Inhaltsverzeichnis

Geleitwort zur Schriftenreihe ...... 9 Geleitwort des Inspekteurs der Marine ...... 11 Einleitende Bemerkungen des Herausgebers ...... 15

FRIEDRICH RUGE – MARINEOFFIZIER UND PROFESSOR ...... 19 von Jörg Hillmann

EIN VATER WIRD ERFORSCHT – VERSUCH EINER ANNÄHERUNG ...... 75 von Ingeborg Eggert

Friedrich Ruge (1894-1985) „Erleben – Lernen – Weitergeben“

VOR DER MARINEZEIT ...... 91 Eine Fahrt auf der S.M.S. HESSEN im Jahre 1912 (1912) ...... 93

ÖSEL-UNTERNEHMEN, KRIEGSENDE 1918 UND SCAPA FLOW ...... 95 Die Öselfahrt auf Torpedoboot B 110 (1917) ...... 97 Brief eines auf Ösel eingesetzten Offiziers vom Regiment 255, Leutnant Backer aus dem Elsass an Friedrich Ruge ...... 120 Weihnachten in Scapa Flow (1918) ...... 123 Weihnachtsgedanken (1918/1980) ...... 124

RÜCKBLICKE ...... 125 Meuterei und Revolution 1917/18. Erlebnisse und Erfahrungen (1978) ...... 125 Scapa Flow (1939) ...... 132 Scapa Flow. Die Versenkung der Hochseeflotte am 21. Juni 1919. Ein Augen- zeugenbericht (1959) ...... 136 Zur Versenkung der Hochseeflotte am 21. Juni 1919 (1973) ...... 144

TORPEDOBOOTE UND MINENSUCHBOOTE IN DER REICHS- UND ...... 147 Benennung der deutschen Torpedoboote (1925) ...... 149 M-Boots-Navigation in der Heimat (1931) ...... 151 Der Führerbootskommandant. Eine Frage, die keine zu sein braucht (1935) ...... 155 Von der Tätigkeit der Kriegsmarine, insbesondere der Minensuchboote, im Kampf gegen Polen im Herbst 1939 (1941) ...... 158

RÜCKBLICK ...... 173 Minen und Minensuchen im Zweiten Weltkrieg (1952) ...... 173

DIE KRIEGSMARINE ALLGEMEIN ...... 181 Die neuen deutschen Kriegsschiffbauten (1938) ...... 183 Der Seekrieg im Küstenvorfeld (1943) ...... 191

RÜCKBLICKE ...... 197 Panzerschiff GRAF SPEE (1954) ...... 197 Normandie und Marianen (1954) ...... 200 Vorbereitungen zur Abwehr der Invasion (1954) ...... 204 Vor 30 Jahren: Marine 1945 (1974) ...... 212 Eigene Einstellung zum Nationalsozialismus (1971) ...... 218 Soldat im Konflikt (1982) ...... 225

DIE KONSOLIDIERUNGSPHASE BIS ZUR GRÜNDUNG DER BUNDESWEHR ...... 231 Rede von Vizeadmiral a.D. Friedrich Ruge beim Soldatentreffen des Verbandes deutscher Soldaten in Hannover am 7. Juli 1953 über die Bedeutung der Marine 233 Triphibisches Denken und Handeln (1953) ...... 236 Die Bedeutung des Ostseeraumes (1954) ...... 244 West-östliche Fronten in Südost-Asien (1954) ...... 247 Die vergessene See (1955) ...... 251 Verhältnis zur neuen Marine. Eine Neujahrsbetrachtung (1956) ...... 257

AUFBAU DER BUNDESWEHR UND DER BUNDESMARINE. DIE JAHRE ALS INSPEKTEUR DER BUNDESMARINE ...... 261 Aufgaben und Bedeutung der Bundesmarine (1956) ...... 263 Schwerpunkt Heimatgewässer. Aufgaben und Aufbau der neuen Marine (1956) 266 Zur Pflege der Tradition (1957) ...... 269 Haben kleine Flotten noch einen Sinn? (1958) ...... 272 Seemacht und die Sicherheit des Westens (1958) ...... 280 Bundesmarine in Fahrt! (1959) ...... 287 Ansprache anlässlich der Taufe der Schulfregatten BROMMY und RAULE (1959) 288 Ansprache anlässlich des Stapellaufs des Zerstörers SCHLESWIG-HOLSTEIN (1960) 290 Ansprache anlässlich des Stapellaufs des Schulschiffes DEUTSCHLAND (1960) ... 292

Ansprache von Friedrich Ruge anlässlich der Trauerfeier für Großadmiral Dr. h.c. Erich Raeder in der Petruskirche in Kiel (1960) ...... 295 Voraussetzungen einer wirksamen Verteidigung (1960) ...... 297

PENSIONIERUNG ALS INSPEKTEUR DER MARINE ...... 301 Rede Vizeadmiral Ruge aus Anlass seiner Verabschiedung am 21. Juli 1961 in der Aula der Marineschule Mürwik ...... 303 Ansprache des Befehlshabers der Flotte anlässlich des Abschieds der Flotte von Vizeadmiral Friedrich Ruge (1961) ...... 319 Tagesbefehl des Inspekteurs der Marine anlässlich der Übergabe seiner Dienstgeschäfte (1961) ...... 321

NACH DER PENSIONIERUNG: GEDANKEN, ANALYSEN UND RÜCKBLICKE ZUR BUNDESMARINE ...... 323 Die deutsche Marine in der westlichen Gemeinschaft (1962) ...... 325 Fehlt der Marine das ideale Schiff? (1963) ...... 330 Im Gedenken an das Unterseeboot HAI (1966) ...... 334 Namen für die drei Raketenzerstörer (1967) ...... 335 Tradition in der Marine (1970) ...... 338 Die Bundeswehr und die Tradition (1970) ...... 342 Probleme beim Aufbau der Bundesmarine (1977) ...... 352

RASTLOS IM ALTER: FRAGEN UND ANTWORTEN ZUR SICHERHEITSPOLITIK ...... 365 Kontinentales und globales Denken (1962) ...... 367 Seemacht – Stärke der NATO (1962) ...... 376 Soviet Sea Power in the Cold War. A Critical Analysis (1962) ...... 383 Moderne Seerüstung. Die Flotten haben ihren Wert nicht verloren (1963) ...... 403 Territorial-Reserve und Reservistenverband (1963) ...... 414 Eindrücke von einer Vortragsreise im Rahmen des ‚Distinguished Visitor in Residence Program‘ [D.V.I.R.P.] (1965) ...... 416 Bündnisse. Ein Plädoyer für die NATO (1966) ...... 420 Strategie. Versuch einer Definition (1966) ...... 424 Technologische Zusammenarbeit im Atlantik-Pakt. Konzentration aller Kräfte eine Lebensfrage für den Westen (1967) ...... 429 Freiwillige an die Front. Die USA schaffen Wehrpflicht ab. Kann die Bundes- republik nachziehen? (1972) ...... 438 Zum politischen Selbstverständnis militärischer Führungseliten. Ein Interview mit Vizeadmiral a.D. Friedrich Ruge (1978) ...... 441

GESCHICHTSSCHREIBUNG UND FIKTION ...... 455 Die Partei befiehlt den Historikern (1962) ...... 457 Zur Marinegeschichtsschreibung (1977) ...... 459 Utopien (1963) ...... 465

AUSBILDUNG UND ERZIEHUNG VON DER BIS ZUR BUNDESMARINE ... 475 Ausbildung zum Seeoffizier (1932) ...... 477 Erziehung zum Führer (1941) ...... 489 Sprachen lernen! (1958) ...... 499 Der Wert der Segelausbildung. Kleine Schiffe fordern große seemännische Erfahrung (1958) ...... 503 Ansprache zum 50jährigen Bestehen der Technischen Marineschule I in Kiel am 12. Oktober 1963 (1963) ...... 504 Studium generale navale (1968) ...... 515 Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr (1972) ...... 520

LEBENSENDE ...... 531 Weihnachtsbrief an Freunde und Verwandte (1984) ...... 533 Gedenkrede auf Vizeadmiral Professor Friedrich Ruge am 9. Juli 1985 ...... 536 Grabrede für Friedrich Ruge am 9. Juli 1985 ...... 539 Bericht von den Begräbnisfeierlichkeiten für Vizeadmiral a.D. Professor Friedrich Ruge ...... 543

BIBLIOGRAPHIE DER VERÖFFENTLICHUNGEN VON FRIEDRICH RUGE ...... 547

BIBLIOGRAPHIE ZU DEN VERÖFFENTLICHUNGEN ÜBER FRIEDRICH RUGE ...... 561

BIBLIOGRAPHIE DER VERÖFFENTLICHUNGEN FÜR FRIEDRICH RUGE ...... 565

AUTOREN- UND MITARBEITERVERZEICHNIS ...... 567

Geleitwort des Inspekteurs der Marine

Liebe Leserinnen und Leser, In vielfältiger Weise werden wir uns in den Jahren 2005 und 2006 an die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte in den Jahren 1955 und 1956 erinnern. Seit dem Kriegsende 1945 leben wir in Frieden, obwohl wir wissen, dass dieser Frieden räumlich nur auf Westeuropa bezogen ist – unsere heutigen Kenntnisse über die möglichen Auswir- kungen des vergangenen Kalten Krieges verdeutlichen, was hätte passieren können: Wir befanden uns wohl eher in einer Phase des „Nicht-Krieges“ als in der eines un- eingeschränkten Friedens. Die glückliche Vereinigung beider deutscher Staaten im Jahr 1990 ermöglichte, dass wir nunmehr als gesamtdeutsche Nation auch in Freiheit leben dürfen. Die vergangenen zehn Jahre haben uns immer neue Bedrohungsszenarien of- fenbart, denen auf der Grundlage politischer Entscheidungen auch militärisch begeg- net wurde. Der Transformationsprozess von Friedens- zu Einsatzstreitkräften stellt die Herausforderung des beginnenden 21. Jahrhunderts dar. Dieser Prozess ist mit denje- nigen Menschen zu gestalten, die in großer Zahl zu Zeiten des Kalten Krieges erzogen, aufgewachsen und ausgebildet wurden. Überkommene Denk- und Verhaltensmuster gilt es abzulegen, um sich den neuen Aufgaben stellen zu können. Wir alle sind über- zeugt, dass wir die an uns gestellten Anforderungen zu erfüllen vermögen. Dabei werden wir gestützt von einem tiefen Vertrauen in unser demokratisches Staatssys- tem. Die Einbindung in internationale Bündnissysteme bietet uns zudem Sicherheit und in die Zukunft gerichtete Entfaltungsmöglichkeiten. Bei Gründung der Bundeswehr herrschten vergleichbare verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen, allerdings fehlte den Menschen ein gewachsenes Vertrauen in die bestehenden staatlichen Organe der jungen Republik. Demokratische Strukturen mussten zunächst erlebt und erlernt werden, um die Erfahrungen nachfolgenden Ge- nerationen zu vermitteln und so politische Optimierungs- und Gestaltungsprozesse zu ermöglichen. Die Einbindung von deutschen Streitkräften in das nationale und in- ternationale Beziehungsgeflecht der Fünfziger Jahre stellte eine große Herausforde- rung dar. Wir können rückblickend feststellen, dass in der Gründungsphase der Bun- deswehr und in den ersten Jahren ihres Bestehens manche Fehler gemacht wurden. Dies wird auch heute bei den anspruchsvollen Vorhaben, die Bundeswehr und damit auch die Marine auf die neuen Aufgaben hin zu transformieren, unvermeidbar sein. Orientiert an den politischen Vorgaben und eingebunden in das internationale System von Allianzen haben es die Gründungsväter der Bundeswehr aber vermocht, den westdeutschen Streitkräften Profil zu geben, in dem sie diese an den gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Vorgaben in der Bundesrepublik Deutschland sowie den internationalen Bündnisanforderungen ausrichteten. Mit viel Augenmaß und Be- sonnenheit wurde diese schwierige Aufgabe bewältigt. Ihre Leistung wird dann be- sonders deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass sie in anderen Gesellschafts- systemen sozialisiert, aufgewachsen und ausgebildet worden waren.

11 Für die Bundesmarine ist hier Vizeadmiral Friedrich Ruge zu nennen, erst Ab- teilungsleiter, dann erster Inspekteur der Marine, der unserer Teilstreitkraft eine erste Gestalt gab und ihr zu erstem Ansehen verhalf. Ruge hätte am 24. Dezember 2004 sei- nen 110. Geburtstag gefeiert. Dieses Ereignis bietet Anlass, Friedrich Ruge mit einer Festschrift zu ehren. Sein ereignisreiches Leben hat er selbst unter das Motto: „Erleben – Lernen – Weitergeben“ gestellt. Dieser Maxime fühlte er sich zeitlebens verpflichtet. Er stellte hohe Anforderungen an sich und sein berufliches wie privates Umfeld. Er war ein überzeugter Marineoffizier mit der Passion zur geistigen Durchdringung his- torischer, marinespezifischer und sicherheitspolitischer Fragestellungen sowie dem Bewusstsein, dass künftige Aufgabenstellungen nur in streitkräftegemeinsamen und internationalen Ansätzen zu finden seien. Ruge, der das Kaiserreich als Jugendlicher erlebte, im Ersten Weltkrieg in der Kaiserlichen Marine diente, sich in der Reichsmarine als junger Offizier seine „Seebei- ne“ auf Torpedo- und Minensuchbooten wachsen ließ, anschließend in Stabsverwen- dungen stand und schließlich als Führer der Minensuchboote in der Kriegsmarine den Beginn des Zweiten Weltkrieges in Polen miterlebte, wurde während des Krieges Flaggoffizier und leitete bei Kriegsende das Hauptamt für Kriegsschiffbau. Zu diesem Zeitpunkt war er 50 Jahre alt. Nach seiner Kriegsgefangenschaft und vielfältigen Be- schäftigungen brachte er sich in das Naval Historical Team ein und war an den ersten Überlegungen für einen neuen deutschen Verteidigungsbeitrag zur See beteiligt. Im Alter von 61 Jahren wurde er zunächst Abteilungsleiter VII (Marine) und schließlich Inspekteur der Marine im Bundesministerium der Verteidigung. Mit 66 Jahren wurde er pensioniert und trat in eine neue Phase seines Lebens ein. Zunächst als Lehrbeauf- tragter dann als Professor lehrte er an der Universität Tübingen. 1985 starb Friedrich Ruge im Alter von 90 Jahren. Ruges Lebensweg kann auf unterschiedliche Weise beschrieben und erzählt werden. Der einleitende Aufsatz des Herausgebers der vorliegenden Festschrift schil- dert das Leben Friedrich Ruges aus historischer Sicht mit dem Schwerpunkt auf des- sen rege Veröffentlichungstätigkeit. Ruges älteste Tochter, Frau Ingeborg Eggert, be- leuchtet in ihrem Beitrag das Familienleben von Friedrich Ruge aus der Sicht einer „Zeitzeugin“. Die Verbindung beider Beiträge zeigt ein lebendiges Panorama des viel- seitigen Marineoffiziers Ruge, der in dieser Festschrift selbst gebührend zu Wort kommt. Mit Hilfe ausgewählter Schriften aus Ruges eigener Feder begegnet uns ein facettenreicher Mensch, der zu vielfältigen Fragen der jeweiligen Zeit Stellung bezog. Ruge offenbart uns durch seine schriftliche Hinterlassenschaft seine eigene, in den Zeitläuften verändernde oder verfestigende, geistige Entwicklung. In dem Ruge selbst nochmals zu Wort kommt, „erleben“ wir ihn und seine Zeit erneut, wir „lernen“ hieraus und wir „geben weiter“. Ruges Forderung nach geistiger Auseinandersetzung und Beschäftigung kann ich nur unterstreichen und weiterhin nachhaltig einfordern. Die Rahmenbedingungen hierzu sind auf allen Ebenen in unseren heutigen Streitkräften ideal und werden lau- fend optimiert. Die gebotenen Chancen müssen nur genutzt werden; manchmal er- fordert es aber eines Anstoßes durch die Vorgesetzten, um den Soldatinnen und Solda- ten Bildungsangebote zu verdeutlichen.

