1 Ein Traum wird wahr

Lewis Holtby lebt eine Karriere mit Höhen und Tiefen. Er ist schon in jungen Jahren ganz weit oben angekommen und somit ein Vorbild für viele Talente. Es ist ein Bild wie aus einem Agententhriller: Die Red-Bull-Kappe tief ins Gesicht gezogen, dazu seine große Nike-Sonnenbrille auf der Nase, die mehr als nur die Augen verdeckt. Selbst geübteste Pappa- razzi können ihn nicht erkennen. So steigt Lewis Holtby am 25. No- vember 2012 auf dem Flughafen in Düsseldorf-Weeze in eine Rya- nair-Maschine, um eine gute Stunde später in London-Stansted zu landen. Niemand soll ihn erkennen, schließlich spielt Lewis Holtby noch für den FC Schalke 04 in der . Gerüchte über einen London-Trip würden nur unnötige Spekulationen nach sich ziehen. Denn Lewis Holtby fliegt nicht zum Shoppen nach London. Er will sich gemeinsam mit seinem Berater Marcus Noack das Premier-Lea- gue-Spiel zwischen Tottenham Hotspur und West Ham United an- schauen. Lewis Holtby möchte sich unbedingt selbst ein Bild von dem Klub machen, der ihm kurz zuvor zum wiederholten Male ein Angebot unterbreitet hat. Der englische Fußball, die war schon immer ein Traum von Lewis Holtby. Aber ausgerechnet Tottenham? »Wir sind mit gemischten Gefühlen dahin geflogen. Eigentlich hatten wir Tottenham gar nicht so auf dem Radar«, erzählt er. Dank seiner Verkleidung fällt Lewis Holtby niemandem auf. Auch für die Objektive der unzähligen TV-Kameras des Senders Sky bleibt er unsichtbar, obwohl die Kameraleute immer und immer wieder die VIP-Boxen des Stadions nach Prominenten durchscannen. Totten- hams Co-Trainer Steffen Freund, deutscher EM-Held von 1996 und seit seiner aktiven Zeit bei den Spurs mit dem Gütesiegel Kultfigur versehen, hat die beiden deutschen Besucher bestens vorbereitet.

13 Und so können sich Lewis Holtby und sein Berater ungestört einen ersten Eindruck vom Team und vor allem von der Atmosphäre des Stadions an der verschaffen, das den besonderen Charme vergangener Jahrzehnte problemlos in die Neuzeit hinüber retten konnte. Überwältigt von der Atmosphäre dreht Lewis Holtby mit seinem Handy ein Video nach dem anderen. Dann singen die Fans den Ever- green aller Tottenham-Gesänge: »When the Spurs go marching in...« FürLewisHoltbywardasdieSchlüsselszene.»IndemMomenthabe ich gedacht: ›Das möchte ich erleben.‹ Als kleines Kind habe ich mit meinem Vater immer vor dem Fernseher englischen Fußball geguckt und davon geträumt, einmal hier aufzulaufen. Ich will dabei sein, genau hier bei Tottenham Hotspur.« Viele junge Nachwuchsfußballer träumen ebenfalls von solch einer Karriere. Aber nur ganz wenige schaffen es bis dorthin. Schließlich gibt es jede Menge innere und äußere Faktoren, die darüber entschei- den, ob ein Talent den Sprung in den Profifußball schafft oder nicht. Manche Faktoren kann man beeinflussen, manche nicht. Viele davon werden in diesem Buch beschrieben. Aber über allem steht dieser Traum vom Profifußballer. Der Traum von den schönsten Arenen der Welt, Titeln, Toren, Anerkennung und jeder Menge Geld. Lewis Holtby ist sozusagen die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Aber auch der Beweis, dass Träume wahr werden können. Kein anderer aktueller deutscher Nationalspieler lebt ihn so konsequent wie Lewis Holtby.

