Plenarprotokoll 17/63

Deutscher

Stenografischer Bericht

63. Sitzung

Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Inhalt:

Zur Geschäftsordnung ...... 6621 A e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Entwurfs eines Kernbrennstoffsteuerge- DIE GRÜNEN) ...... 6621 B setzes (KernbrStG) (CDU/CSU) ...... 6622 A (Drucksache 17/3054) ...... 6626 C Christian Lange (Backnang) f) Erste Beratung des von der Bundesregie- (SPD) ...... 6623 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Jörg van Essen (FDP) ...... 6624 A zes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes Dr. (Drucksache 17/3055) ...... 6626 C (DIE LINKE) ...... 6625 A

in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 25: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Zusatztagesordnungspunkt 8: der FDP: Energiekonzept umsetzen – Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Der Weg in das Zeitalter der Erneuer- Ingrid Arndt-Brauer, , weiterer baren Energien Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die (Drucksache 17/3050) ...... 6626 A Steinkohlevereinbarung gilt b) Erste Beratung des von den Fraktionen der (Drucksache 17/3043) ...... 6626 C CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Än- in Verbindung mit derung des Atomgesetzes (Drucksache 17/3051) ...... 6626 A c) Erste Beratung des von den Fraktionen der Zusatztagesordnungspunkt 9: CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes zur Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Änderung des Atomgesetzes Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, wei- (Drucksache 17/3052) ...... 6626 B terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für einen geordneten und sozial- d) Erste Beratung des von den Fraktionen der verträglichen Ausstieg aus dem subventio- CDU/CSU und der FDP eingebrachten nierten Steinkohlebergbau Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung (Drucksache 17/3044) ...... 6626 D eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ (EKFG) (Drucksache 17/3053) ...... 6626 B in Verbindung mit II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. , Freitag, den 1. Oktober 2010

Zusatztagesordnungspunkt 10: Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU ...... 6647 A Antrag der Abgeordneten , Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abge- Marco Bülow (SPD) ...... 6648 B ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... GRÜNEN: Energie 2050 – Sicher erneuer- 6649 D bar Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU) . . . 6652 A (Drucksache 17/3061) ...... 6626 D in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten , Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, wei- Zusatztagesordnungspunkt 11: terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rente ab 67 vollständig zurück- Antrag der Abgeordneten nehmen (Köln), , Hans-Josef Fell, wei- (Drucksache 17/2935) ...... terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 6653 D NIS 90/DIE GRÜNEN: Überprüfung der Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 6654 A Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzge- bungsverfahrens zur Verlängerung der Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 6656 A Laufzeiten von Atomkraftwerken Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 6657 B (Drucksache 17/3083) ...... 6627 A (SPD) ...... 6659 D in Verbindung mit Michael Schlecht (DIE LINKE) ...... 6660 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 6660 D Zusatztagesordnungspunkt 12: Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 6661 B Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- Energiekonzept für eine umweltschonende, NIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 6663 A zuverlässige und bezahlbare Energiever- Peter Weiß (Emmendingen) sorgung (CDU/CSU) ...... 6664 B und 10-Punkte-Sofortprogramm – Monitoring (CDU/CSU) ...... 6665 C und Zwischenbericht der Bundesregierung Anton Schaaf (SPD) ...... 6667 C (Drucksache 17/3049) ...... 6627 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 6668 C Rainer Brüderle, Bundesminister BMWi ...... 6627 B Sebastian Blumenthal (FDP) ...... 6670 B (SPD) ...... 6628 C Dr. (CDU/CSU) ...... 6671 B Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 6630 A Anton Schaaf (SPD) ...... 6672 C Ulrich Kelber (SPD) ...... 6632 A Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ...... 6673 A Dr. (SPD) ...... 6632 D Gabriele Molitor (FDP) ...... 6674 B Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 6633 C Anton Schaaf (SPD) ...... 6675 A Dr. (DIE LINKE) ...... 6634 A (CDU/CSU) ...... 6675 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 6637 A Tagesordnungspunkt 27: (FDP) ...... 6639 A Erste Beratung des von der Bundesregierung Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur DIE GRÜNEN) ...... 6640 C Restrukturierung und geordneten Abwick- lung von Kreditinstituten, zur Errichtung Michael Kauch (FDP) ...... 6641 B eines Restrukturierungsfonds für Kreditin- Rolf Hempelmann (SPD) ...... 6641 D stitute und zur Verlängerung der Verjäh- rungsfrist der aktienrechtlichen Organhaf- Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister tung (Restrukturierungsgesetz) BMU ...... 6643 A (Drucksache 17/3024) ...... 6676 D Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN) ...... 6646 B BMF ...... 6676 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 III

Manfred Zöllmer (SPD) ...... 6678 A Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 6697 A Björn Sänger (FDP) ...... 6680 A Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 6699 A Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 6681 A Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 6682 C Tagesordnungspunkt 29: (CDU/CSU) ...... 6684 A a) Antrag der Abgeordneten , Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs, Dr. (SPD) ...... 6685 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dauerauf- (FDP) ...... 6686 A gabe Demokratiestärkung – Die Aus- Elisabeth Winkelmeier-Becker einandersetzung mit rassistischen, anti- (CDU/CSU) ...... 6687 A semitischen und menschenfeindlichen Haltungen gesamtgesellschaftlich ange- (CDU/CSU) ...... 6688 A hen und die Förderprogramme des Bundes danach ausrichten (Drucksache 17/2482) ...... 6700 A Tagesordnungspunkt 28: b) Antrag der Abgeordneten , Jan Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer schusses für Arbeit und Soziales Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Auseinandersetzung mit – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Rechtsextremismus verstärken – Bun- Fairness in der Leiharbeit desprogramme gegen Rechtsextremis- – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta mus ausbauen und verstetigen Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus (Drucksache 17/3045) ...... 6700 A Ernst, weiterer Abgeordneter und der Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ Fraktion DIE LINKE: Lohndumping DIE GRÜNEN) ...... 6700 B verhindern – Leiharbeit strikt be- grenzen (CDU/CSU) ...... 6701 B Sönke Rix (SPD) ...... 6702 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Florian Bernschneider (FDP) ...... 6703 D , weiterer Abgeordneter Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 6704 D und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zeitarbeitsbranche regulie- Dr. (CDU/CSU) ...... 6706 A ren – Missbrauch bekämpfen (SPD) ...... 6707 A (Drucksachen 17/1155, 17/426, 17/551, 17/3082) 6689 B (CDU/CSU) ...... 6708 B Dr. , Parl. Staatssekretär BMAS ...... 6689 C Nächste Sitzung ...... 6709 C

Katja Mast (SPD) ...... 6690 D Berichtigung ...... 6709 B/D (FDP) ...... 6693 B (SPD) ...... 6694 B Anlage 1 (DIE LINKE) ...... 6694 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 6711 A Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 6695 C Anlage 2 (CDU/CSU) ...... 6696 C Amtliche Mitteilungen ...... 6712 A

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6621

(A) (C) Redetext

63. Sitzung

Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. : meinwesen gesprochen. In diesem Zusammenhang hat Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die von Sprachstörungen zwischen Regie- Sitzung ist eröffnet. renden und Regierten gesprochen. Sehen Sie sich vor dem Hintergrund dieser Aussagen die Lage in Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir an. Ich finde, wir hier im Deutschen Bundestag müssen einen Geschäftsordnungsantrag behandeln. Die Frak- uns mit dieser Situation beschäftigen. tion Bündnis 90/Die Grünen hat nach Ablauf der dafür in der Geschäftsordnung vorgesehenen Fristen einen An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, trag auf Erweiterung der heutigen Tagesordnung um eine bei der SPD und der LINKEN) vereinbarte Debatte oder hilfsweise um eine Aktuelle Es reicht nicht aus, zu sagen, das sei ein Thema in Stunde zu den Demonstrationen in Stuttgart gestellt. Stuttgart und Baden-Württemberg. Wir hier im Bundes- Der Erweiterungsantrag kann daher nur unter Abwei- tag sind Teil dieser Debatte. Der Bund gibt Geld für das chung von der Geschäftsordnung gemäß § 126 mit Projekt Stuttgart 21, ohne das dieses Projekt nicht reali- (B) Zweidrittelmehrheit beschlossen werden. siert werden könnte. Die Deutsche Bahn AG, für die das (D) Wer wünscht das Wort zur Geschäftsordnung? – Bitte Parlament die Mitverantwortung trägt, hat Verantwor- schön, Frau Haßelmann. tung für die Planung dieses Projekts. Nicht zuletzt hat die Kanzlerin bei der Einbringung des Haushalts Stuttgart 21 hier in diesem Parlament zum Thema ge- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): macht, als sie sagte, die Landtagswahl in Baden- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Württemberg sei die Abstimmung über das Projekt Kollegen! Seit gestern am späten Nachmittag und am Stuttgart 21. Abend muss den meisten Menschen klar sein, dass die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 absolut eskaliert. ( [SPD]: Hört! Hört!) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Das sind mindestens drei Gründe, die uns verpflichten, nicht länger wegzugucken und hier im Parlament die De- Es gibt Hunderte Verletzte, darunter Jugendliche und äl- batte über Stuttgart 21 und die Frage zu führen, welche tere Menschen. Lesen Sie die heutigen Zeitungen! Dort Wirkungen dies für unser Gemeinwesen hat. finden sich Überschriften wie: „CDU zielt auf die Mitte.“ – Deshalb überdenken Sie bitte einmal Ihre Em- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, pörung. bei der SPD und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Über den Polizeieinsatz, den unmittelbaren Zwang bei der SPD und der LINKEN) wird noch an geeigneter Stelle zu reden sein. Meinen Sie eigentlich Ihren Hinweis ernst, die Polizei habe so han- Es handelt sich bei den Verletzten um ganz normale deln müssen und was 14-Jährige überhaupt auf Demon- Menschen; das konnten Sie alle gestern in den Medien strationen machen würden? Gestern hörte ich gar das Ar- sehen. Die Lage vor Ort spitzt sich absolut zu. Es gibt gument, es handele sich nicht um eine genehmigte anscheinend überhaupt keine Ebene mehr, auf der man Demonstration. Meine Damen und Herren, in diesem miteinander reden könnte, weder in Stuttgart vor Ort Land muss man Demonstrationen nicht genehmigen las- noch auf der Landesebene in Baden-Württemberg. sen. Es ist noch nicht lange her, da haben wir hier und in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Öffentlichkeit mit Joachim Gauck einen interessan- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ten Diskurs über die Einmischung und Teilhabe von der SPD) Menschen, über das Stärken der Demokratie und den Einsatz und das Engagement der Menschen für ihr Ge- Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist. 6622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Britta Haßelmann (A) Das alles zeigt doch: So ist dieses Projekt nicht durch- Der Kollege Beck fand dann immerhin Zeit, gegenüber (C) zusetzen. Man hat doch das Gefühl, es gehe nach dem der Presse zu erklären, der Polizeieinsatz sei unverhält- Motto: Augen zu und durch. Das wird so nicht gehen, nismäßig. wenn man die Bilder der letzten Nacht gesehen hat. Des- halb müssen wir auch hier eine Debatte darüber führen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – welchen Beitrag der Deutsche Bundestag leisten kann, Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- um die völlig eskalierte Situation in Stuttgart zu befrie- NEN]: Da hat er ja recht!) den. Es geht jetzt doch darum, die Frage des Miteinan- – Ich komme darauf zurück. – Ihren Antrag haben wir derredens, die Frage, wie man zu einer befriedeten Situa- gestern um 20.44 Uhr bekommen, mehr als zweieinhalb tion kommen kann, auch in diesem Haus zu erörtern und Stunden nach Fristablauf. Meine Damen und Herren, wir hier seine Verantwortung wahrzunehmen. Deshalb ha- sind hilfreich, edel und gut; aber wir sind nicht dafür da, ben wir den Geschäftsordnungsantrag gestellt. Wir offensichtliches Organisationsversagen der Fraktions- möchten, dass Sie diese Debatte mit uns in Verantwor- und Parteiführung der Grünen zu kaschieren tung für die Zivilgesellschaft führen, in Verantwortung für das Gemeinwesen. Kommen Sie da nicht mit irgend- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: welchen Sprüchen, man müsse nicht auf solche Demon- Oh!) strationen gehen! und Ihnen dabei zu helfen, Ihre parteitaktisch motivier- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ten Ziele durchzusetzen. bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens. Wir sind ein föderales Land. Das Grundge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: setz kennt eine klare Ordnung von Zuständigkeiten, was Das Wort zur Geschäftsordnung hat jetzt der Kollege nichts darüber aussagt, wie wichtig eine Materie ist; aber Peter Altmaier von der CDU/CSU. es ist geregelt, ob Bund oder Land für etwas zuständig ist. Das, was Sie als Thema in Ihrem Antrag bezeichnen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nämlich die Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der Polizei, ist in allererster Linie eine Landeszuständigkeit. Peter Altmaier (CDU/CSU): Das schließt nicht aus, dass man darüber auch auf Bun- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und desebene diskutiert. Herren! Ich möchte zunächst einmal von dieser Stelle (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aus im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – und NEN]: Aha!) (B) ich denke, ich spreche für das ganze Haus – allen, die im (D) Laufe des gestrigen Tages und der heutigen Nacht ver- Aber es ist für uns eine Frage des demokratischen Res- letzt worden sind, pekts, dass wir zunächst dem gewählten Landtag von Baden-Württemberg Gelegenheit geben, (Zurufe von der LINKEN) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Genesungswünsche aussprechen. Das gilt für die De- NEN]: Wir geben doch Geld dafür aus!) monstranten, es gilt für Unbeteiligte, und es gilt aus- drücklich auch für die Polizistinnen und Polizisten, die sich mit dieser Frage zu beschäftigen, und dass wir die dort ihren Dienst tun und für Rechtsstaatlichkeit und De- Dinge nicht gleich zu uns auf die Bundesebene ziehen. mokratie kämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drittens; das ist für meine Kollegen und mich das ent- scheidende Argument. Ich habe mich schon gewundert, Herr Kollege Trittin, der Antrag von Bündnis 90/Die als ich heute Morgen im Tagesspiegel gelesen habe – er ist Grünen ist durchsichtig, er ist taktisch, und er ist vor al- immerhin ein paar Stunden vorher gedruckt worden –, der len Dingen politisch schädlich. Parlamentarische Geschäftsführer Volker Beck habe ges- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tern von einem unverhältnismäßigen Polizeieinsatz ge- NEN und bei der LINKEN) sprochen. – Hören Sie bitte genau zu. – Wir lehnen ihn insbeson- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- dere aus drei Gründen ab: NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Erstens. Die Geschäftsordnung dieses Hauses, die wir gemeinsam beschlossen haben, sieht vor, dass Änderun- Ich war gestern über weite Strecken mit dem Kollegen gen der Tagesordnung dem Präsidenten am Vortag bis Beck zusammen: bei einer Fernsehdiskussion, im Ältes- 18 Uhr vorzulegen sind. Die ersten Meldungen über die tenrat und bei anderen Gelegenheiten. Ich wundere Ereignisse in Stuttgart liefen gestern am frühen Nach- mich, wie der Kollege Beck über eine Entfernung von mittag über den Ticker. 700 Kilometer Luftlinie durch Inhalation von Agentur- meldungen feststellen kann, ob der Polizeieinsatz ver- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hältnismäßig war oder nicht. Das ist eine unverantwortli- NEN]: „Die CDU zielt auf die Mitte!“ Wir che Zuspitzung der Situation, und da machen wir nicht sind gerade wieder dabei!) mit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6623

Peter Altmaier (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einzige verbliebene Weg, aus der Eskalation herauszu- (C) kommen. Ich fordere deshalb CDU und FDP im Landtag Wir sind nicht bereit, ohne Kenntnis der Fakten, die auf, diesen Weg endlich freizumachen. uns eine seriöse und angemessene Auseinandersetzung mit dieser Thematik erlauben, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie haben sich falsch vorbereitet! Sie Es gibt natürlich immer eine Alternative im Leben, zu- haben geglaubt, dass Volker Beck hier spre- mal die Bahn eine Baugenehmigung hat und Stuttgart 21 chen wird!) durchprozessiert ist. Die Alternative zur Volksabstim- mung heißt: Augen zu und durch. Dafür hat sich Herr eine Debatte zu führen, die vor dem Hintergrund der Mappus entschieden, und deshalb trägt er die politische Umstände dazu beitragen wird, dass die Situation nicht Verantwortung für die Eskalation des Konflikts. deeskaliert, sondern eskaliert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Wir wollen nicht, dass diese Debatte mit Vorverurteilun- GRÜNEN – Joachim Poß [SPD]: Und Frau gen und Verdächtigungen geführt wird, weil Sie die Merkel!) Dinge durch eine parteipolitisch gefärbte Brille sehen Mir tun die Polizisten leid, auf deren Rücken diese und ein bestimmtes Ergebnis voraussetzen, ganz egal, Rambopolitik ausgetragen wird. wie die Abläufe vor Ort waren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Wir werden alles dafür tun, dass das Demonstrations- GRÜNEN) recht geschützt wird, auch im Zusammenhang mit Wenn man die Bilder – wir alle haben sie im Fernsehen Stuttgart 21. Aber wir werden uns auch dafür einsetzen, zur Kenntnis genommen – insbesondere von verletzten dass die rechtsstaatlichen Verfahren respektiert werden Schülern und älteren Damen sieht, dann frage ich mich, und dass das staatliche Gewaltmonopol durchgesetzt ob Landesinnenminister Rech seiner Aufgabe gewach- wird. Wir werden keine rechtsfreien Räume dulden, we- sen ist. Ich meine, er sollte besser zurücktreten. der in Stuttgart noch anderswo. Darüber lasst uns ge- meinsam streiten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) GRÜNEN – [CDU/CSU]: (B) Oje!) (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir alle hier im Bundestag müssen uns fragen: Wie Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Geschäfts- gehen wir eigentlich mit Menschen um, von denen viele führer der SPD-Fraktion Christian Lange. das erste Mal ihre politische Stimme erheben? Unsere (Beifall bei der SPD) Aufgabe muss es doch sein, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Zur Ge- Christian Lange (Backnang) (SPD): schäftsordnung!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind erschüttert über die Nachrichten und sie für die repräsentative parlamentarische Demokratie Bilder, die uns gestern und heute aus Stuttgart erreicht zu gewinnen, egal wie wir zum Projekt selbst stehen. haben, erschüttert über die Eskalation der Gewalt. Uns (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zeigt dies: Stuttgart 21 kann man nicht mit Gewalt DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der durchknüppeln. LINKEN) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Deshalb frage ich mich: Wo war der Ministerpräsident? BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wo war der Oberbürgermeister? Wo war die Gesprächs- bereitschaft der Demokraten? Deshalb gehört dieses Herr Kollege Altmaier, im Hinblick auf das Thema Thema in den Deutschen Bundestag. „staatliches Gewaltmonopol“ habe ich zur Kenntnis ge- nommen, dass das Landesinnenministerium gestern (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Abend, um 22.56 Uhr, eine Meldung über Steinewerfer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zurückziehen musste, weil die Demonstrationen fried- lich verlaufen sind. Bitte, nehmen Sie auch das zur Ich prophezeie: Die Landesregierung wird scheitern, Kenntnis. Das ist die Wirklichkeit in Stuttgart. wenn sie das Bauprojekt mit aller Gewalt gegen die Bür- ger durchdrücken will. Der Bundestag ist der Ort, über (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem die Rolle der Bahn zu sprechen. Deshalb darf es keine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denk- und Sprechverbote geben; genau diese Denk- und Sprechverbote haben uns nämlich dahin geführt, wo wir Die Frage ist nun: Wie entkommen wir einer Spirale heute sind. der Gewalt und einer Spirale der Sprachlosigkeit? Die SPD Baden-Württemberg hat dazu einen Vorschlag ge- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem macht: Eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 ist der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 6624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Christian Lange (Backnang) (A) Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem Aufsetzungs- Die dritte Bemerkung: In der nächsten Zeit werden in (C) antrag zustimmen. Hamburg 280 Bäume gefällt, nicht weil es die Bundesre- gierung will, Herzlichen Dank. (Thomas Oppermann [SPD]: Doch! Die Kanz- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem lerin will das!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sondern weil es die grüne Verkehrssenatorin will. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Geschäfts- der CDU/CSU) führer der FDP-Fraktion Jörg van Essen. Mir ist nicht bekannt, dass sich der Bundestag mit dieser (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Baumfällaktion beschäftigen wird. der CDU/CSU) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jörg van Essen (FDP): Es steht Ihnen frei, das zu beantragen!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch das unterstreicht, wie richtig es ist, dass wir die Nach dieser platten Wahlkampfrede des Kollegen Lange Debatte heute hier nicht führen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) werde ich mir vier kurze Bemerkungen zur Geschäfts- Die vierte Bemerkung: Viele wissen, dass ich ein sehr ordnung erlauben. engagierter Eisenbahnfreund bin. Deshalb kenne ich Die erste Bemerkung: In meinem früheren Leben als auch die Geschichte der Eisenbahn. Wir feiern in weni- Staatsanwalt war ich sehr oft mit dem Geschehen rund gen Wochen 175 Jahre Eisenbahn in Deutschland. um Demonstrationen befasst. (Beifall des Abg. [BÜND- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Renate Künast NEN]: Ich war auch mit Demonstrationen be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird ja fasst!) eine tolle Feier!) Ich habe dabei eines gelernt: Unmittelbar nach den Er- Viele wissen nicht, dass der Weg zur ersten Eisenbahn außerordentlich schwierig war; denn die Bürger fühlten (B) eignissen, wenn die Aufregung groß ist, gibt es kein kla- (D) res Lagebild. Aus dieser Erfahrung heraus empfehle ich sich in ihrer Biedermeieridylle gestört. Es gab Wissen- deshalb allen, und zwar aus Respekt vor den Demon- schaftler, die vorhersagten, ab etwa 25 Stundenkilome- stranten, aber auch aus Respekt vor den Polizisten, dass tern würde man wahnsinnig, die Frauen würden un- wir uns erst ein klares Lagebild verschaffen, bevor wir fruchtbar. im Deutschen Bundestag darüber debattieren. (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Damals hat sich Gott sei Dank die Vernunft durchge- Meine zweite Bemerkung. Zu meinen dienstlichen setzt, sodass wir heute dieses sehr ökonomische und Erfahrungen gehört die Gladbecker Geiselaffäre. Auch ökologische Verkehrsmittel haben. Wir wissen, was wir damals waren Polizisten aus ganz vielen Ländern, unter der Eisenbahn in der Entwicklung der Industrie zu ver- anderem auch vom Bund eingesetzt. Als Vorwürfe gegen danken haben. die Polizei wegen des Einsatzes erhoben worden sind, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist gab es natürlich auch eine parlamentarische Aufarbei- aber bizarr!) tung. Diese Aufarbeitung fand aber in Nordrhein-West- falen und in Bremen statt, weil genau da die Einsatzlei- Wir sorgen für die Zukunft der Bahn. tung lag. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wirklich (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bizarr!) NEN]: Wir geben aber Geld! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schüler sind Auch deshalb sind wir gegen Ihren Antrag und lehnen Geiseln, oder wie?) ihn ab. Wir lassen es als Koalition nicht zu, dass hier der Föde- Ganz herzlichen Dank. ralismus auf den Kopf gestellt wird, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dass hier Verantwortung beim Bund abgeladen wird, die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Bund nicht zu tragen hat. Wir werden das nicht zu- Jetzt hat die Parlamentarische Geschäftsführerin der lassen und stimmen deshalb Ihrem Antrag nicht zu. Fraktion Die Linke, Dr. Dagmar Enkelmann, das Wort. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6625

(A) Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Lernen sie Demokratie? Lernen sie freie Meinungsbil- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frak- dung? Was lernen sie über die Institutionen dieses Staa- tion Die Linke wird dem Aufsetzungsantrag, also dem tes? Antrag auf Änderung der Tagesordnung, zustimmen. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Große Überra- Sind wir in der Zone?) schung!) Was lernen sie, wenn plötzlich Wasserwerfer auffahren, Wer die Bilder aus Stuttgart gesehen hat, den darf das wenn Pfefferspray eingesetzt wird? nicht kaltlassen. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Sie lernen, dass man sich an Recht und Gesetz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu halten hat, Frau Enkelmann!) Herr Kollege van Essen, wir beide mögen uns sehr; Wenn Schülerinnen und Schüler so etwas erfahren, sol- len sie Vertrauen in die Institutionen des Staates gewin- (Zurufe aus dem ganzen Haus: Oh!) nen? Das können Sie vergessen. aber das, was Sie hier vorgetragen haben, war mehr als peinlich. Es gehörte nicht in diese Debatte. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ten der SPD) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Hier geht es nicht um Wahlkampf. Hier geht es um Das entscheiden Sie noch lange nicht, was hier Demokratie. gesagt wird!) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das können Wir sind der Auffassung: Wir dürfen nicht einfach zur Sie uns nicht beibringen!) Tagesordnung übergehen. Ich sage Ihnen eines: Demokratie heißt auch, dass man (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir sind nicht in Entscheidungen, die man einmal getroffen hat, gegebe- der DDR! Jetzt hört es aber auf! Die Zeiten, nenfalls überprüft. Deswegen fordert die Linke an dieser wo Sie bestimmten, was im Parlament disku- Stelle einen Baustopp für Stuttgart 21. tiert wird, sind endgültig vorbei!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- – Ich stehe am Mikro, Herr Kauder; insofern kann ich NIS90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- lauter reden als Sie. – ten der SPD) (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) Der Bundestag ist sehr wohl involviert. Deshalb ge- hört dieses Thema heute auf die Tagesordnung. Er war Seit Wochen demonstrieren in Stuttgart friedlich viele beteiligt bei der Entscheidung zu Stuttgart 21, und es Tausende Menschen. Da sind Demonstrationserfahrene, sind Bundespolizisten im Einsatz gewesen. aber auch viele Demonstrationsneulinge dabei, auch viele CDU-Wählerinnen und -Wähler. Das dürfen Sie (Jörg van Essen [FDP]: Aber nicht an der Ein- nicht vergessen. satzleitung!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der Damit ist das auch Sache dieses Bundestages. Damit SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- müssen wir uns beschäftigen. NEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Diese Demonstranten nehmen ihr Recht auf Demonstra- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- tion wahr. Das geschieht nicht im rechtsfreien Raum. ten der SPD) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wir müssen heute und hier in einer öffentlichen Debatte neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE über dieses Thema reden und Rede und Antwort stehen. GRÜNEN) Ich denke, das sind wir denen schuldig, die in Stuttgart brutal bedroht und verletzt worden sind. Die Bilder ha- Das gilt im Übrigen auch für die Schülerinnen und ben Sie alle gesehen. Schüler, die dort gestern eine genehmigte Veranstaltung durchgeführt haben. Der Linken ist das Thema so wichtig, dass wir bereit sind, den von uns beantragten Tagesordnungspunkt zu- (Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!) rückzuziehen, wenn stattdessen eine Debatte zu den ges- Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, ob Sie das trigen Vorgängen in Stuttgart durchgeführt wird. Entsetzen und die Tränen in den Augen der Schülerin (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- gesehen haben, die gestern auf allen Sendern zu sehen NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- war. Was lernen eigentlich Schülerinnen und Schüler an ten der SPD) einem solchen Tag? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Wir stimmen jetzt über den Geschäftsordnungsantrag NEN) ab. Wer für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die 6626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Grünen stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ (C) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag hat CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines nicht die erforderliche Mehrheit gefunden. Gefordert ge- Kernbrennstoffsteuergesetzes (KernbrStG) wesen wäre eine Zweidrittelmehrheit, die, wie ich – Drucksache 17/3054 – glaube, unzweifelhaft nicht erreicht wurde. Damit ist der Überweisungsvorschlag: Antrag abgelehnt. Haushaltsausschuss (f) Finanzausschuss (f) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 f sowie Innenausschuss die Zusatzpunkte 8 bis 12 auf: Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 25 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und CSU und der FDP Technikfolgenabschätzung Federführung strittig Energiekonzept umsetzen – Der Weg in das Zeitalter der Erneuerbaren Energien f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- – Drucksache 17/3050 – rung des Energiesteuer- und des Stromsteuer- gesetzes Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) – Drucksache 17/3055 – Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Wirtschaft und Technologie CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Elften Gesetzes zur Änderung des Atomgeset- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zes Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf – Drucksache 17/3051 – Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris Überweisungsvorschlag: Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) der SPD Innenausschuss Rechtsausschuss Die Steinkohlevereinbarung gilt Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 17/3043 – (B) Ausschuss für Bildung, Forschung und (D) Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsausschuss Zwölften Gesetzes zur Änderung des Atomge- setzes ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, – Drucksache 17/3052 – weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Für einen geordneten und sozialverträglichen Innenausschuss Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohle- Rechtsausschuss bergbau Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 17/3044 – Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Rechtsausschuss Finanzausschuss CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermö- gens „Energie- und Klimafonds“ (EKFG) ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer – Drucksache 17/3053 – Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Energie 2050 – Sicher erneuerbar Innenausschuss Rechtsausschuss – Drucksache 17/3061 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6627

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Nach intensiven Beratungen haben wir am Dienstag (C) Beck (Köln), Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, dieser Woche unser Energiekonzept im Kabinett be- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- schlossen. Es ist ein wirklich umfassendes Energiekon- NIS 90/DIE GRÜNEN zept für Strom, für Wärme und für Verkehr. Im Ko- alitionsvertrag haben wir uns ambitionierte Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Klimaschutzziele gesetzt. Das Energiekonzept zeigt Gesetzgebungsverfahrens zur Verlängerung Wege auf, wie wir diese Ziele erreichen können. Es be- der Laufzeiten von Atomkraftwerken schränkt sich also nicht auf wohlfeile Zielbeschreibun- – Drucksache 17/3083 – gen und schöne Worte. Überweisungsvorschlag: (Ulrich Kelber [SPD]: Auf Prüfungsaufträge!) Innenausschuss (f) Rechtsausschuss (f) Die Opposition will so schnell wie möglich aus der Federführung strittig Kernkraft aussteigen. Gleichzeitig wollen weite Teile ZP 12 Unterrichtung durch die Bundesregierung der Opposition aus der Kohleverstromung aussteigen, die derzeit noch für rund 40 Prozent unserer Stromver- Energiekonzept für eine umweltschonende, sorgung sorgt. Außerdem wollen Sie vor Ort den Bau zuverlässige und bezahlbare Energieversor- neuer Netze verhindern. Wenn das Realität würde, gin- gung gen in Deutschland die Lichter aus. und 10-Punkte-Sofortprogramm – Monitoring und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- Zwischenbericht der Bundesregierung rufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) – Drucksache 17/3049 – Überweisungsvorschlag: Man hat fast den Eindruck, Sie wollen eine Art energie- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) politischen Morgenthau-Plan. Wer das ernsthaft will, Rechtsausschuss steigt aus der internationalen Wettbewerbsfähigkeit aus Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und verspielt leichtfertig zentrale Grundlagen für Wohl- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für stand und Arbeitsplätze in unserem Land. Die Rechnung die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es würden die Menschen zahlen. Das ist keine seriöse Ener- Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so giepolitik. Das machen wir nicht. beschlossen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich bitte nun diejenigen Kolleginnen und Kollegen, (B) Mit diesem Energiekonzept beenden wir die energie- (D) die an dieser Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal politische Flickschusterei. Wir wollen, dass Energie in möglichst zügig zu verlassen, damit wir mit den Bera- unserem Land sauber, sicher und bezahlbar ist. tungen beginnen können. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile als erstem der CDU/CSU) Redner dem Bundesminister Rainer Brüderle das Wort. Diesem Zweck dient auch die Laufzeitverlängerung – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir setzen uns der CDU/CSU) Ziele. Wir benennen die konkreten Maßnahmen, um die Ziele zu erreichen, und wir legen ein solides Finanzie- Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und rungskonzept vor. Wir schöpfen die Gewinne der Kern- Technologie: kraftwerkbetreiber in Milliardenhöhe ab, zu rund Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Ko- 50 Prozent. Zum Vergleich: Im grün regierten Freiburg alition ist keine Regierung des Ausstiegs. Diese Koali- werden gerade einmal 10 Prozent der städtischen Kon- tion ist eine Regierung des Einstiegs, des Einstiegs in zessionsgewinne für Klimaschutzprojekte verwendet. mehr Wachstum, des Einstiegs in mehr Beschäftigung, (Beifall bei der FDP) des Einstiegs in gesunde Staatsfinanzen und eben auch des Einstiegs in das Zeitalter der erneuerbaren Energien. In unserem Konzept werden Wind- und Solarstrom mit zweistelligen Milliardenbeträgen gefördert. Noch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- mehr Mittel kommen hinzu. Hinzu kommen die Einnah- chen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – men aus der Versteigerung von Emissionszertifikaten für Ulrich Kelber [SPD]: Einstieg in den Zusam- die Kohle- und Gaskraftwerke ab 2013. menbruch des Ausbaus der Erneuerbaren!) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Erstmals nach vielen Jahren haben wir jetzt in Deutsch- NEN]: Die haben Sie aber unabhängig von der land ein langfristig angelegtes Energiekonzept vorgelegt. Laufzeitverlängerung, Herr Minister!) Die rot-grüne Ausstiegsregierung hat es jedenfalls nicht geschafft, ein solches Konzept zu erarbeiten. Wir setzen Sie werden fast ausschließlich in erneuerbare Energie, um, was wir im Koalitionsvertrag angekündigt haben. Energieeffizienz und in die Forschung gesteckt. Das Wir zeigen unsere Entschlossenheit, wir zeigen unseren heißt konkret: Die konventionelle Energieerzeugung aus Gestaltungswillen, wir richten die Energiepolitik lang- Kernenergie, Kohle und Gas bezahlt letztendlich den fristig aus. Umbau ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. 6628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Bundesminister Rainer Brüderle (A) Wir wollen faire Wettbewerbsbedingungen zwischen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C) großen und kleinen Unternehmen, zwischen konventio- Wir wollen, dass Strom jederzeit und ohne Unterbre- nellen und neuen Energieformen. Wir flankieren das mit chung zur Verfügung steht. Wir wollen zu jeder Zeit unser dem Wettbewerbsrecht: mit der neuen Markttranspa- Handy aufladen, Kaffee kochen oder das Licht anschal- renzstelle beim Bundeskartellamt, ten. Dieses Energiekonzept steht für Verlässlichkeit, für (Ulrich Kelber [SPD]: Vorgeschrieben im eu- Klimaschutz und für bezahlbare Energiepreise. Wir stei- ropäischen Binnenmarktpaket!) gen ein. Wir packen es an. Wir machen es. mit der neuen Gasnetzzugangsverordnung und mit der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- Umsetzung des Dritten Binnenmarktpaketes. chen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) (Ulrich Kelber [SPD]: Genau! Aber das ist nicht Ihre Idee! Das ist rechtlich vorgeschrie- ben!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber von der SPD- Mit diesen Maßnahmen verfolgen wir ein Ziel: bezahl- Fraktion. bare Energiepreise für Bürger und Unternehmen in Deutschland. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ulrich Kelber (SPD): der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Die Opposition scheint eher auf hohe Energiepreise zu ren! Bundesminister Röttgen hat einen Satz geprägt, der setzen. mich fasziniert hat: „Politik durch die Augen unserer Kinder machen.“ Für mich als fünffachen Familienvater (Ulrich Kelber [SPD]: Sie setzen auf Mono- war das eine interessante Idee. Es besteht allerdings die polpreise!) Gefahr, dass sich nachkommende Generationen tatsäch- Anders lassen sich manche Zahlen, mit denen Sie derzeit lich an Minister Röttgen erinnern: hausieren gehen, überhaupt nicht erklären. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) NEN]: Das glaube ich nicht!) Wenn der Wind über die Nordsee weht und die Sonne als Minister, der zusätzlich 5 000 Tonnen atomaren Müll in der Wüste scheint, dann können erneuerbare Energien verantworten wollte, die für 30 000 nachfolgende Gene- (B) erzeugt werden. Wir müssen den Strom aber auch zu den rationen tödlich bleiben, als Minister, der die Sicher- (D) Verbrauchern bringen: nach Berlin, Hamburg, München, heitsanforderungen an die Endlager senken wollte, als Stuttgart oder ins Ruhrgebiet. Deswegen ist für mich das Minister, der die Sicherheitsanforderungen an die Atom- Thema Energienetze ein wirklich entscheidender Punkt kraftwerke senken wollte. Im Interesse der Kinder ist in unserem Konzept. diese Politik sicherlich nicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb ist dieses Thema auch einer der ersten Punkte in unserem Sofortprogramm. Wir müssen die Windparks Wir kritisieren den Stil, mit dem dieses sogenannte vor der Küste möglichst schnell und effizient an das Energiekonzept zustande gekommen ist. Es lohnt sich, ei- Festlandnetz anbinden. Wir wollen, dass in die Netze der nen Blick darauf zu werfen und die Frage zu stellen, wer Zukunft investiert wird. Wir wollen, dass im Bereich an der Erarbeitung nicht beteiligt wurde. Dies waren die Speichertechnologien geforscht und entwickelt wird. Branche der erneuerbaren Energien, die kommunalen Das haben Sie in der Vergangenheit nicht betrieben. Spitzenverbände, die Stadtwerke, die Wettbewerber der großen Energiekonzerne, die Monopolkommission, das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bundeskartellamt, die unabhängige Wissenschaft, die Um- der CDU/CSU) weltschutzverbände, Verbraucherschutzverbände wie Mie- Ich muss ganz klar sagen: Wer für eine dezentrale, re- terbund und Verbraucherzentrale Bundesverband. Diese generative Energieerzeugung ist, aber nicht Ja sagt zu ei- durften sich monatelang nicht beteiligen. Sie schreiben nem umfassenden Netzausbau, der will in Wahrheit Ihnen jetzt Briefe und versuchen, Ihnen Argumente zu lie- keine dezentrale, regenerative Energieerzeugung. An- fern, die aber an Ihnen abprallen, frei nach Max ders geht es nämlich gar nicht. Pallenberg: Argumente nützen gegen Vorurteile wie Schokoladenplätzchen gegen Verstopfung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten In den letzten Tagen ist herausgekommen, dass das der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Bauen Drücken der Sicherheit ein zusätzliches Element des Sie doch keinen Popanz auf!) Energiekonzeptes ist. Die Deutsche Umwelthilfe spricht Es ist scheinheilig, einerseits für die dezentrale Energie- bei dem Gesetz von einer „Gesetzesnovelle von der versorgung zu sein und andererseits als Erste vor Ort ge- Atomlobby für die Atomlobby“ und spielt darauf an, gen den Bau von Leitungen zu sein. Damit verhindern dass der Bundesumweltminister einen Vertreter der Sie das Umsteuern in der Energiepolitik. Das ist unauf- Atomlobby zum obersten Atomaufseher im Bundesum- richtig. weltministerium gemacht hat. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6629

Ulrich Kelber (A) Statt sich um die Sicherheit zu kümmern, stellt sich Sicherheitsforderungen ab, damit die Zahlungen an die (C) der Minister hin und sagt über seinen eigenen Entwurf Regierung in voller Höhe erhalten bleiben? wissentlich die Unwahrheit. Er behauptet, er sei der erste Minister, der dynamische Sicherheitsanforderungen an Wir wissen seit vorgestern durch einen Bericht der Atomkraftwerke stelle. Zeit, dass der Rechtsanwalt, der diese Vereinbarung mit RWE und Eon für die Bundesregierung ausgehandelt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hat, normalerweise als Berater der RWE tätig ist. Auch der FDP) da hat die Atomlobby mit sich selbst verhandelt. Ich zitiere aus einem Brief der schwarz-gelben Landes- Wir kritisieren aber auch die inhaltlichen Fehler Ihres regierung Schleswig-Holsteins an den Minister – viel- Energiekonzeptes. Sie werden höhere Preise und weni- leicht sollte er ihn einmal den Fraktionen der CDU/CSU ger Wettbewerb ernten. Sie zementieren die Monopole und FDP vorlegen –: der vier großen Energiekonzerne, die bereits heute 80 bis 90 Prozent der Stromproduktion stellen. Bereits auf der Basis des geltenden Rechts sind Kernkraftwerksbetreiber zu einer dynamischen An- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Danach passung ihrer Anlagen an aktuelle Entwicklungen nicht mehr!) und damit zu einer bestmöglichen Schadensvor- Schlimmer noch: Sie übertragen diese Monopole in den sorge verpflichtet. Bereich der erneuerbaren Energien. Das Einzige, was Die Behörden könnten Nachrüstungen auch ohne Neure- Sie uns anbieten – Minister Brüderle hat es hier wieder gelung durchsetzen, so die Meinung der schwarz-gelben getan –: Sie wollen eine Markttransparenzstelle einrich- Landesregierung Schleswig-Holsteins zu den Plänen der ten. Entschuldigung, das schreibt das EU-Binnenmarkt- schwarz-gelben Bundesregierung. paket vor! Das ist doch keine Erfindung von Schwarz- Gelb. Das soll alles sein, was Ihnen als Wirtschaftsmi- Schon in den 70er-Jahren hat das Bundesverfassungs- nister zum Thema Wettbewerb einfällt? Ich halte das für gericht die dynamische Anpassung durchgesetzt. Jetzt eine traurige Vorstellung. möchte der Bundesminister neben den Kategorien der „bestmöglichen Vorsorge“ und des „hinnehmbaren Rest- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten risikos“ eine neue Kategorie ins Atomrecht einführen. Er des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) verkauft das als eine Verbesserung. Das ist der brutale Der Chef der Monopolkommission hat zu Ihrem Pro- Röttgen’sche Trick: In Zukunft können die Aufsichtsbe- gramm am 7. September der Rheinischen Post gesagt: hörden Maßnahmen, die bisher Teil der „bestmöglichen Vorsorge“ waren und durch die Anlieger gerichtlich Langfristig wird der Wettbewerb nicht gestärkt, im (B) überprüft werden konnten, aus dieser Kategorie heraus- Gegenteil. (D) nehmen und damit den Anliegern das Klagerecht neh- Herr Minister, diese Aussage stammt aus Ihrem Berater- men, das das Bundesverwaltungsgericht noch 2008 be- gremium. Der Präsident des Bundeskartellamts Mundt stätigt hat. Mit diesem Urteil wurde gesagt: Jawohl, sagte, damit werde der Wettbewerb geschwächt. Sein Anwohner können zum Beispiel die Sicherheit eines Vorvorgänger Böge hat ein Gutachten erstellt, in dem er Atommeilers gegenüber Terrorangriffen einklagen. Die nachweist, dass es zu höheren Preisen kommen wird. Folge wäre gewesen: mehr Sicherheit am Atommeiler, Bernhard Heitzer, der bis Oktober 2009 Kartellamtsprä- nicht das Schleifen der Rechte der Anlieger, wie es sident war, schrieb: Schwarz-Gelb jetzt plant. Wenn die Laufzeiten verlängert werden, wird die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hohe Verdichtung der Erzeugungskapazitäten ze- DIE GRÜNEN) mentiert. Nach den Berichten der Medien hat es gestern wohl Herrn Heitzer haben Sie im November zum Staatssekre- ein Treffen zu Sicherheitsanforderungen für Endlager tär in Ihrem Ministerium gemacht. Warum hören Sie gegeben. Seit heute lassen Sie in wieder die nicht auf den Sachverstand in Ihrem Ministerium, Herr Bohrer dröhnen. In dem Entwurf, der der Frankfurter Minister? Rundschau vorliegt – dem Parlament nicht –, ist die Rückholbarkeit des Atommülls gestrichen, wird der Si- Wir werden durch Ihr Energiekonzept Jobs verlieren. cherheitsnachweis geschleift, werden viele Grenzwerte (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ach du lie- abgeschafft und durch Gummiparagrafen ersetzt. Auch ber Gott!) dieses Papier war geheim, bis die Medien darüber be- richtet haben. Das ist der neue Stil der Regierung: Pa- In der Branche der erneuerbaren Energien, der dyna- piere werden so lange geheim gehalten, bis die Medien mischsten Branche, wird es auch Firmenzusammenbrü- es herausbekommen; dann werden sie in Nacht-und-Ne- che geben. Ich bitte alle Abgeordneten von CDU/CSU bel-Aktionen auf die Webseiten der Regierung gestellt. und FDP: Lesen Sie, bevor Sie am Ende abstimmen wer- den, die Gutachten zu dem Energiekonzept dieser Regie- Die Konzerne dürfen – das ist der interessante Punkt – rung. Dort finden Sie die erwarteten Ausbauzahlen für erhöhte Ausgaben für die Endlager sowie höhere Nach- die erneuerbaren Energien: rüstkosten von ihren Zahlungen an die Regierung abzie- hen. Herr Röttgen, ich frage Sie: Sind das die ersten Fol- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber auch die gen des Einwirkens des Finanzministers: Sie senken die Gewinnmargen!) 6630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Ulrich Kelber (A) ein Rückgang von 85 Prozent beim Biomasseausbau, ein Strom aus erneuerbaren Energien zu erzeugen. Wir stär- (C) Rückgang von 94 Prozent beim Photovoltaikausbau, ein ken die Forschung im Bereich Speichertechnologien und Zusammenbruch von 98 Prozent beim Windenergieaus- vor allen Dingen im Bereich der Effizienzsteigerung. bau an Land, das sind die Ziele dieser Regierung. Das Wir nehmen Geld in die Hand für den Klimaschutz, und wird der Niedergang der Arbeitsplatzmöglichkeiten sein. zwar in erheblichem Maße. Zur Finanzierung schaffen wir ein rechtlich abgesichertes Sondervermögen. Die (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wo sind Sie denn Mittel kommen aus dem Emissionshandel und aus der überall beteiligt?) Laufzeitverlängerung und stehen damit für viele Jahre Deutschland verliert seinen Technologievorsprung vor regelmäßig und in voller Höhe zur Verfügung. Damit Konkurrenten. Sie führen die drei schlechtesten Merk- vermeiden wir in Zukunft den jährlichen Verteilungs- male Ihrer Politik in einem Konzept zusammen: ökolo- kampf im Haushalt. gisch schädlich, wirtschaftlich unsinnig, sozial unausge- Es macht keinen Sinn, sichere, CO -freie Kernkraft- wogen. 2 werke abzuschalten und dafür Strom aus Kernkraftwer- Wir lehnen Ihre Gesetzentwürfe ab. ken in Frankreich, Polen und Tschechien zu beziehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- LINKEN) NEN]: Ja, warum machen Sie das denn? Wir müssen doch gar nicht importieren!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Denn wie sagte Ihr – für die einen ist es ein früherer, für Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege die anderen ein aktueller – Parteifreund vor Dr. Michael Fuchs. kurzem: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich finde es sinnlos, die jetzt abgeschriebenen Kernkraftwerke einfach abzuschalten. Das ist so, Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): als wenn Sie einen Lastwagen voller Bargeld ver- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! brennen. Dann nimmt man doch lieber einen Teil Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege des Geldes … und investiert das in die erneuerbaren Kelber, wann haben Sie eigentlich die ganzen von Ihnen Energien. eben aufgezählten Vereine bzw. Organisationen beim Ausstieg beschäftigt? Haben Sie sie jemals beschäftigt Recht hat er. (B) oder eher überhaupt nicht? Ich glaube, überhaupt nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D) Aber so machen Sie das ja immer. Ulrich Kelber [SPD]: Was hat denn Herr Töp- Im Übrigen muss ich eine Zahl von Ihnen korrigieren: fer gesagt?) (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Viele!) Lieber Herr Kollege Trittin, uns ist Sicherheit etwas wert. Was Sie betrifft, zitiere ich aus der von Ihnen am Die Verlängerung der Laufzeit führt zu maximal 4 Pro- 14. Juni 2000 gemachten Ausschlussvereinbarung: zent mehr Atommüll gegenüber heute. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Ulrich Kelber [SPD]: Wo haben Sie die Zahl Ausschluss? Was für ein Ausschluss?) her? Quelle?) Die Zahl, die Sie genannt haben, stimmt so also nicht. – Herr Trittin, Sie haben das unterschrieben. Mit dem Energiekonzept der Bundesregierung liegt … die Bundesregierung wird keine Initiative ergrei- erstmals seit 20 Jahren, seit Helmut Kohls Zeiten, ein fen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem technologieoffenes, marktorientiertes und vor allen Din- zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie zu än- gen ideologiefreies Konzept vor. dern. Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforde- rungen gewährleistet die Bundesregierung den un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- gestörten Betrieb der Anlagen. chen bei der SPD und der LINKEN) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Damit haben wir eine klare Linie bis zum Jahre 2050 NEN]: Aha!) aufgestellt, und wir haben jetzt erstmalig die notwendi- gen Mittel zum Forschen etc. zur Verfügung. Das ist Sie haben damals keinerlei zusätzlichen Sicherheitsstan- Rot-Grün in sieben Jahren überhaupt nicht gelungen. Sie dard vereinbart. haben kein Energiekonzept; Sie haben auch nie eines (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aufgestellt. Kollege Röttgen hat etwas ganz anderes gemacht, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herr Kelber: Er hat die Sicherheitsvorschriften ver- der FDP) schärft. Wir führen eine zusätzliche Sicherheitsstufe ein. Wir fördern den weiteren Ausbau der erneuerbaren Danach muss der Sicherheitsstandard von Kernkraft- Energien. Wir haben uns als Ziel gesetzt, bis zum Jahre werken permanent entsprechend dem fortschreitenden 2020 35 Prozent und bis zum Jahre 2050 80 Prozent Stand von Wissenschaft und Technik verbessert werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6631

Dr. Michael Fuchs (A) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- überall in Deutschland Initiativen gegen den Netzaus- (C) NEN]: Das muss er jetzt schon!) bau, die von Ihnen ausgehen. Das haben Sie nicht gemacht. (Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben in der Großen Koalition das Netzausbaugesetz verhindert!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Herr Fuchs, Das soll eine konsistente, vernünftige und zukunfts- seit den 70er-Jahren ist das geltendes Recht! orientierte Energiepolitik sein? Es tut mir leid, aber so Sie erzählen Unsinn! Lesen Sie doch einmal werden wir das nicht machen. Wir werden uns dafür ein- das Verfassungsgerichtsurteil!) setzen und dafür kämpfen, dass ein vernünftiger Netz- ausbau betrieben wird. Wir werden die Planungs- und – Herr Kelber, regen Sie sich nicht auf! Sie müssen das Genehmigungsverfahren vereinfachen und beschleuni- erleiden, weil Sie damals nicht bereit waren, zusätzliche gen. Das muss sein. Hierzu legt der Bundesumwelt- Sicherheitsstandards vorzusehen, so wie wir das in unse- minister in Kürze Vorschläge vor. Genau das brauchen rem Konzept vorgesehen haben. wir. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Warum haben Sie denn nicht den Mut, das einmal zuzu- NEN]: „In Kürze“? Das Gesetz liegt seit 2005 geben? vor! Seit 2005 gibt es das Gesetz! Sie haben es blockiert!) (Ulrich Kelber [SPD]: Sie erzählen die Un- wahrheit!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Was wir hier machen, ist ein geschlossenes Konzept für Herr Kollege Fuchs, darf ich Sie kurz unterbrechen? mehr Sicherheit und für mehr Investitionen im Bereich Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nestle der Photovoltaik, von den Grünen?

(Ulrich Kelber [SPD]: Investitionen in die Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Photovoltaik? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Nein. DIE GRÜNEN]: Nein, Sie machen weniger!) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: im Bereich der Netze, im Bereich der Speichertechnolo- Oh!) gien etc. Bis heute haben wir keine vernünftigen Speicher- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) möglichkeiten in Deutschland. Ich will das einmal ganz Nein, keine Zwischenfrage. kurz auflisten: Wir haben momentan eine Speicherkapa- zität von rund 6 400 Megawatt. Die Deutsche Energie- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Agentur beziffert das Ausbaupotenzial auf 2 500 Mega- Das muss heute nicht sein. watt. Nötig wären im Bereich der erneuerbaren Energien aber 25 000 Megawatt. Bis jetzt gibt es nur eine Planung Wir wollen die Energieeffizienz steigern. Die Kilo- eines Neubaus eines Speicherkraftwerks, und zwar im wattstunde, die nicht verbraucht wird, ist die allergüns- Südschwarzwald, in Atdorf. Dort sollen 700 Millionen tigste. Unser Ziel ist es, den Wärmebedarf des Gebäude- Euro investiert werden. Aber was passiert in Atdorf? bestandes zu senken. Wir werden die Sanierungsrate von 1 auf 2 Prozent anheben, ( [CDU/CSU]: !) (Ulrich Kelber [SPD]: Mit weniger Förder- Es gibt massiven Widerstand. Vor allem sämtliche Grü- geld!) nen sind da und wollen genau das nicht. Das ist doch eine verlogene Politik. Auf der einen Seite fordern Sie aber nicht mit Zwang; das ist Ihre Politik. Die CDU, die einen Ausbau der erneuerbaren Energien, aber auf der CSU und die FDP sind die Parteien des Eigentums. anderen Seite sind Sie gegen jede Möglichkeit zur Ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sicherung der erneuerbaren Energien. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen enteignen Sie ja auch!) Wenn man Ihren Antrag liest, so kann ich nur eines Wir werden das nicht mit Zwang machen, sondern mit sagen: So etwas Verlogenes habe ich selten erlebt. Anreizsystemen. Das ist der richtige Weg. Wir müssen die Bevölkerung auf dem Weg in Richtung einer stärke- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ren Nutzung der erneuerbaren Energien mitnehmen. Das der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Da müssen ist unser Ziel. Das werden wir gemeinsam hinbekom- Sie nur in den Spiegel schauen! Es gibt noch men, und darauf werden wir stolz sein. eine Steigerung!) Es wird uns auch gelingen, Lösungen für das Problem Sie können doch nicht sagen, dass Sie keine Kernkraft- der Speicherkapazität zu finden. Man muss mit den werke wollen, und gleichzeitig gegen den Bau von Spei- Nachbarländern verhandeln, um unter Umständen in den cherkraftwerken stimmen. Sie verhindern den Netzaus- Ländern, in denen aus topografischer Sicht der Bau von bau, wo immer Sie das können. Mittlerweile gibt es Speicherkraftwerken möglich ist, Strom zu speichern. 6632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Michael Fuchs (A) Das kann Norwegen sein. Das wird aber nicht einfach, denn Deutschland ist ein Industrieland, ein Industrie- (C) weil die Norweger mittlerweile auch ein Moratorium ge- standort, wie es kaum einen besseren gibt. Der Beweis gen den weiteren Bau von Pumpspeicherkraftwerken ha- dafür ist die wirtschaftliche Situation unseres Landes. ben. Hören wir doch einmal bitte hin: Deutschland hat ges- tern die beste Arbeitslosenzahl seit der Wiedervereini- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gung erlebt. Etwa 3 Millionen Menschen sind noch ar- Herr Kollege Fuchs, jetzt möchte Herr Kelber gerne beitslos. Das sind immer noch viel zu viele. Aber wir eine Zwischenfrage stellen. sind auf einem guten Weg, und wir können davon ausge- hen, dass die Zahl von 3 Millionen bereits im Oktober Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): erstmalig unterschritten wird. Als Rot-Grün aufgehört hat, da hatten wir 5 Millionen Arbeitslose. Das muss Von dem höre ich sie mir an. doch hier in diesem Hause einmal gesagt werden. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So sind sie, die CDU-Männer!) Das muss Ihnen doch bewusst sein. Wir sorgen dafür, dass Arbeitsplätze in Deutschland entstehen. Genau da legen wir unsere Ziele hin. Ulrich Kelber (SPD): Das war ja eine Umarmungsstrategie. Dazu gehört aber auch eine Energiepolitik, die nicht dazu führt, dass energieintensive Unternehmen aus Deutschland vertrieben werden. Deswegen werden wir Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): die Ausnahmen beim Ökostrom ebenso weiterführen, Nein, ganz sicher nicht! Da irren Sie sich. wie wir auch für energieintensive Unternehmen Lö- sungen beim Emissionshandel finden werden. Es kann Ulrich Kelber (SPD): nicht sein, dass die indirekten Kosten des Emissionshan- Herr Fuchs, vielen Dank. – Sie haben gerade betont, dels dazu führen, dass Unternehmen in Deutschland dass Ihre Partei die Partei des Eigentums ist. Ist Ihnen nicht mehr weiterarbeiten können. Das muss unser Ziel bekannt, dass durch die Novelle, über die wir gerade sein; das wird es auch sein. Eine Deindustrialisierung sprechen, ein neuer Enteignungsparagraf eingeführt kommt mit uns nicht infrage. wird? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir brauchen die regenerativen Energien. Wir sehen (B) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): (D) auch jede Menge Forschungspotenzial in den regenerati- Mir ist das bekannt. Aber wir werden nicht hingehen ven Energien. Wir glauben daran. Aber wir müssen das und jemanden zwingen, sein Haus zu sanieren. Das wol- mit Behutsamkeit, Vernunft sowie mit Maß und Ziel ma- len wir nicht. chen. Ohne das wird es nicht gehen. Ohne das werden (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir Unternehmen aus Deutschland vertreiben. DIE GRÜNEN) Ich gehe davon aus, dass wir ein vernünftiges Kon- Wir wollen, dass die Leute einen Anreiz erhalten. Wir zept auf den Weg gebracht haben. Ich bin auch allen wollen, dass die Leute bereit sind, mitzugehen. Wir wol- dankbar – insbesondere den Kollegen Solms, Kauch und len die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen auf dem Ruck –, dass wir gemeinsam an diesem Konzept so zü- Weg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien, aber wir gig und lautlos gearbeitet haben. wollen sie nicht zwingen. Das werden wir nicht tun. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Dass es vernünftig umgesetzt wird, werden wir jetzt be- der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE weisen. Sie können davon ausgehen, dass dieses Kon- GRÜNEN]: Tolles Konzept! Nur Prüfaufträge! zept der richtige Weg in eine vernünftige Zukunft erneu- Sehen Sie einmal zu, dass Sie vor 2050 Leute erbarer Energien in Deutschland sein wird. mitgenommen haben!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden die erneuerbaren Energien zügig an den Markt heranführen. Wir werden Marktprämien ausset- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zen und den Druck erhöhen, um Innovationen und eine Zu einer Kurzintervention erteile dem Kollegen Kostensenkung herbeizuführen. So bleiben unsere Un- Hermann Scheer das Wort. ternehmen international wettbewerbsfähig. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Der Solar- Es muss unser zentrales Ziel sein, dass die Unterneh- papst!) men wettbewerbsfähig bleiben. Wir brauchen Strom- preise, die nicht dazu führen, dass sich Unternehmen aus Deutschland verabschieden müssen. Für mich ist das ex- Dr. Hermann Scheer (SPD): trem wichtig; Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei bei- den Rednern der Koalition ist wiederholt aufgetaucht, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass es angeblich nur 4 Prozent zusätzlichen Atommüll Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6633