12 Die Qualität unserer Streitkräfte spiegelt sich auch in hohen materiellen Stan- dards, aber sie wird vornehmlich von den Menschen geprägt, die in unseren Streit- kräften dienen und sie gestalten. Davon hängt auch die Zukunftsfähigkeit unserer Bundeswehr ab. Vor allem Ausbildungs- und Erziehungsfragen bedürfen weiterhin unseres besonderen Augenmerks und Engagements. Das Motto des ersten Inspekteurs unserer Marine: „Wir sind eine Marine mit begrenzten Mitteln aber unbegrenztem Horizont“, möchte ich auch für die vor uns liegenden Jahre als wichtige Orientierung gelten lassen. Ich wünsche der vorliegenden Festschrift eine hohe Verbreitung und interessierte Le- serinnen und Leser. Der Lebensweg Ruges ist bemerkenswert; seine hinterlassenen Schriften fordern zum erneuten Nach- und Durchdenken. Für die Geschichte der Bundeswehr und der Deutschen Marine ist Friedrich Ruge ein „Meilenstein“ und zugleich personaler Beleg dafür, dass es den deutschen Streitkräften gelungen ist, ei- gene Traditionslinien zu schaffen, in der unser erster Inspekteur, Vizeadmiral Fried- rich Ruge, seinen festen und berechtigten Platz einnimmt. Er war ein Glücksfall für unsere Marine. Lutz Feldt Vizeadmiral Bonn/Berlin, im Dezember 2004

13 Einleitende Bemerkungen des Herausgebers

Vizeadmiral a.D. Professor Friedrich Ruge wird mit dieser Festschrift geehrt. Am 24. Dezember 2004 wäre er 110 Jahre alt geworden, am 3. Juli 2005 jährt sich sein Todestag zum 20. Mal. Beide Daten geben Anlass, an Friedrich Ruge, den ersten Inspekteur der Bundesmarine, zu erinnern. In der Festschrift sollen weniger Zeitgenossen und Freunde zu Wort kommen als Ruge selbst. Das ausgesprochen schaffensreiche Leben, welches er selbst mit „In vier Marinen“ überschrieben hat, soll an dieser Stelle mit Hilfe seiner zahlreichen Ver- öffentlichungen beleuchtet werden. So kann eine geistige Entwicklung aufgezeigt werden, die er in seinen neunzig Lebensjahren vollzogen hat. Bestimmte Denkformen behielt er Zeit seines Lebens aus Überzeugung bei – viele ältere Ansichten verwarf er als falsch oder nicht mehr zeitgemäß. Sein Motto „Erleben – Lernen – Weitergeben“ behielt er zeitlebens als Richtschnur und Wegweisung.1 Um dem Leser einen Zugang zu dem späten Tübinger Universitätsprofessor, dem ersten Inspekteur der Marine, dem parteilosen Cuxhavener Stadtrat, dem Mit- glied des Naval Historical Teams, dem Stabs- und Flaggoffizier der Kriegsmarine, dem Seeoffizier der Reichsmarine und der Kaiserlichen Marine zu ermöglichen, wird in einem ersten Beitrag das berufliche und schriftstellerische Leben von Friedrich Ru- ge dargestellt. Naturgemäß greifen hierin zahlreiche Aspekte des Privatmannes Ruge. Diese historische Außensicht wird dem Leser erweitert durch private Beobachtungen und Überlegungen der ältesten Tochter Ruges, Ingeborg Eggert, die sich ihrem Vater fragend und teilweise suchend nähert. Dem Leser erschließt sich auf diese Weise eine veränderte biographisch orientierte Zugangsweise, die sich bereits in zahlreichen neu- eren Publikationen wiederfinden lässt, in denen sich Kinder und Enkel auf die histori- sche Suche nach ihren Vorfahren begeben.2 Die Struktur der hier vorliegenden textualen Zusammenstellung aus dem Leben von Friedrich Ruge folgt maßgeblich der Chronologie der Ereignisse, weniger dem Entste- hungszeitpunkt. Besonders herausgehoben wurden jedoch die Themenbereiche der Ausbildung und Erziehung sowie die der Auseinandersetzung mit dem Thema der Geschichtsschreibung. Beide waren zentrale Beschäftigungsfelder im Leben Ruges. Alle Texte wurden aus den Originalen übertragen. Überall dort, wo Orthogra- phie- und Interpunktionsfehler festgestellt wurden, wurden diese stillschweigend be- seitigt, es sei denn, sie dienten in der Entstehungszeit als stilistisches Hilfsmittel. Fer- ner wurden die Texte weitgehend vereinheitlicht in die neue Rechtschreibung über- tragen. Der Herausgeber folgt hier den veränderten bildungspolitischen Anforderun- gen in Deutschland, auch wenn gerade zum Zeitpunkt des Entstehens eine neue Pha- se der Rechtschreibreform anzubrechen drohte. Der Pensionierung von Friedrich Ruge als Inspekteur der Marine wurde ein eigenes Kapitel gewidmet. Hierin kommt auch der erste Befehlshaber der Flotte, Konteradmi- ral Rolf Johannesson, zu Wort, um das Ende der Marinelaufbahn Ruges 1961 aus an- derer Sicht zu beleuchten. Das Kapitel zum Lebensende von Friedrich Ruge wird mit seinem letzten Weihnachtsbrief, den er an zahlreiche Freunde, Bekannte und einige

15 Verwandte versendet hatte, eingeleitet. Hierin äußerte Ruge seine Kraftlosigkeit und anhaltende Schwäche aufgrund des fortgeschrittenen Alters. Die Beschreibung des Begräbnisses durch seinen Enkel, Dr. Dieter Hartwig, deutet auf die hohe Anteilnah- me derer, die mit Ruge beruflich und privat in Kontakt standen. Die Trauerreden von Professor Dr. Karl Erich Born und Admiral resümieren das Leben von Friedrich Ruge. Hätte Ruge die Würdigung seines Lebens und seiner Person noch erleben können, hätte er mit Sicherheit „abgewunken“. Das wäre ihm zu viel Lob und Ehre gewesen.; ihm war jeder „Trubel“ um seine Person doch eher unangenehm. Allen Kapiteln wurde eine zeitgenössische Abbildung Ruges vorangestellt. Dem Leser eröffnen sich so Möglichkeiten, mit den Texten auch Lebensbilder zu verbinden sowie mit den jedem Text vorangestellten kurzen Erläuterungen zum Entstehungsgang und Veröffentlichungsort geistige Weiterungen vor der Folie von Erfahrung und Verarbei- tung einordnend zu bewerten. Den Abschluss dieser Festschrift bildet eine umfassende Bibliographie des Wer- kes von Friedrich Ruge, welches um Beiträge über ihn ergänzt wurde. Dankenswerter Weise konnte in diesem Zusammenhang auf eine bereits 1986 im Auftrag des Marine- amtes von Klaus Böttcher herausgegebene kleine Bibliographie zum Werk von Ruge zurückgegriffen werden.3 Als Herausgeber danke ich dem Freundeskreis der Marineschule Mürwik e.V. und der Stiftung Deutsches Marinemuseum für die fortgesetzte Unterstützung dieser Schrif- tenreihe. Besonderer Dank gebührt der Reunion, der Vereinigung ehemaliger Teil- nehmerinnen und Teilnehmer der Informationswehrübungen der Marine, mit ihren Sprechern, Herrn Professor Dr. Wolfgang Stein und Herrn Volker Stein, für den groß- zügigen Druckkostenzuschuss; nur hierdurch konnte diese Festschrift realisiert wer- den. Zahlreiche Organisationen und Verbände, mit denen Ruge verbunden oder in denen er tätig war, haben sich mit weiteren Zuschüssen an dieser Festschrift beteiligt. Mein Dank gilt dem Wissenschaftlichen Forum für Internationale Sicherheit e.V. (WI- FIS), der Nachfolgeorganisation des Arbeitskreises für Wehrforschung, unter Leitung seines Präses, Herrn Professor Dr. Eckardt Opitz. Weiterhin dem Deutschen Marine- bund e.V. mit seinem Präsidenten, Herrn Kapitän zur See a.D. Michael Kämpf, der Deutschen Gesellschaft für Schifffahrts- und Marinegeschichte e.V. mit ihrem Ersten Vorsitzenden, Herrn Konteradmiral a.D. Dr. Sigurd Hess. Zu danken ist ebenfalls dem Reservistenverband der Bundeswehr, der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V. (Universitätsbund) und der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg, für die gewährten Druckkostenzuschüsse. Nur die finan- zielle Gesamtanstrengung aller Sponsoren konnte gewährleisten, das Projekt erfolg- reich zu beenden. Dank gebührt denjenigen, die in Verlagen und Zeitschriftenredaktionen ihre Zustimmung zu einem erneuten Abdruck der Beiträge von Friedrich Ruge erteilt ha- ben. Dem Inspekteur der Marine, Herrn Vizeadmiral Lutz Feldt, danke ich dafür, dass er diesem Veröffentlichungsprojekt von Anbeginn wohlwollend und unterstüt-

16 zend beistand. Für die gewährte personelle und materielle Unterstützung statte ich der Deutschen Marine und der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundes- wehr Hamburg, meinen besonderen Dank ab. Meinen beiden Mitarbeitern, Daniel Kaiser und Dr. Dirk Sieg M.A., sage ich Dank für die unermüdliche Arbeit, welche die Realisierung dieses Projektes erst mög- lich gemacht hat. Herrn Dr. Sieg gebührt ebenfalls mein Dank für die Bearbeitung des Bildmaterials. Meinem Kollegen Dr. Dieter Hartwig danke ich für die freigiebige Unterstüt- zung durch in seinen Händen liegendes unveröffentlichtes Material seines Großvaters, Friedrich Ruge. Last but not least gilt mein besonderer Dank Frau Ingeborg Eggert, der ältesten Tochter von Friedrich Ruge, für den regen Meinungsaustausch in zahlreichen Gesprä- chen und ihre uneigennützige Zulieferung zahlreicher Dokumente ihres Vaters, die sich in ihrem Privatbesitz befinden. Ganz besonders danke ich ihr für die vertrauens- volle Zusammenarbeit, die ich erfahren durfte und darf. Ihre unermüdliche Zuarbeit, ihre weitergehende Suche nach noch unbekannten Veröffentlichungen sowie ihre Re- cherchen in ihrer umfangreichen privaten Sammlung haben die Festschrift belebt und ergänzt. Jörg Hillmann Hamburg, im Dezember 2004

Nachsatz

Kurz vor Drucklegung starb völlig überraschend Frau Ingeborg Eggert am 12. April 2005. Ihr war es nicht mehr vergönnt, das Erscheinen dieses Buches, in das sie viel Energie und Mitarbeit gesteckt hatte, zu erleben. In stiller Trauer und in Gedenken Jörg Hillmann, Daniel Kaiser, Dirk Sieg Hamburg, Potsdam und Dresden im April 2005

17 Friedrich Ruge – Marineoffizier und Professor

von

Jörg Hillmann

Friedrich Oskar Ruge wurde Heiligabend 1894 in Leipzig als Sohn des Gymnasialleh- rers Dr. Walther Ruge und seiner Ehefrau Friederike Martha geb. von Zahn geboren. Da Walther Ruge am König-Albert-Gymnasium unterrichtete, wurde Friedrich auf der Thomasschule eingeschult, die einen hohen Bekanntheitsgrad durch den Thomaner- Chor erlangt hatte.1

Abbildung 1: Friedrich Ruge mit seinen Schwestern Annemarie (links) und Riccarda, Anfang 1905 (Privatbesitz) Die Familie zog 1907 nach Borsdorf in die Leipziger Straße um;2 Vater und Sohn mussten nunmehr täglich zwischen Borsdorf und Leipzig pendeln. Walther Ruge, der sich als Mitarbeiter an der Realenzyklopädie von Pauly-Wissowa einen guten Namen gemacht hatte, wurde 1911 als Gymnasialrektor nach Bautzen berufen – die Familie wechselte erneut ihren Wohnort. Friedrich absolvierte dort die letzten zwei Schuljahre, bevor er am 1. April 1914 als Seeoffizieranwärter in die Kaiserliche Marine eintrat. Seine Jugend beschrieb Ruge selbst als harmonisch und familiengeprägt.3 In seiner Freizeit schloss er sich der Wandervogel-Bewegung an; der Wanderleidenschaft blieb er lebenslang verbunden und fertigte zahlreiche Tagebücher hierüber.4 Ruges Groß- onkel Robert von Zahn, Hofbuchhändler in Dresden, ermöglichte ihm ebenso wie sei- ne Eltern und Großeltern einen frühen literarischen Zugang, so dass er seine Lese- und zugleich Schreibleidenschaft entdeckte; er versuchte sich zudem in humoristi- schen Gedichten und legte lustige erlebte Begebenheiten schriftlich nieder5 – eine An-

19 gewohnheit, die Ruge später mit zahlreichen anderen Marineoffizieren teilte. Ruges Großonkel Robert hatte eine vergleichbare Neigung. Reiseberichte und Beschreibungen über ferne Länder fanden gleichfalls Fried- richs Interesse. Dies schien er mit seinem Großvater, dem Geographen und Geogra- phiehistoriker Sophus Ruge (* 26. März 1831, † 23. Dezember 1903), zu teilen, nach dem in Anerkennung seiner Forschungsreisen im 19. Jahrhundert ein Kap benannt wurde (Cape Ruge).6 Bereits Ruges Vater hatte ein starkes Interesse an der Geographie entwickelt und die umfangreiche Bibliothek seines Vaters bewahrt. Einige Bücher und ein wissenschaftlicher Zettelkasten aus dieser Sammlung wurden dem Archäologi- schen Institut in Istanbul übergeben. Die große Bibliothek der Familie Ruge verbrann- te 1945.7 Friedrich Ruge wurde später Korrespondierendes Mitglied des Coronelli- Weltbundes der Globusfreunde.8