Abenteuer Tottenham

Am 28. Januar 2013 löst Lewis Holtby seinen Vertrag beim FC Schalke 04 auf. »Wir haben für alle Beteiligten die beste Lösung ge- funden«, teilt Schalkes Manager Horst Heldt offiziell mit: »Lewis hatte uns signalisiert, dass er nicht abgeneigt wäre, vorzeitig zu wech- seln, und der FC Schalke 04 hat fünf Monate vor Auslaufen des Ver- trags noch eine ordentliche Ablösesumme erhalten.« Die anschließende Nacht ist kurz. Um 5.30 Uhr stehen Lewis Holt- by und Berater Marcus Noack schon wieder auf dem Flughafen Düs- seldorf-Weeze. Nur wenige Stunden nach der Vertragsauflösung neh-

14 Ein Traum wird wahr men die beiden die erste Maschine nach London. Ein vorerst letztes Interview auf deutschem Boden mit dem TV-Sender Sky,eineUmar- mung mit dem Vater, der ihn zum Flughafen begleitet hat, dann geht es los. Das nächste Abenteuer wartet. Bei der Landung in London ist es diesig und kalt. Auf dem Flugha- fen werden sie von zwei Mitarbeitern der Tottenham Hotspurs erwar- tet. Von dort fahren sie gemeinsam zum Trainingsgelände. Nach der Präsentation und dem Foto mit seinem neuen Trikot mit der Num- mer 23 geht es direkt zum Trainingsplatz. Endlich! »Ich konnte es kaum abwarten, obwohl ich nur vier Stunden geschlafen habe und ei- gentlich ziemlich müde war, aber die Vorfreude war riesig«, sagt Lewis Holtby. Er hat Glück und kommt genau rechtzeitig zum Ab- schlusstraining. Am nächsten Tag muss Tottenham Hotspur aus- wärts zum Ligaspiel bei Norwich City antreten. Tottenhams portugiesischer Trainer Andr´eVillas-Boas stellt den Spielern um Superstar Gareth Bale, der mittlerweile für Real Madrid spielt, und Kapitän Michael Dawson den Neuen vor. Dann muss sich Lewis Holtby bereits dem ersten englischen Begrüßungsritual unter- ziehen: den »Walk of Fame«. Die Tottenham-Profis bilden einen ganz engen Tunnel. Durch diesen muss der Deutsche laufen und be- kommt von jedem Spieler einen Tritt in den Allerwertesten verpasst. »Das ist nicht besonders schön und ich hatte schon ein mulmiges Gefühl. Du bist neu und da stehen auf einmal 25 Jungs, die sich tie- risch darauf freuen, dir den Arsch zu versohlen«, erzählt Lewis Holtby. »Ein typisch britischer Willkommensgruß eben.« Anschließend beginnt das Training. Am Ende steht ein Spiel auf dem Programm. Trainer Andr´eVillas-BoaslässtJunggegenAltan- treten. Jung gewinnt 2:0. Beide Tore erzielt Lewis Holtby. Beim an- schließenden Gang in die Kabine strahlt er über das ganze Gesicht. Was für ein erstes Training! Zwar hofft er auf eine Nominierung für das morgige Ligaspiel gegen Norwich City, aber bei ehrlicher Betrach- tung wäre eine Berufung nach nur einer Trainingseinheit doch etwas vermessen. Auch wenn er gerade das Trainingsspiel mit zwei Toren im Alleingang entschieden hat. In der Kabine bekommt Lewis Holtby die Trainingsanzüge seines neuen Arbeitgebers. Weiter hinten im Raum entdeckt er an der Wand einen Zettel. Er geht näher heran und bemerkt, dass es die Kaderliste für das Norwich-Spiel ist. Beim flüchtigen Überfliegen schießt ihm