Dr. Hermann Scheer (A) geben wird, und zwar unabhängig davon, dass er viele Es handelt sich hierbei um einen hochbrisanten recht- (C) Jahrtausende lagert. lichen und ökonomischen Vorgang. Dass den AKW-Be- treibern die Gegenleistung in Form des Ausstiegs jetzt Wenn jetzt – entgegen dem Gesetz von 2001 – die erlassen werden soll und damit ein geldwerter Vorteil im Laufzeitverlängerung kommt, dann würde das bedeuten, Umfang von in zehn Jahren fast 60 Milliarden Euro dass die Atomkraftwerke insgesamt 25 Prozent länger laufen gelassen worden sind. Die tatsächliche Atom- nachträglich zugestanden wird, können Sie nicht als Kö- müllmenge wird sich genau um diese 25 Prozent erhö- der für die Förderung erneuerbarer Energien verkaufen. hen. Man darf diesen Atommüll nicht mit irgendwel- chem anderen Atommüll vermischen. Es geht um den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: besonders radioaktiven, der aus Atomkraftwerken Vielen Dank, Herr Scheer. kommt. Das darf man nicht vernebeln. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dr. Hermann Scheer (SPD): LINKEN) Hier geht es um die Sanktionierung eines Vertrags- Aber mein Hauptpunkt ist ein anderer. Es wird hier bruchs der Atomstromkonzerne. An diesem Punkt kön- der Köder ausgelegt, dass aus den zusätzlichen Einnah- nen Sie nicht vorbei. men, aus den Gewinnen aus der Atomstromproduktion (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem irgendwelche Maßnahmen für erneuerbare Energien ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) macht werden könnten. Das geht bis hin zu der Formu- lierung, dass man „möglichst schnell“ oder „langfristig“ aus der Atomenergie aussteigen und zum Einsatz erneu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: erbarer Energien kommen will. Das jedoch ist ein Wi- Herr Kollege Fuchs zur Erwiderung. derspruch in sich. Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Wir haben im Jahr 2000 einen Atomausstiegskon- sens erlebt. Den haben die vier großen Atomkraftwerks- Herr Kollege Scheer, Sie haben völlig übersehen, dass betreiber unterschrieben. Sie haben sich verpflichtet, wir dadurch einen erheblichen Geldbetrag bekommen, diese Vereinbarung auf Dauer einzuhalten. Das Gesetz den Sie nicht bekommen haben. Ab nächstem Jahr zah- von 2001 stützt sich minutiös darauf. Diese Vereinba- len die Konzerne 2,6 Milliarden Euro pro Jahr. Danach rung war eine von Leistung und Gegenleistung. Die wird es sogar noch mehr. Denn ab dem Jahre 2017 – le- Leistung im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Vertra- sen Sie es bitte nach! – zahlen die Konzerne pro Mega- ges war, sich auf Dauer dazu zu verpflichten, nach einem wattstunde mindestens 9 Euro. Es kann auch mehr sein. (B) Stufenplan aus der Atomenergie auszusteigen. Die Ge- Das hängt von der Höhe des Strompreises ab. Wenn die- (D) genleistung der damaligen Mehrheit war – vertraglich ser auf über 50 Euro pro Megawattstunde steigt, wird es vereinbart –, Maßnahmen zu unterlassen, durch die die noch mehr. Während dieser Laufzeit werden wir von den wirtschaftliche Betätigung der Atomkraftwerksbetreiber Konzernen also einen Betrag in einer Größenordnung im Zuge der noch vorhandenen vereinbarten Restlaufzeit von weit mehr als 30 Milliarden Euro abschöpfen. Wenn beeinträchtigt werden könnte. Sie dann noch die Gewerbe- und die Körperschaftsteuer abziehen, verbleiben den Konzernen immer noch knapp (Zuruf von der FDP: Ein Deal!) 28 Prozent des Mehrgewinns. Die müssen sie haben, Das war die Gegenleistung. Die Gegenleistung be- weil sie sonst nicht mehr investieren können. Wir erwar- stand darin, keine Atombrennstäbesteuer zu machen, wie ten schließlich von ihnen, dass sie sowohl in erneuerbare Sie sie jetzt für sechs Jahre – warum angesichts von Energien als auch in sichere und vernünftige Kohlekraft- zwölf Jahren Laufzeitverlängerung eigentlich nur für werke investieren. sechs Jahre? – einführen wollen. Das bedeutet für die letzten zehn Jahre einen wirtschaftlichen geldwerten Wir wollen eine Politik des Übergangs in erneuer- Vorteil im Umfang von 23 Milliarden Euro für die bare Energien. Wir wollen aber auch eine Politik, die Atomkraftwerksbetreiber. Die Gegenleistung bestand das finanziert und die sicherstellt, dass mit den Geldern ferner darin, dass die Haftungsvorsorge nicht angetastet effizient umgegangen wird. Sie muss auch sicherstellen, wurde. Sie wurde zwar ein bisschen erhöht, es blieb aber dass die Strompreise nicht exorbitant steigen. Wenn Sie bei der Regelung, dass nur ein Atomreaktor und nicht 17 als der größte Solarlobbyist, den diese Republik kennt, versichert werden mussten. Das machte einen geldwer- das alles nur mit Solarenergie machen würden, dann ten Vorteil in Höhe von 4 Milliarden Euro im Jahr aus. könnten Sie sich von der deutschen Industrie verabschie- Die steuerfreie Rückstellung, die beliebig verwendet den. Dann könnten auch die Bürgerinnen und Bürger ih- werden kann, wurde wegen des Konsenses ebenfalls ren Strom nicht mehr bezahlen. Wir werden schon im nicht angetastet. nächsten Jahr sehen, was beim EEG aufgrund der ver- stärkten Solareinspeisungen passiert. Das Magazin Pho- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ton – das ist kein Parteiblatt der CDU, sondern Ihr Ma- Herr Kollege Scheer, ist abgelaufen. gazin – hat gerade geschrieben, sie gehe davon aus, dass der Strompreis pro Kilowattstunde durch das EEG nur aufgrund der Solarenergie um 2 Cent steigt. Der EEG- Dr. Hermann Scheer (SPD): Anteil wird sich also von 2 auf 4 Cent erhöhen. Durch Ich bin am Ende, Herr Präsident. die Einbeziehung der Windenergie können es auch (Lachen bei der FDP) 5 Cent werden. Das heißt: Durch Ihre Politik und Ihre 6634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Michael Fuchs (A) Maßnahmen bei der Photovoltaik zahlt eine vierköpfige GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: So ein (C) Familie aufgrund des EEG an Kosten für erneuerbare Quatsch!) Energien circa 200 Euro pro Jahr mehr. Auch damit wir uns in der nächsten Zeit intensiv beschäftigen müssen. – Das können Sie doch nicht leugnen! Wenn Sie eine Steuer zum Nachteil der Bäckermeister einführen, spre- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chen Sie nicht mit der Bäckermeisterinnung. Wenn Sie das Elterngeld der Hartz-IV-Empfängerinnen und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hartz-IV-Empfänger streichen, reden Sie nicht mit Ver- Das Wort hat jetzt der Kollege Gregor Gysi für die tretungen der Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV- Fraktion die Linke. Empfänger. Aber wenn Sie etwas im Bereich der Atom- wirtschaft machen, dann müssen die vier großen Kon- (Beifall bei der LINKEN) zerne zustimmen. Die werden gefragt, und was die Ihnen nicht zubilligen, das machen Sie auch nicht. Damit be- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): schädigen Sie die Demokratie. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ich (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem bei den Mitgliedern der Fraktionen von Union und FDP BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) überhaupt nicht verstehe, ist, warum sie jetzt dazu nei- gen, die Bevölkerung permanent und in jeder Hinsicht In den letzten Jahrzehnten haben wir für die Kern- zu provozieren. Was wollen Sie eigentlich erreichen? Sie energie Subventionen in Höhe von 160 Milliarden Euro geben bei Stuttgart 21 keinen Millimeter nach und set- zur Verfügung gestellt. Aber den Hartz-IV-Empfängerin- zen die Polizei in einer Art und Weise ein, die indiskuta- nen und Hartz-IV-Empfängern sagen Sie: Ihr bekommt bel ist. Bei den Demonstrationen waren ganz viele CDU- 5 Euro mehr pro Monat. Mehr ist nicht drin. – Das sind Wählerinnen und CDU-Wähler dabei. Glauben Sie im die Widersprüche Ihrer Politik. Ernst, dass diese Ihre Partei weiterhin wählen werden, wenn sie zusammengeschlagen werden? Was wollen Sie Die Bürgerinnen und Bürger verstehen auch nicht, eigentlich? Sie provozieren bei der Kernenergie eine ge- warum Sie für Stuttgart 21 viele Milliarden Euro auf- sellschaftspolitische Auseinandersetzung, die im Kern bringen, für die Lösung sozialer Probleme aber keinen nichts bringt und Ihnen nichts nutzt. Ich weiß gar nicht, Euro zur Verfügung stellen. Das ist eine Frage, die Sie wie Sie die Gesellschaft verändern wollen und wozu Sie beantworten müssen. das Ganze so betreiben. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Zuruf von der CDU/CSU: Zur Sache!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) – Zur Sache, ja. – Passen Sie auf: Herr Fuchs hat gerade Sie haben die Macht der vier Konzerne in jeder Hin- (D) gesagt, dass Sie die Partei des Eigentums sind. Das sicht zementiert, und das Kartellrecht kennen Sie nicht stimmt in folgender Hinsicht: Sie wollen, dass der Mil- mehr. Ich frage die FDP: Wo sind denn all Ihre Vorstel- liardär Milliardär bleibt und der Bettler seine Krücke be- lungen von Marktwirtschaft geblieben? Was glauben hält. Man muss ein bisschen umverteilen, wenn man Ge- Sie, was die vier großen Konzerne machen werden? Ent- rechtigkeit in der Gesellschaft organisieren will. gegen Ihrer Annahme sind sie in der Lage, miteinander zu telefonieren. Sie werden sich absprechen und festle- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- gen: Ab nächster Woche kostet das Ganze soundsoviel. – neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Aus, Feierabend! Nichts mit Marktwirtschaft, nichts mit GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der Kartellverhinderung! FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir wol- len auch, dass der Ernst seinen Porsche behal- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ten kann!) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch etwas ganz anderes ist sehr interessant: Warum führt eigentlich in dieses Thema der Bundeswirtschafts- Deshalb warnen sogar die Monopolkommission und das minister ein und nicht der Bundesumweltminister? Kartellamt vor dem, was Sie jetzt betreiben. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Die Demokratie muss im Übrigen auch dadurch gesi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chert werden, dass die Politik zuständig bleibt. Er redet erst sehr viel später. Schon daran sieht man, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach! dass Sie den Kern der Frage überhaupt nicht verstanden Ehrlich?) haben. – Ja, das muss ich Ihnen sagen. Was Sie in Sachen Atomenergie machen, ist ganz ein- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Mir?) fach: Es gibt in Deutschland vier große Konzerne. Diese Konzerne bestimmen leider nicht nur die Preise, son- – Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, Herr Kauder, damit dern sie bestimmen auch, was die Bundesregierung und auch Sie es verstehen. Passen Sie auf! Nehmen wir ein- die Mehrheit des Bundestages machen. Das beschädigt mal an, wir beide treten in einer Stadt als Oberbürger- die Demokratie. Das nehmen Sie einfach in Kauf. meisterkandidaten gegeneinander an. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es aber neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE nicht, mein Lieber!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6635

Dr. Gregor Gysi (A) Ich sage jetzt nicht, wer gewinnen würde. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Na also! Dann (C) reden Sie hier doch kein falsches Zeug!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD) Ein Vertreter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor- Aber ich sage Ihnen, was das Problem ist. Sie haben da- schung, des DIW, sagte auf Phoenix: 2,3 Milliarden für gesorgt, dass weder Sie noch ich, egal wer von uns Euro sind doch eine beachtliche Summe. – Warum fügen Oberbürgermeister würde, hinsichtlich der Energiepreise Sie nicht hinzu, dass dieser Betrag zu einem so großen irgendetwas zu entscheiden hätte. Das empfinden die Teil steuerlich absetzbar ist – das gilt im Hinblick auf die Leute als Verletzung der Demokratie. Denn der Sinn der Körperschaft- und die Gewerbesteuer –, dass der Rein- Wahl zwischen uns ist doch, dass derjenige, der gewählt gewinn nur 1,5 Milliarden Euro ausmacht? Warum sa- wird, auch in der Lage ist, die Verhältnisse zu ändern. gen Sie hier nicht die Wahrheit? Das ist nämlich ein be- Wenn Sie alles privatisieren, wenn Sie alle Kompetenzen achtlicher Unterschied. an Konzerne übertragen, dann hat die Politik aber nichts (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem mehr zu entscheiden. Genau das verletzt die Demokratie. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken Das müssen Sie endlich begreifen. [CDU/CSU]: Ach! Das stimmt doch so gar (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nicht! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Quatsch!) GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das Man muss noch hinzufügen, dass die Gewerbesteuer stimmt doch gar nicht!) die Kommunen bekommen und dass die Brennelemente- Was die Energiepolitik betrifft, sind wir für eine de- steuer der Bund bekommt. Das heißt, wenn man diese zentrale, für eine kommunale Versorgung, damit die Zu- Beträge bei der Gewerbesteuer absetzen kann, schwä- ständigkeit der Politik und damit auch der Einfluss der chen Sie die Kommunen weiterhin, die schon heute nicht Bürgerinnen und Bürger wiederhergestellt werden. wissen, wie sie eine Toilette in der Schule reparieren las- sen sollen. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun Sie haben ausschließlich Lobbyinteressen verwirk- haben. licht; dazu habe ich mich schon geäußert. Ich muss aller- dings noch einmal sagen: Wir werden 5 000 Tonnen zu- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sätzlichen Atommüll bekommen, es gibt kein Endlager, neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE und was Gorleben betrifft, werkeln Sie nur herum. Es GRÜNEN) gibt aber überhaupt keine Lösung. Eben ist schon darauf hingewiesen worden: Sechs Es ist übrigens auch immer wieder schön, zu hören, Jahre lang gilt das Ganze. Wieso eigentlich nur sechs (B) (D) dass bestimmte Bundesländer Gorleben als Endlager- Jahre lang? Also: Es kommt ein Betrag von 9 Milliarden standort vorschlagen; in Bayern zum Beispiel soll es ja Euro heraus und nicht der Betrag, von dem Sie träumen. kein Endlager geben. Dieses Vorgehen kenne ich schon. Hinzu kommen die 15 Milliarden Euro für die erneuer- Ich bin es leid, und ich muss Ihnen sagen: Auch die Be- baren Energien. völkerung ist es leid. Herr Fuchs, warum fügen Sie nicht hinzu, dass Sie Sie stellen lauter falsche Behauptungen auf. Die erste Folgendes vereinbart haben: Wenn die Laufzeiten von Behauptung: Die Kernenergie ist als Brückentechnolo- einer neuen Mehrheit im Bundestag wieder gekürzt wer- gie unverzichtbar. – Sie behaupten, wenn wir jetzt Kern- den, brauchen die Atomkonzerne nicht zu bezahlen. Das kraftwerke abschalteten, würde der Strom teurer werden. haben Sie mit ihnen vereinbart. Im ersten Halbjahr 2010 haben wir eine Strommenge von 11 Milliarden Kilowattstunden exportiert. Wenn wir (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Logisch!) die sieben ältesten und marodesten Atomkraftwerke Das Zweite, was Sie vereinbart haben, ist: Wenn es schlössen, brauchten wir nicht eine einzige Kilowatt- neue Steuern gibt, können die Atomkonzerne die neuen stunde zu importieren. Was Sie hier sagen, ist falsch. Steuern von den 15 Milliarden Euro abziehen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Als Drittes haben Sie vereinbart, dass man, wenn die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kosten – zum Beispiel für Endlager, aber vor allen Din- Die zweite Behauptung, die Sie aufstellen – diese Be- gen auch für neue Sicherheitsstandards in den Atomkraft- hauptung finde ich noch abenteuerlicher –, ist: Die werken – den Betrag von 500 Millionen Euro überschrei- Hälfte der Extraprofite werden abgeschöpft. – Mit die- ten, den überschreitenden Betrag von den 15 Milliarden sem Thema habe ich mich eingehend befasst. Sie spre- Euro abziehen kann. Nun sagt der Bundesumweltminis- chen übrigens mittlerweile von einem Betrag in Höhe ter Ihrer Partei, dass das Ganze pro AKW 1,2 Milliarden von 2,6 Milliarden Euro, was großer Quatsch ist. Es geht Euro kosten wird, nicht 500 Millionen Euro. um 2,3 Milliarden Euro. (Ulrich Kelber [SPD]: Er hat schon (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Plus aufgegeben!) 300 000! Sie können ja nicht rechnen! Das Wenn man die 700 Millionen Euro Mehrbetrag nimmt, konnten die Linken noch nie!) den man abziehen wird, bleiben von den 15 Milliarden – Warten Sie doch einmal ab. Zu den anderen Beträgen Euro ernsthaft nur 3 Milliarden Euro übrig. 9 und 3 Mil- komme ich noch, Herr Fuchs. – liarden Euro macht zusammen 12 Milliarden Euro. Der 6636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Gregor Gysi (A) Gewinn liegt aber bei mindestens 67 Milliarden Euro. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Quatsch, Herr (C) Wie Sie da auf die Hälfte kommen, ist ein reiner Witz. Gysi!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wenn Sie schon diese einladen, Herr Kauder, warum la- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE den Sie dann nicht auch einmal den Mieterbund ein? GRÜNEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Auf diese Art hat er schon die SED kaputtge- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das tun wir rechnet!) doch!) Dann stellt sich doch die Kanzlerin anschließend hin und Aber 67 Milliarden Euro Extragewinn gibt es nur dann, wenn die Preise gleich bleiben. Ich sage Ihnen: Es sagt: Die Mehrkosten, die dadurch entstehen, werden die Mieterinnen und Mieter tragen müssen. – Das finde ich gibt keine Bürgerin und keinen Bürger, die bzw. der auch unverfroren, muss ich Ihnen sagen. nur eine Sekunde lang glaubt, dass die Preise über so viele Jahre hinweg gleich bleiben; vielmehr werden sie (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- steigen. Selbst wenn man nur eine angemessene Preisstei- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE gerung zugrunde legt, wird der Extraprofit bei 127 Mil- GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU liarden Euro liegen. und der FDP) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Dann Hinsichtlich der Ökosteuern, die jetzt auch ener- müssen sie ja mehr zahlen!) gieintensive Unternehmen bezahlen sollten, haben Sie gesagt: Das wird natürlich einmal gestrichen. – In der Sie schwächen die Stadtwerke. Die Stadtwerke ha- Autoindustrie sollte der CO -Ausstoß bis zum Jahr 2040 ben investiert, weil sie von einem anderen Vertrag aus- 2 von 160 Gramm pro Kilometer auf 35 Gramm pro Kilo- gegangen sind. Allein durch falsche Investitionen verlie- meter gesenkt werden. Das wurde gestrichen. ren sie 4 Milliarden Euro. Sie wollten die Lkw-Maut ausweiten. Plötzlich ist Herr Brüderle, Sie haben heute etwas nicht wieder- Ihnen eingefallen, Sie wollen sie doch nicht ausweiten; holt. Wollen Sie sich korrigieren? Sie haben gesagt, die es bleibt bei dem, was ist. Dabei ist die Lkw-Maut wich- Strompreise würden um 8 Milliarden Euro herunterge- tig, damit wir die Transporte von der Straße endlich auf hen. Aber der Chef von RWE, der Chef eines großen die Schiene verlegen. Wir brauchen keine unterirdischen Konzerns, hat gesagt: Das ist völliger Blödsinn. – Der Bahnhöfe, sondern wir brauchen eine Förderung der Preis wird nämlich um keinen Cent gesenkt werden. Da- Bahn in anderer Hinsicht. von sollten die Bürgerinnen und Bürger gar nicht erst an- fangen zu träumen. (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring (B) [FDP]: Keine Ahnung, und davon eine (D) Ich sage noch einmal: Erstens. Dieser Atomvertrag Menge!) ist ein Verfassungsbruch. Er ist ein Geheimvertrag. Sie haben den Bundestag ausgeschlossen. Inzwischen ist al- Dann fordern Sie auch noch Kohlekraftwerke, und les bekannt, aber nicht durch Sie, sondern weil Leute das zwar nicht nur die, die wir schon haben, und die, die ge- den Medien gesteckt haben. plant und im Bau sind, sondern Sie wollen noch weitere haben. Das alles hat mit Zukunft nichts zu tun. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Quatsch!) Bei all dem, was Sie hier an Leistung betont haben, Das Zweite ist: Sie wollen jetzt alles in einem Tempo Herr Fuchs, haben Sie einen Zusatz vergessen. Ob das durch die Ausschüsse peitschen, das wirklich selten ist. Kreditprogramm Offshorewindenergie mit 500 Millionen Dabei haben Sie Folgendes gemacht – ich habe zweimal Euro, die Nationale Klimaschutzinitiative mit 200 Millio- nachgefragt, ob das stimmt –: Sie haben Sachverständige nen Euro oder die Forschung für erneuerbare Energien bestellt, die sowohl die Steuer als auch die Sicherheits- mit 300 Millionen Euro: All dies steht unter dem Vorbe- maßnahmen in AKWs erklären sollen. Auf der Welt gibt halt der Zustimmung des Bundesfinanzministers. es keinen Sachverständigen, der von Steuern genauso viel versteht wie von Sicherheitsanlagen in AKWs. (Michael Kauch [FDP]: Nein, des Auch das geht also daneben. Bundestages!) Sie haben den Vertrauensschutz bei den Investitionen Er kann jeden Tag Nein sagen. der Kommunen verletzt. Sie wollen den Bundesrat aus- schließen. Das alles ist nicht machbar und grundgesetz- Sie machen ein Programm der Vergangenheit und widrig. Aber grundgesetzwidrig werden Sie das Ganze kein Programm der Zukunft. Sie eskalieren, anstatt zu nicht durchbekommen. deeskalieren. Gehen Sie endlich einen anderen Weg – gerade bei der Kernenergie! Nun haben Sie noch einmal getagt. Ich dachte: Mal sehen, was jetzt herauskommt. – In Ihrem Entwurf stand, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- dass die Gebäudeeigentümer – Stichwort „Schutz des Ei- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE gentums“ – verpflichtet sind, Gebäudesanierungsmaß- GRÜNEN) nahmen vorzunehmen. Jetzt haben Sie eine freiwillige Maßnahme daraus gemacht. Und warum? Weil die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hausbesitzer- und Immobilienverbände das von Ihnen Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege verlangt haben. Jürgen Trittin das Wort. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6637

(A) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Homburger, Herr Kauder und die Kollegen der Koalition (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben fürchten, sie könnten diesen Ärger in ihren Wahlkreisen heute den 1. Oktober 2010. Ich muss die Jahreszahl be- haben. Deswegen sagen Sie: Bloß nicht hierher, der Müll tonen. Nur weil wir einen Wirtschaftsminister Brüderle soll zu den Fischköppen, ein Auswahlverfahren blockie- haben und weil in Stuttgart im Auftrag von Herrn ren wir um jeden Preis. – Sie verhindern die vernünftige Mappus und Frau Merkel Baumschützer mit Wasserwer- Lösung des Atommüllproblems seit Jahren, und nun fan- fern misshandelt werden, sind wir noch immer nicht gen Sie wieder an, in Gorleben schwarz zu bauen. wieder in den 80er-Jahren angekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der SPD und der LINKEN – Michael sowie bei Abgeordneten der SPD) Kauch [FDP]: Welche Fische soll es denn im Wendland geben?) An die 80er-Jahre werde ich auch durch den heutigen Tag erinnert. Ab heute darf in Gorleben wieder gebaut Die Prüfung der Geeignetheit dieses Endlagers haben werden. Damit setzen Sie, meine Damen und Herren von Sie in verantwortliche Hände gelegt, nämlich in die der Koalition, eine unselige Tradition fort. Gorleben ist Hände des Managers von Vattenfall, der wegen der Stör- damit nach Morsleben und nach der Asse das dritte fälle in Brunsbüttel und Krümmel gefeuert worden ist, Atommülllager, das ohne ein atomrechtliches Genehmi- Herrn Thomauske. gungsverfahren errichtet wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- sowie bei Abgeordneten der SPD – KEN) Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Warum haben Sie denn nichts getan? Sie haben sieben Jahre Sie haben ja eine große Neigung zu solchen Zusammen- lang Verantwortung gehabt und nichts getan!) arbeiten. Bei Ihnen ist jetzt der ehemalige Angestellte von Eon, Herr Hennenhöfer, für die Reaktorsicherheit In Morsleben hat Frau Merkel westdeutschen Müll zuständig. einlagern lassen, in der Asse haben Sie eine sichere La- gerung verhindert, und nun wollen Sie diese unschöne (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Tradition in Gorleben fortsetzen. GRÜNEN]: „Sicherheit“!) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wer war Das Ergebnis können wir im heute vorliegenden denn sieben Jahre lang Minister und hat nichts Gesetzentwurf nachlesen. Bisher gilt – das war der getan? – Michael Kauch [FDP]: Wer war denn Atomausstieg –, dass die bestmögliche Gefahrenabwehr (B) Minister? Unglaublich!) und Risikovorsorge zu gelten haben. Herr Minister, eine (D) Steigerung von „bestmöglich“ gibt es nicht. Sie wollen, Was ist es anderes als ein Schwarzbau, wenn ohne eine dass künftig nur noch angemessene und geeignete Maß- atomrechtliche Genehmigung gebaut wird und wenn die nahmen ergriffen werden, Koalition des Eigentums dafür Kirchen und Bürger ge- mäß dem Atomrecht enteignen will, damit anschließend (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nach veraltetem Bergrecht weiter gebaut werden kann? NEN]: Hört! Hört!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das heißt, Sie senken den Standard. Ich sage Ihnen aber: bei der SPD und der LINKEN) Sie dürfen diesen Standard nicht senken; denn das ver- Da wir feststellen müssen, dass es nicht einmal dem stößt gegen die Verfassung, wie Sie im -Urteil Rahmenbetriebsplan entspricht, dass Sie dort bauen, wo nachlesen können. Sie bauen – das hat der Untersuchungsausschuss heraus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bekommen –, ist das ein Schwarzbau. Sie bauen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der schwarz; Sie erkunden nämlich nicht. All das, was wir LINKEN) erkunden müssten, zum Beispiel die Beherrschbarkeit von Gasbildung in dichten Salzgesteinen und die unter- Es ist absolut unerträglich, dass Sicherheitsanforde- schiedlichen Vor- und Nachteile von Opalinuston, Granit rungen von Aufsichtsbehörden künftig daran geknüpft und Salz, können Sie in Gorleben nicht erkunden. Das werden sollen, dass diese Nachrüstungsmaßnahmen zum könnten Sie nur erkunden, wenn Sie endlich ein Stand- Zwecke der bestmöglichen Vorsorge – oder auch nur der ortauswahlverfahren durchführen würden, wie Ihnen die Geeignetheit – nicht mehr als 500 Millionen Euro pro Schweiz das vormacht. AKW kosten dürfen. Wer das macht, der verdealt Si- cherheit gegen Geld. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Michael (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wer sagt so Fuchs [CDU/CSU]: Warum haben Sie es denn etwas? – Michael Kauch [FDP]: Sie haben es nicht gemacht?) verdealt!) Aber, meine Damen und Herren, was tun Sie? Seit Es ist auch kein Zufall, dass dieser Deal von einem An- 2005 liegt der Entwurf des Standortauswahlgesetzes im walt formuliert worden ist, der häufiger für RWE als für Bundesumweltministerium vor. Sie blockieren es. Wis- die Bundesregierung arbeitet, der auf die Frage, wie er sen Sie, warum? Sie blockieren es, weil Frau denn dazu komme, sagt: So ist das Business. Bei dem 6638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Jürgen Trittin (A) steht man mal auf der einen Seite, mal auf der anderen LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Ursache (C) Seite. – Das ist Ihr Verständnis von Sicherheit. und Wirkung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie sagen: Sie tun das alles für den Klimaschutz. Ich und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der sage: Sie reißen das Klimaschutzziel! Wer 2050 80 Pro- LINKEN) zent des Stroms erneuerbar erzeugt, der wird das 2-Grad- Wir haben den drittältesten Atomkraftwerkspark der Ziel nicht einhalten können. Das kann man nämlich nur, Welt. Mit Biblis A betreiben wir das älteste Kraftwerk. wenn man vorher alle Zementwerke und alle Stahlwerke Die Sicherheit dieser alten Möhren wollen Sie Atomlob- in diesem Land schließt und den Kühen verbietet, Fladen byisten überantworten. Das ist völlig unverantwortlich zu produzieren. Das sind nämlich die Emissionen, die und nicht akzeptabel. wir jenseits der Energie noch haben werden. Ich frage Sie ernsthaft: Wollen Sie für den Weiterbetrieb von Koh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lekraftwerken die Stahlindustrie, die Zementindustrie und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und die Landwirtschaft aus Deutschland vertreiben? Ich LINKEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ginge kann nicht glauben, dass Sie hier ernsthaft so etwas be- es ein bisschen lauter? Ich höre so schlecht!) schließen wollen. Sie erzählen uns, Sie tun das, weil Sie eine Brücke zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den erneuerbaren Energien bauen wollen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das haben LINKEN) Sie nie geschafft!) Das Energiekonzept der Bundesregierung ist nichts Befragt dazu, wo denn diese Brücke ist, haben Sie, Herr anderes als das Geschäftsmodell von RWE, Eon, EnBW Röttgen, in einem Zeitungsinterview gesagt: Wenn die und Vattenfall. In Deutschland wird mit alten Kohle- und Erneuerbaren 40 Prozent unseres Stroms liefern. – Lesen Atomkraftwerken Geld verdient, im Ausland wird in er- Sie Ihre eigene Meldung an die EU! Darin steht, dass Sie neuerbare Energien investiert. Wenn die alten Möhren im Jahre 2020 38,6 Prozent unseres Stroms erneuerbar hier auslaufen, dann können wir den Strom aus dem erzeugen wollen. Ich glaube, nach Ihrer Auffassung Ausland importieren. Sie haben das in Ihrem eigenen müssen wir spätestens 2022 – das ist jetzige Rechtslage Energieszenario in aller Ehrlichkeit aufgeschrieben. Bei des Ausstiegs – die 40 Prozent erreicht haben. einem Rückgang des Anteils der erneuerbaren Energien (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- um 20 Prozent, bezogen auf die Meldungen, die Sie nach NEN]: Ach!) Brüssel geliefert haben, und bei einer Laufzeitverlänge- (B) rung um zwölf Jahre ergibt sich im Jahre 2050 ein Netto- (D) Was machen Sie? Sie verlängern die Laufzeit von Atom- stromimport von 25 Prozent. Ein Viertel unseres Stroms kraftwerken über 2040 hinaus. Sie haben die Brücke mal soll dann aus dem Ausland kommen. Von wegen mehr eben um 20 Jahre verlängert und nicht verkürzt, wie es Energiesicherheit! Ich nenne das, was Sie planen, weni- richtig gewesen wäre. ger Energiesicherheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) bei der SPD und der LINKEN) Hören Sie auf, von Geld zu reden! Am Ende des Ta- ges werden Sie für Energieeffizienz bzw. Energieeinspa- Schlimmer noch: Der Einstieg in die erneuerbaren rung maximal 14 bis 15 Milliarden Euro haben, wenn Energien und der Ausstieg aus der Atomenergie, die wir Sie bei der Sicherheit ein Auge zudrücken. Wissen Sie, 2000 in einer Koalition der ökologischen Erneuerung auf wie hoch das Investment der erneuerbaren Energien im den Weg gebracht haben, hat in diesem Land einen Boom Jahre 2009 – also in einem Jahr, nicht in 30 Jahren – ge- bewirkt. Neue Firmen, neue Anbieter, zum Beispiel in der wesen ist? 17,8 Milliarden Euro. Das heißt, Sie investie- Windenergiebranche, oder auch regionale Anbieter wie ren in einem Jahr mehr, als Sie glauben in 30 Jahren ein- ENTEGA und andere sind auf den Markt getreten. Das sammeln zu können. hatte einen Effekt: Jedes Jahr verloren Eon, RWE, EnBW und Vattenfall 1 Prozent Marktanteil. Das heißt, wir ha- (Patrick Döring [FDP]: So ein Quatsch! Der ben für mehr Wettbewerb gesorgt. glaubt das wirklich!) Jetzt kommt die sogenannte bürgerliche Koalition und Aber wird es denn dabei bleiben? Ich empfehle einen sagt: Das geht uns zu weit. So viel Wettbewerb wollen Besuch bei der HUSUM WindEnergy. Werfen Sie dort wir nicht. Wir wollen die Wiederherstellung des Mono- einen Blick in die Auftragsbücher. Für das Jahr 2012 pols der großen Vier im Kampf gegen die Stadtwerke verzeichnet die HUSUM WindEnergy, die größte Messe und die Erneuerbaren. – Dafür rauben Sie anderen Un- der Windindustrie, ein Auftragsminus von 70 Prozent. ternehmen die Investitionssicherheit. Ich sage Ihnen: 70 Prozent Einbruch! Wir werden weniger Investitionen Das wird keinen Bestand haben, nicht hier im Hause, in erneuerbare Energien haben statt mehr. Das ist Ihre nicht vor Gericht und nicht bei den nächsten Wahlen. Politik. Wir werden dabei Arbeitsplätze in großem Stil Wir sagen in aller Deutlichkeit: Wir wollen in Deutsch- verlieren. land verlässliche Rahmenbedingungen in der Energiepo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN litik. Die wird es nur geben, wenn wir zum Konsens zu- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der rückkehren und aufhören, diese Gesellschaft im Auftrag Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6639

Jürgen Trittin (A) von Jürgen Großmann von RWE zu spalten, wie Sie, (Ulrich Kelber [SPD]: Doch!) (C) liebe Frau Merkel, es tun. Alle Standards, die es heute gibt, werden erhalten. (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der SPD und der LIN- (Ulrich Kelber [SPD]: Falsch!) KEN) Wir setzen eine zusätzliche Risikovorsorge durch. Wenn Herr Kelber sagt: „Das war heute auch schon so“, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dann schauen Sie bitte in § 18 des Atomgesetzes. Dort Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Michael steht nämlich, dass die Nachrüstungen, die über das De- Kauch das Wort. sign der Genehmigung hinausgehen, entschädigungspflich- tig sind, und zwar durch das Bundesland der Atombe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hörde, die die Aufsicht führt. Deshalb hat es das in Deutschland nie gegeben. Michael Kauch (FDP): (Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben gerade die Politik Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind der schwarz-gelben Koalition zitiert!) es inzwischen gewohnt, dass die Opposition bei diesem Thema nur noch hysterisch reagiert, verblendet ist und Wenn Sie sich echauffieren, dass ab 500 Millionen eine eingeschränkte Wahrnehmung hat. Aber das, was Euro die Gewinnabschöpfung gesenkt wird, gilt doch wir hier gerade erlebt haben, Herr Trittin, war die größte Folgendes: Wenn wir „nur“ diese 500 Millionen von den Heuchlerrede in der ganzen Debatte. 17 Kraftwerken nehmen, dann ersparen wir dem deut- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- schen Steuerzahler allein durch diese Änderung 8,5 Mil- chen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ liarden Euro, die als Entschädigung fällig gewesen wä- DIE GRÜNEN]) ren, wenn Sie das gemacht hätten, was wir jetzt wollen. Sie, Herr Trittin, haben bei der Asse sieben Jahre (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – weggeschaut. Sie haben sieben Jahre nichts getan, um Ulrich Kelber [SPD]: Herr Kauch, jetzt ist die Suche nach einem Endlager voranzubringen, sei es Schluss!) in Gorleben oder an einem anderen Standort. Sie fordern Deshalb sage ich, meine Damen und Herren, das, was eine Standortsuche immer nur dann, wenn Sie in der Op- Sie verbreiten, ist völlig abwegig. Das ist der Versuch, position sind. Das ist Ausdruck Ihrer Klientelpolitik. die deutsche Bevölkerung hinters Licht zu führen. Was hätte Ihre Klientel denn gesagt, wenn Sie verant- wortungsvoll die Endlagerfrage vorangetrieben hätten? (Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE (B) Dann hätten diese Menschen Sie nicht mehr gewählt. GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- (D) Deshalb haben die Grünen nichts, aber auch gar nichts frage) gemacht, um die Suche nach einem Endlager voranzu- bringen. Es ist ein Vergehen an den kommenden Genera- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tionen, was Sie gemacht haben. Herr Kollege Kauch. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Michael Kauch (FDP): Sie, meine Damen und Herren von der SPD und den Nein, keine Zwischenfrage. Grünen, haben doch die größten Deals gemacht, die diese Republik je gesehen hat. Dafür, dass die Energie- versorger die Klappe halten, haben Sie ihnen zugesagt, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: keine zusätzlichen Sicherheitsauflagen zu beschließen, Keine Zwischenfrage. Gut, danke. keine Steuern zu erheben Michael Kauch (FDP): (Ulrich Kelber [SPD]: Lüge!) Diese Koalition geht den Weg in das Zeitalter der er- und keine Gewinnabschöpfung vorzunehmen. Das hat neuerbaren Energien. Das gefällt Ihnen natürlich nicht, Herr Scheer selber zugegeben. weil wir mehr machen, als Sie jemals verabschiedet ha- ben, meine Damen und Herren. (Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU] – Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb kann ich nur sagen: Wir sind die, die für Minus 70 Prozent!) mehr Sicherheit sorgen, die eine Steuer einführen und die Gewinne abschöpfen, wozu Sie sich nie getraut ha- Diese Koalition erhöht die Klimaschutzziele: 80 bis ben. 95 Prozent bis 2050. Anders als Sie fixieren wir auch Zwischenschritte, sodass man nachprüfen kann, ob wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) uns auf dem richtigen Weg befinden. Wir haben es be- Wir schließen keine Deals über Sicherheit ab, wir garan- rechnen lassen und wissen, dass es geht. Wir erhöhen die tieren die Sicherheit durch Gesetze. Sie haben Sicherheit Ziele für erneuerbare Energien auf 80 Prozent beim durch Ihren Vertrag ausgeschlossen. Das ist der Unter- Strom und auf über 50 Prozent beim Primärenergiever- schied. Es ist die Unwahrheit, was hier verbreitet wird. brauch. Das haben Sie immer nur gefordert, aber Sie ha- Wir senken keine Sicherheitsstandards. ben es nie umgesetzt, meine Damen und Herren. 6640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Michael Kauch (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Stellungnahmen der kommunalen Unternehmen lesen, (C) dann hört sich das schon ganz anders an. Denn unsere Diese Koalition redet nicht nur von Investitionen in Fraktionen haben das Energiekonzept an dieser Stelle in erneuerbare Energien. wesentlichen Punkten nachgebessert. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Rolf Hempelmann [SPD]: Wo denn?) NEN]: Nein, verhindert sie aktiv!) Wir haben nicht nur ein Offshore-Förderungsprogramm, Zusätzlich zu dem, was das Erneuerbare-Energien-Ge- von dem gerade Zusammenschlüsse von Stadtwerken setz schon hergibt, zusätzlich zu dem, was die bisherigen profitieren, sondern wir haben auch das Förderprogramm Förderprogramme beispielsweise für Ökoheizungen her- „Investitionszulagen für neue Kraftwerke“ auf neue, geben, legen wir einen Energie- und Klimafonds auf. kleine Anbieter beschränkt. Es sind eben nicht RWE und Dieser Energie- und Klimafonds wird aus den Gewinnen Co, die davon profitieren, sondern nur noch die Stadt- der Kernkraftwerke gespeist: etwa 15 Milliarden Euro. werke und kleine neue Anbieter. Unser Energiekonzept Ab 2013 kommen dann aber 100 Prozent der Erlöse aus ist ein Programm zur Förderung des Mittelstands. Das den Emissionsrechten für CO -Zertifikate dazu. 2 sollten Sie hier zur Kenntnis nehmen. (Ulrich Kelber [SPD]: 100 Prozent?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist der größte Erfolg, den die Umweltpolitiker je- mals gegenüber dem Bundesfinanzminister erreicht ha- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ben. Denn das sichert die Finanzierung der Programme Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem für Energieeffizienz, für Gebäudesanierung und erneuer- Kollegen Hans-Josef Fell von Bündnis 90/Die Grünen. bare Energien, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben sie doch gerade gekürzt!) Herr Kollege Kauch, Sie haben genauso wie Ihre Vor- ohne dass wir jedes Jahr zum Finanzminister betteln ge- redner von Union und FDP immer wieder behauptet, hen müssen. dass Sie mit diesem Konzept den Ausbau der erneuerba- ren Energien vorantreiben. Wenn ich in das Gutachten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – von EWI, Prognos und GWS schaue, das die Grund- Ulrich Kelber [SPD]: 100 Prozent? Sind Sie lage dieses Konzepts der Bundesregierung gebildet hat, ganz sicher, dass das da drinsteht?) dann kann ich diese Aussage nicht bestätigt finden. Was eine Branche mit heute 300 000 Arbeitsplätzen in dieser – Da steht 100 Prozent der Mehrerlöse, nämlich genau Republik braucht, sind gesicherte Absatzmärkte für ihre (B) der Mehrerlöse, die noch nicht im Haushalt verplant (D) Produkte, auch in Deutschland. Dieses Gutachten sieht sind. 900 Millionen Euro sind unter Herrn Steinbrück ein bestimmtes jährliches Ausbauvolumen vor. Die drei bereits verplant worden, unter anderem für das Marktan- Säulen, die im Bereich Elektrizität, erneuerbare Ener- reizprogramm für erneuerbare Energien. Deshalb, Herr gien heute existent sind – die Windkraft an Land hatte Kelber, sollten Sie ganz ruhig sein, wenn Sie das hier im letzten Jahr einen Zubau von 1,8 Gigawatt –, sollen jetzt infrage stellen. in den nächsten Jahren um sage und schreibe 65 Prozent (Ulrich Kelber [SPD]: Die Sie dann gekürzt auf 0,65 Gigawatt jährlichen Zubaus reduziert werden. haben! Sie haben die Ausgaben aus den Nach 2020 soll dort weiter drastisch reduziert werden. 900 Millionen gekürzt!) Die Photovoltaik hat heute ein großes Ausbauvolu- Meine Damen und Herren, das Wichtigste, was wir in men von etwa 5 bis 6 Gigawatt; sämtliche Zahlen ken- diesem Energiekonzept als Bundestagsfraktionen der Union nen wir noch nicht exakt. Dieses Ausbauvolumen soll und der FDP klargestellt haben, ist: Der unbegrenzte Ein- um 75 Prozent zurückgeschraubt werden. speisevorrang für erneuerbare Energien bleibt erhal- (Ulrich Kelber [SPD]: Im ersten Schritt!) ten. Damit ist das Märchen vom Tisch, dass das Ganze ein Wettbewerb gegen die erneuerbare Energien wäre. Durch – Im ersten Schritt, und danach noch viel deutlicher. – den unbegrenzten Einspeisevorrang können die erneuer- Das Ausbauvolumen der Bioenergiebranche soll jährlich baren Energien nach ihren Möglichkeiten eingespeist gar um 85 Prozent gesenkt werden. Auch angesichts der werden. Dadurch entsteht aber kein Wettbewerb zwi- Tatsache, dass der Ausbau der Wasserkraft und die schen Erneuerbaren und Kernkraft, sondern ein Wettbe- Stromerzeugung aus Geothermie in Ihrem Konzept über- werb zwischen Kernkraft und Kohle. haupt keine Rolle spielen, frage ich Sie: Wie wollen Sie verantworten, dass diese Unternehmen 50 bis 70 Prozent (Beifall bei der FDP) ihres Marktvolumens verlieren werden? Wie wollen Sie Wenn Sie das schlecht finden, dann sind Sie die Befür- verantworten, dass die zahlreichen Arbeitsplätze dort worter von mehr Kohle, von mehr Gas und von weniger dann nicht mehr existent sind, dass einige dieser Unter- Klimaschutz, meine Damen und Herren von den Grünen. nehmen, die den Rückgang ihres Marktvolumens auf dem Exportmarkt nicht auffangen können, in Konkurs (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gehen werden müssen, dass Handwerker in den nächsten Abschließend, meine Damen und Herren noch zu ei- Jahren nicht mehr genügend Arbeitsaufträge haben? All nem weiteren Märchen, nämlich dass der Wettbewerb so das kann man im Gutachten von EWI, Prognos und negativ für die Stadtwerke wäre. Wenn Sie die neuesten GWS nachlesen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6641

Hans-Josef Fell (A) Ich habe Umweltminister Röttgen bereits mehrfach Im Übrigen geht man in dem Gutachten von der Prä- (C) aufgefordert, zu sagen, wie seine Zahlen aussehen, wenn misse aus, dass es einen offenen europäischen Binnen- er abstreitet, dass die Zahlen in diesem Gutachten markt gibt. Man kann darüber streiten, ob das schon Grundlage des Energiekonzepts der Bundesregierung 2020 der Fall sein wird, wie es die Gutachter schreiben. sind. Wenn ich mir die im Aktionsplan der Bundesregie- Die politische Zielsetzung aber ist sinnvoll, dass wir im rung prognostizierten Zahlen anschaue, die sie nach Blick auf die von den Verbraucherinnen und Verbrau- Brüssel gemeldet hat, dann erkenne ich, dass dort ähnli- chern zu tragenden Stromkosten erneuerbare Energien che Reduktionen vorhanden sind und dass eben nicht der möglichst dort in der Europäischen Union produzieren Ausbau erneuerbarer Energien geplant ist. Einzig und al- lassen, wo es am kostengünstigsten ist. lein Offshore-Windenergie, die heute noch kein großes Marktvolumen hat, soll gewährleisten, dass der Anteil (Ulrich Kelber [SPD]: Für die Konzerne am der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung 2020 kostengünstigsten ist!) bei 35 Prozent liegt. Wenn ich mir auch hier die Zahlen Das hat nichts mit der Wertschöpfung zu tun; denn es ist für den jährlichen Ausbau anschaue, sehe ich: Die für die deutschen Hersteller genauso gut, wenn ihre Summe dessen, was Sie für Offshore-Windenergie plus Windkraftanlagen an der Biskaya aufgestellt werden an- Onshore-Windenergie auszugeben planen, ist niedriger statt im Harz. Verursachen Sie hier doch bitte keine Hys- als das, was heute für Onshore-Windenergieanlagen be- terie! Es geht darum, dass wir eine Versorgung mit reitgestellt wird. Ich stelle fest: – Strom aus regenerativen Energiequellen aufbauen wol- len. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Fell! Sie verwundern mich schon sehr, Herr Fell. Ich dachte immer, dass wir beide Protagonisten des Projek- tes sind, mit dem Strom in der Wüste erzeugt Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werden soll. Mit Ihrer nationalistischen Argumentation – Sie werden diese Branche in den Abgrund treiben, distanzieren Sie sich von der Politik, die Sie ansonsten Arbeitsplätze vernichten – im Deutschen Bundestag vertreten. Wir als Koalition stehen dazu, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Europa alle erneuerbaren Energien entsprechend ihrer Herr Kollege Fell, Ihre Zeit ist schon lange zu Ende. Möglichkeiten auszubauen. Deshalb werden wir das Er- neuerbare-Energien-Gesetz fortschreiben, mit Einspei- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sevorrang und Vergütungssätzen, die jeder Technologie – und keinen Ausbau erneuerbarer Energien herbei- in Deutschland eine Chance geben. (B) (D) führen, wie ihn die Branche bräuchte. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Rolf Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hempelmann. Herr Kollege Kauch, bitte, zur Erwiderung. (Beifall bei der SPD) Michael Kauch (FDP): Lieber Herr Kollege Fell, das war wieder ein klassi- Rolf Hempelmann (SPD): sches Beispiel von Wahrnehmungsschwäche, wie wir sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! in dieser Debatte immer wieder erleben. Ich möchte mich zuerst an Sie, Herr Bundeswirtschafts- Sie haben immer noch nicht verstanden, was wir hier minister, wenden. Herr Brüderle, ich habe Sie in dieser beschließen. Die Fraktionen von FDP und Union haben Woche zweimal gefragt, wie Sie Ihre Atompolitik mit keinen Antrag eingebracht, dass der Deutsche Bundestag Ihren Pflichten als oberster Wettbewerbshüter dieser ein Gutachten beschließt. Auch ist es nicht so, dass die Bundesregierung vereinbaren wollen. Sie haben zwei- Bundesregierung ein Gutachten beschlossen hat. Wir ha- mal die gleiche Antwort gegeben. Das spricht zwar für ben ein politisches Konzept beschlossen, dem eine Ex- Sie, aber die Antwort war zweimal falsch. Sie haben ge- pertise zugrunde lag. Über deren Prämissen kann man sagt: Das ist doch ganz einfach; wenn länger Atomstrom streiten. Man kann sagen: Diese Expertise enthält einige in das Netz eingespeist wird, erhöhen wir die Strom- Annahmen, die vielleicht zu optimistisch sind, beispiels- menge. Das Angebot wird dann größer sein als die weise was die Möglichkeit angeht, schon 2020 einen of- Nachfrage, und dann sinkt der Preis. – Das klingt ein- fenen europäischen Binnenmarkt zu haben. Aber die fach, ist aber falsch. Klar ist: Wir erhöhen damit die Zahlen, die Sie hier nennen, liegen nicht dem politischen Strommenge, die von den großen Vier längerfristig ein- Konzept der Bundesregierung und auch nicht dieser Ko- gespeist werden kann. Wir stärken also das Oligopol der alition zugrunde. Es gilt das, was die Bundesregierung Vier. Interessanterweise sagt der eigentliche oberste beschlossen hat, nämlich der Aktionsplan für erneuer- Wettbewerbshüter in diesem Land, nämlich der Präsi- bare Energien. Das ist die Grundlage, die Beschluss- dent des Bundeskartellamts, dass die Stärkung des Oli- lage dieser Bundesregierung, und dabei wird es auch gopols eben nicht zu niedrigeren, sondern mittelfristig bleiben, Herr Fell. zu höheren Preisen führt. 6642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Rolf Hempelmann (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Kolleginnen und Kollegen, welchen Einfluss (C) DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Der hat hat denn die Laufzeitverlängerung auf die Erneuerbaren? ja auch Ahnung im Vergleich zum Minister!) Stellt sie eine Brückenfunktion dar, wie Sie immer sa- gen? Sind Atomkraft und Erneuerbare das neue Traum- Jetzt kommen wir zum Clou: Wird das Angebot grö- paar der Nation? ßer oder kleiner? Schauen wir uns die sonstigen Auswir- kungen der Laufzeitverlängerung an. Da melden sich (Ulrich Kelber [SPD]: So wie Schwarz-Gelb!) nämlich die Wettbewerber zu Wort, und zwar sowohl die privaten als auch die kommunalen Unternehmen. Es Stimmt es wirklich, dass Atomkraftwerke so wunderbar melden sich übrigens auch die Kraftwerksbauunterneh- regelbar sind, wie Sie sagen? Schauen wir uns doch ein- men. Sie sagen unisono: Aufträge, die schon in Sicht wa- mal Ihre eigenen Zahlen an: Sie gehen von einer ausge- ren, werden wieder zurückgenommen. – Das heißt, mit- sprochen hohen Auslastung der Atomkraftwerke aus. telfristig wird die Laufzeitverlängerung dazu führen, Die Auslastung liegt zu Anfang bei 95 Prozent und dass das Angebot eher sinkt als steigt. Mit anderen Wor- schlägt dann nur einen sehr leichten Sinkpfad ein. Die ten: Selbst mit Ihrer einfachen Logik müssten Sie darauf Institute gehen von ganz anderen Zahlen aus, jedenfalls kommen, dass wir durch die Laufzeitverlängerung ten- dann, wenn zugrunde gelegt wird, dass Ihre Ziele bei den denziell steigende Preise auslösen. Erneuerbaren erreicht werden. Die Institute sagen: In diesem Fall ist die Auslastung der Atomkraftwerke viel Jetzt kommen wir zu einer weiteren Verschärfung die- niedriger. Dafür gibt es eigentlich nur zwei Erklärungen. ser Problematik. Herr Fuchs war ja ehrlich genug, zu sa- Entweder Sie haben recht, dass die Auslastung tatsäch- gen, dass die großen Vier durch die Laufzeitverlänge- lich so hoch ist. Dann heißt das aber zugleich, dass Sie rung Liquidität bekommen sollen, um Investitionen von Anfang an nicht davon ausgehen, dass die Atom- sowohl in die Erneuerbaren als auch in den konventio- kraftwerke heruntergeregelt werden und dass real – was nellen Kraftwerkspark tätigen zu können. Was bedeutet auf dem Papier steht, ist etwas anderes – der Vorrang für das, wenn man gleichzeitig, Herr Kauch, den Stadtwer- Erneuerbare gegenüber Atomkraft gilt. Sie gehen viel- ken und den neuen Anbietern auf dem Strommarkt Mit- mehr davon aus, dass jede Kilowattstunde, die in einem tel für Investitionen entzieht? Was nutzt es, ihnen die Atomkraftwerk erzeugt werden kann, auch wirklich ins Möglichkeit zu geben, in Offshore-Anlagen zu investie- Netz eingespeist wird. ren, wenn man ihnen zugleich die Mittel entzieht? Oder – das ist die alternative Erklärung – Sie wissen, (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wo entzie- dass eine so hohe Auslastung nicht möglich ist und die hen wir denen die Mittel?) Auslastung tatsächlich sinken wird. Dann müssen Sie Darauf weisen die kommunalen Unternehmen und die aber offenbar etwas anderes im Kopf gehabt haben, (B) (D) neuen Anbieter hin. Sie sagen: Wir sind mit unseren An- wenn Sie dennoch von einer so hohen Auslastung ausge- lagen nicht mehr wettbewerbsfähig, wenn die Atom- hen. Was denn nun? Die Erklärung ist ganz einfach: Sie kraftwerke weiterlaufen. Man verringert damit unsere wollen eine 15-jährige Laufzeitverlängerung hinter einer Gewinnaussichten. Wir haben in Zukunft gar keine 12-jährigen verstecken. Sie haben behauptet, dass die Möglichkeiten mehr, zu investieren. Reststrommenge, die gemäß Ihrem Zugeständnis in den Atomkraftwerken produziert werden darf, für eine Rest- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten laufzeit von 12 Jahren reicht. Wenn die Auslastung aber der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE wegen des Ausbaus der Erneuerbaren niedriger ist, als GRÜNEN) Sie sie angeben, dann handelt es sich in Wirklichkeit um Das ist der Grund, warum Investitionen zurückgenom- eine Verlängerung um 15 Jahre. men werden. Das ist auch der Grund, warum der Markt- anteil der großen Vier in Zukunft sogar noch wachsen (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wird. Die bekommen nämlich die Mittel, um in erneuer- NEN]: Skandal!) bare und in konventionelle Energien zu investieren. Das Das ist die Zahl, die seriöse Institute in diesem Zusam- wird deren Marktmacht weiter stärken. menhang nennen. Es gibt genug warnende Stimmen: Ich erinnere an die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aussagen des jetzigen Präsidenten des Bundeskartellam- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE tes. Der ehemalige Präsident des Bundeskartellamtes, GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Schlüssige Böge, hat sogar ein Gutachten erstellt, in dem er all diese Beweisführung!) Konsequenzen deutlich gemacht hat. Sie haben sich ei- nen ehemaligen Präsidenten des Bundeskartellamtes ins Ehrlichkeit in der Sache ist gefragt, auch bei dem an- Haus geholt. Auch er hat in seiner alten Funktion auf all deren Thema, zu dem es heute Anträge von mehreren diese Zusammenhänge hingewiesen, die er aber offenbar Fraktionen gibt. Hier geht es um den deutschen Stein- in der Zwischenzeit – das Sein bestimmt das Bewusst- kohlebergbau. Ich kann das – weil meine Redezeit sein – schon fast abgelaufen ist – nur noch antippen. Ich sage Ihnen: Die Bundesregierung steht hier in der Pflicht. Die (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kommission war auf einem guten Weg und bereit, der NEN]: Das stimmt nicht immer! Sie müssen Bundesregierung zu folgen. Mittlerweile, Herr Brüderle, mal an Herrn Brüderle denken!) ist sie dazu nicht mehr bereit. Herr Oettinger schwänzt zu den Akten gelegt hat. die wichtigsten Sitzungen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6643

Rolf Hempelmann (A) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist Einstieg bedeutet übrigens nicht nur den Ausbau von (C) wirklich unglaublich!) Kapazitäten. Wenn man in die Versorgung mit erneuer- baren Energien einsteigen will, dann braucht man auch Sie machen einen Prüfvorbehalt geltend, während Spa- einen Einstieg in die dazugehörige Infrastruktur aus Net- nien und Rumänien sagen: Einspruch! Wir bestehen auf zen und Speichertechnologien. ein Ende der Subventionierung im Jahr 2018 bzw. in ei- nem Fall im Jahr 2022. Frau Merkel, es wird wahr- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: scheinlich Mitte Dezember auf dem Europäischen Rat Und wer hat die 2005 blockiert? Sie!) ihr Job sein müssen, das durchzusetzen, was wir in Deutschland beschlossen haben und was die Kommis- Ohne das haben Sie keine Versorgung mit erneuerbaren sion zwischenzeitlich schon einmal zu ihrer eigenen Energie, meine Damen und Herren. Politik gemacht hatte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Vielen Dank. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn 2005 blockiert? Sie haben blo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ckiert!) DIE GRÜNEN) Auf diesem Gebiet haben Sie, Herr Kollege Trittin, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schlicht und ergreifend nichts gemacht. Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Dr. Norbert (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Röttgen. Sie waren gegen das Gesetz! CDU/CSU haben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – das Gesetz im Bundesrat verhindert! So ist Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: das!) Ach, er ist auch da? – Claudia Roth [Augs- – Sie haben nichts gemacht. – Wir müssen jetzt die Fol- burg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum gen Ihrer Untätigkeit kompensieren. Wir tun es auch. reden Sie eigentlich als Letzter?) Darauf können Sie sich verlassen.

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Naturschutz und Reaktorsicherheit: Genau aus diesem Grund ist übrigens eine Laufzeit- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- verlängerung, wie ich von Anfang an gesagt habe, not- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten wendig. fehlt unserem Land, fehlt unserer Gesellschaft, fehlt dem (B) Industrieland Deutschland ein Energiekonzept. Jetzt (Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) liegt es vor, weil diese Koalition im Unterschied zu den NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vorgängerregierungen handelt. Das ist die Realität. – Jetzt lasse ich keine Zwischenfrage zu. – Im Jahr 2000 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ist der Ausstieg beschlossen worden. Wir sind jetzt zehn Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jahre weiter. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre ist Wo waren Sie den gestern?) auf dem Gebiet des Netzausbaus und bei den Speicher- kapazitäten praktisch nichts passiert. Wir können nicht Der Punkt ist eben, dass ein Ausstieg noch kein Energie- einfach sagen: Das, was jetzt bei null steht, wird in zehn konzept macht. Sie haben im Jahr 2000 den Ausstieg be- Jahren bei 100 Prozent sein. – Damit gefährden wir die schlossen und den Kernkraftwerken noch 20 Jahre Rest- Energiesicherheit und die Versorgung mit erneuerbaren laufzeit gegeben, Energien in Deutschland, und das dürfen wir nicht tun. (Ulrich Kelber [SPD]: Maximal!) Energie ist auch eine Frage von elementarer Sicherheit; diese gewährleisten wir. aber den Einstieg versäumt. Mit Aussteigermentalität, Ideologie, Falschbehauptungen und der Kampfmentali- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tät, die Sie zeigen, kann man kein Industrieland führen. Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben als Erster das Speicherfördergesetz abgelehnt! – Gegenruf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Seien Vielmehr braucht man einen verantwortungsvollen Ein- Sie doch einmal friedlich, Herr Kelber!) stieg in die Energieversorgung. Ich stelle mir die Frage, warum Sie, Herr Kelber und (Ulrich Kelber [SPD]: Es war doch Norbert Herr Trittin, in dieser Debatte in einem solchen Maß Röttgen, der das Erneuerbare-Energien-Ge- Falschbehauptungen bewusst – anders kann ich mir das setz abgelehnt hat!) nicht erklären – aufstellen, die parlamentarisch schon sehr befremdlich sind, die ich aber auch für scheinheilig – Vielleicht kann es bei all den Kampfbehauptungen und und verantwortungslos halte. Falschbehauptungen, die aufgestellt worden sind, hier auch einmal möglich sein, eine sachliche Bemerkung zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) machen. Ich glaube, dass es einen Grund gibt, warum Sie mit die- (Joachim Poß [SPD]: Herr Hempelmann hat ja ser Mischung aus Aggressivität, Kampfrhetorik und wohl sachlich diskutiert!) Falschbehauptungen hier auftreten. 6644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen (A) (Ulrich Kelber [SPD]: Werden Sie einmal Ich habe Ihnen in der Regierungsbefragung zugesagt, (C) konkret!) dass ich in jeder energiepolitischen Debatte aus dem Vertrag, den Sie geschlossen haben, vorlesen werde. – Ich werde ja gerade konkret. – Den Grund hat, wie ich glaube, der Kollege Scheer heute auf den Punkt ge- (Ulrich Kelber [SPD]: Vollständig!) bracht. Herr Kollege Scheer, ich will das noch einmal – Vollständig. – Ich möchte Ihnen einige Vertragskaute- herausarbeiten; denn ich glaube, dass Sie den Sachver- len vorlesen. Der damalige Minister für Reaktorsicher- halt ganz zutreffend geschildert haben. heit, Jürgen Trittin, hat selber unterschrieben und zuge- (Zuruf von der CDU/CSU: Ganz genau!) sagt, dass die Bundesregierung keine Initiative ergreifen werde, um diesen Sicherheitsstandard zu ändern. Er hat Sie haben zutreffend gesagt: Der Ausstiegsvertrag, den die Zusage gegeben: Es gibt keine Veränderung bei Si- Rot-Grün abgeschlossen hat, war ein Vertrag im Sinne cherheit und Sicherheitsstandards, und es gibt auch des Wortes. Es war nämlich ein Austausch von Leistung keine Erhöhung von Sicherheit. – Das hat er zugesagt, und Gegenleistung, der darin bestand, dass sich die obwohl sich die Sicherheitstechnik vielleicht weiterent- Kernenergieversorgungsunternehmen damit einverstan- wickelt. den erklären, dass Kernkraftwerke in Deutschland nur noch gut 20 Jahre betrieben werden. Dann haben Sie die (Ulrich Kelber [SPD]: Zitieren Sie einmal Gegenleistungen des Staates, der Regierung genannt. Sie konkret!) haben zum Beispiel gesagt: Es wird – das war die Ge- Das ist die Zusage, die Sie gegeben haben. Sie ist unver- genleistung – keine Steuern, keine Kernbrennstoffsteuer, antwortlich. geben, und es wird auch nicht mehr Sicherheit geben, weil Sicherheitsmaßnahmen auch ein Kostenfaktor (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sind. Als Gegenleistung des Staates verzichten wir auf Ulrich Kelber [SPD]: Sie zitieren nicht!) diese Kostenbelastungen. (Ulrich Kelber [SPD]: Sie setzen die Unwahr- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: heit vom Rednerpult aus fort! Es ist unglaub- Herr Kollege Röttgen, erlauben Sie eine Zwischen- lich!) frage des Kollegen Scheer?

