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Sendung vom 20.03.1998

Prof. Dr. Rupert Scholz Bundesminister a. D. im Gespräch mit Werner Siebeck

Siebeck: Heute zu Gast bei Alpha-Forum ist Professor Rupert Scholz, Staatsrechtler und Politiker. Herr Professor Scholz, Sie waren Berliner Senator, Bundesminister der Verteidigung, Sie sind stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Union. Ein Berufspolitiker sind Sie aber dennoch nicht, denn Sie haben ja noch einen Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität in München. Könnte man daraus schließen, daß für Sie im Sinne von Max Weber Politik kein Beruf ist, sondern eine Berufung? Scholz: Ich glaube, daß man das ein bißchen so sagen kann, denn wesentlich ist für mich eigentlich, was den Politiker angeht, daß er ein Stück Unabhängigkeit von der Politik und auch ein Stück - nennen wir es einmal - Bodenhaftung in einem normalen bürgerlichen Dasein haben muß. Ganz Politiker zu sein, läßt sich zwar heute bei der hohen Professionalisierung der Politik in vielen Fällen nicht vermeiden, aber ich sage auch leider nicht vermeiden. Für mich ist das eine ideale Situation: Ich bin Bundestagsabgeordneter, ich bin in der Funktion, die Sie angesprochen haben, zuständig für die Rechts- und die Innenpolitik in unserer Fraktion. Und nebenher habe ich die Möglichkeit, meine Professur auszuüben im Verfassungsrecht, im Staats- und Verwaltungsrecht, d. h. also in dem, was die theoretischen Grundlagen dessen umreißt, womit ich in der Politik praktisch befaßt bin. Ich untersuche sozusagen den Staat theoretisch, ich lehre ihn auf dem Katheder, und ich erlebe ihn zugleich von Innen, und das ist eine faszinierende Mischung. Siebeck: Kann man denn sagen, daß Sie sich in der Wissenschaft von der Politik erholen? Scholz: Man kann das fast so sagen. Wenn man mal so richtig von der Politik gestreßt wird, da gibt es mal Ärger und dann gibt es Aufregung in dieser und jener Richtung und dann wird man kribbelig: Wenn man dann plötzlich im Hörsaal steht, vor Studenten steht und bestimmte Dinge erklären muß und dabei auch die eigene Erfahrung einbringt, dann ist das in der Tat eine Erholung. Siebeck: Der Ausdruck Berufspolitiker ist ja auch durchaus negativ besetzt. Liegt das daran, daß die Rekrutierung der politischen Eliten ja ausschließlich über die Parteien erfolgt? Scholz: Na ja, das erinnert so ein bißchen an das, was bei uns so gerne mit dem Wort Parteienverdrossenheit umschrieben wird. Eine Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft kann nicht anders funktionieren als über die Organisation der Parteien. Ich finde, man soll unsere Parteien auch nicht so schlecht machen, wie es landläufig üblich geworden ist. Die Parteien präformieren, wie man so schön sagt und wie es auch das Bundesverfassungsgericht ausdrückt, im Grunde die politische Willensbildung im Parlament. Ein Parlament ist heute ein hochspezialisiertes Unternehmen und sehr arbeitsteilig organisiert. Der Einzelne überblickt nicht mehr, das muß man ehrlich einräumen, was der andere in seinem Fachgebiet macht. Das alles kann man nur zusammenführen zu wirklich gewachsenen und dann auch funktionstüchtigen Strukturen über Fraktionen, das heißt über Parteien. Es wird viel kritisiert, wie die Parteien den politischen Nachwuchs für die Parlamente rekrutieren, und manch einer sagt, der Weg über die Partei ist mir zu mühsam. Siebeck: Die berühmte Ochsentour! Scholz: Die berühmte Ochsentour. Obwohl ich gerade aus meiner ganz persönlichen eigenen Erfahrung sagen muß, daß ich ja ein sogenannter Quereinsteiger gewesen bin. Ich bin Senator geworden, Sie haben das ja angesprochen, als Parteiloser. Ich bin erst später der CDU beigetreten. Und ich habe das nie als ein Problem empfunden, und das ist mir auch nie als Problem angelastet worden. Ich habe vielmehr immer den Eindruck gehabt, daß man mir sehr, sehr offen gegenüberstand und mich gerne aufgenommen hat. Ich möchte eigentlich Leute ermuntern, auch als Quereinsteiger in die Politik zu gehen, die Politik braucht das. Siebeck: Sie sind 1972 in ordentlicher Professor geworden. Berlin war ja damals ein Zentrum der hochschulpolitischen Konflikte - ausgelöst durch die 68er Bewegung. Sie hatten sich engagiert in der "Liberalen Aktion" und haben sich gegen die Politisierung der Universitäten gewandt. Wenn Sie zurückblicken, wie waren diese Jahre? Scholz: Die waren heiß, die waren wirklich heiß. Sie hatten genau genommen mit der Universität, mit der universitas, mit einer der Wissenschaft, der Lehre und der Ausbildung verpflichteten Institution nur noch sehr, sehr wenig zu tun. Das war traurig. Daß man geglaubt hat - und das sind ja nicht nur bestimmte studentische Opponenten gewesen -, daß die Universität sozusagen die revolutionäre Besserungsanstalt für eine anders ideologisierte Gesellschaft, für eine Veränderung im Staat insgesamt ist. Dafür sind die Universitäten nicht geschaffen, das mußte auch zum Desaster führen. Aber die Rechnung haben die Universitäten bezahlt, niemand anders. Siebeck: Waren Sie persönlich als Professor auch in Schwierigkeiten? Scholz: Ja, natürlich hat man seine Schwierigkeiten gehabt. Ich erinnere mich an viele Szenen. Wenn Vorlesungen gestört wurden, wenn ich daran denke, was mich heute noch bedrückt: Sie halten eine Vorlesung, da sind 200, 300 Studenten, die Sie hören wollen, und dann rücken