. M. ZUCHT / DER SPIEGEL Voscherau (M.), SPIEGEL-Redakteure*: „Wem die Nummer eins nicht paßt, soll seinen Hut in den Ring werfen“

SPIEGEL-Gespräch „Die Enkel vergurken vieles“ Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) über Rudolf Scharping und die Egomanie der Brandt-Erben

SPIEGEL: Herr Voscherau, die Berliner eins nicht paßt, soll den Mut haben, sei- tei antreten. Das klärt die Fronten, Wahl ist ein Desaster für Ihre Partei. nen Hut in den Ring zu werfen. Das wirkt als reinigendes Gewitter und ist Rafft sich die SPD nun zu einem Befrei- müßte sich die gesamte deutsche SPD dann eine feste Grundlage für die näch- ungsschlag auf? von und Gerhard sten zwei Jahre. Voscherau: Es würde genügen, wenn wir Schröder wünschen. SPIEGEL: Haben Sie Hinweise, daß La- unsere Arbeit verbessern würden. Zum SPIEGEL: Wie erklären Sie denn, daß fontaine Ihren Rat beherzigt? Beispiel müßte die Führung der SPD, sich eine Partei, die Solidarität für einen Voscherau: Den Eindruck kann man die teils in Bonn und teils in Landes- hohen Wert hält, vom „egomanischen nach seinen öffentlichen Äußerungen hauptstädten sitzt, endlich freundschaft- Ehrgeiz“ ihrer Führung – Ihre Worte – nicht gewinnen. Ich kann mir nur wün- lich mit gemeinsamem Ziel und gemein- lähmen läßt? schen, Lafontaine und Schröder hätten samen Interessen offensiv und selbstbe- Voscherau: Ein gewisses Maß an Ehr- den Mut und kämen aus der Deckung. wußt zusammenwirken. Das geschieht geiz und Eitelkeit soll inner- und außer- SPIEGEL: Es fällt ja auf, daß es der SPD seit Jahren nicht und ist in der heutigen halb der Politik verbreitet sein. Wenn an einer Autorität mangelt, die Kontra- Medienlandschaft ein Keim zum Nie- aber dadurch die Partei, die Mitstreiter henten zur Ordnung zu rufen. Johannes dergang. und die Sache beschädigt werden ist ei- Rau hätte sie, übt sie aber nicht aus. SPIEGEL: Glauben Sie denn ernsthaft, ne Grenze überschritten, die nicht über- Warum nicht? daß Scharping, Schröder und Lafon- schritten werden darf. Denn der Erfolg Voscherau: Nach dem Abgang der Troi- taine sich noch zu einem freundschaftli- des Vereins ist wichtiger als das Ego von ka Brandt/Wehner/Schmidt eine neue chen Umgang durchringen? Leuten, die mal als Juso-Vorsitzende an individuelle Führungsautorität inner- Voscherau: , Herbert Weh- den Gitterstäben des Kanzleramtes ge- halb der SPD zu gewinnen ist eine ner und Helmut Schmidt haben sich zu rüttelt haben. Darum wiederhole ich: schwere Aufgabe. Das sind drei Paar anderen Zeiten auch nicht als Freunde Wer sich als Rivale der Nummer eins sehr große Schuhe. Der CDU wird es bezeichnet. Aber sie haben nicht Ob- empfindet, soll kandidieren. nicht anders gehen, wenn struktion als Mittel zu eigener Profilie- SPIEGEL: Das ist die Aufforderung an mal weg ist. rung geübt. Rivalität um Führung halte Oskar Lafontaine und Gerhard Schrö- Daß es seit 1982 kein einzelner in der ich für normal und legitim, ständige der, auf dem Parteitag in Mannheim ge- SPD geschafft hat, Führungsautorität in Querschüsse nicht. Wem die Nummer gen Scharping anzutreten. dem wünschenswerten Maße zu gewin- Voscherau: Wer die Überzeugung hegt, nen, lag nicht an den einzelnen Persön- * Gerhard Spörl und Dieter Wild im Hamburger mit ihm gehe es besser, soll aus Grün- lichkeiten von Hans-Jochen Vogel bis Rathaus. den der Solidarität mit der Gesamtpar- Rudolf Scharping. Es lag an Teamunfä-