Friedrich Ruge in der Kaiserlichen Marine

Bereits 1912 hatte Friedrich die Kaiserliche Marine kennen gelernt, als er an Bord von S.M.S. HESSEN an einer kurzen ‚Informationsreise‘ teilnahm. In dem Beitrag: Unsere Seefahrt am 13. April 1912, geschrieben „vom Fritz am 18.IV.12“ schildert der 17jährige Junge die Erlebnisse seiner ersten Seefahrt, die nach Vermittlung seines Onkels, Mari- negeneralarzt Professor Dr. med. Reinhold Ruge,9 über Korvettenkapitän Adalbert Zuckschwerdt10 zustande gekommen war. Die handschriftliche Erlebnisschilderung fertigte Fritz Ruge anlässlich des 50. Geburtstages seines Onkels. Aus den Worten des Jugendlichen spricht viel Begeisterung, und er zollt der Marine seinen Respekt. Wir können davon ausgehen, dass Ruges Entschluss, sich im März 1914 zur Kaiserlichen Marine zu melden, vornehmlich auf den positiven Erfahrungen fußte, die er an Bord S.M.S. HESSEN machen konnte.11 Rückblickend beschrieb Friedrich Ruge seinen Eintritt in die Kaiserliche Marine, seine ersten Ausbildungsmonate sowie den Kriegsbeginn 1914, den er an Bord S.M.S. HERTHA erlebte, in seinen 1979 herausgegebenen Lebenserinnerungen wie folgt:12 „In der letzten Woche des März 1914 reiste mein Vater mit mir nach Flensburg. Dort brachte er mich zum Kommandeur der Marineschule Mürwik. Dieser unterhielt sich eine Weile mit ihm und stellte mir einige Fragen. Dann trennten wir uns, und ich stieß zu den nahezu 350 Bewerbern. Diese waren zwischen 17 und 21 Jahre alt und kamen zum größ- ten Teil aus dem Mittelstand. Die Väter waren Ärzte, Lehrer, Beamte, Kaufleute usw. So- ziologen kritisieren heute, daß keine Arbeiterkinder zugelassen wurden. Soweit mir be- kannt ist, tat dies damals keine der größeren Marinen. Jede Regierung achtet darauf, daß ihre Offiziere zuverlässig sind und etwas leisten. In der deutschen Marine wurde dies in hohem Grad erreicht. Der Anteil an Adligen war gering, sie hatten keinerlei Vorrechte. In den ersten Tagen wurden wir ärztlich untersucht und sehr milde in Englisch geprüft. Parallel dazu begannen Leibesübungen und Unterricht in den militärischen Grundfor- men. [...] Von jedem der 4 Schulkreuzer waren 3 Offiziere von Anfang an dabei. Diese be- fragten ihre Kadetten gründlich, offenbar um sich ein genaues Bild von ihnen zu machen. [...] Bald brachte ein Tender die Hälfte der Crew über See nach Kiel-Wik, wo wir in der

20 Deckoffizier[s]schule (später Technische Marineschule) untergebracht waren. Der formale Teil der Grundausbildung mit Gewehr-Exerzieren, Parademarsch, usw., war kein großes Vergnügen, wohl aber Gewehrschießen, Pullen (Rudern), Winkern und Morsen; im übri- gen dauerte er auch nur 6 Wochen. Dann besichtigte uns der Inspekteur des Bildungswe- sens, ein Admiral und danach schifften wir uns auf dem Großen Kreuzer HERTHA ein. [...] Sehr früh am 29. Juli 1914 wurden wir geweckt, HERTHA machte schleunigst seeklar und lief aus [Edinburgh aus, der Verfasser]. Vor einer starken Dünung rollte sie erheblich, was mich nicht störte – im Gegensatz zu einigen anderen. Mitten in der Nordsee trafen wir ein altes Torpedoboot, das mit Ruderpanne quer zur See lag und heftig schlingerte. Unser Kommandant bot Hilfe an, aber drüben regte man sich nicht auf und meinte, mit eigener Kraft vor Kriegsausbruch einen deutschen Hafen erreichen zu können. Das stimmte.“ Aufgrund der Kriegslage wurde die Ausbildung für die Offizieranwärter an der Ma- rineschule Mürwik in Flensburg verändert und die Crew auf unterschiedliche Einhei- ten der Hochseeflotte verteilt. Für Ruge, vom 9. August bis zum 26. September zu- nächst auf das Linienschiff LOTHRINGEN versetzt,13 schloss sich eine kurze Verwen- dung (30. September bis 9. November) an Bord des Großen Kreuzers HERTHA an. Ende November 1914 stellte die Einheit außer Dienst. Deswegen wurde für Ruge und elf seiner Crewkameraden vom 10. November bis zum 23. Dezember 1914 ein Funklehr- gang an der Schule für Funkentelegraphie in Flensburg eingerichtet. Die Seekadetten wurden anschließend auf verschiedene Einheiten der Küstenschutzdivision der Ost- see in Swinemünde verteilt. Ruge erhielt ein Kommando auf dem Kleinen Kreuzer LÜBECK. Dort trat er seinen Dienst am 24. Dezember an und erfuhr von der Kaiserli- chen Order, die Crew 1914 mit Wirkung vom 24. Dezember zum Fähnrich zur See zu befördern. Ruge blieb nur kurz an Bord und nahm an einem Einsatz in der östlichen Ostsee teil. Am 5. Januar 1915 wurde er krankheitsbedingt ausgeschifft und auf einem Lazarettschiff bis zum 30. Januar behandelt. Zur Wiederherstellung seiner Gesundheit trat er am 31. Januar einen Erholungsurlaub an und wurde am 20. Februar auf das in Wilhelmshaven dem IV. Geschwader zugeordnete Linienschiff ELSASS versetzt. Neben seiner Verwendung im Funkraum wurde an Bord regelmäßig praktischer und theore- tischer Unterricht für die jungen Fähnriche durchgeführt, um die Ausbildungsdefizite auszugleichen. Im Juli 1915 verlegte das Geschwader über Danzig nach Libau und be- teiligte sich an Operationen im Rigaischen Meerbusen gegen russische Seestreitkräfte. Ende November 1915 wurde Ruge ausgeschifft und trat am 1. Dezember ge- meinsam mit einer Hälfte seiner Crew eine verkürzte Ausbildung an der Marineschu- le Mürwik in Flensburg an. Im Anschluss absolvierte er zwei je sechswöchige Lehr- gänge an der Artillerieschule und in der Torpedoinspektion. Für Ruge folgte eine wei- tere Ausbildung in der Torpedoschulflottille, während derer er zum Leutnant zur See (13. Juli 1916) befördert wurde, und ein weiterer Funklehrgang an der Funkschule in Flensburg-Mürwik im Herbst.

21 Ein Vater wird erforscht – Versuch einer Annäherung

von

Ingeborg Eggert († 12. April 2005)

Wir waren fünf Geschwister und so, wie man für einen Menschen mehrere verschie- dene Biographien schreiben kann – wobei jede in gewisser Weise stimmig ist –, so war und ist verständlicherweise auch das Verhältnis zu unserem Vater recht unterschied- lich geprägt. Unsere Beiträge an dieser Stelle würden sich nicht gleichen. Allerdings haben meine Geschwister, ganz besonders meine jüngste Schwester Christa, in man- cherlei Gesprächen meinen Wissensstand erweitert und so ihren Anteil an dieser mei- ner Arbeit. Uns gemeinsam ist das Interesse, mehr über unseren Vater zu erfahren und damit über unsere Familie, deren Leben bis heute so nachhaltig durch die Marine be- einflusst wird; ohne die Familie hätte wiederum mein Vater seine Lebensleistung nicht erbringen können. Diese Wechselwirkung zu ergründen, scheint mir eine lohnende Aufgabe zu sein. Angesichts der Fülle des von Friedrich Ruge geschriebenen, in der vorlie- genden Bibliographie aufgeführten Materials stellt sich erst recht die Frage nach der Rolle der Familie in seinem Leben. Sicher ist – die Marine stand für ihn an erster Stel- le, doch die Familie war ihm auch sehr wichtig, – und geschrieben wurde in der Frei- zeit. In meinen Augen ist das eine Kombination voller Fragezeichen, obwohl er scheinbar alles zufriedenstellend, sogar erfolgreich, unter einen Hut gebracht hat. Trotz des Bemühens um objektive Sachlichkeit lässt sich selektiver Umgang mit den eigenen Erinnerungen leider nie ganz vermeiden. Daher erscheint es mir sinnvoll, diese Erinnerungen mit archivierten Fakten und mit der interpretierenden Sicht heuti- ger Historiker zu konfrontieren. Wenn es dabei gelingt, mehr Wissen über meinen Va- ter zu vermitteln, hätte sich die Mühe dieser Zeitreise in die Vergangenheit allemal ge- lohnt. Dass sie mir in der bereichernden Zusammenarbeit mit Jörg Hillmann über- haupt erst möglich wurde, sei hier ausdrücklich dankbar vermerkt.

Der ferne Vater – die frühen Jahre

Aus jener Zeit ist mir ein Mosaik von Einzel-Erinnerungen im Gedächtnis, ergänzt durch Briefe, Fotos und Tagebücher. So entsteht schrittweise eine Skizze meiner Kind- heit, und mit ihr wächst allmählich das Verständnis für das Jahrzehnt, von dem mein Vater später manchmal sagte: „Es war wohl unsere beste Zeit“, bezogen auf das private Leben meiner Eltern und der Familie überhaupt.

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Abbildung 9: Ingeborg (rechts) und Ursula Ruge, Weihnachten 1928 (Privatbesitz) Auf der Suche nach dem Vater meiner Kindheit wurde mir klar, dass wir Geschwister, obwohl Kinder aus derselben festgefügten Ehe, doch zumindest in unserer Jugend verschiedenen Welten angehörten. Meine anderthalb Jahre jüngere Schwester Ursula und ich wurden Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geboren, unser Bruder Walter, der im Alter von elf Monaten starb, 1930, und unsere beiden jüngsten Geschwister, Wolfgang und Christa, Ende der dreißiger Jahre. Für uns Zwanziger-Jahre-Schwestern bedeutete es, aufzuwachsen in der festen Ordnung einer Familie, in der wir Kinder aus der Sicht des Vaters „das andere Ressort“ waren, klar abgegrenzt die Domäne unserer Mutter. Selbstverständlich gehörte er, so- zusagen als übergeordnete Macht, auch in unser Weltbild. Verließ er das Haus in Uni- form, so ging er zum Dienst und war oft auf See. Kam er zurück, so zog er sofort Zivil an und verschwand in seinem Zimmer, wo er arbeitete und wir ihn nicht stören durf- ten. Er erschien zum gemeinsamen Abendessen, bei dem er häufig las oder sich mit unserer Mutter in der Sprache unterhielt, in der er sich gerade auf eine Prüfung vorbe- reitete. Später wurden wir mit einbezogen – mir klingt heute noch sein „Tell it in English, dear!" in den Ohren. Gelegentlich wurden wir auch nach der Schule befragt, was nicht immer angenehm war. Es klingt wie ein karges Familienleben, doch wir haben es so nicht empfunden. Unsere Eltern nahmen sich schon Zeit für uns. Sonntags spielten wir Gesellschafts- spiele, durften gelegentlich mit zum Segeln oder zum Essen an Bord seines Minen- suchbootes. Manchmal ging unser Vater sogar mit uns spazieren, wobei er allerdings oft über Themen sprach, die uns noch nicht so recht interessierten – Geschichte zum Beispiel oder Naturkunde, mit einer Art Erlebniskunde gekoppelt. Am schönsten aber war es, wenn er abends vor dem Einschlafen vorlas, was er gern und häufig tat. Insge- samt gesehen, war er in unserer Welt eher eine, wenn auch mit Respekt betrachtete Randerscheinung, die gelegentlich für längere Zeit abwesend war.

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Abbildung 10: Friedrich Ruge mit seinen Töchtern, Ingeborg und Ursula, in Borsdorf 1926 (Privatbesitz) Das berührte das andere Ressort, unseren eigenen Mikrokosmos, in keiner Weise. So kam es uns jedenfalls vor. Wir lebten in einer Welt, die heute kaum vorstellbar ist – ohne Radio (bis Ende 1929) und Telefon (das kam, dienstlich erforderlich, 1934 ins Haus). Staubsauger, Kühlschrank und Waschmaschine hatten wir noch nicht; auch kein Auto. Ein Hausmädchen ging unserer Mutter zur Hand und betreute uns in ihrer Abwesenheit. Meine Erinnerung sieht unsere Mutter als den Fixpunkt unseres Da- seins; sie beaufsichtigte unsere Schularbeiten und nähte alle unsere Kleider und Män- tel. Bei Kummer half und tröstete sie; sie pflegte uns, wenn wir krank waren. Und ver- reiste sie ohne uns, zum Beispiel, um unseren Vater an einem anderen Standort zu be- suchen oder mit ihm Wanderurlaub zu machen, so blieben wir in der häuslichen Ge- borgenheit gut betreut zurück. Meine Eltern wanderten damals viel und gern, auch im Jahresurlaub. Gereist wurde mit Rucksack und Spirituskocher in der 4. Klasse, für Reisende mit Traglasten. Sie hatte Holzsitze, noch etwas unbequemer als die der 3. Klasse, die für längere Fahr- ten gut geeignet war, da wir Kinder im Gepäcknetz schlafen konnten. Die Familie be- suchte sich häufig, hin und her, bei sparsamster Geldeinteilung. Einmal erwähnt mein Vater mit einem gewissen verständlichen Stolz, dass er, dank eines gerade erschriebe- nen Honorars, seinen Eltern für die Rückreise den Komfort der 3. Klasse ermöglichen konnte – gekommen waren sie 4. „Güte“, wie die nicht besonders beliebte 4. Klasse

77 Scapa Flow (1939)

Im Jahr 1939 schilderte Kapitän zur See Friedrich Ruge seine Eindrücke von der Versenkung der deutschen Hochseeflotte in Scapa Flow, die er als Leutnant z.S. und Kommandant von Tor- pedoboot B 112 miterlebt hatte. Der Beitrag wurde abgedruckt in der renommierten Leipziger Ilustrirten Zeitung. November 1918 – Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung: Die neuesten und stärksten Schiffe der deutschen Hochseeflotte, elf Linienschiffe, fünf Schlachtkreuzer, acht Kleine Kreuzer, 50 Torpedoboote, werden von den Engländern in Scapa Flow auf den Orkney-Inseln interniert. Als der deutsche Befehlshaber Konteradmiral v. Reuter erfährt, dass die Feindbundmächte dem Reich ein befristetes Ultimatum zur Annahme des Friedensdiktats gestellt haben, gibt er in Erwartung der Zurückweisung dieser Bedingungen durch die Reichsregierung am 21. Juni 1919 den Befehl zur Versenkung der deutschen Flotte. Mit wehender Flagge sanken die im vierjährigen Kampf mit dem Feind siegerprobten deutschen Schiffe in das selbstgewählte Grab. Die junge und stolze deutsche Flotte hatte damit aufgehört zu bestehen. Skagerrak und Scapa Flow sind Gegensätze, wie sie erschütternder selbst im Auf und Ab der deutschen Geschichte kaum zu finden sind. Vor dem Skagerrak schlug die Hochseeflotte in der größten Seeschlacht aller Zeiten den seegewohnten, fast doppelt überlegenen Gegner. Zweiundeinhalb Jahre später ging die gleiche Flotte, in einem schmachvollen Waffenstillstand entwaffnet, in die Internierung nach Scapa Flow und sank dort nach langer Ungewissheit ins selbstgewählte Grab. Die Hochseeflotte, auf der Männer aller deutschen Stämme dienten, war der gewaltigste Ausdruck deutscher Macht und deutscher Einheit. Ihre Kraft zerbrach in der Novemberrevolte 1918, weil die politische Führung sie nicht rechtzeitig eingesetzt hatte und auch die Offiziere nicht gewarnt hatte, die, für den Kampf erzogen, es nicht für möglich hielten, dass sogenannte Volksvertreter die höchste Not des Vaterlandes für parteipolitische Hetze ausnutzten. Als dann der Waffenstillstand abgeschlossen war, erschien es als schwere, aber unumgängliche Pflicht, die Schiffe, mit denen man sich eng verbunden fühlte, in die geforderte Internierung zu bringen, um das Reichs- gebiet vor weiteren Zugriffen des Feindes zu bewahren. Es war nicht leicht, sich zu diesem Entschluss durchzuringen, und unvergessen bleiben die Worte, die der 2. Füh- rer der Torpedoboote an die Offiziere der Boote richtete, welche in die Internierung gehen sollten: „Unser armes Volk ist schwer krank, aber es wird sich wieder auf sich besinnen und gesund werden. Helfen Sie mit dazu, indem Sie ein Beispiel der Pflichterfüllung geben.“ Er sah damals klarer als viele von uns. In gleicher Auffassung übernahm Konteradmi- ral v. Reuter, der bisherige Befehlshaber der Aufklärungsstreitkräfte, die Führung des „Internierungsverbands“. Er hatte sich einen Namen gemacht als Kommandant des Schlachtkreuzers DERFFLINGER, dann als Führer von Aufklärungsgruppen und ganz besonders durch seinen zähen und erfolgreichen Kampf gegen vielfache Übermacht in der Deutschen Bucht im November 1917. Im Sinne der Waffenstillstandsbedingungen rechneten wir mit Internierung in einem neutralen Hafen. Der Engländer dachte anders. Er erzwang von der deutschen „Regierung“ eine im Waffenstillstand nicht vorgesehene Untersuchung der Schiffe auf