Abenteuer Tottenham 15 plötzlich eine volle Ladung AdrenalindurchdenKörper.»Aufeinmal entdecke ich meinen Namen auf der Kaderliste. Ich schaue einmal hin, zweimal. Dann frage ich lieber noch einmal nach: ›Bin ich jetzt wirklich im Kader oder was?‹« Ist er. Andr´eVillas-Boas hat ihn tat- sächlich für das nächste Match nominiert. »Das war super. Ich war vollerVorfreude.EigentlichwolltenwirunsamnächstenTagWoh- nungen anschauen. Das konnten wir natürlich vergessen. Den gan- zen Abend habe ich nur gedacht: ›Oh Mann. Vielleicht bekomme ich morgen meinen ersten Einsatz.‹« Am nächsten Tag steht Lewis Holtby in Norwich. Im 1935 erbauten Stadion an der , das nicht einmal 30000 Zuschauer fasst. Lewis Holtby erinnert sich: »Das war ein typisches kleines engli- schesStadion.DieUmkleidekabinewartotalfürdenArsch.Sogarbei meinem Heimatverein Sparta Gerderath ist mehr Platz zum Umzie- hen. Bevor wir rausgegangen sind, habe ich noch eine kurze Massage bekommen. Ich lag zum Teil in der Dusche, zum Teil in der Toilette. Und wenn da einer reingeschissen hat, hast du das wirklich bis zum Spielfeld gerochen. Ich fand das geil. Diese Enge hat mich an meine Bochumer und Aachener Zeiten erinnert. So habe ich mir England immer vorgestellt. Nicht so viel Schickimicki, sondern typisch bri- tisch. Mein Mund war weit geöffnet, die Augen ganz groß als ich dann zum Aufwärmen rausgegangen bin. Dann sah ich die Ersatz- bank, die direkt am Rand zu den Zuschauern steht. Die Fans, das Flutlicht. Alles war klasse.« Tottenham liegt Mitte der zweiten Hälfte mit 0:1 in Rückstand. Andr´e Villas-Boas erhöht das Risiko und schickt in der 71. Minute tat- sächlich seinen jüngsten Neueinkauf aufs Feld. Lewis Holtby: »Dann komme ich auch noch rein und leite einen An- griff zum Ausgleich ein. Was für ein geiler Tag. Die zwanzig Minuten, die ich spielen durfte, waren fantastisch. In der Nacht habe ich kaum ein Auge zugemacht. Ich war voller Freude. Ich habe realisiert, dass ich mein erstes Premier-League-Spiel gemacht habe. Ich habe das er- reicht, wovon ich als kleiner Junge immer geträumt habe, als ich mit meinem Vater englischen Fußball im Fernsehen geschaut habe.« Nach der Rückkehr vom 1:1 bei Norwich City bittet das Klub-TV der Spurs zum Einstandsinterview. Da sein Vater Brite ist, spricht Lewis Holtby perfekt Englisch. Der Umstand ist zu diesem Zeitpunkt aller-

16 Ein Traum wird wahr dings kaum einem Anhänger bekannt. »Die Fans waren fast schon ein bisschen geschockt, dass ein deutscher U21-Nationalmann- schaftskapitän sein erstes Interview mit einem beherzten britischen Akzent führt«, erzählt Lewis Holtby. »Aber das hat sicher auch zu meiner schnellen Integration beigetragen.« Wegen seiner Sprach- und Kulturkenntnisse und natürlich auch dank seiner offenen Art kommt Lewis Holtby bei den Fans und den Teamkollegen gut an. Und so haben beide, Mannschaft und Fans, we- nige Tage später im Rahmen des nächsten Spiels bei West Bromwich Albion noch eine ganz besondere Überraschung für den Deutschen parat. In beiden Fällen wird gesungen. Lewis Holtby weiß, dass er irgendwann diesen peinlichen Moment überstehen muss. Bereits unmittelbar nach seiner Ankunft haben ihm die neuen Mitspieler gesagt, dass er demnächst ein Lied singen müsse. Jeder, der erstmals in den Profikader berufen wird, muss die- sen Moment überstehen. Am Vortag des nächsten Spiels bei West Bromwich Albion warnt ihn Kapitän Michael Dawson im Hotel si- cherheitshalber vor: »Heute nach dem Abendessen bist du dran.« Lewis Holtby erinnert sich: »Das Abendessen begann gegen 20 Uhr. Alle aßen und ich war fürchterlich nervös. Ich überlegte mir ein Lied, ich vergaß das Lied wieder, ich vergaß sogar die Wörter. Schweißgebadet saß ich am Tisch und überlegte: Singe ich das Lied oder lieber ein anderes Lied. Welches Lied kenne ich überhaupt? Während ich so nachdachte, fragte mich mein Tischnachbar irgend- etwas und brachte mich völlig aus dem Konzept, sodass ich schon wieder vergessen hatte, was ich eigentlich singen wollte. Ich konnte an diesem Abend überhaupt nichts essen. Ich habe die ganze Zeit ge- zittert und in den großen Saal geschaut und gedacht: ›Soso, hier und heute stehe ich jetzt gleich auf und fange einfach so an zu singen.‹ Dann waren alle mit dem Essen fertig. Unser Kapitän Michael Daw- son gab mir das Zeichen: ›Junge, es ist soweit‹. Und alle schauten mich an, auch der Trainer. Ich stieg also auf den Stuhl. Plötzlich wirk- te alles noch viel größer und es fühlte sich so an, als wären 30000 Menschen im Saal. Ich habe dann das englische Rugby-Lied Swing Low, Sweet Chariot gesungen. Zum Schluss war es cool und ich habe sogar Applaus bekommen.« Einen Tag später wird wieder gesungen. Beim 1:0-Sieg gegen West Bromwich Albion wird Lewis Holtby in der 39. Minute für Jermain