Dazu will ich Ihnen zwei Dinge sagen. Die damalige Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, Regierung hat mit den Zusagen, es gebe keine Kern- Naturschutz und Reaktorsicherheit: brennstoffsteuer und nicht mehr Sicherheitsmaßnahmen, Nein danke. Ich möchte keine Zwischenfrage zulas- über Rechte verhandelt, die allein diesem Haus zustehen. sen. (B) Es ist das Recht des Parlaments, Steuern zu beschließen, (D) und nicht das Recht der Regierung, darüber Verträge mit Ich kann noch weitergehen und andere Behauptungen Kernenergiewirtschaftsunternehmen zu schließen. Es be- von Ihnen anführen. Herr Kollege Trittin, Sie haben be- schädigt die Demokratie, es beschädigt das Parlament, hauptet – auch das wider besseres Wissen; Sie sollten das in solchen Debatten unterlassen – (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nur zitiert, Herr Röttgen!) wenn die Regierung dieses Parlament entmündigt. Es beschädigt Demokratie und Parlament, dass die Koali- – nein, Sie haben behauptet –: Wenn es zur Genehmi- tionsfraktionen von damals bei diesem parlamentari- gung von Gorleben kommt, dann wird sie ohne ein schen Entmündigungsprozess mitgemacht haben. Das ist atomrechtliches Genehmigungsverfahren erfolgen. ein parlamentarischer Skandal, den Sie zu verantworten (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben. NEN]: Ich habe nur aus Ihrem Gesetzentwurf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zitiert, Herr Röttgen!) Der zweite Skandal, der tief in das Staatsverständnis Diese Behauptung ist definitiv falsch. einschneidet, (Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Trittin (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nur Jetzt kommt er zu Herrn Thomauske!) gesagt: Sie bauen ohne eine atomrechtliche Genehmigung!) besteht darin, dass Sie über Sicherheit verhandelt haben. Wenn es, was wir heute noch nicht wissen, zu einer Ge- Sie haben damals gesagt: Wir, die rot-grüne Regierung, nehmigung von Gorleben als Endlager kommen sollte sind damit einverstanden, dass Sicherheit nicht zur Be- – das ist ein ergebnisoffener Prozess –, dingung für den Betrieb von Kernkraftwerken gehört. Sie ist ein Kostenfaktor. Wir sichern euch zu, dass an (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: diesem Kostenfaktor nichts geändert wird, egal was die Ergebnisoffen? Mit Herrn Thomauske?) Sicherheit der Sache nach erfordert. – Das ist der Ver- trag, den Sie abgeschlossen haben. dann kann dies nur auf Grundlage und nach Abschluss eines atomrechtlichen Zulassungsverfahrens geschehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Etwas anderes zu behaupten, ist die blanke Unwahrheit. Ulrich Kelber [SPD]: Eine freche Lüge!) Erzählen Sie nicht solche Unwahrheiten, nur um Stim- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6645

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen (A) mung zu machen und Angst zu schüren! Lassen Sie das (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) sein! Es ist unverantwortlich. NEN]: Nein! Es wurde nur Herr Großmann kurz dazugebeten!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es gibt in dem Vertrag, der allein Regelungen zur Ge- Es gibt eine zweite Unwahrheit, die Sie verbreiten. winnabschöpfung beinhaltet, keine Limitierung der Si- Man fragt sich schon, ob Sie nicht irgendein Argument cherheitsanforderungen. Es gibt eine neue, zusätzliche in der Sache oder irgendeinen Vorschlag haben, wie Sie Grundlage für Sicherheitsmaßnahmen. Der eine Reak- es machen wollen. Offensichtlich haben Sie kein Argu- torsicherheitsminister, der die Sicherheit verdealt hat, ment und keinen Vorschlag, sonst würden Sie nicht Un- heißt Jürgen Trittin; das muss hier einmal ausgesprochen wahrheiten erzählen. werden. Sie sind das, was Sie anderen vorwerfen. Das ist (Ulrich Kelber [SPD]: Sie machen sich da die Realität. vorne gerade lächerlich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie behaupten nämlich, durch das Gesetz würde die Si- Jetzt noch einmal zur Sache. Zum Einstieg möchte ich cherheit geschmälert. Ich betone zum wiederholten Male einen Teil der Falschbehauptungen, die Sie machen, wi- in diesem Parlament: nicht mit einer Vorschrift, nicht mit derlegen. Wir haben gerade wieder über den Ausstieg einem Wort! Vielmehr bleibt der komplette Standard an gesprochen; ich rede jetzt über den Einstieg, über die Sicherheitsvorschriften und Sicherheitsmaßnahmen, der Ziele, die wir verfolgen. Der Einstieg, den wir vorneh- jetzt im Atomgesetz mit allen Klagemöglichkeiten und men, dient dazu, die Energiesicherheit und die Klima- mit allen Verfahren sowie mit allen materiellen Vor- verträglichkeit zu steigern sowie die Wachstums- und schriften enthalten ist, selbstverständlich erhalten. Es Wettbewerbspotenziale der Technologien in den Berei- wird nichts begrenzt; es wird nichts beschnitten. Alle Si- chen der erneuerbaren Energien und der Effizienzstei- cherheitsvorschriften bleiben zunächst so, wie sie sind. gerung zum Nutzen unseres Landes und des Klimas aus- Aber zu den Sicherheitsstandards, die wir haben, kommt zuschöpfen. eine Stufe von Sicherheitsanforderungen hinzu; diese führen wir zusätzlich ein. (Ulrich Kelber [SPD]: Da haben Sie damals gegen alle Gesetze gestimmt!) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Zusätzlich? Das glauben Sie doch sel- Wenn man das erreichen will, dann muss man heute han- ber nicht! Was ist denn die Steigerung von deln. Wenn man heute nicht handelt und weiter Ver- bestmöglich?) säumnisse zulässt, wie Sie es getan haben, dann steuert man auf massive Probleme bei der Energieversorgung (D) (B) Es wird ein über das bisherige Maß der Erforderlichkeit und der Klimaverträglichkeit zu; das ist völlig klar. Des- hinausgehender Maßstab zur weiteren Vorsorge gegen halb sind die Ziele anspruchsvoll und ehrgeizig; sie sind Risiken angelegt, mit dem erstmalig eindeutig klarge- aber erreichbar, wenn man heute handelt. stellt wird, dass dann, wenn sich die Technik und die Wissenschaft auf dem Gebiet der Sicherheit fortentwi- Ich drücke die Ziele, die wir uns setzen, in Zahlen ckeln, diese neuen zusätzlichen Sicherheitserkenntnisse aus: Reduzierung der Treibhausgasemission um 80 auch als rechtliche Anforderung an den Betrieb von bis 95 Prozent bis 2050 in dem Langfristhorizont, in dem Kernkraftwerken im Einzelfall durchgesetzt werden man Energiepolitik nur machen kann; Steigerung des können. Das ist ein klarer Fortschritt an Sicherheit; das Anteils der erneuerbaren Energien an der Stromversor- ist mehr Sicherheit. gung auf 80 Prozent; Halbierung des Stromverbrauchs durch mehr Energieeffizienz. Verbesserung der Ener- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gieeffizienz um 2,1 Prozent pro Jahr, bezogen auf den NEN]: Das ist ein Rückschritt! – Bärbel Höhn gesamten Energieverbrauch. Das sind anspruchsvolle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Ziele. Aber wir trauen uns zu, sie mit konsequenter Poli- Fortschritt! Das wissen Sie auch!) tik zu erreichen, und zwar in Etappen, die wir einlegen, mit einem Überprüfungsprozess und mit 60 konkreten Dies wird allerdings nicht in einem Vertrag, sondern in Maßnahmen beispielsweise zur Finanzierung von Off- einem Gesetz geregelt. Das haben Sie in beiderlei Hin- shore-Windkraftanlagen. sicht nicht zustande gebracht. Das ist die Wahrheit. Sie wollen dieses Gesetz bekämpfen, weil Sie an diesem (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Punkt gescheitert sind. NEN]: 35 Großaufträge! Keine 60 Maßnah- men!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden auch den Ausbau der Onshore-Anlagen vo- Sie haben nicht mehr Sicherheit erreicht, sondern Sie ha- rantreiben. ben gedealt. Den Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen. (Zuruf des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ (Ulrich Kelber [SPD]: Sie wollen das Bundes- DIE GRÜNEN]) verwaltungsgericht aushebeln!) – Kollege Fell, Sie wissen es doch besser. Wir haben in diesem Vertrag den Aspekt der Sicherheit nicht angesprochen. Das ist der entscheidende Unter- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schied zu Ihrer damaligen Vereinbarung. NEN]: Nein!) 6646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen (A) Allein in diesem Jahr werden wir wahrscheinlich eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Verdopplung der gesamten nationalen Kapazität auf und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der dem Gebiet der Photovoltaik erreichen, und das, nach- LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU) dem wir die Vergütung reduziert haben, weil die Markt- Weil Sie der Verlierer sind, klammern Sie sich an einen preise in der Photovoltaik um 40 Prozent gesunken sind. einzigen Punkt: Sie würden mehr Sicherheit bieten als Es kann also überhaupt nicht die Rede davon sein, dass die anderen. Deshalb zitiere ich aus der damals geschlos- die Branche einbricht, wie Sie es in der Debatte behaup- senen Vereinbarung noch einmal, was dort zum Thema tet haben. Die Branche boomt. Wir wollen, dass sie Sicherheit steht. Denn Sie zitieren immer nur einen Satz boomt, weil das für die Entwicklung unseres Landes gut und versuchen, aus diesem abzuleiten, es habe weniger ist. Sicherheit gegeben. Dabei verschweigen Sie die anderen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sätze. Kennen Sie folgenden Satz aus der damals ge- schlossenen Vereinbarung? Neben den genannten Maßnahmen haben wir – das ist schon gesagt worden – ein Sofortprogramm mit zehn Während der Restlaufzeiten wird der von Recht und Punkten finanziell abgesichert. Es wird in einem Jahr Gesetz geforderte hohe Sicherheitsstandard weiter umgesetzt. Zur Erreichung der Ziele werden 60 Maßnah- gewährleistet … men ergriffen. Dazu bieten wir eine Finanzierung, von Die EVU werden bis zu den in Anlage 3 genannten der man als Umwelt- und Klimapolitiker nur träumen Terminen kann. – also dynamisch – (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Albträume!) Sicherheitsüberprüfungen … durchführen und die Ergebnisse den Aufsichtsbehörden vorlegen. Das ist ein Erfolg, den ich für nicht möglich gehalten habe, als wir mit den Gesprächen darüber begonnen ha- Erstmals! Daraus ist das kerntechnische Regelwerk ben. Der Aufbau beginnt im nächsten Jahr mit einem Be- entstanden. Es liegt auf Ihrem Schreibtisch. Warum set- trag von 300 Millionen Euro. Ab 2013 wird verlässlich zen Sie es nicht endlich in Kraft? Dann hätten wir mehr und langfristig ein Betrag von jährlich rund 3 Milliarden Sicherheit bei den Atomkraftwerken. Sie verhindern die Euro für Energiepolitik, Effizienzpolitik und Klima- Sicherheitsstandards bei den Atomkraftwerken. schutzpolitik zur Verfügung stehen. Das ist ein sensatio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neller Erfolg. Wir sind stolz, dies erreicht zu haben. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt ist mal (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) vollständig zitiert worden! – Weiterer Zuruf) (D) Weil es sich hier um das anspruchsvollste und konse- – Auch die Kanzlerin will ablenken, weil ihr das unange- quenteste Umwelt- und Energieprogramm handelt, ist es nehm ist. ein Meilenstein in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik in Deutschland. Das vertreten und verteidigen wir. Wir Wenn Sie schon, Herr Röttgen, so viel Wert auf Si- werden es gegen Ihren Neid und Ihre Proteste umsetzen, cherheit und Vorsorge legen, dann müssen wir Sie an Ih- weil es – das ist unsere Orientierung – gut für unser ren eigenen Maßstäben messen. Sie haben in der Frank- Land ist. furter Allgemeinen Zeitung vom 20. Mai dieses Jahres gesagt: (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drei – Kernkraftwerke – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: haben keinen Schutz gegen Flugzeugabstürze. Die Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Marco Kraftwerke müssen etappenweise auf den Stand der Bülow. Nachrüsttechnik gebracht werden. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach unserem Atomausstieg würde das Atomkraft- Moment! Ich hatte eine Kurzintervention an- werk Biblis A jetzt abgeschaltet. Herr Minister, sind wir gemeldet!) uns einig, dass die beste Sicherheit für die Bevölkerung – Ich habe übersehen, dass Bärbel Höhn von den Grünen ist, wenn wir Biblis A abschalten, nicht mehr und nicht eine Kurzintervention beantragt hat. weniger? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bitte sehr, Frau Höhn. bei der SPD und der LINKEN)

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wäre aus dem Atomausstieg von Jürgen Trittin und anderen gefolgt! Herr Minister Röttgen, Sie haben die Zwischenfrage, die ich stellen wollte, nicht zugelassen. Sie haben in die- Aber ich frage Sie heute sehr konkret: Was wollen Sie ser Debatte als Zweiter geredet, nicht als Erster. Das an Nachrüstungsmaßnahmen für Biblis A in Gang set- macht deutlich: Sie sind der Verlierer dieses Jahres; das zen? Wie sieht Ihre Sicherheit für Biblis A wirklich aus? muss man eindeutig so sehen. Das wollen wir endlich von Ihnen hören; denn dazu ha- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6647

Bärbel Höhn (A) ben Sie bisher konkret nie etwas gesagt. Wir erwarten, Darum will ich noch einmal die Passage vorlesen, die (C) dass Sie das heute tun. sozusagen der Gipfel des Ausverkaufs von Parlaments- rechten ist, den Sie sich in diesen Rotwein- und Zigar- Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte. Sie ver- renrunden mit der Kernenergiewirtschaft geleistet haben. suchen immer, darzustellen, wir wären gegen Netze und Netzausbau. Können Sie bestätigen, dass es Jürgen (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trittin war, der 2005 mit dem Infrastrukturbeschleuni- Das müssen Sie gerade sagen!) gungsgesetz hier einen Weg gewiesen hat? Woran ist er Da haben Sie ja nicht nur die Sicherheit verdealt, sondern gescheitert? Er ist im Bundesrat an der Mehrheit der Sie haben sogar zugesagt, dass die Beteiligten diese Ver- CDU/CSU- und FDP-geführten Länder gescheitert. Sie einbarung auf der Grundlage schließen, dass in dem zu haben den Ausbau der Infrastruktur seit 5 Jahren blo- novellierenden Atomgesetz – das ist Sache des Parlamen- ckiert. Das waren Sie und nicht wir. tes! – einschließlich der Begründung die Inhalte dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vereinbarung umgesetzt werden. Die rot-grünen Koali- und bei der SPD) tionsfraktionen haben sich selber zu einem Umsetzungs- gesetzgeber bezüglich der Vereinbarungen mit der Kern- energiewirtschaft degradiert. Vizepräsidentin : Herr Bundesminister, bitte. (Ulrich Kelber [SPD]: Das steht doch in Ihren Vereinbarungen genauso drin!) Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, Jetzt kommt es noch stärker. Es hätte ja sein können, Naturschutz und Reaktorsicherheit: dass jemand in der Regierung oder im Parlament sich he- Frau Kollegin, nur, damit wir uns richtig verstehen: rausgenommen hätte, etwas anderes zu beschließen, als Ich bin, offen gestanden, gar nicht der Auffassung, dass die Vereinbarung vorgesehen hat. Sie gegen Sicherheit und gegen den Netzausbau sind. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie reden aber drum herum! Was ist jetzt mit Ah!) Bibis A?) Meine These ist nur, dass Sie auf all diesen Gebieten Darum wurde Folgendes sichergestellt: nichts erreicht haben. Sie sind Maulhelden und können Über die Umsetzung in der AtG-Novelle wird auf gut reden; aber Sie bekommen nichts hin. Das ist der der Grundlage des Regierungsentwurfs vor der Ka- Unterschied zwischen unseren beiden Regierungen: binettsbefassung zwischen den Verhandlungspart- (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nern beraten. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Lachen bei der FDP) Was haben Sie denn erreicht?) Bevor etwas ins Kabinett geht, wird es Eon und RWE Wir legen jetzt ein Energiekonzept vor. Bei uns steht die vorgelegt, damit die feststellen können, ob es in Ord- Sicherheit im Gesetz. Der arme Trittin musste sie ver- nung ist. Das ist eine besondere Form der Ressortabstim- dealen. Ich behaupte gar nicht, dass er das wollte. Aber mung, die Sie da vorgenommen haben. Das ist eine Pein- er hat bei den Rotwein- und Zigarrenrunden keine lichkeit und ist ein Skandal und nichts anderes. Chance gehabt, die Sicherheit ins Gesetz zu bringen. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – war damals die Realität: Tun wir doch nicht so, als wäre Ulrich Kelber [SPD]: Und das von Ihnen! Von das alles vergessen! euch so etwas? Schamfrei!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt kommen wir einmal zu Biblis A. Ich frage Sie: Er hat es nicht hinbekommen. Wie haben Sie im Jahr 2000 die Risiken von Biblis A eingeschätzt? Dramatisch? Hinnehmbar? Jedenfalls ha- Es ist beschämend, das immer wieder vortragen zu ben Sie mit Ihrer Risikoeinschätzung, die nicht meine müssen, ist, dem zugestimmt, dass Biblis A noch zehn Jahre (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- läuft. NEN]: Frau Höhn hat das schon ordentlich (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vorgetragen!) Das ist ja jetzt auch so!) aber ich muss das tun, weil bei Ihnen eine partielle Ver- Waren das wirklich dramatische Risiken? Wenn ein gesslichkeit, was das eigene Tun anbelangt, festzustellen Kernkraftwerk den Sicherheitsanforderungen nicht ge- ist. nügt, dann muss es abgeschaltet werden. (Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN] – Gegenruf des Abg. Volker NEN]: Er weicht aus!) Kauder [CDU/CSU]: Sind Sie mal ruhig! – Wenn Sie dieser Auffassung waren, dann hätten Sie das Gegenruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ veranlassen müssen. DIE GRÜNEN]: Sie haben mir gar nichts vor- zuschreiben, Herr Kauder!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 6648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen (A) Sie waren die Aufsicht über die Aufsicht, Herr Kollege (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Trittin. Sie haben auch auf diesem Feld versagt. Bei Fra- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gen der Sicherheit darf man nicht nur reden; dabei muss LINKEN) man handeln. Zu Biblis A: Wenn Biblis A jetzt noch 8 Jahre länger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – läuft, dann wird Biblis A am Ende 44 Jahre alt sein. Auf Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Welt gibt es kein Atomkraftwerk, das 44 Jahre alt ist. Sagen Sie doch einmal, was Sie jetzt machen Wir haben weltweit keine Erfahrung damit, was mit wollen! Was machen Sie denn? – Ulrich Kernkraftwerken passiert, die über 40 Jahre alt sind, wie Kelber [SPD]: Was machen Sie jetzt?) sie erodieren und welche neuen Gefahren dadurch ent- stehen. Wir sprechen nämlich nicht nur über die Gefah- Wir schaffen nunmehr eine bessere, zusätzliche Grund- ren, die jetzt entstehen, sondern auch über die Gefahren, lage dafür, dass die Atomaufsicht der Länder einschrei- die hinzukommen, wenn Atomkraftwerke über 40 Jahre ten und handeln kann, selbst wenn der Atomaufsichts- am Netz sind. Wenn wir noch an der Regierung wären, minister im Bund mehr ein Maulheld als ein Handelnder dann wäre Biblis A jetzt verschwunden. ist. (Patrick Döring [FDP]: Verschwunden wäre es (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auch nicht! Das wäre ein Zwischenlager!) Was machen Sie jetzt? Sie beantworten die Frage nicht! Sie machen doch gar nichts! Sie So müssen wir diese Gefahr auch in Zukunft hinnehmen. sind der Maulheld! Was haben Sie denn er- Es gibt weitere Auswirkungen, beispielsweise auf die reicht? Nichts!) Investitionen in die erneuerbaren Energien. Sie postu- Die Atomaufsicht der Länder kann jetzt handeln, wenn lieren immer wieder die große Brücke. Das Gegenteil ist sie möchte. So wird das sein, wenn dieses Gesetz hier doch der Fall, und deswegen steigen Ihnen die Stadt- beschlossen wurde. werke aufs Dach. Die Auswirkung davon wird sein, dass die meisten jetzt nicht mehr in erneuerbare Energien in- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – vestieren, weil sie wissen, dass der Markt gesättigt ist. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, der Weg ins solare Zeitalter wird deutlich län- Nichts gesagt zu Biblis A! – Volker Kauder ger. [CDU/CSU], zu Abg. Bärbel Höhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Schämen Es ist ferner fraglich – das ist eine weitere Auswir- sollten Sie sich! So sind die Grünen! Hohe kung –, ob Gorleben, sofern Sie es als Endlager durch- moralische Ansprüche an andere und selber setzen, für den Atommüll überhaupt ausreicht oder ob (B) machen sie die größten Sauereien!) wir ein weiteres Endlager brauchen. Auch darüber soll- (D) ten Sie sich vielleicht einmal Gedanken machen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Da wir schon beim Thema Müll sind: Jedes Unterneh- Nun bitte ich um Aufmerksamkeit für den nächsten men, auch jede Currywurstbude braucht einen Entsor- Redner. Das ist der Kollege Marco Bülow für die SPD- gungsplan. Nur diejenigen, die den gefährlichsten Abfall Fraktion. von allen produzieren, haben, 50 Jahre nachdem das erste Atomkraftwerk in Deutschland ans Netz ging – Herr (Beifall bei der SPD) Kauch, wir sprechen nicht von 7, sondern von 50 Jah- ren –, noch immer keinen Entsorgungsplan und noch im- Marco Bülow (SPD): mer kein Endlager. Das sollten wir, glaube ich, auch ein- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! mal auf den Punkt bringen. Das ist absurd. Ich wünsche allen gerade geborenen Kindern und denen, (Zuruf von der FDP: Elf Jahre Sozial- die demnächst geboren werden, alles Gute. Allerdings: demokratie!) Wenn die Regierung ihre Atomvorhaben wahrmacht, werden diese Kinder unnötigen zusätzlichen Gefahren Frei nach Minister Brüderle, der heute von Einstiegs- und Belastungen ausgesetzt. Erst wenn die jetzt neu Ge- regierung gesprochen hat: Ja, Sie sind eine Einstiegsre- borenen 30 Jahre alt sind, werden sie hoffen können, gierung, und zwar steigen Sie ein in eine alte, gefährli- dass wir endlich aus der Uralttechnologie Atomkraft che Versorgungs- und Energiepolitik. Sie sind vor allen aussteigen. Der radioaktive Abfall – jährlich zusätzlich Dingen eine Einstiegsregierung für die Allmacht der 400 Tonnen – wird den nachfolgenden Generationen Atomlobby. auch in Tausenden von Jahren noch vor den Füßen lie- Es fing an mit Herrn Hennenhöfer. Das muss man sich gen. All diese Kinder hatten niemals die Chance, darüber noch einmal zu Gemüte führen: Herr Hennenhöfer war ei- zu entscheiden, ob die Atomkraftwerke länger laufen ner der größten Atomlobbyisten, den es in Deutschland sollen, ob sie Atomkraft überhaupt wollen. gab. Den haben Sie als Erstes in die Regierung geholt, um (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ihn für die Atomfragen zuständig zu machen. Dann haben SES 90/DIE GRÜNEN) Sie eine Anwaltskanzlei, die hauptsächlich für RWE ar- beitet, beschäftigt, um einen Atomvertrag zu schreiben. Sie müssen mit den Gefahren und dem Abfall leben, egal Dann haben Sie für Ihre Prognose noch einen Gutachter wie jetzt entschieden wird. Das nennen Sie Demokratie? bestellt, der von den großen Energieversorgungsunter- Das nennen Sie Generationengerechtigkeit? nehmen getragen wird. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6649

Marco Bülow (A) Herr Kauch, Sie haben gerade davon gesprochen, haben keine Ahnung –: Im ersten Halbjahr 2010 gab es in (C) dass dieses Gutachten und die Prognose nicht in erster Deutschland einen Stromexportüberschuss von 11 Mil- Linie berücksichtigt würden. Schauen Sie bitte einmal in liarden Kilowattstunden. Das ist ungefähr die Menge von Ihr Energiekonzept! Darin steht nicht nur, dass die Pro- sieben Atommeilern. Wir könnten also sieben Atommei- gnose wichtig ist, sondern auch, dass das, was darin ler abschalten, ohne auch nur eine Kilowattstunde neu steht, der Kompass für Ihre Energiepolitik ist. Schauen von irgendwo herholen zu müssen oder durch Erneuer- Sie da vielleicht einmal hinein! bare generieren zu müssen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dazu kommen noch zwei Atomreaktoren, die eigent- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lich immer stillstehen, die wegen Pannen und anderer LINKEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE Ungeschicklichkeiten gar nicht am Netz sind. Das heißt, GRÜNEN]: Aha! Der Kompass von Herr neun Atomkraftwerke – das ist mehr als die Hälfte – Kauch!) könnten wir sofort abschalten, ohne irgendeinen Effekt zu spüren. Das ist die Realität in Deutschland! Reden Sie Zusammengefasst: Da haben also Leute ein Atomge- doch nicht davon, dass die Lichter ausgehen! setz erstellt – es ist ja schön, dass die Bundesregierung an diesem Atomgesetz überhaupt beteiligt worden ist –, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die hauptsächlich und maßgeblich für die Atomwirt- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schaft arbeiten. Die haben ihr eigenes Gesetz geschrie- LINKEN) ben. Das haben Sie hier eingebracht und nennen das auch noch „Revolution“ und „Einstieg in das Zeitalter Herr Röttgen, was Ihre tollen, unglaublichen Vorha- der Erneuerbaren“. Das ist wirklich ein Hohn. Das ist ben und all die Maßnahmen angeht, die Sie durchführen wirklich das, was ich scheinheilig nenne, Herr Umwelt- wollen, so sind 35 von diesen Maßnahmen Prüfaufträge. minister. Wir wissen doch, wie diese Prüfaufträge am Ende ausge- hen. Das ist nur Schönmalerei in Ihrem Gesetz. Im Prin- In Zukunft werden wir uns die Frage stellen müssen, zip haben Sie nichts auf den Tisch gelegt, außer der Ver- wie überhaupt mit einzelnen Maßnahmen in dem Be- längerung der Atomlaufzeiten. Deswegen, Herr Röttgen, reich umgegangen worden ist. Ich will als ein Beispiel werden Sie auch nicht als Umweltminister in die Ge- die Brennelementesteuer nennen, die Sie hier immer schichte eingehen, sondern als Atomminister. wieder so hochhalten; das sei das Tolle, was Sie der Energiewirtschaft abgerungen haben. Ich finde es schade, dass die Umweltpolitiker der Union – sie haben ja heute auch nicht geredet; wahr- Ja, im Sommer hörte es sich noch ganz gut an. Wir hat- scheinlich deshalb, weil es ihnen peinlich ist oder weil (B) ten ja als Erste gefordert, dass es eine Brennelemente- sie nicht durften –, von denen ich einige sehr schätze, (D) steuer geben soll. Irgendwann sind Sie dieser Forderung leider nicht mitdiskutieren und Ihnen leider keinen Wi- gefolgt und haben dann postuliert, Ihr Finanzminister bei- derstand leisten. spielsweise: Die Brennstoffsteuer kommt unbefristet. Sie wird unabhängig vom Atomgesetz gemacht, und sie hat (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der Christian auch eine bestimmte Höhe. – Was wir jetzt haben, ist eine Ruck wird Ihnen gleich die Leviten lesen! – befristete Brennelementesteuer. Sie fällt deutlich niedri- Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]: Der ger aus, als Sie im Sommer postuliert haben. Das Aller- ist nur formal zuständig!) beste ist: Im Gesetz steht, dass sich die Atomwirtschaft das Recht nimmt – Sie billigen ihr dieses Recht zu –, da- Zum Schluss. Es gibt ein schönes Sprichwort von gegen Klage zu führen. Das heißt, Sie gehen doch davon Erich Kästner: Du sollst den Kakao, durch den man dich aus, dass es die Brennelementesteuer am Ende vielleicht zieht, nicht auch noch trinken. – In diesem Sinne: Leis- gar nicht geben wird, und nehmen das nur als Ausrede da- ten Sie doch endlich Widerstand! Wir jedenfalls werden für, dass Sie der Atomwirtschaft irgendetwas abgerungen das tun: hier im Parlament und auf der Straße – gegen haben. Das, denke ich, ist scheinheilig. Ihre verrückten Pläne. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) LINKEN) Dann zu Ihren Argumenten, Herr Brüderle und Herr Fuchs – ich kann es nicht mehr hören; denn das sind die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Debatten aus den 70er- und 80er-Jahren –: Wenn wir die Nun hat das Wort der Kollege Dr. Christian Ruck für Atomkraftwerke nicht länger laufen lassen, dann gehen die CDU/CSU-Fraktion. hier die Lichter aus; dann brauchen wir Energie aus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Tschechien usw. – Das sind die alten Kamellen, die im- mer wieder gebracht werden. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Natürlich! Wo soll sie denn sonst herkommen?) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bülow, Sie haben ganz übersehen, dass ich noch Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen – vielleicht drankomme. Ich bezeichne mich tatsächlich als Umwelt- kennen Sie die Zahlen ja und verschweigen sie; oder Sie politiker. 6650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Christian Ruck (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) neten der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wollen wir Ihnen auch Was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, unter- nicht absprechen!) scheidet sich nicht von dem, was wir jetzt machen. Im Gegensatz zu Ihren Mauscheleien von damals werden Deswegen möchte ich an dieser Stelle gern meine Ver- die Verträge erst unterschrieben, wenn das gesamte par- sion der Dinge vortragen: lamentarische Verfahren durchgezogen ist Ich bin jetzt immerhin schon 20 Jahre Parlamentarier (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und habe vieles erlebt. Ich muss aber zugeben: Von die- Durchgezogen! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ ser unwürdigen und unseriösen Show, die Sie von Rot- DIE GRÜNEN]: Durchgezogen! Das ist genau Grün in diesen Wochen im Rahmen der Energiediskus- das Wort! Sie müssen unbedingt vor dem sion abliefern, bin ich schon beeindruckt. Sie arbeiten nächsten Parteitag fertig werden!) mit Unterstellungen, mit Verleumdungen, mit Verdächti- gungen und auch mit Verhetzung. Sie schüren Gewalt und dieses Hohe Haus darüber beschlossen hat. Das un- und wecken Illusionen. Das ist mit meinem Verständnis terscheidet uns von den damaligen Weicheikoalitionären von Parlamentarismus nicht zu vereinbaren. von Rot-Grün fundamental. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In dieser Debatte geht es um mehr als nur um das eine Ich bekenne mich ohne Wenn und Aber zu diesem oder andere Einzelgesetz. Es geht um eine grundsätzli- Energiekonzept. Es ist ein großes Rad. Es beinhaltet che Weichenstellung, auch für das Wohl und Wehe unse- ehrgeizige Ziele. Wir haben den Weg dazu gewiesen. rer Kinder und Kindeskinder. Herr Hempelmann, ich bin immer für einen seriösen Austausch von Meinungen. Ich würde nie sagen, dass (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dieses Energiekonzept keine Verbesserungen nötig hat. Gerade darum dürfen Sie so nicht reden!) Wir werden im Laufe der nächsten Jahre und vielleicht Mich ärgert zum Beispiel, dass Sie die Bundesregierung auch der nächsten Jahrzehnte sehr wohl miteinander dis- kritisieren, weil sie die Endlagerfrage jetzt entschlossen kutieren können, was wir korrigieren müssen und wel- angeht, che Verbesserungsmöglichkeiten es gibt. Die Weichen- stellungen, die hier getroffen sind, halte ich aber für (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- richtig. NEN]: Nein, tut sie nicht!) Das betrifft auch die Laufzeitverlängerung. Ich habe was Sie zehn Jahre lang mit allen möglichen Mitteln ver- (B) immer Respekt vor Leuten gehabt – auch vor Kollegen –, (D) hindert haben. Ich kann mich noch gut an die Auseinan- die gesagt haben: Wir wollen dieses Restrisiko auch we- dersetzungen erinnern, die wir im Parlament geführt ha- gen Tschernobyl damals nicht tragen. – Es ist aber ge- ben. Sie haben nichts anderes getan, als der Bevölkerung nauso ehrenhaft, wenn man in einem Abwägungsprozess den Atommüll vor die Füße zu kippen. Noch jetzt stehen zu anderen Ergebnissen kommt – vor dem Hintergrund die Castorbehälter in der freien Prärie, sozusagen in bes- der völlig anders gearteten Sicherheit der deutschen seren Garagen. Kernkraftwerke und alternativer Gefahren wie dem Kli- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mawandel –, wenn man die Atommüllfrage ganz ent- NEN]: Aber Sie packen jetzt doch noch wei- schlossen angeht und das Atommüllproblem löst. tere Castorbehälter dazu! In Gundremmingen Ich sage ganz offen: Durch die längeren Laufzeiten und überall packen Sie weitere dazu!) der Kernkraftwerke, die billigen und CO2-freien Strom Das ist keine Antwort auf die Atommüllfrage. Das war liefern, Feigheit und Verantwortungslosigkeit. (Ulrich Kelber [SPD]: Ach, Herr Ruck!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verschaffen wir uns die nötigen gewaltigen Finanzmittel, Ich möchte Ihnen jetzt einmal etwas zu den angebli- chen Lobbyisten in diesem Haus sagen: Die Kernkraft- (Marco Bülow [SPD]: Das stimmt doch nicht! – betreiber haben insbesondere für die Forschung aufsum- Rolf Hempelmann [SPD]: Sagen Sie doch mal miert Subventionen in Höhe von 20 Milliarden Euro etwas zum Wettbewerb!) erhalten. Die Solarbranche, die ganz offiziell und finan- die für den Umbau unserer nationalen Wirtschaft nötig ziell dem einen oder anderen von Rot-Grün nahe steht, sind, und zwar ohne dass wir Hunderttausende von Ar- wird in den nächsten Jahren Subventionen in Höhe von beitsplätzen ins Ausland treiben. Das ist der eigentliche 100 Milliarden Euro erhalten. Die Kernkraft macht aber Punkt. Das ist die eigentliche Brücke, eine Brücke, die ein Viertel der Stromerzeugung aus – und die Photovol- nicht ins Nichts führen darf. taik nur 1 Prozent – und verursacht zehnmal so hohe CO2-Vermeidungskosten wie die Windenergie. So viel (Ulrich Kelber [SPD]: Sogar die Szenarien zum Thema Lobbyismus. besagen etwas anderes!) Was ich außerdem als Unverschämtheit ansehe, ist Die erste Lebenslüge von Rot-Grün lautet, dass un- Ihre Geschichte mit den Geheimverträgen. Das ist eine sere Wirtschaft auch dann blüht, wenn die Energiekosten Verleumdung. steigen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6651

Dr. Christian Ruck (A) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: um 5 Tonnen reduzieren. Das wäre ungeheuer viel. (C) Das sagen wir doch gar nicht! Wir sind nur ge- gen unfaire, zu hohe Energiepreise wegen des (Ulrich Kelber [SPD]: Und für wie lange? – Monopols! Sie lassen doch die Energiepreise Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: steigen!) Es sind nicht mehr 12, sondern nur noch 10! 9,5 ganz genau!) Die zweite Lebenslüge ist, dass die erneuerbaren Ener- gien sofort die Rolle der konventionellen Kraftwerke Deswegen ist die CO2-Abscheidung ein wichtiger Be- übernehmen könnten. standteil unseres Energiekonzeptes. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber hinaus brauchen wir Geld und Zeit für die Das haben Sie ja gar nicht verstanden, Herr Gebäudesanierung; auch dies ist für uns ein entscheiden- Ruck! Sie lassen die Energiepreise steigen! der Hebel. Sie!) Jetzt komme ich zum Wettbewerb. Ich sage Ihnen: Wenn wir Ihrer Strategie folgen wür- den, wäre das ein gigantischer Schildbürgerstreich. Dann Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: würden wir nämlich mit teurem Geld, und zwar dem der Herr Kollege, darf ich Sie kurz unterbrechen? normalen Stromkunden und Bürger, einen Hype im Be- reich der Sonnen- und Windenergie erzeugen. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja. Herr Ruck, wegen des fehlenden Wettbewerbs sind die Energiepreise hoch! Sie machen die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Energiepreise hoch!) Der Kollege Bülow würde gerne eine Zwischenfrage Aber der Strom könnte gar nicht mehr abgenommen stellen. werden, weil wir weder die nötigen Speichertechnolo- gien noch die nötigen Netze haben. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ Nein, keine Zwischenfrage. CSU] – Ulrich Kelber [SPD]: Aha! Und des- ( [SPD]: Dann mach den wegen wollen Sie den Ausbau jetzt also erst letzten Satz schnell!) mal zurückfahren, ja?) Die Einwände der Kommunen und die Diskussion mit (B) Deswegen ist es nur logisch, (D) ihnen müssen wir sehr ernst nehmen. Ich habe den Ein- (Ulrich Kelber [SPD]: Das nennen Sie druck, dass der Widerspruch der Kommunen, seitdem „logisch“?) unser Energiekonzept vorliegt, erheblich geringer ge- worden ist, dass wir Geld und Zeit gewinnen müssen, sowohl für die Entwicklung neuer Technologien und neuer Netze (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ach, Quatsch! – Jürgen Trittin [BÜND- (Marco Bülow [SPD]: Die haben wir doch NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die, die ich gestern schon! – Ulrich Kelber [SPD]: Durch einen besucht habe, sehen das anders!) langsameren Ausbau der Erneuerbaren?) weil auch wir Parlamentarier einiges zum Wohle der als auch, Herr Kelber, für die Entwicklung von Techno- Kommunen getan haben. Ich sage noch einmal: Ich halte logien zur CO2-Abscheidung. die Kommunen für ein ganz wichtiges Element der Wett- Auch Sie von Rot-Grün könnten an dieser Stelle be- bewerbsregulierung auf unserem Energiemarkt. weisen, dass es Ihnen wirklich um den Klimaschutz (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: So ist es!) geht. Lassen Sie mich darauf hinweisen – Herr Kauch hat (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es schon gesagt –: Gerade wir Umweltpolitiker und auch Ach! Was Sie machen, ist doch nur für Ihre die Entwicklungspolitiker sind stolz darauf, erkämpft zu Lobby! Sie machen das doch nur für die Gro- haben, dass ab dem Jahr 2013 nicht 50 Prozent der ßen! Das ist unglaublich, Herr Ruck!) Mehrerlöse aus dem Handel mit Emissionszertifikaten Wir haben die Chance. Wir brauchen aber noch mehr für den Umwelt- und Klimaschutz bereitgestellt werden, Technologien. Allein mit der CO2-Abscheidetechnologie sondern 100 Prozent. (Marco Bülow [SPD]: Das Gesetz haben Sie (Ulrich Kelber [SPD]: 100 Prozent von …?) doch verhindert!) Hier hat uns auch der Bundesfinanzminister, der über

könnten wir die 12 Tonnen CO2, die jeder Bundesbürger seinen Schatten gesprungen ist, geholfen. Dafür bin ich pro Jahr verursacht, ihm sehr dankbar. (Ulrich Kelber [SPD]: Es sind zum Glück nur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und noch 10!) der FDP) 6652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Christian Ruck (A) Meine Damen und Herren, unsere Fraktion hat in die- Wir sollten verlässlich sein. Orientierung ist nötig. Ich (C) ser Woche den Kongress „Klima und Energie – Techno- möchte in diesem Zusammenhang am Anfang der Bera- logien für eine nachhaltige Zukunft“ veranstaltet. Dieser tungen nur zwei Fragen stellen. Die erste Frage richtet Kongress hat mich beschwingt. Wir haben noch viele sich an die Menschen, die Energie einsparen sollen: Zu Möglichkeiten. Aber wir brauchen auch noch viele welchen Investitionen können wir die Menschen er- Technologiesprünge, um unsere ehrgeizigen Ziele zu er- muntern, und wie kann der Staat das unterstützen? Die reichen. zweite Frage richtet sich an die Wirtschaft: Welche In- vestitionen können wir der Wirtschaft zumuten, ohne Wir setzen der rot-grünen Kultur des Destruktivismus dass sie Betriebe und Arbeitsplätze ins Ausland verlegt? eine ganz andere Haltung entgegen. Wir vertrauen auf Das sind für mich die wichtigen Fragen, die die Grund- den Mut, auf den Einfallsreichtum und auf die Tatkraft lage der Beratung sind. der deutschen Ingenieure und Naturwissenschaftler. Wir setzen auf Innovation. So werden wir die ökonomische Es geht um die Interessen verschiedener Branchen; und die ökologische Führerschaft Deutschlands in der das haben wir gerade in einigen Beiträgen gehört. Aber Welt ausbauen. für mich geht es nicht um Industrieinteressen. Für mich geht es vielmehr um das wohlverstandene Interesse un- Vielen Dank. seres Industrielandes. Ich finde, das ist ein Unterschied, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den man einmal herausstellen sollte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: neten der FDP) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Der Bundestag wird jetzt öffentliche Anhörungen Bernhard Schulte-Drüggelte für die CDU/CSU-Fraktion. durchführen. Dabei besteht für Wissenschaft und Wirt- schaft die Möglichkeit, Argumente darzulegen. Herr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kelber, die Beratungen fangen jetzt erst an, und die Ent- neten der FDP) scheidungen fallen später. Sie brauchen sich jetzt noch nicht zu entscheiden. Warten Sie die sachlichen Beratun- Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): gen ab und treffen Sie erst dann die Entscheidung! Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- (Ulrich Kelber [SPD]: In der übernächsten Sit- legen! Wir beraten heute über das Energiekonzept der zungswoche!) Bundesregierung. Die fünf Gesetzentwürfe beraten wir zum ersten Mal. Es geht um den Energiemix der Zu- Ich finde eines ganz besonders wichtig, nämlich dass (B) kunft, um eine zuverlässige, wirtschaftliche und umwelt- sich die Abgeordneten ihrer öffentlichen Verantwortung (D) verträgliche Energieversorgung. Wir haben heute erlebt bewusst sind – wie auch in den letzten Tagen und Wochen –, dass na- türlich kontrovers, hitzig und aufgeregt diskutiert wird; (Marco Bülow [SPD]: Ja, genau!) das ist völlig selbstverständlich. Aber, werte Kollegin und einigermaßen neutral bleiben, vielleicht auch eine Höhn, es wäre schön, wenn man zumindest in der Nähe innere Distanz haben und dann im Interesse des Landes der Wahrheit bliebe. entscheiden. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind wir geblieben! Ich habe vor allem Zi- Ja, das machen wir, aber Sie nicht! – Marco tate gebracht!) Bülow [SPD]: Sie werden doch nicht einen Punkt ändern!) Ich bin der Meinung, dass die Probleme möglichst sach- lich debattiert werden sollten und dass man sich am – Das habe ich gerade gesagt; so sollte es sein. – Was Wohl der Allgemeinheit orientieren sollte. Zumindest Herr Gysi vorhin gesagt hat – er ist jetzt nicht mehr hier; sollte man das versuchen. Sprüche, und dann weg –, war nicht in Ordnung; denn die Vorgehensweise, die ich gerade aufgezeigt habe und Bei der Rede von Herrn Trittin vorhin ist mir aufge- der auch Sie zustimmen, ist keine Schwächung der De- fallen: Wenn man sehr laut ist, wird das Argument nicht mokratie, sondern eine Stärkung der Demokratie. besser. – Ich erinnere mich noch an . Er hat einmal gesagt, wenn er schreien wolle, dann gehe er (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ins Fußballstadion. Sie sollten sich vielleicht einmal ein neten der FDP – Zurufe von der LINKEN: Beispiel daran nehmen. Oje, oje!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Das stimmt! neten der FDP) Die erneuerbaren Energien sollen eine tragende Die Bürgerinnen und Bürger und auch die Wirtschaft Säule der künftigen Energieversorgung werden. Das ist haben einen Anspruch auf verlässliche Antworten für die ein Ziel, das viele von uns haben. Wir streiten uns jetzt kommenden Jahre und auch für die nächsten Jahrzehnte. über den richtigen Weg; das ist selbstverständlich. Die Koalition will Wirtschaft und Umwelt zusammenbrin- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen. Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umwelt- NEN]: Die kündigen Sie auf!) verträglichkeit – das sind die Stichworte. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6653

Bernhard Schulte-Drüggelte (A) Herr Fuchs hat gerade schon gesagt: Wir wollen eine sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak- (C) ideologiefreie und technologieoffene, aber keine macht- tionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen an- orientierte Energiepolitik. Das ist das Ziel. genommen. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tagesordnungspunkt 25 e. Hier wird interfraktionell NEN]: Ziel verfehlt!) die Überweisung des Entwurfs eines Kernbrennstoff- steuergesetzes der Fraktionen der CDU/CSU und FDP – Das ist das Ziel, Herr Kollege. auf Drucksache 17/3054 an die in der Tagesordnung auf- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung NEN]: Das Ziel ist aber verfehlt!) ist ebenfalls strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss. Zu einer sachorientierten Problemlösung – lassen Sie Die Fraktionen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die mich das noch sagen – gehört auch eine sachorientierte Grünen wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Sprache. Das Schüren von Emotionen ist bestimmt nicht immer hilfreich. Vor allem spricht das gegen eine ernst- Auch hier stimmen wir zunächst einmal über den Vor- hafte Debatte, die bei diesem ernsten Thema nötig ist. schlag der Fraktionen der SPD, Die Linke und Bünd- Ich habe den Eindruck, dass es Ihnen um Sprüche und nis 90/Die Grünen ab, das heißt Federführung beim nicht um die Sache geht. Ich bin zwar für ein streitiges Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Debattieren, aber dieses streitige Debattieren sollte im Enthaltungen? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag Interesse der Zukunftsfähigkeit des Industrielandes abgelehnt. Deutschland sein. Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag Herzlichen Dank. der Fraktionen der CDU/CSU und FDP ab, das heißt Fe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) derführung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt für die- sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dieser Überweisungsvorschlag ist an- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: genommen, das heißt die Federführung liegt beim Haus- Ich schließe die Aussprache. haltsausschuss. Wir kommen nun zunächst zu den unstrittigen Über- Zusatzpunkt 11. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/ weisungen. Es geht dabei um die Tagesordnungspunkte Die Grünen zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit 25 b bis 25 d und 25 f sowie die Zusatzpunkte 8 bis 10 eines Gesetzgebungsverfahrens zur Verlängerung der und 12. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla- Laufzeiten von Atomkraftwerken auf Drucksache 17/3083 (B) gen auf den Drucksachen 17/3051, 17/3052, 17/3053, soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse (D) 17/3055, 17/3043, 17/3044, 17/3061 und 17/3049 an die überwiesen werden. Auch hier ist die Federführung strit- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- tig. Die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD wün- schlagen. – Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann schen Federführung beim Innenausschuss. Die Fraktion sind diese Überweisungen so beschlossen. Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Nun geht es um die Überweisungen, bei denen die Fe- Rechtsausschuss. derführung strittig ist. Wir stimmen zunächst über den Überweisungsvor- Tagesordnungspunkt 25 a. Der Antrag der Fraktionen schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das heißt der CDU/CSU und FDP zum Energiekonzept der Bun- Federführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für desregierung auf Drucksache 17/3050 soll an die in der diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wer- Enthaltungen? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag den. Die Federführung ist strittig. Die Fraktionen der abgelehnt. CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Aus- Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag schuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion der Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD ab, das heißt Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Federführung beim Innenausschuss. Wer stimmt für die- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- sen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Ent- heit. haltungen? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag mit Wir stimmen nun zunächst über den Überweisungs- den Stimmen der Fraktionen, die diese Federführung vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das auch beantragt haben, angenommen, das heißt die Feder- heißt Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Natur- führung liegt beim Innenausschuss. schutz und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist damit Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus mehrheitlich abgelehnt. Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE der Fraktionen der CDU/CSU und FDP ab, das heißt Fe- LINKE derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno- Rente ab 67 vollständig zurücknehmen logie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Überwei- – Drucksache 17/2935 – 6654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Überweisungsvorschlag: die Menschen hinter die Fichte zu führen – wie die (C) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Kanzlerin immer so schön sagt –, indem Sie so tun, als Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sei das ein demografisches Problem. Das ist es aber Ausschuss für Gesundheit nicht. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Warum gibt es aber trotzdem ein Problem, wenn der die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Kuchen größer wird und damit auch die Kuchenstücke? sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so Jemand klaut uns den halben Kuchen, bevor er an die verfahren. Wenn die Gespräche der Kolleginnen und Bürgerinnen und Bürger und an die Rentnerinnen und Kollegen außerhalb des Plenarsaals durchgeführt werden Rentner verteilt wird. Diesen Kuchenklau betreiben Sie. und wir die volle Konzentration auf die Redner dieser (Beifall bei der LINKEN) Debatte haben, dann kann ich die Aussprache eröffnen. Ich sage Ihnen auch, in welcher Weise Sie das tun. Sie Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das tun das dadurch, indem Sie beispielsweise die Einfüh- Wort der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die rung des Mindestlohns verweigern. Durch die Verwei- Linke. gerung des Mindestlohns fehlen Einzahlungen in die (Beifall bei der LINKEN) Rentenkassen. Sie verweigern es dadurch, dass Sie Leih- arbeit in der derzeit geltenden Form zulassen, weil Leih- arbeiter deutlich weniger verdienen als Vollzeitbeschäf- Klaus Ernst (DIE LINKE): tigte in einem normalen Arbeitsverhältnis. Auch dies ist Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsi- Kuchenklau: Wir wissen, dass 40 Prozent der neu abge- dentin! Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor, mit dem schlossenen Arbeitsverhältnisse insbesondere bei jungen wir das Ansinnen, das Renteneintrittsalter deutlich zu er- Menschen nur noch als befristete Verhältnisse abge- höhen, ablehnen wollen. Sie argumentieren, dass es auf- schlossen werden, weshalb auch die Bezahlung niedriger grund der demografischen Entwicklung notwendig sei, ist. Wir wissen auch, dass die Menschen durch die dass man zukünftig erst mit 67 in Rente gehen kann. Sie Hartz-Gesetze so viel Angst vor einem Arbeitsplatzver- sagen: Weil die Menschen länger leben, verlängert sich lust haben, dass sie bereit sind, Lohnsenkungen hinzu- die Zeit, in der sie Rente beziehen. Das ist nicht finan- nehmen. zierbar, und weil es nicht finanzierbar ist, müssen die Menschen länger arbeiten, um die Rentenbezugszeiten Es ist Fakt, dass wir in der Bundesrepublik eine sin- wieder zu verkürzen. Das greift zu kurz. Wir leugnen kende Lohnquote zu verzeichnen haben; das werden Sie nicht, dass es demografische Veränderungen gibt. Aber doch wohl nicht leugnen wollen. Wenn Sie die Löhne von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, von dem (B) wir glauben nicht, dass es deshalb notwendig wäre, län- (D) ger zu arbeiten. Ich möchte Ihnen einige Gründe vortra- größer werdenden Kuchen abkoppeln, dann ist es lo- gen, warum wir das weder für sinnvoll noch für notwen- gisch, dass wir Probleme bei der Finanzierung der Ren- dig halten. tenkasse haben. Das hat aber nichts mit Demografie zu tun, sondern schlichtweg mit der Tatsache, dass Sie den Wir wissen, dass das Bruttoinlandsprodukt jährlich Menschen, insbesondere auch den Rentnern, einen gro- in einer Größenordnung von etwa 1,5 Prozent wächst. ßen Teil dessen vorenthalten, was in diesem Land erwirt- Das bedeutet, dass wir im Jahre 2030 ein deutlich höhe- schaftet wird. Das ist eine Tatsache. res Bruttoinlandsprodukt haben als heute. Ferner wissen wir, dass gleichzeitig die Zahl der Menschen, die im Jahr (Beifall bei der LINKEN) 2030 in der Bundesrepublik Deutschland leben werden Frauen sind davon besonders betroffen. Wir wissen, – das sagen uns alle Demografen –, sinken wird. Es wer- dass die geringeren Löhne von Frauen später zu geringe- den deutlich weniger sein, als es heute sind. ren Rentenleistungen führen werden. Auch dazu haben Was haben wir dann für einen Zustand? Wir haben Sie mit Ihrem Vorschlag, die Rente ab 67 einzuführen, den Zustand, dass der Kuchen, der zu verteilen ist, deut- keinen vernünftigen Beitrag geleistet. lich größer geworden ist. Im Jahr 2030 wird er rund Ein anderes Argument betrifft die Frage, ob der Ar- 30 Prozent größer sein, es werden sich aber deutlich we- beitsmarkt und die Beschäftigungssituation insgesamt niger Menschen diesen Kuchen teilen müssen. Wenn ich es hergeben, die Menschen länger arbeiten zu lassen. Da den Dreisatz heranziehe, den man auf der Volksschule genügt ein Blick auf die Realität. Nur 9,9 Prozent der Sauerland lernt, dann weiß ich, dass die einzelnen Ku- 64-Jährigen, also derjenigen, die bis 67 arbeiten sollten, chenstücke – wenn der Kuchen größer wird und weniger haben eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Leute ihn sich teilen müssen – nicht kleiner, sondern nur 6,4 Prozent arbeiten Vollzeit. Das sind Zahlen der größer werden. Das Problem ist, dass Sie diesen Tatbe- Bundesregierung. Wenn man sich die einzelnen Berufs- stand permanent leugnen. gruppen anschaut, dann stellt man fest: Von den Malern (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. und Lackierern sind es gerade einmal 2,9 Prozent, die im Kolb [FDP]: Das scheint mir eher die Baum- Alter von 64 Jahren noch eine sozialversicherungspflich- schule Sauerland zu sein als die Volksschule tige Beschäftigung haben, von den Mechanikern sind es Sauerland!) 2,8 Prozent, im Bau- und Raumausstattergewerbe sind es 2,7 Prozent, von den Bäckern sind es 2,0 Prozent und – Das hat mit Baumschule nichts zu tun, sondern es hat von den Dachdeckern, Gerüstbauern und Zimmerern etwas damit zu tun, dass Sie das Argument benutzen, um sind es 1,6 Prozent. Denen, deren Beschäftigungsquote Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6655

Klaus Ernst (A) im Alter von 64 Jahren – es geht um die sozialversiche- das. Der Abschlag beträgt 7,2 Prozent für alle, die schon (C) rungspflichtige Beschäftigung – nur 1,6 Prozent beträgt, im Alter von 64 Jahren keinen Job mehr haben und dann sagen Sie, sie sollten bis 67 arbeiten. Wissen Sie was? bis 67 arbeiten müssten. Das ist offensichtlich gewollt. Diese Leute halten Sie schlichtweg für verrückt. Diese Die Rente ab 67 ist nichts anderes als ein Rentenkür- Rechnung geht einfach nicht auf. zungsprogramm. Das ist das, was Sie den Menschen hierzulande zumuten. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann Wenn also insgesamt 90 Prozent außen vor sind, dann [DIE LINKE]: Rentenklau!) gibt die Arbeitsmarktsituation einen späteren Rentenein- tritt schlichtweg nicht her. Die höchste Arbeitslosen- Ich möchte auf eine Größenordnung hinweisen. Die quote bei den 55- bis unter 65-Jährigen haben wir in Höhe der Abschläge hat von 2000 bis 2008 von 35 Euro Ostdeutschland mit 13 Prozent. Wenn man sich den An- auf durchschnittlich 115 Euro zugenommen. Das bedeu- teil der Älteren an den Erwerbslosen ansieht, dann stellt tet, dass wir bei einem durchschnittlichen Rentenan- man fest, dass wir seit 2004 eine kontinuierliche Steige- spruch von 848 Euro noch einmal 115 Euro abzuziehen rung des Anteils der Älteren an den Erwerbslosen insge- haben. Sie treiben mit der Rente ab 67 die Menschen in samt haben. Und dann sagen Sie, dass die Arbeitsmarkt- die Grundsicherung im Alter. Das ist es, was Sie offen- situation es erlaubt, dass die Menschen länger arbeiten. sichtlich vorhaben. Sie wollen die gesetzliche Rente ka- 36 Prozent der Betriebe beschäftigen keinen einzigen puttschießen, um die privaten Versicherungen zu stützen. Menschen über 50. Nur 11,7 Prozent der neu Eingestell- Das ist Ihr Konzept. ten sind über 50 Jahre alt. Gleichzeitig kürzen Sie noch (Beifall bei der LINKEN) die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik, die diese Situation vielleicht ändern könnte. Ein weiteres Argument, das Sie immer anführen, ist An Ihren Aussagen wird deutlich, dass Sie es über- das der Generationengerechtigkeit. Wir wissen, dass nur um 0,5 Prozent höhere Beiträge notwendig wären, haupt nicht darauf anlegen, das zu tun, was im Gesetz um auf die Rente ab 67 zu verzichten; 0,25 Prozent für mit Ihrer Zustimmung beschlossen wurde, nämlich im Jahr 2010 zu prüfen, ob die Arbeitsmarktsituation über- den Arbeitnehmer. haupt ein späteres Renteneintrittsalter ermöglicht. Sie Ich kenne keinen, der wegen 0,25 Prozent zwei Jahre nehmen diese Prüfung überhaupt nicht ernst. Frau von länger arbeiten möchte. 0,25 Prozent sind beim Durch- der Leyen, ich zitiere Sie aus dem Focus vom schnittsverdiener 7 Euro. Wegen 7 Euro zwei Jahre län- 17. Mai 2010: ger arbeiten zu lassen, das ist dann Ihre Generationenge- Es hat enorme Kraft gekostet, die Rente mit 67 fest- rechtigkeit. Ich sage Ihnen: Sie treffen mit diesem (B) (D) zuschreiben. Wenn wir keine griechischen Verhält- Vorschlag Jung und Alt gleichermaßen. Die Jungen krie- nisse wollen, müssen wir länger arbeiten. Wir leben gen weniger Geld, kriegen weniger Rente und sollen län- auch länger. ger arbeiten. Den Alten muten Sie zu, in den Betrieben zu bleiben, bis sie umfallen. Vielleicht löst sich dann das Sie bringen kein einziges Argument bezüglich der Be- eine oder andere Rentenproblem biologisch. Das ist of- schäftigungssituation in der Realität. fensichtlich das, worauf es hinausläuft. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Ach Gott, oh Gott! So etwas Herr Brauksiepe sagt es noch deutlicher. Er ist ein Dummes!) ganz Ehrlicher. Er sagte über die Rente mit 67: Meine Damen und Herren, ich halte diese Politik, die Sie Es wird dabei bleiben, egal wie die Beschäftigung hier betreiben, für absolut unzumutbar. Deswegen Älterer aussieht. möchte ich auch noch einmal auf unsere Vorschläge ein- So veräppeln Sie die Leute im Land. gehen; dies ist nötig. (Beifall bei der LINKEN) Die Rente mit 67 gehört sofort zurückgenommen. Es ist auch keine Lösung – das muss ich meinen Kollegin- Sie tun so, als würden Sie tatsächlich darüber nachden- nen und Kollegen der SPD sagen –, zu sagen: Dann war- ken; in Wirklichkeit haben Sie die Entscheidung aber ten wir mal bis 2015, aber 2029 wird sie dennoch voll längst gefällt. wirken. Ihr Vorschlag, dass die Rente mit 67 bei einer Es wird immer angeführt, die Situation in den Be- Beschäftigungsquote der 60- bis 65-Jährigen von 50 Pro- trieben werde sich verbessern. Im Jahr 2009 haben nur zent eingeführt werden soll, bedeutet dann immer noch, 44 Prozent aller Betriebe überhaupt Weiterbildung be- dass die Hälfte der Betroffenen nur eine Rentenkürzung trieben, und zwar für die gesamte Belegschaft. Wir wis- kriegt. Das kann doch nicht eure Lösung sein. Deshalb sen auch, dass Weiterbildung in den Betrieben in der Re- überdenken Sie diesen Vorschlag bitte noch einmal, da- gel für die Höherqualifizierten angeboten wird und mit wir da zurande kommen. weniger für die, für die die Rente mit 67 unmöglich ist. Ein weiterer Punkt ist: Wir brauchen natürlich sofort Also hält auch das Argument der Weiterbildung einer eine Stabilisierung der Löhne, unter anderem den gesetz- Überprüfung nicht stand. lichen Mindestlohn, und wir brauchen vor allen Dingen In Wirklichkeit führt die Rente ab 67 für 90 Prozent eine andere Rentenformel. Wir brauchen eine Erwerbs- der Beschäftigten zu höheren Abschlägen. Sie wissen tätigenversicherung, in die alle einzahlen und in der alle 6656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Klaus Ernst (A) gleich behandelt werden – auch die Beamten, auch die Deswegen muss ich Ihnen Folgendes sagen: Solidarität (C) Selbstständigen und auch wir als Mitglieder des Deut- ist keine Einbahnstraße. Wenn sich diejenigen, die an der schen Bundestages. Bezugsdauer von Rente, an Lebensjahren und an Le- bensqualität etwas hinzugewinnen, zu Recht auf die So- (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. lidarität der Jungen, die dafür bezahlen, verlassen kön- Birkwald [DIE LINKE]: Und die Ministerin- nen, dann kann es umgekehrt nicht verkehrt sein, dass nen und Minister!) die Älteren auch ein Stück Solidarität mit den Jungen Es ist nicht akzeptabel, dass hier den Menschen dau- üben und ihnen dieses Bezahlen ein bisschen erleichtern. ernd eine Kürzung der Renten – auch mit der Rente ab 67 – Solidarität ist keine Einbahnstraße. Deswegen ist das, verordnet wird, während gleichzeitig die Abgeordneten was die Linke hier vorführt, der Todesstoß für das Soli- des Bundestages so tun, als würde es sie überhaupt daritätsprinzip in unserem Land. nichts angehen. Es geht sie auch tatsächlich nichts an, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – weil sie sich selber eine höhere Rente genehmigen. Das Dr. [DIE LINKE]: Das ist ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel. Es muss bei der Norbert Blüm, was wir sagen! Christliche So- Rente ab 65 bleiben, und es muss für bestimmte Berufs- ziallehre! – Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang gruppen eine Möglichkeit zum vorzeitigen Ausstieg ge- Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben. NEN]: Norbert Blüm als Kronzeuge!) Ich danke für die Aufmerksamkeit. – Norbert Blüm war ein Bundesarbeitsminister, der in (Beifall bei der LINKEN) der Tradition der christlichen Soziallehre und des Soli- daritätsprinzips stand und deswegen dafür gesorgt hat, dass die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ein stabiles System der Altersvorsorge ist und bleibt. Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Kollege Ernst, der offensichtlich ein fleißiger Bä- cker ist, hat versucht, das Ganze mit dem Kuchenbei- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): spiel etwas anders darzustellen. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ein gen! Für diejenigen in unserem Land, die in den nächs- gutes Beispiel!) ten 10, 20 Jahren in Rente gehen können, also die Senio- Er hat allerdings etwas Entscheidendes verschwiegen: (B) rinnen und Senioren der Zukunft, gibt es eine wirklich (D) gute Nachricht. Diese Nachricht ist, dass die Lebenser- Der Kuchen der Zukunft wird anders aufgeteilt als heute. wartung, dass die Lebenszeit, die wir beim Renteneintritt (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das stimmt!) vor uns haben, in den kommenden Jahrzehnten noch ein- mal deutlich ansteigen, wir also einen echten Gewinn an Heute teilen sich diesen Kuchen sehr viele Erwerbstätige Lebenszeit und Lebensqualität haben werden, und dass und wenige Rentnerinnen und Rentner. In der Zukunft sich damit auch die Zeit, in der wir aufgrund einer le- werden sich immer weniger Erwerbstätige den Kuchen benslangen Arbeitsleistung Rente beziehen, noch einmal mit Rentnerinnen und Rentnern teilen. Schon das zeigt, deutlich ausweiten wird. dass sein Kuchenbeispiel nicht stimmt. Wer Kuchen stiehlt, fährt eben Porsche, Herr Ernst. Ich finde, diejenigen, die diesen erfreulichen Zuge- winn an Rentenleistung, an Lebensqualität, an Lebens- (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE zeit haben werden, dürfen sich auch mit einem Stück- LINKE]: Die höchste Form der Intelligenz!) chen Solidarität für diesen Zugewinn bedanken. Die Richtig ist: Wenn überhaupt eine Chance bestehen Antwort auf die Frage, ob wir in den kommenden Jahren soll, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Jahrzehnten eine Veränderung an der Regelalters- länger arbeiten, als das heute der Fall ist, dann muss es grenze in der gesetzlichen Rentenversicherung vorneh- auch die entsprechenden Arbeitsplätze dafür geben. Die men, richtet sich zuallererst danach, ob das Solidaritäts- Erfahrung der vergangenen 10 bis 20 Jahre war, dass es prinzip in der Sozialversicherung in unserem Land noch diese Arbeitsplätze nicht in genügender Zahl gab. Des- funktioniert. wegen ist die Erwerbstätigenquote Älterer in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU) land immer weiter gesunken. Vorruhestandsmodelle wurden modern, durch die dafür gesorgt wird, dass die Damit komme ich sehr bewusst – dies auch aufgrund Erwerbsquote Älterer so niedrig ist, wie sie ist. meiner Vorbildung – zu der christlichen Soziallehre, zu der als wichtiges Prinzip das Solidaritätsprinzip gehört. In den kommenden 10 bis 20 Jahren wird sich diese Aber ich habe gelernt, dass auch bei der Linken, bei den Entwicklung allerdings ins Gegenteil verkehren. Im Jahr Sozialisten, Solidarität ein hoher Wert sei. 2029 – das ist das Jahr, in dem die neue Regelalters- grenze 67 in Kraft treten soll – werden wir in Deutsch- (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Kampfbe- land fast 8 Millionen Erwerbstätige weniger als heute griff! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber haben. Schon heute wird uns ein massiver Fachkräfte- nur innerhalb der Partei! – Dr. Diether Dehm mangel vorausgesagt. Angesichts dieser Situation kann [DIE LINKE]: Norbert Blüm!) man eben nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6657