132 vollständige Abrüstung im Firth of Forth. Dies wurde erst nach dem Auslaufen über- mittelt. Zähneknirschend musste man sich fügen, denn einheitliches Handeln war in so kurzer Zeit nicht zu erzielen, und die Versenkung einiger Fahrzeuge hätte den si- cheren Verlust aller anderen bedeutet. Ohne vorherige Bekanntgabe des Internierungsortes wurde der Verband dann geschwader- und flottillenweise unter starker Bewachung nach Scapa Flow gebracht, dem großen englischen Stützpunkt auf den Orkneys nördlich von Schottland. In einer geräumigen Bucht zwischen den Felseninseln lag nun fast sieben Monate lang der Kern der Hochseeflotte, bestehend aus 16 Großkampfschiffen, acht Kleinen Kreuzern und 50 Torpedobooten, stets bewacht von einem englischen Geschwader und einer Zerstörerflottille. Nur ein Bruchteil der Besatzung blieb an Bord, auf den großen Schiffen von der 1.200-1.500 Mann starken Besatzung höchstens 200 Mann, auf den Torpedobooten je 20 von ursprünglich 120-140, insgesamt auf dem ganzen Verband 150 Offiziere und knapp 5.000 Mann. So gering die Besatzungen waren, so reichten sie doch aus, im Be- darfsfalle die Schiffe über See fahren zu können. Noch hofften wir, wenigstens einen Teil der Flotte wieder nach Deutschland bringen zu können, und hieraus ergab sich für die Offiziere die Aufgabe, diese Fahrbereitschaft unter allen Umständen materiell und personell aufrechtzuerhalten. Der Engländer machte uns das nicht gerade leicht. Gegen Sitte und Anstand lieferte er keine Verpflegung, sondern setzte durch, dass die- se aus dem ausgehungerten und noch immer blockierten Deutschland herangebracht wurde. Hartbrot, Rübenmarmelade und Graupen spielten die Hauptrolle auf dem Speisezettel. Landgang war verboten, obgleich wirklich nicht einzusehen war, was für Unheil wir auf den Felsbrocken anrichten konnten. Häufige Anträge wurden niemals abgelehnt, aber auch nie genehmigt. 240 Tage vergingen vom letzten Spaziergang in Deutschland bis zur Versenkung! Sogar der Besuch der anderen deutschen Schiffe und Halbflottillen war verboten, er gelang heimlich nur selten. Die Post wurde immer gründlicher zensiert. Der Briefwechsel mit der Heimat dauerte schließlich sechs bis acht Wochen. Der Engländer lieferte nur Zeitungen unentgeltlich und Brennstoff ge- gen Bezahlung, diesen aber so knapp, dass wir uns von 23 Uhr bis 8 Uhr weder Licht noch Heizung leisten konnten. Beim schleppenden Verlauf der Friedensvorarbeiten war ein Ende der Internie- rung nicht abzusehen, die Stimmung der Leute sank dementsprechend. Durch regel- mäßigen Arbeitsdienst von 9 bis 14 Uhr wurden sie aber bei Vernunft gehalten, frei- williger Unterricht, so gut man es eben konnte, in Englisch, Deutsch, Geschichte, Erd- kunde, Rechnen, Chemie usw. verkürzte die langen Winternachmittage und -abende. Fischfangen, Rattenjagden und gelegentliche Feiern mit Festvorstellung und Gesang sorgten für Abwechslung und Unterhaltung. Die mangelhafte Ernährung führte zu regelrechtem Skorbut, der aber durch reichlichen Genuss von Zitronensäure schnell überwunden wurde. Kein gründliches Mittel gab es gegen die Zahnerkrankungen, an denen schließlich 75% unserer Leute litten. Sie mussten trotzdem so lange wie möglich an Bord gehalten werden, denn der Engländer ließ bald keinen Ersatz mehr heraus- kommen. Wir hatten den Eindruck, dass er uns personell „aushungern“ wollte, um Grund zu haben, die Schiffe vorzeitig zu besetzen. Enge Raumverhältnisse erschwer-

133 ten die Lage auf den Torpedobooten, aber trotzdem waren wir glücklich daran, denn bei uns gab es keine Hetzer wie auf einigen anderen Schiffen. Deren Einfluss brachen aber allmählich der Admiral und sein Chef des Stabes, Fregattenkapitän Oldekop, in einem erbitterten Kampf, den sie so zu führen wussten, dass weder Deutsche vor eng- lische Richter kamen noch die Engländer eine Handhabe erhielten, auf unseren Schif- fen einzugreifen. Noch waren sie deutsch, noch wehten die Kommandozeichen als äußeres Sinnbild der Hoheitsrechte, wenn auch die Kriegsflagge nicht gesetzt werden durfte. Die Bekanntgabe der vernichtenden Friedensbedingungen Anfang Mai hatte wenigstens ein Gutes: Die Lage war klar, Recht galt nicht mehr, die Hoffnung, auch nur ein Schiff nach Hause zu bringen, musste aufgegeben werden. Auf allen Torpedo- booten wurden sofort Vorbereitungen getroffen, sie zu versenken, falls der Engländer versuchen sollte, sie wegzunehmen. Es verdient festgehalten zu werden, dass 1.000 Mann sechs Wochen lang täglich Gelegenheit hatten, diese Vorbereitungen zu verra- ten, und dass es nicht einer getan hat. Diese Zeit, in der der Feindbund dem deut- schen Reich den Gewaltfrieden aufzwang, wurde besonders schwierig dadurch, dass wir nach Wegnahme der Funkempfänger auf die Nachrichten 3-4 Tage alter Zeitungen angewiesen waren und daher immer sehr früh mit verschärfter Bereitschaft beginnen mussten, wenn sich eine neue Krisis abzuzeichnen begann. Dann hatte Tag und Nacht ein Offizier Wache an Deck, und in den Räumen hielten sich Leute klar, um bei engli- schen Überrumpelungsversuchen sofort handeln zu können. Leider hatten wir keiner- lei Sprengstoff an Bord, und den Flutventilen war nicht viel zuzutrauen, da die Boote unter Wasser außerordentlich stark bewachsen waren. Daher wurden das Öffnen der Kondensatoren und die Zerstörung bestimmter Rohrleitungen vorbereitet. Die gründ- liche Arbeit lohnte sich, denn unsere Halbflottille sank dann sehr schnell. Scheinbar den Engländern entgegenkommend, gab Admiral v. Reuter die Fahr- bereitschaft der Schiffe auf und erreichte, dass wenige Tage vor der Versenkung 2.000 Mann nach Deutschland zurückgebracht wurden. Erst dann begannen die Vorberei- tungen auf den Schlachtschiffen und Kreuzern. Die Befehle überbrachte der ahnungs- lose Engländer mit der sonstigen Post. Er sorgte auch dafür, eine rechtlich unanfecht- bare Lage für den deutschen Befehlshaber zu schaffen, indem er vergaß, ihm mitzutei- len, dass das für den 21. Juni mittags gestellte Ultimatum um zwei Tage verlängert worden war. Da niemand von uns damit rechnete, dass dieser Schandfrieden unter- zeichnet würde, musste zu diesem Zeitpunkt der Kriegszustand eintreten, die Schiffe daher feindlichem Zugriff entzogen werden. Der Augenblick der Versenkung war be- sonders günstig, denn zum ersten Mal während der Gesamtinternierung waren die englischen Wachstreitkräfte zu Übungen in See gegangen. Bei strahlendem Sonnenschein gingen am 21. Juni 1919 gegen Mittag die Kriegsflaggen zum letzten Mal hoch. Als es dann in den verlassenen Räumen rauschte und gurgelte, als die Boote tiefer sanken, Schlagseite bekamen und unter drei Hurras auf Deutschland verlassen wurden, als es schließlich gelungen war, die Besatzung an Land zu bringen, da schien die in den dunklen Tagen im November übernommene Aufgabe erfüllt. Nur noch als Zuschauer erlebten wir tief ergriffen den Untergang der stolzesten Schiffe der Hochseeflotte, hörten aus der Ferne das Feuer, dem neun Kame-

134 raden zum Opfer fielen, dann ging es für sieben weitere Monate ins Gefangenenlager, das englische Rechtsauffassung uns zudiktierte. So gut war gearbeitet worden, dass nur wenige Schiffe sofort geborgen werden konnten, keines davon in brauchbarem Zustand, noch viel weniger die, die nach Jah- ren in mühsamer Arbeit gehoben wurden. Die Flotte war vernichtet, die Reste deut- scher Seemacht wurden durch das Versailler Diktat gründlich zerstört. Die Ehre der Marine aber war gerettet und damit die sittliche Grundlage für einen künftigen Auf- bau.

135 Normandie und Marianen (1954)

In der Marinezeitschrift Leinen los! veröffentlichte Friedrich Ruge den vorliegenden Beitrag, der an die zehn Jahre zurückliegenden Ereignisse im Jahr 1944 erinnern sollte (Heft 6, S. 7). Ruge verknüpfte hierin die kriegsverändernden und schließlich kriegsentscheidenden Ereignis- se in der Normandie und den Marianen. Obwohl letzthin die Kriegsentscheidung in beiden Kriegsräumen an Land erkämpft wurde, lagen die unausweichlichen Vorbedingungen in einem funktionierenden strategischen Seetransport. War sein Buch zur Entscheidung im Pazifik bereits in der zweiten Auflage zu diesem Zeitpunkt erschienen, erweiterte er seine Überlegun- gen durch die vergleichende Betrachtung mit den Ereignissen in der Normandie. Vor zehn Jahren, im Juni 1944, fielen auf beiden Kriegsschauplätzen, dem atlantisch- europäischen und dem pazifisch-ostasiatischen, Entscheidungen von höchster Bedeu- tung. Am 6. Juni gelang es den Angloamerikanern, in der Normandie Fuß zu fassen und sich damit Zugang zur Festung Europa zu erzwingen. Wenige Tage später, am 15. Juni, begannen die Amerikaner die Besetzung von Saipan in den Marianen und bra- chen so in die aus Inselgruppen bestehende Hauptkampflinie der Japaner ein. Beide Unternehmen waren Landungsoperationen größten Stiles. Ihre Besonder- heiten ergaben sich aus der geographischen und militärischen Lage. In Europa war nur ein schmaler Streifen Wasser zu überqueren, der Englische Kanal, aber mit großen Heeren, denn hinter der angegriffenen Küste lag ein Kontinent, der von der kampfer- fahrenen deutschen Wehrmacht verteidigt wurde. Es handelte sich darum, einen aus- gedehnten Brückenkopf zu erobern und so auszubauen, dass er als Basis für einen großen Feldzug dienen konnte. Erleichtert wurde die Aufgabe dadurch, dass das deutsche Heer in Russland und Italien in schwerem Kampfe stand und dass die deut- sche Gegenwirkung auf See und in der Luft nur gering sein konnte. – Im Stillen Ozean ging es darum, ein stark besetztes, aber begrenztes Stück Land gegen das Eingreifen der noch immer starken japanischen Flotte und Luftstreitkräfte abzuschirmen und die Verteidiger der Hauptinseln der Marianenkette nacheinander niederzuringen. Die Anmarschwege zum Landungsplatz betrugen 2.100 bis 3.500 Seemeilen, der Kampf der Flotten musste über Erfolg oder Misslingen entscheiden. Für die Deutschen wie für die Japaner war es schwierig, zu erkennen, wo der Stoß erfolgen würde. Der Gegner besaß die Seeherrschaft, die ihm erlaubte, mit ge- ballter Kraft an einer von ihm gewählten Stelle des weiten Verteidigungsringes an- zugreifen. Nordafrika, Sizilien und Salerno hatten das ebenso gezeigt wie die ameri- kanischen Landungen auf den Salomonen, in Nordneuguinea und auf den Marshall- inseln. Das stete Anwachsen der Kräfte in Südengland im Laufe des Jahres 1943 wies in Nordwesteuropa auf ein Angriffsziel von Dänemark bis Westfrankreich hin. Feld- marschall Rommel erhielt im November 1943 den Auftrag, die Verteidigung dieses Gebietes zu überprüfen und Ende Januar 1944 den Oberbefehl über die Truppen an der Küste von Holland bis zur Loire. Auf Grund seiner Erfahrungen in Nordafrika entwickelte Rommel einen neuar- tigen Abwehrplan. Er wusste, dass die deutsche Luftwaffe zu schwach geworden war, um bewegliche Operationen zu unterstützen oder gar mit den Luftstreitkräften des Gegners fertig zu werden. Er wusste, dass die U-Bootwaffe, durch die Ortung stumpf

200 geworden, den Anmarsch der Landungsflotten nicht verhindern konnte. Er war über- zeugt, dass es nicht gelingen würde, den Gegner wieder ins Wasser zu werfen, sobald er einen großen Brückenkopf gebildet hatte. Also wollte er ihn beim Landen selbst fas- sen und womöglich zerschlagen. Hierzu sollte die Infanterie in zahlreichen Wider- standsnestern mit Massen von Minen dazwischen unmittelbar am Strand und in der Zone dahinter kämpfen. Vorstrandhindernisse, Küstenminen, magnetische und akus- tische Fernzündungsminen und Ankertauminen sollten den Gegner auf dem An- marsch und beim Landen schädigen, die Panzerdivisionen dicht hinter dem Infante- riegürtel bereitstehen, um sofort eingreifen zu können. Dieser Plan wurde im Grundsatz genehmigt, in wesentlichen Teilen aber – trotz stärkster Bemühungen Rommels – nicht durchgeführt. Insbesondere wurden die bes- ten Panzerdivisionen weit hinter der Küste aufgestellt, weil ihre Führung dies für zweckmäßiger hielt. Dazu behielt sich das OKW vor, ihren Einsatz freizugeben. Die Folge war, dass dem am 6. Juni überraschend aus der Luft und von See landenden Gegner (Luftaufklärung gab es nicht mehr) erst am Nachmittag (!) Teile einer einzigen Panzerdivision entgegentraten; diese warfen ihn in ihrem Angriffsstreifen fast bis zum Meer zurück. Trotz beträchtlicher Verluste durch Vorstrandhindernisse, Abwehrfeuer und Landminen hatte er aber mit fünf Divisionen Fuß gefasst und war an vielen Stel- len schon so tief ins Land eingedrungen, dass er in den nächsten Tagen nicht wieder hinausgeworfen werden konnte. Die schwachen deutschen Seestreitkräfte kämpften tapfer, konnten aber gegen die 700 Kriegsschiffe (dazu 25 Minensuchflottillen!) und fast 4.300 Landungs- und Transportfahrzeuge des Gegners kaum etwas erreichen. Auch die später eintreffenden Schnorchel-U-Boote, Einmanntorpedos und Sprengboote konnten das Geschick nicht wenden und erlitten schwere Verluste. Ein erheblicher Teil der T-Boote, Schnellboote und Sicherungsfahrzeuge fiel Bombenangriffen auf Le Havre und Boulogne zum Op- fer. Die deutsche Luftwaffe griff die Invasionsflotte häufig, aber mit geringen Kräften an. Die besten Erfolge erzielte sie mit nächtlichen Minenlegern. Im Juni verloren die Angloamerikaner einige kleinere Kriegsfahrzeuge und etwa 80.000 BRT, während Transportfahrzeuge mit mindestens acht Millionen BRT in der Seinebucht ankamen. Schwimmlastwagen und künstliche Häfen beschleunigten das Ausladen. Als dann trotz tapferem Widerstand, bei dem sich die Marineartillerie auszeichnete, Cherbourg fiel, schwand die letzte Hoffnung auf einen deutschen Erfolg. Es war nicht möglich, den Aufbau einer starken Streitmacht und ihren Ausbruch aus dem Brückenkopf zu verhindern. Der Krieg war verloren. In der Normandie landeten bis Mitte September 1944 2,2 Millionen Mann. Auf den Marianen waren es knapp 130.000, davon 67.000 für Saipan, die Übrigen für die Inseln Guam und Tinian, die anschließend besetzt wurden. Die Landung auf Saipan wurde von einem Verband von 550 Fahrzeugen durchgeführt, darunter 14 Geleitträ- gern und sieben alten Schlachtschiffen, und gedeckt von der fünften Flotte mit 15 Flugzeugträgern (1.000 Flugzeuge) und sieben schnellen Schlachtschiffen als Kern. Den Oberbefehl führte Admiral Spruance, der Sieger von Midway. Die nächsten US-Stützpunkte waren gut 1.000 Seemeilen entfernt. Die Japaner wurden durch diesen Sprung über den westlichen Pazifik überrascht; sie erkannten