irgendwelche Störkommandos in den Hörsaal ein, die diese Vorlesung unterbinden wollen. Die hörwilligen Studenten wollen diese Vorlesung aber hören: Es kommt zu Schlägereien zwischen beiden, und dann müssen Sie abbrechen. Sie müssen abbrechen, einfach aus der Verantwortung heraus, daß nichts passiert, daß nicht jemand körperverletzt wird. Solche Situationen habe ich oft erlebt, und sie sind schmerzhaft gewesen. Siebeck: Einer der damaligen Forderungen war ja auch ganz zentral - mehr Demokratie an der Universität. Meine Frage an den Staatsrechtler Professor Scholz: Läßt sich die Universität, die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden überhaupt demokratisieren? Das ist ja inzwischen wieder eine ganz modische Forderung geworden. Scholz: Demokratie heißt Herrschaft, heißt politische Macht auf der Grundlage der Gleichheit von Staatsbürgern, und damit ist im Grunde schon gesagt, daß die von Ihnen apostrophierte Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden einer solchen Demokratievorstellung gar nicht zugänglich sein kann. Die damals geforderte Paritätenregelung: Drittelparitäten - ein Drittel der Gremien besetzt von Professoren, ein Drittel von Assistenten, ein Drittel von Studenten ... Siebeck: ... es gab ja sogar einmal Viertelparitäten. Scholz: ... bis hinauf zur Viertelparität mit den Angestellten. Das ist natürlich absolut widersinnig. Die Universität ist ein Bereich, der für eine bestimmte Sache, für eine bestimmte fachliche Kompetenz steht, und das hat das Bundesverfassungsgericht dann ja auch zurechtgerückt. Das war mit dem Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes, der Garantie der Freiheit, der Freiheit von Forschung und Lehre, beim besten Willen nicht vereinbar. Siebeck: Sie haben dann einen Ruf an die Universität München angenommen. Könnte man sagen, daß es eine Flucht vor den Berliner Zuständen gewesen ist? Scholz: Nein, eine Flucht nicht. Aber ich sage es ganz offen, ich hatte mich, obwohl ich Berliner bin, in München habilitiert und auch zuvor schon dort promoviert. Als ich dann Mitte der 70er Jahre den Ruf an meine Heimatfakultät, an die juristische Fakultät der Universität München bekam, war das eine hohe Auszeichnung. Denn die juristische Fakultät der Universität München war, und ich denke sie ist es auch heute noch, eigentlich die erste Fakultät in Deutschland. Die Verhältnisse in Bayern waren schon immer etwas anders als in dem damals sehr - nennen wir es einmal - lebhaften Universitätsfeld in Berlin. Und ein bißchen wollte ich auch an den Schreibtisch zurück, ich war schon ein bißchen zu sehr in diesen Auseinandersetzungen Hochschulpolitiker geworden. So bin ich eigentlich gerne nach München gegangen. Aber hinzufügen kann ich gleich, daß ich den ersten Wohnsitz in Berlin trotzdem nie aufgegeben habe. Siebeck: Kommen wir noch einmal zu den Universitäten insgesamt zurück, die stehen ja seit Jahren schwer unter Beschuß. Sind unsere Hochschulen so schlecht wie ihr Ruf? Scholz: Ich will zunächst ganz deutlich sagen, nein. Die Universitäten haben Probleme, die Universitäten haben sicherlich auch Defizite. Aber das ist kein Versagen der Universitäten. Man muß klar sehen, was wir eigentlich gemacht haben. Wir haben gerade auch im Sinne jener Ideologie, die Ende der sechziger Jahre geboren wurde, die Vorstellung entwickelt, daß eigentlich jeder junge Deutsche studieren müßte. Wir haben die Universitäten in wenigen Jahren ja auf weit in die Millionen reichende Studentenzahlen gebracht Siebeck: Innerhalb von zehn, fünfzehn Jahren wurden sie verdoppelt. Scholz: Ja, 1965 hatten 4% der deutschen Abiturienten studiert, Anfang der 90er Jahre waren es bereits fast 25%. Ich kritisiere das nicht, nur muß man sehr klar wissen, was man getan hat. Man hat die Massenuniversität geschaffen. Natürlich auch auf der Grundidee der universitas, der Einheit von Forschung und Lehre, muß die Universität etwas im - wohl verstandenen Sinne - Elitäres behalten, wenn sie leistungsfähig sein soll. Wir haben diese elitäre Aufgabenstellungen, diese elitäre Komponente zu einer dann nivellierenden, egalitären Ausrichtung gemacht. Dafür mag viel sprechen, daß wir z. B. mehr Akademiker brauchen. Dafür mag sprechen, daß die Universitäten immer stärker auch in ihrer Rolle als Ausbildungsanstalt zu verstehen sind. Das ist alles ganz richtig. Nur muß man dann natürlich den Weg mitgehen, daß man die Universitäten auch entsprechend organisch weiter ausbaut. Ein organischer Ausbau hat großenteils nicht stattgefunden. Man hat hektisch aufgeblasen, man hat mitunter auch das Leistungsprinzip etwas vernachlässigt - auch im Zuge jener politischen Vorstellungen von sogenannter Demokratisierung: alles das sind schwere institutionelle Belastungen für die Universität geworden. Die Universitäten haben sich aber erholt, und ich bin der Meinung, daß die deutschen Universitäten inzwischen wieder ein gutes Leistungsniveau haben - im übrigen von den Professoren bis zu den Studenten und dem wissenschaftlichen Nachwuchs, da habe ich keine Zweifel. Die neuerliche Debatte ist eigentlich eine, die diese Defizite im finanziellen Bereich, in der Ausstattung aufnimmt - und da ist sicherlich manches berechtigt daran -, aber ich hoffe, daß man nicht die Fehler macht, die man damals gemacht hat, und daß wir nicht wieder in diese desaströse, falsche Politik verfallen. Siebeck: Aber sind die