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Vielmehr muss man jetzt handeln; denn die notwendige 29,6 Prozent derjenigen, die neu in Rente gegangen sind, (C) Anzahl an Arbeitsplätzen ist in den kommenden Jahren aus versicherungspflichtiger Beschäftigung kamen und erkennbar vorhanden. Wenn wir nicht handeln, werden es dann mit mehr oder weniger kontinuierlichem Absin- wir den Fachkräftemangel in Deutschland massiv erhö- ken im Jahr 2008 nur noch 17,8 Prozent waren. Dazu hen. hätte ich gern eine Antwort von Ihnen. Zu Recht fordern die Wählerinnen und Wähler, un- (Beifall bei der LINKEN) sere Mitbürgerinnen und Mitbürger von uns, den Politi- kern, immer, ihnen die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit Zweitens möchte ich Sie fragen, wie Sie auf die Idee ist: 2029 gibt es 8 Millionen Erwerbstätige weniger als kommen können, dass das Kuchenbeispiel, das Klaus heute. Wir haben einen dringenden Bedarf, dass Men- Ernst vorgetragen hat, falsch sei. Die Kuchenstücke wer- schen länger arbeiten. Es gibt die Chance, das zu ge- den natürlich größer, wenn es weniger Menschen in der währleisten, und diese Chance sollten wir auch nutzen. Gesamtgesellschaft gibt. Das ist jetzt nicht irgendwoher, sondern das können Sie gern nachlesen: „Rente mit 67“, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Monitoring-Bericht des Netzwerks für eine gerechte neten der FDP) Rente. Darin sind die Zahlen enthalten. Jetzt kann man sich natürlich fragen: Wie macht man Im Jahr 1970 gab es einen Anteil der Erwerbsperso- das? nen an der Bevölkerung, der im Jahr 2060 wieder er- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reicht werden wird. Warum das in der Zwischenzeit, in NEN]: Das ist die entscheidende Frage!) der wir im Verhältnis deutlich mehr Erwerbspersonen haben, ein Problem sein soll, erschließt sich mir nicht. SPD und Linke haben den Vorschlag gemacht, abzuwar- Auch darauf hätte ich gerne eine Antwort. ten. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was?) Enkelmann [DIE LINKE]: Einfache Mathe- Man will schauen, wie sich die Erwerbstätigkeit Älterer matik!) entwickelt, und irgendwann später möchte man handeln. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Es ist alles einfache Mathematik. Sie sollten aber bitte nicht unser Vorschlag! – Dr. Dagmar auch die Variablen im Spiel benennen. Enkelmann [DIE LINKE]: Wir warten nicht ab!) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist Politik!) (B) – Doch. Sie wollen abwarten. (D) Erster Punkt. Machen wir ein kleines Beispiel. Heute Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: trifft sich eine Großfamilie mit zehn Personen. Davon Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sind drei Personen in Rente und sieben Personen junge Kollegen Birkwald? Leute, die voll und ganz im Erwerbsleben stehen, Steu- ern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Diese Leute essen zusammen den Kuchen. Drei Stückchen bekom- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): men die Senioren, sieben Stückchen bekommen die jun- Bitte. gen Leute, die arbeiten gehen und den Kuchen bezahlt haben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Birkwald, bitte. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Toll!) In 20 Jahren treffen wir keine zehn Personen mehr am Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Tisch, sondern nur noch sechs. Von denen, die da sitzen, Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Weiß, hat natürlich jeder mehr Kuchen zur Verfügung. ich habe zwei Fragen an Sie. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben! – Bundeskanzlerin Merkel hat in ihrer Regierungserklä- Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Er hat rung vom 30. November 2005 gesagt – ich zitiere –: es verstanden!) Wenn wir es nicht schaffen, dass auch die Älteren Jetzt kommt aber der große Unterschied. Drei von ih- wieder die Chance haben, länger arbeiten zu kön- nen sind in Rente, und drei gehen arbeiten und haben nen, dann werden wir in der Gesellschaft kein Ver- den Kuchen bezahlt. Diesen Punkt haben Sie nicht mit ständnis dafür erhalten, dass wir die Lebensarbeits- berechnet. Deswegen ist Ihre Rechnung falsch. zeit insgesamt verlängern. Beides muss Hand in (Zuruf von der FDP: Deswegen können die Hand gehen. Alles andere wird keine Akzeptanz sich nicht mehr so oft Kuchen leisten!) finden. Zweiter Punkt. Dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es geht doch viele nicht aus dem Erwerbsleben heraus, sondern aus voran!) Arbeitslosigkeit heraus in Rente gehen, ist richtig. Die Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie erstens, zu be- entscheidende Frage, die Sie aber völlig ausblenden, ist: werten, was es dann bedeutet, dass im Jahr 1999 Was bringt die Zukunft? 6658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Am vergangenen Montag haben auch Sie an der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales teil- Nun stellt sich die Frage, wie man das umsetzt. Die genommen. Herr Dr. Walwei vom Institut für Arbeits- Große Koalition aus CDU/CSU und SPD hatte sich zu markt- und Berufsforschung hat uns Folgendes vorgetra- Recht dazu entschlossen, die Anhebung der Regelalters- gen – ich zitiere –: grenze in kleinen Schritten vorzunehmen, um keinen der Die Beschäftigungsquoten haben in den letzten künftigen Jahrgänge von Seniorinnen und Senioren zu zehn Jahren enorm zugelegt. überfordern. Genau das halte ich für den richtigen Weg. Solidarität verlangt, dass wir die notwendigen Maßnah- (Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] men, die wir ergreifen müssen, auf möglichst viele nimmt wieder Platz) Schultern gleichmäßig verteilen. Die Vorschläge, die – Ich beantworte Ihnen Ihre Frage. Sie haben zwei Fra- Umstiegsphase der Erhöhung des Renteneintrittsalters gen gestellt. Jetzt bekommen Sie auch zwei Antworten. von 65 auf 67 Jahre zu verkürzen oder die Erhöhung der Altersgrenze auf einen Schlag einzuführen, würden in (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie ant- Wahrheit eine massive Ungerechtigkeit gegenüber den worten nicht!) Jahrgängen mit sich bringen, die es dann treffen würde. – Doch. – Frau Präsidentin. Deshalb noch einmal ein klares Bekenntnis: Wir wollen das, was auf uns zukommt, solidarisch Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Elke Ferner [SPD]: Solidarisch?) Ich habe die Uhr noch nicht weitergestellt. auf möglichst viele Schultern verteilen. Deswegen dau- ert die Umstiegsphase von 2012 bis 2029. Mir persön- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): lich wäre es ehrlich gesagt sogar lieber gewesen, wenn Gut. diese Phase noch länger dauerte, aber diese Umstiegs- Das gilt im Grunde für alle Altersgruppen, 50- bis phase zu verkürzen – das wird ja insbesondere von der 54-, 55- bis 59-, 60- bis 64-Jährige, bei der letzten SPD vorgeschlagen –, würde zur Entsolidarisierung un- Gruppe am allerstärksten. Auch die Erwerbsnei- serer Gesellschaft führen, also dem Gegenteil von Soli- gung der Älteren hat kontinuierlich zugenommen. darität. Herr Birkwald, deswegen ist es richtig, was ich hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vorgetragen habe. Wir haben schon heute einen Anstieg Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Jahres- der Beschäftigungsquote Älterer. Diese Beschäftigungs- zahlen 2012 und 2029 sind nicht willkürlich gegriffen. (B) quote Älterer werden wir in den nächsten Jahrzehnten Im Jahr 2012 werden zum ersten Mal in Deutschland (D) noch einmal deutlich steigern, auch steigern können, mehr Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren 65. Geburts- weil nicht genügend jüngere Arbeitskräfte in den Ar- tag feiern als Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren beitsmarkt nachkommen. 20. Geburtstag. Das Jahr 2012 ist das Jahr, in dem die Alterspyramide umkippt und die Zahl der Älteren, deren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erwerbsleben endet, höher liegt als die der Jüngeren, die Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Toll! Bravo! – in das Erwerbsleben eintreten. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das war zu einfach!) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aber die Pro- duktivität steigt trotzdem!) Es ist die Frage gestellt worden, was man als Rente ausbezahlt bekommt. Es ist – wie es oft in Rentendebat- Im Jahr 2029 werden insgesamt 1,35 Millionen Men- ten geschieht – das Lied von der sinkenden Rente und schen – der geburtenstärkste Jahrgang war der Jahrgang der Zerstörung des gesetzlichen Rentensystems gesun- 1964 – ins Rentenalter kommen. Ins Erwerbsleben treten gen worden. Die Anhebung der Altersgrenze in der ge- dann diejenigen ein, die letztes Jahr geboren wurden, setzlichen Rentenversicherung und damit die Möglich- insgesamt 351 000. Vor diesem Hintergrund wurden die keit, zwei Jahre zusätzlich etwas für seine Rente beiden Daten 2012 und 2029 ausgewählt. Diese Zahlen anzusparen, wurden nicht willkürlich gegriffen, sondern sie spiegeln die Lebenswirklichkeit in unserem Land hinsichtlich des (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das ist eine Altersaufbaus unserer Gesellschaft exakt wider. Unverschämtheit!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) führt aufgrund des in der Rentenformel enthaltenen Nachhaltigkeitsfaktors dazu, dass die Möglichkeiten für Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zu Recht wird Rentensteigerungen in den kommenden Jahren nicht ab- darauf hingewiesen – auch von der Frau Bundeskanzle- nehmen, sondern zunehmen. Deshalb ist in Wahrheit die rin; vorhin wurde ja aus ihrer Regierungserklärung zi- Anhebung der Regelaltersgrenze für die gesetzliche tiert –, dass der Erfolg dieses Konzeptes entscheidend Rentenversicherung keine Zerstörung, sondern eine Sta- davon abhängt, ob sich im Denken der Personalchefs un- bilisierung und schafft die Möglichkeit, dass auch künf- serer Betriebe grundlegend etwas ändert, sie also ältere tigen Rentnerinnen und Rentnern wieder Rentenerhö- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich wieder hungen zugutekommen. Das ist, wie ich finde, eine mehr wertschätzen und ihnen eine Chance geben, und ob positive Nachricht für künftige Seniorinnen und Senio- sich auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen für ältere ren in unserem Land. Mitmenschen ergeben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6659

Peter Weiß (Emmendingen) (A) (Zuruf von der LINKEN: Als Minijobber!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kassie- (C) rerinnen und viele andere auch nicht!) Deswegen haben wir klugerweise in das Gesetz hinein- geschrieben, dass die Bundesregierung darüber regelmä- Aus diesen Erkenntnissen müssen wir politische ßig einen Bericht zu erstatten hat. Schlüsse ziehen. Um unser Rentensystem finanzieren zu können, brauchen wir Reformen. Somit kommen wir (Dr. [DIE LINKE]: Na toll!) auch an einer Erhöhung des Renteneintrittsalters nicht Sie wird diesen Bericht erstmals im November dieses vorbei. Allerdings: Wenn wir das Renteneintrittsalter an- Jahres vorlegen. heben, müssen wir unsere Arbeitswelt verändern. (Anton Schaaf [SPD]: Aber das Ergebnis ist In diesem Bewusstsein haben wir in der Großen Ko- schon klar! – Elke Ferner [SPD]: Sie kennen alition die Rente mit 67 beschlossen, und zwar bewusst das Ergebnis jetzt schon!) zusammen mit einer im Gesetz verankerten Überprü- fungsklausel. Demnach ist die Rente mit 67 nur umsetz- Deswegen schlage ich einfach einmal vor, dass wir, bar, wenn die Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt verehrte Kolleginnen und Kollegen, bevor wir ständig ir- stimmen. gendwelche Schaufensterdebatten zu diesem Thema füh- (Anton Schaaf [SPD]: So ist das!) ren, erst einmal diesen von uns als Parlament selbst in Auftrag gegebenen Bericht – wir als Parlament haben ja Das ist und bleibt eine vernünftige Lösung, die sich an beschlossen, dass die Regierung einen solchen Bericht der gesellschaftlichen Realität orientiert. vorlegen soll – zur Kenntnis nehmen, die Zahlen gründ- Meine Kolleginnen und Kollegen von der Linken, mit lich studieren und auswerten, um dann über notwendige Ihrer Forderung, die Rente mit 67 abzuschaffen, verken- Konsequenzen miteinander zu beraten. Nicht irgendwel- nen Sie leider die Realität. Der demografische Wandel che Wolkenkuckucksheime, sondern die Ergebnisse von lässt sich nicht so einfach wegdiskutieren, auch nicht mit Studien, wie die konkreten Chancen für ältere Menschen dem von der SPD geforderten Mindestlohn und der Er- auf dem Arbeitsmarkt aussehen, stellen die Leitlinie für werbstätigenversicherung. Das wissen Sie, und das wis- uns bei der Erhöhung der Regelaltersgrenze in der Ren- sen auch meine ehemaligen Kollegen am Fließband. tenversicherung dar. In diesem Bereich werden wir uns auch in den kommenden Jahren entsprechend arbeits- marktpolitisch anstrengen müssen. Wir haben die Chance Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dazu, und diese Chance sollten wir auch ergreifen. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schlecht? Vielen Dank. (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Josip Juratovic (SPD): (D) Nein. – Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der FDP, auch Sie verschließen sich vor Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der Realität. Sie halten stur an der Erhöhung des Renten- Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege eintrittsalters fest, ohne Rücksicht auf die Situation auf Josip Juratovic. dem Arbeitsmarkt. Aber die Arbeitswelt in den Betrie- (Beifall bei der SPD) ben ist in den letzten drei Jahren nicht altersgerechter ge- worden. Die Arbeitswelt ist gekennzeichnet von einer enormen Leistungsverdichtung. Schonarbeitsplätze wur- Josip Juratovic (SPD): den wegrationalisiert, in vielen Betrieben liegt die Aus- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten lastung bei über 95 Prozent, Taktzeiten werden verdich- Damen und Herren! Wir debattieren heute erneut über tet, Erholungszeiten werden verkürzt. Es existiert ein die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Das ist mir auch enormer psychischer Druck. Das Arbeitsklima ist durch sehr wichtig; denn diese Diskussion wird in der gesam- den Stress sehr belastet. Das bringt viele Arbeitnehmer ten Gesellschaft geführt. an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Wenn ich in meinem Wahlkreis Gespräche führe, ist Unter diesen Umständen können meine ehemaligen die Rente immer ein sehr emotionales Thema, und das Kollegen nicht bis 67, allerdings auch nicht bis 65 und zu Recht; denn die Diskussion ist häufig von Halbwahr- oft nicht einmal bis 60 arbeiten. heiten und Populismus geprägt. Die Menschen in unse- rem Land wollen aber eine ehrliche Debatte über die (Katja Mast [SPD]: Recht hat er!) Rente. Deshalb müssen wir uns an der Realität orientie- Viele Arbeitnehmer gehen also nicht freiwillig früher in ren: Rente, sondern können bei den derzeitigen Arbeitsbedin- gungen einfach nicht mehr mithalten. Sie haben also Erstens. Immer weniger jüngere Menschen müssen keine Chance, tatsächlich bis 67 zu arbeiten. die Rente von immer mehr älteren Menschen bezahlen. Zudem werden die Menschen in unserem Land zum Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der Glück immer älter und beziehen länger ihre Rente. FDP, wenn Sie die Rente mit 67 ohne Rücksicht auf die Situation auf dem Arbeitsmarkt umsetzen, ist dies fak- Zweitens. Viele Menschen in unserem Land können tisch eine Rentenkürzung. nicht bis 67 arbeiten. Meine Frau ist Krankenschwester. Sie und ihre Kolleginnen können unter den derzeitigen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Arbeitsbedingungen nicht bis 67 durchhalten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 6660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Josip Juratovic (A) Deshalb müssen wir unsere Arbeitswelt altersgerechter Michael Schlecht (DIE LINKE): (C) gestalten, damit die Menschen auch eine Chance haben, Es ist bedauerlich, dass Sie anscheinend das Kuchen- tatsächlich länger arbeiten zu können. beispiel des Kollegen Klaus Ernst nicht verstanden ha- ben. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ihr Erstens brauchen wir gleitende Übergänge in die habt es nicht verstanden! Die Frage ist, wer Rente. Dazu gehören Gleitzeit, Urlaubsanspruch und den Kuchen bezahlt! Das habt ihr immer noch schrittweise Arbeitszeitreduzierung. Wir müssen die Al- nicht kapiert!) tersteilzeit weiterentwickeln und fördern und flexible al- tersgerechte Arbeitszeiten einrichten. Wir brauchen eine Denn die Demografie ist nun wirklich kein Argument Teilrente, damit Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit reduzie- dafür, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. ren können, ohne einen enormen Einkommensverlust Ich will ein weiteres Beispiel anführen. In den 50er-, hinnehmen zu müssen. 60er-Jahren ist in der Tat eine Art demografischer Bombe explodiert. Im Jahre 1950 betrug der Altersquo- Zweitens müssen wir für eine angemessene Renten- tient noch sieben zu eins. Dieses Verhältnis hat sich bis höhe sorgen. Die Rente muss armutsfest sein, um Alters- in die 60er-Jahre hinein auf vier zu eins verschlechtert. armut zu verhindern. Dazu zählen Mindestentgeltpunkte, Nach Ihrer Logik hätte sich in diesen zehn, fünfzehn besonders für Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit Jahren ein massiver Sozialabbau und eine massive Ver- und für geringe Einkommen. Hier müssen wir vor allem schlechterung der Rentensituation ergeben müssen. Wir an Geringverdiener denken, die keine Betriebsrente und wissen alle: Das Gegenteil ist der Fall. 1958 gab es keine Riester-Rente erhalten. durch die große Rentenreform gewaltige Verbesserun- Drittens brauchen wir neue Wege im präventiven Ge- gen. sundheitsschutz gemeinsam mit Arbeitgebern, Arbeit- Das heißt, Veränderungen im Altersaufbau sind über- nehmern und Krankenkassen. Wir brauchen Weiterbil- haupt kein zwingender Grund dafür, in der Rente zu Ver- dung und Qualifizierung speziell für ältere Arbeitnehmer. schlechterungen zu kommen. Dass das jetzt so ist, ist Dazu muss die von der SPD angestoßene Initiative wirklich bedauerlich. Ich sage ganz deutlich: Keiner „50 plus“ ausgeweitet werden. Wir müssen uns Gedan- sehnt sich mehr als wir danach, dass die SPD in dieser ken machen über Schonarbeitsplätze, die eventuell auch Frage eine Kurskorrektur vornimmt und sich dadurch re- subventioniert werden müssen. sozialdemokratisiert. Davon ist bei der Rente außer die- Wir müssen aber auch die Wirtschaft fordern. Die sem einen Ansatz, dass Sie von der SPD die Einführung der Rente mit 67 um vier Jahre hinausschieben wollen, (B) Politik allein kann die Arbeitswelt nicht altersgerechter (D) gestalten. Dazu brauchen wir die Unternehmen. Sie müs- leider nichts zu spüren. sen sich verändern und können ihre Mitarbeiter nicht Danke schön. mehr mit 60 Jahren in die Frühverrentung schicken. (Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling In dieser Debatte hilft uns kein Populismus. Vernunft [CDU/CSU]: Diese Argumentation führt dazu, kennt kein Ja oder Nein. Weder ist es vernünftig, die dass die solidarische Rente aufgegeben wird Rente mit 67 abzuschaffen, wie es die Linke fordert, und wir eine Staatsrente bekommen!) noch ist es vernünftig, die Rente mit 67 ohne Rücksicht auf den Arbeitsmarkt umzusetzen, wie Union und FDP es Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: planen. Deshalb sage ich: Vernünftig ist eine abwägende Wollen Sie erwidern? – Nein. Lösung, wie sie in der Überprüfungsklausel vorgesehen ist. Erst wenn die Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt Dann hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb das Wort für geschaffen sind, können wir das Renteneintrittsalter er- die FDP-Fraktion. höhen. Deshalb sollten wir die Erhöhung des Rentenein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten trittsalters verschieben und die Zeit zur altersgerechten der CDU/CSU) Gestaltung der Arbeitswelt nutzen. Das ist die ehrliche und verständliche Ansage der SPD. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Meine Kollegen am Fließband und die Kolleginnen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! meiner Frau im Krankenhaus müssen wissen: Die Politik Herr Ernst, wenn Sie gestatten, würde ich zunächst ei- kümmert sich darum, dass jeder gesund in Rente gehen nige Bemerkungen an die Adresse der SPD richten und und von dieser Rente anständig und in Würde leben danach auf Ihren Antrag zu sprechen kommen. Hoffent- kann. lich reicht die Zeit; man kann die Redezeit ja immer mit Zwischenfragen verlängern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der (Beifall bei der SPD) CDU/CSU) Herr Juratovic, wir müssen heute noch einmal fest- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: stellen: Die Rente mit 67 ist von einem SPD-Minister Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege umgesetzt worden, von Franz Müntefering, der dem Ver- Schlecht. nehmen nach damals unter durchaus dramatischen Um- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6661

Dr. Heinrich L. Kolb (A) ständen die Kanzlerin zur Seite genommen hat und ihr Sie es denn mit Ihren früheren Positionen halten. Sie ha- (C) vermutlich gesagt hat: Hören Sie, das ist eine unabweis- ben am 14. Dezember 2006 in der Debatte zum Alters- bare Notwendigkeit. – Er hat dann konsequenterweise grenzenanpassungsgesetz gesagt: die Rente mit 67 ins Gesetz gebracht. Herr Minister Müntefering, die Anhebung, die Sie (Zuruf des Abg. Josip Juratovic [SPD]) vorhaben, macht doch nur Sinn, wenn die Men- schen am Schluss wirklich die Gelegenheit haben, Mit dieser Feststellung sollte man anfangen. länger zu arbeiten. Dann wurde, vermutlich auf Druck Ihrer Fraktion, Dann haben Sie die Rente mit 67 als einen „unerwarteten eine Überprüfungsklausel in das Gesetz aufgenommen, Tabubruch“ bezeichnet und gesagt: die Sie in Ihrem jüngsten Präsidiumsbeschluss zitieren. Zuerst werden die Voraussetzungen für die Einführung Die Menschen ahnen – Herr Minister, ich sage: zu festgelegt. Im nächsten Absatz erklären Sie zu Recht, Recht –, dass die Reform der Rente aufgrund man- dass der Prozentsatz der sozialversicherungspflichtig be- gelnder begleitender Arbeitsmarktreformen für die schäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im allermeisten Versicherten auf eine verkappte Ren- Alter von 60 bis 64 durchschnittlich von 10,7 Prozent im tenkürzung hinauslaufen wird Jahr 2000 auf 21,5 Prozent im Jahr 2009 gestiegen ist, (Zurufe von der LINKEN: Oh!) sich also mehr als verdoppelt hat. Sie fangen diesen Satz mit dem Wort „Zwar“ an, um anschließend zu sagen, der Kollege Weiß hat mir eben keine befriedigende Ant- Anteil müsse noch steigen. Da bin ich absolut bei Ihnen: wort auf meine Frage gegeben, was es bedeutet, „dass im Es ist, glaube ich, Konsens in diesem Hause, dass wir die Jahr 1999 29,6 Prozent derjenigen, die neu in Rente ge- Erwerbsbeteiligung Älterer nachhaltig steigern wollen. gangen sind, aus versicherungspflichtiger Beschäftigung kamen und es dann mit mehr oder weniger kontinuier- Herr Kollege Juratovic, liebe Kolleginnen und Kolle- lichem Absinken im Jahr 2008 nur noch 17,8 Prozent gen von der SPD, ich frage mich aber schon: Welche Er- waren“. Ich möchte Sie fragen, ob Sie Ihre kritische Hal- wartungen hatten Sie eigentlich damals im Jahr 2007, als tung zur Rente erst mit 67 aus dem Jahr 2006 weiter auf- Sie die Rente mit 67 eingeführt haben? Wollten Sie rechterhalten? schon heute eine Erwerbsbeteiligung von 30 Prozent oder 35 Prozent erreicht haben? (Beifall bei der LINKEN) (Josip Juratovic [SPD]: 50 Prozent!) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir kommen hier in Ihrem Sinne – in dem Sinne, in dem Vielen Dank. Ich bitte Sie, stehen zu bleiben. Ich will Franz Müntefering damals den Vorschlag gemacht hat – (B) Ihre Frage gerne beantworten; aber das könnte ein biss- (D) deutlich voran. Sie zucken jetzt aber zurück und sagen: chen mehr Zeit erfordern. Das reicht uns noch nicht; wir wollen abwarten und set- zen es dann gegebenenfalls komprimiert in einem kürze- (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der ren Zeitraum um. – Das sind nach meinem Dafürhalten CDU/CSU) Ausflüchte. Die Wahrheit ist nämlich: Sie wollen zu kei- Wir stehen zu unseren damaligen Positionen. Wir ha- ner Ihrer früheren Reformen mehr stehen. ben immer gesagt: Die Rente mit 67 ist eine Herausfor- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) derung; es kommt auf die Entwicklung am Arbeitsmarkt an, sie ist entscheidend. Wenn Sie heute in die Zeitungen Ich finde das traurig. schauen, stellen Sie fest: Wir hatten in den letzten Jahren eine positive Entwicklung am Arbeitsmarkt, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Kolb, gestatten Sie die Zwischenfrage (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) des Kollegen Birkwald? die natürlich auch den älteren Arbeitnehmern zugute- kommt. 3,03 Millionen Menschen – immer noch viel zu Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): viele – sind in unserem Land im September arbeitslos Ja, selbstverständlich. Ich habe nur fünf Minuten Re- gewesen. dezeit. (Elke Ferner [SPD]: Wie viele Ältere sind (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der denn dabei?) CDU/CSU) Die Prognosen gehen davon aus, dass wir die Zahl von 3 Millionen Arbeitslosen im Oktober unterschreiten. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Als Franz Müntefering damals, 2007, die Reform um- Herr Kollege Kolb, Sie haben förmlich nach einer setzte, hatten wir Arbeitslosenzahlen, die eher in Rich- Zwischenfrage gerufen. tung 5 Millionen gingen. Das ist ein Unterschied von (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: 2 Millionen und damit natürlich auch eine deutliche Ver- Gelechzt!) änderung bei den Möglichkeiten Älterer, sich am Er- werbsleben zu beteiligen. – Ja, gelechzt. Deswegen würde ich Sie, nachdem Sie gerade die Kollegen von der Sozialdemokratie auf frü- Zweitens. Herr Kollege Birkwald, ich habe immer ge- here Positionen angesprochen haben, gerne fragen, wie sagt: Das Ende der Krise – wir erleben es erfreulicher- 6662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Heinrich L. Kolb (A) weise etwas früher, als wir alle befürchtet hatten – ist der wichtiger Punkt, den Sie bei Ihrem Präsidiumsbeschluss (C) Anfang der demografisch bedingten Arbeitskräfteknapp- vollkommen ausgeblendet haben und den Sie noch ein- heit. Das ist so. Das ist auch in dem Beispiel von Peter mal überdenken sollten. Weiß zum Ausdruck gekommen. In den nächsten Jahren, beginnend 2012 und innerhalb relativ kurzer Zeit deut- Man kann es auch an einer anderen Zahl verdeutli- lich spürbar, werden ältere Arbeitnehmer aus dem Er- chen: Der Anteil der über 60-Jährigen, die aus der Ar- werbsleben ausscheiden und jüngere in deutlich geringe- beitslosigkeit noch einmal in volle Erwerbstätigkeit rer Zahl in den Arbeitsmarkt nachrücken. Das wird zu wechseln konnten, hat sich allein von 2006 bis 2009 Veränderungen führen, die Sie in Ihren Prognosen nicht deutlich mehr als verdoppelt. Das sind Menschen, die ins Kalkül ziehen. Für diejenigen Gruppen, die heute am früher praktisch keine Chance mehr am Arbeitsmarkt Arbeitsmarkt Probleme haben – Alleinerziehende, ältere hatten. Das ist eine dramatische Veränderung. Arbeitnehmer, auch Menschen mit geringerer Qualifika- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE tion –, erhöhen sich die Chancen deutlich. – Sagen Sie GRÜNEN]: Nennen Sie mal die Prozentzah- mir bitte, wenn die Uhr weiterläuft; dann müsste ich die len!) Beantwortung abbrechen. Sonst würde ich die Frage gerne weiter beantworten. – Das spiegeln auch Zahlen – Ich habe immer gesagt, Frau Müller-Gemmeke: Wir wider, die ich in meiner weiteren Rede noch benennen brauchen einen Paradigmenwechsel auf den Golfplätzen. möchte. Da tut sich also etwas. Es war lange Zeit schick in Deutschland, über 50-Jährige aus den Betrieben zu verbannen. Das habe ich immer für Das Dritte ist: Wir stehen weiterhin zu unserem Kon- falsch gehalten. Offensichtlich hat sich da in den letzten zept der Flexibilisierung. Bei einer Anhebung der Re- Jahren etwas bewegt. gelaltersgrenze ist es nach unserer Auffassung unverän- dert notwendig, dass man den Menschen die Chance (Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD]) gibt, auf der Basis der eigenen freien Entscheidung über – Vielleicht auch wegen der Politik von Franz einen früheren Renteneintritt, natürlich mit Abschlägen, Müntefering; darauf können Sie doch stolz sein. Aber nachzudenken. Ich glaube, der Staat hat auch kein Recht, Sie blenden das vollkommen aus, und das kann ich über- Menschen, die im Hinblick auf das Alter Ansprüche haupt nicht nachvollziehen. oberhalb der Grundsicherung erworben haben, vorzu- schreiben, bis 67 zu arbeiten. Diese Entscheidungsfrei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) heit sollten wir jedem Einzelnen einräumen. Ich habe es schon gesagt: 21,5 Prozent der 60- bis (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 64-Jährigen sind sozialversicherungspflichtig beschäf- tigt. Aber die Tendenz ist gut. Vor zehn Jahren waren es (B) Ich hoffe, dass damit Ihre Frage ausreichend beantwortet 10 Prozent. Das muss man in der Zukunft fortschreiben. (D) ist, Herr Kollege Birkwald. Sie müssen auch sehen, dass die Zahlen derzeit durch die Jetzt will ich noch ein paar Zahlen nennen, Frau Kol- Abwicklung der Altersteilzeit belastet sind, legin Enkelmann, die ich der Antwort auf Ihre Große (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) Anfrage entnehme. Ich gehe immer davon aus, dass Sie Fragen stellen, um auch die Antworten zur Kenntnis zu die in hohem Maße genutzt worden ist; das ist in der Sta- nehmen. Das haben Sie aber anscheinend nicht getan. tistik noch enthalten. Viele haben, natürlich auch in An- sehung der möglicherweise bevorstehenden Abschaf- Die Zahl der Nichterwerbstätigen über 60 Jahre ist im fung, einen richtigen Run auf die Altersteilzeit gestartet. Zeitraum von 2000 bis 2008 von über 80 auf 65 Prozent Wenn dieser Effekt erst einmal beseitigt ist, wird man se- gesunken. Das ist auch ein wichtiger Hinweis an Ihre hen, dass die Möglichkeiten der sozialversicherungs- Adresse, Herr Juratovic. Sie schreiben nämlich in Ihrem pflichtigen Beschäftigung älterer Arbeitnehmer sich sehr Präsidiumsbeschluss: gut entwickeln werden. Aber wenn weiterhin durchschnittlich rund 80 Prozent der Menschen über 60 Jahre nicht mehr Darüber hinaus weise ich darauf hin, dass das nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, wirkt nur für die alten, sondern auch für die neuen Bundeslän- eine Anhebung … aus demografischen Gründen … der gilt. Das ist die letzte Zahl, die ich – mit Blick auf wie eine … Rentenkürzung. die Uhr, Frau Präsidentin – noch nennen will. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen Wenn die Menschen zwar nicht mehr sozialversiche- 55 und 65 Jahre ist in Ostdeutschland im Zeitraum 2005 rungspflichtig beschäftigt, aber kurz vor Erreichen des bis 2009 um erfreuliche 38,3 Prozent gestiegen; davon Regelalters in deutlich höherem Maße erwerbstätig sind, sind fast zwei Drittel in Vollzeitbeschäftigung. Ich kann beispielsweise als Selbstständige, das hier aus Zeitgründen nicht weiter ausführen, weil niemand eine weitere Zwischenfrage gestellt hat. Aber (Max Straubinger [CDU/CSU]: Mit selbststän- ich will noch Folgendes sagen: Der Trend ist aus unserer diger Tätigkeit hat die SPD ihre Schwierig- Sicht durchaus ermutigend. Das ist ein Grund, das, was keit!) auf dem Weg ist, fortzuführen, jedoch gleichzeitig deut- kommt es deshalb nicht zwingend dazu – man muss das lich zu machen, dass wir mit den Flexibilisierungsmög- immer zusammen betrachten: gesetzliche Rente plus Al- lichkeiten ein Ventil anbieten wollen. Darüber denken tersvorsorge aus anderen Quellen –, dass sich die Situa- doch auch Sie von der SPD nach. Zum Beispiel könnten tion des Gesamtalterseinkommens verschärft. Das ist ein wir bei den Zuverdienstgrenzen etwas verändern. Wenn Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6663

Dr. Heinrich L. Kolb (A) wir mit diesem Konzept vorangehen, sind wir, glaube seien und das nicht verstehen würden. Häufig sind die (C) ich, auf einem guten Weg. Menschen durchaus klüger, als wir Politikerinnen und Politiker glauben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Frage: „Rente mit 67? Ja oder nein?“, die die Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Linke häufig stellt, greift zu kurz. Wenn die Mehrheit Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- gegen die Rente mit 67 ist, stecken dahinter mehrere nen. durchaus reale Sorgen der Menschen. Die Menschen ha- ben Angst, dass die Rente mit 67 dazu führt, dass sie Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ keine existenzsichernde Rente mehr erhalten. Sie haben DIE GRÜNEN): Angst, dass sie erwerbsunfähig werden und höhere Ab- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schläge als heute in Kauf nehmen müssen. Sie haben Wir haben kurz vor der Sommerpause eine Debatte über Angst, dass sie nicht bis 67 arbeiten können und ihre die Rente mit 67 geführt. Jetzt führen wir schon wieder Rente entsprechend gekürzt wird. An diesen Punkten eine darüber. Teilweise haben wir die gleichen Reden müssen wir ansetzen. Ich kann Ihnen versichern: Wir gehört, zum Beispiel von Herrn Ernst, Herrn Weiß und Grüne nehmen die Sorgen der Menschen sehr ernst und Herrn Kolb. werden Vorschläge dazu unterbreiten. Bald, wenn wir wieder regieren, werden wir uns darum kümmern, dass (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Ihre Rede es Lösungen gibt. wird auch nicht anders werden!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich könnte jetzt auch einfach die gleiche Rede halten, aber ich will anders anfangen und an einem Tag wie Ich habe es schon gesagt: Wir Grüne halten die Rente heute etwas Grundsätzliches und Nachdenkliches sagen. mit 67 nach wie vor für die richtige Perspektive. Wenn die Menschen länger arbeiten, sind die Beiträge niedri- Als Politiker müssen wir, glaube ich, insgesamt auf- ger und die Renten höher, Herr Ernst, sodass letztlich passen, dass wir nicht über die Köpfe der Menschen hin- alle davon profitieren können. Es profitieren alle von weg und jenseits der Realitäten regieren. Vor diesem diesem größeren Kuchen. Hintergrund fand ich die Rede des Herrn Juratovic sehr hilfreich. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie auf der rech- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ten Seite des Hauses etwas besser zugehört hätten und (B) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wichtiger Hin- (D) nicht so viel und so laut gequatscht hätten. weis!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn die Menschen allerdings nicht länger arbeiten sowie bei Abgeordneten der SPD – Max können, dann handelt es sich tatsächlich um eine Ren- Straubinger [CDU/CSU]: Es wäre auch gut, tenkürzung, und das gilt es, zu verhindern. Wenn man Sie würden bei uns zuhören!) sich die Zahlen anschaut – Sie haben ein paar genannt –, Es passieren zurzeit mehrere Dinge: In Stuttgart wird muss man sagen: Die Voraussetzungen sind jetzt noch ein Projekt mit brutaler Gewalt gegen den Willen eines nicht gegeben. großen Teils der Bevölkerung vor Ort durchgesetzt. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE Heute Morgen haben wir über die Laufzeitverlängerung LINKE]) der Atomkraftwerke diskutiert, die die Bundesregierung gegen den Willen der Mehrheit der Menschen durchset- Man muss aber betonen, dass es, wenn wir über die zen will. Rente mit 67 sprechen, nicht um diejenigen geht, die in den Jahren 2010, 2011 oder 2012 in Rente gehen, son- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist im dern es geht um die Rente mit 66 ab dem Jahr 2024 und Sinne der Arbeitsplätze in unserem Land, die um die Rente mit 67 für meinen Jahrgang und später, wichtig sind für die Rente!) also ab 2031. Bis dahin ist durchaus noch Zeit. Ebenso ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Ich erwarte, dass in dem Bericht, den uns die Bun- Rente mit 67. desregierung Ende November vorlegen wird, nicht nur (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: die aktuellen Zahlen enthalten sind, Herr Fuchtel, son- 93 Prozent!) dern auch Prognosen bezüglich der Entwicklung des Ar- beitsmarktes für Ältere; denn das ist eine wichtige Ent- –Ja. scheidungsgrundlage. Außerdem erwarte ich von der Wir Grünen halten die Rente mit 67, um das klar zu Bundesregierung, dass sie in diesem Bericht ausführt, sagen, grundsätzlich für die richtige Perspektive. wie sie es erreichen will, dass die Menschen länger ar- beiten, wie sie bessere Möglichkeiten schaffen will, dass (Max Straubinger [CDU/CSU]: Aha!) die Menschen früher in Rente gehen können, wenn sie Ich erkläre gleich, warum. Wir dürfen aber nicht den nicht so lange arbeiten können, und wie die Bundes- Fehler machen, anzunehmen, die Ablehnung der Bevöl- regierung Armut im Alter verhindern will. Dazu gibt es kerung komme daher, dass die Menschen zu dumm bisher relativ wenige Vorschläge. 6664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Arbeit und Soziales nicht gekürzt, sondern mit einem be- (C) bei der SPD und der LINKEN – Anton Schaaf achtlichen Ansatz die Initiative „Neue Qualität der Ar- [SPD]: Gar nichts gibt es da!) beit“ mit vielen Unternehmen starten, die große Fort- schritte bei der Verbesserung der Beschäftigungssituation Wir Grüne wollen verhindern, dass die Rente mit 67 älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemacht eine Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Wir Grüne haben, dass wir aus diesem Programm neue Projekte in wollen für diejenigen, die nicht so lange arbeiten kön- den Bereichen Arbeitsschutz, Gesundheitsprävention und nen, Möglichkeiten schaffen, früher in Rente zu gehen. Arbeitsorganisation fördern, mit denen erkennbar mehr Last but not least, wir Grünen wollen den Menschen die getan werden kann als heute, damit ältere Menschen eine Angst vor der Altersarmut nehmen. Beschäftigungschance haben und tatsächlich länger ar- Die Voraussetzungen für die Rente mit 67 im Jahre beiten können, und dass viele der Unternehmen, die sich 2031 müssen jetzt geschaffen werden; denn die Arbeits- daran beteiligen – leider beteiligen sich nicht alle daran –, bedingungen von heute bestimmen, ob die Menschen in zum Beispiel bei Wettbewerben wie „Deutschlands beste der Zukunft tatsächlich länger arbeiten können. Arbeitgeber“ dafür ausgezeichnet worden sind, dass sie modellhaft etwas tun? Würden Sie also freundlicherweise Was tut die Bundesregierung dafür? Nichts. Wo bleibt zur Kenntnis nehmen, dass seitens der Bundesregierung denn die Weiterbildungsoffensive für die Älteren? Wo und aus dem Bundeshaushalt eine kräftige Förderung ent- bleibt das Erwachsenen-BAföG, damit sich auch Ältere sprechender Projekte erfolgt, die modellhaft zeigen, dass weiterbilden und ein Studium aufnehmen können? Wo man etwas tun kann, wenn man will? bleibt die Kampagne für eine Kultur der Altersarbeit? Wo sind denn die Arbeitsmarktmaßnahmen, die zuneh- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mend insbesondere auf die Älteren zugeschnitten sind? NEN]: Wir brauchen keine Modellprojekte, wir brauchen Strategien!) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die werden gerade gekürzt!) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ – Genau; Herr Kurth sagt gerade: Die werden im nächs- DIE GRÜNEN): ten Jahr gekürzt. Es ist schön, dass es da kleinere Modellprojekte gibt. Was unternimmt denn die Bundesregierung, damit die Die Aktion „50 plus“ hat ja auch bewirkt, dass die Er- Unternehmen mehr alters- und alternsgerechte Arbeits- werbsbeteiligung der über 55-Jährigen insgesamt ge- plätze schaffen? stiegen ist. Aber wir haben die Zahlen gehört: Bei den über 60-Jährigen, insbesondere bei den 64-Jährigen, ist (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Können Sie die Erwerbsquote immer noch sehr gering. Da muss also (B) sich vorstellen, das die Unternehmen ein Ei- noch deutlich mehr getan werden. Dazu habe ich von (D) geninteresse daran haben?) dieser Regierung – Sie haben ja vor allen Dingen von Damit die Menschen länger arbeiten können, ist es der Großen Koalition geredet – jetzt noch kein wirkli- aber nicht nur notwendig, dass die Arbeitsbedingungen ches Konzept gesehen. Da müssen wir in der Tat mehr der Älteren verbessert werden, sondern wir brauchen machen, insbesondere im Bereich Gesundheitspräven- insgesamt Arbeitsbedingungen – das hat Herr Kollege tion; denn das ist, glaube ich, ein ganz zentraler Baustein Juratovic schon gesagt –, die nicht krank machen. für die Rente mit 67 im Jahre 2030. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Schauen Sie einmal in die Programme und in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den Haushalt!) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des – Vielleicht noch etwas zum Haushalt. – Markus Kurth Kollegen Weiß? hat es gerade eingeworfen: Bei den Arbeitsmarktmaß- nahmen soll ja um 1,5 Milliarden Euro gekürzt werden. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Angesichts dessen werden die Arbeitsmarktmaßnahmen DIE GRÜNEN): für die Älteren sicherlich nicht ausgebaut werden. Das Gerne. war noch eine ergänzende Antwort auf die Frage von Herrn Weiß. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir brauchen insgesamt Arbeitsbedingungen, die nicht Bitte. krank machen. Wir brauchen gute Arbeit. Frau Fischbach, Sie haben ja neulich in der Debatte gefragt, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): was denn gute Arbeit ist. Gute Arbeit bedeutet, dass Men- Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben zu Recht schen von ihrer Arbeit nicht krank werden. Das liegt an die Frage gestellt: Was tut die Bundesregierung, was tun körperlichen Bedingungen; das liegt aber zunehmend wir insgesamt politisch dafür, dass ältere Menschen län- auch daran – auch das hat Herr Juratovic schon gesagt –, ger arbeiten können und dabei auch gesund bleiben? Des- dass die Menschen viel mehr unter Stress stehen. Wenn wegen möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass wir man sich die Zahlen anschaut, dann stellt man fest, dass mit dem Gesetz zur Anhebung der Regelaltersgrenze die Zahl der psychischen Erkrankungen aufgrund schlech- auch die Initiative „50 plus“ beschlossen und gestartet ha- ter Arbeitsbedingungen stark angestiegen ist. Auch da ben, dass wir im Haushalt des Bundesministeriums für müssen wir ansetzen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6665

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) Aber zu guter Arbeit gehört neben den gesundheitlich der Altersarmut aussieht. Ich fürchte aber, dass von Ihrer (C) positiven Arbeitsbedingungen auch eine vernünftige Be- Seite nicht viel kommen wird. zahlung, und dazu gehört auch eine Eindämmung von prekären Jobs. Wer ständig unter Existenzängsten leidet, Zusammenfassend will ich sagen: Wir Grünen neh- wird nicht bis 67 durchhalten können. men die Sorgen der Menschen sehr ernst und wollen die sozialen Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Im Gegensatz zur der Linken wollen wir sie nicht ab- und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja schaffen. Der Unterschied zwischen uns und den Linken Seifert [DIE LINKE]) ist, dass wir sagen: Wenn man die entsprechenden Maß- nahmen ergreift, dann bietet die Rente mit 67 tatsächlich „Angst essen Seele auf.“ Wir brauchen mehr Gesund- die richtige Perspektive, eine Perspektive für die Renten- heitsprävention. Wir brauchen einen Mindestlohn, und versicherung und für die Menschen. Diese Voraussetzun- wir brauchen endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit. gen müssen in der Tat aber erst geschaffen werden. Ich Auch hier geht die Bundesregierung genau in die entge- hoffe, dass wir bald wieder Gelegenheit haben, diese Vo- gengesetzte Richtung. raussetzungen zu schaffen und die Bekämpfung der Al- Ehe Sie gleich wieder aufstehen, Herr Weiß, lassen tersarmut in Angriff zu nehmen. Sie mich sagen: Ich weiß natürlich, dass es in bestimm- Herzlichen Dank. ten Branchen mittlerweile Mindestlöhne gibt. Aber Sie wehren sich ja immer noch gegen den gesetzlichen Min- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN destlohn für alle, und Sie wehren sich gegen gleichen sowie bei Abgeordneten der SPD – Lohn für gleiche Arbeit in der Leiharbeit. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich jetzt nicht verstanden!) Wir Grünen sind keine Traumtänzer. Es wird sicher- lich auch in 20 Jahren noch Menschen geben, die nicht bis 67 arbeiten können. Für diese Menschen müssen wir Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bessere Möglichkeiten schaffen, früher in Rente zu ge- Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Frank hen. Dass die Altersgrenze, ab der eine Erwerbsminde- Heinrich das Wort. rungsrente ohne Abschläge bezogen werden kann, von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 63 auf 65 Jahre steigen soll, ist vor diesem Hintergrund ein Skandal. Wir wollen das ändern. Frank Heinrich (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich möchte kurz auf meinen Vorredner ein- Die Menschen sollen die Möglichkeit erhalten, ihre (B) gehen: Ich bin sehr froh über den Duktus, der bei Ihrer (D) Arbeitszeit bereits ab einem Alter von 60 Jahren zu redu- Rede spürbar war. Ich habe auch noch eine kurze Bemer- zieren und Teilrente zu beziehen. Das höre ich zwar im- kung zu Ihrer Rede, Herr Juratovic. Sie sprachen davon, mer mal wieder von einzelnen Kolleginnen und Kolle- dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht berück- gen aus den Regierungsfraktionen. Ein Vorschlag, über sichtigt werde. Das ist auch eine Ihrer Erklärungen da- den wir diskutieren könnten, liegt bisher allerdings noch für, warum Sie sich von der Rente mit 67 verabschieden nicht vor. Genauso wenig liegt ein Konzept gegen Al- möchten. Sie werten die vorliegenden Anzeichen näm- tersarmut vor. Es gibt Ankündigungen; im nächsten Jahr lich anders als wir. Wir warten eben, bis der Bericht vor- soll eine Kommission eingesetzt werden, die sich mit der liegt. Und dieser Bericht kommt. Er wurde für dieses Altersarmut befasst. Wir wissen aber noch immer nicht, Jahr angekündigt. Wir werden ihn abwarten und keine was in dieser Kommission tatsächlich besprochen wer- Entscheidung treffen, bevor er nicht vorliegt. den soll. Wir wissen auch immer noch nicht, wer Mit- glied dieser Kommission werden soll. Angesichts der (Anton Schaaf [SPD]: Aber das Ergebnis ist Dinge, die zurzeit bei der Regelsatzerhöhung und der doch schon klar! Das Ergebnis hat die Ministe- Gesundheitsreform ablaufen, ist die Ankündigung, dass rin doch schon verkündet! Der Staatssekretär die Bundesregierung eine Kommission zur Altersarmut auch!) bilden will, für viele Betroffene eher eine Drohung als eine Hoffnung. – Warten Sie das Ergebnis ab, das Ende November vor- liegen wird. Dann können wir gerne über all das, was (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aller- noch umstritten ist, diskutieren. dings! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das liegt vor allem daran, dass in diesem Jahr zwei Der Bericht wird bis Ende des Jahres vorliegen. Ich große Reformen zu machen waren, weil Rot- werde die Zahlen und Zeichen, die wir sehen, jetzt nicht Grün verfassungswidrige Gesetze vorgelegt wiederholen. Ich denke, das verwirrt mehr, als dass es hat!) zur Klärung beiträgt. Ich möchte aber auf zwei Sachver- halte hinweisen: Sie haben gesagt, dass es eine Regie- Wenn bei dieser Kommission zur Bekämpfung der rungskommission geben wird, die zurzeit eingerichtet Altersarmut ähnliche Ergebnisse herauskommen, dann wird, und dass Sie mitgeteilt bekommen möchten, wer werden wir damit mit Sicherheit nicht einverstanden dieser Regierungskommission angehören wird. Im Übri- sein. Sie können aber vielleicht in weiteren Redebeiträ- gen ist im Sozialministerium ein Referat, das für Fragen gen für Klarheit darüber sorgen, was passieren soll und der Altersarmut zuständig ist, gebildet worden. Dieses wie das Konzept der Bundesregierung zur Bekämpfung Referat hat seine Arbeit im Juni aufgenommen. Ich 6666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Frank Heinrich (A) kenne es noch nicht. Deshalb kann ich darüber noch gleichen Schwierigkeiten, was die Alterspyramide an- (C) keine Aussagen treffen. geht. Wenn wir den Einstieg verschlafen und vom Ein- stieg in die Rente mit 67 abrücken, dann fehlt uns am Herr Kollege von den Linken, am Anfang Ihrer Rede Schluss die Zeit, dann fehlen uns die Jahre der Planung ging es sehr stark darum, was wir brauchen. Ich möchte und dann fehlt die Verlässlichkeit für die Betriebe. an das Thema nicht in der gleichen Art wie Sie herange- hen und nicht sagen: Wir brauchen alles. – Ich möchte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vielmehr grundsätzliche Bemerkungen machen, wie mein Vorredner. Ich möchte drei Kernaussagen dazu Die Menschen müssen sich auf das, was sie erwartet, treffen, was nach unserer Meinung notwendig ist. Ers- einstellen können, und die Firmen brauchen Planungssi- tens. Die Menschen brauchen eine finanzielle Absiche- cherheit. Es ist besser, wir fangen jetzt damit an, zumal rung. Das hat mit diesem Thema zu tun. Das hat auch wir die vorliegenden Zahlen für deutlich genug halten. mit den Ängsten zu tun, die Sie angesprochen haben. Ich nenne nur eine Zahl. 2009 waren 38,7 Prozent der Diese wollen wir ernst nehmen. Es geht dabei nicht nur Angehörigen der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen um materielle Dinge. Zweitens. Die Wirtschaft braucht erwerbstätig, damit fast doppelt so viele wie zehn Jahre Wissen, Erfahrung und Planungssicherheit. Drittens. Die zuvor. Diese Tendenz kann man nicht von der Hand wei- Rente braucht Zukunft und Tragfähigkeit. Dabei geht es sen. Die anderen Zahlen sind vorhin schon erwähnt wor- auch um die Ängste unserer Mitbürger. den. Zum ersten Punkt. Menschen brauchen eine finan- Es ist nicht legitim – hier gebe ich meinem Vorredner zielle Absicherung. Aber es geht in der Zukunft – je recht –, den Eindruck zu erwecken, als wäre schon länger sie leben, desto mehr – nicht nur um das Materi- nächstes Jahr längeres Arbeiten angesagt. Ich bin Jahr- elle, obwohl auch dieser Aspekt natürlich behandelt wer- gang 1964, gehöre also dem ersten Jahrgang an, der von den muss und wichtig ist. Stabile und ausreichende Ren- der Rente mit 67 betroffen sein wird. Das ist aber ganz ten in der Zukunft sind letztlich nur in Kombination mit am Ende. Darauf kann man sich einstellen. Bis wir in Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Familienförde- den Genuss dieser Regelung kommen, ist noch viel Fle- rung und Integration möglich. Das Gesamtkonzept muss xibilität möglich, und zwar nicht nur Flexibilität aufsei- stimmen. Die einzelnen Elemente müssen miteinander ten der Politik, die Sie einfordern, sondern auch in den verflochten sein. Dabei geht es zum Beispiel um die Unternehmen und der Wirtschaft, übrigens auch aus Ei- Pflege, um die Gesundheitsreform und die Teilhabe älte- geninteresse, wie vorhin in einem Zwischenruf ange- rer Menschen; Herr Kolb hat das vorhin schon gesagt. merkt wurde. Es ist nötig, wahrzunehmen und zu respektieren, dass Zudem entwickelt sich in der Bevölkerung und in den (B) es auch im Alter um Lust am Leben geht, nicht nur um ein Betrieben ein Bewusstsein für dieses Thema. Unter- (D) „Ausdimmen“. Es geht um Lebensqualität und Ausbil- schätzen Sie nicht unsere Mitbürger! Auch sie beziehen dungschancen. Selbst Angehörige der Altersgruppe, über die Rente mit 67 schon in ihre Überlegungen mit ein. die wir reden, die 55- bis 65-Jährigen, können noch eine Gestern Abend habe ich mit einem 25-Jährigen telefo- Ausbildung beginnen. Lebenslanges Lernen bekommt niert, der, wie ich glaube, heute hier im Publikum sitzt. somit eine ganz neue Dimension. Ich stellte ihm die Frage: Was hältst du von der Rente (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ mit 67? Die relativ spontane Antwort war: Wenn Beruf DIE GRÜNEN]: Dafür muss man aber auch für mich Berufung ist, dann mag ich auch mit 67 noch etwas tun! – Elke Ferner [SPD]: Das lebens- nicht aufhören. lange Lernen täte einigen in Ihrer Fraktion gut! – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das tut Auch dies ist ein Indiz dafür, dass eigentlich gewünscht uns allen gut! – Anton Schaaf [SPD]: Dazu ist, sich zu beteiligen. muss man aber auch die Bereitschaft haben!) (Anton Schaaf [SPD]: Ist ja toll! Das muss Ein weiterer Aspekt ist der Zugang zu Selbstentfal- aber doch niemand! Das muss ich schon heute tungs- und Freizeitmöglichkeiten. Menschenwürde hat nicht!) auch damit zu tun, gebraucht zu werden, und zwar nicht – Wie bitte? nur, weil wir das politisch wollen und es generationenbe- dingt bzw. von den Zahlen her notwendig ist. Vielmehr (Anton Schaaf [SPD]: Aber das muss doch nie- geht es darum, in die Gesellschaft einbezogen und betei- mand! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: ligt zu sein. Das betrifft die Teilhabe sowohl im Ehren- Genau! Das muss niemand!) amt als auch in sozialversicherungspflichtiger Beschäfti- – Es muss niemand; aber es ist möglich. Deshalb muss gung. dieser Bereich flexibler geregelt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweitens. Die Wirtschaft braucht Wissen, Erfahrun- Lebenslanges Lernen muss durchbuchstabiert wer- gen und Planungssicherheit. Die Antwort auf den Fach- den, in der Wirtschaft und im einzelnen Unternehmen. kräftemangel muss neben erhöhten Anstrengungen im Diesem Begriff wollen wir neues Leben einhauchen. Bildungsbereich und einer attraktiven Integrationspolitik Diesen Prozess muss die Politik natürlich begleiten. auch lauten, dass Fachkräfte länger beschäftigbar sein Quer durch Europa gibt es, mit wenigen Ausnahmen, die müssen, unter anderem durch die Rente mit 67. Es gibt Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6667

