaft Seminar-Wochenenden – rund 700 junge leisten und somit auch eine Engagement- Engagierte und Projektideen – 14 Netz- möglichkeit für bp Mitarbeiterinnen und werktreffen: Eine Bilanz Mitarbeitern schaffen wollte. Die strategi- sche Partnerschaft von Unternehmen und 15 Jahre haben das Bundesnetzwerk Bür- zivilgesellschaftlichen Akteuren wollten gerschaftliches Engagement (BBE) und das beide Partner mit diesem gemeinsamen Unternehmen BP Europa SE zusammen Projekt als wichtigen Entwicklungshori- das gemeinsam entwickelte Trainings- zont praktisch anschaulich machen. programm Civil Academy durchgeführt. Getragen von der strategischen Partner- Das Civil Academy Programm – schaft der beiden Akteure und umgesetzt eine Beschreibung von einem Programmbüro wurden in 31 Academy-Runden mehr als 700 junge En- In den drei aufeinander aufbauenden Wo- gagierte bei der Umsetzung ihrer Projekt- chenendseminaren einer Academy-Runde ideen unterstützt. konnten die 24 Teilnehmer*innen ihre ei- genen Projektideen, mit denen sie sich Das gemeinsame Ziel der beiden Partner für die CA beworben hatten, weiterentwi- der Civil Academy war es, junge Men- ckeln. Das Curriculum umfasste folgende schen zu motivieren, sich aktiv in die Ge- Themen: kreative Ideenentwicklung, Pro- sellschaft einzubringen und ihnen mit Hil- jektplanung und -management, Kosten-

142 | BBE DOSSIER NR. 8 Wortmann/Klein: 15 Jahre Civil Academy und Ressourcenplanung, Finanzierung und gestellt, das Programm auf ein digita- Fundraising, Teambuilding sowie Präsen- les Format umzustellen. Dank der ho- tationstechniken und Kommunikation. Im hen Flexibilität und dem Engagement Zuge dieses intensiven Trainingsprogramms der Programmmitarbeiter*innen und al- wechselten sich ständig Theorie- und Pra- ler Referent*innen gelang es, bereits die xiseinheiten ab. Bei Letzteren wenden die Frühjahrrunde umzustellen. Die Kombi- Teilnehmerinnen und Teilnehmer das neue nation aus den Möglichkeiten der Zoom- Wissen direkt auf ihre eigenen Projekte an. Videokonferenzen, von Slack als Kommu- nikationskanal und Padelet als Ort für die Das Curriculum umfasste Wissen und Präsentation der einzelnen Projekte er- Methoden aus Wirtschaft und Zivilgesell- möglichte es, den besonderen Charakter schaft, vermittelt von Expert*innen der der CA in das neue Format umzusetzen. BP Europa SE und aus dem social-profit Bereich. Zudem war es ein durchgängi- Dies wird in der folgenden Aussage einer ger Anspruch des Programms, Lernräume Teilnehmerin ersichtlich: zu schaffen, in denen Menschen mit ver- schiedenen Perspektiven und Hintergrün- »Civil Academy ist für mich eine Quelle der den voneinander profitieren können und Inspiration, Verbundenheit und Austausch in denen Vielfalt und Wertschätzung ande- von Ideen sowie Fähigkeiten zwischen en- rer Perspektiven eine wichtige Rolle spie- gagierten Menschen. Freude, Mut, Krea- len. Deshalb wurde bei der Zusammenset- tivität, Ehrlichkeit und Herzlichkeit schaf- zung der Teilnehmer*innen besonderer fen eine optimale Atmosphäre, sich selbst Wert daraufgelegt, dass Faktoren wie kul- sowie das eigene Projekt weiterzuentwi- turelle Hintergründe, Geschlecht, mit und ckeln. Vielen Dank an das ganze Civil Aca- ohne Behinderung, Bildungsabschlüsse, demy Team :)« (Caroline, 30. Runde) Engagementfelder und Erfahrungswerte im bürgerschaftlichen Engagement breit Ein wesentlicher Gelingensfaktor war gefächert repräsentiert waren. dabei ein guter Methodenmix und das Ermöglichen des Austauschs der Vierzehn Mal fand ein jährliches Ver- Teilnehmer*innen untereinander in klei- netzungstreffen der ehemaligen neren Formaten. Teilnehmer*innen statt, das ihnen die Möglichkeit zum Austausch über ihre ak- Nach dem Motto »aus der Not eine Tu- tuellen Projekte gab. Darüber kam es auch gendmachen« kamen ganz neue Elemen- zu Vernetzungen über die einzelnen CA- te in das Curriculum in Form der Verla- Jahrgänge hinweg und es bildeten sich teil- gerung von Inhalten bzw. zusätzlichen weise neue Kooperationen und Teams für Einheiten in Videocalls zwischen den gemeinsame Projekte. Insgesamt waren einzelnen Wochenenden. Über ein Bud- meist rund 45 Alumni vor Ort, breit verteilt dy-System wurden zudem die aktuellen über die unterschiedlichen Academy Jahr- Teilnehmer*innen mit Alumni der CA ver- gänge, immer auch mit Teilnehmer*innen netzt. aus den allerersten Runden 2005 und 2006. Was wurde von den Teilnehmer*innen Civil Academy goes digital geschätzt?