Hochschulen unterfinanziert? Eigentlich müßte sich der Staat doch um die Hochschulen kümmern? Scholz: Natürlich brauchen die Universitäten mehr Mittel, daran besteht gar kein Zweifel. Aber ich sage auch ganz offen, daß wir heute ein Grundverständnis dafür haben, daß ein Studium zum Nulltarif geboten werden muß. Das ist nun die politisch auch wieder heiß umstrittene Frage nach Studiengebühren. Ich will ganz offen sagen, ich bin der Meinung, daß Studiengebühren Sinn machen. Natürlich kann ich von Studiengebühren allein die Universitäten nicht finanzieren, aber mit Studiengebühren schaffe ich erst einmal Anreize, schneller zu studieren. Damit komme ich vom Ewig- Studenten, von denen wir viel zu viele haben, weg. Es wird auch deutlicher, daß ein Universitätsstudium nicht etwas ist, das man gleichsam zum Nulltarif bekommt. Natürlich muß man soziale Chancengleichheit wahren, das gehört dazu. Aber wenn ich einen jungen Menschen habe, der sich das wirtschaftlich leisten kann, und die Eltern bereit sind, ein Studium zu bezahlen, dann verstehe ich nicht, warum das zum Nulltarif sein muß, warum genau genommen der Arbeitnehmer, der nicht studiert, der nicht studieren kann, warum der von seinen Steuern dieses Studium bezahlen muß. Siebeck: Der Student wird einmal sogar ein höheres Einkommen haben als der Arbeiter. Scholz: Genau. Obwohl damit gleichzeitig die Garantie für ein höheres Einkommen später gegeben ist. Das verstehe ich, offen gestanden, nicht. Es gibt ja durchaus intelligente Lösungen, die man im Ausland heute antrifft, von Australien bis Großbritannien, Frankreich, wo immer Sie hinschauen. Man kann mit sehr vernünftigen Darlehenslösungen vieles vernünftig regeln. Das Bundesverfassungsgericht hat vor wenigen Tagen entschieden, daß im Rahmen des BAföG selbstverständlich auch Darlehenslösungen verfassungsmäßig sind, und zwar Volldarlehenslösungen. All das zeigt schon, daß man zum Wohle der Universitäten und nicht zum Schaden der Studenten auch finanziell manches viel vernünftiger machen kann. Siebeck: Aber dennoch scheint es, als ob sich die Politiker an das Thema Studiengebühren nicht herantrauen. Scholz: Na ja, es ist umstritten. Es gibt quer durch die Parteien Meinungen, die für die Studiengebühren eintreten. Ich nenne einmal aus der mir konträren politischen Richtung der Sozialdemokratie - früher Wissenschaftssenator in Berlin, heute Rektor an der Universität in Erfurt -, der, wie ich finde, mit ganz überzeugenden Argumenten für Studiengebühren eintritt. Siebeck: Die es ja in Berlin bereits gibt. Scholz: Nein, in Berlin überlegt man sich jetzt, ob man sozusagen eine Art Immatrikulationsgebühr erhebt. Das ist vielleicht ein Kompromiß, das mag sein. Aber ich finde, wir müssen ganz grundsätzlich etwas begreifen - und das macht sich an der Studiengebührenfrage fest: Ist das Hochschulstudium etwas, das unser Staat, unser Gemeinwesen als eine soziale Leistung im Grunde jedermann schuldet? Oder ist es nicht vielmehr so, daß ein Sozialstaat, der ja vielfältig an die Grenzen seiner Kapazität gelangt ist, in einem solchen Bereich, in dem jungen Menschen mit Recht besondere Chancen eröffnet werden, nicht auch einen Eigenbeitrag - man könnte sagen einen solidarischen Eigenbeitrag - verlangen kann? Siebeck: Sie sprachen von der Universität als Eliteeinrichtung. Bedauern Sie, daß wir sehr, sehr wenige private Universitäten in Deutschland haben? Scholz: Ja, ich finde schon, daß man hier mehr private Universitäten haben sollte. Wobei ich auf der anderen Seite allerdings nicht die Meinung jener teile, daß unser öffentlich-rechtliches, unser staatliches Universitätssystem etwas ist, das man verabschieden sollte, und daß man etwa dem amerikanischen Vorbild der reinen Privatuniversität folgen sollte. Unser Universitätssystem hat sich ja wirklich über lange, lange Zeiten sehr bewährt. Es ist vielfältig das Vorbild für andere Länder geworden ist, von Japan über Korea, wo immer Sie hinschauen. Das Bild, das von amerikanischen Universitäten bei uns gezeichnet wird, ist sehr unvollständig. Es gibt besondere Eliteuniversitäten, das ist richtig, und diese Eliteuniversitäten haben einen hohen Rang. Allerdings arbeiten sie in der Tat auch kommerziell, das muß man sehr klar sehen. Sie haben eine eindeutige Festlegung, sie haben das Recht - fast die Pflicht könnte man sagen - elitär zu sein und sie können sich ihre Studenten aussuchen. Das muß man auch sehen, das ist bei uns nicht denkbar, jedenfalls nicht in einer verallgemeinerten Form. Das ist ein ganz anderes System, aber wenn man die Systeme einmal miteinander vergleicht - man sagt ja auch, in der Forschung seien unsere Universitäten teilweise nicht mehr leistungsfähig -, ist das einfach nicht wahr. Unsere Universitäten sind in der Grundlagenforschung nach wie vor hervorragend, das sagt man auch in den USA. Denn die privatwirtschaftlich betriebenen, die kommerziellen Privatuniversitäten in den USA arbeiten natürlich nicht in der Grundlagenforschung, sondern sie arbeiten vor allem in der angewandten Forschung, dort wo im Grunde hinterher auf Heller und Pfennig abgerechnet wird, was es gebracht hat. Grundlagenforschung ist meist monetär nicht meßbar. Aber der Fehler der amerikanischen Forschungspolitik ist gerade der - das ist übrigens der einzige, den sie haben, sonst sind sie großartig in dem, was sie leisten -, daß sie eine zu schmale Basis in der