Abenteuer Tottenham 17 Defoe eingewechselt. Mindestens genauso sehr wie über den Sieg freut sich Lewis Holtby über den Willkommensgruß der Fans. Sie haben ihm nach nur zwei Spielen einen eigenen Song gewidmet. Zur Melodie des Depeche-Mode-Klassikers Just can’t get enough singen die Spurs-Fans ihrem neuen Liebling fast die gesamte zweite Hälfte ein Ständchen. »Das ist alles nicht normal. Da läuft man von ganz allei- ne«, kann Lewis Holtby diese besondere Ehre immer noch nicht rich- tig in Worte fassen. Es war ein weiter Weg bis zur Huldigung durch die Tottenham- Fans. Viele Steine musste der Junge aus Erkelenz auf dem Weg dort- hin zur Seite schieben, Rückschläge hinnehmen, Kritik einstecken und auch mal einen Schritt zurück machen. Lewis Holtby hat immer an seinem Traum festgehalten. Am Ende wurde er für seine Beharr- lichkeit belohnt.

Schlüsselerlebnis auf dem Bökelberg

Dabei sah es für den 1,76 Meter großen Mittelfeldspieler trotz an- fänglicher Erfolge lange Zeit nicht nach der großen Profilaufbahn im Scheinwerferlicht aus. »Begonnen hat alles bei meinem Heimatverein Sparta Gerderath. DorthabichbereitsmitvierJahrenzumerstenMalgegendenBall getreten«, erzählt der am 18. September 1990 geborene Nachwuchs- kicker und kann sich noch ganz genau an das Highlight seiner An- fänge erinnern. »Es ging um nicht weniger als die Kreismeisterschaft in der E-Jugend gegen unseren großen Konkurrenten TuS Jahn Hil- farth. Wir haben sensationell mit 5:0 gewonnen und ich hab’ alle fünf Treffer erzielt. Obwohl ich damals gerade einmal acht oder neun Jahre alt war, sehe ich heute noch jeden einzelnen Treffer genau vor mir.« Dank solcher Auftritte klopfen die Scouts der Bundesligisten an die Tür von Lewis Holtbys Elternhaus. Bayer Leverkusen und Borussia Mönchengladbach werben um die Gunst des Talents. »Ich habe mir beide Vereine angeschaut und mich letztlich aufgrund der Nähe zu meinem Heimatort für Gladbach entschieden«, sagt Lewis Holtby. Im rund 30 Kilometer entfernten Gladbach kommt der kleine Lewis erstmals in den Genuss einer professionellen Jugendarbeit.