Die Covid-19 Pandemie hat auch die Ci- Die Civil Academy ist wie eine Gastfamilie, vil Academy vor die Herausforderung wo man ganz schüchtern, unmotiviert und

BBE DOSSIER NR. 8 | 143 Wortmann/Klein: 15 Jahre Civil Academy nur mit seinen Ideen kommt. Und wo man ¾¾Um junge Menschen in ihrem Enga- sicher, voll motiviert, mit neuen Ideen, gement zu bestärken und zu unter- Kontakten und Freunden rausgeht. (Yvana, stützen, ist es sinnvoll, neben dem 27. Runde) Vermitteln von Wissen und Instrumen- ten ebenfalls Vernetzungs- und Aus- Die Rückmeldungen der Teilnehmer*innen tauschmöglichkeiten anzubieten und machen deutlich: Neben den fachlichen dies sowohl in Form des Austauschs Informationen und den praktischen Instru- zwischen Expert*innen und Engagier- menten ist es vor allem die Chance, sich mit ten als auch dem peer-to-peer-Aus- anderen ebenso engagierten Menschen tausch. auszutauschen, sich gegenseitig zu motivie- ¾¾Ein Erfolgsfaktor war, dass die ren und zu inspirieren, die den Wert eines Programmleiter*innen und Assis- solchen Programmes ausmacht. In einem tent*innen nicht nur die Seminare Kreis von Gleichgesinnten fällt es dann administriert haben, sondern vor Ort leichter, über Schwierigkeiten zu sprechen, präsent waren, die Seminare geleitet konstruktiv-kritische Anregungen anzu- haben und im engen Austausch mit den nehmen und manchmal auch über den ei- Engagierten standen. Darüber hinaus genen Schatten zu springen. In dem Sinne standen sie in Kontakt mit den Alumni war die Civil Academy ein Safespace. und dem Beirat der Teilnehmer*innen. Das hat wesentlich dazu beigetragen, Gerade die vielen unterschiedlichen Per- dass die CA ein Ort des Vertrauens und spektiven aufgrund der Mischung der der Offenheit war. Teilnehmer*innen und Erfahrungen haben ¾¾Pro Academy-Runde waren in der Re- wiederum Türen geöffnet für neue Ideen, gel 4-5 bp Mitarbeiter*innen in der teilweise auch über vermeintliche Gren- Civil Academy als Expert*innen enga- zen der Projektidee hinaus. giert, vorwiegend am Wochenende. Für die bp Mitarbeiter*innen war es Ein Ort, an dem ich viele neue Freunde ge- eine Chance, ihr Wissen außerhalb der funden habe, an dem ich viel über mich, beruflichen Tätigkeit einzusetzen. Ins- meine Ziele und mein Projekt gelernt habe besondere die Zusammenarbeit mit und an dem ich oft die Möglichkeit hatte, den jungen und teilweise sehr idealis- über meinen eigenen Schatten zu sprin- tisch eingestellten Engagierten hat bei gen. (David, 26. Runde). einigen zur Reflektion über ihre eigene Lebenssituation geführt und sie teil- Welche Erkenntnisse nehmen wir mit? weise motiviert, ein eigenes Engage- Was hat sich bewährt? ment zu starten. ¾¾Der Transfer von Wissen und Metho- ¾¾Es hat sich bewährt, junge Menschen den aus der Wirtschaft geschah nicht mit Projekten und Themen aus ganz 1:1, sondern orientierte sich an den unterschiedlichen Engagementfeldern Bedürfnissen gemeinnütziger Projek- zusammenzubringen, und bei der Zu- te. Für die Expert*innen aus dem Un- sammensetzung der Runden darauf zu ternehmen bestand daher die Heraus- achten, dass eine gute Mischung aus forderung, ihre Inhalte und Methoden unterschiedlichen Erfahrungsstufen, entsprechend an das erforderliche Themenfeldern, Gender, kulturellem Komplexitätslevel anzupassen. Für die Hintergrund, unterschiedlichen Bun- Teilnehmer*innen war es ermutigend desländern besteht. und interessant, zu erfahren, wie im

144 | BBE DOSSIER NR. 8 Wortmann/Klein: 15 Jahre Civil Academy

Unternehmenskontext im Projektma- werden. bp wird diese Entwicklung im nagement mit Schwierigkeiten, Verzö- Jahr 2021 finanziell unterstützen. gerungen etc. umgegangen wird. ¾¾Das Fundament für die 15-jährige Mit der Civil Academy 2.0 soll das Themen- Partnerschaft von BBE und bp wurde feld »Junges Engagement« im Netzwerk durch drei Dinge gelegt: Eerstens wur- auf eine neue Ebene gehoben werden. de von Beginn an auf Augenhöhe das Denkbar wäre etwa, Vernetzungs- und Programm gemeinsam entwickelt und Fortbildungsangebote von BBE-Mitglied- es gab eine beidseitige Offenheit für sorganisationen und mit weiteren Pro- die jeweiligen Interessen im Projekt. grammen für junge Engagierte zu bündeln, Zweitens haben beide Partner*innen Zugänge zu Peer-to-peer-Vernetzungs-/ ihre Verschiedenheit anerkannt und Lernmöglichkeiten zu schaffen und dabei auch, dass beide ihre ganz spezifischen sektorenübergreifende Bezüge herzu- eigenen Handlungslogiken und Stärken stellen. Zentrale Themen könnten etwa haben. Drittens war wesentlich der Klimaschutz/ Nachhaltigkeit, Bildung und grundsätzliche Wille beider Seiten zur informelles Lernen sein – orientiert an der Zusammenarbeit und das Verständnis Bedarfsentwicklung bei den Mitgliedern auf Konsensentscheidungen. Das hat des BBE. Perspektivisch sollen so neue at- auch in sehr herausfordernden Zeiten traktive Angebote für die Zielgruppen des eine starke Basis gebildet. Jungen Engagements entwickelt werden.

Ausblick – Übergang von der Civil Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten Academy zur Civil Academy 2.0 11/2020 am 26.11.2020.