Grundlagenforschung und in einer entsprechenden Ausbildung haben. Da schauen sie im übrigen auf unsere Universitäten und auf Einrichtungen, die den Universitäten verbunden sind, wie z.B. die Max- Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Das heißt, wir brauchen uns nicht zu verstecken, das ist keineswegs berechtigt. Siebeck: Kann man sagen - was die Universitäten angeht -, daß wir in der Breite sehr, sehr gut sind, daß uns aber die Spitze fehlt, jetzt nicht in der Forschung, sondern ganz allgemein? Scholz: Natürlich. Wir haben mit der sogenannten Massenuniversität, auch mit dem wachsenden Maß an Verschulung des Universitätsbetriebs, natürlich sehr in die Breite gearbeitet, und das hat auch nivellierende Konsequenzen gehabt. Darunter leidet die Spitze, das ist richtig. Siebeck: Die Fachhochschulen sind ja immer mehr ein wichtiger Bestandteil des deutschen Hochschulsystems geworden. Sollten sie noch mehr ausgebaut werden? Scholz: Ich glaube schon, daß man die Fachschulen intensivieren sollte. Nur, auch da haben wir meiner Meinung nach viele Fehler gemacht. Die erste Forderung, die aus den Fachhochschulen kam lautete: Sie müssen mit den Universitäten gleichgestellt werden. Wir hatten früher Polytechniker, die ja Hervorragendes in der Ingenieurausbildung geleistet haben, sie haben aber nicht zum Abschluß Diplomingenieur geführt. Dann ging es plötzlich darum, daß alles nachdiplomiert werden mußte. Auch da haben wir das Leistungsprinzip zu sehr über Bord geworfen. Und vor allem, ein Bildungssystem, ein Hochschulsystem insgesamt, muß differenziert sein, wir haben die Differenzierung aber immer wieder vernachlässigt. Dahin müssen wir wieder zurückkommen, dann werden wir auch wieder in der Spitze hervorragende Leistungen bringen. Siebeck: Jetzt wird ja immerhin gefordert, daß zwischen den Hochschulen mehr Wettbewerb herrschen sollte. Sie sprachen vorhin an, daß die amerikanischen Universitäten, auch die Universitäten in anderen Ländern, sich zum großen Teil ihre Studenten selbst aussuchen können. Wäre das nicht ein ganz wichtiger Weg, um den Wettbewerb zu stärken? Oder geht das aus rechtlichen Gründen nicht, da gibt es ja ein BVG-Urteil? Scholz: Man muß natürlich zunächst einmal sehen, daß wir im Grunde ein Verfassungsrecht auf Hochschulbildung haben, daß das Bundesverfassungsgericht im Nummerus Clausus-Urteil aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit, der Ausbildungsfreiheit abgeleitet hat. Ob das alles überzeugend und richtig ist, will ich nicht hinterfragen, aber mit Sicherheit ist vor diesem Hintergrund eine Lösung in dieser Richtung nicht denkbar. Aber gerade deshalb, denke ich, wenn wir ein duales System, ein verstärkt duales System der Universitäten bekämen, hier die staatlichen Universitäten und da die privatwirtschaftlich betriebenen Universitäten - da müssen wir natürlich auch Leistungsanreize schaffen für die Industrie und für die Wirtschaft, sich dort zu engagieren -, dann würden wir viele Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir hätten mehr Vielfalt, wir hätten mehr Wettbewerb, und Wettbewerb führt zu mehr Leistung. Wir hätten im übrigen auch mehr Möglichkeiten in der angewandten Forschung, gerade über privatwirtschaftlich betriebene Forschungseinrichtungen und Universitäten sehr viel mehr zu leisten und durchaus das aufzunehmen, was in den USA erfolgreich ist. In der Richtung kann man sehr, sehr viel lernen. Und ich finde - wenn man mal den Blick ins Ausland wendet -, wir sollten, was viele bei uns nicht tun oder zu wenige tun, auch den Blick nach England wenden. Die englischen Universitäten sind in Deutschland meist belächelt worden. Man hat zwar gesagt, Oxford und Cambridge, das sind phantastische Institutionen, aber die Hochschulausbildung der Briten hat man bei uns mehr belächelt, weil die Hochschulausbildung in Großbritannien nicht so beschaffen ist, daß sie den bereits mehr oder weniger hoch kompetenten, fachlich sehr versierten Spezialisten heranzieht. In England legt man mehr Wert auf den Generalisten. Das ist bei uns belächelt worden, aber inzwischen zeigt sich sehr deutlich, daß wir in einer Wissensgesellschaft, in einer Gesellschaft leben, in der sich mit einer unglaublichen Dynamik von Tag zu Tag, vor allem in naturwissenschaftlichen Bereichen, immer wieder neues Wissen entwickelt. Es kann daher heute nicht mehr darauf ankommen - im Ausbildungsideal -, den hoch kompetenten Fachspezialisten in der Universität auszubilden, sondern denjenigen, der methodisch und auch kommunikativ so ausgebildet ist, daß er lernfähig bleibt. Das heißt, daß er auch immer wieder in die Lage versetzt wird, sich neues Wissen anzueignen - das ist der Generalist. Und das ist im Grunde das Bildungsideal der englischen Universitäten. Es ist sehr interessant, wenn man etwa einmal in europäische Institutionen - in Brüssel etwa - reinschaut, wie hier plötzlich Großbritannien hoch kompetente Leute schickt, die durch dieses Bildungssystem gegangen sind und die vielfältig dem, ich möchte einmal sagen allzu einseitigen, allzu frühen zum Spezialisten erzogenen deutschen Akademiker überlegen sind. Siebeck: Unser Ideal in der Hochschulbildung lag ja in der Humboldtschen Universität. Ist dieses Ideal von Einsamkeit und Freiheit etwa bei einem Professor der Betriebswirtschaftslehre noch aufrechtzuerhalten? Scholz: Ja, natürlich. Was heißt Einsamkeit? Einsamkeit