18 Ein Traum wird wahr Auf dem Bökelberg hat Lewis Holtby sein Schlüsselerlebnis. »Wir Kiddies hatten das Vorspiel vor einer Bundesligapartie der Profis. Es waren bestimmt schon 15000 Zuschauer im Stadion und ich habe zwei Tore erzielt – eins per Fallrückzieher und eins per direkt verwandeltem Freistoß. Ich war mächtig stolz. Ab diesem Zeitpunkt war mir klar: ›Lewis, du willst und musst Profi werden.‹ Ich entwickelte in der Folge einen unglaublichen Willen und tat alles dafür, eines Tages wieder in einem Bundesligastadion zu spielen – dann allerdings im Hauptspiel.« Ein Selbstläufer ist der Weg dorthin allerdings nicht. Nach drei Jah- ren in der Jugendabteilung von Borussia Mönchengladbach ist die Konkurrenz auf seiner Position zu groß geworden. Lewis Holtby gilt als zu klein, zu schmächtig und zu langsam für eine höhere Fußball- laufbahn. In den U15-, U16- und U17-Jugendnationalmannschaften des deutschen Fußballbundes taucht sein Name nie auf. Um mehr Spielpraxis zu bekommen macht er einen Schritt zurück und wechselt in die Jugendabteilung von . Hier wird teilweise noch auf Ascheplätzen gespielt. Während zu Gladba- cher Zeiten der Fahrdienst des Klubs das Talent von Haustür zu Haustür chauffiert hatte, fährt Lewis Holtby jetzt mit den öffentli- chen Verkehrsmitteln. Die Umstellung ist groß, er tut sich am An- fang schwer. Doch er zeigt damals schon Kämpferqualitäten und gibt nicht auf. Und wird dafür belohnt. »In Aachen durfte ich schon mit 16 Jahren bei den Profis mittrainieren und habe bei den Amateuren gespielt. Der Wechsel war die beste Entscheidung meines Lebens.« Am 16. Spieltag der Zweitligasaison 2007/08 wechselt Aachens Interimscoach Jörg Schmadtke den damals 17-Jährigen in der 80. Mi- nute beim 2:2 gegen den FC St. Pauli ein. Lewis Holtby hat seinen ersten Einsatz im Profifußball und ist mächtig stolz. In seinem zweiten Zweitligajahr für Alemannia Aachen gelingt ihmmitdemKlubderAufstieg.MitachtTorenin31Spielenträgter seinen Teil dazu bei. Längst haben auch Bundesligisten auf den nun- mehr 18-Jährigen ein Auge geworfen. Sogar Borussia Mönchenglad- bach will ihn wieder zurückholen. Doch am Ende macht der FC Schalke 04 das Rennen. Lewis Holtby unterschreibt einen Vierjahres- vertrag bei den Königsblauen, einem der traditionsreichsten Klubs Deutschlands. Nicht ganz drei Millionen Euro beträgt die Ablöse. »Ein Schnäppchen«, wie die Presse den Schalker Coup feiert. Die Karriere nimmt Fahrt auf.

Schlüsselerlebnis auf dem Bökelberg 19 Magaths Zorn wird zum Anker

Am 8. August 2009 wird der Traum vom Bundesligaprofi für Lewis Holtby Wirklichkeit. Gleich im ersten Spiel der Saison 2009/ 10 setzt Schalke-Trainer auf den jungen Neuzugang. Beim 2:1-Auftakterfolg der Königsblauen in Nürnberg wird der Neu- Schalker in der 46. Minute für Levan Kobiashvili eingewechselt. Diesen Tag wird Lewis Holtby niemals vergessen. Aber nicht, weil er so besonders schön war. Im Gegenteil. »Dieser Tag ist ein Anker in meinem Leben«, sagt er rückblickend. »Anker« nennt er solche Mo- mente, an die er sich oft zurückerinnert, um sich gewisser Dinge, Er- fahrungen oder Werte wieder bewusst zu werden. Lewis Holtby setzt in der Nachspielzeit den Sieg gegen Nürnberg leichtfertig aufs Spiel und treibt Trainer Felix Magath damit zur Weißglut. Und zwar so sehr, dass dieser an der Seitenlinie herum- tobt, nach Spielschluss wutentbrannt in die Kabine rast und den da- mals schüchternen Bundesligadebütanten gegenüber den Medien öf- fentlich an die Wand nagelt. Was war passiert? Anstatt einen Konter auszuspielen, versucht Lewis Holtby ein Traumtor zu erzielen und gewährt so dem Gegner ohne Not noch eine letzte Chance, den Ausgleich zu erzielen. Lewis Holtby erzählt: »Die Nachspielzeit lief und ich hätte einen idealen Konter einleiten können. Kevin Kur´anyi und Farf´an standen auf den Außenbahnen völlig frei. Aber ich hatte in dem Moment einen Tunnelblick und habe meine Mitspieler überhaupt nicht wahrgenom- men. Nürnbergs Keeper Raphael Schäfer stand zu weit vor seinem Tor. Ich laufe also noch ein Stück mit dem Ball und versuche von der Mit- tellinie über den Torhüter zu lupfen, anstatt auf die Außenbahn abzu- spielen. Und das bei nur einem Tor Vorsprung kurz vor dem Abpfiff. Mein Lupfer ging dann Richtung Eckfahne. Zum Glück war das Spiel anschließend schnell vorbei. Aber ich sehe aus den Augenwinkeln, wie Trainer Felix Magath ausflippt und schnurstracks in die Kabine läuft. Beim Gang in die Kabine frage ich meinen Teamkollegen Christoph Moritz, ob der Trainer irgendwie sauer gewesen sei? Aber so wie es Christians ausgleichende Art ist, sagt er nur: ›Ach was, war gar nicht so schlimm.‹ Ich habe mir dann zwar gedacht: ›Okay, der Coach ist zwar eben ausgerastet und in die Kabine gesprintet, aber dann wird es wohl doch nicht so schlimm gewesen sein.‹ Doch genau das Gegenteil

