Chris Sharma »Klettern zeigt uns, wer wir sind.«

hris Sharma sitzt in der Gemein- debar des winzigen katalani- schen Dorfes Sant Llorenç de Montgai, wo der US-Amerikaner Cseit über vier Jahren ein kleines Haus be- sitzt. Von der Seeterrasse aus blickt man auf die Kulisse der für die nordspani- sche Region so ty­pischen Kalkwände. „Katalonien ist für mich zur Heimat ge- worden“, wird er während unseres Ge- sprächs mehrfach betonen. „Hier gibt es im Umkreis von 50 Kilometern zehnmal mehr harte Routen als in jedem anderen L a n d .“ Wäre das Wetter nicht so unsicher, wäre er an diesem Tag in die nahe Mon- trebei-Schlucht aufgebrochen, die mit spektakulär steilen, bis zu 600 Meter ho- hen Wänden bislang vor allem als Ziel für Techno-Kletterer bekannt war. In 15-tä- giger Arbeit hat er dort im tiefsten Win- ter eine Mehrseillängenroute (7c+ bis 9a) eingerichtet. Damit hatte er bereits be- gonnen, als er sich noch an seinem letz- ten harten Sportkletterprojekt, der mit 9b+ bewerteten „“ im kata- lanischen , versuchte. Die Route diente ihm sozusagen als Ausgleich zum oft nur von kleinen Erfolgen gekrönten Chris Sharma in „Los Detectivos“ (9a+) im Sektor La Piscinetta im oder gar von Rückschlägen gezeichne- katalanischen Rodellar, einem ten, sich über zwei Winter erstreckenden der besten Klettergebiete der

Welt mit vielen schweren Routen. Foto: Peter O'Donovan Arbeitsprozess in Oliana.

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»Klettern zeigt uns, wer wir sind.«

Chris Sharma hat die Sportkletterszene im letzten Jahrzehnt geprägt wie kein anderer.

Nach der Begehung von „La Dura Dura“ (9b+) hat er mit schweren Sportkletterprojekten

vorerst abgeschlossen und will sich Mehrseillängenrouten widmen.