und Freiheit bedeutet, daß jeder der wissenschaftlichen Erkenntnissuche, man kann auch sagen der Wahrheitssuche, verpflichtet ist. Freiheit heißt, dies muß in Unabhängigkeit geschehen. Ich denke, das gilt heute genauso, wie das seinerzeit Humboldt formuliert hat. Wenn Sie jetzt einen Betriebswirt nehmen, natürlich braucht der auch ein hohes Maß an Praxisbezug, aber das ist eine Frage, wie er seine Materie, wie er seine wissenschaftlichen Erkenntnisziele bearbeitet. Natürlich braucht man die Empirie, gerade in solchen sehr angewandten Fächern in der Wissenschaft, aber das sollte in Einsamkeit und Freiheit geschehen. Siebeck: Sie sind jetzt über dreißig Jahre Hochschullehrer. Haben sich in dieser Zeit die Studenten verändert, gibt es andere Einstellungen und Werte? Scholz: Ja, mit Sicherheit. Man kann ja auch sagen, die Generationssprünge werden zeitlich immer schneller. Man kann fast sagen, alle fünf Jahre, maximal alle zehn Jahre wechseln die Generationen und sind teilweise ganz anders als die vorangegangenen. Natürlich, die erste Generation ist die, über die wir zu Beginn sprachen, die sogenannte kritische Generation, die vielfältig verführt worden ist. Aber z. B. die heutige Generation ist schon eine ganz, ganz andere. Sie ist nicht unkritisch, aber sie ist sehr nüchtern, sehr leistungsbezogen, eigentlich eine faszinierende Generation, jedenfalls für einen Hochschullehrer, wenn man mit einer solchen Generation im Hörsaal zu tun hat. Das wechselt immer wieder, und das macht das auch für den Hochschullehrer unglaublich spannend. Siebeck: Sie sind 1981 ja in Berlin Senator für Justiz geworden. Warum gingen Sie in die Politik, noch dazu als Parteiloser? Scholz: Ja, das war ein Zufall, das muß ich schlicht sagen. Ich hatte ja vorhin gesagt, daß ich in Berlin in der Hochschulpolitik sehr verhaftet war - in den schwierigen Auseinandersetzungen damals -, und ich habe mich gefreut, daß ich dann an der relativ ruhigen Ludwig-Maximilians-Universität in München wieder am Schreibtisch bei meinen Büchern saß. Dann kam 1981 der Anruf von Richard von Weizsäcker, er bildet gerade einen Senat in Berlin und brauchte noch einen alten Berliner. Ich war ein alter Berliner und bin das aus Überzeugung auch bis heute noch immer geblieben. Er fragte, ob ich da mitmachen wollte. Ich war erst sehr skeptisch, nicht zuletzt auch deshalb, weil Professoren es in der Politik mitunter besonders schwer haben. Und dann habe ich mich doch dazu entschlossen, da war ich so ein bißchen am Portepee gepackt: Berlin war damals in einer schwierigen Lage. Und dann habe ich das gerne gemacht und das hat mir auch Spaß gemacht. Siebeck: Sie wurden damals als Justizsenator vor allem mit dem Problem der Hausbesetzungen konfrontiert. Sie erklärten damals, Sie würden Rechtspolitik an erster Stelle als Rechtsstaatspolitik verstehen. Können Sie uns das erläutern? Scholz: Ja, der Rechtsstaat ist das Grundprinzip aller Rechts- und Innenpolitik. Rechtsstaatlichkeit heißt aus der Sicht des Bürgers - und ist damit auch die vorrangige Aufgabe der Politik - Rechtssicherheit für den Bürger. Das, was damals im Zuge dieser Hausbesetzerbewegung, an Szenario rings herum, stattfand, das waren teilweise rechtsfreie Räume, die da entstanden sind, die auch ideologisch verbrämt wurden. Darauf muß man eine klare Antwort geben, darauf hat der Bürger ein Recht. In dem Sinne ist in der Tat jede verantwortliche Sicherheitspolitik und Justizpolitik eine Rechtsstaatspolitik. Sie ist verfassungsrechtlich gebunden, sie ist verfassungsrechtlichen Grundwerten verpflichtet. Aber der Hauptgrundwert heißt in diesem Fall Bekämpfung von Kriminalität und Rechtssicherheit für den Bürger. Siebeck: Sie galten damals als Hardliner. Hat Sie das gestört? Scholz: Nein, das stört mich überhaupt nicht. Ich bin lieber ein Hardliner als das Gegenteil. Siebeck: Sie waren vor und nach der Wiedervereinigung einer der engsten Berater von . Haben wir den Freudentaumel der Wiedervereinigung gut genutzt? Wie sehen Sie denn die Lage der geeinten Nation? Scholz: Ich finde die Lage der geeinten Nation ist viel, viel besser als wiederum heute manche behaupten. Man muß sich einmal überlegen, hier ist eine Nation 40 Jahre geteilt gewesen, 40 Jahre haben sich die Menschen zwangsläufig auseinander gelebt. Dann kommt diese Wiedervereinigung - ein einmaliger Glücksfall in unserer Geschichte - von heute auf morgen: Sie kommt über Nacht, das kann man sagen. Wenn man heute durch unser Land geht, dann können Sie die Menschen nicht mehr unterscheiden - wie sie denken, wie sie sprechen, wie sie sich kleiden, wie sie ihre Interessen artikulieren. Die Einheit der Nation hat gehalten oder sie ist ganz schnell wieder zusammengewachsen. Natürlich gibt es wirtschaftliche Probleme, es gibt auch große psychologische Probleme, vor allem in einer Generation in den neuen Bundesländern, deren Leben ja buchstäblich gestohlen worden ist. Das Leben gestohlen! Ich denke hier vor allem an die Rentner, das ist eine Generation, die zweimal um ihr Leben betrogen worden ist, zweimal Diktatur, Krieg. Dann kommt endlich Freiheit, dann kommt Demokratie, dann kommt endlich eine soziale Marktwirtschaft mit all ihren großen Möglichkeiten, Wohlstand zu schaffen, und dann ist das Leben eigentlich vorbei. Man muß natürlich auch an die Generation derer denken, die heute etwa um die 50 Jahre alt sind, die im