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higkeit und Quertreibereien. Das muß Kanzlerkandidat. Die Bundestagsfrakti- fraktion von 1919 das gern wollte, son- aufhören. on istin abträglicher Weise verfestigt und dern wir sind ein Bundesstaat. Die SPIEGEL: Von Willy Brandt gibt es den in Gruppen verkrustet. Wer da nur präsi- Gliedstaaten haben eigene demokrati- Satz, wer über das Verhältnis von Spit- dieren kann, darf oder muß, hat es sche Verfassungen, eigene demokrati- zenpolitikern zueinander nachdenke, schwer. Es wäre vielleicht an der Zeit, die sche Legitimation und eigene Probleme. dürfe deren Neurosen nicht vergessen. organisierten Seilschaften aufzulösen. Dafür sind wir gewählt. Wir sind nicht Voscherau: Wer überzeugt ist, er selbst SPIEGEL: Wie soll das gehen – per Mehr- die Besatzungsmacht der Baracke in ei- könne es besser, hat noch keine Neuro- heitsbeschluß in der Fraktion? ner fremden Staatskanzlei. se. Das ist eine erlaubte politische Beur- Voscherau: Wenn die SPD den Beschluß SPIEGEL: Sie scheinen aus leidvoller Er- teilung. Aber sie muß auf demokratisch auf einem Parteitag fällen würde, würde fahrung zu sprechen. geordnete Weise zur Entscheidung ge- sich schon manche formierte Seilschaft Voscherau: Das beste wäre, die Mini- bracht werden. Das nennt man in der auflösen. sterpräsidenten, einschließlich derer Demokratie „Wahl“, auch innerhalb SPIEGEL: Die Fraktion im Bundestag ist von Saarland und Niedersachsen, hiel- von Parteien. Alle zwei Jahre darf man keineswegs Scharpings einziges Pro- ten sich aus der Bestimmung der Bonner antreten, während dieser zwei Jahre blem. Da gibt es sozialdemokratische Mi- Oppositionsstrategie heraus und die muß man Solidarität üben. nisterpräsidenten, die ihm auch aller- Bundestagsfraktion mischte sich nicht in SPIEGEL: Vor zwei Jahren ist Scharping hand Schwierigkeiten bereiten. die Regierungsgeschäfte der Länder ein. auch mit Ihrer Unterstützung per Mit- Voscherau: Das liegt an unterschiedli- So sieht es die Verfassung übrigens vor. gliederbefragung gekürt worden. Er er- chen Verfassungspflichten und bleibt SPIEGEL: Tatsache ist nun aber, daß die reichte nur 40,3 Prozent der Stimmen, auch hoffentlich so. SPD, die größte Oppositionspartei, an- ein Vorsitzender ohne Mehrheit. Lag SPIEGEL: Aber hilfreich sind Länderfür- statt mit geballter Macht gegen die Re- nicht darin ein Problem von Anfang an? sten wie Sie nicht. gierung anzugehen, mit vielen Zungen Voscherau: Es war ein Fehler, daß zwi- Voscherau: Wir sind ja kein Zentralstaat, spricht und nur noch ein Schatten ihrer schen Schröder und Scharping kei- selbst wenn schon die SPD-Reichstags- selbst ist. ne Stichwahl stattfand. Voscherau: Die von Ih- Deshalb hat die SPD nen so geschilderte SPD den schlichtenden, be- ist in 14 von 16 Ländern friedenden Effekt die- in der Regierung, nur in ser Mitgliederentschei- Sachsen und Bayern dung verspielt. nicht. SPIEGEL: War nicht SPIEGEL: Alles bestens Scharping einfach die also aus Ihrer Sicht? falsche Wahl? Voscherau: Es ist nicht Voscherau: Das sage ich alles bestens, weil wir gar nicht. Aber man auf der eigentlich be- wählt, um einen zu ha- stimmenden politischen ben und ihn dann zu un- Ebene, im Bundestag, terstützen und gemein- nun schon seit 1982 in sam zu siegen. Ein der Opposition sitzen. Vorsitzender hat es Dort zieht die Karawa- schwerer als andere. Er ne weiter – und also öff- muß unterstützt wer- net sich die Schere zwi- den. Und die Partei er- schen Arm und Reich in