Von Annika Müller

Der Durchstieg von „La Dura Dura“ im eine weitere Steigerung auf 9b gelang. Zu- in den letzten Jahren auf dasselbe Niveau März 2013 war der bisherige Höhepunkt letzt erreichte er mit „La Dura Dura“ (9b+) nachziehen und Sharma zuletzt, was die einer sensationellen Sportkletterkarriere, das bislang obere Ende der in vielen Län- Anzahl der erstbegangenen Routen in die im kalifornischen Santa Cruz begann. dern gültigen französischen Skala. den allerhöchsten Schwierigkeitsgraden Hier fand Chris Sharma im Alter von zwölf Er sei glücklich, sich selbst bewiesen betrifft, sogar überflügeln. Dass die bei- Jahren zum Klettern und gewann bereits zu haben, dass er noch Entwicklungspo- den im freundschaftlichen „Kampf der zwei Jahre später den ersten nationalen tenzial habe, erklärt Sharma, der die Generationen“ gemeinsam um die Erst- Boulder-Wettbewerb. Sharma verließ da­ Route vier Jahre zuvor selbst eingerich- begehung von „La Dura Dura“ rangen, raufhin die Schule und nahm nicht viel tet, sich aber nicht ernsthaft an ihr ver- ließ die Kletterwelt gebannt auf das Ge- später ein Leben aus dem Rucksack auf. sucht hatte. Er spricht leise, blickt sei- schehen an der stark nach vorne geneig- Die Erstbegehung von „Necessary Evil“ nem Gegenüber dabei aber immer offen ten, fünfzig Meter hohen Kalksteinwand (8c+ franz./5.14c) im Jahr 1997, der damals ins Gesicht. Seine Handbewegungen sind „Contrafort de Rumbau“ in Oliana bli- schwersten Sportkletterroute Nordameri- ruhig, kontrolliert eingesetzt. Gelegent- cken. Am Ende konnte Ondra „La Dura lich nimmt er einen Schluck Bier – drei Dura“ erstbegehen, eineinhalb Monate Flaschen werden es im Lauf des fast drei- später widerholte sie Sharma erfolgreich. Für Außenstehende scheint es, stündigen Gesprächs werden. Heute ist Sowohl für ihn als auch für Ondra war schließlich Ruhetag. Es erstaunt, dass es eine außergewöhnliche Situation gewe- als wäre Sharma immer im Sharma, der sowohl seinen zweiten Vor- sen, einmal nicht als Einzelkämpfer an ei- Reinen mit sich und der Welt. namen Omprakash als auch den Nach- nem schwierigen Projekt zu arbeiten. „Wir nahmen von einem buddhistischen Guru haben bis zuletzt viel voneinander ge- verliehen bekam und für den Meditation lernt“, erklärt Chris. „Wir haben eine ver- kas, ließ die Kletterszene auch auf der an- und Yoga ein wichtiger Bestandteil sei- gleichbare Körpergröße und Spannweite, deren Seite des Großen Teichs aufhor- nes Lebens sind, während des Gesprächs klettern aber völlig verschieden. Mit chen. Seither hat Sharma die Messlatte immer wieder von inneren Kämpfen und Adam zu klettern war perfekt.“ Und dann immer weiter nach oben verschoben. Zerrissenheit erzählt. Für Außenstehen- gesteht er ihn doch ein, den heimlichen Meilensteine waren „Biographie“/„Rea- de scheint es, als wäre Sharma immer im Wunsch, die Route vor Adam erstbegan- lization“ (9a+) im französischen Ceuse im Reinen mit sich selbst und der Welt. Er gen zu haben. „Natürlich will man bei Jahr 2001 und der Psicobloc „Es Pontas“ winkt ab: „Ich trete in dieselben psycho- solch einem Meilenstein-Projekt der Erste (9a/9a+) auf Mallorca. Es folgten unge- logischen Fallen wie jeder.“ sein. Ich glaube, das ist einfach mensch- zählte Begehungen in den Schwierigkeits- Sharma ist das unerreichte Vorbild ei- lich“, räumt er ein und beschwichtigt graden 9a und 9a+, bis Sharma mit „Jumbo ner ganzen Klettergeneration. Nur der gleich wieder: „Es war ein gemeinsamer Love“ am Clark Mountain im Jahr 2008 zwölf Jahre jüngere konnte Erfolg. Ich brauchte seine Motivation.“

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Chris Sharma geboren am 23.4.1981 in Santa Cruz in Kalifor­ nien, lebt seit 2007 in der Provinz , Katalo- nien, Nordspanien. Mit 12 Jahren begann er zu klettern und gewann bereits zwei Jahre später den ersten nationalen Boulder-Wettbewerb der USA. 1997 gelang ihm die Erstbegehung von „Necessary Evil“ (8c+ franz./5.14c), der damals [4] schwersten Sportkletterroute Nordamerikas. Meilensteine waren die Begehung von „Biogra­ phie“ bzw. „Realization“ (9a+) im französischen Schwierigkeitsgrade Ceuse im Jahr 2001 und der Psicobloc „Es Die im Text verwendeten französischen Pontas“ (9a/9a+) auf Mallorca. Es folgten Bewertungen entsprechen ungefähr folgenden ungezählte Begehungen in den Schwierigkeits­ UIAA-Schwierigkeitsgraden: graden 9a und 9a+, bis Sharma mit „Jumbo Love“ am Clark Mountain im Jahr 2008 eine weitere 7c  IX 8c  X+/XI- Steigerung auf 9b gelang. Diesen Schwierigkeits­ 7c+  IX+ 8c+  XI- grad kletterte Sharma seither fünf Mal. Zuletzt 8a  IX+/X- 9a  XI erreichte er mit „La Dura Dura“ (9b+) im nord- 8a+  X- 9a+  XI+ spanischen Oliana das derzeitige obere Ende der 8b  X 9b  XI+/XII- in vielen Ländern gültigen französischen Skala. 8b+  X+ 9b+  XII-