Zuge der wirtschaftlichen Umbrüche arbeitslos geworden sind. Da sind viele schwere Schicksale dabei - auch Schicksale, die für die Menschen nicht so leicht zu begreifen sind. Und trotzdem finde ich es faszinierend, daß auch die Menschen, die auf der Schattenseite stehen, trotzdem sagen, diese Wiedervereinigung wollten wir und wir wollen sie auch jeden Tag wieder haben, wenn das wieder zur Debatte stünde. Was da teilweise als sogenannte Ostalgie gefahren wird - eine Welle auf der etwa die Epigonen der SED, die PDS, fahren -, das ist etwas, das eindeutig am Absterben ist. Bei jungen Menschen ist das ganz deutlich. Die jungen Menschen können Sie überhaupt nicht mehr unterscheiden. Und das spüre ich in meiner Heimatstadt Berlin besonders. Wenn Sie mit jungen Menschen in einem östlichen und mit jungen Menschen in einem westlichen Bezirk zusammen sind - ich kann Ihnen heute nicht mehr sagen, wo der Betreffende herkommt. Das finde ich, ist das Wichtigste. Siebeck: Trotz der Wiedervereinigung - ist es nicht so, daß wir Deutschen doch ein etwas gebrochenes Verhältnis zu uns selbst haben? Ist es nicht so, daß sich unser Patriotismus, wenn man es überspitzt formuliert, auf die D-Mark beschränkt - und die haben wir ja nun bald auch nicht mehr? Scholz: Da ist natürlich etwas dran. Das hängt ein bißchen damit zusammen, wie die Identität und die Identifikation mit dem Gemeinwesen sich ausdrückt. Damit haben wir Deutschen uns immer schwer getan. Wir sind im Unterschied zu unseren Nachbarländern sehr spät erst zum Nationalstaat geworden, am Ende des vergangenen Jahrhunderts. Wir haben dann die beiden Weltkriege erlebt, die wir, vor allem den zweiten, entscheidend zu verantworten hatten. Damit wurde auch - vor allem im Zweiten Weltkrieg, im Nationalsozialismus - die Idee des Staates diskreditiert, die Idee eines Staates, der eben auch wesentlich ein Stück organisierter Gemeinschaft der Bürger bedeutet und der damit Identität stiftet. Und das Gleiche haben wir dann noch einmal erlebt mit der SED-Diktatur in Ostdeutschland. Wir hatten dann in der alten Bundesrepublik in den Jahren der Teilung eine Debatte - wenn Sie sich einmal erinnern -, die vor allem Ende er 70er Jahre aufbrach, in der man gefragt hat, was die Identität der Bundesrepublik ausmacht. Ich habe diese Debatte immer sehr kritisch gesehen. Ich habe immer gesagt, wenn wir eine eigenständige Identität der Bundesrepublik entdecken, dann verabschieden wir uns von der Idee der Einheit der Nation. Das durfte nicht passieren. Aber trotzdem, es wurde immer stärker auch als defizitär empfunden, daß wir eigentlich eine geteilte, eben eine Rumpf-Nation waren und daß dadurch auch unser Staat, unsere Staatlichkeit ein Provisorium war, ein Provisorium bis zur Wiedervereinigung. Nun haben wir seit 1990 unsere volle Souveränität, wir haben unsere Einheit, wir haben alle Voraussetzungen - eine gewachsene, eine selbstverständlich gewordene, gefestigte, stabil gewordene Demokratie -, um damit auch eine staatliche Identifikation zu schaffen. Aber das ist eben noch nicht lange her, das ist ja noch nicht einmal zehn Jahre her. Wenn ich einmal als Vergleich an 1919 zurückdenke - nehmen wir 1999, also den Ausgang dieses Jahrhunderts, und denken einmal zurück an 1918/19: Zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert haben wir die Möglichkeit, uns in einem geeinten Land in einem demokratischen Gemeinwesen zusammenzufinden und auch ein Stück, im guten Sinne des Wortes, gemeinsamer kulturnationaler Überzeugung und Identität zu finden. Ich denke, diesmal klappt es. Aber es hat lange gedauert. Siebeck: Kommen wir wieder zurück zu Ihren Lebensstationen. Zur Überraschung vieler hat Helmut Kohl Sie als Bundesverteidigungsminister ins Kabinett berufen. Warum haben Sie dieses Amt angenommen? Das war ja ein Schleudersitz. Scholz: Ja, das hat mich aber nicht geschreckt. Helmut Kohl hat mich sehr früh, viele, viele Monate bevor ich das Amt dann antrat, gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dies zu machen. Er sagte, er würde gerne jemanden haben, der bereit wäre, unabhängig und auch einmal unbefangen mögliche neue Konzeptionen in der Sicherheitspolitik zu entwickeln. Das habe ich mir lange überlegt. Ich habe viele Monate Bedenkzeit gehabt, und ich habe mich damals intensiv, man könnte sagen, im stillen Studierstübchen mit Sicherheitspolitik befaßt. Diese Thematik hat mich schon sehr fasziniert. Dann habe ich eben ja gesagt. Ich habe die Zeit auf der Hardthöhe, die ja eine sehr kurze war, in einer sehr, sehr guten - auch persönlich für mich -, in einer sehr dankbaren Erinnerung: Ich habe noch nie in meinem Leben so viel gelernt, auch im Umgang mit Menschen, mit Soldaten. Das ist ja auch eine faszinierende Aufgabe und das habe ich gerne gemacht. Siebeck: Elf Monate waren Sie Verteidigungsminister, dann mußten Sie die Hardthöhe verlassen. Woran lag das? Hatte der Professor Rupert Scholz keine Hausmacht, keine politische Hausmacht? Scholz: Ach, das liegt beim Betrachter. Nein, der Grund war ein sehr einfacher. Damals hat Helmut Kohl das Kabinett umgebildet, nach dem Tod von Franz Josef Strauß. war Parteivorsitzender der CSU geworden und sollte ins Kabinett berufen werden. Ich glaube, daß das damals eine sehr richtige und wichtige Entscheidung war. Das bedeutete, daß Theo Waigel Finanzminister wurde - und er ist ja bis heute ein erfolgreicher