20 Ein Traum wird wahr war der Fall. Das Ende vom Lied war, dass Felix Magath voll gewütet hat. Ich bin dann Duschen gegangen und war fix und fertig. Mein Kopf war kaputt. Anschließend kam er auf mich zu und hat nur ge- sagt, dass wir über meine Aktion nochmal sprechen würden, wenn ich vom U21-Länderspiel zurückgekommen bin. Ich war damals 18, es war meine erste Einladung zur U21 und ich hatte kein Selbstver- trauen mehr, zur Nationalmannschaft zu fahren.« Das schlechte Gewissen lässt Lewis Holtby den restlichen Tag keine Ruhe. Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und ruft am Abend mit klopfendem Herzen Felix Magath an. »Ich wollte das klä- ren, bevor ich zur Nationalmannschaft fahre.« Er ist einigermaßen darauf vorbereitet, dass sein Coach gleich wieder anfangen würde zu toben. Aber wieder fällt die Reaktion anders aus als erwartet. »Felix Ma- gath war superfreundlich«, erzählt Lewis Holtby. Beide beschließen nach Lewis Holtbys Rückkehr noch einmal unter vier Augen in Ruhe zu erörtern, wie man es das nächste Mal besser machen kann. In die- sem Moment löst sich bei Lewis Holtby die ganze Nervosität. »Felix Magath ist gar nicht so verkehrt, wie er manchmal dargestellt wird, mit ihm kann man sich durchaus sachlich unterhalten«, sagt er. Felix Magaths Ausraster ist natürlich ein gefundenes Fressen für die Medien. Immer wieder laufen die Szenen im Fernsehen. Schon nach seinem ersten Bundesligaspiel macht Lewis Holtby die Erfah- rung, dass in Deutschlands höchster Spielklasse ein ziemlich rauer Wind weht, in der jeder Fehler bestraft wird und die Medien gnaden- los sein können. Damals findet er die Aktion von Felix Magath nicht sonderlich prickelnd. »Ich war so jung, unerfahren und hatte Schiss ohne Ende. Das war sehr schwierig für mich«, erzählt Lewis Holtby mit ein paar Jahren Abstand. »Heute bin ich dankbar, dass er mich zur Sau gemacht hat. Das hat er fantastisch gemacht. Ich bin dadurch schnell sehr viel reifer geworden.« In seiner ersten Bundesligasaison kommt Lewis Holtby für den FC Schalke 04 bis zur Winterpause allerdings nur auf neun Einsätze. Meist wird er in der Schlussphase eingewechselt. Zu wenig Spielzeit für den ambitionierten Nachwuchskicker. Er lässt sich im Winter an den VfL Bochum ausleihen. Bei der 1:4-Niederlage gegen am 13. März 2010 schießt er sein erstes Bundesligator. Den Bochumer Abstieg kann er aber nicht verhindern.