201 sofort die ungeheure Gefahr, denn von Saipan aus konnten US-Bomber das japanische Mutterland erreichen, und setzten ihre „bewegliche Flotte“ unter Admiral Ozawa zum Gegenschlag ein, als Hauptkampfkraft neun Träger mit 450 Flugzeugen und fünf Schlachtschiffe, darunter zwei von 64.000 Tonnen mit 46-cm-Geschützen. Ihre Träger- luftwaffe hatte sich von den schweren Verlusten bei Midway und in den Salomonen- kämpfen noch nicht wieder erholt. Sie hofften aber, den Ausgleich durch 1.000 Land- flugzeuge zu schaffen. Am 19. und 20. Juni 1944 kam es im Raume zwischen den Marianen und den Philippinen zur Schlacht, bei der sich die Flotten auf etwa 300 Seemeilen näherten und der Wind eine fast ebenso große Rolle spielte wie in den Kämpfen der Segelschiffe, weil die Träger zum Starten und Landen gegen den NO-Passat andampfen mussten. Beide Admirale manövrierten kühl und geschickt. Spruance hielt sich zwischen dem Gegner und der Landungsflotte; Ozawa blieb eben außerhalb der Reichweite der US- Flugzeuge und ließ die seinen mit der Anweisung starten, nach dem Angriff auf den Flugplätzen der nahen Marianen zu tanken und auszurüsten. Dieses Verfahren wurde durch die gute japanische Aufklärung ermöglicht. Aber beim Starten geriet die japanische Flotte in eine U-Bootaufstellung und verlor ihr Flaggschiff, den neuen Träger TAIHO (31.000 Tonnen) und SHOKAKU (29.000 Tonnen), als ihre Flugzeuge schon in der Luft waren. Die amerikanische Flotte, durch Funkauf- klärung und Radar vorbereitet, empfing die japanischen Staffeln schon viele Meilen vor dem Ziel mit starken Jägerverbänden. Die Japaner erlitten sehr schwere Verluste, noch ehe sie in den Bereich der Flak kamen. Nur wenige amerikanische Schiffe wurden beschädigt, keines so schwer, dass es die Formation verlassen musste. Die auf den Marianen landenden Flugzeuge erlitten weitere Verluste durch die Jäger der Geleitträger. Am Abend des ersten Kampftages hatte Ozawa noch 100 startbereite Flugzeu- ge. Er wusste noch nichts von den Verlusten auf den Inseln und plante, am nächsten Tage Öl zu ergänzen und dann den Kampf fortzusetzen. Die amerikanische Aufklä- rung erfasste ihn erst am Nachmittag des 20. Juni wieder an der äußersten Reichweite der Trägerflugzeuge. Admiral Mitcher, ihr taktischer Führer, setzte trotz schwerer Be- denken am späten Nachmittag 200 Flugzeuge gegen die japanische Flotte ein. Sie ver- senkten in der Dämmerung den Träger HIYO und zwei Tanker und beschädigten meh- rere Schiffe. 100 dieser Flugzeuge gingen verloren, die meisten wegen Brennstoffman- gel auf dem Rückflug oder bei der nächtlichen Landung. Aber der Seenotdienst arbei- tete so gut, dass einschließlich der Kampfverluste nur 49 Mann blieben. Ozawa hatte nur noch 35 einsatzbereite Flugzeuge und brach die Unternehmung ab. Die Besatzung von Saipan, 30.000 Mann, wurde in harten Kämpfen aufgerieben, und bald starteten die ersten Bomber gegen Japan. Guam wurde anschließend schnell genommen und zu einem riesigen Stützpunkt ausgebaut. Nachträglich machte man Admiral Spruance Vorwürfe, weil er dem Gegner nicht entgegengegangen sei und ihn vernichtet habe. Seine Hauptaufgabe war aber, die Landung zu decken! Da die Aufklärung in dem riesigen Seegebiet nicht lückenlos sein konnte, musste er in der Nähe des Schutzobjekts bleiben, bis die Lage völlig klar war. Das Zusammenhalten seiner Kräfte versetzte ihn in die Lage, die japanische Trä-

202 gerluftwaffe für viele Monate kampfunfähig zu machen. Das war mehr wert als die Versenkung einiger Schiffe. Eine moderne Flotte ist ein brauchbares Kampfinstrument nur, wenn sie eine starke und gut ausgebildete taktische Luftwaffe besitzt. Der Mangel einer solchen hat die deutsche Seekriegführung ab 1939 aufs schwerste benachteiligt und mit zur Niederlage in der Normandie beigetragen. Mit voller Unterstützung aus der Luft hätten Überwasserschiffe und besonders U-Boote wesentlich mehr Schiffs- raum versenkt und damit den Gegner gezwungen, seine Landeoperationen mit schwächeren Kräften durchzuführen oder zu verschieben.

203 Aufgaben und Bedeutung der Bundesmarine (1956)

Der Aufsatz ist ein Auszug aus dem Buch von Friedrich Ruge Seemacht und Sicherheit. Ei- ne Schicksalsfrage für alle Deutschen, das 1955 in Tübingen erschienen war. Der Abdruck dieses Aufsatzes erfolgte in den MOH-Nachrichten (Heft 8, S. 88-89) zu einem Zeitpunkt als Ruge bereits Abteilungsleiter VII im Bundesministerium der Verteidigung war. Dem Beitrag nachgeordnet wurde eine Liste mit den zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Aufsatzes in Dienst gestellten Einheiten der Bundesmarine. Dass die deutschen Streitkräfte ihren vollen Wert erst im Rahmen der Bündnisse aus den strategischen Möglichkeiten des Ringes von Brückenköpfen und Stützpunkten um den aggressiven Landblock erhalten, gilt besonders für die kommende Marine, die entweder überhaupt nicht erwähnt oder aber in rein kontinentaler Auffassung als „Küstenschutz oder Minensucherei“ abgetan wird. In seiner Broschüre Keiner kann den Krieg gewinnen – Strategie oder Sicherheit fordert Adelbert Weinstein,[1] der Militärsach- verständige der Frankfurter Allgemeinen, schlicht, dass die 20.000 Mann Marine lieber an Land eingesetzt werden sollten, um eine weitere Verteidigungsdivision zu bilden. Sein Satz „Wozu 20.000 Mann für Seestreitkräfte, deren kommende Aufgabe lediglich auf die Sicherung der Ostküste von Schleswig-Holstein beschränkt bliebe?“, zeigt deutlich, dass er unsere Lage rein kontinental aus einem sehr engen Gesichtswinkel betrachtet und den Zusammenhang mit der Seemacht des Westens überhaupt nicht berücksichtigt. Es ist abwegig, den Wert von Seestreitkräften nach dem Verhältnis ihrer Men- schenzahl zu dem der Landstreitkräfte zu beurteilen. Auf einer Flotte steht jeder Mann in der vordersten Front. Sie spart mehr Menschen und steigert die Technik, denn sie hat nicht die Aufgabe, weite Landstriche zu besetzen oder lange Fronten zu halten. Sie ist ausschließlich Kampfkraft in höchstkonzentrierter Form. Das gilt gerade für die kommende deutsche Marine. Da selbst die Küstenartillerie vom Heer übernommen wird, wird sich die Masse ihrer Menschen an Bord befinden, vergleichbar etwa mit den Panzer- und Flugzeugbesatzungen. Bodenorganisation, Reparaturbetriebe, rück- wärtige Dienste der Marine (Werften, Arsenale, Zeugämter, Ausrüstungsstellen, Ver- sorgungsschiffe etc.) sind zum größten Teil mit Zivilpersonal besetzt; das Zahlenver- hältnis in rückwärtigen Diensten ist daher das günstigste von allen Wehrmachtsteilen, die Kampfkraft pro Mann ist unverhältnismäßig hoch. So hat ein Zerstörer von 2.500 ts mit 350 Mann Besatzung folgende Ausrüstung und Bewaffnung: 6 12,7-cm-Geschütze mit allen Instrumenten für Luft-, See- und Landschießen 12 4-cm-Flak mit eigenen Messinstrumenten und Leitgeräten 11 2-cm-Flak 10 Torpedorohre Waffen und Instrumente zur U-Bootbekämpfung Umfangreiches Funkortungs- und Nachrichtengerät Einrichtung zum Legen von etwa 100 Minen

263 Diese konzentrierte Schlagkraft kann sich mit einer Brennstofffüllung bei einer Ge- schwindigkeit von 28 Seemeilen/Std. rund 11.000 Kilometer bewegen und eine Höchstfahrt von 65 Kilometer/Std. erreichen. Nicht ein Vergleich der Mannschaftsstärken, sondern abgewogene technische, takti- sche und militärpolitische Überlegungen ergeben einen Anhalt für den Wert einer Ma- rine. Der der deutschen wird wesentlich größer, als das Verhältnis von 20.000 Mann zu 80.000 der Luftwaffe und 400.000 des Heeres ausdrückt, auch wenn wir nur Überwas- serfahrzeuge bis zu 3.000 ts und U-Boote bis zu 350 ts selbst bauen werden. Das wird keine Hochseeflotte ergeben, aber das ist auch nicht beabsichtigt. Die künftige Marine wird die Verbindung zu den Weltmeeren durch Fahrten von Schulschiffen und von Zerstörern aufrechterhalten. Es wäre aber schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu verantworten, größere Schiffe zu bauen als unbedingt gebraucht werden. Daher haben unsere eigenen Marinesachverständigen bei den Planungen von vorneherein auf Schiffe über 3.000 ts verzichtet, so befriedigend es auch in mancher Hinsicht wäre, ein paar zu besitzen, z. B. Flakkreuzer oder Hubschrauberschiffe. Das wäre im Rah- men der Verträge möglich, denn diese beschränken nur die Größe der in Deutschland zu bauenden Kriegsschiffe. Es kommt aber darauf an, mit dem geringsten Aufwand an Mitteln die Typen zu schaffen, die für die notwendigen Aufgaben unbedingt gebraucht werden; das ist innerhalb der gegebenen Grenzen gut möglich. Die kommende Marine ist nicht Selbstzweck, sie darf nicht unverstanden im leeren Raum neben den Landstreitkräften stehen, sondern sie ist Vorposten und Verbindungsglied an besonders wichtiger Stelle. Nord- und Ostsee, ein Randmeer und ein Binnenmeer, sind ihr Gebiet. Hier lie- gen wegen der Nähe des Landes und der geringen Wassertiefen besondere Verhältnis- se vor. Auch eine große Marine beherrscht sie nicht ohne weiteres, wie die Ereignisse vor Wonsan im Koreakrieg gezeigt haben. Die deutsche Marine hat sich aus unserer Lage heraus in beiden Weltkriegen am stärksten von allen Marinen mit den Problemen des Küstenvorfeldes beschäftigen müssen. Sie kennt die Methoden und Mittel, die hier anzuwenden sind, besonders gut. Hieraus ergibt sich für den Aufbau der Flotte der große Vorteil, dass man genau weiß, welchem Zweck sie dienen soll. Wir erinnern uns daran, dass die Hochseeflotte ursprünglich mit Frankreich als Gegner rechnete, und dass fast die ganze Zeit zwi- schen den beiden Weltkriegen ein Kampf gegen England bei der Marine überhaupt nicht in Rechnung stand. Und doch musste sie beide Male gegen eine Kombination von Mächten, mit England als Hauptgegner, antreten. Jetzt ist es anders. Wir haben eine Marine gewissermaßen mit begrenztem Ziel aufzubauen. Ihre Aufgaben sind solche, dass sie von Fahrzeugen von Zerstörergröße und darunter geleistet werden können, immer vorausgesetzt, dass die großen Flotten mit ihrer ganzen Wucht dahinter stehen. In diesem Rahmen gesehen sind die Aufga- ben aber immer noch wesentlich vielseitiger, als im allgemeinen angenommen wird. In diesem Zusammenhang sind die Friedensaufgaben der Marine kurz zu strei- fen. Die in der Heimat, wie Vermessung, Seenothilfe, Besuch eigener Häfen usw., sol- len nur erwähnt werden. Fischereischutz leitet über zur Repräsentation durch Kriegs-

264 schiffe im Ausland. Das ist etwas, was von Heer und Luftwaffe nicht gefordert wird, da sie es in dieser Form nicht leisten können. Ein Kriegsschiff ist immer ein Stück des Staatsgebietes, und zwar eines, das auch im fremden Hoheitsgebiet gewissermaßen selbständig existieren kann. Es ist nicht auf Hilfsmittel des fremden Landes angewie- sen, und es führt alle Einrichtungen zur Repräsentation mit sich (im Gegensatz z. B. zu einem Geschwader von Flugzeugen beim Besuch eines befreundeten Landes). Die Offiziere der Marine sind zur Repräsentation sorgfältig erzogen, die Auslandstraditi- on ist seit vielen Jahren gepflegt worden. Jedes Anlaufen eines ausländischen Hafens ist für die ganze Besatzung eine diplomatische Aufgabe, die besonders an die Befehls- haber und Kommandanten beträchtliche Anforderungen an Takt, Gewandtheit und Fingerspitzengefühl stellen kann. Sie sind Repräsentanten ihres Staates und haben ei- ne Mission, die über das rein Militärische weit hinausgeht. Freundschaftsbesuche von Kriegsschiffen können die eigene Außenpolitik und Diplomatie wirkungsvoll unter- stützen. Innerhalb der NATO ist besonders damit zu rechnen, dass deutsche Schiffe und Verbände die Häfen der Verbündeten häufig anlaufen werden und damit das ge- genseitige Verständnis durch persönlichen Kontakt fördern werden. Gerade zwischen den Marinen haben erfreulich viele Beziehungen den Krieg überdauert, nicht zum Schaden unseres Landes. Es ist füglich zu bezweifeln, dass sie von 13 Divisionen à la Weinstein gepflegt und verstärkt werden können. Das aber muss geschehen, als not- wendiger Beitrag zur inneren Geschlossenheit des Westens. Liste der bisher von der Bundesmarine in Dienst gestellten Geschwader und Einhei- ten: 1. Schnellbootsgeschwader mit den Schnellbooten SILBERMÖWE, STURMMÖWE, WILDSCHWAN, EISMÖWE, RAUBMÖWE. 2. Hochseeminensuchgeschwader mit den Minensuchbooten SEEHUND und SEELÖWE 1. Schnelles Minensuchgeschwader mit den Booten ORION, RIGEL, MERKUR, SIRIUS, REGULUS, SPI- CA, JUPITER, SATURN, CASTOR, POLLUX, CAPEL- LA, MARS. 1. Hafenschutzgeschwader mit den Booten H1 bis H14 Schulgeschwader Ostsee mit den Booten FM1, FM2, FM3, UW1, UW2, UW3, NORD- WIND, FALKE den Begleitschiffen EIDER und TRAVE

Anmerkung

1 S. auch Friedrich Ruge: Adelbert Weinstein: Keiner kann den Krieg gewinnen – Strategie oder Sicher- heit, in: Leinen los!, Heft 6 (1955), S. 104.