Frank Heinrich (A) allerdings auch andere Mittel und Wege in unserem setzlichen Rentenversicherungen nachhaltig sicherzu- (C) Land, die noch nicht in dem Maße ausgeschöpft werden, stellen. Ich betone noch einmal das vorhin so oft ge- zum Beispiel das betriebliche Eingliederungsmanage- nannte Wort „Solidarität“. ment. Es ist nutzbar und erfolgreich, wenn Mitarbeiter, etwa nach einer Krankheit oder einem Arbeitsunfall, Wissenschaft und EU loben Deutschland dafür, dass wieder eingegliedert werden müssen. wir diesen Schritt gehen. Sie gehen in ihren Aufforde- rungen – ich denke da an das EU-Parlament – zum Teil Viele Unternehmen nutzen und schätzen schon heute sogar noch weit über dieses Alter hinaus. Ich denke, wir das Wissen und die Fähigkeiten der Altersgruppe, über sind da auf einem guten Weg. die wir heute reden und bei der bezweifelt wird, dass sie einfach übernommen werden kann. Vorletzte Woche Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. wurde mir von Unternehmern in meinem Wahlkreis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Chemnitz gesagt: Ich stelle fast nur Leute ein, die älter als 45, 50 Jahre sind. – Ich habe sie gefragt: Warum? Die Antwort lautete: weil sie fachlich fit und erfahren sind, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: oft eine Familie haben, ortsgebunden sind und wir uns Nächster Redner ist der Kollege Anton Schaaf für die darauf verlassen können, dass sie uns nicht irgendwann SPD-Fraktion. wegbrechen. (Beifall bei der SPD) Verschiedene Schätzungen – sie sind unterschiedlich hoch, aber hoch sind sie alle – besagen, dass in den Anton Schaaf (SPD): nächsten Jahren in diesem unseren Land sehr viele Ar- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe beitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Sie wer- Kolleginnen und Kollegen! Hier ist jetzt wiederholt der den fehlen, und wir müssen sie ersetzen. Vorwurf gemacht worden, die SPD-Bundestagsfraktion Dritter Punkt. Die Rente braucht Zukunft und Verläss- würde sich von den Sozialreformen der letzten Jahre ver- lichkeit. Der Anlass dieser ganzen Diskussion – dies abschieden. wissen wir alle – ist leider das Zauberwort „Demogra- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja nicht fie“. Der demografische Wandel macht die Rente mit 67 aus der Luft gegriffen!) nahezu zur Bedingung. Ich will jetzt einmal die gestrige Debatte um die Regel- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es wird sätze nach dem SGB II betrachten: Es war die Union, die nicht besser, wenn man es öfter sagt!) mit fast allen Rednern, die hier gesprochen haben, ver- (B) Herr Weiß hat das am Anfang gesagt. Dabei geht es na- sucht hat, sich aus der Verantwortung für das SGB II zu (D) türlich um die Finanzierbarkeit. Die Fakten verändern stehlen. Bis auf Karl Schiewerling haben alle versucht, sich manchmal schneller, als sich das Bewusstsein ver- die Verantwortung für das, was im SGB II steht, aus- ändert. Deshalb brauchen wir intelligente und machbare schließlich bei Rot-Grün abzuladen. Lösungen sowie Flexibilität. Darauf wollen auch wir als Politiker reagieren, auch in meiner Fraktion. Unterneh- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt mer machen das. Sie heißen nicht umsonst so. Sie wis- doch nicht!) sen sich zu helfen. Sie unternehmen etwas – ich erlebe – Das haben Sie getan. – So viel zum Thema Redlich- das, wenn ich meine Runde bei den Chefs und Ge- keit. Das muss man hier einmal sagen. Uns diesen Vor- schäftsführern mache –, und zwar nicht nur um ihrer wurf zu machen, ist schlicht unredlich. selbst willen, wie das manchmal unterstellt wird, son- dern auch in Verantwortung für ihre Mitarbeiter, deren Ich sage Ihnen noch etwas: Wir haben gestern in Zwi- Familien und das Gemeinwesen. Wie oft habe ich ge- schenfragen deutlich gemacht, wie das mit Redlichkeit hört: Probleme? Die sind zum Lösen da. – In solchen und Transparenz ist. Sie, meine Damen und Herren, wa- Momenten bin ich stolz, in diesem Land zu leben, in ren es, die uns die realen Grunddaten, die Zahlen, die dem immer noch mitgedacht und mitgemacht wird. Rohdaten und die Alternativberechnungen zum SGB II bzw. zum Regelsatz im Ausschuss per Mehrheit verwei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gert haben. Sie haben das gemacht, nicht die Sozialde- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- mokraten, nicht die Linken und auch nicht die Grünen NIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber auch die Regie- im Deutschen Bundestag. Das muss man hier zum rung muss einmal Probleme lösen!) Thema Redlichkeit einmal sagen. Ich komme mit zwei kleinen Zusammenfassungen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zum Ende. Natürlich gibt es verschiedene Wege, darauf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf zu reagieren. Wir lehnen ab, dass wir die Beitragssätze der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/CSU]) erhöhen; das haben wir hiermit ausgedrückt. Es geht um eine längere Einzahldauer; das ist uns wichtig. Es geht – Frau Fischbach, ich sage Ihnen Folgendes: Solange wir um mehr Beitragszahler, vielleicht auch durch Integra- den Eindruck haben, dass sich Sozialpolitik bei der Ko- tion und eine bessere und schnellere Schulung, auch alition zwischen der einen Leitplanke, die „vermeintli- durch die Rente mit 67. Sie trägt dazu bei, in einem aus- che römische Dekadenz“ heißt, und der anderen Leit- gewogenen Verhältnis zwischen den Generationen die planke, die da lautet: „schon eingestelltes Geld im finanzielle Grundlage und die Leistungsfähigkeit der ge- Haushalt“, bewegt, können Sie nicht mit der Zustim- 6668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Anton Schaaf (A) mung aus den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion Anton Schaaf (SPD): (C) rechnen. Ja, selbstverständlich. Wenn der rentenpolitische Sprecher der linken Fraktion, der ja Ahnung vom Thema (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat, Redezeit nur darüber generieren kann, dass er sich DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: hier zu einer Zwischenfrage meldet, dann lasse ich das Das wollen wir nicht!) selbstverständlich gerne zu. Nun aber zum Thema, das heute auf der Tagesord- (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) nung steht. Der Kollege Ernst ist noch hier. Herr Kollege Ernst, es ist noch nicht ausgemacht, ob der Kuchen, der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zu verteilen ist, in 20 oder 30 Jahren gleich groß, größer Herr Birkwald, bitte sehr. oder kleiner ist. Man muss schlichtweg mit allen diesen Möglichkeiten rechnen. Sie können das Wirtschafts- wachstum und die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): für die nächsten 20 bis 30 Jahre nicht vorhersagen. Das Vielen Dank für die Blumen, Herr Kollege Schaaf. – geht nicht. Da müssten wir alle etwas schlauer sein, als Sie haben ja eben davon gesprochen, dass man nur be- wir es sind. Dafür müssten wir übersinnliche Kräfte ha- dingt in die Zukunft schauen kann, und Sie haben das ben. Aber eines ist auf jeden Fall absehbar, nämlich dass auch auf das Wirtschaftswachstum bezogen. Ich bitte Sie wir immer weniger und immer älter werden. jetzt um Aufklärung. Zum Ersten. In der Öffentlichkeit ist ja der Eindruck (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) entstanden, dass sich die SPD beim Thema „Rente erst Dazu gibt es Zahlen. Darüber brauchen wir nicht zu dis- ab 67“ bewegt habe. Am 18. August 2010 wurde gemel- kutieren. Mit diesem Fakt müssen wir umgehen. det, dass es zwischen Parteichef Gabriel und Fraktions- chef Steinmeier, dem ich von hier aus noch einmal gute Es gibt unterschiedliche Antworten. Ich gebe Ihnen Besserung wünsche, durchaus recht, dass es andere Antworten geben könnte (Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie als die reine Erhöhung des Renteneintrittsalters – aller- bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und dings nur, wenn es um die Frage der Finanzierbarkeit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geht. Die Finanzierbarkeit der Rente kann anders als nur über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters sicherge- einen Kompromiss dergestalt gegeben haben soll, dass stellt werden. Darin gebe ich Ihnen allemal recht, zumal die Rente ab 67 erst dann eingeführt werden soll, wenn das, was wir bei den Beitragssätzen sparen, marginal ist. die Quote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (B) im Alter zwischen 60 und 64 bei 50 Prozent liegt. (D) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!) Nun ist von der Arbeitnehmerkammer Bremen ausge- Aber wie sieht es mit der Leistungsfähigkeit der Ge- rechnet worden, dass, wenn man die Entwicklung vom sellschaft aus? Wie halte ich diese Gesellschaft, die Jahr 2000 bis heute fortschreibt, dies genau im Jahr 2030 schrumpft und älter wird, leistungsfähig, damit all das, der Fall sein wird, Sie also dann damit anfangen könn- was wir verteilen, tatsächlich auch erwirtschaftet werden ten, das Renteneintrittsalter anzuheben, während es bei kann? Dass es dann verteilt wird, geschieht übrigens der jetzigen Regelung dann schon erreicht worden wäre. auch zu Recht, weil es erwirtschaftet worden ist. – Diese Frage müssen Sie alternativ beantworten. Wenn die Ant- Ich bitte Sie, dazu etwas zu sagen. wort nicht ein höheres Renteneintrittsalter ist, dann brau- Zum Zweiten. Wie soll es funktionieren, dass gleich- chen wir alternative Antworten auf die Frage, wie wir zeitig dem Wunsch des Fraktionschefs nachgegeben mit der Demografie in den nächsten 10, 20 und 30 Jah- wird, wonach das Endziel, 2029, bestehen bleibt? Das ist ren umgehen. ein Widerspruch. Ich bitte Sie, den aufzuklären. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr richtig!) Weil Sie eben von der Zukunft gesprochen haben: Ha- ben Sie eine andere Zielmarke als 2029, und, wenn ja, Hierauf vermisse ich allerdings jede Antwort. welche Projektionen legen Sie dieser zugrunde? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Fehlanzeige bei denen!) Anton Schaaf (SPD): Ich danke Ihnen außerordentlich, weil ich jetzt die Deswegen werden wir Ihrem Antrag in der vorliegen- Zeit nutzen kann, um auf unser Konzept und unsere Be- den Form mit Sicherheit nicht zustimmen, auch wenn er schlüsse einzugehen und anschließend das zu sagen, was einiges Richtige beinhaltet. ich sonst noch zu sagen habe. Also: Wir haben nicht nur die Quote miteinander be- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sprochen, und Grundlage unserer Diskussion war auch Herr Birkwald möchte Ihnen noch eine Zwischen- nicht nur die Quote, sondern es ging auch um die Frage: frage stellen. Wie gehen wir mit dem Thema Erwerbsminderung um? Was machen wir mit denjenigen, die nach langjähriger (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Redezeit- Arbeit nicht mehr arbeiten können? Wie gehen wir mit verlängerung!) flexiblen Übergängen um, also zum Beispiel mit der Al- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6669

Anton Schaaf (A) tersteilzeit und der Teilrente? Für uns geht es um eine mehr Abschläge hinnehmen zu müssen, und zwar unver- (C) Gesamtstrategie und nicht nur um einen Punkt, wie die schuldet. Wir Sozialdemokraten sagen: Da wollen wir Quote. nicht mitmachen; so war es nie gedacht. Deswegen ha- ben wir gegen den massiven Widerstand der Union in Zur Quote. Wären wir in Verantwortung, was wir Verhandlungen dafür gesorgt, dass die Überprüfungs- nicht sind, klausel ins Gesetz geschrieben wird. Sie besagt eindeu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was Sie aber bis tig, was zu geschehen hat. vor einem Jahr waren!) Die Begründungen der Union zu diesem Thema sind dann würden wir an dem Thema Erwerbsminderungs- abenteuerlich. Es steht ja im Gesetz, dass im Jahr 2010 rente massiv arbeiten. Wir brauchen einen besseren Zu- die Regierung verpflichtet ist, die arbeitsmarkt- und so- gang, insbesondere für Menschen, die aufgrund ihrer Ar- zialpolitische Situation der älteren Arbeitnehmerinnen beit psychisch krank sind, und wir brauchen eine bessere und Arbeitnehmer zu überprüfen, und empfehlen muss, Ausstattung der Erwerbsminderungsrente. Dadurch würde ob vor diesem Hintergrund die Einführung der Rente mit die Zahl derer, die tatsächlich bis 67 arbeiten müssen, 67 ab 2012 geboten ist. natürlich verringert, weil die Menschen einfacher aus (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!) dem Arbeitsleben ausscheiden könnten, wenn sie „ka- putt“ sind. Selbstverständlich würden wir auch versu- Die Arbeitsministerin hat ja offensichtlich die Auswer- chen, bessere Möglichkeiten für flexible Übergänge zu tung dieser Überprüfung nicht vorliegen, und auch der schaffen. Staatssekretär Brauksiepe hat sie nicht – zumindest (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber Sie haben doch wurde das heute gesagt –, und trotzdem haben beide ge- bis vor einem Jahr elf Jahre lang regiert!) sagt: Ab 2012 kommt die Rente mit 67 auf jeden Fall. – Das ist Pharisäertum. Das ist rücksichtslos. Das hat mit Leider war es uns im Rahmen der Großen Koalition Kenntnisnahme der Realität in dieser Republik nichts zu nicht möglich, beispielsweise die Förderung der Alters- tun. teilzeit beizubehalten. Dadurch würde die Quote derer, die regulär in den Altersruhestand gehen, auch wieder (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem abgesenkt werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Von daher ist die Quote zwar eine ordentliche Ziel- Meine Damen und Herren von der Union, wir nehmen marke, aber sie ist nicht ausschließlich das, was unser das gemeinsam beschlossene Gesetz in Gänze ernst, Konzept ausmacht. Vielmehr muss man es in Gänze be- nicht nur die Teile, die die Arbeitnehmerinnen und Ar- (B) achten. – Ich danke Ihnen. beitnehmer belasten, sondern auch die Überprüfungs- (D) klausel, die wir ins Gesetz hinein verhandelt haben. (Beifall bei der SPD) Der Kollege Weiß hat etwas zum Thema Fachkräfte- Ich komme noch einmal zu der Aussage: Ihr habt es ja mangel gesagt. Die Frage der Solidarität wurde breit an- mitbeschlossen. – Ja, das stimmt; das ist schon richtig. gesprochen. Lieber Peter Weiß, das mit der Solidarität ist (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vorangetrieben!) so eine Sache. Gefordert war Solidarität von denen, die in Rente gehen; da hieß es: Sie gehen halt ein bisschen Wir haben vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte später. Wir erinnern uns an das Rentennachhaltigkeitsge- gesagt: Es gibt im Moment keine Alternative dazu. – setz aus dem Jahre 2003. Da wurde gesagt: Sie werden Herr Strengmann-Kuhn, ich bin hier sofort wieder bei auch für weniger – man könnte an der Stelle sagen: dop- Ihnen, dass die Frage nach einem höheren Rentenein- pelt solidarisch – gehen. Es wurde ferner gefordert: Ar- trittsalter irgendwann mit Sicherheit beantwortet wer- beitnehmer müssen solidarisch sein. – In der Tat: Die den muss. Beiträge werden etwas steigen, bis maximal 22 Prozent; denn wir haben das sogenannte Beitragsdogma einge- Man könnte das jetzt tun, aber es hätte doch folgen- führt, das besagt: Die Beiträge dürfen nicht über den Nachteil, wenn wir das jetzt täten: Die Beschäfti- 22 Prozent steigen. – Es wird also Solidarität eingefor- gungsquote der 60- bis 64-Jährigen liegt zurzeit bei dert. 21,5 Prozent, und in den letzten zehn Jahren hat sich diese Quote in der Tat verdoppelt. Es stimmt, wenn man sagt, dass sich unsere Gesell- schaft verändert und wir daher eine breitere Solidarität (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Welche Zahlen brauchen. Aber wenn es darum geht, die sozialen Siche- haben Sie sich denn vorgestellt?) rungssysteme solidarisch und paritätisch zu finanzieren, Wenn man diese Entwicklung über die nächsten zwei verabschiedet sich die Union aus der Solidarität und Jahre fortschreibt, dann sieht man, dass dann vielleicht friert die Arbeitgeberbeiträge ein. So viel zum Thema 25 Prozent der 60- bis 64-Jährigen beschäftigt sein wer- Solidarität. Sie überlassen die Lasten allein den Arbeit- den. Viel mehr werden es aber nicht sein. nehmerinnen, Arbeitnehmern und Rentnern. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Weil noch die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer hat sie denn Altersteilzeit kommt!) aufgegeben?) Für diejenigen, die das reguläre Renteneintrittsalter nicht Im Bereich der Gesundheitspolitik ist das ganz klar ge- erreichen, bedeutet das, ab 2012 dauerhaft 0,3 Prozent schehen. 6670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Anton Schaaf (A) Zu den Themen „Qualität der Arbeit“, „Voraussetzun- bedeutet das konkret für die Bürgerinnen und Bürger? (C) gen schaffen“, „gute Arbeit“ gibt es von dieser Bundes- Das hieße: Alle Ersparnisse aus den Sparverträgen und regierung null Ansage. Sie ergreifen keine Initiative. Es Versicherungen, die der privaten Vorsorge dienen, müss- passiert überhaupt nichts. Wir hatten auch eine Debatte ten den Bürgern entzogen werden. Das sind unter ande- zum Thema „prekäre Beschäftigung“. Viele Menschen rem private Renten- und Lebensversicherungen, das sind in diesem Lande, die deswegen nie über ein ausreichen- Riester-Sparverträge, das sind Rürup-Renten, und es des Renteneinkommen verfügen werden, arbeiten für 5, sind unzählige private Betriebsrenten, über die wir re- 6 oder 7 Euro die Stunde, und zwar den ganzen Tag. Wir den. Das, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Ihnen gesagt: Passen Sie auf, was passiert, wenn lange Jahre angespart haben, wird ihnen entzogen. Wir ab dem nächsten Jahr die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt. reden nicht über Millionäre und Spitzenverdiener, son- Viele Menschen aus Osteuropa werden kommen und das dern wir reden überwiegend über Kleinsparer. Das ist derzeitige Lohnniveau noch unterbieten. In dieser Hin- genau die Gruppe, auf die Sie abzielen. Dem werden wir sicht tun Sie nichts, um Ordnung auf dem Arbeitsmarkt uns entgegenstellen. zu schaffen, um dafür zu sorgen, dass die Menschen ein sicheres Einkommen und damit eine gesicherte Rente (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben. der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ihr wollt die kleinen Leute schützen! Ich sagen Ihnen etwas – das ist mittlerweile, auch Das glauben euch auch alle!) nach dieser Debatte, meine feste Überzeugung –: Sie sind der Meinung – zumindest Teile von Ihnen, auf jeden Im Mai dieses Jahres hat Ihre Genossin Lötzsch das Fall die Arbeitsministerin –, dass derjenige, der ein leis- unsägliche Zitat gebracht, dass es auf dem Finanzmarkt tungsloses Einkommen bezieht, kein Bier trinken und „ im Nadelstreifen“ geben würde, weil Finanz- auch keine Zigaretten rauchen soll. Zumindest muss man manager sehr streitbare Vorgänge vollzogen haben. Jetzt das nicht berechnen. Rentenpolitisch gesehen sind Sie betätigen Sie sich selbst durch das Ansinnen, das ich ge- völlig leistungslos. Die Ministerin sollte sich von daher rade geschildert habe, als Finanzspekulanten; denn Sie überlegen, Ihnen teuren Wein und die Zigarren zu ver- wollen die private Altersvorsorge der Menschen hinter- bieten. treiben, und Sie offenbaren erneut ein erschreckendes Verständnis vom Verhältnis zwischen Staat und Bürger. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das werden wir von der FDP-Fraktion nicht mittragen. DIE GRÜNEN – Ingrid Fischbach [CDU/ Dagegen werden wir uns energisch stellen. CSU]: Das war jetzt aber ganz schwach! Toni, du warst schon mal stärker!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) (D) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich möchte zusammenfassen, was Sie gefordert ha- Das Wort hat nun der Kollege Sebastian Blumenthal ben. Die privaten Rentenersparnisse werden also erst von der FDP-Fraktion. von den Linken zwangsaufgelöst und anschließend ver- staatlicht. So steht es in Ihrem Programm. Schauen Sie (Beifall bei der FDP) bitte nach, Herr Birkwald.

Sebastian Blumenthal (FDP): (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Nach kenne das Programm!) dem Versuch der Vergangenheitsbewältigung der SPD, Das heißt, jede Form der staatlich geförderten priva- den wir eben erlebt haben, komme ich zu dem konkreten ten Vorsorge wollen Sie auflösen und damit wollen Sie Antrag zurück, den uns die Linke vorgelegt hat. Die bei den Menschen abkassieren. Nicht nur auf den Fi- Linke fordert – ich zitiere – „eine Umorientierung in der nanzmärkten, sondern auch auf den Immobilienmärkten Finanzierung der gesetzlichen Rente sowie den Umbau würden Sie als Spekulanten aktiv werden. Viele Men- der gesetzlichen Rentenversicherung“. Zur Frage, wie schen haben nämlich im Rahmen der privaten Altersvor- dieser Umbau konkret aussehen soll, bleibt der Antrag sorge zum Beispiel in Eigenheime investiert. Wenn es zunächst sehr vage und wenig konkret. Der vorliegende nach Ihnen ginge, müssten auch diese Immobilien ver- Antrag ist Teil eines Rentenkonzepts, das im aktuellen kauft werden. Das wäre die Konsequenz der Verstaatli- Wahlprogramm der Linken sehr genau beschrieben wird. chung der privaten Altersvorsorge. Nun will ich nicht behaupten, dass sich der Blick ins (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Jetzt Wahlprogramm der Linken grundsätzlich lohnt, aber in fängt es an, Kabarett zu werden, Herr Kol- diesem Fall ist er durchaus hilfreich. lege!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: – Wo wir gerade beim Kabarett sind – das ist ein gutes Immer!) Stichwort, Herr Birkwald –: Das erklärt vielleicht auch, – Herr Birkwald, genau so ist das. warum Teile Ihres Spitzenpersonals Immobilien in Ös- terreich haben. Da zeigt sich die Konsequenz in Ihrem Sie fordern in Ihrem Wahlprogramm, die staatliche Handeln. Unterstützung der privaten Vorsorge einzustellen und die privat erworbenen Ansprüche und die staatlichen För- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dermittel in die gesetzliche Rente zu überführen. Was der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6671

Sebastian Blumenthal (A) Ich gehe davon aus, dass Sie das nicht einfach so in Ich halte das allerdings für falsch, weil damit Arbeit zu- (C) das Wahlprogramm geschrieben haben, sondern es ernst sätzlich belastet wird, und das ist etwas, was wir augen- damit meinen. Herr Kollege Ernst, es geht hier nicht um blicklich überhaupt nicht gebrauchen können. Kuchenklau, wie Sie es dargestellt haben, sondern es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – geht um Rentenklau. Das ist die logische Konsequenz Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 7 Euro aus Ihrem Gedankengang. für Durchschnittsverdienende!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dann wollen Sie die Arbeitslosigkeit durch die der CDU/CSU) Schaffung sozialversicherungspflichtiger Beschäfti- Als Fazit möchte ich festhalten: Der Antrag ist fach- gungsverhältnisse bekämpfen. Ich nehme einmal an, lich völlig unausgegoren, er ist sozial unausgewogen, dass Sie hier nicht die 500 000 öffentlich geförderten zu- und Sie bestrafen die private Initiative der Bürger, die sätzlichen Stellen meinten, die Sie neulich in einem An- für ihr Alter vorsorgen. Der Antrag ist überflüssig und trag gefordert haben, verzichtbar. Das sind Gründe genug, ihn abzulehnen. (Dr. [DIE LINKE]: Das kommt Das werden wir tun. dazu!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sondern Arbeitsplätze, die in der Wirtschaft entstehen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr wahr!) der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zum Karneval lade ich Sie nach – Einverstanden. Köln ein! – Gegenruf des Abg. Sebastian (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mit einem Blumenthal [FDP]: Ich komme gern! Sie trin- Infrastrukturprogramm! 2 Millionen!) ken gern Kölsch, ich weiß!) Das wollen wir auch. Aber dann dürfen Sie doch nicht die Arbeit durch einen höheren Rentenbeitrag teurer ma- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chen. Das passt nicht zusammen. Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sagen Sie! Das ist Ihre Theorie!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Übrigen: Dort, wo Sie in der politischen Verant- wortung stehen – das habe ich einmal nachgeschaut –, Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): können Sie doch beweisen, wie man neue Arbeitsplätze (B) (D) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe schafft. Die Zahlen, die gestern herausgekommen sind, den Eindruck, dass neben der spannenden Debatte über belegen: Berlin hat die höchste Arbeitslosigkeit im Bun- die Frage der Rentensicherung heute hier noch ein ande- desgebiet. Wie wollen Sie dann die Arbeitslosigkeit res Thema ganz spannend ist, nämlich die Frage: Wo durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze bekämpfen? steht die SPD? (Zuruf von der CDU/CSU: Indem die den (Anton Schaaf [SPD]: Nicht nur heute! Das ist Wirtschaftssenator stellen!) immer spannend!) Das passt, glaube ich, nicht zusammen. Ich habe nach den beiden Debattenbeiträgen, die ich hier (Beifall bei der CDU/CSU) gehört habe, den Eindruck, dass die SPD in der Frage der Rente mit 67 auf der Suche nach einem Notausgang Dann schlagen Sie vor, die Deckelung des Beitrags- für Helden ist. Ich bin mir sicher: Den werden Sie eines satzes aufzuheben. Dadurch würden höhere Anwart- Tages finden. Sie haben sich auch bei anderen Themen schaften entstehen; aber die wollen Sie dann deckeln. aus der Verantwortung gestohlen, nachdem Sie keine Ich halte schon eine Aufhebung der Beitragsbemes- Regierungsverantwortung mehr hatten. sungsgrenze aus verfassungsrechtlichen Gründen für problematisch; aber das Äquivalenzprinzip aufzuge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben, bedeutet, dass der Charakter der Rentenversiche- Schauen wir uns einmal genauer an, was in dem An- rung ein völlig anderer wird. Auch das wirft erhebliche trag der Linken steht. Ich will auf einige Forderungen verfassungsrechtliche Fragen auf. genauer eingehen. Natürlich taucht wie das Teufelchen in der Box auch Sie wollen den Ausstieg aus der Rente mit 67 durch wieder das Thema Mindestlohn auf. Nun stellen Sie den einen höheren Beitragssatz von 0,5 Prozentpunkten ge- Mindestlohn in einen Zusammenhang mit den Einnah- genfinanzieren. Das kann man machen. Wir haben im men der Rentenversicherung. Ich bin mir allerdings Wesentlichen drei Stellschrauben, um mit dem demogra- nicht sicher, ob hier nicht ein Irrtum vorliegt. Ich fürchte fischen Problem der Rentenversicherung umzugehen: eher, dass mit der Einführung des Mindestlohnes Ar- die Kürzung der Renten, die Verlängerung der Arbeits- beitsplätze verloren gingen. Sie werden vermutlich sa- zeiten oder die Erhöhung des Rentenbeitrags. gen, dass das Arbeitsplätze sind, die nicht Ihrer Vorstel- lung von guter Arbeit entsprechen. Das mag sein. Aber (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Oder Erhö- wenn diese Arbeitsplätze dann wegfallen, hat das natür- hung des Bundeszuschusses!) lich auch Auswirkungen auf die Renteneinzahlungen. 6672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Matthias Zimmer (A) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In ganz Europa Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) geht es! Nur hier soll es nicht gehen!) Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf zulassen? Einige Probleme mit der Rente mit 67, die hier zum Teil schon zur Sprache gekommen sind, möchte ich aus unserer Sicht einmal ansprechen. Es ist richtig, dass es Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): gerade in körperlich anstrengenden Berufen ausge- Aber natürlich. sprochen schwierig ist, bis zum 67. Lebensjahr zu arbei- ten. Ein Maurer arbeitet nicht bis 67; aber, wie es Franz Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Müntefering von diesem Pult einmal formuliert hat: Der Bitte schön. steht auch nicht mehr mit 64 auf dem Gerüst. – Ich denke, dass hier die Arbeitgeber und die Gewerkschaf- Anton Schaaf (SPD): ten gefordert sind, gerade in solchen Berufen frühzeitig Herr Kollege, Sie haben eben gesagt, dass wir uns Weiterbildungsangebote oder Schulungen, die einen an- mehr anstrengen müssen, damit Ältere länger beschäftigt deren Arbeitseinsatz erlauben, anzubieten. werden und in Arbeit bleiben können. Man solle nicht (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Können Sie dafür eintreten, die Rente mit 67 zu verhindern bzw. zu sich das bei einem Maurer vorstellen?) verschieben, sondern man solle quasi in Kauf nehmen, dass es so ist. Ich gebe Ihnen recht: Wir müssen uns Das betrifft neben der Baubranche die Forst- und Land- mehr anstrengen, damit ältere Arbeitnehmerinnen und wirtschaft, aber auch den Einzelhandel und die Pflege. Arbeitnehmer in Arbeit bleiben oder in Arbeit kommen. Bis dahin sind wir d’accord. Es ist richtig, dafür Sorge zu tragen, dass immer mehr ältere Arbeitnehmer auch tatsächlich in Arbeit sind. Das Würden Sie mir zugestehen, dass Menschen vor dem ist so in 2007 verabredet worden. Wenn wir aber feststel- Hintergrund der realen Zahlen – sie liegen vor, und sie len, dass noch zu wenig ältere Arbeitnehmer in Arbeit werden sich in den nächsten zwei Jahren nur unwesent- sind, dann heißt das doch nicht, dass wir aus der Rente lich verbessern – dauerhaft höhere Abschläge als heute mit 67 aussteigen müssen, sondern nur, dass wir uns hinnehmen müssen, weil sie vorzeitig in den Ruhestand mehr anstrengen müssen, gehen müssen und somit gezwungen werden, Leistungen nach dem SGB II zu beziehen? Nehmen wir das in (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Strengen Sie Kauf? Das war die Frage. Wenn Sie sagen: „Wir müssen sich erst mal an! Dann sehen wir weiter!) mehr tun am Arbeitsmarkt“, dann gebe ich Ihnen völlig recht, auch wenn Ihre Aussage mit den Absenkungen der (B) diesen Anteil den Arbeitnehmer zu steigern. Wir tun das Mittel für den Eingliederungstitel nicht korrespondiert. (D) mit der Perspektive „50plus“, die schon gute Erfolge aufweisen kann; der Kollege Strengmann-Kuhn hat das Ich möchte noch gerne ein Versäumnis nachholen. eben bestätigt. Gestern hat nicht nur ein CDU-Kollege Verantwortung für die Reform des SGB II übernommen, sondern auch Wir müssen weg von einem Jugendlichkeitswahn in der Kollege Lehrieder; das will ich hier ausdrücklich sa- der Arbeitswelt, der manchmal seltsame Blüten getrie- gen. Alle anderen Rednerinnen und Redner der Union ben hat. Jung soll der Arbeitnehmer sein, keine 30, mit haben diese Verantwortung aber leider nicht übernom- zehn Jahren Berufserfahrung – im Ausland studiert, mit men. Doktorhut, zeitlich und örtlich unbegrenzt flexibel. Nein, ich glaube, wir müssen einen Bewusstseinswandel Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): befördern. Wir müssen den Erfahrungsschatz hervorhe- Herr Kollege Schaaf, es tut immer gut, wenn von Ih- ben, die Beständigkeit und Gelassenheit, die vielleicht rer Seite die Kollegen der CDU gelobt werden. Ich erst mit zunehmendem Alter kommen. wünschte mir eigentlich, dass Sie sehr viel stärker, als es bisher der Fall gewesen ist, bei dem, was in 2007 verab- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und redet worden ist, bleiben. Ich wünschte mir von Ihnen ei- der FDP) gentlich ein deutliches „Wir stehen nach wie vor zu der Vielleicht müssen wir den Betrieben auch Mittel an die Rente mit 67“. Ich glaube, das wäre etwas, was zur be- Hand geben, ihre Mitarbeiter zu halten, etwa durch einen grifflichen Klarheit und zur Klarheit in der Diskussion in deutlichen Ausbau der Mitarbeiterbeteiligung. Denn diesem Hause beitragen würde. eines ist richtig: Je besser die Arbeit, je besser das Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beitsklima, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass länger gearbeitet werden kann. Das geht zumindest aus Meine Damen und Herren, der Umstand, der zu unse- dem DGB-Index Gute Arbeit 2009 sehr deutlich hervor. rer Diskussion geführt hat, ist der, dass Menschen länger Hier haben wir noch einigen Handlungsbedarf. leben und länger Rentenzahlungen erhalten. 1960 haben Rentner im Durchschnitt zehn Jahre Rente bezogen, Meine Damen und Herren, der Umstand, der zu unse- 2030 werden es 20 Jahre sein. Das ist eine gute Nach- rer Diskussion geführt hat, ist der, dass die Menschen richt. Solange wir im bestehenden Rentensystem blei- länger leben und länger Rentenzahlungen erhalten. 1960 ben, halte ich es schon für legitim, etwas länger zu arbei- haben die Rentner im Durchschnitt zehn Jahre Rente be- ten. Wir werden sicherlich an anderer Stelle Gelegenheit zogen. haben, über Alternativen zu unserem jetzigen System Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6673

Dr. Matthias Zimmer (A) nachzudenken. Ich persönlich verhehle nicht meine weiligen Interessenvertretungen, zum Beispiel den (C) Sympathie für das Rentenmodell der katholischen Ver- Schwerbehindertenvertretungen, tätig werden. bände. Ich hoffe sehr, dass wir bei der Diskussion über Altersarmut auch darüber diskutieren, ob wir unser be- Das passiert sehr selten. Nur 50 Prozent der großen stehendes Rentensystem nicht langfristig transformieren Unternehmen wissen, dass es ein betriebliches Einglie- wollen. Für heute und den hier diskutierten Antrag bleibt derungsmanagement gibt, und bei den kleinen und mitt- aber festzuhalten, dass er nichts Neues, aber viel Fal- leren Unternehmen sind es gerade einmal 25 Prozent. sches enthält und deswegen unsere Zustimmung nicht Damit will man nicht nur den Menschen gesund erhal- finden kann. ten, sondern man will auch seinen Arbeitsplatz erhalten. Ich frage mich manchmal, warum die Wirtschaft dieses Danke schön. Konzept nicht viel intensiver nutzt. Auf der einen Seite reden wir über Fachkräftemangel, und auf der anderen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Seite haben wir 1,1 Millionen Erwerbsminderungsrent- ner, die zu Hause sitzen und sehr gern arbeiten würden, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dies aber nicht in Form einer Zuverdienstlösung; das Silvia Schmidt hat das Wort für die SPD-Fraktion. möchte ich auch noch einmal deutlich sagen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Im Bereich der Erwerbsminderungsrenten ist in den Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): vergangenen Jahren ein großes Problem auf uns zuge- Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- kommen: Die Zahlbeträge für Erwerbsminderungsrenten legen! Herr Dr. Zimmer, Sie haben zu Recht gesagt: Von sind deutlich nach unten gegangen. Das heißt, sie liegen bestimmten Dingen sollte man sich nicht verabschieden. – im Osten wie im Westen – gerade am Existenzmini- „Rente mit 67“ ist ein sehr wichtiges Thema in der Ge- mum. Gerade Menschen mit Behinderungen – und dies sellschaft. Viele Menschen lehnen die Rente mit 67 ab, sind Erwerbsminderungsrentner – haben natürlich einen weil sie einfach noch nicht verstanden haben, worum es deutlichen Mehrbedarf. Wenn sie diesen Mehrbedarf ha- eigentlich geht. Die Einführung der Rente mit 67 muss ben, stehen sie bei den Kommunen an und müssen das sehr gut vorbereitet sein, damit die Menschen diese Re- Prozedere mit Anträgen, Ablehnungen, Widersprüchen form begreifen, akzeptieren und mittragen können. Eine und Bescheiden durchlaufen, um endlich einen Ausgleich entsprechende Haltung ist zum heutigen Zeitpunkt ein- für ihren Mehrbedarf zu erhalten, wobei eine Kommune fach noch nicht da. in der jetzigen Situation – ich erinnere nur an die Reform der Eingliederungshilfe – natürlich nicht das Geld dazu (B) Herr Heinrich, Sie haben wunderbar geredet. Was Sie hat. An dieser Stelle gilt es, deutlich zu machen, wie wir (D) gesagt haben, war alles sehr schön. Wenn man das hört, die Erwerbsminderungsrentner unterstützen können. möchte man gerne bis zum 70. Lebensjahr zur Arbeit ge- hen. Aber Sie haben auch die Worte verwendet: ge- Ein weiteres Problem, das schon angesprochen wurde, braucht werden, lebenslanges Lernen, Spaß am Leben ist, dass eine größere Anzahl von psychisch Kranken haben. Glauben Sie mir, ein Erwerbsminderungsrentner Erwerbsminderungsrente bezieht. – Herr Kolb, es wäre hat heute keinen Spaß am Leben. Das ist uns bewusst; gut, wenn Sie zuhören würden. – Gerade die Menschen, das haben wir nicht nur in der Anhörung erfahren. Es die auf dem Arbeitsmarkt flexibel sein müssen, die mobil gibt hier einige schwerwiegende Punkte. Wir müssen das sein müssen, die Stress ausgesetzt sind, die lange von den Problem der Erwerbsminderungsrente in den Griff be- Familien getrennt sind, die Mobbing über sich ergehen kommen. Dabei geht es nicht nur um den Maurer oder lassen müssen, die einem starken Leistungsdruck ausge- den Metaller, sondern auch um Frauen, die zum Beispiel setzt sind, werden verstärkt zu Erwerbsminderungsrent- im Krankenhaus als Krankenschwester oder im Pflege- nern. Die Krankenkassen warnen uns und sagen, dass das dienst arbeiten. Hier soll noch einmal auf das hingewie- unsere zukünftigen Erwerbsminderungsrentner sind. Ich sen werden, was wir verändern müssen, damit eine Ver- frage mich, wie wir dieses Problem aus der Welt schaffen. besserung eintritt. Hier ist ein Präventionsgesetz vonnöten. Darüber (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wird noch gar nicht gesprochen. Zurzeit leben in Deutschland 1,1 Millionen Men- (Zuruf von der FDP: Fehlanzeige!) schen, die eine Erwerbsminderungsrente bekommen. Wir haben zu Zeiten der Großen Koalition versucht, es Übrigens waren es 2000 noch 1,4 Millionen Menschen. einzubringen. Das hat aber nicht funktioniert. Auch der Wir haben die Zugangsvoraussetzungen deutlich erhöht. Bundesrat hat es abgelehnt. Wir haben damals im Das könnte man kritisieren; aber es war ein guter Weg, SGB IX festgelegt: Prävention vor Reha. – Aber wir ha- den wir damit gegangen sind. Wir haben das betriebli- ben kein Präventionsgesetz. Wir brauchen eine humane che Eingliederungsmanagement gemäß § 84 SGB IX Arbeitswelt, damit Menschen freiwillig länger arbeiten. eingeführt. Damit ist endlich gesetzlich verankert, dass Das ist ein wesentlicher Punkt. Unternehmen Verantwortung für ihre Mitarbeiter tragen. Die Unternehmen sind also mitverantwortlich dafür, ob In den vergangenen Monaten – von Januar bis Mai – ihre Mitarbeiter in gutem gesundheitlichen Zustand sind, ist die Förderung der BA zur Wiedereingliederung von ob sie sich wohlfühlen. Um dem gerecht zu werden, Schwerbehinderten auf dem Arbeitsmarkt deutlich zu- müssen sie zusammen mit den Betriebsräten oder den je- rückgegangen, und zwar um 24 Prozent. Ältere schwer- 6674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Silvia Schmidt (Eisleben) (A) behinderte Langzeitarbeitslose haben kaum eine Chance, Sie verkennen auch die Tatsache, dass es in Deutschland (C) an irgendwelchen Maßnahmen der BA teilzunehmen, Zehntausende offener Ausbildungsplätze gibt. um wieder ins Arbeitsleben eintreten zu können. Diese werden dann meistens in die Erwerbsminderungsrente (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten verwiesen. Wenn sie ganz viel Pech haben, dann kom- der CDU/CSU) men sie in eine geschützte Werkstatt. Das kann nicht un- Ein Blick ins Ausland lohnt: Dänemark und die Nie- ser Zukunftsmodell sein. Wir müssen den Menschen die derlande planen die Rente mit 67, Lettland und Irland Angst nehmen. Wir müssen den Menschen sagen, dass wollen die Regelaltersgrenze sogar auf 68 Jahre erhö- sie in Zukunft gute und sichere Arbeitsverhältnisse ha- hen. In den USA gilt die Altersgrenze von 67 Jahren für ben und gerne zur Arbeit gehen werden. Davon profitiert alle Personen, die nach 1960 geboren wurden. Auch die auch die Wirtschaft und dementsprechend auch das Ren- Europäische Kommission lobt unsere Pläne ausdrück- tensystem. lich. Wir fordern, dass der Zugang zur Erwerbsminde- Im kommenden November wird das Arbeits- und So- rungsrente wieder erleichtert wird. Die Abschläge müs- zialministerium einen Prüfbericht vorlegen, in dem die sen abgeschafft werden. 10,4 Prozent sind relativ viel. Voraussetzungen für die Rente mit 67 untersucht wer- Bei dem niedrigen Betrag, den heute ein Erwerbsminde- den. Dieser Bericht soll dann alle vier Jahre fortgeschrie- rungsrentner im Durchschnitt bekommt, ist das schon ben werden und über die Entwicklung der Beschäftigung dramatisch. älterer Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt informieren. Dabei wird auch geprüft werden, ob die Anhebung der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Regelaltersgrenze weiterhin vertretbar ist oder ob Ände- Frau Schmidt, kommen Sie bitte zum Ende. rungen notwendig sind. Ich denke, das ist der richtige Weg. Dadurch können wir zukünftig frühzeitig auf mög- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): liche Fehlentwicklungen reagieren. Wir brauchen endlich ein Präventionsgesetz. Außer- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dem brauchen wir endlich auch gesetzliche Mindest- der CDU/CSU) löhne. Anders als die Linke wollen wir nicht mit der Förde- Vielen Dank. rung von Altersteilzeit Steuergelder für die Frühverren- (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: tung verschwenden. Und Karthago muss zerstört werden!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) der CDU/CSU) (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gabriele Molitor hat das Wort für die FDP. Die Koalition hat die Fortführung der staatlichen Förde- rung von Altersteilzeit im Koalitionsvertrag ausgeschlos- (Beifall bei der FDP) sen, weil von den so frei gewordenen Stellen zwei Drittel weggefallen sind, das heißt nicht wiederbesetzt wurden. Gabriele Molitor (FDP): Große Unternehmen haben diese Maßnahme also dazu Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! genutzt, mit staatlicher Hilfe Stellen abzubauen. Wir wol- Der Antrag der Linken, den wir zu beraten haben, geht len kein Blockmodell mehr, auf das 90 Prozent der Alters- an der Realität vorbei und erkennt Wahrheiten einfach teilzeitfälle entfielen, sondern die Kombination von Rente nicht an. Es scheint, als ob die Linken noch nie etwas und Zuverdiensten. vom Fachkräftemangel oder von der demografischen (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb Entwicklung gehört hätten. [FDP]: Das ist auch im Interesse der Men- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die haben auch schen!) keine Fachkräfte! Da kann auch nichts man- Bei diesem Thema argumentieren Sie auch unlogisch. geln!) Eine Wiedereinführung der Altersteilzeit würde nämlich Anstatt auf diese drängenden Fragen die passenden Ant- dazu führen, dass weniger Menschen in die Rentenkas- worten zu suchen, wird ein Kampf der Generationen her- sen einzahlen. aufbeschworen. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass die Bereits heute ist ein Umdenken in der Wirtschaft er- Rente mit 67 jungen Menschen den Zugang zum Ar- kennbar. Die Unternehmen wollen ihre Arbeitnehmer beitsmarkt versperre. halten und gerade auf die Erfahrungen ihrer älteren Mit- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das arbeiterinnen und Mitarbeiter nicht verzichten. stimmt auch!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dabei verschließen Sie die Augen davor, dass die Unter- der CDU/CSU) nehmen dringend auf das Know-how älterer Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer angewiesen sind. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum Kollege Schaaf würde Ihnen gerne eine Zwischen- beschäftigen die dann keine?) frage stellen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6675

(A) Gabriele Molitor (FDP): nehmen stärker vom Know-how älterer Mitarbeiter profi- (C) Herr Schaaf hat zwar heute schon viel Gelegenheit tieren können. Von der Wertschätzung älterer Menschen, gehabt, zu reden, aber von mir aus: Bitte schön. auch älterer Arbeitnehmer haben wir schon in anderen Wortbeiträgen gehört. Dem kann ich mich nur anschlie- Anton Schaaf (SPD): ßen. Frau Molitor, ich danke Ihnen sehr. Es handelt sich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch nur um eine Frage zur Altersteilzeit, auf die Sie der CDU/CSU) vielleicht mit einer Präzisierung antworten können. All diese Vorkehrungen, alle diese politischen Maß- Bei der geförderten Altersteilzeit gab es die Bedin- nahmen, die wir ergriffen haben, zeigen der jungen Ge- gung, dass der Arbeitsplatz nicht wegfällt. Zwei Drittel neration, wie verantwortungsvoll wir mit der Renten- der Altersteilzeit, die in Anspruch genommen wird und frage umgehen und dass sie sich keine Sorgen machen wurde, war nicht geförderte Altersteilzeit. Wenn Sie jetzt muss, weil für ihren Ruhestand vorgesorgt ist. Das ist sagen, dass das nur negative Auswirkungen habe, dann der richtige Weg, und dafür setzen wir uns ein. muss man doch präzisieren, dass es negative Auswirkun- gen nur im Zusammenhang mit der nicht geförderten Al- Vielen Dank. tersteilzeit, wozu nach wie vor die Möglichkeit besteht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Sie haben diese ja nicht abgeschafft –, gab und gibt. Im Zusammenhang mit der geförderten Altersteilzeit gab es keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weil Bedingung für die Förderung eben der Erhalt des Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Max Arbeitsplatzes war. Können Sie mir das bestätigen? Straubinger das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gabriele Molitor (FDP): Ich denke, die Zahlen sprechen eine deutliche Spra- che. Max Straubinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wahr!) Die Linke in unserem Haus stellt heute wieder den An- Ich wehre mich dagegen, Steuergelder zu verwenden, trag, die Rente mit 67 abzuschaffen, und verschließt um Unternehmen solche Umstrukturierungen zu ermög- letztendlich die Augen vor der demografischen Entwick- lichen. lung und auch vor den zukünftigen Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Jetzt, beim Aufschwung, wird (D) (B) (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) sichtbar, dass wir Fachkräfte brauchen und dass wir hän- Ich denke, wir haben hier den richtigen Weg eingeschla- deringend um sie werben müssen. Deshalb ist es richtig, gen. an dieser Rentengesetzgebung, die wir in der Großen Koalition gemeinsam geschaffen haben, festzuhalten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir wissen, dass die Gesamtgesellschaft, die Jungen und der CDU/CSU) die Alten, diese demografische Herausforderung solida- Also: Der Fachkräftemangel wird die Nachfrage nach risch zu tragen hat. gut ausgebildeten und erfahrenen Kräften erhöhen. In Wenn bis zum Jahr 2029 das Regeleintrittsalter auf der Krise wurde deutlich, dass in schwierigen Zeiten die das 67. Lebensjahr angehoben wird, so ist dies ein maß- Menschen nicht entlassen worden sind – das Kurzarbei- voller Schritt, weil bis zu diesem Zeitpunkt auch die Le- tergeld hat sicherlich sehr viel dazu beigetragen –; denn benserwartung der Menschen in Deutschland um drei die Unternehmen wissen ganz genau: Wer einmal entlas- Jahre steigt. Wenn wir dann die Arbeitszeit um zwei sen wurde, kommt nicht mehr zurück. Jahre verlängern, so ist dies ein sehr maßvoller, generati- (Beifall bei der FDP – Anton Schaaf [SPD]: onengerechter und verantwortbarer Schritt. Wer hat es erfunden?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Das haben wir gemeinsam erfunden. Ich danke dem Kollegen Strengmann-Kuhn ausdrücklich (Anton Schaaf [SPD]: Die FDP hat dagegen dafür, dass er sich ebenfalls dazu bekannt hat. gestimmt!) Aber dem Antrag liegen auch falsche Behauptungen Ein flexibler Renteneintritt ermöglicht den gleitenden zugrunde, so beispielsweise die Behauptung, mit der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand. Ein Rücknahme der Rente mit 67 könnten junge Menschen Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen ermöglicht, den ei- in Arbeit kommen. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil: genen Lebensstandard selbst zu bestimmen; das ist uns Wir haben heute einen Lehrstellenüberschuss; das hat sehr wichtig. meine Vorrednerin bereits dargelegt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir haben der CDU/CSU) über 3 Millionen registrierte Arbeitslose!) Die Beseitigung von Barrieren zur Beschäftigung älte- – Wir haben die Arbeitslosigkeit in den vergangenen rer Menschen führt dazu, dass Gesellschaft und Unter- Jahren signifikant abgebaut, und wir sind auf einem gu- 6676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Max Straubinger (A) ten Weg, jetzt auch die 3-Millionen-Grenze zu unter- schen 60 und 64 Jahren bzw. zwischen 60 und 67 Jahren (C) schreiten. Das ist mit ein Ergebnis unserer Politik. steigen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Noch ein Punkt ist wichtig. Wir haben im Rahmen der vergangenen Rentenreform auf Verlangen der CSU ver- Vor allen Dingen ist dies kein Rentenkürzungspro- einbart, dass derjenige, der 45 Jahre sozialversicherungs- gramm, wie Sie es darstellen wollen. pflichtige Beschäftigung und damit die entsprechenden Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung Ich denke, es ist viel besser, an praktischen Beispielen nachweisen kann, mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente darzustellen, wie sich die Demografie entwickelt. Ich gehen kann. Das ist unser sozialpolitischer Beitrag zur glaube, dass man sich vor 10 oder 20 Jahren gar nicht vor- Rentengesetzgebung, der meines Erachtens in der öffent- stellen konnte, dass man 100 Jahre alt werden kann. Wir lichen Darstellung viel zu kurz kommt. haben den Kollegen Frankenhauser einmal gefragt, wie das in der Stadt München ist, und er hat mir die Zahlen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dankenswerterweise schnell mitgeteilt. In München gibt neten der FDP) es momentan 224 Personen über 100 Jahre. Wenn wir die Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vom Deutschen Lebenserwartungsstatistiken betrachten, ergibt sich, dass Bundestag verabschiedeten Rentengesetze sind demo- vor allem Frauen älter werden – das ist auch schön – und grafisch und vor allen Dingen gesellschaftspolitisch aus- dass vor allen Dingen ein weibliches Kind, das heute ge- gewogen. Wir werden diese Gesetze zukünftig mit Maß- boren wird, die Chance hat, 102 Jahre alt zu werden. Man nahmen flankieren, mit denen sichergestellt wird, dass stelle sich vor, jemand geht mit 67 in Rente und wird ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit guten 102 Jahre alt. Das bedeutet 35 Jahre Rentenbezug. Das und altersgerechten Arbeitsplätzen versorgt werden. Da- macht klar, welche Herausforderung die demografische mit besteht für sie die Möglichkeit, bis zum 67. Lebens- Entwicklung bedeutet und dass die Bewältigung dieser jahr ihrer Arbeit nachzugehen. Herausforderung eben von allen Generationen gerecht getragen werden muss und nicht so, wie es die Linken in Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. unserem Haus darlegen, die die Augen vor dieser Gene- rationenfrage verschließen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Werte Damen und Herren, eine Antwort auf diese He- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rausforderung war die Gesetzgebung, die wir jetzt um- Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vor- setzen. Aber wichtig ist, dass die Menschen in Arbeit lage auf Drucksache 17/2935 an die in der Tagesordnung sind. aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Dazu gibt es (B) keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. (D) Heute sind schon mehrere Zahlen der älteren Be- schäftigten in unserem Land genannt worden. Gerade Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: die Entwicklung im letzten Jahr war bedeutsam. Ich darf ganz kurz die entsprechenden Zahlen nennen. Die Zahl Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re- Gruppe zwischen 60 und 64 Jahren lag im März 2010 strukturierung und geordneten Abwicklung bei 1 080 000. Diese Zahl ist innerhalb eines Jahres um von Kreditinstituten, zur Errichtung eines Re- 120 000 gestiegen. Dies, verehrter Herr Kollege Anton strukturierungsfonds für Kreditinstitute und Schaaf, ist ein Beleg dafür, dass die sogenannte Betrach- zur Verlängerung der Verjährungsfrist der ak- tungsklausel greift. Nach dieser Klausel muss geprüft tienrechtlichen Organhaftung (Restrukturie- werden, ob es verantwortbar ist, die Rente mit 67 ab dem rungsgesetz) Jahr 2012 in die Tat umzusetzen. Die Zahlen zeigen in – Drucksache 17/3024 – signifikanter Weise, dass auch Menschen in einem höhe- Überweisungsvorschlag: ren Alter noch sozialversicherungspflichtig beschäftigt Finanzausschuss (f) sind. Dass dies so bleibt, dafür setzen wir uns ein. Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ich bin überzeugt, dass sich diese Entwicklung fort- Haushaltsausschuss setzen wird; denn das Programm für die geförderte Al- Hierzu ist es vorgesehen, eine Stunde zu debattie- tersteilzeit – der Herr Kollege Kolb hat dies bereits aus- ren. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so be- geführt – läuft aus und findet nur noch für diejenigen schlossen. Anwendung, die diesen Schritt bis zum 31. Dezember 2009 gegangen sind. Für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort. Es zeigt sich sehr deutlich: Die sozialversicherungs- pflichtige Beschäftigung älterer Bürgerinnen und Bürger (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird weiter zunehmen. Deshalb bedarf es keines Antrags neten der FDP) wie den der SPD, in dem das Erreichen eines bestimm- ten Beschäftigungsquotienten gefordert wird. Denn mit Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- Instrumenten wie beispielsweise dem Kündigungsschutz desminister der Finanzen: für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stellen Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! wir sicher, dass die Beschäftigung von Menschen zwi- Wir sind uns darüber einig, dass eine zentrale Lehre aus Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6677

Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk (A) der Finanzmarktkrise die stärkere, vor allem aber die stehen oftmals noch die besten Chancen, die beginnende (C) effizientere Regelung der Finanzmärkte sein muss. Da- Schieflage mit einem relativ geringen Aufwand zu ver- für hat die Bundesregierung auf internationaler Ebene hindern. – beim IWF, bei den G 20 und auf europäischer Ebene – ein Bündel von Regulierungsmaßnahmen maßgeblich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vorangebracht, die natürlich national umgesetzt werden Hier setzt unser Gesetzentwurf an. Er sieht ein mehr- müssen. stufiges Verfahren vor, mit dem Schieflagen durch frü- Wir alle wissen: Dazu gehört auf der einen Seite, dass hes und entschiedenes Eingreifen auf der Ebene der wir die Eigenkapitalausstattung der Banken verbessern. Geschäftsführung bewältigt werden können. Im soge- Die geringe Eigenkapitalausstattung der Banken war ein nannten Sanierungsverfahren, das allen Banken offen- Grund für die Krise. Die Bemühungen im Basler Aus- steht, wird eine breite Palette von Handlungsoptionen er- schuss dienen dem Ziel, die Eigenkapitalausstattung zu öffnet. Hier sind zunächst noch keine Eingriffe in verbessern. Es muss aber auch darum gehen, sogenannte Drittrechte vorgesehen. systemrelevante Finanzinstitute überhaupt nicht in Schief- Im Ernstfall greift dann aber bei systemrelevanten lagen geraten zu lassen. Die Problematik, um die es hier Kreditinstituten das sogenannte Reorganisationsverfahren, geht, wird in der Fachwelt als Moral Hazard bezeichnet. um Gefahren für die Stabilität des Systems abzuwehren. Das heißt nicht anderes, als dass der Staat mit seiner Re- Das Reorganisationsverfahren orientiert sich dabei am gulierung dafür sorgen muss, dass systemrelevante Ban- bereits existierenden und bewährten Insolvenzplanver- ken nicht in die Versuchung geführt werden, höhere Ri- fahren. Sind die Beteiligten nicht bereit, aktiv an einer siken, als sie verantworten können, einzugehen, weil sie Reorganisation des Instituts mitzuwirken, oder erscheint sich ihrer Rettung durch den Staat sicher sein können. ein Reorganisationsverfahren nicht aussichtsreich, dann kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sofort ein aufsichtsrechtliches Eingriffsverfahren einlei- Dem dient der Gesetzentwurf, der in einer guten Part- ten. nerschaft zwischen dem Justizministerium und dem Fi- Mit diesem Regime führen wir ein Instrument ein, das nanzministerium entwickelt wurde. Er stärkt die Eigen- Schieflagen von Instituten in Zukunft verhindern soll. verantwortung der Banken, er schützt so den deutschen Die Entscheidung, ob eine Bank in eine Schieflage gerät Finanzsektor mit maßgeschneiderten Instrumenten zur und ob diese Bank systemrelevant ist, wird in Zukunft Reorganisation und Restrukturierung vor bedrohlichen nicht mehr die Bank selber, sondern die Bankenaufsicht Dominoeffekten, und er sorgt dann, wenn es zu einer treffen. Natürlich schließen sich die beiden von mir auf- Krise kommt, für einen besseren Schutz unserer Steuer- gezeigten Verfahren nicht aus. Voraussetzung ist also, (B) zahler, indem er den Bankensektor an den Kosten künfti- (D) dass die in Schwierigkeiten geratene Bank national oder ger Krisen beteiligt. international vernetzt ist. Dann kann der Staat eingreifen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und, wenn es keinen anderen Ausweg gibt, Maßnahmen anordnen. Die Finanzkrise hat klargemacht, dass die bisherigen Reorganisations- und Insolvenzverfahren vieler Länder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – auch in Deutschland – für die Sanierung systemrele- Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Ver- vanter Banken verbessert werden müssen. Diese Verfahren fahren ist das eine. Aber wir brauchen auch Krisenreak- zielten in der Regel darauf ab, im Falle einer Schieflage tionsmöglichkeiten. Deshalb werden wir einen soge- den Geschäftsbetrieb einzufrieren und die Vertragsbezie- nannten Restrukturierungsfonds schaffen, an den alle hungen zu anderen Finanzmarktteilnehmern zu unterbre- Institute eine Sonderabgabe entrichten müssen, um im chen. Bei systemrelevanten, auch international vernetz- Falle der Krise nicht automatisch wieder den Steuerzah- ten Banken ist aber eine solche Vorgehensweise – das ler zur Kasse zu bitten. Da werden wir sehr vernünftig hat die Krise deutlich gemacht – ungeeignet. Denn das vorgehen. Das heißt, wir werden in einer noch vorzule- Einfrieren des Geschäftsbetriebs und die Unterbrechung genden Verordnung Parameter entwickeln, die wir in das der Vertragsbeziehungen einer großen national und inter- Verfahren einführen werden. Selbstverständlich wird es national stark vernetzten Bank kann eine Vertrauenskrise so sein, dass die Abgabe risikoadjustiert ist: Je höher die unter den Banken auslösen und zu einer Gefahr für das Risiken bei einem Institut sind, desto höher ist auch die gesamte Finanzsystem führen; das haben wir in der Fi- Abgabe, die eine Bank zu leisten hat. nanzmarktkrise erlebt. Ich darf nur an die Insolvenz der international stark vernetzten Bank Lehman Brothers er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) innern, die zu einem zeitweiligen Zusammenbruch der globalen Finanzmärkte führte. Ich will hier ankündigen, dass wir gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen anstreben, im parlamentarischen Wir führen deshalb mit dem vorliegenden Gesetzent- Verfahren des vorliegenden Gesetzentwurfes eine Rege- wurf ein intelligentes Regime zur Restrukturierung und lung zu finden, die die Kappung variabler Gehaltsbe- geordneten Abwicklung von systemrelevanten Banken standteile bei gestützten Banken ermöglicht. Das ist ein in Deutschland ein. Es geht darum, dass Banken ihre fi- wichtiges Thema, wie die Diskussion der letzten Tage nanziellen Schwierigkeiten in Zukunft nicht mehr aus gezeigt hat. Das Justizministerium und das Finanzminis- Furcht vor Marktreaktionen verdecken können; denn ge- terium werden gemeinsam mit den Bundestagsfraktio- rade in der Frühphase der Gefährdung eines Instituts be- nen das laufende Gesetzgebungsverfahren nutzen, um 6678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk (A) hier zu vernünftigen, aber auch rechtssicheren Lösungen Nun geht es um einen Gesetzentwurf, mit dem man (C) zu kommen. sich dieser Problematik annimmt. Dieser Gesetzentwurf gründet sich in vielen Punkten auf die Vorarbeiten der Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass der beiden Minister Frau Zypries und Herrn Steinbrück im Entwurf eine Verlängerung der Verjährungsfrist von fünf vergangenen Jahr. auf zehn Jahre für die Haftung der Organe von Aktienge- sellschaften bei Pflichtverletzungen vorsieht. Dadurch (Zuruf des Abg. Leo Dautenzenberg [CDU/ können Ersatzansprüche auch dann noch durchgesetzt CSU]) werden, wenn sie spät bekannt werden. – Etwas lauter, bitte. Ich habe es nicht verstanden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf legen wir einen (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die haben das wichtigen Mosaikstein für ein Gesamtkunstwerk neu nur nie finalisiert!) greifender, besserer und effizienterer Regelungen für un- sere Finanzmärkte vor. – Das war im August letzten Jahres. Daran, dass Sie das Ganze aufgenommen haben, kann man sehen, dass gute Herzlichen Dank. Arbeit geleistet worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieser Gesetzentwurf sieht ein zweistufiges Verfah- ren mit einem Sanierungs- und einen Reorganisationsteil Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: vor. Im Kern ist das richtig. Der erste Teil basiert auf der Der Kollege Manfred Zöllmer hat das Wort für die Auffassung, dass in einer freiheitlichen marktwirtschaft- SPD. lichen Ordnung derjenige Verantwortung für eine Sanie- rung hat, der auch die unternehmerische Verantwortung (Beifall bei der SPD) besitzt. Das ist ordnungspolitisch der richtige Ansatz. Er setzt voraus, dass von den Aufsichtsgremien entspre- Manfred Zöllmer (SPD): chend gehandelt wird. Wenn weder Sanierung noch Re- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! organisation klappen, dann muss die Aufsicht die Bank Lieber Herr Kollege Koschyk, ich habe gerade gehört, aufspalten und systemrelevante Teile auf eine Brücken- dass es sich bei Ihrem Gesetzentwurf um ein Gesamt- bank übertragen, die dann fortgeführt wird. Der Rest kunstwerk handeln soll. verbleibt in einer sogenannten Bad Bank, also in einer schlechten Bank, und könnte dann abgewickelt werden. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So was Ein „too big to fail“ würde es zumindest für diesen Teil kennen Sie gar nicht! – Leo Dautzenberg dann nicht mehr geben. (B) [CDU/CSU]: Das ist es auch! Das sind Sie (D) nicht gewohnt, Herr Kollege!) Der Teufel steckt aber bekanntlich im Detail. Wir werden uns diesen Gesetzentwurf sehr genau ansehen – Nein; das überfordert mich in der jetzigen Situation. – müssen. Da müssen wir einmal schauen, ob dieses Kunstwerk sehr abstrakt oder sehr konkret ist; dann werden wir es (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Er liegt aber entsprechend bewerten. schon länger vor!) Aus den USA stammt eine Begrifflichkeit, die bereits Es bleiben einige Fragen. Ich will einige Fragen stellen: im Jahre 1914 während der ersten Finanzkrise geprägt Wie sieht es mit den Arbeitnehmerrechten aus? Welche worden ist und die auch heute eine große Rolle spielt: Eingriffsrechte haben die Sanierungs- und Reorganisa- „too big to fail“. Genau mit diesem Phänomen sind wir tionsberater in diesem Zusammenhang? Für uns wäre es in der Finanzmarktkrise konfrontiert worden. Der dro- wichtig, dass die zentralen Arbeitnehmerrechte auch in hende Zusammenbruch eines systemrelevanten Kredit- einer Krisensituation gewahrt bleiben. Der Gesetzent- institutes hätte dramatische Folgen für die Stabilität des wurf sieht vor, dass die BaFin tätig wird. Das ist klar, da gesamten Finanzsystems und unübersehbare negative sie für die Finanzaufsicht zuständig ist. Daneben be- Folgen für die Gesamtwirtschaft gehabt. Das Problem kommt die Abwicklungsbehörde bei der Bundesanstalt dabei ist: Wenn wir eine solche Situation haben, wird ein für Finanzmarktstabilisierung neue und zusätzliche Auf- zentraler Mechanismus unserer Marktwirtschaft außer gaben. Diese Konstruktion wird man sich einmal genau Kraft gesetzt. Dieser Mechanismus besagt: Wenn ein ansehen müssen. Es kann natürlich passieren, dass diese Unternehmen schlecht wirtschaftet, auf Dauer Verluste beiden Institutionen, wenn sie nicht miteinander, son- macht und nicht wettbewerbsfähig ist, dann muss es vom dern eher gegeneinander arbeiten, für zusätzliche Pro- Markt verschwinden. Wenn das nicht mehr gilt, dann hat bleme sorgen und das Verfahren unnötig verkomplizie- das Konsequenzen. Das Fehlen dieses Mechanismus ist ren. wegen der Sicherheit, dass im Zweifelsfalle der Staat Aufseiten der Sparkassen gibt es die große Befürch- einspringen würde, natürlich nicht nur für Anleger at- tung, dass viele Regelungen nicht mit dem Sparkassen- traktiv, sondern besonders für die Bankmanager. Wir ha- recht übereinstimmen. Ich glaube, das sollten wir sehr ben gesehen, dass diese Situation die Bankmanager dazu sorgfältig prüfen und Probleme in diesem Zusammen- verleitet, besonders risikoreiche Geschäfte zu tätigen. hang zweifelsfrei klären. Denn mit diesen besonderen, waghalsigen Geschäften konnten sie dicke Renditen und exorbitante Boni bekom- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Welche sind men. das denn bei den Sparkassen?) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6679