wartet, daß er Zuver- SVEN SIMON Deutschland seit über sicht vermittelt und ge- Troika Wehner, Schmidt, Brandt (1973): „Drei Paar große Schuhe“ zwölf Jahren immer winnen kann. weiter. Das beginnt, SPIEGEL: Nun wollte ja Sozialstaat und demo- Scharping durchaus sei- kratische Stabilität zu nen Spielraum erwei- unterhöhlen. tern, etwa in der Wirt- SPIEGEL: Besteht die schaftspolitik oder auch grundsätzliche Misere in der Außenpolitik, als Ihrer Partei vielleicht es um den Bosnien-Ein- darin, daß viele Sozial- satz der Bundeswehr demokraten noch in der ging. Doch da hat ihn Gefühlswelt der frühen Lafontaine zurückge- achtziger Jahre leben? pfiffen. Seither will Ist die SPD eine konser- Scharping es offenbar vative linke Volkspartei allen recht machen – geworden, die so tut, und macht es nieman- als gäbe es die alte Bun- dem recht. desrepublik noch? Voscherau: Wenn man Voscherau: Ich glaube, den Karren nicht ziehen daß die SPD nach den muß, hüpft es sich leich- grundstürzenden Ver- ter. Scharping findet änderungen einige Eck- sich in einer Vielzahl pfeiler ihrer Program- von Geschirren gefes- me auf Wirklichkeits- selt, wie schon einige treue abklopfen muß.

Vorgänger als Partei- ARIS Sie muß sich fragen, ob und Fraktionschef oder Rivalen Lafontaine, Scharping, Schröder: „Ständige Querschüsse“ die Überzeugung der

DER SPIEGEL 44/1995 27 Bürger von dem, was unbequem, aber realistisch nötig ist, noch hinreichend getroffen wird durch das, was wir sagen. SPIEGEL: Womit soll Ihre Partei anfan- gen? Voscherau: Aus meiner Sicht steht ganz im Vordergrund die Globalisierung des ökonomischen Wettbewerbs, ein- schließlich der Arbeitsmärkte. Der pro- duzierende Sektor in Deutschland ist dabei, auszubluten. In den nächsten 10, 20 Jahren müssen wir das Hauptaugen- merk darauf legen, die Wettbewerbsfä- higkeit des produzierenden Sektors in Deutschland zu retten: Arbeitsplätze, Wertschöpfung, Steuerkraft und damit Reformfähigkeit. SPIEGEL: Ihr Kollege von der CSU wird’s nicht anders sagen. Voscherau: Es gibt ja nicht zwei Realitä- ten. Es ist ja nicht so, daß die CSU sich eine andere Realität malen könnte als die SPD. SPIEGEL: Aber der SPD fällt es offenbar schwerer, Konsequenzen zu ziehen. Voscherau: Die SPD ist die Schutzmacht der kleinen Leute, wie das genannt hat. Sie sieht schmerzlich, daß die kleinen Leute sich weniger Um- stellung, Flexibilität, Verzicht leisten können als die Mehrheit der Wählerin- nen und Wähler von FDP, CDU und CSU. Die SPD steht deshalb früher im Feuer der Kritik ihrer Anhänger. SPIEGEL: Dann aber verläßt sie der Mut . . . Voscherau: . . . und gelegentlich neigt sie dazu, in Deckung zu bleiben, selbst wenn sie es nicht sollte. Denn die Wahr- heit ist ja: Ändert sich die Realität dra- matisch, und das ist ja wohl unbestreit- „Daß es die Enkel nicht können, hat Erhard Eppler gesagt“

bar, werden die gesellschaftlichen Ko- sten der Reform um so höher, je länger man wartet. SPIEGEL: Vier Wahlen hat Ihre Partei nun seit 1982 verloren, die letzten bei- den mit Lafontaine und Scharping. Kön- nen es die Enkel nicht? Voscherau: Daß die Enkel es nicht kön- nen, hat in dieser Schärfe meines Wis- sens bisher Erhard Eppler gesagt. Ich will mich seinem Urteil in dieser Härte nicht anschließen. Aber ich stelle fest: In den letzten Jahren haben sie allerlei vergurkt. Und es wäre mal Zeit, damit Schluß zu machen. Wir können nämlich immer noch gewinnen. Herbert Wehner hat mir im September 1982 – zu anderen auch – gesagt: „Das dauert 15 Jahre.“ Die sind 1998 um. Ich würde beim näch- sten Mal gerne gewinnen. SPIEGEL: Woraus schöpfen Sie Hoff- nung?