265 Freiwillige an die Front. Die USA schaffen Wehrpflicht ab. Kann die Bundesrepublik nachziehen? (1972)

Zunächst aus wahltaktischen Gründen, aber auch aus der Notwendigkeit heraus, das amerika- nische Verteidigungssystem umzubauen, hatte US-Präsident Nixon bekannt gegeben, ab Juli 1973 keine Wehrpflichtigen mehr einzuziehen. In der Zeitung Christ und Welt (Ausgabe 36, S. 5) wog Friedrich Ruge Möglichkeiten vor den vorherrschenden Rahmenbedingungen ab, die Wehrpflicht auch in der Bundesrepublik Deutschland abzuschaffen. Die amerikanische Initia- tive sei letzthin in der Bundesrepublik Deutschland nicht zu realisieren. Ruges Beitrag wurde 1972 verfasst – die Debatte um den Erhalt der Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland ist in den Jahren 2004/2005, aktueller denn je. Melvin Laird, der Verteidigungsminister der USA, hat den Entschluss Präsident Ni- xons bekannt gegeben, ab 1. Juli 1973 keine Wehrpflichtigen mehr einzuziehen. Nach hiesigen Maßstäben erscheint dies als ein Schritt von großer Tragweite. In der ameri- kanischen Wirklichkeit bedeutet es dagegen, dass der Zustand in der Organisation der bewaffneten Macht wiederhergestellt wird, der für die USA normal ist. Die Möglich- keit dazu schuf Präsident Nixon dadurch, dass er sein Land energisch aus der Verstri- ckung in Vietnam herauszulösen unternahm. Die Bekanntgabe kurz vor den Präsi- dentschaftswahlen ist natürlich ein geschickter innenpolitischer Schachzug. Die USA haben nur wenige Jahre im Bürgerkrieg (1861-1865) eine allgemeine Wehrpflicht gehabt, in und nach den Weltkriegen dagegen einen Selective Service, eine Art Auswahlwehrpflicht. Ihre Wehrverfassung entstand aus den politischen Anschau- ungen bei Gründung der Republik und aus den geographischen Gegebenheiten. Im Befreiungskrieg fochten Freiwillige und Bürgermilizen. Der neu entstandene Staat be- hielt aus grundsätzlichen Überlegungen die Milizen bei, in denen er die besten Hüter der Demokratie sah. Es stellte sich bald heraus, dass auch ein Heer und eine Marine erforderlich waren. Diese wurden aus Freiwilligen gebildet und so klein wie möglich gehalten. Erleichtert wurde das dadurch, dass nach dem Abkommen mit Kanada 1816 und bei der Schwäche Mexikos eine Bedrohung von außen praktisch nicht bestand. Die Monroe-Doktrin (1823) der gegenseitigen Nichteinmischung gegenüber Europa unterstrich das.

Missstände im Bürgerkrieg Im Bürgerkrieg erließen beide Seiten Gesetze, welche die allgemeine Wehrpflicht fest- legten, führten sie aber nur unvollkommen durch. Hierbei ergaben sich derartige Missstände, dass die alte Abneigung dagegen noch wuchs. Nach dem Kriege kehrte man daher zur kleinen Berufsarmee zurück und förderte die Milizen aus Freiwilligen, jetzt Nationalgarde (National Guard) genannt. Diese unterstand und untersteht auch heute noch den Gouverneuren der einzelnen Staaten. Sie kann aber von der Bundes- regierung angefordert werden, um Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, um Auf- stände zu unterdrücken oder Angriffe von außen abzuschlagen. Der Milizsoldat hat das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen.

438 Erst ein halbes Jahrhundert später, nach Eintritt der USA in den Ersten Welt- krieg, beschloss der Kongress im Mai 1917 die Auswahlwehrpflicht. Von 24 Millionen waffenfähigen Männern wurden 2,8 Millionen eingezogen. Dazu kamen eine Million Freiwillige, von denen die Nationalgarde 400.000 stellte. Nach dem Krieg hörte der Selective Service auf, die Streitkräfte bestanden aus drei Teilen: Reguläre Armee und Marine (Berufssoldaten), Organisiertes Reserve- Korps, Nationalgarde. In diesem Zusammenhang besitzt das ROTC (Reserve Officer Training Corps) be- sondere Bedeutung. An zahlreichen Hochschulen nehmen Studenten neben ihrem ei- gentlichen Studium an einer militärischen Grundausbildung teil, die durch praktische Übungen in Sommerlagern ergänzt wird. Das ergibt ständig einen großen Bestand an Reserveoffizieren und außerdem einen guten Nachwuchs an aktiven Offizieren.

Einziehung durch Los Der National Defense Act von 1920 schuf die Voraussetzungen, dass die Auswahlwehr- pflicht im Falle eines Notstandes wieder eingeführt werden konnte, ein Ausschuss des Kongresses legte dafür die Einzelheiten fest. Der Selective Training and Service Act vom Oktober 1940 setzte diese Vorarbeiten in die Tat um. Die ersten Einziehungen folgten sofort, sie wurden durch das Los bestimmt. Später ging man nach einer genaueren Klassifizierung vor, ohne dass ein besonderes Streben nach Wehrgerechtigkeit erkenn- bar geworden wäre. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das System durch ein besonderes Gesetz in Kraft. Bei der starken Verminderung des Heeres (von acht Millionen auf etwas über eine halbe Million) wurden aber fast keine Wehrpflichtigen einberufen. Das änderte sich, als durch den Ausbau der sowjetischen Macht, durch die Blockade Berlins und besonders durch den nordkoreanischen Angriff nach Süden neue Spannungen ent- standen. Aber noch vor der Vermehrung der Streitkräfte durch den Krieg in Vietnam waren 93 Prozent ihrer Angehörigen Freiwillige. Das Marinekorps, die amerikanische Elitetruppe, zur Zeit 212.000 Mann stark, hat bisher im Frieden ausschließlich aus Freiwilligen bestanden. Die Nationalgarde und die Reservekorps der Streitkräfte zäh- len zusammen fast eine Million Mitglieder. Das Heer hat mit etwa zwanzig Prozent den größten Anteil an Gezogenen. Da es mit dem Rückzug aus Vietnam wesentlich verkleinert werden kann, verursacht der Verzicht auf die Auswahlwehrpflicht keine besonderen Schwierigkeiten. Eine Arbeitslosigkeit von rund fünf Prozent erleichtert die Werbung erheblich. Auch ohne die Auswahlwehrpflicht besitzen die USA die Streitkräfte, die sie als stärkste Macht des westlichen Bündnisses und in ihrer Lage als Subkontinent zwi- schen zwei Weltmeeren benötigen. Das sind starke Raketen-, Luft- und Seestreitkräfte, ein Heer, welches fühlbar zur Verteidigung des verbündeten Europas beitragen kann, in dem Marinekorps eine Elitetruppe zum Eingreifen bei Krisen über See, dazu reich- lich Reserven an ausgebildeten Offizieren und Unteroffizieren für den Fall, dass es sich als nötig erweisen sollte, das Heer in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder zu ver- stärken. Vor einem Jahr standen rund 1,3 Prozent der Gesamtbevölkerung unter Waf- fen (in der Bundesrepublik waren es 0,8 Prozent, in der Sowjetunion 1,4 Prozent).

439 Diese Zusammenhänge werden zu wenig berücksichtigt, wenn jetzt von eini- gen Seiten unter Hinweis auf das Vorgehen der Vereinigten Staaten vorgeschlagen wird, die Wehrpflicht in der Bundesrepublik abzuschaffen. Dazu unterscheiden sich doch die Verhältnisse bei uns zu stark von denen in den USA. Außenpolitisch hat sich die Bundesrepublik beim Eintritt in die NATO zu einem bestimmten Beitrag zur ge- meinsamen Verteidigung verpflichtet. Diesen leistet sie mit einiger Mühe. Die ur- sprünglich geplante Zahl von 500.000 Mann hat sie nie ganz erreicht (1971: 467.000). Angesichts der Vollbeschäftigung und der ablehnenden Haltung eines Teils der Be- völkerung, besonders der gebildeten Kreise, ist kein Weg zu sehen, die augenblickli- che Stärke ohne Wehrpflicht auch nur entfernt aufrecht zu erhalten. Dass eine bessere Wehrgerechtigkeit anzustreben ist, steht auf einem anderen Blatt. Innenpolitisch wür- de ein reines Berufsheer Gefahr laufen, völlig in die Isolierung zu geraten und den Staat im Staate zu bilden, vor dem immer gewarnt wird. Militärisch ist die Lage der Bundesrepublik unmittelbar an der Grenze zum Ostblock verschieden von der der USA. Zu der von der NATO beschlossenen Vorneverteidigung in Mitteleuropa stellt sie mit ihren zwölf Divisionen nahezu die Hälfte. Wenn dieser Beitrag zum Teil Milizcha- rakter erhalten soll, wie zur Zeit diskutiert wird, dann ist die Wehrpflicht unentbehr- lich, denn ohne sie sind die nötigen Heimatschutzverbände nicht zu schaffen. Es gibt bei uns weder ein ROTC, wo sich Freiwillige zu Reserveoffizieren ausbilden lassen können, noch eine Nationalgarde. Dagegen greifen Ideologien um sich, die jede Art von materieller Verteidigung ablehnen. Man glaubt an Entspannung und berücksich- tigt nicht die Erfahrung, dass sich ein militärisches Vakuum in einem Raum politischer Spannung, wie es Mitteleuropa nun einmal ist, auf die Dauer nicht hält. Die Masse unserer Staatsbürger wünscht ein Leben in geordneter Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Dieses ist auf die Dauer nur gesichert, wenn der Wille, Eingriffe entschlossen abzuwehren und die Mittel dazu vorhanden sind. Für beides ist bis auf weiteres die Wehrpflicht Voraussetzung.

440 Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr (1972)

In der renommierten Militär-Zeitschrift Revue militaire generale befasste sich Ruge im Jahr 1972 in einem Beitrag mit der Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr (Heft 7, S. 83- 104). Das Verteidigungsministerium der Bundesrepublik hat sich die Aufgabe gestellt, die Ausbildung und Bildung der länger dienenden Soldaten (Berufssoldaten und Zeitsol- daten) weiter zu verbessern und dabei einheitlich zu ordnen. Der Grundgedanke ist, eine Gesamtlinie hineinzubringen, die dienstlichen Leistungen zu steigern und zugleich den Übergang in einen Zivilberuf vorzubereiten und zu erleichtern. Bei dem Aufbau der Bundeswehr, der aus politischen Gründen sehr schnell zu geschehen hat- te, war die Zeit nicht verfügbar, ein solches System zu entwickeln. Er begann im No- vember 1955, das Soldatengesetz mit den ersten allgemeinen Regelungen kam nicht vor März 1956. Vieles musste improvisiert werden, die Teilstreitkräfte knüpften natur- gemäß an die Erfahrungen aus der Vergangenheit an. Fest stand, dass der Offizier und auch der Unteroffizier nicht nur für seinen Dienst auszubilden war, sondern auch eine Allgemeinbildung erhalten musste. Je mehr er kann und weiß, desto mehr kann er auch seinen Leuten geben. Dass man unter den heutigen Verhältnissen aber auch für ihn selbst im Hinblick auf die Zeit nach seinem Abgang besser sorgen musste als nur durch eine Pension oder Abfindung, stand anfangs im Hintergrund und wurde erst allmählich klar. An sich waren das keine ganz neuen Probleme; nur hat sich die Gesellschaft ge- ändert, und damit die Formen und die Forderungen. Friedrich der Große von Preußen versetzte seine Unteroffiziere, die für den aktiven Dienst zu alt wurden, als Schulleh- rer in die Dörfer, nicht so sehr, weil sie gut mit dem Stock umzugehen verstanden, sondern weil sie lesen und schreiben konnten, was damals noch etwas Besonderes war. Das bewährte sich, aber so einfach ist es heute nicht mehr. Vom Offizier erwartete man, dass er sich auf die Güter seiner Familie zurück- zog, denn die meisten kamen aus dem Landadel. In besonderen Fällen ließ der Mo- narch einen Ehrensold zahlen oder eine Witwenpension. Als im Laufe des 19. Jahr- hunderts der Nachwuchs in zunehmender Zahl aus dem Bürgertum kam, wurde die Pension eingeführt (in Preußen 1825), nicht gerade üppig. Die verabschiedeten Offi- ziere mittlerer Dienstgrade mussten ein sehr einfaches Dasein führen, wenn sie kein eigenes Vermögen besaßen, aber sie hatten das Bewusstsein, dem ersten Stand im Staate anzugehören. Ihre Ausbildung war rein auf den militärischen Dienst bezogen und machte sie für wenige Zivilberufe geeignet. Das verhinderte allerdings nicht, dass begabte Män- ner sich durchsetzten, wie Werner von Siemens, 1838-1849 preußischer Artillerieoffi- zier, dann Wissenschaftler und Praktiker auf dem Gebiet der Elektrotechnik. Die Aka- demien (preußische Militärakademie 1810 von Scharnhorst gegründet, die Marine- akademie 1872 von Stosch) bildeten eine begrenzte Zahl von ausgesuchten Offizieren militärisch und wissenschaftlich weiter. Sie blieben aber stark fachbedingt und gaben keine Zeugnisse, die auch im Zivilleben anerkannt waren. Die Universitäten wurden vor 1914 wenig ausgenutzt. Der Antrag, die Marineakademie in der Kieler Universität