Manfred Zöllmer (A) – Bei den Debt-to-Equity Swaps, der Umwandlung von Dann müssen wir darüber reden, ob es richtig ist, (C) Fremdkapital in Eigenkapital, zum Beispiel sagen die auch Sparkassen, Bausparkassen, Volks- und Raiffeisen- Sparkassen: Dies ist nach unserer Rechtskonstruktion banken für beitragspflichtig zu erklären, obgleich sie ei- nicht möglich. gene Sicherungssysteme haben und nicht Täter, sondern eher Opfer der Krise waren. Das sehen im Übrigen auch (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das kommt die Länder so. darauf an!) Außerdem taucht bei den Ländern noch das Stichwort – Lassen Sie uns das doch einmal in Ruhe klären. Wir „landeseigene Förderbanken“ auf. Auch darüber wird führen ja noch eine Anhörung durch. man sicherlich reden müssen. Gestern haben wir hier über den Boniskandal bei der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) HRE diskutiert. Wir haben gesagt, dass wir in diesem Zusammenhang dringend gesetzliche Regelungen brau- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der Fi- chen, damit auch in bestehende Verträge eingegriffen nanzkrise sehr viel über die globale Vernetzung der Insti- werden kann. tute gelernt. Deswegen müssen wir uns auch mit der Frage auseinandersetzen: Wie gehen wir eigentlich mit (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) Banken um, die grenzüberschreitend agieren? Warum sind Filialen grenzüberschreitender Banken nicht von Ich glaube, auch dies ist ein Punkt, bei dem wir nach- der Abgabe betroffen? arbeiten müssen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Weil sie Filia- Die entscheidende Frage lautet: Wie praxisrelevant len sind!) sind die gesetzlichen Regelungen eigentlich? Funktio- niert das? Wird ein Kreditinstitut in einer schwierigen – Weil sie Filialen sind. – Großbritannien macht das völ- Situation seine Sanierungsbedürftigkeit freiwillig anzei- lig anders. Da geht es nach dem Territorialprinzip. Dort gen? Wird diese Regelung wirklich als Chance begrif- sind deutsche Banken, die Filialen haben, ebenfalls zu fen, oder wird die Nutzung dieser Regelung als Zeichen einer Abgabe verpflichtet. des Scheiterns interpretiert? Das müssen wir klären. Von daher bedauern wir ein bisschen den großen Zeitdruck, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein, das sind den die Bundesregierung bei diesem doch sehr komple- dort Niederlassungen! Das ist ein Unter- xen Gesetzeswerk aufgebaut hat. schied!) Ein wichtiger Teil dieses Gesetzentwurfs ist die soge- Ich glaube, wir können Folgendes feststellen: Diese Art der Bankenabgabe führt in die Irre. Dadurch werden (B) nannte Bankenabgabe. Wir müssen zum einen feststel- (D) len, dass damit ein Restrukturierungsfonds gespeist wer- die Banken nicht an den Kosten der Krise beteiligt, und den muss. Aus diesem Fonds sollen in zukünftigen es wird dadurch auch keine ausreichende Vorsorge ge- Krisensituationen Maßnahmen finanziert werden. Das gen zukünftige Krisen getroffen. Das bedauern wir sehr. Problem dabei ist nur, dass das Aufkommen aus der (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Was ist denn Bankenabgabe mehr als gering ist. Im günstigsten Fall die Alternative? – Leo Dautzenberg [CDU/ sind das 1,3 Milliarden Euro. Aber es kann auch viel we- CSU]: Was wollen Sie denn jetzt?) niger sein. Überlegen wir einmal, wie viele Jahrzehnte wir brauchen – vielleicht ist es sogar ein ganzes Jahrhun- – Die Alternative heißt Finanztransaktionsteuer. Das dert –, um diesen Topf mit entsprechenden Mitteln zu bleibt unser Ziel; das bleibt unser Weg. füllen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Leo (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dann haben Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist eine ganz Sie den Restrukturierungsfonds falsch verstan- andere Baustelle, Herr Kollege!) den, Herr Kollege!) Ich war gestern auf einer Veranstaltung der Landes- Wenn die Bankenabgabe so gering dimensioniert ist, vertretung Rheinland-Pfalz. Dort ist ein gewisser Profes- dann wird der Staat in einer solchen Situation auch zu- sor Kirchhof aufgetreten; Sie sollten ihn noch kennen. künftig in der Pflicht sein. „Staat“ bedeutet konkret, dass Wissen Sie, was dieser Professor Kirchhof vorgeschla- die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gefordert sind. gen hat? Er hat gesagt: Finanztransaktionsteuer. Er Im Übrigen entlarvt sich die Regierungsrhetorik von ei- wollte sogar eine Finanztransaktionsteuer in Höhe von ner Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise da- 1 Prozent. Er hat das vehement vertreten. mit als Luftbuchung. Es geht nicht um eine Beteiligung (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Auf nationaler der Banken an einer Krise, sondern es geht um die Betei- Ebene?) ligung an zukünftigen Krisen. Ich finde, daran könnten Sie sich ein Beispiel nehmen. (Zuruf von der FDP: Richtig!) Das wäre der richtige politische Weg. Sie haben es nicht hinbekommen oder nicht gewollt, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Banken an den aktuellen Krisenkosten zu beteiligen, und das ist nicht akzeptabel. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den Banken das staatliche Ruhekissen nehmen, und es muss (Beifall bei der SPD) dabei bleiben: Die Banken müssen an den Kosten der 6680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Manfred Zöllmer (A) Krise beteiligt werden. In diesem Sinne werden wir uns (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) intensiv mit dem Gesetzentwurf auseinandersetzen. der CDU/CSU) Herzlichen Dank. Das alles zeigt die entschlossene und sachgerechte Re- gulierung der Bundesregierung, die sich wieder einmal (Beifall bei der SPD) als vorbildlich erweist. Ich möchte auf die erste und die dritte Maßnahme gar Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht genauer eingehen, sondern werde mich auf die Björn Sänger hat das Wort für die FDP-Fraktion. Bankenabgabe konzentrieren. Hierzu besteht offensicht- lich der größte Diskussionsbedarf. Rund um die Banken- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) abgabe gibt es eine ganze Reihe von Irrtümern. Der Herr Kollege Zöllmer hat soeben einen davon angesprochen. Björn Sänger (FDP): Er hat freundlicherweise auch zugegeben, dass es sich in der Tat um einen Irrtum handelt. Der Irrtum lautet, die Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Banken sollen für die Krise zahlen. Das ist aber faktisch Herren! Nur 6 Prozent aller Unternehmen werden älter rechtlich nicht machbar. als 100 Jahre. Diese Zahl zeigt ganz deutlich, dass das Scheitern, dass Marktaustritte, dass das Leben und Ster- (Joachim Poß [SPD]: Daran hat die FDP auch ben in einer sozialen Marktschaft dazugehören, so wie nie gedacht! – Nicolette Kressl [SPD]: Können sie auch zum realen Leben dazugehören. wir das noch einmal so hören?) Bislang war eine Gruppe von diesem Prozess faktisch Deswegen ist unser Ansatz, einen präventiven Fonds weitgehend ausgenommen. Das waren Kreditinstitute, aufzubauen, um im gegebenen Fall aus der Branche he- wenn sie eine bestimmte Größe hatten – es ist nicht ganz raus einspringen zu können, richtig. – Dies war der erste klar, um welche Größe es sich dabei handelt; wir hatten Irrtum. IKB, wir haben HRE – und das Ganze eine gewisse Sys- (Beifall bei der FDP) temrelevanz hat. Diese Institute konnten oder können faktisch nicht aus dem Markt ausscheiden. Der zweite Irrtum ist, dass man einzelne Säulen des Drei-Säulen-Bankwesens in Deutschland von dieser Das Ganze hat drei Folgen. Die erste Folge ist: Die Bankenabgabe ausschließen kann. unternehmerische Entscheidung wird vom Risiko ent- koppelt, im Übrigen auch von der Verantwortung der Ei- (Joachim Poß [SPD]: Das hat Herr Schäuble (B) gentümer, genauer hinzuschauen, was sich denn eigent- anders gesagt!) (D) lich in ihrer Bank, an der sie Anteile haben, tut. Zweite Den Sparkassen ist das Thema Landesbank nicht ganz Folge, daraus resultierend: Es werden Entscheidungen fremd. Auch in Bezug auf die Genossenschaftsbanken getroffen, die mit einer vernünftigen Risikosteuerung muss man sagen, dass eigene Schutzmechanismen im- nichts zu tun haben. Man trifft die Entscheidung anders, mer nur vor inneren Problemen schützen. Einen externen wenn man die Gefahr des Scheiterns vor Augen hat. Da- Schock wie die Finanzkrise, die wir erleben mussten, mit bin ich schlussendlich bei der dritten Folge: Die Ge- wird ein eigenes Sicherungssystem niemals auffangen fahr, dass der Steuerzahler einspringen muss, steigt ex- können. Bei illiquiden Märkten nützt auch die beste In- trem. stitutssicherung nichts, wenn keine Mittel an den Märk- ten vorhanden sind. Jetzt liegt uns hier die Problemlösung vor; ich sage einmal, ein weiterer Mosaikstein im großen Gesamt- Ich fasse zusammen: Wir haben eine Bankenabgabe kunstwerk der christlich-liberalen Bundesregierung, geschaffen, die fair nach Risiken über die vorhandenen drei Säulen differenziert. Wir haben durch das Gesetz (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist mehr ein Instrumentarium geschaffen, welches sicherstellt, als ein Mosaikstein!) dass ein Karren, der gegen die Wand gefahren wird, nicht auf Kosten des Staates repariert wird. Er soll viel- was die Neuordnung der Finanzmärkte angeht, der ganz mehr abgeschleppt werden, damit man schauen kann, offensichtlich mehrere Mütter und Väter hat, wie alles, was man damit noch machen kann. Im schlimmsten Fall was gut ist. Es gibt ein Positionspapier der FDP aus dem muss er eben abgewrackt werden, und das ganz ohne Sommer letzten Jahres, in dem man viel von dem wie- staatliche Abwrackprämie. derfindet, was dieser Gesetzentwurf richtigerweise be- inhaltet. Herzlichen Dank. Wir haben uns auf drei große Maßnahmen konzen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) triert: erstens auf die Schaffung eines Rechtsrahmens, um ein kontrolliertes Ausscheiden aus dem Markt oder Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: aber auch eine Sanierung zu ermöglichen, zweitens ein Richard Pitterle spricht jetzt für die Fraktion Die branchenfinanzierter Fonds zur Stabilisierung des Linke. Finanzsystems, sofern dies denn notwendig ist, und drit- tens die Verschärfung der Haftung für die Handelnden. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6681

(A) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sie wollen uns weismachen, dass man einen Groß- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen brand mit den verordneten Handfeuerlöschgeräten schon und Herren! Da ich aus der Region Stuttgart komme, irgendwie unter Kontrolle bringen wird. Aber Sie täu- muss ich etwas vorausschicken: schen sich, meine Damen und Herren. Denn wer sagt Ih- nen, dass die verantwortlichen Manager im Haus, um im (Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: zu bleiben, die Feuerlöscher auch benutzen, wenn Nicht schon wieder! Bei jeder Rede! Was hat es anfängt, zu brennen? Möglicherweise haben sie kein dieses Thema hier zu suchen?) Interesse, dass bekannt wird, dass es unter ihrem Dach Trotz der gestrigen skandalösen Einsätze mit Wasser- lodert, und hoffen, das Feuer vielleicht auch mit den Fü- werfern und Reizgas werden heute Abend in Stuttgart ßen austreten zu können. 10 000 Bürgerinnen und Bürger für eine sinnvolle Spar- maßnahme demonstrieren. Sie wollen sich und uns Selbst BaFin-Präsident Jochen Sanio hat im HRE-Un- Stuttgart 21 ersparen, weil es in einer Zeit leerer Kassen tersuchungsausschuss festgestellt, dass damals alle Maß- nicht zu rechtfertigen ist, Milliarden in der Erde zu ver- nahmen, die nach § 45 Kreditwesengesetz möglich ge- buddeln. wesen wären, das Problem nicht gelöst hätten und das Todesurteil für die betroffene Bank gewesen wären. (Beifall bei der LINKEN) (Christian Ahrendt [FDP]: Deswegen wird Hierbei finden sie die Linke an ihrer Seite. Die Bürgerin- § 45 KWG jetzt ja auch geändert! Wenn Sie nen und Bürger von Stuttgart haben gelernt, dass sie auf den Gesetzentwurf gelesen hätten, würden Sie die Straße gehen müssen, um etwas zu verändern, das wissen!) (Björn Sänger [FDP]: Sie haben die falsche Rede!) Damit wir uns nicht missverstehen: Auch wir sind für ein Insolvenzrecht für Banken. Aber wir machen uns im dass es nicht ausreicht, die Vernunft auf ihrer Seite zu Gegensatz zu Ihnen keine Illusion, dass dadurch Finanz- haben, wenn hinter der Gegenseite starke wirtschaftliche krisen verhindert werden könnten. Warum sollten die Interessen stehen. vorgeschlagenen Maßnahmen bei den Banken auch Gleiches gilt für die Situation der Banken. So lange funktionieren? Da ein Sanierungsplan vom Oberlandes- augenscheinlich nicht Tausende Menschen auf die gericht bestätigt werden muss, ist er nicht zu verheimli- Straße gehen und die Deutsche Bank belagern, die viele chen und wird zwangsläufig bekannt. Dies birgt für die Besucher meines Wahlbüros für die eigentliche Regie- Bank die Gefahr, dass sich Kunden und Geschäftspartner rung halten, scheint sich nichts zu bewegen. Wir brau- sofort abwenden und ihre Mittel abziehen. Ich frage Sie: (B) chen endlich ein Gesetz, das tatsächlich Lehren aus der Wie wollen Sie solch eine Kettenreaktion verhindern? (D) Krise zieht und diejenigen zur Kasse bittet, die die Ver- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Restrukturie- ursacher waren. ren!) (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist der Beitrag zur Restruk- Damit komme ich zur Bankenabgabe. Wie, bitte turierung der Banken!) schön, wollen Sie sich mit den angesprochenen Einnah- men von 1,2 oder 1,3 Milliarden Euro – zu einer Abgabe Frau Merkel hat in der Haushaltsdebatte am 20. Ja- in dieser Höhe wollen Sie die Banken jetzt vorsorglich nuar dieses Jahres gesagt, es gehe darum, „Wege zu fin- verpflichten – für die nächste Krise wappnen, wenn doch den, um zu verhindern, dass Banken so groß sind oder so bei der letzten Krise Bürgschaften in Höhe von verflochten sind, dass sie uns immer wieder sozusagen 480 Milliarden Euro bereitgestellt werden mussten? Ent- erpressen können“. Wer den Mund so spitzt wie Frau weder sind Sie grenzenlose Optimisten, oder die Ban- Merkel, der sollte auch einmal pfeifen. Ich meine, davon kenlobby rennt bei Ihnen offene Türen ein. ist in diesem Gesetz nichts zu spüren. Ich sage: Sie wollen vor allen Dingen die Öffentlich- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Den haben sie keit beruhigen und mit Scheinaktivitäten einlullen. noch nicht gelesen, Herr Kollege!) Großspurig behaupten Vertreter der Regierungskoalition Allein mit diesem Gesetz werden Sie künftigen Finanz- immer wieder, man wolle den Finanzsektor an den Kos- krisen nicht vorbeugen, weil der gewählte Ansatz grund- ten der Krise beteiligen. Aber in Wirklichkeit sind es die legend falsch ist. Arbeitslosen, die Rentnerinnen und Rentner sowie die Kranken, die für die Bewältigung der Krisenfolgen zah- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Blödsinn!) len. Um Ihnen das an einem Bild zu erklären: Ein wieder- Kürzungen im sozialen Bereich und die Verabschie- holt brandgefährdetes Hochhaus kann man abreißen und dung von der Solidarität bei der gesetzlichen Kranken- stattdessen mehrere kleine Häuser bauen. Man kann aber versicherung sind Ihre neuesten Grausamkeiten. Schwarz- auch vollmundig versprechen, eine höchst effektive Feu- Gelb hat augenscheinlich nicht den Mut, sich gegen die erwehr aufzubauen, sich aber in Wirklichkeit damit be- Verursacher der Krise und die Nutznießer des Kasinoka- gnügen, Handfeuerlöscher zur Pflicht zu erklären. Genau pitalismus zu stellen und die Spekulationsgewinne geld- das tun Sie. gieriger Banker abzuschöpfen, geschweige denn den (Beifall bei der LINKEN) Mut, das Kasino zu schließen. 6682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Richard Pitterle (A) Dies wird auch am vorliegenden Gesetzentwurf deut- che Bankenabgabe und endlich eine Finanztransaktion- (C) lich. Statt einer wirklichen Bankenabgabe, wie sie von steuer, nicht nur kosmetische Veränderungen. der Linken, Attac und Gewerkschaften gefordert wird, kommt bei Ihnen ein Restukturierungsfonds heraus, in (Beifall bei der LINKEN – Christian Ahrendt den laut Presseberichten lächerliche 1,2 Milliarden Euro [FDP]: Den Mindestlohn haben Sie verges- pro Jahr eingezahlt werden sollen. sen!)

Wir kritisieren an diesem Restrukturierungsfonds, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dass das von den Banken zu zahlende Geld nicht in den Bundeshaushalt fließt, obwohl die Banken mit Mitteln Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat das Wort für aus dem Bundeshaushalt, nämlich mit Steuergeldern, ge- Bündnis 90/Die Grünen. rettet wurden. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir kritisieren daran, dass die Höhe der Abgabe und Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- die Höhe der Beiträge der einzelnen Banken ohne Zu- legen! Lassen Sie mich als Erstes sagen, was dieses Ge- stimmung von Bundestag und Bundesrat bestimmt wer- setz leistet und was es nicht leistet. Ich glaube, das ist den sollen; ganz wichtig. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sauerei!) In Deutschland gibt es etwa 2 000 Banken, von denen dadurch beschädigen Sie wieder einmal die parlamenta- 1 900 im Wesentlichen Sparkassen und Volksbanken rische Demokratie. sind. Bei ihnen haben wir in Bezug auf das Sterben von Wir kritisieren, dass das Bundesministerium der Fi- Banken, das Herr Sänger genannt hat, in der Vergangen- heit keine Probleme gesehen. Das wurde im Verbund ge- nanzen einen Freibrief bekommt, die Abgabe so gering zu gestalten, wie es will. Da kann ich nur sagen: Ban- löst. Da gibt es also bereits einen Mechanismus, wie kenlobby, ick hör dir trapsen. Banken untergehen können. Für diese wird das Gesetz keinen großen Unterschied machen. Auch wenn die Banken offiziell nun nicht laut „Hurra!“ schreien – denn den Banken erscheint jede Auf der anderen Seite gibt es ein paar sehr große Ban- Steuer und Abgabe als eine ungerechte Belastung –, ha- ken. Ich kenne niemanden, der behauptet, dass dieses ben sie sehr wohl verstanden, dass sie von dieser Regie- Gesetz für eine Deutsche Bank anwendbar sein wird. rung nicht wirklich etwas zu befürchten haben. Deswegen muss man sich einmal klarmachen, dass hier noch eine ganz große Lücke vorhanden ist. Das große Aber nicht jeder aus dem Bankensektor, der jetzt Versprechen, der Steuerzahler solle nicht mehr herange- (B) schreit, schreit zu Unrecht. Wir als Linke sind der Mei- zogen werden, wird mit diesem Gesetz nicht eingelöst. (D) nung, dass die Einbeziehung der Sparkassen, Raiffeisen- Wer etwas anderes behauptet, macht den Leuten etwas banken und Volksbanken in den vorgesehenen Restruk- vor. Insofern war die Rede des Staatssekretärs gerade turierungsfonds nicht zu rechtfertigen ist. wieder einmal sehr grenzwertig. (Beifall bei der LINKEN) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein, sie war Denn diese haben sich größtenteils nicht an Spekulati- hervorragend!) onsgeschäften beteiligt und haben großen Anteil daran, Sie haben gesagt: Wir lösen das Problem Moral Hazard, dass die vielen kleinen und mittleren Unternehmen trotz wo Banken Risiken eingehen können, weil sie darauf Krise mit Krediten versorgt wurden. Viel wichtiger ist: vertrauen können, dass sie der Steuerzahler im Zweifels- Die Sparkassen, Raiffeisen- und Volksbanken hatten fall rettet. – Nein, wir lösen es nur für einen eng be- schon vor der Krise eigene Sicherungsfonds, die bei ei- grenzten Teil von Banken; denn die größten 10, 15 Ban- ner Krise gegriffen hätten. ken werden nicht erfasst; da lässt es sich nicht umsetzen. Darf ich Sie daran erinnern, dass Frau Merkel im Hin- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es geht nicht blick auf die Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken um einen Rettungsfonds, sondern um einen noch am 16. Mai dieses Jahres in ihrer Rede vor dem Restrukturierungsfonds!) DGB-Bundeskongress zum gleichen Ergebnis gekom- men ist? Sie sagte wortwörtlich – Zitat –: – Dann zeigen Sie mir einmal, wie das für die ganz gro- ßen Banken gehen soll. Das können wir dann im Aus- Sie stellen kein systemisches Risiko dar und denen schuss diskutieren. Für die 1 900 kleinsten Banken wird können wir auch keine Bankenabgabe abnehmen. es keinen großen Unterschied machen. – Es gibt also ei- Das ist die Realität in Deutschland. nen eng begrenzten Bereich, in dem das Gesetz über- Und wo ist die Realität hin? Sie handeln doch nach dem haupt nur anwendbar ist. Für diesen Bereich ist es gut, Motto: Was interessiert mich mein Geschwätz von ges- das zu machen. tern. Aber wir sollten ehrlich sein: Es gibt eine große Bau- Schauen wir nach Stuttgart. So wie die Bürgerinnen stelle. Das heißt, in Deutschland gibt es nach wie vor und Bürger dort nicht nachlassen, gegen ein unsinniges Banken, für die wir kein Verfahren haben, wie sie ster- Bauprojekt aktiv zu werden, werden wir als Linke im ben könnten, und bei denen deswegen das Problem, das Bundestag weiterhin darauf drängen, dass Sie endlich Sie, Herr Staatssekretär, angesprochen haben, nämlich Lehren aus der Krise ziehen. Wir brauchen eine wirkli- das Moral-Hazard-Problem, das Too-big-to-fail-Pro- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6683

Dr. Gerhard Schick (A) blem, nach wie vor besteht. Deshalb ist Handlungsbedarf Kreditwesengesetz, ökonomisch ist das aber kein sinn- (C) vorhanden. Da muss noch etwas getan werden. volles Abgrenzungskriterium; denn wenn Sie argumen- tieren, Sparkassen und Volksbanken seien positiv betrof- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fen, weswegen sie auch etwas beitragen müssten, dann Das Zweite, was das Gesetz nicht leistet – darauf ist stellt sich die Frage, warum das nicht auch für die Versi- schon eingegangen worden –, ist die Frage: Wer zahlt ei- cherungen gilt. gentlich für diese Finanzkrise? Sie haben in den Zwi- schenrufen so getan, als hätten Sie das nie behauptet; (Zuruf von der LINKEN: Tja!) aber die Zitate sind eindeutig: Den Bürgerinnen und Deswegen ist das, was Sie hier vorlegen, ökonomisch in- Bürgern ist gesagt worden, dass die Verursacher, die konsistent. Wir werden im Ausschuss versuchen müs- Banken, für die jetzige Krise zahlen sollen. Das haben sen, zusammen eine Lösung zu finden, die tragfähig ist die Bundeskanzlerin und der Herr Finanzminister ge- und durch die nicht die Falschen belastet werden. sagt. In diesem Gesetz steht, dass das nicht passieren wird. Deswegen ist die Frage offen, wer die Kosten die- Hinzu kommt natürlich auch die Risikogewichtung. ser Krise tragen wird. Die Regierungskoalition verwei- Führt die Bankenabgabe durch ihre Ausgestaltung also gert die Antwort. Wir können aber an Ihren konkreten möglicherweise dazu, dass teilweise mehr Risiken als Taten sehen, wer es tun soll. Das Sparpaket gibt zum vorher eingegangen werden oder dass vernünftiges Ver- Beispiel Antwort. Es ist ganz klar: Erst kam die große halten stärker belastet wird als unvernünftiges Verhal- Ankündigung, dass die Wirtschaft etwas tragen soll, aber ten? nach und nach – über die verschiedenen Vorschläge – landen die Kosten doch bei den Bürgerinnen und Bür- Den dritten Korrekturbedarf gibt es hinsichtlich der gern. Ich finde, Sie sollten ehrlich sein und sagen, dass Antwort auf die Frage, ob die Gläubiger einbezogen die ursprüngliche Ankündigung, dass die Verursacher werden. Einer der großen Schwachpunkte der Banken- für diese Krise zahlen, nicht eingehalten wird, sondern rettung in Deutschland ist, dass die Gläubiger hinsicht- dass die Kosten bei den Bürgerinnen und Bürgern lan- lich der Rettungskosten völlig außen vor geblieben sind. den. Alles andere wäre unehrlich. Sie versuchen hier ein Verfahren. Ich wünsche Ihnen da- bei frohe Verrichtung. Wenn die Gläubiger einer Bank (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nämlich im Ausland sitzen, dann wird es nicht so einfach sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- sein, das umzusetzen, was Sie hier vorgelegt haben. Ich KEN) halte das nicht für eine stabile Lösung. Ich glaube, das Wenn wir jetzt das nehmen, was dieses Gesetz tatsäch- geht nur, wenn das in den Anleihebedingungen von (B) lich leistet, nämlich für mögliche künftige Krisen einen vornherein festgelegt wird. Wir sehen hier einen Korrek- (D) Fonds aufzubauen und ein Verfahren für im Wesentlichen turbedarf und hoffen, dass wir den Gesetzentwurf in die- mittelgroße Banken in Deutschland für die Rettung be- ser Richtung noch einmal verbessern können. reitzustellen, dann, glaube ich, können wir im parlamen- tarischen Verfahren sehr konkret zusammenwirken und Den vierten Korrekturbedarf sehen wir beim Thema schauen, dass wir das Gesetz an entscheidenden Stellen Haftung. Es ist gut und richtig, dass Sie bei der Organ- noch verbessern. Ich finde, im Ansatzpunkt sind viele haftung die Verjährungsfristen verlängern. Ich sehe al- vernünftige Sachen drin. lerdings, dass es noch ein Defizit gibt. Wir reden hier nur über die Innenhaftung. Unseres Erachtens gehört aber Aber Punkt eins. Wir müssen uns mit der parlamenta- auch die Außenhaftung bei falscher, unvollständiger rischen Kontrolle beschäftigen. oder nicht vorhandener Kapitalmarktinformation mit hi- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das wird noch nein. Das ist vor einigen Jahren schon einmal diskutiert ergänzend kommen, Herr Kollege!) worden, auf Druck aus der Finanzbranche aber zurück- gezogen worden. Ich finde, das Thema gehört in diesem Das, was bisher im Bereich SoFFin, im Rahmen des ge- Zusammenhang noch einmal auf die Tagesordnung. Das heim tagenden Gremiums an Nichtinformation der Parla- ist ein weiterer Punkt, den wir korrigieren wollen. mentarier und Nichtinformation der Öffentlichkeit statt- gefunden hat, muss mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein Ende haben, und es muss eine effektive parlamentari- sche Kontrolle geben. Fünftens: Sie haben angekündigt, dass Sie bezüglich der Bonuszahlungen eine Korrektur vornehmen wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist gut, wenn Sie das tun, aber es sollte dann nicht da- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) bei bleiben, dass irgendetwas im Gesetz steht. Die Bun- Ich glaube, hier sind unsere Einschätzungen ähnlich ge- desregierung sagte mir bisher auf meine Anfrage: Nein, worden, wir kontrollieren nicht, ob das Gesetz in Bezug auf die Vergütungen eingehalten wird. – Ich finde, genauso we- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Klar!) nig, wie wir uns im Straßenverkehr darauf verlassen, dass sich alle Leute an die Geschwindigkeitsbegrenzun- und da sollten wir noch einmal nachsteuern. gen halten, genauso wenig sollte man sich bei solch ei- Der zweite Punkt, bei dem wir einen Korrekturbedarf ner Frage völlig blind auf die Informationen aus der sehen. Die Antwort auf die Frage, wer diese Bankenab- Bank verlassen. Wir fordern Sie auf, auch eine Kontrolle gabe zahlen soll, ist heikel. Sie orientieren sich jetzt am dieser Regelungen vorzunehmen. 6684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Gerhard Schick (A) Weil wir gesehen haben, dass es bei Teilen der Bran- halb sprechen wir auch nicht von einem Rettungsfonds, (C) che eine Selbstbedienungsmentalität gibt, müssen wir sondern von Restrukturierungsmaßnahmen, die von ei- dafür sorgen, dass die Regeln, die gemacht werden, auch nem Restrukturierungsfonds begleitet werden durchgesetzt werden. Auch hier sehen wir also einen Korrekturbedarf hinsichtlich Ihres Gesetzentwurfs. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Alles Weitere in den Ausschussberatungen. und in den die Banken ihre Abgabe zu entrichten haben. Man muss die intellektuelle Anstrengung, zwischen Ret- Vielen Dank. tung und Restrukturierung zu differenzieren, schon un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ternehmen. bei der SPD und der LINKEN) Wir haben dafür – der Herr Staatssekretär hat es be- reits ausgeführt – bestimmte Stufenverfahren vorgese- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hen. Das erste erfolgt, was die Sanierung anbelangt, auf Der Kollege Leo Dautzenberg spricht für die CDU/ freiwilliger Basis. Aber wenn es um die Bereiche der CSU. Restrukturierung und Reorganisation geht, sind staatli- che Eingriffe notwendig, um diese Restrukturierung her- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beiführen zu können. Diese Maßnahmen greifen sehr drastisch ein und korrespondieren mit folgender Tatsa- Leo Dautzenberg (CDU/CSU): che: Wenn wir diese Kompetenz der Aufsicht zuordnen, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter dann ist es nur konsequent, Herr Staatssekretär, dass wir dem Titel „Gesetz zur Restrukturierung und geordneten alsbald die Neustrukturierung der Finanzaufsicht vor- Abwicklung von Kreditinstituten, zur Errichtung eines nehmen, damit dieses Vorhaben zeitlich kompatibel zu Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute und zur Ver- dem vorliegenden Gesetzeswerk auf den Weg gebracht längerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Or- werden kann. ganhaftung“, kurz gesagt: Restrukturierungsgesetz, hat die Bundesregierung – insbesondere die zwei beteiligten (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE Ministerien, nämlich das Bundesfinanzministerium und GRÜNEN]: Sehr nötig!) das Bundesjustizministerium – einen Meilenstein vorge- Wir haben die Möglichkeit, bei der Restrukturierung legt. Das ist nicht nur ein Mosaikstein, sondern man kann und Reorganisation als öffentlicher Eingriff – das ist er- hier betonen, dass das wirklich ein aus den Erfahrungen klärt worden – das, was man als überlebensfähig ansieht, aus der Finanzmarktkrise und der Wirtschaftskrise ge- wiederum begleitet durch den Restrukturierungsfonds, wonnener Meilenstein dafür ist, wie man zukünftig die zu privatisieren oder, wenn man es öffentlich gestaltet, (B) Restrukturierung von Banken und Finanzinstituten be- durch eine sogenannte Brückenbank auf den Weg zu (D) treiben kann, was bisher im Grunde nicht möglich war. bringen. Aber eine Begleitung des Restrukturierungs- Das soll in einem geordneten Verfahren auf den Weg ge- fonds ist immer erforderlich. Diesen Widerspruch müs- bracht werden. sen Sie auflösen. Sie sagen: Die beteiligten Banken und Von daher ist das ein sehr anspruchsvoller Gesetzent- manche Bankengruppen müssen nicht dazugehören, weil wurf, weil es – das ist nie so betrachtet worden – einen sie nichts verursacht haben. Aber hier geht es um Prä- Unterschied darstellt, Herr Kollege Zöllmer, ob man ver- vention, also darum, etwas für die Zukunft zu machen, sucht, einen Gewerbebetrieb oder ein Industrieunterneh- und nicht darum, die Vergangenheit zu betrachten. men gemäß der Insolvenzordnung zu restrukturieren, zu Die Betrachtung der Vergangenheit zeigt: Es ist aus sanieren oder sogar zu reorganisieren, oder ob es sich verfassungsrechtlichen Gründen sehr schwierig, die Ver- dabei um ein Finanzinstitut handelt. ursacher der Krise heranzuziehen, weil der Umfang der Der große Unterschied ist, dass Sie bei einem Finanz- Beteiligung nicht so genau bestimmt werden kann, dass institut weiterhin die Zahlungsströme zwischen den Ban- es verfassungsrechtlich fest ist. Herr Kollege Sieling, ken ermöglichen müssen, was Sie in einem normalen durch das Gremium, dem wir beide angehören, dem Verfahren bei einem gewerblichen Betrieb nicht müssen. SoFFin-Ausschuss, ist Ihnen bekannt, dass wir im End- Dort können Sie einen Cut machen und bewerten, wie effekt erst dann wissen werden, was vom Volumen her die Sache aussieht, aber für die Vernetzung der Institute verursacht worden ist, wenn wir in 20, 25 Jahren den – es geht um die Restrukturierung von systemischen Schlussstrich gezogen haben. Banken – brauchen Sie zur Begleitung einen Restruktu- Deshalb ist es konsequent, einen anderen Weg zu ge- rierungsfonds, und ein Restrukturierungsfonds ist etwas hen. Wir handeln präventiv. Neben den Aspekten, die im anderes als ein Rettungsfonds. Diesen Unterschied muss Restrukturierungsgesetz enthalten sind, haben wir vor- man sehen. Ich stimme allen Rednern zu: Sie können nie gesehen, Maßnahmen nach dem Finanzmarktstabili- einen Rettungsfonds in einer Größenordnung generieren, sierungsgesetz und insbesondere nach dem Finanzmarkt- der ausreicht, um eine große, systemische Bank zu ret- stabilisierungsfondsgesetz in die neue Regelung zu ten. übernehmen, wodurch begleitend Garantien übernom- (Nicolette Kressl [SPD]: Das tragen dann die men und Rekapitalisierungen durchgeführt werden kön- Steuerzahler!) nen. – Nein, Frau Kollegin Kressl, das wird nicht möglich Das, was hier vorgelegt worden ist, ist die richtige sein; so viel Volumina kann man nicht generieren. Des- Konsequenz aus den Verwerfungen, die wir auf dem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6685

Leo Dautzenberg (A) Finanzmarkt hatten, aus Bankenrettungswochenenden, Der Irrtum liegt bei Ihnen. Sie setzen nicht um, was die (C) die wir so nicht mehr haben wollen. Vor allen Dingen Kanzlerin den Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands sorgen wir dafür, dass der Steuerzahler zwar nicht völlig zugesagt hat. Das ist ein Widerspruch, den Sie auflösen verschont wird, er aber zumindest nicht immer der Erste müssen. Irgendeine Seite hat die Unwahrheit gesagt, ist, der herangezogen wird, wenn Banken in eine Schief- oder Sie ändern etwas an dem Gesetz. lage geraten. Deshalb freue ich mich auf die Beratungen. Es ist natürlich richtig, dass diese Bankenabgabe nie Vielen Dank. und nimmer diese Aufgabe erfüllen kann. Sie legen ein Modell vor, wonach 1 Milliarde Euro pro Jahr erzielt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden soll.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Björn Sänger [FDP]: 1,2 Milliarden!) Der Kollege Dr. Carsten Sieling spricht jetzt für die – 1,2 Milliarden Euro. Sie sind noch stolzer. – Dabei ist SPD-Fraktion. das Jahr 2006 Ihr Referenzjahr. Mich hat interessiert, warum Sie das Jahr 2006 als Referenzjahr nehmen. Weil (Beifall bei der SPD) es vor der Krise liegt? Ich habe nachgefragt. Das Bun- desfinanzministerium hat geantwortet, dass es, hätte man Dr. Carsten Sieling (SPD): als Referenzjahr 2009 gewählt, 500 Millionen Euro ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wesen wären, beim Referenzjahr 2008 nur 300 Millio- In dieser Debatte hat zuerst der Herr Staatssekretär von nen Euro. Selbst Ihre 1,2 Milliarden Euro sind noch „Gesamtkunstwerk“ gesprochen und dann hat Herr hochgegriffen. Sänger diesen Begriff herausgearbeitet. Ich habe mir die (Beifall bei der SPD) Mühe gemacht und schnell einmal nachgeschaut, was man unter einem Gesamtkunstwerk versteht. Dies ist eine weitere Mogelpackung. Der Staatssekretär hat vorhin gesagt, die Bankenabgabe solle dazu dienen, (Björn Sänger [FDP]: Wussten Sie das vorher im Falle einer Krise den Steuerzahler nicht wieder he- nicht?) ranziehen zu müssen. Dieser Aussage ist Herr Kollege – Das wusste ich natürlich, aber wenn Sie die genaue Sänger – das war mein Lieblingsoppositionsredner in Definition hören, dann werden Sie besonders erfreut dieser Debatte; das muss ich gestehen – direkt entgegen- sein. – Das ist ein Werk verschiedener Künste. Dazu ge- getreten. Einigen Sie sich in Ihrer Koalition, was Sie hört die Musik, aber auch die Dichtung, Herr Kollege. wirklich wollen. (B) (Heiterkeit bei der SPD) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das machen (D) wir schon, Herr Kollege!) Weiterhin gehören dazu Tanz, Pantomime und ein biss- chen Malerei. Herr Dautzenberg, ich komme jetzt zu Ihnen. Sie ha- ben alle Illusionen, Erwartungen und Hoffnungen, die es (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: in der Bevölkerung, in der Politik und in der Branche Na, dann fangen Sie mal an!) gab, zerstreut, indem Sie gesagt haben, das sei kein Ret- Schauen wir uns aber einmal die Bewertung an. So sagt tungsfonds, sondern es handele sich um eine Restruktu- zum Beispiel Odo Marquard, dass das Gesamtkunstwerk rierungsmaßnahme. eine „Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästheti- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist ein schem Gebilde und Realität“ habe. Unterschied!) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Ich bezweifele, dass Restrukturierungen in einem größe- ren Ausmaß mit Einnahmen in Höhe von 1 Milliarde Wenn Sie das auf Ihren Gesetzentwurf anwenden, dann Euro pro Jahr finanzierbar sind. Selbst wenn Sie diese kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch! Summe einnehmen, dauert es viele Jahre, bis der Fonds Aber wir sind hier in einer Diskussion, in der wir überhaupt wirksam werden kann. Es kommt doch nicht ernsthaft prüfen müssen, was von den Ansprüchen, die von ungefähr, dass der IWF, der Internationale Währungs- formuliert worden sind, eigentlich bleibt. Die Kanzlerin fonds, eine Bankenabgabe vorschlägt, die 2 bis 4 Prozent – Herr Kollege Dautzenberg, ich glaube, das betrifft ins- der Wirtschaftsleistung eines Landes ausmacht. Das wä- besondere Ihre Aussagen, aber auch die von Herrn ren 40 Milliarden bis 60 Milliarden Euro. Sänger – hat hier an dem Tag, an dem sie den Bundes- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Als Rettungs- haushalt 2011 vertreten hat, gesagt, die Bankenabgabe fonds, ja!) diene dazu, den Steuerzahler zu verschonen und die Banken heranzuziehen. Sie sagen, das könne die Ban- Die Issing-Kommission, auf die Sie sich in Ihrem Ge- kenabgabe gar nicht leisten. Herr Sänger spricht von setzentwurf durchaus beziehen, spricht von 120 Milliar- dem ersten großen Irrtum, den man sehen werde. den Euro. Das ist immerhin eine Regierungskommission – ich bitte Sie! –, die spricht von 120 Milliarden Euro. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: „Verschonen“ Das ist alles nichts. ist etwas anderes als „nicht in Anspruch neh- men“! Wenn Sie zugehört hätten, wäre Ihnen Zum Schluss möchte ich hier darauf hinweisen, dass das aufgefallen, Herr Kollege!) die weitere Debatte ja noch erbringen wird, dass nicht al- 6686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Dr. Carsten Sieling (A) lein wir die Gegenargumente, die hier von den Kollegen, wir wollen die Banken da fangen, wo sie im Grunde ge- (C) die das im Vorfeld kritisch sehen, formuliert worden nommen schon in der Anlage ihres Geschäftsmodells ei- sind, vorbringen. Ich habe hier die Stellungnahmen des nen Fehler begehen und über die Aufsicht korrigierend Landes Hessen vorliegen. Herr Sänger, da sind Ihre Par- eingreifen. teifreunde in der Regierung. Dann habe ich hier die Stel- lungnahme Baden-Württembergs. Auch da sind Ihre Par- Das ist der zentrale Gedanke des Gesetzes. Der Ge- teifreunde in der Regierung. Beide Länder sagen sehr setzgeber greift hier den Gedanken der Haftung anders eindeutig: Das Ganze ist falsch konzipiert, weil die Spar- auf, weil es sich gerade in der Finanzkrise gezeigt hat, kassen und die Genossenschaftsbanken beigezogen sind; dass man eine systemrelevante Bank nicht vom Markt das solle man ändern. nehmen kann, ohne große Verwerfungen zu riskieren. Weil wir das klassische Haftungsprinzip, das wir haben, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Warten Sie nicht an der Stelle verwirklichen können, wo es sich in doch unsere Beratungen ab!) der normalen Wirtschaft verwirklicht, nämlich in der In- solvenz, sagen wir: Es verwirklicht sich dadurch, dass Sie kritisieren die Sache mit der Förderbank. Klären Sie wir früh eingreifen, früh gegensteuern. Deswegen ist die erst einmal die Sichtweise in Ihrem eigenen Lager, bevor zentrale Vorschrift, die der Gesetzgeber hier aufgenom- Sie hier herkommen und uns mit Gesetzesvorschlägen, men hat, § 45 KWG. die Sie hinterher bei Ihren eigenen Leuten nicht umset- zen können, die Zeit rauben. Meine Damen und Herren, Wenn man sich den anschaut, Herr Kollege, dann er- Sie haben viel zu tun. Ich freue mich auf die Ausschuss- schließt sich ein Stück weit das Kunstwerk – um bei dem beratungen. Begriff zu bleiben –, das hier vorgelegt worden ist. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Der zweite Punkt, über den man auch zu reden hat, ist das Sanierungsverfahren und das Reorganisationsverfah- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ren, das in Art. 1 des Gesetzentwurfs vorangestellt wird. Christian Ahrendt hat das Wort für die FDP-Fraktion. Damit geben wir Banken ein konkretes Handlungswerk- zeug an die Hand, um in einem Sanierungsverfahren selbst aus der Krise herauszukommen. Da gibt es sicher- Christian Ahrendt (FDP): lich in den Beratungen den einen oder anderen Pinsel- Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kol- strich, den man an dieser Stelle noch leisten muss. leginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege (B) Sieling, das Gesamtkunstwerk erschließt sich oftmals Wir werden uns fragen müssen, ob wir den Begriff (D) nur dem sachkundigen Betrachter. Heute waren Sie mit der Sanierungsbedürftigkeit so stehen lassen, wie er da Ihrer Rede zumindest kein sachkundiger Betrachter des- steht, nämlich ohne Definition, und ob wir es wirklich sen, was die Bundesregierung hier vorgelegt hat. auf eine Freiwilligkeit ankommen lassen oder ob wir hier sagen: Wir werden die Sanierungsbedürftigkeit auch Lassen Sie mich auf zwei Dinge hinweisen. Mit dem an dieser Stelle des Gesetzes definieren und werden sie Restrukturierungsgesetz, das vorgelegt worden ist, reagiert an konkretere Handlungsfolgen und Tatbestände an- die Bundesregierung binnen Jahresfrist sehr erfolgreich knüpfen. Damit wird man sich auseinandersetzen müs- auf eine Krise, die gezeigt hat, dass wir keinen vernünfti- sen. Die Gesetzesberatungen sind ein parlamentarisches gen Ordnungsrahmen haben, um die Finanzmarktunruhen, Verfahren, und wir werden in diesem Verfahren noch die wir erlebt haben, in den Griff zu bekommen. Man diejenigen Pinselstriche ziehen, die erforderlich sind, um kann jetzt sagen, das Gesetz reiche nicht aus. Das kann ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. man aber nur tun, wenn man es nicht gelesen hat. An dieser Stelle werden wir auch den Haftungsgedan- Der zentrale Gedanke dieses Gesetzes ist es, im Vor- ken verwirklichen, sowohl mit Blick auf das Institut und feld einer Bankenkrise die Krise in den Griff zu bekom- seine Aktionäre als auch mit Blick auf die im Institut men. verantwortlich handelnden Vorstände und Aufsichtsräte. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es! Das erreichen wir damit, dass wir die Verjährungsfrist so Richtig!) weit verlängern, dass es auch im Nachhinein möglich ist, über entsprechende Aufklärungen seitens der Staatsan- Wenn man das erkennen will – man erkennt es; weil es waltschaften und seitens der Bankenaufsicht Sachver- immer schon so war, mit einem Blick ins Gesetz; denn halte aufzuarbeiten, die haftungsrechtlich und strafrecht- ein Blick ins Gesetz erhöht die Rechtskenntnis –, dann lich verfolgt werden müssen. schaut man sich im Entwurf den § 45 KWG an. Da wer- den Sie als Erstes lesen, dass der Eingriffszeitraum bei Lassen Sie uns vernünftig in die Beratungen eintreten. Bankkrisen für die Bankenaufsicht nach vorn verlegt Sie sind eingeladen, sich einzubringen. Dazu müssen Sie worden ist. Sie werden als Zweites lesen, dass Sie ein aber mehr leisten als das, was Sie heute geleistet haben. zweites Eingriffsszenario haben, wenn Eigenmittel kon- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. kret gefährdet sind und die Liquidität gefährdet ist. Dann sieht das Gesetz in § 45 Abs. 2 Nr. 7 bereits einen Re- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – strukturierungsplan vor. Wir sehen auch beim Sonderbe- Nicolette Kressl [SPD]: Oberlehrer war er im- auftragten, § 45 c, einen Sanierungsplan vor. Das heißt, mer gern!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6687

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: eingesetzt; aber es wird noch nicht in Rechte Dritter ein- (C) Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für gegriffen. Reicht das nicht, dann steht systemrelevanten die CDU/CSU-Fraktion. Banken das Reorganisationsverfahren offen. Dieses Ver- fahren ist in Anlehnung an das Insolvenzplanverfahren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- entwickelt worden. Dabei ist zum ersten Mal ein Dept- neten der FDP) to-Equity Swap vorgesehen. Dadurch werden die Rechte der Aktionäre einbezogen. Damit einher geht ein ge- Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): straffter, das ganze Verfahren nicht aufhaltender Rechts- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! Im schutz für diejenigen Gläubiger und Aktionäre, die den Rückblick können wir heute sicherlich sagen, dass wir Plan nicht mittragen wollen. Sie können außerhalb des ganz gut durch diese Krise gekommen sind, auch wenn Verfahrens geltend machen, dass ihre Anteile ohne Re- wir vielleicht noch nicht so ganz an Schmitz Backes vor- organisation mehr wert gewesen wären. bei sind, wie man im Rheinland sagt. Aber vorläufig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) können wir sagen, dass Schlimmeres verhütet worden ist. In die Rechte von Arbeitnehmern, Herr Zöllmer, wird an dieser Stelle ganz bewusst nicht eingegriffen. Weder Diese Krise hat Schwächen des Systems offengelegt. die Entgelte noch die Ansprüche aus Altersversorgungen Sie hat vor allem gezeigt, dass die Chance auf Gewinne werden berührt. Es handelt sich nämlich nicht um ein In- auf der einen Seite und die Risiken, zu denen es kommt, solvenzverfahren; deshalb gibt es auch kein Insolvenz- wenn sich Verluste einstellen, auf der anderen nicht zu- ausfallgeld und dergleichen. Das ist hier völlig außen sammenpassen. Hohe Renditen waren die Grundlage für vor. Es geht darum, die Hauptgläubiger in das Sanie- hohe Dividenden und hohe Boni. Solange die Renditen rungsverfahren einzubeziehen. hoch waren, waren sie etwas Gutes. Als sich dann aber Verluste realisiert haben, ging es darum, wer sie trägt. Beide Verfahren sind Angebote an die Kreditinstitute. Das musste vom Staat übernommen werden, um Schlim- Wer sie nicht nutzt, der soll es eben bleiben lassen, darf meres zu verhindern. Was hier getrennt worden ist, das sich dann aber nicht beschweren, wenn zum Schwert der muss wieder zusammengefügt werden. Die Verbindung aufsichtsrechtlichen Maßnahmen gegriffen wird. Das von Chancen und Risiken ist ein Grundsatz unserer so- Ganze bringt Haftung und Verantwortung, Chancen und zialen Marktwirtschaft. Chancen und Risiken sind zwei Risiken wieder ein Stück weit zusammen. Seiten derselben Medaille. Das muss auch für Banken gelten, insbesondere für sehr große, systemrelevante. Ich will noch kurz auf die Verlängerung der Verjäh- rungsfrist eingehen. Die Bankenkrise – ich denke, das (B) Wenn wir an den Februar 2009 zurückdenken, erin- hat sich gezeigt – beruhte nicht nur auf einem kollekti- (D) nern wir uns, dass die Aktionäre der HRE damals nicht ven Irrtum, auf irgendeinem Hype, der für den Einzelnen sehr kooperativ waren; vielmehr haben sie versucht, ihre nicht durchschaubar war. Hier haben auch einzelne fast wertlosen Anteile möglichst teuer zu verkaufen. Sie Bankmanager individuelle Fehlentscheidungen getrof- haben ihr erpresserisches Potenzial ganz bewusst auszu- fen, die ihnen vorzuwerfen sind. Wir sehen, dass einige nutzen versucht und darauf spekuliert, dass der Staat für den Papieren von Anfang an nicht getraut haben, die sich sämtliche Verluste aufkommt. „Too big to fail“, das war hinterher als riskant erwiesen haben. Einige haben die Hoffnung, die sich damit verband. Um dem entge- schnell bemerkt, dass Subprime kein besonderes Quali- genzuwirken, war es sehr wichtig und notwendig, dass tätssiegel ist. Andere haben es erst bemerkt, als es zu wir eine klare gesetzliche Regelung schaffen, durch die spät war. Diese Fehler wurden vor allem in den Jahren der Aufsichtsbehörde ein effektives Eingriffsverfahren 2006 und 2007 gemacht und zeigten sich dann in der ermöglicht wird, sodass Gefahren für den gesamten Bankenkrise im Jahr 2008. Geldverkehr abgewendet werden können. Hier ist noch vieles aufzuklären, sowohl in tatsächli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und cher als auch rechtlicher Hinsicht. Es müssen noch Maß- der FDP) stäbe entwickelt werden, anhand derer man beurteilen Ein solches Verfahren ist aber nur die Ultima Ratio. kann, was nun vorwerfbar war und was nicht vorwerfbar war. Bei der IKB warten wir immer noch auf das Ergeb- Uns geht es jetzt darum, den Banken und ihren Aktio- nis einer Sonderprüfung, die bereits im Jahr 2008 in nären – sozusagen als Prima oder Secunda Ratio – zu- Auftrag gegeben worden ist und sich natürlich auf die sätzlich die Möglichkeit einzuräumen, im Vorfeld von Jahre davor bezieht. Wenn noch geprüft wird, ob Haf- aufsichtsrechtlichen Maßnahmen und einer möglichen tungstatbestände erfüllt sind, können wir nicht gleichzei- Insolvenz durch eigene Initiative eine Sanierung oder tig zuschauen, wie die Verjährung nach fünf Jahren ein- Reorganisation vorzunehmen. Das erfordert der Grund- tritt. Es kann nicht sein, dass wir Verjährung eintreten satz der Verhältnismäßigkeit. Man sollte nicht immer lassen, während die Sache noch geprüft wird. gleich mit dem schärfsten Schwert kommen, sondern zu- vor, wenn das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen An dieser Stelle müssen wir schauen, ob das so, wie ist, andere Möglichkeiten ausschöpfen. es im Gesetzentwurf steht, richtig ist, ob das wirklich die Sache trifft oder ob das vielleicht über das hinausgeht, Auf der ersten Stufe soll ein Sanierungsverfahren ste- was wir wollen. Ob die Regelungen zur Beweislast ge- hen, das die Bank im Zusammenspiel mit der BaFin und ändert werden müssen, werden wir noch prüfen. Auch dem OLG einleiten kann. Ein Sanierungsberater wird die Fristen zur Aufbewahrung, der direkte Anwendungs- 6688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) bereich und dergleichen sind zu prüfen. Das alles kann gen müssen wir auch einmal Gas geben und zusehen, (C) man im Detail noch ändern und prüfen. dass die anderen hinter uns herkommen; denn anders funktioniert das nicht. Das ist die Erfahrung, die wir in Die Botschaft im Hinblick nicht nur auf die Sachver- Europa gemacht haben. halte der Vergangenheit, sondern auch auf die Zukunft muss klar lauten: Der Zusammenhang zwischen Chan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) cen und Risiken sowie die Verantwortung für das, was der Einzelne auf jeder Ebene tut, werden wieder in den Ein weiterer Punkt, der bemerkenswert ist, ist der Re- Vordergrund gestellt. strukturierungsfonds. Die Banken werden an den Kosten zukünftiger Krisen beteiligt. Um gleich einmal mit zwei Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Irrtümern aufzuräumen: Es geht um die Kosten zukünfti- ger Krisen. Insofern läuft die Argumentation, man habe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit der alten Krise nichts zu tun, völlig ins Leere. Die ist schlicht und einfach falsch. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Ralph Brinkhaus spricht für die CDU/ (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sehr CSU-Fraktion. richtig! Genau!) (Beifall bei der CDU/CSU) Der zweite Irrtum ist, zu sagen: Ich bin zu klein; ich bin nicht systemisch; ich habe damit nichts zu tun. – Fra- gen Sie doch einmal bei den Volksbanken und Sparkas- Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): sen nach, wie viele Hypo-Real-Estate-Papiere in deren Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Depots gelegen haben! Fragen Sie einmal diese Banken, möchte daran erinnern, dass dies der fünfte Gesetzent- welche Geschäfte sie gemacht haben! Fragen Sie doch wurf zur Bankenregulierung im weiteren Sinne ist, den einmal die größeren Banken, ob es Schieflagen in die- wir, die Koalitionsfraktionen bzw. die Regierung, inner- sem Bereich gegeben hat oder ob alles glattgegangen ist! halb eines Jahres vorlegen. Wir haben einen Gesetzent- Vor diesem Hintergrund kann ich nicht verstehen, dass wurf zum Rating und einen Gesetzentwurf zur Vergü- immer wieder darauf insistiert wird, dass einige Banken tungspolitik vorgelegt. damit nichts zu tun gehabt hätten. Das ist meines Erach- (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tens schlichtweg falsch. NEN]: Das war eine EU-Vorgabe!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir haben Regelungen zu Leerverkäufen und Regelun- Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen zur Verbriefung im Zusammenhang mit der Umset- NEN]: Das gilt auch für Versicherungen!) (B) (D) zung der Kapitaladäquanzrichtlinie geschaffen. Dieses Gesetz ist nicht nur bemerkenswert, sondern Heute haben wir ein wahnsinnig ambitioniertes Pro- es ist auch wahnsinnig anspruchsvoll. Dieses Gesetz ist gramm auf den Weg gebracht, das wirklich bemerkens- deswegen so anspruchsvoll – vor diesem Hintergrund wert ist. Es ist bemerkenswert, weil wir in der Regulie- freue ich mich, dass hier auch die Kollegen vom Rechts- rungssystematik zum ersten Mal vom Ende her ausschuss und aus dem Bereich Arbeitsmarktpolitik sit- angreifen. Das heißt, wir akzeptieren mit diesem Gesetz, zen –, weil es Bankenrecht mit Insolvenzrecht, mit Ge- dass es möglich ist, dass Banken scheitern, dass betriebs- sellschaftsrecht und mit Arbeitsrecht verknüpft. Das ist wirtschaftliche Konzepte von Banken scheitern. Wir ver- ein wahnsinnig ambitioniertes Projekt. Es ist auch des- suchen nicht wie bei anderen Konzepten, ein Scheitern wegen ein so wahnsinnig ambitioniertes Projekt, weil es von vornherein durch mehr Eigenkapital, durch mehr Li- notwendig ist, dass dieses Projekt von Anfang an fliegt. quidität, durch eine bessere Transparenz oder durch das Es muss deswegen fliegen, weil die Mechanismen des Verbot von bestimmten Geschäften zu verhindern. Es ist Gesetzes in einer akut brennenden Krise eingesetzt wer- wirklich bemerkenswert, dass wir das so frühzeitig anpa- den. Um bei dem Bild „brennende Krise“ zu bleiben: cken, weil es ein ganz komplizierter Gesetzentwurf ist. Eine Feuerwehr muss sich darauf verlassen können, dass Meine Damen und Herren von der Opposition, ich hätte ihre Ausrüstung funktioniert, wenn es brennt. Deswegen mir gewünscht, dass das in dem ein oder anderen Wort- würde ich mich sehr darüber freuen, wenn wir uns bei beitrag einmal zum Ausdruck gekommen wäre; denn bei den Diskussionen, die wir führen, nicht immer nur am allen Unterschieden, die uns trennen, ist das wirklich Thema Bankenabgabe festbeißen würden. Ich würde viel eine gute Sache. Es lohnt sich, gemeinsam für dieses lieber mit Ihnen darüber diskutieren, ob das Gesetz tech- Projekt zu arbeiten. nisch funktioniert, ob die Abläufe und die Verknüpfun- gen passen. Dazu, Herr Sieling, muss man ein Gesetz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aber auch lesen. Dazu reicht es nicht, immer nur darauf Es ist ein bemerkenswertes Projekt, weil wir damit in- herumzuhauen. ternational eine Vorreiterrolle einnehmen. Es gibt das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – eine oder andere Land, das ebenfalls Regelungen in die- Manfred Zöllmer [SPD]: Na, na!) sem Bereich erarbeitet. Wir werden aber dafür kritisiert, dass wir nicht EU-weit abgestimmt vorgehen, sondern Vor diesem Hintergrund sollten wir in den Diskussio- dass wir vorangehen. Wir sind auch bei den Leerverkäu- nen, die wir jetzt führen werden, nicht mit der Frage be- fen vorangegangen. Vorangehen ist manchmal wichtig. ginnen, ob die Bankenabgabe einen Euro höher oder Wir sind die größte Volkswirtschaft in Europa. Deswe- niedriger sein sollte – das wäre völlig verfehlt und ginge Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6689