Nach 15 erfolgreichen Jahren Civil Acade- AUTOR*INNEN my in Partnerschaft von bp und BBE wird mit Jahresende 2020 die Civil Academy in Brigitta Wortmann ist Senior Political Ad- der jetzigen Form als Seminarprogramm viser im Hauptstadt-büro der BP Europa SE beendet. und ist als Unternehmensvertreterin Mit- glied des Sprecher*innenrates des BBE. Anknüpfend und aufbauend auf diesen Sie ist zudem Mitbegründerin und Erste Erfahrungen werden in den kommenden Vorsitzende vom ANA HUNNA Internatio- Monaten unter dem Arbeitstitel »Civil nal Network e.V. mit Sitz in Deutschland. Academy 2.0« durch das BBE Möglichkei- ten erarbeitet, um Vernetzungs- und Fort- PD Dr. Ansgar Klein ist Geschäftsführer bildungsangebote für junges Engagement des BBE. im BBE aufzubauen und weiter zu entwi- ckeln inkl. der Akquise von Finanzmitteln. Weitere Informationen Die Civil Academy 2.0 soll in der Finanzie- https://www.civil-academy.de/ rung breiter und diversifiziert aufgestellt https://www.b-b-e.de

BBE DOSSIER NR. 8 | 145 DENISE MALORNY/ CHRISTINE SATTLER/ ANNE TRENCZEK ENGAGEMENT INTERNATIONALER STUDIERENDER – IMPULSE FÜR HOCHSCHULEN UND ZIVILGESELLSCHAFT

Gekommen um zu bleiben? – Was Engage- ort« haben die Freiwilligen-Agentur Halle ment für internationale Studierende und und die Martin-Luther-Universität Halle- Hochschulen bedeutet Wittenberg im Wintersemester 2016/ 2017 mittels einer Studie untersucht, ob Die Herausforderungen, vor denen in- und inwiefern Engagement für die gesell- ternationale Studierende an deutschen schaftliche und universitäre Teilhabe von Hochschulen stehen, sind nicht nur in internationalen Studierenden von Bedeu- Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie tung sind (Backhaus-Maul/Grottker/Satt- vielfach bekannt und untersucht. Insbe- ler 2018:10). sondere in Bezug auf sprachliche, fach- liche, finanzielle, sozial-integrative Vor- Bemerkenswert ist, dass ein Großteil der aussetzungen stehen sie zu Beginn ihres knapp 300, im Durchschnitt 24 Jahre al- Studiums vor größeren Hürden als ihre ten, befragten Studierenden bereits über deutschen Kommilliton*innen (Morris- Engagementerfahrungen verfügen (64%) Lange 2017; 25). Die Folge davon zeigen und in hohem Maße selbstorganisiert sich in überdurchschnittlich hohen Ab- sind. Die Mehrzahl der Befragten bringt brecherquoten und einer relativ geringen ihre Engagementbereitschaft und Selbst- Verbleibquote von internationalen Studie- organisationsfähigkeit vor allem in einem renden in Deutschland (Ebert/Heublein außeruniversitären, gesellschaftlichen 2017:3, Morris-Lange/ Brands 2015: 23, Kontext zum Ausdruck (Backhaus-Maul/ Dömling-Pasternack 2014:121, Appolinar- Grottker/Sattler 2018:35). ski/ Poskowsky 2013:3). Die Bedeutung des Engagements für die Bei der Frage, wie Studienerfolg und Blei- persönliche, akademische und berufliche beentscheidungen von internationalen Entwicklung von internationalen Studie- Studierenden positiv beeinflusst werden renden kommt in der Untersuchung ins- können, lohnt sich vor allem ein Blick auf besondere bei den Aussagen bereits en- die sogenannten »weichen« Faktoren, gagierter Studierender über die von ihnen wie Wohlbefinden und Teilhabemöglich- selbst wahrgenommenen Effekte ihres En- keiten. Hier ist eine deutliche Korrelation gagements zum Ausdruck. 83,9 % der be- zwischen Engagement und dem Aufbau fragten internationalen Studierenden ho- einer positiven Beziehung zum Hochschul- ben hervor, dass sie durch ihr Engagement standort erkennbar. soziale und persönliche Kontakte zu Per- sonen außerhalb der Universität erhalten Im Rahmen des Pilotprojektes »Students und entsprechende Netzwerke aufgebaut meet Society – Integration durch Engage- haben. Engagement trägt nach Einschät- ment und Teilhabe am Hochschulstand- zung der Befragten damit maßgeblich

146 | BBE DOSSIER NR. 8 Malorny/Sattler/Trenczek: Engagement internationaler Studierender dazu bei, eine der größten sozialkulturel- wandel, Flucht und Migration, Epidemien len Hürden in der gesellschaftlichen Teil- oder zunehmender Rechtsextremismus, habe für internationale Studierenden zu bei denen eine Internationalisierung des überwinden (Backhaus-Maul/Grottker/ Engagements für die Gesellschaft viel be- Sattler 2018:35). wirken kann.

Durch das Engagement erhalten sie direk- Gerade hier liegt ein noch bei Weitem te soziale Kontakte, können ihre Sprach- nicht ausgeschöpftes Potenzial, um bei kenntnisse erweitern und bekommen Ein- der Lösung wichtiger sozialer Probleme blicke in die Gesellschaft, die wiederum zu helfen, die lokal und global von Be- für die Entwicklung ihrer persönlichen und deutung sind. Ein über das Engagement beruflichen Kompetenzen und Perspekti- internationaler Studierender geförder- ven bedeutsam sind. ter wechselseitiger Wissenstransfer zwi- schen Hochschulen und Zivilgesellschaft »Mir hat das Engagement geholfen, mir ist vor diesem Hintergrund eine Möglich- hinsichtlich meiner Berufsperspektiven keit der Profilbildung von Hochschulen, klarer zu werden und Kontakte zu knüp- der darüber hinaus auch nationale und fen. Meine eigenen Erfahrungen mit der internationale Anschlussmöglichkeiten Aidsproblematik in meinem Heimatland bietet. hat der NGO für die ich mich engagiere geholfen, neue Perspektiven für ihre Prä- »STUDIUM HOCH E« – Engagementförde- ventionsarbeit zu entwickeln.« (Zitat eines rung im Hochschulkontext internationalen Studenten aus Simbabwe, der sich neben dem Studium für die Aids- Daran schließt das Transfer- und Entwick- Hilfe in Halle engagiert). lungsprojekt »STUDIUM HOCH E – Integ- ration durch Engagement« in Trägerschaft Diese exemplarisch ausgewählte Antwort des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches stellt eindrucksvoll dar, welche Wirklun- Engagement an, dass seit September 2019 gen Engagement neben den beschriebe- durch das Bundesamt für Migration und nen individuellen Effekten auch für zivil- Flüchtlinge (BAMF) mit Mitteln des Bun- gesellschaftliche Organisationen entfalten desinnenministeriums gefördert wird. An- kann, wenn es systematisch gefördert knüpfend an die Erfahrungen und Ergeb- wird. nisse des Pilotprojektes »Students meet Society«, dass von 2016 bis 2019 durch die Internationaler Wissenstransfer? – Freiwilligen-Agentur Halle und die Martin- Was das Engagement internationaler Stu- Luther-Universität Halle-Wittenberg in dierender für die Gesellschaft bedeutet Halle (Saale) durchgeführt wurde, zielt das Projekt auf: Eigentlich scheint auf der Hand zu liegen, worin der gesellschaftliche Mehrwert des ¾¾die Verbesserung der gesellschaftli- Engagements internationaler Studieren- chen Integration internationaler Stu- der liegt: internationale Erfahrungen und dierender und Studierender mit Migra- Impulse für die eigene Arbeit, Synergie- tionsgeschichte durch Engagement, effekte durch gemeinsame internationale ¾¾die Eröffnung erweiterter Mobilitäts- Projekte, interkulturelle Kompetenz und und Bleibeoptionen, Öffnung. Es sind vor allem Herausforde- ¾¾die Schaffung von Möglichkeiten zum rungen von globaler Bedeutung wie Klima- Lernen im Engagement,