520 einzurichten, wurde von deren Rektor abgelehnt. Später wurden einige Offiziere auf die Technische Hochschule kommandiert. Die Universität wurde auch bei der Spra- chenausbildung besucht. Die war aber freiwillig, die Zahl der Teilnehmer war gering. Sie schloss mit dem Zeugnis zum militärischen Dolmetscher ab, das Universitätsdi- plom konnte außerdem erworben werden. Die abgehenden Berufsunteroffiziere erhielten den Zivilversorgungsschein, d. h. ein Anrecht darauf, dass sie nach beendeter Dienstzeit in den öffentlichen Dienst über- nommen wurden. Ihre Vorbildung genügte für Tätigkeit in der unteren Verwaltung, der Polizei usw. Die Massenentlassungen nach dem Ersten Weltkrieg trafen besonders die älteren Offiziere und Unteroffiziere hart. Die meisten fanden sich hinein, aber es gab viel Not und Elend, verschärft durch die Inflation. Das erklärt, warum ein Teil von ihnen für radikale Ideen anfällig wurde. In der Reichswehr mussten sich alle Unteroffiziere und Mannschaften verpflich- ten, zwölf Jahre zu dienen. Ihrer Ausbildung und Weiterbildung sowohl für den Dienst wie für einen Zivilberuf wurde große Aufmerksamkeit geschenkt. Neben der Fachausbildung erhielten die älteren Jahrgänge eine systematische allgemeine Schu- lung. Dazu besuchten sie sechs Wochen jedes Jahr Fachschulen, die besonders für sie eingerichtet waren, und zwar für Verwaltung und Wirtschaft, für Gewerbe und Tech- nik, wie für Landwirtschaft. Nach Abschluss erhielten sie einen Zivildienstschein oder, wenn sie nicht in eine staatliche Stelle gingen, eine Abfindung. Für Offiziere gab es nur die militärische Fachausbildung, keine allgemeine Wei- terbildung für einen Zivilberuf. Einen gewissen Anfang dazu machten allerdings, ne- ben der freiwilligen Sprachausbildung wie bisher, Kommandierungen einzelner Offi- ziere zu Universitäten oder Technischen Hochschulen, für einige Semester (mindes- tens zwei) oder auch für ein Gesamtstudium. Besonders bewährte sich, dass einer An- zahl ausgesuchter Ingenieur-Offiziere der Marine Gelegenheit gegeben wurde, unter Anrechnung ihrer Berufsvorbildung die Prüfung zum Diplom-Ingenieur nach sechs Semestern abzulegen. Diese Herren haben dann im Dienst wie nach dem zweiten Kriege im Zivilleben Hervorragendes geleistet. Das waren die Vorgänge, nach denen sich die Bundeswehr in ihren Anfängen richtete. Naturgemäß war das erste Ziel, die Einrichtungen für die militärische Aus- bildung (allgemein und fachlich) wieder in Gang zu bringen. Die Weiterbildung wur- de auch berücksichtigt, aber da gingen die Ansichten auseinander. Allgemein einge- führt wurde der dienstzeitbegleitende Unterricht für die Zeitsoldaten, und für die Of- fiziere ein Stabsoffizierlehrgang mit abschließender Prüfung. Das Heer gestaltete die- sen mehr als Taktiklehrgang, während die Marine mehr die allgemeine Bildung för- derte. Sie richtete auch sofort eine Unteroffizierschule ein, durch die jeder Unteroffi- zieranwärter ohne Ausnahme ging, ehe er seinen Dienst vor der Front aufnahm. Un- teroffizierschulen des Heeres und der Luftwaffe wurden 1964 gegründet. Die Stabsof- fizierlehrgänge der Teilstreitkräfte wurden Ende der sechziger Jahre in der Stabsaka- demie der Bundeswehr zusammengefasst. Der dienstzeitbegleitende Unterricht für Zeitsoldaten wurde nach einigen Jah- ren in einen dienstzeitbeendenden Unterricht umgewandelt und stark ausgebaut. Damit war er ganz auf den Übergang ins Zivilleben ausgerichtet, zum Vorteil des Ein-

521 zelnen. Erfahrungsgemäß wird am Ende der Dienstzeit, wenn der Übergang ins Zivil- leben dicht bevorsteht, besser gearbeitet, als wenn dieses Ereignis noch in der ferneren Zukunft liegt. Soldaten, die sich für acht bis zwölf Jahre verpflichtet haben, besuchen während der letzten zwölf Monate ihrer Dienstzeit eine Bundeswehrfachschule, die mit Ver- pflichtung über zwölf Jahre hinaus die letzten 18 Monate. Sie nehmen nach Wahl an Grundlehrgängen der Richtungen Technik, Wirtschaft oder Verwaltung teil, die sechs Monate dauern. Anschließend können sie in weiteren Lehrgängen die mittlere Reife, die Fachschulreife und andere Ziele erreichen, unter besonderen Voraussetzungen so- gar die Reifeprüfung ablegen oder die Einstellung in bestimmte Verwaltungen. errei- chen, für welche die Reifeprüfung vorausgesetzt wird. Unmittelbar nach seinem Abgang aus dem aktiven Dienst erhält der Zeitsoldat (Unteroffizier oder Mann) auf seinen Antrag eine Fachausbildung, die sechs Monate (bei mehr als vier Jahren Dienstzeit) bis 36 Monate (Dienstzeit über zwölf Jahre) dau- ern kann. Sie wird von der Bundeswehr gesteuert, findet aber im allgemeinen in Fach- schulen usw. außerhalb der Bundeswehr statt. Die zustehende Zeit kann aber auch dazu benutzt werden, um auf den Fachschulen bzw. Fachhochschulen der Bundes- wehr z. B. die Reifeprüfung abzulegen. Die Auswahl an Berufen ist reichhaltig, es gibt insgesamt rund 500 Möglichkei- ten, so Ausbildung zum Kraftfahrzeugmeister, Industriemeister, Sprengmeister, zum Techniker, Krankenpfleger, Schweißer, Dolmetscher, zu kaufmännischen Tätigkeiten, um nur einige zu nennen. Ein besonderer Berufsförderungsdienst der Bundeswehr be- rät die Soldaten bei der Berufswahl und betreut sie während der Fachausbildung und Wiedereingliederung in das Berufsleben. In zehn Jahren sind rund 90.000 Fachausbil- dungen erfolgreich abgeschlossen worden. Daneben können bestimmte Fachzeugnisse aus der Dienstzeit unmittelbar im Zivilleben verwendet werden. Das sind in erster Linie viele zehntausende von Führer- scheinen, aber auch Zeugnisse als Fahrlehrer, Kraftfahrsachverständige, Taucher, Pilo- ten, in Navigation usw. Im Ganzen ist festzustellen, dass für den Zeitsoldaten am En- de seiner Verpflichtungszeit umfassend und zweckmäßig gesorgt wird. Für die Berufsoffiziere fehlte bisher etwas Entsprechendes. In den ersten Jahren des Bestehens der Bundeswehr wurde nicht einmal die Notwendigkeit anerkannt, wenigstens einzelne Offiziere nach abgeschlossener militärischer Ausbildung auf die Hochschule zu schicken, wie es die Reichswehr mit Erfolg begonnen hatte. Das setzte sich erst in den sechziger Jahren durch und wird jetzt in erheblichem Umfang betrie- ben, nicht nur für technische Fachrichtungen, sondern auch für Geschichte, Politolo- gie, Pädagogik, Soziologie, usw. Für die Sprachenausbildung wurde eine besondere Sprachenschule der Bundeswehr eingerichtet, entsprechend dem wesentlich höheren Bedarf an sprachkundigen Soldaten und Beamten im Atlantischen Bündnis. Nach wie vor waren aber die Abschlüsse in der Aus- und Weiterbildung der Of- fiziere nicht allgemein anerkannt, weder die der Offizierschulen (wie das z. B. in den USA der Fall ist) noch der Stabsakademie und Führungsakademie (Generalstabs- und Admiralstabsausbildung), obgleich auf jeder Stufe große Anforderungen gestellt wer- den.

522 Hier nun griff Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt ein. Im Weißbuch 1970 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr sprach er erstmalig an, was ihm vorschwebte. Sein Plan ist, das gesamte Ausbildungs- und Wei- terbildungswesen der Bundeswehr einheitlich zu ordnen und dabei auch den länger- dienenden Soldaten die erforderliche Bildung zu vermitteln. Er schrieb: „Bildung ist eine Voraussetzung für die funktionsgerechte Erfüllung des Auftrags und nicht eine entbehrli- che Zutat.“ Das Ziel ist, den Soldaten in die Lage zu versetzen, seine Aufträge sinngemäß auszuführen, neue Entwicklungen richtig zu verarbeiten und später reibungslos in ei- nen Zivilberuf überzugehen. Dabei soll die Entwicklung der Bildungspolitik in der Bundesrepublik berücksichtigt und erreicht werden, dass die Bundeswehr mit den ge- sellschaftlichen Veränderungen Schritt halten kann. Ihre Effektivität soll gesteigert und ihre Anziehungskraft erhöht werden. Um die Gesamtheit der Probleme zu studieren und die entsprechenden Vor- schläge auszuarbeiten, wurde im Juli 1970 eine Kommission aus 24 Herren gebildet, von denen sich die Hälfte in einschlägigen zivilen Stellungen befand, die Hälfte in der Bundeswehr. So waren Mitglieder der Präsident einer Handelskammer, der Direktor des Wirtschaftswissenschaftlichen Institutes der Gewerkschaften, der Vorstand einer großen Aktiengesellschaft der Metallindustrie wie die stellvertretenden Inspekteure von Heer, Luftwaffe und Marine, ein Leutnant zur See und ein Oberfeldwebel. Den Vorsitz führte Professor Dr. Ellwein, der Direktor des Wissenschaftlichen Instituts für Er- ziehung und Bildung in den Streitkräften. Die Kommission legte im Dezember 1970 ein Rahmenkonzept vor, als Vorberei- tung eines Gutachtens „über die zukünftige Organisation und die Inhalte der Aus- und Fortbildung von Offizieren, Unteroffizieren und längerdienenden Mannschaf- ten“. Sie stellte darin zuerst ihren Auftrag dar und betonte die Notwendigkeit, beson- ders zu berücksichtigen a) die allgemeine bildungspolitische Entwicklung in der Bundesrepublik und ihre Folgen für Erziehung und Ausbildung in der Bundeswehr, b) die Zusammenhänge zwischen den öffentlichen Fach- und Hochschulen und den entsprechenden Einrichtungen im Verteidigungsbereich, c) die Notwendigkeit, jedem länger dienenden Soldaten eine Berufsausbildung zu bieten oder ihn entsprechend zu fördern. Die eigentliche militärische Ausbildung war nicht in den Auftrag der Kommission einbezogen, auch nicht die Zusammenhänge zwischen ihr und der allgemeinen Aus- und Fortbildung. Das Gutachten wurde aber mit den Arbeiten zweier anderer Kom- missionen abgestimmt, die sich mit der Personalstruktur und der Wehrstruktur be- fassten. Das Rahmenkonzept geht davon aus, dass die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklung zunehmend von der Leistungs- und Wandlungsfähigkeit des Bildungssystems abhängt. Es macht keinen Unterschied mehr zwischen Bildung und Ausbildung und stellt fest: „Ein modernes Bildungssystem hat in erster Linie zu ver-

523 mitteln: Lern- und Denkfähigkeit, Methodenkenntnisse und die unabdingbare allgemeine Wis- senschaftsorientierung.“ Auch die Bundeswehr hat diesen Wandlungsprozess zu berücksichtigen. Für sie ist es besonders dringend, ihr Ausbildungssystem zu modernisieren, da das zum mindesten einen Teil der Schwierigkeiten überbrücken kann, ausreichenden Nach- wuchs zu erhalten. Die Kommission betont in ihrem Bericht, dass ein brauchbarer Mit- telweg zwischen den besonderen Erfordernissen des Dienstes in der Bundeswehr und den Forderungen des Einzelnen für seine Zukunft zu finden ist. Dazu untersucht sie ausführlich die Unterschiede zwischen den zivilen und den militärischen Funktionen. Sie weist auf die Schwierigkeiten hin, die sich für die Planungen der Bundeswehr dar- aus ergeben, dass auch die öffentlichen Ausbildungssysteme sich in einem Wandel be- finden, sodass eine Reihe von wichtigen Fragen noch nicht geklärt sind. Dann macht sie Vorschläge für die Anforderungen, die beim Eintritt in die verschiedenen Lauf- bahnen an die Schulausbildung zu stellen sind, und gibt Empfehlungen für das Ver- hältnis zwischen diesen und den Verpflichtungszeiten, z. B. „Soldaten, die in den höhe- ren Dienst gelangen und die entsprechende Ausbildung durchlaufen wollen, müssen sich auf mindestens zwölf Jahre verpflichten.“ Es folgen dann ausführliche Vorschläge für die ver- schiedenen Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten bei den länger dienenden Mann- schaften und Unteroffizieren, unter Berücksichtigung des späteren Zivilberufs. Dann geht die Kommission auf die Probleme der Offiziersausbildung ein und fordert für alle Berufsoffiziere eine Hochschulausbildung mit folgenden Zielen : a) den Offizier zu wissenschaftlicher Arbeit und zum Erkennen von Problemen zu befähigen, b) ihn für seine militärische Aufgabe vorzubereiten, c) ihm einen berufsbefähigenden Abschluss zu geben, der ihm nach seinen Aus- scheiden die Ausübung eines Zivilberufs ermöglicht. Dazu empfiehlt sie eine Ausbildung, die fünf Jahre dauert, davon drei für ein zusam- menhängendes Studium von Universitätsniveau. Die zwei Jahre militärischer Ausbil- dung sind nach den besonderen Bedürfnissen der Teilstreitkräfte anzuordnen, wobei aber alle Bewerber gemeinsam studieren sollen. Der Ausfall von jungen Offizieren bei der Truppe ist durch Zeitoffiziere auszugleichen. Für diese Ausbildung werden eigene Bundeswehrhochschulen vorgeschlagen, da einerseits das Studium in seinen Anforde- rungen zwar dem an den allgemeinen Hochschulen entsprechen soll, andererseits aber doch die Eigentümlichkeiten und Erfordernisse des militärischen Dienstes zu be- rücksichtigen sind. Jeder Bewerber soll sich für eine der folgenden Fachrichtungen entscheiden: Organisations- und Betriebswissenschaft, Pädagogik, Maschinenbautechnik, Elektrotechnik, Luft- und Raumfahrttechnik, Informatik,

524 Bauingenieurwesen, Biologie. Nur angedeutet ist in dem Rahmenkonzept, dass die angehenden Offiziere neben dem Studium der Fachrichtung noch weitere Gebiete studieren, die sie als militärische Füh- rer kennen müssen. Bereich der Inneren Führung ist angegeben, Sprachen und Geschich- te sind nicht erwähnt. Dagegen ist näher ausgeführt, wie das Studium in der Fachrich- tung in den verschiedenen Studienjahren grundsätzlich zu betreiben ist. Nach zwölf Dienstjahren ist eine Fortbildungsstufe I vorgesehen, die allen Offi- zieren gleiche Chancen für die weitere Verwendung geben soll. Es werden zwei Mög- lichkeiten geboten, entweder Weiterbildung an einer Akademie der Streitkräfte oder aber weiterführendes Studium an einer öffentlichen Hochschule, wie es einige Offiziere be- reits erhalten. Eine Fortbildungsstufe II soll dann nach Erreichen des 40. Lebensjahres oder des Dienstgrades als Oberst an einer weiteren Akademie der Bundeswehr geeignete Offiziere für Spitzenfunktionen in der Bundeswehr und in den integrierten Stäben des Atlantischen Bündnisses ausbilden. Das Rahmenkonzept schließt mit der Empfehlung : a) die Ausbildungs- und Fortbildungsstufen möglichst bald zu schaffen, b) das neue Angebot sofort den jetzt eintretenden Anwärtern für den mittleren und den gehobenen Dienst zu machen, c) auch die Ausbildung für den höheren Dienst (Hochschule) so bald wie möglich zu beginnen, d) auch die Fortbildungsstufe I bald zu beginnen, e) jüngeren aktiven Offizieren, die das Studium nachholen wollen, Gelegenheit da- zu zu geben, und zwar entweder durch Fernstudium oder durch ein verkürztes Hochschulstudium. Abschließend wird in Schaubildern die Neuordnung der Aus- und Fortbildung für Unteroffiziere und Offiziere übersichtlich gezeigt. Der Verteidigungsminister stellte dieses Rahmenkonzept wegen seiner grund- sätzlichen Bedeutung innerhalb und außerhalb der Bundeswehr zur Diskussion und forderte zu Stellungnahmen auf. Bis zu dem auf den 15. März 1971 festgesetzten Ter- min erhielt das Sekretariat der Bildungskommission 153 Einsendungen, davon 124 aus der Bundeswehr, von diesen wieder 42 aus der Truppe und 51 von Schulen und Aka- demien. Von den 29 Äußerungen aus dem zivilen Bereich kamen 14 aus Parlament, Parteien und Verbänden, vier aus Bundesministerien, fünf aus Kultusministerien der Länder und Hochschulen. Aus dem zivilen wie aus dem militärischen Bereich beteilig- ten sich je vier Einzelpersonen (Pädagogen und Offiziere im Ruhestand). Im Prinzip wurde die Neuordnung von allen Einsendern begrüßt und für not- wendig gehalten. Die Ansichten gingen nur darüber auseinander, in welchem Zeit- raum die Vorschläge verwirklicht werden können. Nicht allen war klar genug ausge- drückt, dass das erste Ziel der Aus- und Weiterbildung des Soldaten seine Verwend- barkeit als Soldat ist und bleiben muss. Deshalb wurde auch mehrfach angeregt, die militärische und die allgemeine Seite noch deutlicher in Verbindung zu bringen und