Magaths Zorn wird zum Anker 21 In der folgenden Saison 2010/11 wird Lewis Holtby trotzdem nicht wieder das Schalker Trikot tragen. Bereits weit vor Saisonbeginn ist klar,dassdermittlerweile20-Jährige erneut ausgeliehen wird. Dieses Mal zum FSV Mainz 05. Hier hat sich im zurückliegenden Jahr der junge Trainer einen Namen gemacht. Lewis Holtby ist sofort begeistert vom neuen Trainer-Stern, den er »Mastermind« und »Taktikfuchs« nennt. Die positive Besessenheit, die klare, emoti- onale Ansprache, all das stößt bei der Schalker Leihgabe auf offene Ohren. Später wird er ihn mit Tottenhams Coach Andr´e Villas-Boas vergleichen.

Der Bundestrainer auf der Mailbox

In Mainz gelingt Lewis Holtby der endgültige Durchbruch. Das Team startet fulminant in die Saison, gewinnt die ersten sieben Spie- le in Folge und grüßt plötzlich von der Tabellenspitze. Der zwischen- zeitliche Höhepunkt ist der 2:1-Sieg beim FC Bayern München. Immer mehr in den Mittelpunkt rücken dabei Andr´e Schürrle, der Ungar Adam Szalai und Lewis Holtby. Das Trio versteht sich auf und außerhalb des Platzes. Die Jubelarien nach Torerfolgen, bei der sie eine Rockband imitieren, erreichen in Deutschland schnell Kultstatus. Nach dem Bayern-Spiel hat das Trio als Boygroup verkleidet einen le- gendären Auftritt im Aktuellen Sportstudio des ZDF. Die »Bruchweg Boys« sind geboren. Frei benannt nach dem alten Stadion der Mainzer, das an der Straße mit dem Namen Bruchweg liegt. Sein offener und frecher Auftritt sowie das Bekenntnis des Halbbriten zu Deutschland (»Als ich in der U-Nationalmannschaft das erste Mal die Nationalhym- ne gehört habe, habe ich mich sofort verliebt«) machen ihn auf einen Schlag landesweit bekannt und steigern seine Sympathiewerte. MitdenstarkenLeistungeninMainzlegtLewisHoltbydieGrund- lage für die Erfüllung seines nächsten Traums. Seit seinem ersten U18-Länderspiel im Mai 2008 gegen die Türkei steht er endlich im Blickfeld von Bundestrainer Joachim Löw. Oktober 2010. Lewis Holtby und Andr´eSchürrlekommengerade aus dem Kino. Wie der Film hieß, daran können sich die beiden Freunde nicht mehr erinnern. Auf dem Weg zum Auto macht Andr´e SchürrleseinHandyan,umzuschauen,oberindenletztenzwei

22 Ein Traum wird wahr Stunden angerufen wurde. Tatsächlich: Es hatte sich jemand gemel- det. Genauer gesagt nicht irgendjemand, sondern der Bundestrainer höchstpersönlich. Joachim Löw hatte Andr´eSchürrleaufdieMailbox gesprochen und ihn zum ersten Mal für die A-Nationalmannschaft nominiert. »Ich habe Andr´e gratuliert«, erinnert sich Lewis Holtby, der sein ei- genes Handy in seiner Wohnung vergessen hatte. »Ich bin dann ganz schnell und voller Vorfreude nach Hause gefahren. Ich hatte schon eine gewisse Ahnung, weil der Bundestrainer auf Andr´es Mailbox so Sachen gesagt hat wie: ›Ihr seid beide gut drauf oder so ähnlich.‹ Als ich zu Hause angekommen bin, habe ich natürlich sofort auf mein Handy geschaut. Zwei Anrufe in Abwesenheit. Ich habe also meine Mailbox abgerufen und dann die Stimme von Joachim Löw gehört und wie der Bundestrainer meinen Namen sagt. Das war für mich ein Glücksgefühl ohne Ende. Ich habe dann sofort zurückgerufen. Bei diesem Gespräch hat mir der Bundestrainer dann erklärt, warum er mich berufen hat. Das war fantastisch für mich. Mir schossen viele Gedanken durch den Kopf. Ich kann nicht beschreiben wie glücklich ich war. Ich habe sofort meine Eltern angerufen, meine Berater Marcus und Johannes Noack und jede Menge Freunde. Dieses Ge- fühl ist das Beste, was du als Fußballer haben kannst.« Als sich Lewis Holtby im November 2010 auf der Reise nach Göte- borg erstmals im Kreise der Nationalmannschaft bewegt, ist es für ihn ein aufregender Moment. »Man hat als kleiner Mainzer Spieler mit gerade einmal 20 Jahren riesengroßen Respekt vor allen Leuten beim DFB. Wenn irgendjemand einen Witz gemacht hat, haben Andr´e und ich immer erst mal aus Höflichkeit und Schüchternheit mitgelacht. Hihi da, haha dort. Aber im Training war alles ganz an- ders. Das Selbstvertrauen, das ich aus Mainz mitgenommen hatte, hat mir im Training der Nationalmannschaft geholfen. Ich habe mir gesagt: ›Okay, ich muss mich hier nicht verstecken.‹ Dann habe ich super trainiert. Anschließend kam Joachim Löw zu mir und hat mir eingroßesLobausgesprochenundgesagt,dassichvonAnfangan spielen werde. Da hat alles gepasst. Das sind Emotionen, die kann ich gar nicht beschreiben, weil ich solche noch nie hatte.« Am 17. November 2010 in Göteborg steht Lewis Holtby gegen Schweden in seinem ersten LänderspielfürdiedeutscheA-National- mannschaft gleich in der Startformation. Beim 0:0 gegen den Gast-