BBE DOSSIER NR. 8 | 147 Malorny/Sattler/Trenczek: Engagement internationaler Studierender

¾¾die Förderung der interkulturellen Öff- orte im Rahmen einer wissenschaftlichen nung von Hochschulen und Non-Profit- Prozessevaluation sollen dazu beitragen, Organisationen, förderliche und hemmende Faktoren für ¾¾den Transfer der gewonnenen Er- die gesellschaftliche Integration durch kenntnisse und Erfahrungen an andere Engagement von Studierenden mit Mig- Hochschulstandorte, rationsgeschichte und internationale Stu- ¾¾die verbesserte regionale Kooperation dierenden herauszuarbeiten sowie für an- zwischen Hochschulen und Non-Profit- dere Hochschulstandorte in Deutschland Organisationen. systematisch und umfassend aufzuberei- ten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der An zunächst drei ausgewählten Hoch- Freiwilligenagenturen (bagfa) sowie das schulstandorten werden im Projektver- Hochschulnetzwerk »Bildung durch Ver- lauf die Potenziale und Möglichkeiten antwortung« tragen als Netzwerkpartner von internationalen Studierenden und des Projektes zur bundesweiten Verbrei- Studierenden mit Migrationsgeschichte tung der Projekterkenntnisse in Freiwilli- im Engagement erschlossen und weiter- genagenturen und Hochschulen bei. entwickelt. Entsprechend der jeweils loka- len Besonderheiten bringen die Philipps- Im Rahmen einer bundesweiten Online- Universität Marburg gemeinsam mit der Tagung am 06.10.2020 wurde das Projekt Freiwilligenagentur Marburg-Biedenkopf, und die standortbezogenen Aktivitäten die Universität Duisburg-Essen mit der erstmals öffentlich vorgestellt und dis- Ehrenamt Agentur Essen sowie die Hoch- kutiert. Mehr als 120 Teilnehmende aus schule für nachhaltige Entwicklung Ebers- Hochschulen, zivilgesellschaftliche Orga- walde gemeinsam mit der Bürgerstiftung nisationen, Verwaltung sowie Studieren- Barnim-Uckermark internationale Studie- denschaft zeugten von einem breiten In- rende und Studierende mit Migrations- teresse und Relevanz des Themas. In einer geschichte mit gemeinnützigen Organisa- Tagungsdokumentation werden zentrale tionen vor Ort zusammen – zu beidersei- Tagungsbeiträge in Form von Videos, Pos- tigem Nutzen: Die Studierenden können tergallery und dem Tagungspadlet präsen- durch ihr gesellschaftliches Engagement tiert.1 ihre Kompetenzen einbringen und weiter- entwickeln, erfahren Wertschätzung und LITERATUR UND QUELLEN eine bessere gesellschaftliche Integration. Die beteiligten Non-Profit-Organisationen • Apolinarski, Beate/Poskowsky, Jo- profitieren von den speziellen Kenntnis- nas (2013): Ausländische Studierende in sen der Studierenden, mit deren Hilfe sie Deutschland 2012 – Ergebnisse der 20. ihre Angebote und Projekte für vielfältiger Sozialerhebung des Deutschen Studenten- werdende Nutzer- bzw. Klientengruppen werks durchgeführt vom Deutschen Zen- öffnen. trum für Hochschul- und Wissenschafts- forschung, Berlin: Bundesministerium für Die Freiwilligen-Agentur Halle speist als Bildung und Forschung. Beraterin und Transfergeberin die Erfah- • Backhaus-Maul, Holger/Grottker, Le- rungen des Pilotprojektes »Students meet onore/Sattler, Christine (2018): Gesell- Society« in Form eines Methodenkoffers schaftliche Teilhabe durch Engagement. in die Projektstandorte ein. Quantitativen Eine Befragung von Studierenden mit Mi- und qualitativen Erhebungen sowie der 1 https://www.b-b-e.de/studium-hoch-e/online- analytische Vergleich der Hochschulstand- tagung-2020/