Ralph Brinkhaus (A) völlig am Thema vorbei –, sondern wir sollten schauen, – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta (C) ob wir hier einen Mechanismus haben, um in Krisen pro- Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, aktiv Reorganisations- und Sanierungsverfahren oder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, Übertra- LINKE gungsverfahren einleiten zu können. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Das empfehle ich auch dem einen Lohndumping verhindern – Leiharbeit oder anderen Verbandsvertreter, statt sich immer wieder strikt begrenzen nur auf den genannten Kritikpunkt zu konzentrieren. – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Kerstin (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. Carsten Sieling [SPD]: Der eine oder an- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dere? Das sind fast alle!) Zeitarbeitsbranche regulieren – Missbrauch Ich möchte noch etwas anmerken, das ebenfalls sehr bekämpfen bemerkenswert ist. Wir haben jetzt vor, eine Vorgehens- weise zu verankern, die wir bislang noch nie gewählt ha- – Drucksachen 17/1155, 17/426, 17/551, 17/3082 – ben. Wir sehen – meine Kollegin Winkelmeier-Becker Berichterstattung: hat es erklärt – für Reorganisationsverfahren erstmals Abgeordnete Jutta Krellmann den Dept-to-Equity Swap vor. Das bedeutet, dass zum ersten Mal auch die Gläubiger in Anspruch genommen Es ist vorgesehen, hierüber eine Dreiviertelstunde zu werden. Bei allen Regulierungsmaßnahmen haben wir debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Wider- bisher immer eine Gruppe geschützt, nämlich die Gläu- spruch. Dann ist das so beschlossen. biger. Sie konnten davon ausgehen, dass, egal was pas- siert, entweder die Sicherungssysteme greifen oder, Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung wenn diese nicht funktionieren, der Staat eingreift. Ich hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär finde, das war nicht fair. Es lohnt daher, den im Gesetz- Dr. Ralf Brauksiepe. entwurf enthaltenen Gedanken, auch den Gläubiger in einem geordneten Verfahren einzubeziehen, weiter zu Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der verfolgen und über ihn an der einen oder anderen Stelle Bundesministerin für Arbeit und Soziales: zu diskutieren. Für wirtschaftliches Handeln trägt immer Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! derjenige die Verantwortung, der handelt. Wenn wir in Wir debattieren heute über drei Anträge der Opposi- vielen anderen Bereichen wie bei Hartz IV erwarten, tionsfraktionen zum Thema Zeitarbeit. Dies gibt mir die (B) dass die Menschen die Konsequenzen ihres wirtschaftli- Gelegenheit, darzustellen, welche Initiativen die Bun- (D) chen Handelns übernehmen und sich nicht einer Vollkas- desregierung zu diesem Thema ergriffen hat und weiter komentalität hingeben, dann müssen wir das auch im plant. Daraus ergibt sich, warum uns die Anträge der Bankenbereich verlangen. Oppositionsfraktionen nicht überzeugen können. Ich bin der Meinung, dass es durchaus der Sache wert Bei guter Politik geht es darum, Probleme zu erken- ist, über diesen Gesetzentwurf weiter sachlich zu disku- nen und zu benennen, dann entschlossen zu handeln und tieren und an der Technik zu feilen. Sie sollten anerken- zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun. Im Januar nen, dass dieser Gesetzentwurf insgesamt gelungen ist. dieses Jahres war der richtige Zeitpunkt für das ent- Er stellt einen epochalen Schritt, einen Quantensprung schlossene Einschreiten unserer Arbeitsministerin dar. Dafür herzlichen Dank an die Bundesregierung und Dr. im Fall Schlecker. Sie hat klar alle Beteiligten. und deutlich gesagt, dass die bekannt gewordenen Prak- tiken dieses Drogeriediscounters nicht hinnehmbar sind, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und hat die Firma damit zu einem schnellen Einlenken bewogen. Das war das richtige Regierungshandeln zur Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: richtigen Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, den Wir haben damit gleichzeitig eine umfassende Dis- Gesetzentwurf auf Drucksache 17/3024 an die in der Ta- kussion über das Thema Zeitarbeit angestoßen, wie sie gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. in dieser Tiefe bisher noch von keiner Regierung geführt Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann worden ist. Der bestehende gesetzliche Rahmen in die- ist die Überweisung so beschlossen. sem Bereich stammt noch aus der Zeit der rot-grünen Regierung und ist im Wesentlichen auch konstant. Im Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 28 auf: Zuge dieser Diskussion sind verschiedene Vorschläge Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- von verschiedenen Seiten erarbeitet worden. Dabei geht richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales es uns allerdings auch darum, dass wir Entscheidungen (11. Ausschuss) über Gesetzesänderungen nicht auf der Grundlage von Stimmungen und Einzelfällen treffen, – zu dem Antrag der Fraktion der SPD (Katja Mast [SPD]: Schlecker ist kein Fairness in der Leiharbeit Einzelfall!) 6690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe (A) sondern dass wir zum richtigen Zeitpunkt die richtigen und nach kurzer Zeit in dem Unternehmen, das sie ent- (C) Vorschläge machen, die zu einer sachgerechten Weiter- lassen hat, oder in einem anderen Unternehmen aus dem entwicklung auf dem Gebiet der Zeitarbeit führen. Konzernverbund am gleichen Arbeitsplatz zu deutlich schlechteren Bedingungen als Zeitarbeitnehmerinnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Zeitarbeitnehmer wieder eingestellt werden. Das ist Die Fakten zeigen, dass Zeitarbeit für Menschen, die nicht Sinn und Zweck der Zeitarbeit. Zu dem, was die sonst schlechte Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt Tarifvertragsparteien gemacht haben, kommt jetzt eine hätten, Brücken in Arbeit baut. Dies wird auch aus dem Gesetzgebungsinitiative hinzu: Wir flankieren gesetz- Elften Bericht der Bundesregierung zur Arbeitnehmer- lich, dass Missbrauch in der Zeitarbeit verhindert wird. überlassung deutlich. Die Fakten, die dort aufgeführt (Beifall bei der CDU/CSU) werden, zeigen, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass das wichtige arbeitsmarktpolitische Instrument Zeitar- Wir nehmen das noch zu verabschiedende Gesetz beit diskreditiert wird; denn es hat seine gute Berechti- zum Anlass, in diesem Zusammenhang bereits die soge- gung auf dem Arbeitsmarkt. Die Bundesregierung steht nannte Leiharbeitsrichtlinie der Europäischen Union hier als Institution in bester Kontinuität zur Politik, die umzusetzen. Der Umsetzungsbedarf ist zwar nicht groß, die Vorgängerregierungen in der Vergangenheit – auch aber auch kleine Zeichen sind manchmal wichtig. Es ist mit Unterstützung anderer Koalitionsfraktionen – ge- beispielsweise nicht nachvollziehbar, dass Zeitarbeitneh- macht haben. Wir verstecken uns nicht. Wir brauchen merinnen und Zeitarbeitnehmer in den Entleihbetrieben uns für das, was wir gemacht haben, nicht zu entschuldi- keinen Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen haben. gen. Die Bundesregierung steht in Kontinuität zum In- Wenn es eine Betriebskantine für die Stammarbeitneh- strument der Zeitarbeit genauso wie zur Missbrauchsbe- mer gibt, dann macht es Sinn, dass diese auch von den kämpfung in der Zeitarbeit. Beides gehört zusammen, Zeitarbeitnehmern genutzt werden kann. liebe Kolleginnen und Kollegen. (Katja Mast [SPD]: Die brauchen gleiches (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Geld für gleiche Arbeit!) Wir haben deshalb mit allen Partnern in der Branche – Darüber ist bei der Erarbeitung der Leiharbeitsrichtlinie mit Gewerkschaften, mit Arbeitgeberverbänden, mit den verhandelt worden. Auch das werden wir umsetzen. Wo Zeitarbeitsunternehmen genauso wie mit den Unterneh- konkreter Handlungsbedarf besteht, da handeln wir. men, die Zeitarbeit nutzen – darüber gesprochen, wie ein (Beifall bei der CDU/CSU) Missbrauch in der Zeitarbeit verhindert werden kann. Wir haben nicht nur das getan, sondern wir haben als Gleichzeitig – da liegt der Unterschied zu den Anträ- gen der Opposition – wissen wir um die Bedeutung der (B) Bundesregierung parallel dazu die Bundesagentur für (D) Arbeit, die das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz durch- Zeitarbeitsbranche für den Arbeitsmarkt. Man soll sie führt, aufgefordert, das Personal für diesen Bereich auf- aber nicht überbewerten. Es haben in dieser Branche zustocken. Dies ist mittlerweile umgesetzt, und die – auch das kann man in unserem Bericht nachlesen – geschulten Kräfte arbeiten seit Mitte Juli in den zustän- bundesweit nie mehr als 2,6 Prozent der Beschäftigten digen Regionaldirektionen der Bundesagentur für Ar- gearbeitet. Daher kann man nicht sagen, dass diese Bran- beit. Das heißt, dass jetzt rund 100 Mitarbeiterinnen und che, was die Beschäftigtenzahlen angeht, an der Spitze Mitarbeiter – 30 Prozent mehr als zuvor – für die Ertei- liegt. Trotzdem sollte man sie wichtig nehmen. lung der Verleiherlaubnisse und für die Prüfung der Zeit- Uns geht es darum, die Leiharbeitsbranche nicht zu arbeitsunternehmen zuständig sind. Wir wissen: Wo es verteufeln, sondern an den Stellen etwas zu tun, an de- Probleme gibt, muss auch gehandelt werden. Davor ver- nen Handlungsbedarf besteht. Im Interesse der Men- schließen wir nicht die Augen. Wir haben gehandelt. Das schen, die gering qualifiziert sind, die schon lange ohne war unsere Aufgabe, der wir nachgekommen sind, liebe Arbeit sind oder die vielleicht noch nie gearbeitet haben, Kolleginnen und Kollegen. müssen wir die Chancen nutzen, die die Zeitarbeit bietet. Deswegen geht es darum, sachgerecht und zum richtigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Zeitpunkt das Notwendige zu tun. Das tut die Bundes- rufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE regierung. Für diesen Kurs bitten wir um Unterstützung. GRÜNEN) Vielen Dank. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir auch zu gesetzlichen Regelungen kommen, um die schwarzen Schafe in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Branche, die es in der Zeitarbeit genauso wie anderswo gibt, in die Schranken zu weisen. Die Bundesregierung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: begrüßt ausdrücklich, dass die Tarifvertragsparteien in Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Katja Mast das ihren Tarifvertragswerken Vorkehrungen getroffen ha- Wort. ben, um einen Fall wie Schlecker in Zukunft zu verhin- dern. Unsere sorgfältigen Prüfungen im Ministerium ha- (Beifall bei der SPD) ben ergeben, dass es über diese begrüßenswerten Initiativen der Tarifvertragsparteien hinaus notwendig Katja Mast (SPD): ist, dies auch gesetzlich zu flankieren, damit es künftig Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- keinen Drehtüreffekt mehr derart geben kann, dass Ar- gen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Brauksiepe, es beitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen werden geht bei der Regulierung von Leiharbeit nicht um die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6691

Katja Mast (A) Möglichkeit, in den gleichen Kantinen zu essen, sondern arbeit nutzen, um bestehende Stammarbeitsplätze durch (C) es geht um gleiches Geld für gleiche Arbeit. prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu ersetzen. Für Sie ist das kein Problem. Sie sagen, man müsse da nicht ge- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) setzgeberisch handeln. Ich sage Ihnen: Wir müssen ge- Wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern vormachen, es setzgeberisch handeln; wir brauchen faire Regeln in der gehe ausschließlich um die Nutzung von Gemeinschafts- Leiharbeit. einrichtungen, dann verkennen Sie die Gefahr, die vom flächendeckenden Lohndumping und von der Tatsache (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate ausgeht, dass Menschen in diesem Land in prekären Ar- Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beitsverhältnissen stehen. Das ist die Axt an unserer so- NEN]) zialen Marktwirtschaft. Im Übrigen finden wir Abgeordnete des Deutschen (Beifall bei der SPD) Bundestags – damit meine ich alle Fraktionen, die hier vertreten sind – nur dann Akzeptanz für unsere Politik, Wir reden an diesem Freitagmittag im Kern über die wenn wir den Menschen die Gewissheit geben – ich Würde der Arbeit, über gute Arbeit und über Fairness denke dabei auch an die Schülerinnen und Schüler, mit auf dem Arbeitsmarkt. Wir reden in diesem Zusammen- denen ich oft über ihre Zukunft auf dem Arbeitsmarkt hang über die notwendige gesetzliche Regulierung der diskutiere –: Wenn ich mich anstrenge, bekomme ich ei- Leiharbeit, bei der gute Arbeit und Fairness besonders nen Arbeitsplatz, von dem ich mich auf jeden Fall ernäh- wichtig sind. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Es ren kann; noch besser wäre, wenn auch die Familie da- geht bei der Bekämpfung von prekärer Beschäftigung von ernährt werden könnte. Aber das interessiert Sie nicht nur um die Regulierung von Leiharbeit, sondern es nicht. Sie sind der Meinung, wir bräuchten keine flä- geht auch um faire Regeln beim Berufseinstieg von Ju- chendeckenden Mindestlöhne. Sie sind auch der Mei- gendlichen, für die sogenannte Generation Praktikum. nung, wir bräuchten keinen Mindestlohn in der Leih- Es geht darum, dass Menschen von ihrer Hände Arbeit arbeit. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. in Würde leben können. Deshalb brauchen wir einen flä- chendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Es geht auch (Beifall bei der SPD) darum, dass es in Deutschland keine unsinnigen Befris- In Baden-Württemberg findet der Beschäftigungsauf- tungen mehr gibt. Wann sollen denn die jungen Men- bau jetzt nach der Krise zu über 50 Prozent im Bereich schen in dieser Republik eine Familie gründen, wenn sie der Leiharbeit statt. Lassen Sie mich noch ein Beispiel dauerhaft mit befristeter Beschäftigung in Unsicherheit aus meinem Wahlkreis nennen. Bei der Firma Inovan in gehalten werden und kein ausreichendes Einkommen ha- Birkenfeld haben im Zuge der Krise 100 Mitarbeiterin- ben? (B) nen und Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz verloren. Jetzt (D) Das alles sind Punkte, Herr Brauksiepe, die die findet wieder ein Beschäftigungsaufbau statt. Aber wie? schwarz-gelbe Koalition bei ihrer Politik vergisst. Sie re- Nicht, indem man die ehemaligen Mitarbeiterinnen und den immer nur über Detailprobleme. Es ist gut, dass Sie Mitarbeiter zurückholt. Nein, es werden Leiharbeiterin- anfangen, bei Schlecker etwas zu verändern; das will ich nen und Leiharbeiter eingestellt. Das ist nicht fair. Das ausdrücklich sagen. Aber damit es Fairness in der Leih- ist keine gute Unternehmenspolitik. Dieser Politik rei- arbeit gibt, brauchen wir gesetzliche Initiativen mit dem chen Sie die Hand. Ziel: gleiches Geld für gleiche Arbeit. Leiharbeit braucht klare Regeln. Wir haben im Ar- (Beifall bei der SPD) beitnehmerüberlassungsgesetz verankert, dass Leiharbeit immer dem Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche Ar- Leiharbeit wird in Deutschland zu oft für Lohndum- beit“ folgen muss. Als wir diese Regelung 2003 gemein- ping und zur Verdrängung regulärer Beschäftigung miss- sam – im Übrigen in großer Übereinstimmung mit der braucht. Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahl- CDU/CSU – verabschiedet haben, hat keiner daran ge- kreis nennen. Ich habe kürzlich einen Arbeitsvertrag zu dacht, dass die Öffnungsklausel – „ein Tarifvertrag kann sehen bekommen, der mit einer Leiharbeitsfirma in abweichende Regelungen zulassen“ – in Deutschland Pforzheim, Baden-Württemberg, geschlossen wurde. Da- flächendeckend von den sogenannten christlichen Ge- rin war ein Lohn von unter 7 Euro die Stunde bei einer werkschaften für Lohndumping über Haustarifverträge wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden vereinbart. missbraucht würde. Damit klar ist, worüber ich rede: Davon kann man nicht in Würde leben. Sie sagen, das Wir waren damals der Meinung, es gehe hier nur um Ta- sei kein Problem, das sei gute Arbeit. Ich sage Ihnen: rifverträge unter dem Dach des Deutschen Gewerk- Meine Partei wird immer dafür kämpfen, dass es diese schaftsbundes; damals war der erste Tarifvertrag für die Form von „guter“ Arbeit in Deutschland nicht mehr gibt. Leiharbeit überhaupt gerade erst abgeschlossen. Plötz- (Beifall bei der SPD) lich sprossen Arbeitgeberverbände in dieser Republik aus dem Boden, die dann Tarifverträge über Löhne von Die IG Metall hat eine Umfrage unter Betriebsräten deutlich unter 7,50 Euro pro Stunde abgeschlossen und durchgeführt und bei der Auswertung festgestellt – die damit letztendlich das Lohnniveau gedrückt haben. Ergebnisse wurden erst kürzlich veröffentlicht –, dass jetzt im Aufschwung viele Menschen wieder in Arbeit (Pascal Kober [FDP]: Tun Sie doch nicht so, kommen. Das ist zunächst einmal gut; denn Arbeit be- als ob Sie das überrascht hätte! Das haben Sie deutet Teilhabe an dieser Gesellschaft. Es wurde aber doch in Kauf genommen! Das wollten Sie auch festgestellt, dass 20 Prozent der Betriebe die Leih- doch so!) 6692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Katja Mast (A) Wir haben bereits gestern eine Debatte über dieses Was machen Sie in der Leiharbeit eigentlich? Sie legi- (C) Thema geführt. Ich sage Ihnen: Wenn Sie es nicht schaf- timieren Löhne von 5, 6 und 7 Euro. fen, dass der Verdienst höher als das Arbeitslosengeld II ist, dann brauchen wir uns gar nicht erst darüber zu un- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: 5, 6 und 7 Euro? terhalten, inwiefern wir die Würde von Menschen, die 98 Prozent Tarifbindung! Woher nehmen Sie am Rand stehen, durch eine Erhöhung der Regelsätze die Zahlen?) gewährleisten können. Sie organisieren einen flächende- – Sie legitimieren solche Löhne, solange Sie nicht glei- ckenden Abbau des Sozialstaats, der sozialen Marktwirt- ches Geld für gleiche Arbeit im Arbeitnehmerüberlas- schaft und der Teilhabe. Da kann niemand in diesem sungsgesetz vereinbaren. Frau Connemann, Sie haben Haus ruhig bleiben. nach mir noch genug Zeit, zu reden. Wenn Sie es jetzt genau wissen wollen, stellen Sie eine Zwischenfrage. Herr Kober, Sie haben gleich die Möglichkeit, Ihre Vorstellung von fairer und guter Arbeit zu äußern. Ich (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ohne Daten, ohne bin gespannt, was Sie dazu sagen werden und ob Sie ei- Fakten! Woher nehmen Sie die Zahlen?) nen flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland wol- Sie legitimieren diese Löhne, weshalb Menschen in len, zumindest für Beschäftigte in der Leiharbeit. Ich Vollzeitarbeit Arbeitslosengeld II beantragen müssen. glaube, das wollen alle wissen, die heute zuhören. Damit stellen Sie einen Blankoscheck für Lohndumping (Beifall bei der SPD) in dieser Republik aus. Das ist Sozialpolitik auf Abwe- gen, und dagegen werden wir uns als Sozialdemokratin- Ich bin froh, dass die IG Metall vor einigen Monaten nen und Sozialdemokraten immer wieder wenden. die große Initiative „Gleiche Arbeit – Gleiches Geld“ ge- (Beifall bei der SPD – Gitta Connemann startet hat. Sie hat gestern den ersten Tarifvertrag abge- [CDU/CSU]: Was erzählen Sie da bloß für schlossen, in dem für die Stahlindustrie gleiches Geld Märchen? Unglaublich! – Gegenruf der Abg. für gleiche Arbeit vereinbart ist. Bereits gestern ging Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wo haben Sie mehrfach die Meldung über den Ticker, dass Arbeitge- bloß Ihre Augen?) berverbände dagegen sind, dass dieser Tarifabschluss Vorbildcharakter hat. Ich bin der festen Überzeugung: Er Im Übrigen geht es beim Thema Leiharbeit nicht nur muss Vorbildcharakter haben. Ich bin der IG Metall und um die Beschäftigten, über die ich jetzt schon viel ge- dem Arbeitgeberverband dankbar für ihre kleine Revolu- sprochen habe. Sie spalten Belegschaften in Belegschaf- tion in der Tarifpolitik am gestrigen Tag. ten erster, zweiter und dritter Klasse. Es geht auch da- rum, dass die Handwerker und der ehrliche Mittelstand (B) Weil ich genau weiß, was die Redner der schwarz- in Deutschland bei Ausschreibungen nicht zum Zuge (D) gelben Regierungskoalition nachher sagen werden, will kommen, weil sie gegenüber dem Lohndumping von an- ich an dieser Stelle sehr deutlich festhalten: Wir brau- deren Unternehmen keine Chance haben. chen im Hinblick auf die Regulierung von Leiharbeit und auf die Lohnuntergrenze nicht nur faire und kluge (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: So sieht es aus!) Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, sondern auch Damit werden gute Arbeitsplätze vernichtet, und anstän- Initiativen für gesetzliches Handeln. Wir brauchen einen dige Firmenchefs haben keine Chance, sich am Markt zu gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn, behaupten. Aber Sie sagen: Das ist uns alles egal; (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Uns nicht!) [DIE LINKE]: Jawohl!) da schauen wir gerne weg. – Sie organisieren Billigkon- und es ist Ihre Aufgabe, einen entsprechenden Gesetz- kurrenz, die den Zuschlag bekommt. Das ist Politik des entwurf in den Deutschen Bundestag einzubringen. Wegschauens, und deshalb werden wir Sie bei diesem Thema im Deutschen Bundestag immer wieder stellen. Wenn Sie schon nicht bereit sind, das flächendeckend für alle Branchen zu machen, dann ist das Mindeste, was (Beifall bei der SPD) man von Ihnen erwarten kann, wenn Sie die Leiharbeit Sie vergessen auch völlig, dass ab Mai 2011 Arbeit- bekämpfen wollen und durch Ihr Handeln eine Legitima- nehmerfreizügigkeit gilt und dadurch der Druck auf die tion guter Politik erreichen wollen, dass Sie die Leihar- Löhne noch stärker zunimmt. Deshalb will ich noch ein- beitsbranche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf- mal sagen: Die SPD will im Grundsatz gleiches Geld für nehmen und damit dafür sorgen, dass in dieser Branche, gleiche Arbeit. Das steht in dem Antrag, den wir vorge- in der prekäre Beschäftigung in besonderem Maße er- legt haben. Wir wollen über das Arbeitnehmer-Entsen- folgt, eine faire Lohnuntergrenze gilt. Im Referentenent- degesetz eine untere Haltegrenze für die Kolleginnen wurf steht es jetzt nicht. Ich bin gespannt, ob der Gesetz- und Kollegen und Beschäftigten in der Leiharbeit einzie- entwurf, über den wir in ein paar Wochen diskutieren hen. Wir wollen, dass das Synchronisationsverbot abge- werden, das enthalten wird. Unsere Unterstützung haben schafft, die konzerninterne Verleihung begrenzt und die Sie, wenn es darum geht, hier eine Lohnuntergrenze zu Mitbestimmung gestärkt wird. vereinbaren. Unsere Unterstützung haben Sie nicht, wenn Sie nur Detailprobleme in der Leiharbeit regeln. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD) Kommen Sie bitte zum Schluss. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6693

(A) Katja Mast (SPD): Es ist nicht akzeptabel, wenn die Stammbelegschaft von (C) Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Außerdem Konzernen in Leiharbeitsgesellschaften, bei denen die wollen wir, dass sich unser aller Bundesarbeits- und -so- Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmerinnen und Ar- zialministerin Ursula von der Leyen für die kleinen beitnehmer ungünstiger sind, ausgelagert wird. Leute in unserer Gesellschaft verantwortlich fühlt, Auf der anderen Seite sehen wir aber auch die Chan- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das tut sie cen, die die Zeitarbeitsbranche vielen Menschen bietet. doch!) Würde man hier und heute Ihren Anträgen folgen, würde das für viele Menschen, die bei Zeitarbeitsunternehmen dass sie sich als Schutzmacht für die Menschen in dieser beschäftigt sind, in naher Zukunft die Arbeitslosigkeit Gesellschaft versteht. bedeuten. Das ist das Gegenteil dessen, was die christ- lich-liberale Koalition zur Maßgabe ihrer Politik erklärt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hat. Jetzt ist aber wirklich Schluss, Frau Mast. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Katja Mast (SPD): Sie soll sich zur Speerspitze der Bewegung machen, Wir möchten den Menschen in unserem Land Chan- wenn es um die Würde der Arbeit geht. cen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen bzw. Chancen offen- halten. Ich muss zugestehen, dass dies auch einmal die (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau!) Maßgabe von Sozialdemokraten und Grünen war. Doch diese Zeiten sind nun offenbar endgültig vorbei, leider. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Hört! Frau Kollegin Mast, bitte! Sie haben Ihre Zeit weit Hört!) überzogen. Bitte kommen Sie jetzt zum letzten Satz. Der populistische Reflex siegt bei Ihnen über die Katja Mast (SPD): Sachkenntnis. Sie vergessen die Chancen, die die Zeitar- Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. – Dann beit vielen Menschen bietet. Sie ist jetzt, in der Zeit der werden wir in dieser Gesellschaft auch wieder über eine Wirtschafts- und Finanzkrise, für viele der erste Schritt echte soziale Marktwirtschaft sprechen können. zurück in den Arbeitsmarkt. Diese Chance wollen Sie den Menschen nehmen, indem Sie das wirksame Instru- (Beifall bei der SPD) ment der Zeitarbeit gänzlich zerschlagen. Untersuchun- gen zeigen uns, dass 62,2 Prozent der Menschen, die in (B) (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zeitarbeitsverhältnissen beschäftigt sind, zuvor nicht be- Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP- schäftigt waren. Sie zeigen uns auch, dass 11,4 Prozent Fraktion. in ihrem Leben zuvor überhaupt noch nicht beschäftigt waren. Dies belegt, welche Chancen die Zeitarbeit beim (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kampf gegen Arbeitslosigkeit bietet. Zeitarbeit ist das erfolgreichste Arbeitsmarktinstrument, das wir haben. Pascal Kober (FDP): Darauf hat der Parlamentarische Staatssekretär Ralf Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Brauksiepe schon hingewiesen. Mit keinem anderen In- Thema Zeitarbeit hat uns in den letzten Monaten zu strument ist es gelungen, so viele Menschen in Arbeit zu Recht ausgiebig beschäftigt. Dass vereinzelt Unterneh- bringen. men die Zeitarbeit in unverantwortlicher Art und Weise (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE ausgenutzt haben, ist bei uns allen in diesem Hohen GRÜNEN]: In Leiharbeit zu bringen!) Haus auf große Ablehnung gestoßen. Das will ich für die FDP-Fraktion hier noch einmal deutlich betonen. Ich kann Ihnen aber sagen, dass sich auch die FDP weitergehende Gedanken zum Thema Zeitarbeit macht. Der Unterschied zwischen den Regierungsfraktionen und den Oppositionsfraktionen liegt in der Schlussfolge- (Zuruf von der LINKEN: Oh!) rung, die aus diesen Vorgängen gezogen wird. Während Die Zeitarbeit soll der Bewältigung von Auftragsschwan- Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, kungen dienen und dabei helfen, Menschen in den Ar- die Fälle zum Anlass nehmen, eine ganze Branche besei- beitsmarkt zu integrieren. Für die FDP ist Zeitarbeit – das tigen zu wollen, handeln wir mit Vernunft und Augen- sage ich ausdrücklich – kein Instrument der Lohndiffe- maß. renzierung nach unten. (Beifall bei der FDP – Dr. Axel Troost [DIE (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- LINKE]: Von wegen! Gar nicht!) NEN]: Das ist aber die Realität!) Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Geschäfts- modelle wie im Fall Schlecker künftig nicht mehr mög- Deutschland setzt zum 1. Mai 2011 die Arbeitneh- lich sind. merfreizügigkeit um. Anstatt sich über diesen wesentli- chen Schritt im Rahmen der europäischen Integration zu (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- freuen, wird von mancher Seite Angst davor geschürt. NEN]: Es gibt aber nicht nur Schlecker!) Ich halte das angesichts der Tatsache, dass Deutschland 6694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Pascal Kober (A) als Exportland wie kein zweites Land von der europäi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) schen Integration profitiert, für unangebracht. Durch Sie haben wir jetzt zwei Minuten gespart. Vie- len Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ Niemand kann heute seriöserweise sagen, welche Folgen CSU und der SPD) diese Umsetzung zum 1. Mai 2011 zeitigen wird. Ich Das ist durchaus als Vorbild für die nachfolgenden Red- kann Ihnen aber deutlich und klar sagen: Mit der FDP ner zu sehen. wird es in der Zeitarbeitsbranche keinen Mindestlohn nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz geben. Jetzt hat die Kollegin Krellmann für die Fraktion Die Linke das Wort. Liebe Frau Mast, ich komme zu dem, was Sie gesagt haben. Auch wir von der FDP sehen Handlungsbedarf (Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling im Bereich der Zeitarbeit, jedoch ganz unabhängig vom [CDU/CSU]: Alle Hoffnungen ruhen auf Ih- 1. Mai 2011. Wir halten es nicht für gerechtfertigt, dass nen! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Habe Zeitarbeiter auf Dauer schlechter bezahlt werden als die ich jetzt die zwei Minuten mehr?) Stammbelegschaft, wenn sie die gleiche Tätigkeit aus- – Nein, die zwei Minuten hat die Kollegin Mast vorher üben und die gleiche Qualifikation besitzen. Ein solcher schon verbraucht. Lohnunterschied ist nur für die Dauer einer Einarbei- tungsphase nachvollziehbar und begründbar. Daher set- (Heiterkeit – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: zen wir uns dafür ein, dass der Grundsatz des Equal Pay So ein Ärger!) nach einer angemessenen Einarbeitungszeit eingehalten werden muss. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Guten Tag, Herr Präsident! Hallo, liebe Kolleginnen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach Herr Kollege Kober, erlauben Sie eine Zwischenfrage acht Monaten liegt jetzt ein Gesetzentwurf auf dem der Kollegin Mast? Tisch. Er ist, wie zu befürchten war, unsozial und löst keine Probleme. Es sind die Schwächsten der Gesell- Pascal Kober (FDP): schaft, die schutzlos bleiben. Diese Bundesregierung Aber gerne. spaltet das Land weiter in Arm und Reich. Acht Monate (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie hat doch lang haben Sie eine Lösung angekündigt und jetzt die schon so lange geredet!) Lösung „Weiter so!“ vorgelegt. (B) Die Leiharbeit frisst sich währenddessen wie eine (D) Katja Mast (SPD): Krake durch die Arbeitswelt: bei Krankenhäusern, Ta- Herr Kollege Kober, einer Aussage von Herrn Kolb in geszeitungen, Banken, Druckereien usw. Die Liste ließe der Presse habe ich entnommen, dass Sie für Equal Pay, sich problemlos fortsetzen. also für gleiches Geld für gleiche Arbeit, nach einer kur- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: 0,9 Prozent zen Einarbeitungszeit – wie Sie es immer nennen – sind. Meine Frage an Sie ist: Was ist für Sie eine angemessene aller Beschäftigten! Die Krake!) Einarbeitungszeit, insbesondere im Hinblick darauf, dass Sogar auftragsstarke Firmen wie Airbus sind dabei. 50 Prozent der Leiharbeitsverträge eine Laufzeit von maximal drei Monaten haben? Frau von der Leyen behauptet hingegen, es handele sich um Einzelfälle. Während Sie nichts taten, kommt die Leiharbeit nach der Krise wieder auf die Beine. Die Pascal Kober (FDP): Nachfrage nach billigen Hire-and-Fire-Kräften boomt. Frau Mast, ich darf Ihnen hier die Transparenz bieten, die Sie wünschen. Wir als FDP-Bundestagsfraktion füh- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Können Sie ren gerade Gespräche mit Zeitarbeitsunternehmen und das auch auf Deutsch sagen?) mit Arbeitnehmervertretungen, mit Firmen, die Zeitar- beit verwenden. Wir werden uns nach den Gesprächen Im Bundesdurchschnitt betrug der Anteil der Leiharbeit ein sachgerechtes Urteil bilden und werden Ihnen dann im Juni mehr als ein Drittel der offen gemeldeten Stel- auf Ihre Frage eine sachgerechte Antwort geben. Das ist len; in Hamburg waren es sogar 55 Prozent. seriöse Politik: erst denken, dann handeln. Schauen wir uns das verarbeitende Gewerbe an! Seit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Juni 2009 sind knapp 120 000 feste Arbeitsplätze verlo- ren gegangen. Gleichzeitig wurden 170 000 Leiharbeits- Unsere Politik orientiert sich an dem, was für den stellen geschaffen. Hier wird in großem Stil feste Arbeit Einzelnen und seine Chancen, Arbeit zu finden, hilfreich in unsichere Arbeit umgewandelt. Die Kolleginnen und ist. Deshalb werden wir bestehende Fehler beseitigen, Kollegen der Leiharbeit bekommen bis zu einem Drittel dabei aber nicht über das Ziel hinausschießen, wie es die weniger Lohn. Die Unternehmensstrategie heißt: Löhne Anträge der Opposition tun. Das ist verantwortliche kürzen. Politik für die Menschen. Jugendliche und Berufsanfänger sind dabei am stärks- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ten betroffen. Mehr als die Hälfte der Leiharbeiter sind (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) junge Erwachsene unter 35. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6695

Jutta Krellmann (A) Gestern fand in Hannover eine Demonstration von 5 Euro oder das Weiter-so in der Leiharbeit: Das ist herz- (C) 800 Auszubildenden statt, die gegen Leiharbeit und pre- lose Politik. Das ist soziale Kälte. Das hat mit der Würde käre Beschäftigung, für mehr Ausbildungsplätze und für von Menschen und Arbeit nichts zu tun. Die Quittung eine gute Zukunft für sich als Jugendliche gekämpft ha- dafür bekommen Sie hoffentlich demnächst auf der ben. Straße, wenn Ihnen möglichst viele Menschen sagen, womit sie nicht einverstanden sind und dass sie sich eine (Beifall bei der LINKEN) andere Politik für dieses Land wünschen. Wie sollen die eine Familie gründen, ein Häuschen Vielen Dank. bauen oder ihre Zukunft planen? Gleiches Geld für glei- che Arbeit ist der Schlüssel und das Ende der Ausbeu- (Beifall bei der LINKEN) tung. Das wissen Sie eigentlich. Das alles kann man per Gesetz lösen. Aber das scheint Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Bundesregierung nicht zu interessieren. Im Gegenteil: Das Wort hat jetzt die Kollegin Beate Müller-Gem- Sie zementieren mit Ihrem Gesetzentwurf ganz bewusst meke von Bündnis 90/Die Grünen. das Lohndumping in der Leiharbeit. Was Sie vorschla- gen, Frau von der Leyen, schafft den Missbrauch in der Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Leiharbeit nicht ab. Der Vorschlag ist nichts anderes als NEN): gesetzlich geregelter Missbrauch in der Leiharbeit. Mehr Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- noch: Der Vorschlag ist Anstiftung zum Missbrauch. nen und Kollegen! Wirtschaftsminister Brüderle sagte in Verhindert wird nur ein Ausnahmetatbestand der seiner Haushaltsrede, der Aufschwung sei ein Beschäfti- Leiharbeit: Der Arbeitgeber soll seine Beschäftigten gungsaufschwung und das deutsche Jobwunder löse nicht direkt in die Leiharbeit ausgliedern können, so wie Hunderttausende persönlicher Konjunkturprogramme es bei Schlecker der Fall war. Das ist der einzige Tatbe- aus. stand, Herr Kober. Leiharbeit als systematisches Lohn- (Pascal Kober [FDP]: Recht hat er!) dumping im Betrieb bleibt erhalten. „Beschäftigungsaufschwung“ bedeutet aber für mich, Es liegen drei Vorschläge der Opposition auf dem dass reguläre Beschäftigung entsteht. Wir können mo- Tisch. Alle zielen darauf ab, die Leiharbeit zu be- mentan allerdings nur einen Aufschwung in der Leihar- grenzen. All diese Vorschläge sind besser als der Regie- beitsbranche verzeichnen. Die Zahl der Leiharbeitskräfte rungsentwurf. Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist ein hat bereits im Juni den alten Rekord von Juli 2008, also Menschenrecht. Dieses Recht will die Linke schützen, (B) vor der Krise, gebrochen. Laut Branche hat sie also mit (D) und zwar ohne Ausnahme und vom ersten Tag an. 826 000 Leiharbeitskräften im Juni ihre Höchstmarke er- (Beifall bei der LINKEN) reicht. Dieses Jobwunder kann ich nur als bedenklich be- zeichnen. Was in diesem Bundestag bisher unmöglich war, ist den Kollegen in der Stahlindustrie gestern gelungen; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Mast hat das gerade angesprochen. Meinen herzli- Leiharbeitskräfte müssen jeden Euro fünfmal umdre- chen Glückwunsch von dieser Stelle an die Kolleginnen hen. Von Anschaffungen, Urlaub und Freizeitaktivitäten und Kollegen in den Stahlbetrieben! können sie nur träumen. Leiharbeitskräfte sind vor allem (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja junge Menschen. An Familienplanung ist nicht zu denken. Mast [SPD] und der Abg. Beate Müller- Der Boom in der Leiharbeit löst daher wahrlich keine Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) persönlichen Konjunkturprogramme aus, wie Minister Brüderle meint. Konjunktur hat einzig und allein das Ihnen ist es gelungen, in einem Flächentarifvertrag zum aufstockende Arbeitslosengeld II. Dennoch haben wir ersten Mal Equal Pay durchzusetzen. Dieser Flächen- die Krise gut überstanden. Dazu hat vor allem das Zu- tarifvertrag ist natürlich ein Tarifvertrag zwischen Ar- sammenhalten der Tarifpartner viel beigetragen. Der Re- beitgebern und Arbeitnehmern. Er ist das Ergebnis einer gierung kann man allenfalls zugutehalten, dass sie dabei Tarifrunde. Die Kolleginnen und Kollegen, die in den nicht wesentlich gestört hat. Stahlbetrieben arbeiten, haben dafür gekämpft. Sie ha- ben die Forderung gestellt und deren Durchsetzung er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reicht. Wenn es am Ende nicht so schnell gegangen In Sachen Leiharbeit hat das Arbeitsministerium aber wäre, hätten sie noch weiter dafür gestreikt. schlichtweg versagt. (Beifall bei der LINKEN) (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Zum Bei- Das ist aus meiner Sicher ein echter Durchbruch. Es spiel mit dem Kurzarbeitergeld!) geht also. Warum nicht für alle? Warum nicht in ganz Seit Dezember wird angekündigt, dass das Arbeitsminis- Deutschland? Warum nicht per Gesetz? terium etwas gegen den Missbrauch in der Leiharbeit (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) vorlegen will. Im Bundestag wurde hierzu noch immer nichts beschlossen. Der Gesetzentwurf der Ministerin Frau von der Leyen, beenden Sie diese haarsträu- kommt schlichtweg zu spät und ist zudem nicht ausrei- bende Ungerechtigkeit! Ob Hartz-IV-Erhöhungen von chend. Damit wird sich die Leiharbeit weiter ausweiten. 6696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Beate Müller-Gemmeke (A) Schon lange fordern wir die Regulierung der Leihar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) beit, damit im momentanen Aufschwung reguläre Be- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- schäftigungsverhältnisse entstehen können. Die Bundes- KEN) regierung hat aber nichts gegen den Aufbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse getan. Das zeigt einmal Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mehr, wohin die Reise gehen soll. Der Niedriglohnbe- Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort die Kollegin reich soll nicht begrenzt, sondern eher noch ausgebaut Gitta Connemann. werden. Ich kann nur fragen: Wie weit wollen Sie das ei- gentlich noch treiben? In meinem Wahlkreis gibt es bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) spielsweise einen Betrieb mit 102 Festangestellten und über 80 Leiharbeitskräften. Das ist kein Einzelfall. Herr Gitta Connemann (CDU/CSU): Kollege Kober kann diesen Betrieb in Reutlingen gern Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Virus einmal besuchen. geht um in diesem Haus – diesen Eindruck habe jeden- Immer mehr Menschen leben in Unsicherheit und falls ich nach den Debattenbeiträgen der Opposition –, Angst, und immer mehr Menschen müssen von niedri- nämlich der Virus der Vergesslichkeit. gen Löhnen leben. Sie, die Regierungsfraktionen, ma- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE chen Politik gegen und nicht für die Menschen. GRÜNEN]: Vergesslichkeit? Das müssen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rade Sie sagen!) Denn die Regelungen, über die wir heute sprechen, sind Ich fordere Sie auf: Sorgen Sie endlich dafür, dass die nicht von dieser christlich-liberalen Koalition beschlos- Leiharbeit nicht weiter reguläre Beschäftigung verdrängt sen worden, sondern sie sind das Ergebnis einer Reform und zur Absenkung der Löhne führt! Ich verzichte da- aus dem Jahre 2003, rauf, all unsere Forderungen gebetsmühlenartig zu wie- derholen. Alle notwendigen Maßnahmen und Argu- (Katja Mast [SPD]: Ja! Na und?) mente können Sie in unserem Antrag nachlesen. die seinerzeit „Hartz I“ genannt wurde und das Parade- Ich möchte unsere Forderung „Gleicher Lohn für stück von Rot-Grün war. gleiche Arbeit“ in den Mittelpunkt stellen und mit der (Pascal Kober [FDP]: Hört! Hört!) Haushaltswoche verbinden. Das Sparpaket ist und bleibt sozial unausgewogen. Sie könnten einen deutlich ge- Dieses Paradestück, das Sie heute vollkommen in Ab- rechteren Weg gehen. Regulieren Sie einfach die Leih- rede stellen, hat – darauf dürfen Sie außerordentlich (B) arbeit! Führen Sie das Prinzip „Gleicher Lohn für glei- stolz sein – zu enormen Erfolgen am Arbeitsmarkt ge- (D) che Arbeit“ ein! Beenden Sie die Subventionierung von führt. Unternehmen! Damit reduzieren Sie die Ausgaben für aufstockendes Arbeitslosengeld II und entlasten den (Katja Mast [SPD]: Darauf sind wir auch Haushalt. Gleichzeitig sorgen Sie so für höhere Steuer- stolz! – Gegenruf des Abg. Björn Sänger einnahmen und Mehreinnahmen bei den Sozialversiche- [FDP]: Davon ist aber nur sehr wenig zu spü- rungen. Machen Sie den Weg frei für reguläre Beschäfti- ren, Frau Mast!) gung und faire Löhne! Das wäre wesentlich gerechter, Deswegen können wir heute über Helden reden. „Die als auf dem Rücken der Schwächsten in unserer Gesell- Helden des Aufschwungs“, so hat das Magazin Focus schaft zu sparen. die Zeitarbeitnehmer in Deutschland bezeichnet – zu Recht, denn ohne Zeitarbeitsbranche könnten wir uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht seit Monaten über sinkende Arbeitslosenzahlen Ich versichere Ihnen, dass Sie auch die Sympathie der freuen. Jede dritte neue Stelle in Deutschland kommt aus Gewerkschaften, der Beschäftigten und der Opposition der Zeitarbeit. haben, wenn Sie diesen Schritt wagen. Ich versichere Ih- Auch in meiner Heimat hat sich der Arbeitsmarkt un- nen, dass dann auch viele Arbeitgeber erleichtert sein glaublich gut entwickelt. Die neueste Meldung: Die Ar- werden, nämlich diejenigen, die das Instrument Leih- beitslosenquote ist dort mit 6,5 Prozent so niedrig wie arbeit nicht missbrauchen und gerechte Löhne zahlen. vor 30 Jahren. Das ist ein unglaublicher Erfolg. Denn diese Betriebe leiden unter der Konkurrenz, die die Löhne durch Leiharbeit drückt. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Richtig!) Zeigen Sie endlich wirtschafts- und sozialpolitische Die Agentur für Arbeit in meiner Heimatstadt Leer hat Kompetenz! Sorgen Sie für einen fairen Wettbewerbs- mir mitgeteilt, dass 40,7 Prozent des Zugangs an offenen rahmen, indem Sie die Leiharbeit sozialverträglich aus- Stellen aus der Zeitarbeit stammen. gestalten! Degradieren Sie die Leiharbeitskräfte nicht zu Beschäftigten zweiter Klasse! Es wird Zeit, dass Sie die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Leistung der Leiharbeitskräfte wirklich wertschätzen. Frau Kollegin Connemann, erlauben Sie eine Zwi- Machen Sie endlich eine Politik des Respekts! Wie das schenfrage der Kollegin Pothmer? geht – ich sagte es schon –, können Sie in unserem An- trag nachlesen. Gitta Connemann (CDU/CSU): Vielen Dank. Ja, gerne. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6697

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Pothmer, Sie haben mich nach der Zahl (C) Bitte schön. der IAB gefragt. Da fällt mir ein Wort von ein, der einmal gesagt hat: Wir alle leben unter Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): demselben Himmel, aber wir haben nicht alle denselben Frau Connemann, Sie haben gerade zum wiederholten Horizont. – Wenn ich die Aussage der IAB lese, dann Male darauf hingewiesen, dass es die rot-grüne Regie- sagt mir das – Sie können es nachlesen; Sie kennen den rung war, die die Liberalisierung der Zeitarbeit durchge- Bericht sehr gut; ich habe jetzt das Zitat leider nicht da- setzt hat. Haben Sie, wie auch wir, zur Kenntnis genom- bei, aber ich schicke es Ihnen gerne –, dass die immer men, dass das Ziel der Liberalisierung der Zeitarbeit, das wieder gepflegte Behauptung, dass durch Leiharbeit darin bestand, Auftragsspitzen abzufedern, nicht erreicht massenweise Stammbelegschaft ersetzt worden ist, in werden konnte und die gesellschaftliche Realität so aus- keiner Weise empirisch belegt ist. sieht – dies wurde in vielen Untersuchungen von ver- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Natürlich ist schiedenen Instituten, unter anderem vom Institut für das belegt!) Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, nachgewiesen –, dass die Betriebe die Liberalisierung der Leiharbeit statt- – Ich bin noch nicht fertig, Frau Pothmer; bitte bleiben dessen in erheblichem Umfang genutzt haben, um Sie noch stehen. Sie haben mich in einer sehr langen Stammbelegschaften zu ersetzen? Das war unser Impuls Frage auf die IAB angesprochen. Dann darf ich Ihnen und war unser Ziel nicht. auch lange antworten. Ich frage Sie: Ist das Ihr Ziel? Wir haben diese An- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- träge jetzt eingebracht, weil wir feststellen mussten, dass NEN]: Das IAB! So viel Richtigkeit muss es einen erheblichen Missbrauch gibt, der weit über sein!) Schlecker hinausreicht. Ich frage Sie: Sehen Sie diesen Die IAB hat festgestellt, dass die durchschnittliche Missbrauch nicht? Sind Sie bereit, diesem Missbrauch Einsatzzeit eines Leiharbeitnehmers in Deutschland un- entgegenzuwirken? ter drei Monate beträgt. Ein Arbeitseinsatz von drei Mo- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) naten ist sicherlich nicht geeignet, um Stammarbeits- plätze zu ersetzen. Das sollten Sie bitte zur Kenntnis nehmen. Gitta Connemann (CDU/CSU): Verehrte Frau Kollegin Pothmer, wenn jemand Miss- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – brauch entgegenwirken will, dann ist das die christlich- Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE liberale Koalition. GRÜNEN]: Es geht um den Klebeeffekt! Wie- (B) der keine Antwort!) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- chen bei der SPD und der LINKEN – Jutta Nehmen Sie doch einmal wahr, welche Potenziale die Krellmann [DIE LINKE]: Jetzt sind wir im Zeitarbeit bietet! 90 Prozent der Zeitarbeitsunternehmen Kabarett!) haben in einer Umfrage mitgeteilt, dass sie in den nächs- ten Monaten weitere Mitarbeiter einstellen wollen. Das Denn wir haben nach dem Vorfall Schlecker sofort ge- ist eine gute Nachricht für eine Branche, die es durchaus handelt. Wir haben uns an die Tarifvertragsparteien ge- schwer hat, nicht nur deshalb, weil sie diskreditiert wird, wandt und darum gebeten, dass eine Formulierung ge- sondern auch deshalb, weil sie die erste war, die unter funden wird, um Schlecker und seine Genossen der Krise litt. Diese Branche büßte in der Krise als erste auszuschließen. Branche Beschäftigung ein. Aber so rettete sie Stamm- (Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Genossen? belegschaft. Auf diese Weise konnten Betriebe sehr Was soll das jetzt?) kurzfristig auf Auftragseinbrüche reagieren. Jetzt, da es wieder aufwärtsgeht, gibt es in diesen Betrieben noch Ich betone das Wort „Genossen“. Die Auseinanderset- die Kernmannschaft. Hinzu kommen die Zeitarbeitneh- zung mit Fällen wie Schlecker hat eines deutlich ge- mer, die eingestellt werden, um die Produktionsspitzen macht, nämlich dass es tatsächlich durchaus prominente abzufedern. Mitspieler gibt, angefangen von der Frankfurter Rund- schau – wir haben bereits damals darüber gesprochen, Damit hat die Zeitarbeit in Deutschland in der Krise dass die SPD an diesem Zeitungsunternehmen erhebli- die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe gestärkt. Da- che Anteile hält – mit hat die Zeitarbeit in Deutschland gemeinsam mit klugen Instrumenten wie der Kurzarbeit das Wunder am (Zustimmung des Abg. Pascal Kober [FDP]) deutschen Arbeitsmarkt erst möglich gemacht. Bitte bis hin zu Unternehmen wie der AWO. Da muss etwas nehmen Sie das zur Kenntnis! passieren. Es ist auch etwas passiert; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Deshalb stellt der Focus unter anderem fest: GRÜNEN]: Was denn?) Für die Wirtschaft ist die Erfindung der Zeitarbeit denn es war diese Bundesregierung mit Bundesministe- ein Glücksfall. rin von der Leyen, die einen Entwurf vorgelegt hat, um einem Problem zu begegnen, das Sie bei Ihrer Gesetzge- Ja, ein Glücksfall. Ich betone: nicht nur für die Wirt- bung nicht erkannt haben. schaft, sondern auch für unseren Arbeitsmarkt. 6698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Gitta Connemann (A) Aber wie reagieren Sie darauf, meine Damen und Sie behaupten weiter, Stammbelegschaften würden (C) Herren von der Opposition? Diffamierend und diskrimi- durch Zeitarbeitnehmer ersetzt. Das ist falsch. Tatsache nierend. Dies beginnt übrigens schon bei Ihrer Wort- ist: Nur 2 Prozent der Betriebe haben zu gleicher Zeit wahl. Sie halten stoisch an der überkommenen Bezeich- Zeitarbeitnehmer eingestellt und andere Beschäftigte nung „Leiharbeit“ fest. Das ist diskriminierend; denn es entlassen. 98 Prozent der Betriebe verhalten sich glückli- gibt keinen Begriff, der auf Zeitarbeit weniger zuträfe cherweise anders als Schlecker. als „Leihe“. Ihre Anträge und damit auch Ihre Forderungen basie- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: „Sklaven- ren auf falschen Grundlagen. Deshalb lehnen wir sie ab. arbeit“ wäre da auch noch!) Ich persönlich bedaure es, dass Sie sich mit diesem Gegenstände werden verliehen. 830 000 Zeitarbeit- außerordentlich wichtigen Thema nur so oberflächlich nehmer in Deutschland sind aber keine Sachen. Deshalb auseinandergesetzt haben; verstehe ich persönlich die Forderung nach einer ent- sprechenden Gesetzeskorrektur auch durchaus. Darauf (Katja Mast [SPD]: Das Kompliment gebe ich gehen Sie in dem Reigen Ihrer Anträge übrigens nicht zurück! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das kann ein. Dort, wo es kneift, kneifen Sie selbst, meine Damen man nur zurückgeben!) und Herren von der Opposition. Sie beschränken sich lieber darauf, Ihre Vorurteile zu pflegen. denn es gibt ja tatsächlich Herausforderungen. Wir müs- sen die EU-Zeitarbeitsrichtlinie fristgerecht im Maßstab Frau Kollegin Mast, Sie haben in Ihrer Rede zunächst eins zu eins umsetzen. Wir müssen verhindern, dass sich behauptet, Zeitarbeit sei eine prekäre, also eine unsi- Missbräuche wie bei Schlecker wiederholen. Für beides chere Beschäftigung. Das ist falsch. hat unsere Bundesregierung, hat Frau Bundesministerin Ursula von der Leyen zukunftsweisende Lösungen vor- ( [DIE LINKE]: Ah ja!) gelegt, die von Herrn Staatssekretär Brauksiepe auch be- Tatsache ist: Jeder Zeitarbeitnehmer steht in einem nor- reits vorgestellt worden sind. malen Arbeitsverhältnis. Wir müssen auch eine Antwort auf die sich ab dem (Katja Mast [SPD]: Reden Sie doch einmal mit 1. Mai kommenden Jahres stellenden Herausforderun- den Leuten!) gen finden: Wie können wir unsere inländischen Arbeit- nehmer und Arbeitgeber vor Billigkonkurrenz aus dem Er genießt Kündigungsschutz, er hat Anspruch auf Ausland schützen? Hier stellt sich für mich die Frage: Lohnfortzahlung und auf Urlaub, nur die Arbeitsorte Kann hier mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz gehol- (B) wechseln häufiger, wie übrigens auch bei Vertretern, fen werden, oder wäre hier nicht ein Referenztarifvertrag (D) Bauarbeitern und Fernfahrern. Die Liste ließe sich fort- die bessere Lösung, ein Referenztarifvertrag, der von der setzen. Bundesregierung im Einvernehmen mit einer Branchen- (Katja Mast [SPD]: Reden Sie mit den Men- kommission festgesetzt wird? Sofern dieser unterschrit- schen! – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- ten wird, könnte Equal Pay gelten. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur leider mit 45 Prozent weniger Lohn!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Mast, Sie behaupten, in der Zeitarbeit Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Connemann. sei Lohndumping die Regel. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Das ist falsch. – Tatsache ist: 98 Prozent der Gitta Connemann (CDU/CSU): Zeitarbeitnehmer – ich wiederhole: 98 Prozent – fallen Wir müssen dafür sorgen, dass die klassische Zeitar- unter Tarifverträge. beit nicht wieder durch Umgehung diskreditiert wird. Ist (Katja Mast [SPD]: Für 5, 6 oder 7 Euro!) die Überlassung eines Arbeitnehmers für mehr als ein Jahr wirklich noch Zeitarbeit? Diese Frage stellt sich Davon können viele Branchen nur träumen. mir. Hat Rot-Grün durch die unbegrenzte Öffnung der (Zuruf von der SPD: Sagen Sie doch einmal, Höchstüberlassungsdauer nicht erst Scheinzeitarbeit pro- wie viel sie verdienen!) voziert? Es gibt einen Einstiegslohn für ungelernte Hilfskräfte im Das sind viele Fragen, die wir beantworten müssen. Osten von 6,40 Euro und im Westen von 7,60 Euro. Leider können wir dabei nicht mit Ihrer Hilfe rechnen, aber wir werden diese Aufgabe auch selbst bewältigen. (Katja Mast [SPD]: Und die Öffnungsklausel?) Vielen Dank. Diese wurden übrigens von den von Ihnen so diffamier- ten christlichen Gewerkschaften abgeschlossen. Was sa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen Sie denn zu dem Abschlussverhalten von DGB-Mit- gliedsgewerkschaften, die zum Beispiel in Thüringen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Tarifverträge für Friseure abschließen? Wo ist da Ihre Kritik? Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Ulrich Lange von der CDU/CSU-Frak- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tion das Wort. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6699