Denn nicht nur was das Technische an- und immer wieder neuen Wänden genug. gen seiner Gewohnheit trainierte er sys- betrifft, auch in Hinblick auf die Heran- Um sich nicht in einem „schwarzen Loch“ tematisch, um noch athletischer zu wer- gehensweise an eine psychologisch so an Projekten zu verlieren, hatte er sich den und bewusst seinen Kletterstil zu schwierige Aufgabe konnte Sharma Ond- 2012 einen „Bohrstopp“ auferlegt und die ändern. Ein großer Verzicht für einen, der ra einiges abschauen. „Ich fand es beein- Entscheidung getroffen, die Wintersaison es gewohnt ist, spontan zu sein und nur druckend zu sehen, wie engagiert und fo- ganz der „Dura Dura“ zu widmen – wenn seiner Neigung zu folgen. kussiert Adam ist“, sagt er mit aufrichtiger er auch zur Motivation die eine oder an- Für den bescheidenen 32-Jährigen ist Bewunderung. Denn wenn der Punkt mit „La Dura Dura“ ein Zwischenziel er- kommt, an dem die Fortschritte minimal reicht, auf dem er sich erst einmal eine werden, wird es für ihn psychisch schwie- »Ich bin nicht bereit, weitere Weile ausruhen möchte. „Ich bin derzeit rig, dranzubleiben. „Ich langweile mich nicht bereit, weitere sechs Jahre meines schnell, weil man in so harten Routen sechs Jahre dem Erhöhen Lebens ausschließlich dem Erhöhen mei- nur einen einzigen wirklichen Versuch meines Limits zu widmen.« nes persönlichen Leistungslimits zu wid- am Tag machen kann, bevor man wieder men“, sagt er mit einer Bestimmtheit, die einen Ruhetag braucht.“ Und er unter- auf eine klare Entscheidung schließen liegt nicht selten der Versuchung, sich dere weitere Route anging – und dabei lässt. „Man muss noch stärker werden, abzulenken – Möglichkeiten hat er in sei- scheinbar ohne große Mühe „Stoking the noch mehr Ausdauer und Fitness haben, ner neuen Heimat mit den vielen Routen Fire“ (9b) in Santa Linya kletterte. Entge- und wird irgendwann zur totalen Ma-

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Chris in „First Round, First Minute“ (9b) in Margalef/Katalonien, eine nur 13 Meter lange Route, die es in sich hat [1]; ausgesetzt und mit ordentlich Tiefblick: „Mind Control“ (8c+) [2] in Oliana [3] – einem Gebiet mit wohl einzigartiger Dichte an ans und nach Malaysia, um dann noch den. Noch immer ist Chris Sharma also schweren Sportkletterrouten; Chris längere Zeit in den USA zu verbringen – auf der Suche nach den „King Lines“, den in Sheffield vor einer Diashow [4]; beim Zustieg in Rodellar [5]. diesmal nicht nur für Messen und Vorträ- ultimativen Routen. ge, sondern auch zum Klettern. „Kalifor- Daran, dass er unter steter Beobach- nien und Katalonien sind beide ein Teil tung durch die Medien steht und alle Bli- von mir“, sagt er mit tiefster Überzeu- cke auf sich zieht, sobald er in eine Route schine“, erläutert er, „das will ich nicht.“ gung. Auch wenn er lange über die Unter- einsteigt, hat sich Sharma gewöhnt. Aber Sharma schielt auch schon lange über schiede zwischen Spanien und den USA, es gab in seinem Leben Phasen, in denen den Sportkletter-Tellerrand hinaus und für ihn noch immer das Land der unend- es ihm sehr schwergefallen ist, das Klet- spielt seit einiger Zeit mit dem Gedan- lichen Möglichkeiten, sprechen kann. tern als sehr persönliches, fast spirituel- ken, seine Art des Kletterns auf eine hohe In den vergangenen Jahren erlebte man les Erleben mit seiner Bekanntheit unter Wand zu übertragen. „Es macht für mich einen Chris Sharma, der häuslich gewor- einen Hut zu bringen. „Natürlich übt die keinen Sinn, eine 8c an irgendeinem den war und immer wieder betonte, wie Anwesenheit einer Kamera einen zusätz-