148 | BBE DOSSIER NR. 8 Malorny/Sattler/Trenczek: Engagement internationaler Studierender grationsgeschichte und internationalen AUTORINNEN Studierenden an der Martin-Luther-Uni- versität Halle-Wittenberg (MLU), Halle. Denise Malorny, M.A. Begabungsfor- • Dömling, Martina/Pasternack, Peer schung und Kompetenzentwicklung seit (2015): Studieren und bleiben. Berufsein- 2019 als Projektreferentin bei der Freiwil- stieg internationaler Hochschulabsolven- ligen-Agentur Halle-Saalkreis e.V. für das tInnen in Deutschland, Halle-Wittenberg: Thema »Engagementförderung von Stu- Institut für Hochschulforschung. dierenden, insbesondere von internatio- • Ebert, Julia/Heublein, Ulrich (2017): nalen Studierenden und Studierenden mit Ursachen des Studienabbruchs bei Studie- Migrationsgeschichte« tätig und arbeitet renden mit Migrationshintergrund, Han- im Projekt »STUDIUM HOCH E - Integrati- nover: Deutsches Zentrum für Hochschul- on durch Engagement«. und Wissenschaftsforschung GmbH. • Morris-Lange, Simon/Brands, Florin- Christine Sattler ist Erziehungswissen- da (2015): Zugangstor Hochschule: Inter- schaftlerin und Geschäftsführerin der nationale Studierende als Fachkräfte von Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e.V. morgen gewinnen, Berlin: Sachverständi- Seit mehr als 15 Jahren arbeitet sie im genrat deutscher Stiftungen für Integrati- Bereich Engagementförderung, Service on und Migration. Learning – Lernen durch Engagement und • Morris-Lange, Simon (2017): Allein Freiwilligendiensten. durch den Hochschuldschungel. Hürden zum Stuidenerfolg für internationale Stu- Anne Trenczek, M.A. Euroculture, ist seit dierende und Studierende mit Migrations- 2019 als Referentin im Projekt »STUDIUM hintergrund, Berlin: Sachverständigenrat HOCH E - Integration durch Engagement« deutscher Stiftungen für Integration und in der Geschäftsstelle des BBE tätig. Migration. Weitere Informationen zum Projekt STU- Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten DIUM HOCH : 11/2020 am 26.11.2020. https://www.b-b-e.de/studium-hoch-e/

BBE DOSSIER NR. 8 | 149 SELIA BOUMESSID/ ROSHANAK ROSHANBIN »GESELLSCHAFT SELBSTWIRKSAM GESTALTEN – STAEPOLSEL*« EIN PROJEKT FÜR MEHR DIVERSITÄT IN DER ZIVILGESELLSCHAFT

Einleitung diesem Kontext viele positive Entwicklun- gen zu beobachten, gleichwohl stellt die Neuere Studien belegen: Menschen mit in- Beteiligung junger Menschen mit Migrati- ternationaler Migrationsgeschichte schät- onsgeschichte in der Zivilgesellschaft, die zen ihre politische Handlungsfähigkeit und Öffnung zivilgesellschaftlicher Organisatio- Selbstwirksamkeit aus unterschiedlichen nen zu mehr Diversität, aber auch die Ver- Gründen als tendenziell gering ein.1 Zu- netzung von Migrant*innenorganisationen gleich stellt die interkulturelle Öffnung von mit zivilgesellschaftlichen Organisatio- zivilgesellschaftlichen Organisationen oder nen der Mehrheitsgesellschaft weiterhin Protestbewegungen auch heute noch eine eine Herausforderung für alle beteiligten Herausforderung für viele Akteur*innen Akteur*innen dar. Ein Großteil dieser Her- dar.2 Insgesamt kann daher vor diesem Hin- ausforderungen erwächst aus einer man- tergrund eine geringe Diversität im Bereich gelnden Anerkennungskultur, Unkenntnis Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches En- und Vorurteilen auf beiden Seiten.3 gagement konstatiert werden. Zwar sind in

*Stärkung der politischen Selbstwirksamkeit, der ge- 1 Sachverständigenrat deutscher Stif- sellschaftlichen Partizipation und des bürgerschaftli- tungen für Integration und Migration chen Engagements zur besseren Integration von ira- (2019): Wie Menschen mit und ohne nisch -und afghanischstämmigen Geflüchteten und Migrationshintergrund ihr Verständnis Migrant*innen von und ihre Einflussmöglichkeiten auf Politik wahrnehmen: https://www.svr- migration.de/presse/presse-forschung/ 1 Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für politische_selbstwirksamkeit/ Integration und Migration (2019): Wie Menschen mit Forschungsbereich beim Sachverständi- und ohne Migrationshintergrund ihr Verständnis von und ihre Einflussmöglichkeiten auf Politik wahrneh- genrat deutscher Stiftungen für Integra- men: https://www.svr-migration.de/presse/presse- tion und Migration (SVR-Forschungsbe- forschung/politische_selbstwirksamkeit/ reich) (2019): Mit der Politik auf Du und Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deut- Du? Wie Menschen mit und ohne Migra- scher Stiftungen für Integration und Migration (SVR- Forschungsbereich) (2019): Mit der Politik auf Du und tionshintergrund ihre politische Selbst- Du? Wie Menschen mit und ohne Migrationshinter- wirksamkeit wahrnehmen. grund ihre politische Selbstwirksamkeit wahrnehmen. 2 Vgl. etwa zur geringen Diversität von 2 Vgl. etwa zur geringen Diversität von Friday’s for Future Sommer, Moritz; Rucht, Dieter; Haunss, Friday’s for Future Sommer, Moritz; Sebastian; Zaja, Sabrina (2019): Fridays for Future. Pro- Rucht, Dieter; Haunss, Sebastian; Zaja, fil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland, ipb working paper series, 2/2019. 3 Huth, Susanne (2007): Bürgerschaftliches Engage- Berlin: ipb. https://protestinstitut.eu/wp-content/up- ment von Migrantinnen und Migranten – Lernorte loads/2019/08/ipb-working-paper_FFF_final_online. und Wege zu sozialer Integration. Frankfurt am Main: pdf INBAS-Sozialforschung GmbH.