525 aufeinander abzustimmen. Auch die Hochschulausbildung des Offiziers fand allge- meine Zustimmung, die Ansichten gingen aber auseinander, wieviel militärische Aus- bildung erforderlich ist, ehe das Studium beginnt. Z. T. wurde der Wunsch geäußert, die soldatischen Aufgaben im Studium mehr zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung dieser Stellungnahmen erweiterte nun die Kommission das Rahmenkonzept zum eigentlichen und endgültigen Gutachten. Dieses lag als Grünbuch gedruckt bereits Mitte Juni 1971 vor. Im Vorwort erläuterte der Bundesver- teidigungsminister die Pläne und begründete sie wie folgt: „Heute brauchen wir Mut zur Reform dessen, was insgesamt in anderthalb Jahrzehnten entstanden ist. Wir müssen die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr und zu diesem Zweck die berufliche Leistungsfähigkeit der Soldaten nach den Anforderungen der Zukunft be- messen. Wir wollen damit zugleich das Ansehen und die Anziehungskraft militärischer Führungsberufe erhöhen, soweit eben Ausbildung dazu beitragen kann. Mit einem Wort: Die Neugestaltung der Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr, die im Weißbuch 1970 von der Bundesregierung versprochen wurde, muss sich an der Aufgabe der Bun- deswehr orientieren.“ Er kündete an, dass als nächste Schritte der Zeitbedarf und die Realisierbarkeit seiner Pläne sofort zu ermitteln sei, und wies darauf hin, dass die Truppe in der Übergangs- zeit gewisse zusätzliche Belastungen in Kauf nehmen müsse. Er schloss mit der Fest- stellung, dass erst gute Ausbildung die Bundeswehr instand setzt, ihren eigentlichen Auftrag zu erfüllen. Dieser ist, in Gemeinschaft mit den Streitkräften der uns verbün- deten Staaten den Frieden zu sichern. Das Gutachten selbst ist ähnlich aufgebaut wie das Rahmenkonzept, aber wesent- lich ausführlicher (mit Anlagen rund 200 Seiten gegen 40). Es beginnt ebenfalls mit dem Auftrag, den Grundlagen und den Zielen, wobei die besonderen Verhältnisse und Anforderungen des militärischen Bereichs deutlicher herausgestellt werden. Es setzt die Erfordernisse der Verteidigung an die Spitze der Überlegungen und weist insbesondere darauf hin, dass organisatorische und technische Kenntnisse allein beim militärischen Führer nicht genügen, dass er vielmehr auch unter schweren Bedingun- gen in der Lage sein muss, Menschen zu führen und richtige Zusammenarbeit (Team- work) zu erreichen. Hierzu ist ein breites Grundwissen nötig, verbunden mit den Spe- zialkenntnissen für die jeweilige Funktion. Überblick über die Zusammenhänge auf den verschiedenen Gebieten ist dabei unerlässlich. „Diese geistigen Grundlagen müssen sich verbinden mit der Befähigung zu tatkräftigem praktischen Handeln, das Verantwortung nicht scheut.“ Das ist nicht alles völlig neu. So führte die Bundesmarine mit Beginn des Auf- baus eine einheitliche Grundausbildung im Sinne des breiten Grundwissens der Offi- ziere ein, sorgte dafür, dass jeder von ihnen den für diese hochtechnisierte Teilstreit- kraft erforderlichen Einblick in die Technik bekam, ließ dann erst die Spezialisierung folgen und betonte, dass auch der Spezialist in Uniform immer Kämpfer sein muss, nicht kriegslüstern, aber kriegstüchtig. Sie nannte diese Art der Ausbildung etwas an- spruchsvoll Studium generale navale.

526 Auch bei den Zielen steht die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr an der Spitze. Bemerkenswert ist, dass Erziehung, Bildung und Ausbildung als etwas Gemeinsames gesehen werden. Dazu heißt es: „Erziehung zielt heute – der Demokratie zugeordnet – stärker auf Selbstdisziplin, Bereit- schaft zur verantwortlichen Wahrnehmung der jeweiligen Aufgaben und Fähigkeit zur Zusammenarbeit, die gerade in den Streitkräften auch der stärksten Belastung gewachsen sein müssen [...] Erziehung heißt, so miteinander umzugehen, so zu führen, so zu unterrichten, dass Selbstdisziplin, Kooperationsfähigkeit und Funktionsbereitschaft gefördert werden [...]“ In der Ausbildung sind zu unterscheiden: a) die (grundlegende oder Erst-) Ausbildung, die zur Berufsfähigkeit führt, b) Fortbildung, welche die Berufsfähigkeit erweitert, c) Weiterbildung, welchen den lebenslangen Lernprozess begleitet und die berufli- che, allgemeine und politische Weiterbildung sein kann. (Zum lebenslangen Lernprozess ist zu bemerken, dass der Verfasser vor einiger Zeit von jüngeren Offizieren gefragt wurde, wo in der militärischen Laufbahn das Lernen auf- hört, beim Hauptmann oder Major. Die Antwort war: „Überhaupt nicht. Wer nicht mehr lernen will oder lernen kann, ist am Ende seiner Fähigkeiten und sollte lieber ausscheiden.“) Das, was auf diesen drei Stufen veranlasst wird, ist als Einheit aufzufassen und entsprechend abzustimmen. Hierzu folgen detaillierte Vorschläge, und der Begriff der Verantwortungsbereiche wird neu eingeführt. Diese sind: Verantwortungsbereich I: Fachkräfte ohne Vorgesetztenfunktion II: Gruppenführer, Zugführer, stellvertretende Einheitsführer usw. III: Einheitsführer und entsprechende Verwendung IV: Verbandsführer und entsprechende Verwendung V: Großverbandsführer und entsprechende Verwendung. Diese Einteilung ist sehr zweckmäßig, denn aus ihr ergeben sich die nötigen Maß- nahmen der Ausbildung und Fortbildung. Diese sind im Gutachten dann in den Ein- zelheiten dargestellt und durch übersichtliche Schaubilder erläutert. Für die Verantwortungsbereiche I und II ergeben sich keine wesentlichen Neue- rungen, aber es ist zweifellos nützlich, dass nun in den Teilstreitkräften ein einheitli- cher Maßstab angelegt werden kann. Auch wird die Verbindung zum zivilen Bereich dadurch erleichtert. Ausführlich sind auch die Bundeswehrhochschulen dargestellt, die für die Ausbildung in den Verantwortungsbereichen III-V unerlässlich sind. Viel Wert wird darauf gelegt, dass sie den allgemeinen Hochschulen vergleichbar sind, weil nur so Zeugnisse erteilt werden können, die amtlich anerkannt und damit allgemein ver- wendbar sind. Nach der Verfassung der Bundesrepublik können Organe der Bundes- regierung solche Zeugnisse nicht geben, denn die Kulturhoheit liegt bei den Regie- rungen der einzelnen Bundesländer. Für das Zeugnis und damit die allgemeine Aner-

527 kennung ist daher der Kultusminister desjenigen Bundeslandes zuständig, in dem die betreffende Schule liegt. Das gilt auch für die Bundeswehr und ist auch ein Grund, warum diese ihre Berufsförderung zum großen Teil in Ausbildungseinrichtungen be- treibt, die nicht dem Bundesverteidigungsministerium unterstehen, sondern in dem betreffenden Land schon anerkannt sind. Andererseits schuf die Luftwaffe bereits En- de der fünfziger Jahre in München eine Höhere Technische Lehranstalt, deren Zeug- nisse anerkannt wurden. Die Frage der Bundeswehruniversitäten hat die Öffentlichkeit am stärksten von allen Problemen beschäftigt, die das Gutachten angesprochen hat. Die Kosten wurden kritisiert, aber diese müssen auf jeden Fall getragen werden, wenn man sich zu einer allgemeinen Universitätsausbildung entschließt. Die ständige Konferenz der Rektoren der Hochschulen ist gegen den Plan besonderer Universitäten für die Bundeswehr und will, dass die Soldaten an den allgemeinen Hochschulen studieren. Sie ist aber kaum in der Lage, genügend Studienplätze zur Verfügung zu stellen, und sie kann zur Zeit keineswegs ein ungestörtes Studium der Soldaten gewährleisten. Auch die allge- meinen Hochschulen sind dringend reformbedürftig; sie haben den Übergang zur Massenhochschule und die damit verbundenen Probleme der Menschenführung durchaus noch nicht bewältigt. Das wird auch noch eine ganze Weile dauern, auf je- den Fall länger, als die Bundeswehr warten kann. Außerdem wäre es unzweckmäßig, den radikalen Gruppen unter den Studenten ein so bequemes Ziel zu geben. Diese sind zwar zahlenmäßig schwach und unter sich zerstritten; aber lautstark und aggres- siv, und zu negativen Zielen finden sie sich meist zusammen. Die Frage ist daher nur, ob die Bundeswehrhochschulen neu gegründet werden oder ob die bestehenden Offizierschulen der Teilstreitkräfte ausgebaut werden. Die Kommission schlägt Neugründungen vor, und es ist wahrscheinlich, dass man diesen Weg gehen wird. Sicher ist, dass der Verteidigungsminister nicht mehr lange warten will, sondern bald praktisch beginnen wird, möglichst schon 1973. Für die Bundes- wehr ist das ein sehr positiver Schritt, den sie begrüßt, auch wenn er anfangs mit eini- gen Schwierigkeiten verbunden sein wird. Innerhalb der fünf Verantwortungsbereiche sind vier Fortbildungsstufen vorge- sehen, die den Bewerber befähigen, in den nächsthöheren Bereich überzugehen. Fort- bildungsstufe A ist für Unteroffiziere und Mannschaften vorgesehen, die sich nach mehr als drei Dienstjahren zu weiteren zwölf bis 15 Jahren verpflichten. Der militäri- sche Teil der Stufe A dauert bis zu sechs Monaten, der fachliche bis zu 24. Mit Beste- hen der Abschlussprüfung ist Zugang zum Verantwortungsbereich gegeben. Die Fortbildungsstufe B soll zum Zugführer oder stellvertretenden Einheitsfüh- rer qualifizieren. Militärisch und fachlich dauert sie bis zu 24 Monaten. Hier wie auch in den anderen Stufen gibt es je nach Schulbildung und Ausbildung verschiedene Kombinationen. Diese sind im Gutachten ausführlich und übersichtlich dargestellt. Für den Verantwortungsbereich III (Einheitsführer usw.) ist Voraussetzung das Ab- gangszeugnis der höheren Schule (Abitur) oder ein entsprechendes Zeugnis, das zum Besuch der Hochschule berechtigt. In die Fortbildungsstufe C kommen die Offiziere im allgemeinen im dreizehnten Dienstjahr. Der Unterricht kann innerhalb der Streit- kräfte erfolgen oder auch auf allgemeinen Hochschulen, wie bisher in einer Anzahl

528 von Fällen. Der erfolgreiche Abschluss gibt die Zulassung zum Verantwortungsbe- reich IV (Verbandsführer), und entsprechend die Fortbildungsstufe D zum Verantwor- tungsbereich V (Höhere Führung). Mit diesen Bereichen und Stufen ist ein übersichtliches Schema geschaffen wor- den, das die Aus- und Weiterbildung für den ganzen Bereich der Bundeswehr einheit- lich regelt, und das gute Vergleichsmöglichkeiten zum allgemeinen Bildungswesen schafft. Die Einführung des Hochschulstudiums für die Berufsoffiziere ergibt sich zwanglos daraus, wie im übrigen auch aus der gesellschaftlichen Entwicklung, die in viel weiterem Umfang als früher für Führungskräfte eine Hochschulausbildung for- dert. Die Vorschläge des Gutachtens gehen weit in die Einzelheiten des Studiums hin- ein, ohne aber alle Fragen, die sich in der Praxis ergeben werden, ganz klären zu kön- nen. Sicher ist, dass an den Bundeswehrhochschulen straff gearbeitet werden muss, denn jedes der drei Studienjahre soll drei Semester zu drei Monaten umfassen, dazu zwei Monate militärische und fachliche Praktika und ein Monat Urlaub. In dieser Konzentration wird das Geld des Steuerzahlers besser ausgenutzt als im Studium an den allgemeinen Hochschulen, denn dieses dauert mindestens vier bis fünf Jahre, und recht häufig noch länger. Es können sich Schwierigkeiten daraus ergeben, dass die Ansichten auseinan- dergehen, was für den Soldatenberuf unbedingt erforderlich ist. Die vorgeschlagenen Fachrichtungen sind in der Form, wie sie an den allgemeinen Hochschulen gelehrt werden, zum Teil für den Soldaten nur bedingt brauchbar. Andererseits ist unerläss- lich, dass jeder Offizier und auch jeder Unteroffizier gute Kenntnisse in praktischer Pädagogik, in Geschichte, Militärgeschichte und in den Grundlagen der Politik besitzt, und für Verwendung im Bündnis auch in Sprachen. Hier wird die Bundeswehr ihren eigenen Stil entwickeln müssen, ohne den Anschluss an das allgemeine Bildungswe- sen zu verlieren. Ihr „Beauftragter für Ausbildung und Erziehung“, ein General, der dem Generalinspekteur unmittelbar untersteht, wird die Maßnahmen abzustimmen haben und dabei laufend ein reiches Feld der Tätigkeit finden. Wichtig ist, dass der Schüler-Etat reichlich bemessen wird, um die Truppe nicht mit Fehlstellen zu belasten. Im Ganzen besteht kein Zweifel, dass die Aus- und Wei- terbildung in der Bundeswehr nach den erarbeiteten Vorschlägen und Richtlinien mit Erfolg betrieben werden kann: Schon jetzt gibt sie der Gesellschaft alljährlich viele tausende von gut geschulten Fachkräften in vielen Berufen. Für die verschiedensten Funktionen gerade auf dem besonders wichtigen und von der Hochschule vernach- lässigten Gebiet der Menschenführung sammelt sie laufend Erfahrungen. Die Bun- deswehr kann aber erfolgreich nur sein – und das betont das Gutachten am Schluss – wenn auch die Gesellschaft ihren Auftrag bejaht und den gesellschaftlichen Nutzen von Ausbildung und militärischem Dienst erkennt und berücksichtigt. Dieser Zustand ist noch nicht erreicht, und es wird einiger Anstrengungen von beiden Seiten bedür- fen, so weit zu kommen. Die Aus- und Weiterbildung in den Streitkräften kann erheb- lich dazu beitragen.

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