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Voscherau: Das Berliner Wahlergebnis der Landesebene, sogar sehr gut geht, den Ostdeutschen, danach aber ist sie bestärkt mich darin, daß es eine struk- sieht man in Magdeburg. weg. Und das ist auch gut so! turelle Mehrheit für das bürgerliche SPIEGEL: An Koalitionen mit der PDS SPIEGEL: Sie raten Ihrer Partei, den Lager nicht mehr gibt. Daraus folgt kann man das Publikum gewöhnen? Prozeß des Verschwindens durch Zu- nicht, daß es eine strukturelle Mehr- Voscherau: Das hat einfach etwas zu sammenarbeit zu fördern? heit für die SPD oder für Rot-Grün tun mit der Vollendung der inneren Voscherau: Ich habe ja leicht reden, in gibt. Aber die demokratische Land- Einheit, die ja nicht erreicht ist. Das gibt es keine PDS, jedenfalls schaft ist instabil, Rot-Grün kann 1998 ist ein langer, schwieriger psycholo- keine, über die zu reden lohnt. Aber ich sehr wohl eine, und zwar, wenn es gut- gisch-politischer Prozeß. Und was dar- erachte Berührungsängste grundsätzlich geht, auch eine deutliche Mehrheit ha- aus in drei, in acht Jahren in Deutsch- für falsch und Ausgrenzung auch. Man ben. Ich wette mit Ihnen: Niemand land wird – warum sollte man darüber muß sich inhaltlich auseinandersetzen. weiß das genauer als die Strategen bei heute spekulieren? Auch über die PDS Ich selber habe übrigens unverändert der Union. Aber Helmut Kohl und Kontakt zu meinem früheren Dresdner Wolfgang Schäuble gehen mit diesem Städtepartner Hans Modrow, den ich Wissen beherzter um als wir. „Die PDS repräsentiert angesichts seiner Verdienste um einen SPIEGEL: Sie übergehen die PDS. In eine gewisse Übergang ohne Blutvergießen Anfang Berlin, im ganzen Osten ist sie eine 1990 hochachte. Ich habe auch noch Macht, im Bundestag gibt es sie auch. Grundstimmung im Osten“ Kontakt, wenn auch selten, zu meinem Die SPD ist derzeit noch auf strikte damaligen Dresdner Kollegen Wolfgang Abgrenzung bedacht. Wie lange noch? läßt sich nur pragmatisch urteilen, man Berghofer*. Ich halte nichts davon, daß Voscherau: Allerlei führende Persön- wird sehen. 60 Millionen Westdeutsche, die unter lichkeiten der SPD empfinden offen- SPIEGEL: Die PDS ist eine ostdeutsche dieser Diktatur nicht 40 Jahre leben kundig, daß die SPD wegen der PDS Regional-, wenn nicht Volkspartei. mußten, jetzt beckmessern und den und deren Vorläuferin SED angreifbar Kann sie sich auf Dauer halten? Deutschen im Osten vorschreiben, wie ist. Sie schließen diese offene Flanke Voscherau: Nee, der PDS wird es erge- sie gefälligst zu empfinden hätten. Dar- durch demonstrativen Abstand. In den hen wie dem Block der Heimatvertrie- auf ruht kein Segen. östlichen Ländern gibt es die bunt- benen und Entrechteten nach 1949. SPIEGEL: Herr Voscherau, wir danken scheckigsten Koalitionen auf Gemein- Auch der artikulierte zu Anfang etwas, Ihnen für dieses Gespräch. deebenen, auch von CDU mit PDS. was da war und dann verschwunden ist. Daß das im Bund gehen könnte, kann Dankenswerterweise nimmt die PDS * Wegen Wahlfälschung in der DDR wurde Mo- drow im August zu neun Monaten, Berghofer ich heute nicht glauben. Daß es, wenn den gleichen Lauf. Sie repräsentiert 1992 zu einem Jahr Haft, jeweils auf Bewährung, auch mit einer Art stiller Duldung auf eine bestimmte Grundstimmung unter verurteilt.