150 | BBE DOSSIER NR. 8 Boumessid/Roshanbin: Gesellschaft selbstwirksam gestalten

Sabrina (2019): Fridays for Future. Profil, menkomplex Engagement und Ehrenamt Entstehung und Perspektiven der Pro- geschaffen, die Streit- und Debattenkultur testbewegung in Deutschland, ipb wor- in der Zielgruppe gestärkt sowie Zugänge king paper series, 2/2019. Berlin: ipb. zu aktuellen Debatten und politischen Ge- https://protestinstitut.eu/wp-content/ staltungsprozessen eröffnet. uploads/2019/08/ipb-working-paper_ FFF_final_online.pdf Ein zentraler Baustein des Projekts ist 3 Huth, Susanne (2007): Bürgerschaftli- des Weiteren der Aufbau eines Förder- ches Engagement von Migrantinnen und programms zur Finanzierung von Mikro- Migranten – Lernorte und Wege zu so- projekten aus der Zielgruppe, um Junger- zialer Integration. Frankfurt am Main: wachsene mit ehrenamtlichen und zivilge- INBAS-Sozialforschung GmbH. sellschaftlichen Ideen in der Umsetzung ihrer Vorhaben sowohl fachlich als auch Das Projekt »Gesellschaft selbstwirksam materiell zu unterstützen. gestalten – STAEpolSEL« Das Projekt ist grundsätzlich herkunfts- Ausgehend hiervon führen die Iranische und altersübergreifend, auch wenn ein be- Gemeinde Deutschland (IGD e.V.) und das sonderer Fokus auf junge iranisch- und af- Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Enga- ghanischstämmige Menschen, Vereine und gement in Kooperation das Projekt »Ge- Migrant*innenorganisationen liegt. Die Be- sellschaft selbstwirksam gestalten - Stär- deutsamkeit dieser Zielgruppe für das Pro- kung der politischen Selbstwirksamkeit, jekt begründet sich unter anderem damit, der gesellschaftlichen Partizipation und dass diese in der deutschen Öffentlichkeit, des bürgerschaftlichen Engagements zur verglichen mit anderen Communities, we- besseren Integration von iranisch - und niger sichtbar sind. Die Gründe hierfür sind afghanischstämmigen Geflüchteten und vielfältig. Hervorgehoben werden kann Migrant*innen (STAEPOLSEL)« durch. eine gering ausgeprägte Vernetzung inner- halb iranischstämmiger Akteur*innen, die Das Projekt hat zum Ziel durch diverse wiederum auf eine politisch heterogene Maßnahmen, sowohl auf individueller, Zusammensetzung der iranischstämmigen als auch organisationaler Ebene, Hür- Menschen in Deutschland zurückzuführen den zum bürgerschaftlichen Engagement ist. Ebenso ist der Gedanke des bürger- abzubauen und junge Menschen in ih- schaftlichen Engagements bei dieser Ziel- rer Wahrnehmung, etwas bewirken zu gruppe und in der Herkunftskultur weniger können, zu stärken. Zugleich gilt es, die stark ausgeprägt. Dies trifft auch auf die af- Vernetzung und den Wissenstransfer ghanische Community zu. Damit begründet zwischen Migrant*innenorganisationen sich der Handlungsbedarf, diese Zielgruppe und zivilgesellschaftlichen Organisatio- für Ehrenamt und bürgerschaftliches Enga- nen der Mehrheitsgesellschaft auf Au- gement zu gewinnen, interne Vernetzun- genhöhe zu fördern. Hierzu werden im gen zu unterstützen, Teilhabemöglichkei- Rahmen des Projekts durch verschiede- ten zu schaffen und Räume für die Beteili- ne Veranstaltungen (Diskussionsrunden, gung zu eröffnen. Expert*innengespräche und Besuche bei politischen Stakeholdern) Debatten über Ein Projekt, mehrere Ebenen die Bedeutung von bürgerschaftlichem Engagement angeregt, Kooperationen, Zu- Das Projekt setzt zur Erreichung seiner gänge sowie Begegnungsräume zum The- Ziele an unterschiedlichen Ebenen an:

BBE DOSSIER NR. 8 | 151 Boumessid/Roshanbin: Gesellschaft selbstwirksam gestalten

Auf der individuellen Ebene wird der starke beispielsweise der Integrationsforschung, Handlungsbedarf anerkannt, junge Men- rückt. Diese Potentiale des bürgerschaft- schen in ihrer politischen Selbstwirksam- lichen Engagements und Ehrenamts auf keitserfahrung zu fördern. Zugänge zum die Agenda zu bringen, um durch Vielfalt Engagement sollen ermöglicht und Räume letztlich die demokratischen Strukturen für Begegnung und Austausch eröffnet der Gesellschaft zu stärken, begründet werden. Werte wie Solidarität, Hilfsbe- ebenfalls die Gewichtigkeit dieses Pro- reitschaft und soziale Verantwortung, die jekts. Dieses Vorhaben dient damit letzt- in den Herkunftskulturen vieler migranti- lich der Stärkung der Demokratie, der Par- scher Communities vorhanden sind, sollen tizipation und der Anerkennungskultur. in Richtung bürgerschaftlichen Engage- ment aktiviert werden. Zudem sollen Ein- Vor diesem Hintergrund kann zusammen- zelne zur stärkeren partizipativen Teilhabe fassend festgehalten werden, dass in die- motiviert und ihre politische Streit- und sem Projekt die interkulturelle Öffnung Debattenkultur gestärkt werden. der Zivilgesellschaft, einhergehend mit der Förderung der politischen Selbstwirk- Auf der Mesoebene begründet sich die samkeit, eine zentrale gesellschaftliche Bedeutsamkeit des Vorhabens darin, Relevanz für ein vielfältiges Miteinander Migrant*innenorganisationen und Vereine beigemessen wird. Denn ein demokrati- durch Einbettung in bestehende Debat- sches Miteinander erfordert Engagement tenstrukturen des BBEs stärker für bürger- und Vielfalt – Vielfalt der Herkünfte, Le- schaftliches Engagement zu sensibilisieren benswelten und Meinungen. und ihre Sprechfähigkeit zu fördern. Hier- durch können wertvolle Räume für Diskur- Erschienen in den BBE Europa-Nachrichten se zwischen der Zielgruppe des Projekts 10/2020 am 12.11.2020. und den BBE-Themenfeldern zum gegensei- tigen Wissenstransfer und Austausch über AUTORINNEN Fragestellungen einer vielfältigen Engage- mentlandschaft entstehen und nachhaltig Selia Boumessid ist Projektmitarbeiterin im etabliert werden. Indem Barrieren abge- Bereich Netzwerkbetreuung und – entwick- baut und Migrant*innenorganisationen in lung. Sie ist für das Kooperationsprojekt von diverse Fachdiskurse einbezogen werden, Seiten des BBE tätig. Sie ist studierte Kul- soll ein Beitrag dazu geleistet werden, turmanagerin und hat bereits in mehreren dass die Organisationen vermehrt als zi- Projekten in gemeinnützigen Vereinen und vilgesellschaftliche Akteur*innen im Inter- Stiftungen gearbeitet und legte dabei einen esse einer offenen Demokratie auftreten. Schwerpunkt auf Fragen der gesellschaftli- Auf diese Weise werden gesellschaftspoli- chen Teilhabe und des Engagements. tische, kulturelle und soziale Themen ge- meinsam gestaltet. Roshanak Roshanbin ist an der Iranischen Gemeinde in Deutschland e.V. als Projekt- Auf der Makroebene äußert sich die Re- mitarbeiterin tätig. Sie ist studierte Sozio- levanz des Projekts darin, dass es die Po- login und Psychologin. Prosoziales Verhal- tentiale einer interkulturell offenen Enga- ten, soziale Ungleichheit und Gefühlsdy- gementlandschaft für die Integration und namiken hinter Radikalisierungsprozessen Inklusion von Menschen mit internationa- stellten ihre akademischen Schwerpunkte lem Hintergrund in den Fokus der öffent- in mehreren Forschungsprojekten dar. U. lichen und wissenschaftlichen Diskurse, a. war sie zuvor an gemeinswesenorien-