(A) Ulrich Lange (CDU/CSU): Nur ein kleiner Hinweis, Frau Kollegin Mast: Meines (C) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wissens bestand bei Hartz I keine Zustimmungspflicht Ich begrüße Sie ganz herzlich. Herzlich willkommen zur durch den Bundesrat. Das haben Sie hier alleine be- Quartalsrede Zeitarbeit. Es hat sich nichts geändert; wir schlossen. brauchen auch keine Zwischenfragen mehr. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) (Sönke Rix [SPD]: Das ist ja das Problem! Wir, die christlich-liberale Koalition, reparieren heute Deshalb sind wir jetzt hier!) Ihre Baustellen: gestern Hartz IV, heute die Zeitarbeit. – Ja, natürlich, es hat sich nichts geändert. Ich habe be- Wir haben das aufzuräumen, was Sie hinterlassen haben. reits zweimal eine Rede dazu gehalten. Lesen Sie sie! (Katja Mast [SPD]: Das ist nicht so! Stimmt Ich werde nicht alles wiederholen. nicht!) (Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND- Hören Sie auf mit Ihrem Populismus. 5 Millionen Ar- NIS 90/DIE GRÜNEN]) beitslose waren Ihre Hypothek. Heute sind wir knapp Es ist wie beim Vokabellernen: Manche merken sich über der 3-Millionen-Grenze, und wir werden sie noch gute Argumente, manche merken sich gute Argumente unterschreiten. nicht. – Sie scheinen sie sich nicht merken zu können. Meine Damen und Herren von der SPD, hören Sie mit (Iris Gleicke [SPD]: Sie haben keine guten Ihrer „Hartzer Rolle rückwärts“ auf. Ihr ehemaliger, ver- Argumente!) dienter Arbeitsminister hat einmal gesagt: „Opposition ist Mist“. Ihre Opposition ist zurzeit ganz großer Mist. Ihnen scheint entgangen zu sein, dass wir zwischen- Zeigen Sie endlich Rückgrat. Treffen Sie fachliche Ent- zeitlich mit allen vier großen Arbeitgeberverbänden und scheidungen. Wir stehen vor einem Jobwunder. Helfen zwei Gewerkschaften Mindestlöhne in der Zeitarbeit Sie mit, dass es in Deutschland weiterhin greift. Ich vereinbart haben. Das bedeutet, dass nahezu die gesamte wünsche Ihnen in diesem Sinne einen schönen 3. Okto- Branche einen vollständigen Tarifvertrag mit Mindest- ber in einem guten Deutschland mit guten Arbeitsplät- lohn hat. Das beweist die Stärke unseres Systems. Bei zen. uns bestimmen die Tarifparteien – die selbst Sie eben noch so gelobt haben, Frau Kollegin Krellmann – und Herzlichen Dank. nicht der Staat die Löhne, und das ist gut so. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) NEN]: Sie haben sich ja auch immer so für die Ich schließe die Aussprache. Stärkung der Gewerkschaften eingesetzt!) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Eines ist damit klar geworden – das hat sich auch bei ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/3082. Der der Anhörung gezeigt –: Die Zeitarbeitsbranche selbst ist Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- daran interessiert, aus der Schmuddelecke herauszukom- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der men. Denn wofür steht seriöse Zeitarbeit? Sie steht für Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1155 mit dem Titel eine Brücke in die Arbeit für Menschen, die sonst „Fairness in der Leiharbeit“. Wer stimmt für diese Be- schlechte Chancen haben, für die Flexibilisierung bei schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auftragsspitzen und Auftragsflauten, für Perspektiven, Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den in den Arbeitsmarkt zu kommen, und außerdem für voll Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. der Fraktionen der SPD und der Grünen bei Enthaltung Vergessen Sie das nicht! Zeitarbeit ist auch Arbeitneh- der Fraktion Die Linke. merschutz, und zwar in vollem Umfang: Kündigungs- recht, Teilzeit, Befristung und Urlaub. Für die Zeitarbeit Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- gelten alle Arbeitnehmerschutzrechte. lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/426 mit dem Titel „Lohndumping ver- Staatssekretär Brauksiepe hat es angesprochen: Un- hindern – Leiharbeit strikt begrenzen“. Wer stimmt für sere Ministerin hat wie versprochen gehandelt. Wir ha- diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- ben den ersten Entwurf auf dem Tisch liegen. Wir wol- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- len den Drehtüreffekt konsequent verhindern, wir wollen men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der einen Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen und Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die konsequent eine Unterrichtungspflicht über freie Ar- Grünen bei Enthaltung der Fraktion der SPD angenom- beitsplätze in den Einsatzunternehmen. men. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind im Laufe Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- des Jahres Schritt für Schritt vorangekommen. Meine stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Damen und Herren von Rot-Grün, es ist unerträglich, Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- dass Sie jedes Mal Ihre Ära der schrankenlosen Liberali- che 17/551 mit dem Titel „Zeitarbeitsbranche regulieren – sierung im Arbeitsrecht negieren wollen. Aber das las- Missbrauch bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschluss- sen wir nicht zu. Sie waren es, die Equal Pay ausgehöhlt empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die haben. Sie waren es, die Missbrauch legalisiert haben. Beschlussempfehlung ist wiederum mit den Stimmen 6700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bar, warum es nicht einen zügigen Aufbau von Opferbe- (C) und der Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion ange- ratungsstellen auch in den westlichen Bundesländern nommen. gibt. Alles, was die Bundesregierung in einem aktuellen Bericht dazu vorlegt, ist die Aussage: Die Entscheidung Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und b auf: über solche strukturellen Fragen obliegt den Ländern. – a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika So einfach sollte man es sich aber nicht machen. Lazar, Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs, ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NEN]: Richtig!) NIS 90/DIE GRÜNEN Ich erwarte, dass auch der Bund seiner Verantwortung Daueraufgabe Demokratiestärkung – Die Aus- für Opfer rechter Gewalt gerecht wird und sich die be- einandersetzung mit rassistischen, antisemiti- troffenen Opfer nicht erst Hunderte von Kilometern zu schen und menschenfeindlichen Haltungen den Anlaufstellen bewegen müssen. gesamtgesellschaftlich angehen und die För- derprogramme des Bundes danach ausrichten In Ostdeutschland wurden die Opferberatungsstellen schon vor Jahren unter Rot-Grün aufgebaut. Leider gibt – Drucksache 17/2482 – es dort jedes Jahr Probleme wegen finanzieller Schwie- Überweisungsvorschlag: rigkeiten. Eine dieser Einrichtungen mit Problemen ist Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss die Opferberatung in Sachsen. Sie berichtete mir vor we- Haushaltsausschuss nigen Tagen über ihre Lage. Im Frühjahr dieses Jahres beantragte sie Mittel in Höhe von 100 000 Euro, wovon b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla jeweils die Hälfte der Bund und das Land Sachsen tragen Jelpke, , Matthias W. Birkwald, weite- sollten. Die Mittel von Sachsen erhielt sie, aber im Sep- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE tember kam ein Schreiben vom Bund, dass keine Mittel Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus mehr verfügbar seien. Ob das Land die fehlende Summe verstärken – Bundesprogramme gegen Rechts- ersetzen wird, ist unklar, aber ich glaube es nicht ange- extremismus ausbauen und verstetigen sichts der Sparmaßnahmen, die auch Sachsen ergreift. Damit wird es ab Oktober zu deutlichen Stellenkürzun- – Drucksache 17/3045 – gen kommen müssen. Von einer professionellen und flä- Überweisungsvorschlag: chendeckenden Arbeit kann daher keine Rede sein. Ich Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) fordere die Bundesregierung auf, sich mit den Ländern Innenausschuss verbindlich darüber zu verständigen, wie man wichtige (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Strukturen erhalten und Planungssicherheit gewährleis- (D) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich ten kann. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- bei der SPD und der LINKEN) nerin der Kollegin Monika Lazar vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Dieses Beispiel zeigt: Wir brauchen eine langfristige, verlässliche Förderstrategie. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Konzentration auf Extremismus, die dem Pro- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gramm ab dem nächsten Jahr zugrunde liegen soll, führt Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus, zu einem falschen Ansatz. Das kritisiert auch die Links- Antisemitismus und anderen Formen der gruppenbezo- fraktion in ihrem Antrag, der heute parallel zu unserem genen Menschenfeindlichkeit ist eine gesamtgesell- beraten wird. Zu Recht beanstandet sie darin, dass sich schaftliche Aufgabe. Um nachhaltig Erfolge zu erzielen, aus dieser Extremismustheorie keine Konzepte für prä- braucht man einen langen Atem. Initiativen müssen in- ventive Arbeit ableiten lassen. haltlich weitgehend unabhängig von staatlichem Ein- Die Bundesregierung hat in diesem Bereich auch fluss wirken können. Es ist ein Austausch auf Augen- noch keine Konzepte, wie sich bei verschiedenen Nach- höhe zwischen Initiativen und den zuständigen Stellen fragen der Opposition auch in anderen Bereichen – zum auf allen Ebenen nötig. Es muss gesichert werden, dass Beispiel zum Bündnis für Demokratie und Toleranz, das erfolgreiche Strukturen und Projekte dauerhaft Förde- sich in den letzten Jahren diesen Themen gewidmet hat – rung erhalten. gezeigt hat. Dort gibt es einfach nichts. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei der SPD und der LINKEN) NEN]: So ist es!) Deshalb fordern wir die Bundesregierung, aber auch Herr Kues, Sie können uns ja in der nächsten Woche im die Länder auf, die erfolgreichen Programme auf hohem Ausschuss etwas vorlegen. Bis jetzt gibt es leider nur Niveau fortzusetzen, sie weiterzuentwickeln und zu ver- heiße Luft. bessern. In unserem Land werden bundesweit rassistisch und rechtsextrem motivierte Gewalttaten begangen. Das Wir müssen demokratische und tolerante Haltungen reicht von Beschimpfung und Diskriminierung bis hin zu und Handlungsweisen in der gesamten Gesellschaft – kind- Mord. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nachvollzieh- gerecht, angefangen bei den Kleinsten – dauerhaft stär- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6701

Monika Lazar (A) ken. Und da war das, was der Staat gestern in Stuttgart Nummer I kann ich in einigen Aspekten teilen. Sie schrei- (C) vorgemacht hat, kein Beweis für Demokratie. ben: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jeder Form von Menschenfeindlichkeit und ideolo- Zuruf von der CDU/CSU) gisch motivierter Gewalt muss entgegengetreten werden, selbstverständlich auch dann, wenn sie aus Die Förderung muss auf zivilgesellschaftliche An- dem linken politischen Spektrum kommt oder isla- sätze ausgerichtet sein und verstetigt werden. Es ist not- mistisch motiviert ist. wendig, die in Ostdeutschland entwickelten erfolgrei- chen Standards, besonders bei mobiler Beratung und bei – Das ist ein Satz, der quasi auch von der Union stam- Opferberatung, auf die alten Bundesländer zu übertra- men könnte. So viel zur Verpackung. gen. Nun geht es aber in Ihrem Forderungskatalog ans Ein- Das neue Programm soll anders gestrickt werden. Wir gemachte, nämlich an den Inhalt der Verpackung. Beim haben genügend Forderungen vorgelegt. Fördern Sie Eingemachten ist es dann mit unseren Gemeinsamkeiten zielgerecht Aktivitäten gegen Rechtsextremismus, Ras- schnell vorbei, Frau Lazar. sismus, Antisemitismus und andere Formen der grup- Sie bemängeln, dass das Antragsrecht für die Förder- penbezogenen Menschenfeindlichkeit, und das nicht nur mittel des Programms „Vielfalt tut gut“ auf die Kommu- an den vermeintlich extremen Rändern, sondern auch in nen beschränkt ist. Sie kritisieren, dass die Gemeinden der Mitte der Gesellschaft! so politisch unliebsame Projektträger von den Förderun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gen ausschließen könnten. bei der SPD und der LINKEN) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gute lokale Aktionspläne, mobile Beratungsteams und NEN]: Alles schon passiert!) Opferberatungsstellen müssen langfristig gesichert oder Ich meine, die meisten Kommunalpolitiker werden sehr – wie in Westdeutschland – überhaupt erst aufgebaut wer- wohl wissen, was für die Demokratie vor Ort gut ist und den. was nicht. Ganz wichtig ist, dass auch kleine Träger und alterna- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tive Projekte Förderchancen erhalten. Sie brauchen ein NEN]: Ich lade Sie gerne einmal nach Sachsen Antragsrecht direkt beim Bund. Solche Mittel sind mit ein!) Sicherheit eine sinnvolle Investition in unsere Demokra- tie. Ich setze da auf die Erfahrungen und den gesunden Men- schenverstand dieser Kommunalpolitiker in den Kreisen, (B) Zum Schluss noch einmal meine Forderung: Bezie- (D) Städten und Gemeinden. hen Sie bei der Neugestaltung der Bundesprogramme die Wirklichkeit, die Erfahrungen aus der Praxis und auch (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist gerade das die Erfahrungen der Opposition mit ein! Problem!) Vielen Dank. Damit der Kampf gegen Extremismus weiterhin vor Ort fest verankert werden kann, ist es eben unbedingt not- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wendig, die Mandatsträger in den Städten und Gemein- bei der SPD und der LINKEN) den an diesen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Grünen und die Linke fordern ein ergänzendes Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der Programm für freie Träger mit direktem Antragsrecht. CDU/CSU-Fraktion. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NEN]: Das hatten wir unter Rot-Grün auch schon!) Eckhard Pols (CDU/CSU): Das würde die Beteiligung der Kommunen beschneiden. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zu dem Weg über die Kommunen gibt es jedoch keine Kolleginnen und Kollegen! Verpackung und Inhalt klaf- Alternative; fen leider zu oft auseinander. Das können wir immer (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wieder der Zeitschrift der Stiftung Warentest entnehmen, NEN]: Doch, die gab es schon!) die gern über Mogelpackungen berichtet. Ähnlich wie es sich mit dem Unterschied zwischen Verpackung und In- denn eine dauerhafte Förderung von Kleinstprojekten halt verhält, verhält es sich auch mit Ihrem Antrag, durch den Bund verstößt gegen die verfassungsmäßige meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen. Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Was ist NEN]: Tolles Argument!) denn das für ein Unsinn?) In der Überschrift zu Ihrem Antrag heißt es „Dauerauf- Der Erfolg von „Vielfalt tut gut“ zeigt, wir sind da auf gabe Demokratiestärkung“. Das ist eine Aufgabe, der dem richtigen Weg. Die von Ihnen schon angesproche- sich die demokratischen Fraktionen dieses Hauses selbst- nen lokalen Aktionspläne – bisher sind es 90 – werden verständlich verpflichtet fühlen. Auch Ihre Analyse unter weitergeführt, und zusätzlich werden 90 weitere Projekte 6702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Eckhard Pols (A) gefördert. Die Ausschreibung für diese zusätzlichen lo- einem Linksextremisten wird nicht automatisch ein De- (C) kalen Aktionspläne läuft in Kürze an, und die Nachfrage mokrat, nur weil er sich als Antifaschist bezeichnet. Wir ist jetzt schon deutlich erkennbar. wollen keine Förderung linksextremer und antidemokra- tischer Aktivitäten mit dem Geld der Bürger. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dagegen haben wir auch nichts! Ist (Beifall bei der CDU/CSU) okay!) Der Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und In- Fragwürdig ist natürlich auch die Forderung der Grü- toleranz ist ein Kennzeichen einer wehrhaften Demokra- nen, von einer Regelüberprüfung engagierter Initiativen tie. Wir wollen das Demokratiebewusstsein von Kindern gegen Rechtsextremismus durch den Verfassungsschutz und Jugendlichen von Anfang an stärken, um sie so vor abzusehen. Extremismus jeglicher Art zu schützen. Deshalb haben wir den Haushaltsansatz zur Bekämpfung des Extremis- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sehr mus und zur Stärkung der Demokratie um 5 Millionen richtig!) Euro auf insgesamt 29 Millionen Euro erhöht. Das ist Zum einen finden überhaupt keine regelmäßigen Über- der höchste Ansatz seit 2001, Frau Lazar. Von Kürzung prüfungen statt. Zum anderen sollte gerade eine Organi- kann hier also keine Rede sein. Das Familienministe- sation, die sich der Extremismusbekämpfung und der rium hat die Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, To- Demokratieförderung verschrieben hat, nichts zu verber- leranz und Demokratie entsprechend gebündelt und logi- gen haben. Ein klares Bekenntnis zu unserer Verfassung scherweise in einem Haushaltstitel zusammengeführt. sollte da eine Selbstverständlichkeit sein. Wir wollen auf administrativer Ebene für die Projekt- partner die Betreuung aus einer Hand ermöglichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, wir, die christlich-liberale Jeder meiner Handwerkskollegen muss zum Beispiel Koalition, und die Regierung der Mitte sind weder auf eine Tariftreueerklärung abgeben, wenn er einen öffent- dem linken noch auf dem rechten Auge blind. Bei uns lichen Auftrag erhalten will. Zur Sicherheit führen wir stimmen Verpackung und Inhalt überein. die Abgabe einer Erklärung zur Verfassungstreue als neue Bedingung für die Gewährung von Fördermitteln Vielen Dank. ein. Es ist daher schon erstaunlich, dass einige Linke und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) selbsternannte antifaschistische Organisationen anschei- nend ein Problem damit haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sowohl Bündnis 90/Die Grünen als auch die Linke Das Wort hat der Kollege Sönke Rix von der SPD- (B) fordern, auf die Ausweitung der Bundesprogramme auf Fraktion. (D) Linksextremismus und Islamismus zu verzichten. Ich verstehe nicht, warum Sie dem Staat auf dem linken Auge Sönke Rix (SPD): ein Pflaster verpassen wollen. Jede Form des Extremis- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf mus ist eine Gefahr für unsere Demokratie, egal ob er die kruse Vorstellung, gerade Die Falken als linksextrem links, rechts oder religiös motiviert ist. zu bezeichnen, will ich jetzt hier gar nicht eingehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Eckhard Pols [CDU/CSU]: Linksextrem! SJD – Deshalb setzt zum Beispiel das Programm „Zusam- Die Falken!) menhalt durch Teilhabe“ bereits sehr frühzeitig an. Es – Sie mussten noch einmal nachlesen, was Ihnen aufge- handelt sich hierbei um ein vorbeugendes Programm, schrieben worden ist. Die Falken als linksextrem zu be- welches auf die Stärkung eines friedfertigen und gedeih- zeichnen, Herr Kollege, dazu gehört schon etwas. Ich lichen Zusammenlebens abzielt. Wir wollen so bereits schlage Ihnen vor: Überprüfen Sie das, bevor Sie solche im Vorfeld Ängsten und Vorverurteilungen den Nährbo- Äußerungen hier in diesem Hause wiederholen! den entziehen. Extremismus darf gar nicht erst entste- hen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Jedes Jahr, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer ungefähr zur Haushaltsdebattenzeit, unterhalten wir uns Ein grundlegendes Problem Ihrer Forderungen ist, dass über die Programme zur Förderung von Demokratie und linksextremen Vereinigungen, zum Beispiel die selbster- Toleranz, zur Bekämpfung von Rechtsextremismus oder nannte Antifa oder SJD – Die Falken, Tür und Tor geöff- von Extremismus allgemein. Das geschieht jedes Jahr net wird, um mit Steuergeldern ihre Aktivitäten zu finan- wieder und alle vier Jahre ganz besonders, weil alle vier zieren. Jahre neue Förderrichtlinien auf den Markt geworfen (Zurufe von der SPD: Was? – Gabriele werden. Zur Überprüfung dieser Richtlinien und zur Fograscher [SPD]: Jetzt ist aber gut!) Überprüfung der Programme will ich im Moment noch nicht viel sagen. Aber das, was man bisher trotz aller Ge- – Hören Sie zu! – Derartige Organisationen berufen sich heimhaltung hört, vor allen Dingen die Rückmeldungen, auf Antifaschismus, um so ihre eigene Ideologie zu die man von den Trägern der Programme bekommt, be- rechtfertigen, welche sich in Wahrheit gegen unsere frei- sagen, dass wir in den vergangenen Jahren in diesem Be- heitlich-demokratische Grundordnung richtet. Wir unter- reich gute Arbeit geleistet haben. Unseren Dank verdient scheiden zwischen demokratischen Antifaschisten und haben insbesondere die zivilgesellschaftlichen Organisa- nichtdemokratischen Antifaschisten. Es ist doch so: Aus tionen, die sich hier trotz der Bürokratie, trotz der jedes Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6703

Sönke Rix (A) Jahr von neuem zu stellenden Anträge und trotz der alle Ich vermisse jedoch ein Gesamtkonzept der schwarz- (C) vier Jahre neuen Richtlinien engagiert haben. gelben Koalition. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ich gebe aber zu, dass es viel zu verbessern gibt. Ich appelliere deshalb noch einmal an die Mehrheit in Auch während der Zeit der Großen Koalition hat sich diesem Hause, insbesondere vor dem Hintergrund der nicht immer alles so entwickelt, wie sich die Sozialde- Haushaltsdebatte, dass sie den Kampf gegen Rechts- mokraten das vorgestellt haben und wie sie es vielleicht extremismus ernst nimmt und diesen vernünftig mit fi- umgesetzt hätten, wenn sie allein regiert hätten. nanziellen Mitteln ausstattet. Ich appelliere an Sie, ein Konzept vorzulegen, das aufzeigt, wie dieser Kampf ge- Weniger Bürokratie brauchen wir unbedingt bei die- gen Rechtsextremismus verstetigt werden kann. Entwi- sen Programmen. Wir brauchen auch so etwas wie einen ckeln Sie endlich ein Gesamtkonzept und binden Sie die Feuerwehrtopf, eine Möglichkeit, um kurzfristig auch Zivilgesellschaft dabei ein! kleinere Projekte zu unterstützen. Das ist bisher nicht vorgesehen. Ich appelliere an die Bundesregierung, so Abschließend zitiere ich aus einem Papier des „Welt- etwas auf den Weg zu bringen. offenen Sachsen“: Gelebte Demokratie ist die beste Rechtsextremismusbekämpfung. – Fangen wir damit an. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich hoffe, Sie sind dabei. DIE GRÜNEN) Danke schön. Generell brauchen wir einfach weniger Projektitis im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kampf gegen Rechtsextremismus bzw. – um es positiv DIE GRÜNEN) zu formulieren – im Kampf für Demokratie und Tole- ranz. Wir brauchen das als eine stetige Aufgabe, sodass wir uns nicht jedes Jahr darüber unterhalten müssen, ob Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: es genügend Mittel und vernünftige Strukturen gibt. Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Bernschneider von der FDP-Fraktion. Als wir über Antisemitismus diskutiert haben, haben wir fraktionsübergreifend beschlossen, dass wir den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kampf gegen Antisemitismus und damit auch gegen Rechtsextremismus verstetigen wollen. Leider hat die Florian Bernschneider (FDP): Bundesregierung hierzu bis dato noch nichts vorgelegt. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- (B) desrepublik Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie. (D) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Sie ist eine wehrhafte Demokratie, weil die Mütter und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Väter unseres Grundgesetzes richtige und wichtige Am Montag hatte ich ein Treffen mit einigen Vertre- Schlüsse aus der jüngsten deutschen Geschichte gezogen tern der Vereine und Verbände, die diese Programme be- haben, weil sie erkannt haben, dass es wichtig ist, gegen treiben. Monika Lazar war auch dabei. Keiner von ihnen Verfassungsfeinde nicht erst vorzugehen, wenn sie straf- wusste irgendetwas über die neuen Leitlinien. fällig werden, sondern bereits vorher. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deswegen ist es richtig, dass wir an dieser Stelle im- NEN]: Wir aber auch nicht!) mer wieder über präventive Ansätze diskutieren. Es ist aber falsch, diese präventiven Ansätze an Opferzahlen Wir als Parlamentarier haben sowieso vorher nichts er- festzumachen. fahren. Damit kann man manchmal schon leben. Wenn man aber der Auffassung ist, dass Demokratiestärkung (Sönke Rix [SPD]: Wer hat das denn nur durch die Zivilgesellschaft selbst möglich ist, dann gemacht?) sollte man aber auch die Zivilgesellschaft und die Orga- – Der Antrag der Grünen führt sogar bereits in der Ein- nisationen bei der Erarbeitung der Richtlinien mit ein- leitung die Opferzahlen auf. binden. Das ist leider nicht passiert, und das ist ganz scharf zu kritisieren. Meine Damen und Herren, wenn es zu Opfern kommt, dann ist es für präventive Ansätze zu spät. Dann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist das ein Fall für die Justizbehörden. Eine wehrhafte DIE GRÜNEN) Demokratie reagiert früher. Sie reagiert, bevor es zu Straftaten kommt. Deswegen ist es für eine wehrhafte Das spricht insgesamt dafür, dass eine Demokratieof- Demokratie auch nicht hinnehmbar, dass man sich bei fensive dieser Bundesregierung nicht stattfindet. Man Facebook mit Heinrich Himmler befreundet sein. Ge- muss sich nur einmal die Website der Bundesfamilien- nauso wenig ist es für eine wehrhafte Demokratie akzep- ministerin anschauen. Die Bekämpfung von Rechts- tabel, dass Rechtsradikale CDs mit Hassparolen auf extremismus findet dort nur ganz am Rande statt. Die Schulhöfen verteilen. Aufgabe muss aber offensiv angegangen werden, Pro- jekte für Demokratie und für Toleranz auf den Weg zu Meine Damen und Herren, bitte erklären Sie mir aber, bringen. Das muss eine Aufgabe nicht nur der Familien- warum es für eine wehrhafte Demokratie in Ordnung ist, ministerin, sondern der gesamten Bundesregierung sein. wenn die Antifa Flyer mit der Aufschrift „Frei sein, high 6704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Florian Bernschneider (A) sein, Terror muss dabei sein“ vor Schulen verteilt. Bitte uns also nicht vorwerfen, weder den Kolleginnen und (C) erklären Sie mir doch einmal, warum eine wehrhafte De- Kollegen von der Unionsfraktion noch uns, dass wir die mokratie wegschauen sollte bei Überschriften wie „Hass- von Rechtsextremismus ausgehende Gefahr nicht ernst prediger werben um Jugendliche“. Warum soll eine nehmen. Wir erweitern jedoch den Blickwinkel. Ich wehrhafte Demokratie wegschauen, wenn Pierre Vogel würde mir die gleiche Ernsthaftigkeit auch bei Ihnen auf YouTube mit einem Berliner Rapper für seine radi- wünschen, wenn es um andere Gefahren als Rechtsextre- kalen Glaubenssätze wirbt? Der Antrag der Linkspartei mismus geht. gibt uns einmal mehr keine Antwort darauf. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Grünen kritisieren dann in ihrem Antrag außer- Sie schaffen es einmal mehr, ganze vier Seiten zu fül- dem unser Verständnis von Extremismusbekämpfung len, ohne überhaupt einmal das Wort „Linksextremis- und überhaupt den Begriff des Extremismus. Das über- mus“ zu benutzen. rascht mich, weil es eine lange Rechtsprechungstradition des Bundesverfassungsgerichts gibt, auf die wir zurück- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das kennen wir greifen können, um zu verdeutlichen, was unter Rechts- auch nicht!) extremismus zu verstehen ist und was eine verfassungs- – Ja, genau. Ich wollte gerade fragen, ob Sie das Wort feindliche Gruppe ist. „Linksextremismus“ nicht schreiben können. Zumin- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dest wollen Sie es nicht erwähnen. NEN]: Ich habe das vor zwei Wochen in mei- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Erklären Sie mir ner Rede erklärt! Das können Sie noch einmal doch einmal, was Linksextremismus ist!) nachlesen!) – Ja, ich kann Ihnen sagen, warum Sie keine Lust haben, Daran hat sich seit Rot-Grün nichts geändert. Es wurde sich damit auseinanderzusetzen. auch keine neue Definition von Extremismus aufgestellt, seitdem die Regierung gewechselt hat. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Nein, Sie sollen es mir einmal erklären!) Aber natürlich – darin sind wir uns ja einig und da- rüber brauchen wir nicht zu streiten – kann man nicht Das würde ja bedeuten, auch einmal das Demokratiever- mit den gleichen Mitteln Rechtsextremismus, Links- ständnis der eigenen Mitglieder genauer unter die Lupe extremismus und Islamismus bekämpfen. Das hat diese zu nehmen. Bundesregierung aber auch gar nicht vor. Wir setzen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten noch wesentlich früher an. Wir wollen schon an dem (B) der CDU/CSU – Dr. Peter Tauber [CDU/ Punkt ansetzen, wo sich Jugendliche noch gar nicht im (D) CSU]: Oder das eigene!) Umfeld einer extremistischen Bewegung befinden. Bei Prävention geht es nicht nur darum, gegen etwas zu mo- Die Grünen sind Ihnen da, meine Damen und Herren bilisieren, sondern vor allem darum, für etwas zu be- von der Linkspartei, jedenfalls einen Schritt voraus. Sie geistern: für Demokratie, für Vielfalt, für Toleranz. Wir erkennen in ihrem Antrag an, dass man „jeder Form von glauben, wenn jemand dieses Rüstzeug mit sich trägt Menschenfeindlichkeit und ideologisch motivierter Ge- – Demokratie, Vielfalt und Toleranz –, dann ist er im- walt“ entgegentreten muss. Aber welche Schlüsse ziehen mun gegen jede Form von Extremismus und erkennt in Sie daraus? In der Begründung ihres Antrags heißt es: jeder Form von Extremismus das Falsche. Deswegen Eine „Ausdehnung der Programmmittel auf den Kampf setzen wir mit unserem Programm auch genau hier an gegen ‚Linksextremismus‘ und ‚Islamismus‘“ wäre „in- und erweitern den Blick. Das ist der richtige Weg. haltlich falsch“ und würde die Gefahr befördern, „dass mittelfristig die Mittel für den Kampf gegen“ Rechts- Ich würde mich freuen, wenn Sie endlich aufhörten, extremismus „gekürzt werden“. Meine Damen und Her- einen verengten Blick auf die Thematik zu richten, und ren, was soll uns das sagen? Handelt es sich bei den Grü- uns dabei unterstützten, etwas Vernünftiges in diesem nen um Extremismusprävention nach Kassenlage? Bereich zu erreichen. Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie beruhigen Vielen Dank. – entsprechende Vorwürfe werden uns ja immer vorge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – halten –: Diese Bundesregierung hat nicht vor, die Mittel Gabriele Fograscher [SPD]: Wenn Sie denn im Bereich Extremismusprävention zu kürzen. endlich einmal etwas vorlegten!) (Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir erweitern den Blick auf extremistische Gefahren Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Frak- – das stimmt –, aber wir erhöhen auch die Mittel, die wir tion Die Linke. dafür brauchen. Ulla Jelpke (DIE LINKE): (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Sie schmeißen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die Geld zum Fenster heraus!) Linke meint, dass die Bundesprogramme gegen Rechts- Deswegen wird der Titelansatz auch von 19 auf 29 Mil- extremismus und für Demokratie seit vielen Jahren eine lionen Euro erhöht, um mehr als 50 Prozent. Man kann wichtige und unverzichtbare Arbeit in den Ländern und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6705

Ulla Jelpke (A) Kommunen leisten. Die intensive Auseinandersetzung (Beifall bei der LINKEN) (C) mit Nazistrukturen hat Früchte getragen. Das muss man ganz klar sagen. Wir messen das vor allem daran, dass es Deswegen fordern wir auch: Die Bundesprogramme sol- gelungen ist, Neofaschismus, Rassismus und Antisemi- len nicht länger Modellprojekte sein, sondern dauerhaft tismus zu einem öffentlichen Thema zu machen, um gefördert werden. Dafür brauchen Sie mehr Geld. Das Aufmerksamkeit und Gegenwehr mobilisieren zu kön- gilt auch für die zahlreichen lokalen Aktionspläne. Es nen. darf nicht sein, dass sinnvolle Projekte dort, wo sie nötig wären, aus Geldmangel ausfallen müssen oder nur auf Doch die Träger dieser unbestreitbar sinnvollen Pro- Kosten anderer Projekte stattfinden können. Zudem jekte müssen sich seit Jahr und Tag gegen Beschrän- müssen auch im Westen unbedingt Beratungsstellen für kungsversuche und Bevormundung wehren. Sie müssen die Opfer rassistischer und rechtsextremistischer An- teilweise jedes Jahr aufs Neue, wie wir schon gehört ha- griffe aufgebaut werden. Jeder Versuch, den Kampf ge- ben, um ihre Existenz bangen. Deshalb hat die Linke ei- gen Neonazismus zu verwässern, ist verantwortungslos. nen eigenen Antrag vorgelegt. Wir wollen erreichen, Das sage ich vor allem auch mit Blick auf die Bundes- dass die Bundesprogramme langfristig abgesichert wer- regierung, die ohne jedes Konzept – Herr Bernschneider, den und ihre Ausweitung auch nach Westdeutschland Sie haben es eben angesprochen – eine Extremismus- möglich ist, ohne andere bestehende Programme finan- debatte anzettelt. Sie ist noch nicht einmal in der Lage, ziell einzuschränken. Meine Damen und Herren, wir uns eine klare Auskunft darüber zu geben, was eigent- meinen, der Kampf gegen Neofaschismus muss uns das lich das Problem des Linksextremismus ist. wert sein. (Zuruf von der FDP: Wir sind nicht auf einem (Beifall bei der LINKEN) Auge blind! Das ist der Unterschied! Wir kämpfen gegen jede Art von Extremismus!) Herr Pols, ein Problem, auf das Sie in diesem Zusam- menhang aufmerksam gemacht haben, stellt sich auf – Schauen Sie sich die vielen Kleinen Anfragen an. Die kommunaler Ebene häufig genau andersherum dar, als Bundesregierung ist nicht in der Lage, dies auch nur an- Sie es hier dargestellt haben. Es ist der Versuch, die rea- nähernd zu beschreiben. Dennoch wirft sie für diese Pro- len Naziprobleme zu verschweigen oder zu verharm- jekte Millionen aus dem Fenster. Ich will nur daran erin- losen. Das gibt es immer wieder. Bloß nicht den Finger nern, dass im letzten Haushaltsjahr 2 Millionen Euro in die Wunde legen, bloß nicht zugeben, dass es in un- veranschlagt wurden und Sie nicht wussten, wo Sie das serer Gemeinde Nazis gibt, ist das Motto leider allzu vie- Geld unterbringen konnten. Setzen Sie es für den Kampf ler Kommunen und Verwaltungen. gegen Rechtsextremismus ein; da ist es auf jeden Fall sinnvoller eingesetzt als bei dem, was Sie im Moment in (B) Die Programme haben hier den Druck wesentlich er- (D) Ihrer Konzeption vorlegen. höht. Mit dem Ignorieren oder stillschweigenden Tole- rieren von Angriffen auf Migranten, Obdachlose oder Ich will noch einmal verdeutlichen, wie Ihre Debatte auf Antifaschisten muss endlich Schluss gemacht wer- gegenwärtig geführt wird. Unserer Meinung nach gibt es den. Sie haben für Aufmerksamkeit gesorgt, wenn es keine Rechtfertigung dafür, Krawalle am 1. Mai mit dem rassistische Vorfälle gab, beispielsweise in Fußballsta- beinahe schon systematischen Terror der Neonazis dien, aber auch, wenn es um Nazischmierereien ging. gleichzusetzen. Das tun Sie hier ständig. Umso unverständlicher ist es für uns, dass vor allem (Manfred Grund [CDU/CSU]: Es gibt also in der Unionsfraktion ständig blockiert und gebremst gute Krawalle und schlechte! – Ingrid wird. Sie versuchen schon seit Jahren, die Programme an Fischbach [CDU/CSU]: Krawall bleibt Kra- die politische Kandare zu nehmen und sie wieder ver- wall!) stärkt unter Verwaltungsbürokratie zu bringen. In diesem Zusammenhang nenne ich in der Tat noch einmal Ihre Damit verharmlosen Sie im Grunde genommen den Versuche, die Projekte verfassungsschutzmäßig in die Rechtsextremismus und ermutigen ihn meines Erachtens Regelanfrage hineinzunehmen, oder dass, wie kürzlich auch. Ich möchte noch einmal ganz deutlich sagen, dass geschehen, die Ministerin eine Kampagne gegen a.i.d.a. dies auch eine Verhöhnung der 137 Menschen ist, die macht, gegen ein Zentrum in München, das Antifa-Do- seit 1990 durch Nazis ums Leben gekommen sind, wie kumentationen archiviert. Jetzt hat das oberste Gericht die Zeit und der Tagesspiegel erneut recherchiert haben. entschieden, dass es aus dem Verfassungsschutzbericht herausgenommen werden muss. Ich halte es für einen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Skandal, Projekte immer wieder als linksextremistisch zu verdächtigen. Frau Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluss!

(Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Ausschlaggebend dafür ist die Kalter-Krieg-Mentali- Die Linke fordert seit vielen Jahren eine unabhängige tät, die in der Union immer noch Misstrauen gegen Anti- Beobachtungsstelle. Sie ist hier auch schon einmal be- faschismus hervorbringt. Da kann ich nur sagen: Für die schlossen worden. Unabhängiges Beobachten ist nötig, Fraktion Die Linke ist Antifaschismus kein Ausdruck ei- um eine genaue Analyse über Rechtsextremismus und ner besonderen linksradikalen Gesinnung, sondern Antisemitismus zu bekommen. Wir wünschen uns, dass schlichtweg eine demokratische Selbstverständlichkeit. der Bundestag das endlich umsetzt. 6706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Ulla Jelpke (A) (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund dann ist das leider der falsche Weg. (C) [CDU/CSU]: Mit Schiffen Waffen gegen Is- Ich möchte gerne Charlotte Knobloch zitieren, die ge- rael hinfahren! Das ist klasse!) sagt hat:

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Diese Bundesrepublik ist für uns Juden wieder eine Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Peter Tauber von Heimat geworden, wir sind fester Bestandteil der der CDU/CSU-Fraktion. deutschen Gesellschaft. Dieser Satz muss uns alle stolz machen. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Da sind wir uns doch alle einig!) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es darf kein Zweifel daran bestehen, dass im Kampf gegen Nachdenklich müssen wir aber angesichts der Tatsa- den Rechtsextremismus alle demokratischen Fraktionen che werden, dass 5,4 Prozent der Jugendlichen in diesem dieses Hauses Seite an Seite stehen sollten. Es darf auch Land latent antisemitisches Gedankengut pflegen. Noch keinen Zweifel daran geben, dass Bildung und Aufklä- nachdenklicher müssen wir angesichts der Tatsache wer- rung die effektiven Instrumente gegen braune Rattenfän- den, dass dieser Anteil bei Jugendlichen mit muslimi- ger sein müssen und sein können. schem Hintergrund bei über 15 Prozent liegt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: In dieser Einschätzung sind wir uns Deswegen haben wir trotz unseres Sparhaushaltes die doch einig!) Mittel für den Kampf gegen den Rechtsextremismus nicht gekürzt. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden hat des- wegen gesagt: Die Gewaltbereitschaft im muslimischen (Florian Bernschneider [FDP]: Genau!) Lager ist vergleichbar mit der im rechtsextremen Lager. Das muss man an dieser Stelle sagen. – Das wird auch der Verfassungsschutz bestätigen. Aber diese Tatsache negieren Sie in Ihren Diskussionsbeiträ- Wir erwarten von denjenigen, die sich in diesem Feld gen permanent. engagieren, natürlich auch, dass sie ein ganz klares Be- kenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – und zum Grundgesetz abgeben. Wer das nicht kann, ist Sönke Rix [SPD]: Das stimmt überhaupt ungeeignet, junge Menschen über die Gefahren des nicht! Antisemitismus ist Antisemitismus!) Rechtsextremismus oder des Extremismus im Allgemei- (B) Das ist sehr bedauerlich. (D) nen aufzuklären. Auch daran darf es aus meiner Sicht keinen Zweifel geben. Es muss uns alle sehr nachdenklich stimmen, dass wir es bisher nicht geschafft haben, diesen jungen Leuten zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erklären, dass jeder Deutsche eine besondere Verantwor- Es geht noch um ein anderes Prinzip; denn es geht tung gegenüber und gegenüber Menschen jüdi- nicht allein um die Aufklärung über die Gefahren einer schen Glaubens hat. dumpfen Ideologie. Es geht auch darum, deutlich zu ma- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen, dass wir nicht bereit sind, zu tolerieren, dass in NEN]: Den Kampf gegen den Antisemitismus diesem Land extremistische Gruppen ihre Partikularinte- haben wir mit dem gesamten Haus beschlos- ressen mit Gewalt gegen Sachen und Personen auf der sen!) Straße und an anderen Orten durchsetzen. Auch das muss man klar sagen. Den Opfern ist es vollkommen Es gehört zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutsch- egal, ob sie von einem politischen Radikalinski, von ei- land, für das Existenzrecht Israels einzutreten und die nem Islamisten, von einem militanten Tierschützer oder Freundschaft zum jüdischen Volk immer wieder zu beto- von einem gewaltbereiten Fußballfan geschlagen, getre- nen. Cem Özdemir hat es übrigens selbst gesagt. Diese ten und verletzt werden. Wir müssen daher das Thema Position fehlt leider in dieser Klarheit in Ihrem Antrag. Extremismus in seiner Gesamtheit betrachten. Eine Ver- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es engung auf den Rechtsextremismus ist falsch und führt ist echt peinlich, was Sie sagen!) in die Irre. Ich komme zum nächsten Punkt. Wir dürfen beim (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thema Antisemitismus nicht nur auf den Rechtsextre- Die klare Aussage, dass jede Form von Extremismus mismus und den Islamismus schauen. Der Bundestag hat Mist ist, muss aus meiner Sicht jeder Abgeordnete des mit großer Mehrheit beschlossen: Wer an Demonstratio- Deutschen Bundestages unterschreiben können. In Ih- nen teilnimmt, auf denen Israel-Fahnen verbrannt wer- rem Antrag gibt es sehr viele Sätze, die ich sofort unter- den und antisemitische Parolen gerufen werden, ist kein schreiben würde. Aber wenn Sie darin mit Blick auf den Partner im Kampf gegen den Antisemitismus. Antisemitismus Ihre Perspektive – das ist das Bedauerli- Mitglieder Ihrer Fraktion, meine Kollegen von der che – eindimensional verengen, linken Seite, haben in der Vergangenheit immer wieder (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- an Demonstrationen teilgenommen, bei denen Parolen NEN]: Das stimmt doch gar nicht!) wie „Tod Israel“ gerufen wurden und bei denen Israel- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6707

Dr. Peter Tauber (A) fahnen verbrannt wurden. Deswegen sind Sie für mich (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla (C) kein Partner im Kampf gegen den Antisemitismus. Das Jelpke [DIE LINKE]) sage ich an dieser Stelle ganz deutlich. Schwerpunkt der Programme des Familienministeriums (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulla war immer die Förderung von Demokratie und Toleranz Jelpke [DIE LINKE]: Lüge nennt sich das!) sowie die Information und Aufklärung über Rechtsextre- mismus, über die Ideologie, Erscheinungsformen und – Das ist keine Lüge. Sie können es an verschiedenen Gegenstrategien. Sie wünschen eine Ausdehnung der Stellen nachlesen: Neun Abgeordnete Ihrer Fraktion hat- Programme auf andere Erscheinungsformen des Extre- ten gar kein Problem, an solchen Demonstrationen teil- mismus; aber Sie sind uns bis heute Strategien und Kon- zunehmen. zepte für die Auseinandersetzung mit Linksextremismus Ich bin sehr froh, dass die Bundesregierung einen und islamistischem Extremismus schuldig geblieben. positiven Ansatz wählt, um junge Menschen für Demo- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla kratie zu begeistern, um sie zu überzeugen, dass die Art, Jelpke [DIE LINKE]) wie wir unser Gemeinwesen organisieren, die beste ist. Alle, die daran mitwirken wollen, sind herzlich eingela- Das Bündnis für Demokratie und Toleranz, initiiert den. von Bundesinnenministerium und Bundesjustizministe- Herzlichen Dank. rium, zeichnet jedes Jahr im Wettbewerb „Aktiv für De- mokratie und Toleranz“ Projekte aus, die sich für Demo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kratie und Toleranz, gegen Extremismus und Gewalt engagieren. Viele Menschen in unserem Land engagie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ren sich hier, freiwillig, ehrenamtlich, mit Fantasie und Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Fograscher Ideenreichtum. Dafür sind wir dankbar. Die Anerken- von der SPD-Fraktion. nung in Form des Preises und der öffentlichen Würdi- gung ist für viele ein Ansporn. (Beifall bei der SPD) Sie versuchen nun jedoch seit Monaten, dem Bündnis die Aufgabe zuzuschieben, sich auch mit Linksextremis- Gabriele Fograscher (SPD): mus zu befassen. Mit den Instrumenten, die dem Bünd- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! nis zur Verfügung stehen, geht das aber nicht. Es gibt Demokratiestärkung, die Auseinandersetzung mit rassis- eben keine zivilgesellschaftlichen Projekte, die sich die- tischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Ein- ser Aufgabe stellen können und wollen. Wir werden stellungen, war und bleibt eine Daueraufgabe jeder Bun- (B) ernsthaft über die politischen Vorgaben und die Ausrich- (D) desregierung und auch des Bundestages. Hier vermissen tung des Bündnisses reden müssen. Auch die Personal- wir Impulse und Engagement dieser Bundesregierung. politik in der Geschäftsstelle muss ein Thema sein. Stichwort Antisemitismus. Im Vorfeld des 9. Novem- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla ber will ich daran erinnern, dass vor zwei Jahren alle Jelpke [DIE LINKE]) Fraktionen gemeinsam hier im Bundestag einen Antrag zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Stärkung Die Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremis- jüdischen Lebens in Deutschland verabschiedet haben. mus verstellt die Sicht darauf, dass es für die unter- Aber wie sieht es mit der Umsetzung aus? Was ist aus schiedlichen Phänomene unterschiedliche Herangehens- dem Expertengremium geworden? Wie ist es besetzt? weisen und Konzepte zur Lösung geben muss. Das starre Welche Themen und Aufgaben bearbeitet es? Wann er- Links-Rechts-Denken führt zu falschen Entscheidungen. hält der Bundestag einen Bericht darüber? Ein Beispiel dafür: Die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle e. V., a.i.d.a., wurde (Beifall bei der SPD) vom bayerischen Verfassungsschutz als linksextremis- Ich will auf die Bundesprogramme eingehen. Seit tisch eingestuft. dem Jahr 2000 finanziert der Bund Programme zur Stär- Am Donnerstag letzter Woche hat der Bayerische kung der Zivilgesellschaft, zunächst Entimon und Civitas, Verwaltungsgerichtshof in zweiter Instanz entschieden, jetzt „Vielfalt tut gut“. Aus diesen Programmen haben dass der Verfassungsschutzbericht „ein auch nicht an- sich viele wirksame Projekte und Ansätze entwickelt. Es satzweise durch tatsächliche Anhaltspunkte nachvoll- sind Strukturen entstanden, die es nachhaltig zu sichern ziehbar belegtes Negativurteil“ über a.i.d.a. enthält; ent- gilt, so die Beratungsstellen für Opfer politisch motivier- sprechende Stellen im Bericht seien zu schwärzen oder ter Gewalt oder die Landeskoordinierungsstellen und die zu streichen. lokalen Aktionspläne als Anlaufstelle für Initiativen und Kommunen sowie als Netzwerk zum Austausch von Extremismus, insbesondere Rechtsextremismus, ist Ideen und nachahmungswerten Aktivitäten. Allerdings kein Phänomen an den Rändern der Gesellschaft. Stu- begleitet uns hier seit zehn Jahren das Problem, eine dien belegen, dass es in der Mitte der Gesellschaft rassis- nachhaltige Finanzierung zu gewährleisten. tische, antisemitische und fremdenfeindliche Einstellun- gen gibt. Es ist kein Jugendproblem. Deshalb müssen (Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!) wir über die Ausrichtung von Folgeprogrammen im Deshalb müssen wir uns in den Beratungen ernsthaft um Bundesfamilienministerium und im Bundesinnenminis- Lösungen bemühen. terium diskutieren. 6708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

Gabriele Fograscher (A) Es ist kein ostdeutsches Problem. Ich begrüße, dass wichtig ist es, Islamismus und Linksextremismus in un- (C) der Bundesinnenminister das Bundesprogramm „Zusam- serem Land Einhalt zu gebieten. menhalt durch Teilhabe“ initiiert hat. Dafür sind 18 Millionen Euro für drei Jahre vorgesehen. Dieses (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Programm soll Projekte für demokratische Teilhabe und Aus meiner Sicht ist das eine Selbstverständlichkeit für gegen Extremismus in Ostdeutschland fördern. Extre- jeden, der sich dem Grundgesetz verpflichtet fühlt und mistische Bestrebungen sind kein Problem allein der im Deutschen Bundestag unser Volk vertritt. neuen Bundesländer; sie sind ein gesamtdeutsches Pro- blem. Im ersten Halbjahr 2010 gab es, so die Auskunft Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, ignorieren au- der Bundesregierung, insgesamt 36 überregionale Veran- ßerdem mit etlichen Ihrer Forderungen die Zuständig- staltungen und Aufmärsche von Rechtsextremisten. Da- keitsverteilung gemäß Grundgesetz. So kann der Bund von fanden 19 in den sogenannten alten Bundesländern in den Themenfeldern Rechtsextremismus, Antisemitis- statt. mus und Fremdenfeindlichkeit nur im Rahmen seiner Anregungsfunktion tätig werden. Das haben wir bisher Wer Demokratieförderung ernst nimmt, darf die Mit- getan. Wir haben viel Anerkennung dafür erfahren, und tel für die Bundeszentrale für politische Bildung nicht wir werden es auch weiterhin tun. kürzen. Er muss plebiszitäre Elemente auch auf Bundes- ebene einführen. Er darf Kommunen und Bundesländer Demokratiestärkung als Daueraufgabe des Bundes nicht finanziell ausbluten lassen, sodass sie ihre Aufga- und eine entsprechende Dauerförderung sind nicht zuläs- ben nicht mehr wahrnehmen können. Er muss Projekte, sig. Initiativen und Strukturen nachhaltig finanzieren. Er (Sönke Rix [SPD]: Das stimmt gar nicht!) muss Menschen, die sich engagieren, unterstützen und ermuntern, statt sie vom Verfassungsschutz überprüfen Entsprechend müsste Ihnen bekannt sein, dass eine auf zu lassen. Dauer angelegte Förderung von Kleinstprojekten vor Ort (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem nicht möglich ist; denn hierfür sind gemäß der Kompe- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tenzverteilung die Kommunen und Länder zuständig. (Sönke Rix [SPD]: Wer ist denn Gesetzgeber?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie blenden außerdem bereits bestehende präventiv- Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Fograscher. pädagogische Programme des Bundes aus, zum Beispiel die Förderung der politischen Bildung im Rahmen des Gabriele Fograscher (SPD): Kinder- und Jugendplans. Gerade bei jungen Menschen (B) In diesem Sinne wünsche ich uns ernsthafte und ziel- gilt es anzusetzen. Ihr demokratisches Bewusstsein gilt (D) führende Beratungen in den Ausschüssen. es zu stärken, und ihre politische Partizipation gilt es zu fördern. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich halte darum die Annahme für zu kurz gegriffen, DIE GRÜNEN) dass unsere Verantwortung sich ausschließlich auf die Bekämpfung des Rechtsextremismus beziehen soll, wie dies die Linke in ihrem Antrag fordert. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat die Kollegin Ewa Klamt von der CDU/CSU- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fraktion das Wort. Ich erinnere Sie deshalb an die unter anderem vom Deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Gewerkschaftsbund veranstaltete Demonstration am 12. Juni dieses Jahres in Berlin, in der Ihre Kollegin Ewa Klamt (CDU/CSU): Gesine Lötzsch zum Kampf für ein gerechtes Land auf- gerufen hatte. Dieser „Kampf“ endete mit 14 verletzten Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Polizisten – zwei davon wurden schwer verletzt –, die Ich bin fest davon überzeugt, dass es in diesem Haus den Opfer einer Splitterbombe wurden. parteiübergreifenden Konsens gab und gibt, gegen jede Form von Rechtsextremismus vorzugehen. Ebenso bin (Sönke Rix [SPD]: Ist jetzt auch der DGB ich jedoch der Überzeugung, dass das nicht dazu führen linksradikal?) darf – diesen Satz richte ich besonders an die Kollegin- nen und Kollegen der Linken –, dass andere Formen von – Er hat zu der Demonstration aufgerufen. Extremismus in unserem Land völlig ausgeblendet wer- (Lachen bei der SPD) den. Ich erinnere nur an das, was wir hier besprechen. Dass Richtigerweise verweisen die Grünen in ihrem Antrag dieser Anschlag aus dem linksextremistischen Lager auf den Bericht des UN-Sonderberichterstatters von die- kam, steht außer Frage. sem Jahr, in dem dieser feststellt, dass das Rassismus- verständnis in Deutschland zu eng auf rechtsextremisti- Sosehr ich befürworte, dass die bisher erfolgreichen sche Handlungen beschränkt ist. So richtig es ist, dass Programme gegen Rechtsextremismus fortgeführt wer- wir gegen Rassismus, Antisemitismus, menschenfeindli- den, so klar plädiere ich dafür, dass wir gegen alle For- che Haltungen und Rechtsextremismus vorgehen, so men von Extremismus vorgehen; denn alle Extremisten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6709

Ewa Klamt (A) haben eines gemeinsam: Sie lehnen unsere freiheitliche für eine Demokratie, die sich gegen jede Form von Ge- (C) Grundordnung ab. walt wendet, die keine Form von Gewalt verharmlost und weder auf dem linken noch auf dem rechten Auge Zur Erfüllung unserer Aufgabe, zur Stärkung der De- blind ist. mokratie, stehen insgesamt 29 Millionen Euro pro Jahr für die Programme zur Verfügung. Das sind 5 Millio- Ich danke Ihnen. nen Euro mehr als im letzten Haushaltsjahr. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Handlungsbedarf gegen Rechtsextremismus ist nach wie vor groß. Das belegen die aktuellen Zahlen des Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Verfassungsschutzes. In dieser Woche wurde aber auch Die letzte Rede des heutigen Tages war gleichzeitig bekannt gegeben, dass Deutschland weiterhin im Fokus die erste Rede der Kollegin Klamt in diesem Hause. Ich islamistischer Gruppierungen liegt. Das islamistische gratuliere Ihnen dazu im Namen des ganzen Hauses. Potenzial ist im vergangenen Jahr erneut angestiegen: Inzwischen gibt es 36 270 Mitglieder. (Beifall) Genauso besorgniserregend ist die Zunahme der Ge- Ich schließe die Aussprache. walt in der linksextremistischen Szene um 59 Prozent. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ich erinnere daran, dass der Präsident des Bundesamtes den Drucksachen 17/2482 und 17/3045 an die in der Ta- für Verfassungsschutz nach dem Bombenanschlag auf gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Polizisten in Berlin einen signifikanten Anstieg militan- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ter linksextremer Gewalt konstatierte. Ebenso zeigte sich sind die Überweisungen so beschlossen. der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerk- schaft der Polizei sehr besorgt darüber, dass es – ich zi- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- tiere – „bis in linksliberale bürgerliche Kreise hinein die ordnung. Tendenz“ gebe, „linke Gewalt zu verharmlosen“. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Lassen Sie uns deshalb mit den Programmen, die von destages auf Mittwoch, den 6. Oktober 2010, 13 Uhr, dieser Bundesregierung angeschoben werden, gemein- ein. sam für unsere freiheitliche Demokratie eintreten, Die Sitzung ist geschlossen. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Schluss: 16.28 Uhr)

(B) (D)

Berichtigung 62. Sitzung, Seite 6519 (A), zweiter Absatz, der zweite Satz ist wie folgt zu lesen: „Ursprünglich war der § 53 b der StPO einschlägig, der durch einen Änderungs- antrag in den § 160 a übergegangen ist.“

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010 6711

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Beckmeyer, Uwe SPD 01.10.2010 Marks, Caren SPD 01.10.2010

Binder, Karin DIE LINKE 01.10.2010 Meierhofer, Horst FDP 01.10.2010

Binding (Heidelberg), SPD 01.10.2010 Meinhardt, Patrick FDP 01.10.2010 Lothar Dr. Middelberg, Mathias CDU/CSU 01.10.2010 Brähmig, Klaus CDU/CSU 01.10.2010 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 01.10.2010 Burchardt, Ulla SPD 01.10.2010 DIE GRÜNEN

Daub, Helga FDP 01.10.2010 Dr. Murmann, Philipp CDU/CSU 01.10.2010

Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 01.10.2010 Oswald, Eduard CDU/CSU 01.10.2010

Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 01.10.2010 Dr. Paul, Michael CDU/CSU 01.10.2010

Glos, Michael CDU/CSU 01.10.2010 Roth (Heringen), SPD 01.10.2010 Michael Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 01.10.2010 Rupprecht SPD 01.10.2010 Graf (Rosenheim), SPD 01.10.2010* (Tuchenbach), (B) Angelika Marlene (D)

Dr. Freiherr zu CDU/CSU 01.10.2010 Schäffler, Frank FDP 01.10.2010 Guttenberg, Karl- Theodor Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 01.10.2010

Hartmann SPD 01.10.2010 Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ 01.10.2010 (Wackernheim), DIE GRÜNEN Michael Dr. Schmidt , Frithjof BÜNDNIS 90/ 01.10.2010 Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 01.10.2010 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN Schmidt (Aachen), Ulla SPD 01.10.2010 Dr. Högl, Eva SPD 01.10.2010 Schreiner, Ottmar SPD 01.10.2010 Humme, Christel SPD 01.10.2010 Schuster, Marina FDP 01.10.2010 Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 01.10.2010 Dr. Steinmeier, Frank- SPD 01.10.2010 Klöckner, Julia CDU/CSU 01.10.2010 Walter

Kopp, Gudrun FDP 01.10.2010 Süßmair, Alexander DIE LINKE 01.10.2010

Kunert, Katrin DIE LINKE 01.10.2010 Weinberg, Harald DIE LINKE 01.10.2010

Leidig, Sabine DIE LINKE 01.10.2010 Werner, Katrin DIE LINKE 01.10.2010

Lindner, Christian FDP 01.10.2010 Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 01.10.2010

Lips, Patricia CDU/CSU 01.10.2010 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 01.10.2010 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Lutze, Thomas DIE LINKE 01.10.2010 sammlung des Europarates 6712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2010

(A) Anlage 2 Um das baldige Inkrafttreten der im Beschäftigungschan- (C) cengesetz getroffenen Regelungen nicht zu verhindern, Amtliche Mitteilungen verzichtet der Bundesrat auf eine Anrufung des Vermitt- lungsausschusses. Der Bundesrat fordert die Bundesre- Der Bundesrat hat in seiner 874. Sitzung am 24. Sep- gierung jedoch auf, zeitnah eine Regelung zu schaffen, tember 2010 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen die einen Anspruch auf Förderung der beruflichen Wei- zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- terbildung nach dem SGB III im Bereich der Altenpflege satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: über den gesamten Ausbildungszeitraum vorsieht. – Gesetz für bessere Beschäftigungschancen am Ar- – Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses beitsmarkt 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über (Beschäftigungschancengesetz) die Anwendung des Grundsatzes der gegenseiti- gen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbu- Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- ßen ßung gefasst: – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie des Europäi- Der Bundesrat bedauert, dass sein Beschluss vom schen Parlaments und des Rates über Endener- 4. Juni 2010, berufliche Weiterbildungsmaßnahmen nach gieeffizienz und Energiedienstleistungen dem SGB III im Bereich der Altenpflege zu entfristen und als Rechtsanspruch zu gewähren – Bundesratsdrucksache – Gesetz über die Verwendung von Verwaltungsda- 225/10 (Beschluss) –, im weiteren Gesetzgebungsverfah- ten für Wirtschaftsstatistiken, zur Änderung von Statistikgesetzen und zur Anpassung einzelner ren keine Berücksichtigung gefunden hat. Vorschriften an den Vertrag von Lissabon Die Altenpflege bietet im Hinblick auf eine Verbesse- – Gesetz zu dem Änderungsprotokoll vom 11. De- rung der Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt beson- zember 2009 zum Abkommen vom 23. August ders gute Chancen. Denn anders als im Wirtschaftsbereich, 1958 zwischen der Bundesrepublik Deutschland in dem mit einem rasanten Anstieg des Fachkräftebedarfs und dem Großherzogtum Luxemburg zur Ver- erst in den kommenden Jahren gerechnet werden muss, meidung der Doppelbesteuerungen und über ge- herrscht in der Altenpflege bereits eine massive Nach- genseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete frage nach qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbei- der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen tern. Gemeldet wird derzeit bundesweit ein Bedarf an sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern rund 30 000 Pflegefachkräften – mit zu erwartender deut- lich steigender Tendenz. Die Pflegebranche gilt damit zu – Gesetz zu dem Abkommen vom 13. Juli 2006 zwi- (B) Recht als einer der größten Jobmotoren überhaupt. Dies schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- (D) umso mehr, als die Fachkraftausbildung in der Alten- land und der mazedonischen Regierung zur Ver- pflege ein zukunftsträchtiges, sinnvolles und krisensiche- meidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet res Berufsfeld eröffnet. Deshalb gilt es, über verstärkte der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Anstrengungen in der Berufsausbildung hinaus auch alle – Gesetz zu dem Protokoll vom 15. Mai 2003 zur Än- anderen Möglichkeiten zur Gewinnung von Fachpersonal derung des Europäischen Übereinkommens vom möglichst umfassend zu nutzen. Dies gilt gerade auch für 27. Januar 1977 zur Bekämpfung des Terrorismus Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung im Bereich der Altenpflege, zumal im Hinblick auf die demografi- sche Entwicklung ohnehin mit einem Rückgang an ju- Die Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mit- gendlichen Bewerberinnen und Bewerbern zu rechnen geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdo- ist. Experten, wie z. B. das Deutsche Institut für ange- kumente zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- wandte Pflegeforschung in Köln (dip), raten deshalb tung abgesehen hat. ebenfalls, den Bereich der beruflichen Weiterbildung nach dem SGB III im Bereich der Alten- und Kranken- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz pflege stärker in den Blick zu nehmen. Lebenserfahrene und Reaktorsicherheit Personen, die z. B. durch Kindererziehung oder eine fa- Drucksache 17/136 Nr. A.93 miliäre Pflegezeit den Anschluss in ihrem alten Beruf Ratsdokument 10429/09 verloren haben, können in diesem Berufsfeld neue Erfül- Drucksache 17/136 Nr. A.94 lung finden. Ratsdokument 11063/09 Drucksache 17/136 Nr. A.95 Ratsdokument 11598/09 Angesichts der erklärten Absicht der Bundesregie- Drucksache 17/136 Nr. A.98 rung, im Jahr 2011 eine umfassende Prüfung der arbeits- Ratsdokument 13183/09 marktpolitischen Instrumente vornehmen zu wollen, er- Drucksache 17/504 Nr. A.21 scheint es vor dem Hintergrund des Fachkräftebedarfes in Ratsdokument 17199/09 der Altenpflege inkonsequent, gerade die für die Alten- Drucksache 17/592 Nr. A.6 EuB-EP 1989; P7_TA-PROV(2009)0089 pflege bedeutsamen Fördermöglichkeiten auslaufen zu Drucksache 17/790 Nr. 1.39 lassen, während andere Instrumente verlängert werden. Ratsdokument 17473/08

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