Der Bundestrainer auf der Mailbox 23 geber gehört er zu den besten Spielern auf dem Platz und wird in der 78. Minute gegen Andr´e Schürrle ausgewechselt. Der einstmals kleine, schmächtige Junge, der von Erkelenz nahe der niederländischen Grenze auszog, um die Fußballwelt aus den Angeln zu heben, hat sich den nächsten großen Traum erfüllt. Er ist jetzt ein deutscher Nationalspieler. Bis heute hat sich Lewis Holtby seine Begeisterungsfähigkeit be- wahrt. Für ihn ist es keinesfalls selbstverständlich, mit dem Adler auf der Brust aufzulaufen oder in den größten Stadien Europas gegen den Ball zu treten. Im Laufe seiner noch jungen Karriere hat er viele richtige Entscheidungen getroffen. In seiner Jugendzeit machte er beim Wechsel von Borussia Mönchengladbach zu Alemannia Aachen einen Schritt zurück, nur um anschließend in Windeseile gleich mehrere Schritte vorwärts zu gehen. Er ließ sich zwei Mal ausleihen, um Spielpraxis zu sammeln. Von Nackenschlägen wie seinem ersten Bundesligaspiel hat er sich nicht unterkriegen lassen. Im Gegenteil. Er hat das Positive rausgezogen und sie als wichtige Erfahrung auf dem Weg nach oben verbucht. Lewis Holtby hat die richtigen Berater an seiner Seite, die auch gleichzeitig ein wichtiger Teil seines sozialen Umfelds sind. Er hat keinerlei Starallüren. Er spielt nicht Fußball, um viel Geld zu verdie- nen, sondern um des Spiels willen. Geld ist für ihn ein angenehmer Nebeneffekt. Er hat früh in seiner Jugend begonnen, alles dem Fuß- ball unterzuordnen und in jeder freien Minute gegen den Ball getre- ten. Keine Zigaretten, keine ausufernden Partys, keine Discobesuche, kein Alkohol. Doch all das hat er nie als Verzicht wahrgenommen. Weil er immer nur eines wollte: Fußballprofi werden. Keine Frage: Lewis Holtby hat bis jetzt eine Sonnenscheinkarriere hingelegt. Und es spricht alles dafür, dass es auch so weitergehen wird. Das Gröbste hat er schließlich hinter sich. Die Zeit, in der ein falscher Trainer, ein falscher Freund, eine Verletzung oder schlicht- weg eine falsche Entscheidung die Karriere ins Wanken hätte bringen können, hat er längst hinter sich gelassen. Auch wenn man es Lewis Holtby bei all seiner Begeisterung für diesen Sport nicht anmerkt: Der Weg zum Fußballprofi ist lang, hart und voller Klippen, die es zu umschiffen gilt. Immerhin können die Nachwuchstalente in Deutschland mittlerweile auf eine einzigartige Förderung zurückgreifen. Das war nicht immer so.

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