152 | BBE DOSSIER NR. 8 Boumessid/Roshanbin: Gesellschaft selbstwirksam gestalten tierten Projekten an privaten und öffent- Weitere Informationen lichen Einrichtungen tätig. https://www.b-b-e.de/projekte/staepolsel/

BBE DOSSIER NR. 8 | 153 POLICY PAPER ON INCLUSIVE VOLUNTEERING MAKING IT MATTER – THE IMPACT OF VOLUNTEERING ON SOCIAL INCLUSION

1. Introduction discrimination, alienation and decrease exclusion. This will help increase diversity, Engagement of disadvantaged youth in develop a culture of solidarity and respect, diverse activities in local communities increase civic participation and create ow- supports their personal and professio- nership and belonging for all members of nal development and empowers them a community. to actively participate in society. Howe- ver, disadvantaged youth are still facing 2. Recommendations different social, economic, educational, physical and / or cultural barriers and are During the »Making it Matter« project si- volunteering less than other young peop- gnificant evidence was gathered in favo- le – a loss for themselves and society at ur of inclusive programmes that support large. disadvantaged and marginalised youth to participate actively in volunteering in EU institutions have stressed the impor- whatever way they can. The success of so- tance of making volunteering more inclu- cial inclusion depends not only on the kind sive through policy papers since 1983. Re- of volunteering activities on offer, but also cent initiatives and strategies such as the on the kind of support and conditions that European Solidarity Corps and »EU Youth governments, volunteer development Strategy 2019 – 2027« strongly support agencies and volunteer-involving organi- the involvement of disadvantaged youth. sations can provide.

Despite EU policy frameworks and recom- Therefore, it’s important to consider the mendations, the practice in Member Sta- following recommendations: tes varies and there are few specific nati- onal documents targeting volunteering of 1. Remove psychological and physical bar- disadvantaged youth. There is also a lack riers of mechanisms specifically developed to encourage and support disadvantaged Create and support inclusive programmes youth to volunteer, or to motivate and to overcome key barriers to provide the support non-profit organisations to create extra support disadvantaged volunteers inclusive programmes. may need. Inclusive programmes require special attention in terms of identifying Therefore, it is important to create and volunteer roles, volunteer management, practice open and inclusive policies at all additional support and infrastructure. It’s levels on national and EU level and to use also important to increase public aware- narratives that will challenge stereotypes, ness of the positive impact that voluntee-

154 | BBE DOSSIER NR. 8 Plicy o PaPER on Inclusive Volunteering can have for both communities and and socio-economic added value of vo- disadvantaged youth. lunteering.

2. Develop a support system 5. Together we are stronger

Support local organisations to include Support the development of transnatio- disadvantaged youth as volunteers. The nal partnerships and networks in to support should address three mutually share practice and knowledge, and deve- reinforcing issues: the challenge of moti- lop new methods to create more success- vating the disadvantaged youth; the need ful programs and ways to include disad- of volunteer-involving organisations for vantaged youth as volunteers. In this way, additional resources, knowledge and me- they will further increase their understan- thods; and new partnerships between or- ding of the issues and their capacity to ganisations, and between organisations support the local organisations implemen- and municipalities. Such measures will ting inclusive volunteer programmes. lead to more coordinated efforts and the improvement of practice in both quantity 3. Annex I Rationale for the Policy Recom- and quality. mendations

3. Strengthen national volunteer organisa- The Potential is great for all involved tions and volunteer centres The goal of »Making it Matter«, a project National volunteer organisations and vo- co-financed by the Erasmus+ programme lunteer centres should be supported to involving partner organisations in 6 coun- embrace social inclusion as one of their tries, is ultimately to support, through core values and to invest more in the volunteering, the empowerment and in- motivation, education and mentorship of clusion of young people at risk of social volunteer-involving organisations. In this exclusion. way, they will increase their understan- ding of the issues and their capacity to The partnerships’ shared experience and support the delivery of inclusive volunteer knowledge as well as our extensive re- programmes by the local organisations search, shows that volunteering for dis- they work with. advantaged youth is a powerful tool for social inclusion that ensures equal oppor- 4. Gather the impact and show the value tunities for all, regardless of their back- ground. It increases young people’s con- Support and assist volunteer-involving fidence in general, and in their abilities, organisations to monitor the impact that skills and knowledge. It generates a sense their inclusive programmes bring to the of belonging, fights loneliness and it incre- volunteers and the organisations. They ases their physical and psychological well- should be supported with the adequate being. Their social networks and social resources and the necessary tools to do capital also improve. Youth outside the la- so. In this way, organisations will collect bour market or the education system can data and testimonies regarding disad- gain access to and / or tools to help them vantaged youth volunteers in order to find a job or acquire a formal education. provide further evidence regarding the The project research also found that improvement of wellbeing, social capital many disadvantaged youths want to vo-