Finanzminister. Damit verlor aber ein sehr verdienter Mann, , sein Amt. Da war das dann letztlich eine sehr klare Geschichte für Helmut Kohl, da mußte eben der Jüngere gehen, und Helmut Kohl hat damals Gerhard Stoltenberg zum Verteidigungsminister gemacht. Das war damals für mich überraschend, und ein bißchen weh getan hat das auch, da mache ich kein Hehl daraus. Aber es war absolut einsehbar. Das muß man akzeptieren. Man hat in der Politik nie ein Recht auf ein Amt, ein Amt wird einem verliehen, das ist eine Ehre, eine Herausforderung, das ist manchmal schwer - das war auch ein schweres Amt, aber gerade auch deshalb ein schönes Amt -, aber ich habe keinen Anspruch auf ein solches Amt. Wenn die Verhältnisse anders sind, dann sind sie anders, das muß man akzeptieren. Siebeck: Wie haben Sie denn dann in die Politik zurückgefunden? Scholz: Ich wollte eigentlich immer nur auf Zeit in der Politik bleiben, muß ich gestehen. Ich hatte mir einmal vorgenommen, als ich 1981 im Berliner Senat anfing, daß es acht Jahre werden sollten. Das Witzige daran ist, als ich dann 1989 für mich sehr plötzlich als Verteidigungsminister abgelöst wurde, waren genau acht Jahre vergangen. Da habe ich gedacht, das ist ja doch irgendwie eine gute Schicksalsfügung. Helmut Kohl hat damals immer darauf gedrängt, daß ich in der Politik bleibe oder wiederkomme. Aber ich habe dann einen anderen Entschluß gefaßt, und ich hatte mich dann auch auf meinem Lehrstuhl in München buchstäblich wieder bestens eingerichtet. Dann kam allerdings 1989 die große Entwicklung in Deutschland. Die Deutschlandpolitik war mir überhaupt in meiner gesamten politischen Tätigkeit immer das Wichtigste. Das war auch ein Stück des Berliners, der in der geteilten Stadt gelebt hat. Die Deutschlandpolitik hat mich von Anfang an sehr mit dem Bundeskanzler verbunden. So hatte ich, was ich für mich als ein außerordentlich glückliches Moment in meinem Leben empfinde, die Gelegenheit, bei diesen Entwicklungen - auch beim Zehn-Punkte Programm, das Helmut Kohl dann im November 1989 vorstellte und das ja den Impetus für die Einheit brachte, national wie international -, an diesen Dingen etwas mitwirken zu können. Ich erinnere mich noch, wie Kohl mal zu mir sagte, jetzt kommst du aber in die Politik zurück, jetzt mußt du einfach zurückkommen. Und dann stand ein Traum für mich vor der Tür - ein gesamtdeutsches Parlament, ein gesamtdeutscher . Dann konnte ich auch nicht mehr nein sagen und dann habe ich 1990 kandidiert und nun bin ich immer noch im Bundestag. Siebeck: Sie haben sich immer wieder zu aktuellen politischen Fragen geäußert - zuletzt auch zum Bundesrat und haben ihn kritisiert. Kann oder muß der Bundesrat reformiert werden? Scholz: Ich glaube nicht, daß der Bundesrat als Bundesrat reformiert werden muß, aber unser Föderalismus ist in Unordnung gekommen. Das sind eine ganze Reihe von Kritikpunkten oder Reformerfordernissen. Es beginnt im übrigen mit der ungleichen finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeiten, der Finanzausgleich der Länder funktioniert nicht mehr. Das, was gerade aus Bayern und Baden-Württemberg heute geltend gemacht wird, ist meines Erachtens völlig begründet. Es kann nicht so sein, daß der eine spart und der andere nicht spart, aber im Ergebnis wird der, der nicht spart, subventioniert von dem, der spart. Ein lebendiger Föderalismus verlangt Staatlichkeit für die Länder, die zu wenige Gesetzgebungsbefugnisse haben. Schauen Sie mal in die Landtage hinein, so sehr Substantielles ist da nicht mehr. Das ist fast alles beim Bund gelandet. In der Verfassungsreform von 1994, in der gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, die ich damals zusammen mit dem Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau geleitet habe, haben wir uns bemüht, die Länder wieder stärker in die Gesetzgebung einzubinden. Das hat aber bis heute, obwohl wir Veränderungen im Grundgesetz vorgenommen haben, noch nicht gegriffen. Die Konsequenz ist, daß die Länder zunehmend - ich möchte einmal sagen - ihre politischen Ambitionen, ihre Initiativen, kompensatorisch über den Bundesrat auf die Bundesebene verlagern. Der Bundesrat ist deshalb inzwischen nicht mehr ein Länderorgan im Sinne eines Organs, das die Länderinteressen dem Bund - dem Bundestag - gegenüber wahrzunehmen hat, sondern er versteht sich im Grunde inzwischen als ein landespolitisch organisierter Ersatz- oder Nebenbundestag. Das ist nicht im Sinne der Intention des Grundgesetzes, aber die Gründe dafür sind ziemlich deutlich - so wie ich das eben genannt habe. Es kommt noch etwas hinzu: Der Bundesrat hat bestimmte Zuständigkeiten, die im Grundgesetz festgelegt sind, und das in einer ganz vernünftige Weise. Der Bundesrat hat mit Recht in bestimmten Fällen, bei denen Länderinteressen ganz originärer Art berührt sind, Zustimmungsvorbehalte - bei Finanzen z. B. und dann vor allem, wenn es um den Vollzug von Bundesgesetzen durch die Länder, um Verwaltungsorganisation und Verwaltungsverfahren der Länder geht. Das ist völlig korrekt. Ein rechtsprechendes Bundesverfassungsgericht hat daraus allerdings etwas gemacht, das nicht in Ordnung ist: Sie haben dem Bundesrat damit auch die Zustimmungsvorbehalte ganz extensiv auch für die materiellen Inhalte von Gesetzen gegeben. Obwohl das eigentlich reine Bundessache ist. Der Versuchung, jetzt auch massiv in die materiellen