Fotos: Peter O'Donovan (5), Annika Müller (1) Sportkletterfelsen zu begehen. Auf 200 wichtig es ihm sei, nach so vielen Jahren lichen Druck aus“, sagt er, „doch letztlich Meter Höhe wird das aber sehr spannend des Lebens aus dem Rucksack eine Hei- ist es mein Job. Wir wären gerne alle frei für mich.“ Was man sich vom Wandfuß vom kapitalistischen System, aber wir der „Paret d’Aragó“ im Montrebei aus gut können unsere Kletterschuhe nicht es- vorstellen kann. Blickt man nach oben, »Es ist gesund für mich, sen.“ Und wenn jemand durch sein Vor- dann ist die Steilheit der Felsen aus Kalk- bild zum Klettern findet und glücklich stein nahezu schwindelerregend. Ganz normale Dinge zu tun … viel- dabei ist, hat auch er das Gefühl, etwas oben sieht man Sharma und seinen Seil- leicht werde ich alt«, lacht er. für die Gesellschaft zu tun. partner, an diesem Tag ist es der Brite Und doch beobachtet er kritisch einen Tom Bolger, die Route ausprobieren. Mit Wandel in der Kletterwelt. Die zuneh- dem Montrebei hat Chris eine der mat gefunden zu haben. Man sah ihn mende Durchdringung des Sports durch schönsten Schluchten der katalanischen manchmal häufiger an seinem Haus bas- eine große Industrie helfe der Kletterelite Vorpyrenäen für sein „Multipitch“-Pro- teln als am Fels. Und die Routine – nicht nur, es schüre auch Frust, meint er. jekt gewählt, sich damit aber nicht nur abendliche Spaziergänge mit Hund Cha- „Hier in Spanien gibt es so viele starke Freunde gemacht: „Die Montrebei-Schlucht xi oder ein gelegentlicher Gang in die Kletterer, die niemand kennt und die sich ist ein überwältigend schöner Ort. Aber Dorfbar – sind ihm wichtiger geworden. ihre ganze Ausrüstung selber kaufen, es herrscht dort eine sehr strenge Big- „Es ist sehr gesund für mich, zu reno- während schwächere Kletterer gute wall-Kletterethik“, erklärt er. Einige der vieren und normale Dinge zu tun.“ In Ka- Sponsorenverträge haben.“ Wenn sich Bohrhaken wurden von Traditionalisten talonien scheint es ihm gelungen zu sein, Kletterer mehr und mehr nach dem wieder entfernt. eine Balance zu finden. „Vielleicht werde Sponsorenmarkt orientieren, gerät für Auch die alpinen Ziele reizen ihn – die ich alt“, fügt er lachend zu. Und doch Chris Sharma vor allem eines in Gefahr: „Wogü“ (8c) oder „Silbergeier“ (8b+) im reizt es ihn, sich wieder durch die Welt die Essenz des Kletterns. „Dabei zeigt es Rätikon würde er gern ausprobieren. Wei- treiben zu lassen. Der „Free Flow“ sei es, uns unterschiedliche Seiten von uns tere Traumziele für zukünftige Mehrseil- wonach er sich sehnt, spontaner zu wer- selbst und ist so eng damit verbunden, längenprojekte sind die Tepuis in Vene- den und sich spielerisch auszuprobieren, ­wer wir sind. Vor allem aber macht es zuela. „Als wir für den Film ‚King Lines‘ ohne sich in Projekte zu verbeißen. Das uns frei.“ auf dem Hochplateau boulderten, habe Deep-Water-Soloing, für ihn noch immer ich definitiv Lust auf mehr bekommen“, die reins­te Form des Kletterns, könnte Annika Müller studierte Ger- erinnert sich Sharma. Aber auch Marok- eine wichtige Rolle spielen. Dementspre- manistik­ und Journalistik in Hamburg. Die begeisterte ko und das Yosemite Valley ziehen ihn an. chend träumt er davon, eine weitere Bergsteigerin und Kletterin lebt wie Chris Sharma in der kata- Nur einige Wochen nach dem Gespräch Psico­bloc-Route wie „Es Pontas“ durch lanischen Provinz Lleida und bricht er auf in die australischen Grampi- roten mallorquinischen Kalkstein zu fin- arbeitet dort als freie Autorin.

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