BBE DOSSIER NR. 8 | 155 Plicy o PaPER on Inclusive Volunteering lunteer, and many volunteer-involving establish new collaborations, to create & organisations are implementing inclu- extend networks and to expand efforts sive programmes successfully and are towards disadvantaged youth that need interested in doing more. Most volun- additional support to start volunteering. teer-involving organisations (over 70%) already include disadvantaged youth as Annex II About the project: https:// volunteers, although this has not been a df2253af-c034-4026-aac2-5d1c91f60490. result of conscious planning - 60% of or- filesusr.com/ugd/3ec99c_7f18b367535e4 ganisations do not have a specific focus 0d58b60043aee0e7613.pdf on recruiting or written policy about the involvement of disadvantaged groups as Annex III Focus Research Conclusi- volunteers. The benefits for the organi- ons: https://df2253af-c034-4026-aac2- sations when involving disadvantaged 5d1c91f60490.filesusr.com/ugd/3ec99c_2 young people could be more diversity 4a743bc40e54094b89bd6f07051ca7a.pdf amongst and increased awareness of the young people’s resources and added Published on the website of the BBE value. https://www.b-b-e.de/projekte/making- it-matter/ Furthermore, inclusive volunteer pro- grammes help develop the local commu- The ERASMUS+ project »Making it mat- nity and reduce gaps between citizens ter« will enable the creation of methods – stereotypes are broken, a culture of di- and indicators for impact measurement alogue is established, and there is better that will help volunteer involving organi- communication about taboo subjects. sations to understand the key benefits, However, disadvantaged youth still face and shape the most inclusive volunteer different barriers and the organisations programs. It will also assist institutions need resources, knowledge and support and decision-makers to formulate policies because it takes a lot of effort and dedi- and support programs through compara- cated engagement, as well as a structured ble systematic data on the circumstances approach to create a supportive environ- in which volunteering is useful for perso- ment to involve disadvantaged youth as nal development, empowerment and in- volunteers. clusion of young people. Project partners: Volunteer Ireland, FriSe (Denmark), CEV A much more coordinated effort is there- (Belgium), Slovenska Filatropja (SLovenia), fore needed to improve infrastructure, Colunteer Centre Osijek (Croatia), BBE approaches, knowledge and methods, to (Germany).

156 | BBE DOSSIER NR. 8 IMPRESSUM

HERAUSGEBER

Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) Michaelkirchstr. 17/18 , 10179 Berlin-Mitte

( +49 30 62980 100 y [email protected] ü https://www.b-b-e.de

Facebook: https://www.facebook.com/BundesnetzwerkBuergerschaftlichesEngagement/ Twitter: https://twitter.com/BBE_Info

REDAKTION DER PUBLIKATION PD Dr. Ansgar Klein, Nino Kavelashvili, Dr. Rainer Sprengel, Anne-Kathrin Gräfe

REDAKTION DER REIHE PD Dr. Ansgar Klein, Dr. Lilian Schwalb, Dr. Rainer Sprengel

V.I.S.D.P. PD Dr. Ansgar Klein

SATZ/LAYOUT Regina Vierkant (sevenminds)

ERSCHEINUNGSDATUM Dezember 2020

ISBN 978-3-948153-10-6

Die Erarbeitung der vorliegenden Publikation erfolgte im Rahmen der Tätigkeit der BBE Geschäftsstelle gGmbH. Die Arbeit der Geschäftsstelle wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.

ENTWICKELN. VERNETZEN. STÄRKEN. Das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) ist das Netzwerk für Zivilge- sellschaft, Staat und Wirtschaft zur nachhaltigen Förderung des bürgerschaftlichen Enga- gements und der Bürgergesellschaft in allen Gesellschafts- und Politikbereichen.

BBE DOSSIER NR. 6 | 157 BBE-NEWSLETTER ONLINE

BBE-NEWSLETTER Der BBE-Newsletter informiert 14-täglich über Engagementpolitik und -debatte in Deutschland, interessante Publikationen und Veranstaltungen sowie Aktuelles aus dem BBE. In monatlichen Themenschwerpunkten vertiefen Autor*innen aus Politik, Zivilge- sellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft zivilgesellschaftliche Themen. ü www.b-b-e.de/newsletter

BBE EUROPA-NACHRICHTEN Die BBE Europa-Nachrichten zu Engagement und Partizipation in Europa bieten monat- lich Informationen und Hintergrundberichte zu europäischen Fragen der Engagement- politik und -förderung, Gastbeiträge namhafter Europaexpert*innen sowie Hinweise auf internationale Beteiligungsverfahren. ü www.b-b-e.de/eunewsletter

INFOLETTER Der Infoletter informiert anlassbezogen über Aktivitäten zur Vorbereitung und Durchfüh- rung der »Woche des bürgerschaftlichen Engagements«, hält über Neuigkeiten, Termi- ne, Aktionen und Materialien der Kampagne »Engagement macht stark!« auf dem Lau- fenden und stellt Engagement-Projekte vor. Zusätzlich erscheinen zu den drei jährlichen Themenschwerpunkten SonderInfoletter, die die Schwerpunkte inhaltlich begleiten und fachlich untersetzen. ü www.engagement-macht-stark.de/publikationen/infoletter

NEWSLETTER-ABO ü www.b-b-e.de/newsletter-abo

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