Regelungsinhalte beim Bundesrecht hineinzusteigen und Vetorechte geltend zu machen, dieser Versuchung ist der Bundesrat natürlich erlegen - das läßt sich machtpolitisch sehr leicht erklären. Mit anderen Worten, die Gewichte stimmen auch hier nicht mehr. Wenn man das im Zusammenhang sieht, dann muß man sagen, der Finanzausgleich muß repariert werden, es muß ein grundlegend neues System her. Bund und Länder müssen in ihren Finanzen auch entzerrt werden, diese Mischfinanzierungssysteme, die völlig intransparent geworden sind, müssen geändert werden. Der Bundesrat muß sich wieder auf das zurückziehen, was seine eigentlichen Zuständigkeiten gemäß Grundgesetz sind. Der Bundestag muß allerdings mehr Rücksicht darauf nehmen, in regionalen Belangen den Ländern für gesetzliche Regelungen den Vortritt zu lassen, dann wird der Föderalismus durch mehr Vielfalt, durch mehr Wettbewerb der Länder untereinander auch wieder vitaler. Und nicht zuletzt werden wir - aber das wird eine Frage von, ich rechne mal, 20 Jahren sein - die Frage der Neugliederung der Bundesländer zu stellen haben. Wir haben 16 so unterschiedliche Länder: Nordrhein-Westfalen z. B. hat so viele Einwohner, wie alle neuen Bundesländer zusammen. Wir haben diese kleinen Bundesländer wie Saarland und Bremen, die buchstäblich auch nur am Tropf der anderen Länder im Finanzausgleich bzw. des Bundes hängen. Wenn ich einmal sehe, daß wir vor dem Europa der Regionen im Rahmen der Europäischen Union stehen, die EU wird einen dreistufigen Aufbau haben, Regionen, Mitgliedsstaaten und Union. Wir haben mit unserem Föderalismus unter allen Mitgliedsstaaten der EU die besten Voraussetzungen für diesen dreistufigen Aufbau. Aber wir müssen in dem künftigen Wettbewerb europäischer Regionen unsere Regionen, d.h. unsere Länder, wettbewerbsfähig machen. Das kann nur bedeuten: Konzentration, also Neugliederung, Reduzierung auf zehn, zwölf Länder und nicht mehr. Siebeck: Eine Frage an den Staatsrechtler Professor Scholz: Immer wieder wird ja der Ruf nach mehr direkter Demokratie laut. Brauchen wir mehr plebiszitäre Elemente? Scholz: Nein. Ich bin der Meinung, daß das in dieser Form nicht gesagt werden kann. Eine pluralistische Demokratie - wir hatten das Stichwort vorhin schon einmal - lebt ganz entscheidend aus unendlich komplizierten Kompromißverfahren, die kann man nur im parlamentarischen Verfahren, also in der Gesetzgebung, realisieren. Das Plebiszit ist im Grunde primitiv in der Entscheidungsfähigkeit. Theodor Heuß hat es einmal auf eine sehr gute Formel gebracht: Er hat gesagt, ein Plebiszit entscheidet im Grunde schon der, der die abzustimmende Fragestellung formuliert. Das ist absolut richtig. Plebiszite polarisieren. Sie kennen nur ja, nein, schwarz oder weiß. Aus dem Grunde glaube ich, das Plebiszit macht keinen Sinn - jedenfalls nicht auf Bundesebene. Auf der Länderebene und vor allem auf der kommunalen Ebene ist das anders, weil die zu entscheidenden Fragestellungen überschaubarer, begrenzter sind. Aber auf der Bundesebene ein Plebiszit einzuführen, das halte ich für einen großen Fehler. Im übrigen, die Weimarer Republik lehrte das: Weimar hat die plebiszitären Komponenten massiv eingesetzt. Es hat zwar nicht viele Volksabstimmungen in Weimar gegeben, aber über dem Reichstag und dieser damals eben sehr, sehr schwachen parlamentarischen Demokratie hat sozusagen immer das Fallbeil des Plebiszits gestanden, sei es von links, sei es von rechts mobilisiert. Und das hat die Weimarer Demokratie grundlegend erschüttert und auch daraus kann man nur lernen. Siebeck: In Bayern sind ja die Bürgerbeteiligungen auf kommunaler Ebene ausgeweitet worden, jetzt ist sogar über ein Verfassungsorgan, den Bayerischen Senat, abgestimmt worden. Halten Sie das für sinnvoll? Scholz: Also, rechtlich geht das, zumindest nach der Bayerischen Verfassung geht das. Aber daß man über das Bestehenbleiben oder die Abschaffung eines Verfassungsorgans eine Volksabstimmung durchführt, das halte ich - wie gesagt, rechtlich kann man daran nichts kritisieren - politisch für problematisch. Institutionen, die eine Verfassung vorgeben, Institutionen, die auch auf einer gewissen Tradition beruhen, im Grunde auch auf einem Stück Identität dieses Freistaates Bayern, diese Institutionen im Wege einer Volksabstimmung abzuschaffen und zu fragen, ob man nun so und so viele Millionen spart oder nicht spart und deshalb ein Verfassungsorgan wie den Bayerischen Senat zu beseitigen - ich muß gestehen, ich halte das zumindest für politisch unklug. Siebeck: Eigentlich leben Sie in einem Dreieck, nämlich in Bonn, in München und in Berlin. Wo gefällt es Ihnen denn eigentlich am besten? Scholz: Also in Bonn bin ich im Bundestag, und das ist genug. Aber ich lebe begeistert in Berlin und in München. Ich bin geborener Berliner, aber ich habe es als einen besonderen Glücksfall in meinem Leben empfunden, daß ich in Berlin und in München leben kann, in zwei grundverschiedenen Städten, aber in den beiden für mich wichtigsten Metropolen in Deutschland. Und ich möchte nicht wählen müssen, sondern ich möchte beides weiter genießen dürfen. Und das mache ich mit großer Freude. Siebeck: Ich bedanke mich für das Gespräch, Professor Scholz. Das, meine Damen und Herren, war Professor Rupert Scholz bei Alpha-Forum. Ich bedanke mich für Ihr Interesse.

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